Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Ich darf Sie bitten, für einen Augenblick stehen zu
bleiben.
Am Montag dieser Woche, am 3. März 2008, verstarb
Annemarie Renger im Alter von 88 Jahren. Dr. h. c.
Annemarie Renger war von 1953 bis 1990 Mitglied des
Deutschen Bundestages und von 1972 bis 1976 dessen
erste Präsidentin und zugleich weltweit die erste Frau an
der Spitze eines frei gewählten Parlaments.
Am 7. Oktober 1919 in Leipzig als Tochter eines führenden Funktionärs der Arbeitersportbewegung geboren,
wuchs Annemarie Renger in einer Familie mit langer sozialdemokratischer Tradition auf. Nach dem Krieg
wurde Annemarie Renger, deren Mann in Frankreich gefallen war, engste Mitarbeiterin und Vertraute Kurt
Schumachers. Nach seinem Tod 1952 trat sie selbst in
die aktive Politik ein und wurde 1953 über die Landesliste Schleswig-Holstein der SPD erstmals in den Bundestag gewählt. Von 1969 bis 1972 war sie eine der vier
Parlamentarischen Geschäftsführer der SPD-Fraktion.
Im Dezember 1972 wurde sie als Nachfolgerin von KaiUwe von Hassel zur Bundestagspräsidentin gewählt.
Nur wer sich daran erinnert, welchen Bedenken die
erste Bundestagspräsidentin sich innerhalb wie außerhalb des Parlamentes gegenübersah, kann die Genugtuung ermessen, mit der sie vier Jahre später beim Wechsel in das Amt einer Vizepräsidentin feststellen konnte,
dass sie bewiesen habe, dass eine Frau das kann. Die
Würde ihres Auftretens, ihre Bestimmtheit und ihr energischer Durchsetzungswille wie ihre Fähigkeit zum
Kompromiss haben dazu beigetragen.
Annemarie Renger hat wichtige Parlamentsreformen
auf den Weg gebracht und sich persönlich stark für die
Aussöhnung mit unseren östlichen Nachbarn engagiert.
So leitete sie die ersten Bundestagsdelegationen auf ihren Reisen nach Polen, nach Rumänien und in die
Sowjetunion. Ein besonderes Herzensanliegen von
Annemarie Renger waren die Beziehungen zu Israel.
Der Deutsche Bundestag wird ihr Andenken in Ehren
bewahren. Im Rahmen eines Staatsakts werden wir der
Verstorbenen am kommenden Donnerstag hier im Deutschen Bundestag gedenken.
Schon Anfang der vergangenen Woche haben wir mit
Betroffenheit erfahren, dass unser Kollege JohannHenrich Krummacher am Montag, dem 25. Februar
2008, im Alter von erst 61 Jahren nach kurzer und
schwerer Krankheit verstorben ist.
Jo Krummacher wurde am 27. Dezember 1946 in
Heidelberg geboren und studierte Evangelische Theologie und Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Heidelberg und Tübingen. Nach zwei Jahrzehnten der Tätigkeit im Pfarrdienst der Evangelischen Landeskirche
Baden-Württemberg sowie als Lehrer leitete er von 1996
bis 2005 als geschäftsführender Direktor die Evangelische Akademie in Bad Boll. In seinen publizistischen
Werken widmete er sich insbesondere Fragen aus dem
Bereich der Ethik, der Theologie, der Kunst und der Kultur. Die beiden zuletzt genannten Themen förderte er aktiv als langjähriger Vorsitzender des Vereins für Kirche
und Kunst in der Evangelischen Landeskirche in
Württemberg sowie als Gründer und Chefredakteur der
Kulturzeitschrift Das Plateau.
Nach Jahrzehnten beruflichen Engagements entschloss sich Johann-Henrich Krummacher, als aktiver
Christ auch politisch tätig zu werden. Er trat 2001 in die
Christlich Demokratische Union Deutschlands ein und
errang bereits bei den Bundestagswahlen 2005 im Wahlkreis Stuttgart I ein Direktmandat. Als Mitglied dieses
Hauses engagierte er sich besonders in den Bereichen
Bildung, Wissenschaft, Kultur und Medien. Trotz der
Kürze seiner Zugehörigkeit zu unserem Parlament hat er
gerade im Bereich der Kulturpolitik, den er als Mitglied
der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ des
Ausschusses für Kultur und Medien sowie des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung bearbeitete, wichtige Akzente setzen und sich
über die Fraktionsgrenzen hinweg persönlich hohen Respekt und Anerkennung erwerben können.
Wir alle werden ihn als einen besonders liebenswürdigen Kollegen in Erinnerung behalten. Seiner Familie,
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
seiner Frau und seinen sechs Kindern, sprechen wir unsere Anteilnahme aus.
Sie haben sich zu Ehren der Verstorbenen von Ihren
Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu Beginn unserer
heutigen Sitzung müssen wir einige Wahlen durchführen.
Die Fraktion der SPD hat mitgeteilt, dass Professor
Richard Schröder und der Kollege Markus Meckel für
eine weitere Amtszeit Mitglieder des Beirats nach § 39
des Stasi-Unterlagen-Gesetzes bleiben sollen. Von der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist Ulrike Poppe zur
Wiederwahl benannt worden. Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch.
Dann sind die Herren Schröder und Meckel sowie Frau
Poppe erneut in den Beirat nach § 39 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes gewählt.
Die SPD-Fraktion schlägt außerdem vor, anstelle der
Kollegin Christel Humme die Kollegin Caren Marks
zum stellvertretenden Mitglied im Gemeinsamen Ausschuss nach Art. 53 a des Grundgesetzes zu wählen.
Sind Sie auch damit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die Kollegin Marks zum stellvertretenden Mitglied des Gemeinsamen Ausschusses nach
Art. 53 a des Grundgesetzes gewählt.
Die Kollegin Diana Golze hat aufgrund ihrer
Schwangerschaft das Amt als Schriftführerin vorübergehend niedergelegt. Als Nachfolgerin schlägt die Fraktion
Die Linke die Kollegin Elke Reinke vor. Sind Sie damit
einverstanden? - Auch das ist der Fall. Damit ist die
Kollegin Reinke zur Schriftführerin gewählt.
({0})
Bei diesem hohen Maß an Einmütigkeit besteht gute
Aussicht, dass auch die vereinbarten Veränderungen der
Tagesordnung auf Zustimmung stoßen. Interfraktionell
ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 19 abzusetzen und die verbundene Tagesordnung um die in der
Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und SPD:
Computermesse CeBIT - IT-Forschung als
Wachstumsimpuls für Deutschland
({1})
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({2})
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Mechthild Dyckmans, Sabine LeutheusserSchnarrenberger, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Vorschlag für eine Verordnung des Rates über
die Zuständigkeit und das anwendbare Recht
in Unterhaltssachen, die Anerkennung und
Vollstreckung von Unterhaltsentscheidungen
und die Zusammenarbeit im Bereich der
Unterhaltspflichten
- Drucksache 16/8377 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Kauch, Angelika Brunkhorst, Horst Meierhofer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Freiwilligen projektbasierten Klimaschutz auf
verbreiteter Grundlage voranbringen
- Drucksache 16/7174 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Unterschiedliche Auffassungen in der Bundesregierung zu den Folgerungen aus der
Onlineentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Februar 2008
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Elke Hoff, Dr. Rainer Stinner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Innere Führung stärken und weiterentwickeln
- Drucksache 16/8376 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss
ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Irmingard ScheweGerigk, Volker Beck ({6}), Britta Haßelmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gleichstellung von Frauen und Männern in
den Gremien des Bundes tatsächlich durchsetzen
- Drucksachen 16/7739, 16/8412 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Eva Möllring
Renate Gradistanac
Ina Lenke
Irmingard Schewe-Gerigk
ZP 6 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
DIE LINKE:
Massenentlassungen bei deutschen DAX-Konzernen trotz Gewinnexplosion
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Der bisher zur Aussprache vorgesehene Tagesordnungspunkt 16 - hier handelt es sich um die erste Beratung des Gesetzentwurfs zum Straßburger Vertrag - kann
ohne Debatte an die Ausschüsse überwiesen werden.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Schließlich mache ich auf mehrere nachträgliche
Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 145. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Arbeit und Soziales ({7}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches sowie anderer Vorschriften
- Drucksache 16/8100 überwiesen:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({8})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Der in der 145. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung ({9}) zur Mitberatung
überwiesen werden.
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Erneuerbaren Energien im Strombereich und zur Änderung
damit zusammenhängender Vorschriften
- Drucksache 16/8148 überwiesen:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({10})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Der in der 145. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({11}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Internationalen Übereinkommen von 2001
über die Beschränkung des Einsatzes schädlicher Bewuchsschutzsysteme auf Schiffen
({12})
- Drucksache 16/8154 überwiesen:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({13})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Der in der 146. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({14}) zur Mitberatung überwiesen
werden.
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst
Burgbacher, Dr. Karl Addicks, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Potenziale der Tourismusbranche in der Entwicklungszusammenarbeit durch Aufgabenbündelung im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie ausschöpfen
- Drucksache 16/8176 überwiesen:
Ausschuss für Tourismus ({15})
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Widerspruch ist nirgendwo zu erkennen. Dann haben wir
auch das einvernehmlich so beschlossen.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, gratuliere
ich zu einer Reihe von Geburtstagen: Der Kollege Gerd
Höfer feierte am 23. Februar seinen 65. Geburtstag, und
der Kollege Alfred Hartenbach ist gestern 65 Jahre alt
geworden.
({16})
Die Kollegen Rainder Steenblock und Thomas
Kossendey begingen ihre 60. Geburtstage am 29. Februar und am 4. März. Im Namen des ganzen Hauses
gratuliere ich allen Jubilaren nachträglich sehr herzlich
und wünsche alles Gute.
({17})
Auf der Ehrentribüne hat der Parlamentspräsident unseres Nachbarlandes Luxemburg, der Präsident der Abgeordnetenkammer des Großherzogtums, Herr Lucien
Weiler, mit seiner Delegation Platz genommen. - Im
Namen des ganzen Hauses begrüße ich Sie sehr herzlich,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({18})
Ich hatte gestern Abend schon Gelegenheit, Sie nicht
nur in aller gebotenen Freundlichkeit zu begrüßen, son-
dern auch unsere Freude darüber zum Ausdruck zu brin-
gen, dass Sie mit Ihrem Besuch und der hochrangigen
Besetzung Ihrer Delegation aus allen Fraktionen des lu-
xemburgischen Parlaments das große Interesse an mög-
lichst engen und traditionell freundschaftlichen Bezie-
hungen zwischen unseren beiden Ländern deutlich
machen. Wir beteiligen uns gern an Ihren Bemühungen,
die Beziehungen auch zwischen unseren Parlamenten,
soweit es überhaupt noch geht, zu vertiefen. Für Ihren
Aufenthalt bei uns und für Ihr weiteres parlamentari-
sches Wirken begleiten Sie unsere besten Wünsche.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung
- Drucksache 16/8305 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({19})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Präsident Dr. Norbert Lammert
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Öffnung des Messwesens bei Strom und Gas für
Wettbewerb
- Drucksache 16/8306 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({20})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Öffnung des Messwesens bei Strom und Gas
für Wettbewerb beschleunigen
- Drucksache 16/7872 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({21})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Auch
hierzu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Bundesminister Michael Glos.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir beraten heute, wie wir gerade vom Präsidenten gehört haben, den Entwurf eines Gesetzes zur
Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung und den Entwurf
eines Gesetzes zur Öffnung des Messwesens bei Strom
und Gas für Wettbewerb. Ich meine, das sind zwei wichtige Bausteine unseres Energie- und Klimaschutzpakets. Wir wissen ja: Klimaschutz wollen wir alle.
Darüber sind wir uns einig. Ich finde, Klimaschutz muss
zu bezahlbaren Preisen möglich sein. Wir meinen, mit
den Maßnahmen zur Erreichung der Klimaschutzziele
müssen wir einen Weg wählen, der Verbrauchern und
Unternehmungen im Land die geringstmöglichen Lasten
auferlegt.
({0})
Durch zusätzliche Flexibilität bei den Förderbedingungen ist es möglich, mit dem gleichen Geld mehr Investitionen in Kraft-Wärme-Kopplung auszulösen. Der
Anteil der Kraft-Wärme-Kopplung an der Stromerzeugung soll bis zum Jahr 2020 auf etwa 25 Prozent, also
etwa auf das Doppelte, ansteigen.
Stärkung der Verbraucher, mehr Wettbewerb im Energiemarkt und Klimaschutz müssen sich ergänzen. Dies
wird gerade im Messwesen bei Strom und Gas deutlich. Bislang gibt es ein Monopol des Netzbetreibers für
den Einbau und das Ablesen des Zählers. Damit soll jetzt
Schluss sein, nach dem Motto: Es ist aus damit, dass der
Gasmann zweimal klingeln muss.
({1})
Künftig soll jeder Verbraucher selbst bestimmen können,
wer bei ihm den Strom oder das Gas abliest. Mithilfe sogenannter intelligenter Zähler wollen wir den Stromund Gaskunden die Möglichkeit eröffnen, ihren Energieverbrauch selbst bedarfsgerecht und kostenoptimal zu
steuern. Man kann dann gleich ablesen, wie viel Strom
gerade gebraucht wird. Die Verbraucherinnen und Verbraucher sollen bei der Nutzung der Geräte die günstigsten Tarife wählen und damit leichter sparen können. Das
schont den Geldbeutel der Verbraucherinnen und Verbraucher, und es stärkt die Position der Kunden gegenüber den großen Energieversorgern. Auch über die muss
ich noch ein paar Worte verlieren.
Wichtigstes Ziel meiner Politik als Bundesminister
für Wirtschaft ist, die Verbraucher zu stärken. Ich meine,
dass die Verbraucherinnen und Verbraucher im Mittelpunkt unserer Betrachtungsweise stehen müssen.
({2})
Dazu gehört, dass wir den Wettbewerb auf diesem Gebiet mit einer ganzen Reihe von Maßnahmen, die ich
jetzt nicht alle aufzählen will, gestärkt haben. Ein Beispiel dafür ist die Tatsache, dass die Stromkunden ihre
Anbieter jetzt sehr rasch wechseln können. Ich kann nur
empfehlen, davon Gebrauch zu machen - das geschieht
bereits sehr rege -, dann allerdings immer streng darauf
zu achten, dass der neue Lieferant innerhalb eines Jahres
seine Bedingungen nicht so ändert, dass man wieder
mehr bezahlt. Wir brauchen einfach kostenbewusstere
Verbraucherinnen und Verbraucher.
Die Maßnahmen, die wir zur Stärkung des Wettbewerbs und gegen den Missbrauch von Marktmacht im
vergangenen Jahr auf den Weg gebracht haben, beginnen
zu wirken. Bundesnetzagentur und Bundeskartellamt
machen von ihren neuen Instrumenten rege Gebrauch.
So hat das Bundeskartellamt in den letzten Tagen ein
Preismissbrauchsaufsichtsverfahren gegen 35 Gasversorger eingeleitet.
({3})
- Vielen Dank für den Beifall von ganz links.
({4})
Ich möchte noch einmal betonen: Für die länderübergreifenden Gasversorger ist das Bundeskartellamt zuständig. Für diejenigen, die sich auf ein Bundesland beschränken, sind es die Landeskartellbehörden. Ich
fordere die Landeskartellbehörden noch einmal nachdrücklich auf, von ihren gewachsenen Vollmachten Gebrauch zu machen.
({5})
Ich meine, Gewinne, ja, das ist selbstverständlich; aber
Übermaßgewinne, die manche auf diesem Gebiet zu vereinnahmen gewohnt sind, sind total falsch.
In diesen Tagen findet auch eine Diskussion statt, in
der sich das Bundesumweltamt als Sachverständiger
über eine mögliche Stromlücke im Land zu profilieren
versucht hat. Das ist etwas, worüber wir uns Gedanken
machen müssen. Der Energieminister ist auch für die
Sicherheit der Energieversorgung zuständig. Natürlich werden in Deutschland und Europa morgen nicht
plötzlich die Lichter ausgehen. Heute wird aber darüber
entschieden, wie sicher die Versorgung morgen und
übermorgen ist, und vor allen Dingen darüber, wie viel
dann für Strom oder für Gas bezahlt werden muss.
Was wir derzeit in der öffentlichen Debatte erleben,
ist für mich nicht nachvollziehbar. Mit Blick in die Zukunft ist es eigentlich ein Stück weit verantwortungslos.
Neue Kohlekraftwerke finden dort, wo sie gebaut werden sollen, keine Akzeptanz, obwohl sie unter besseren
Bedingungen für die Umwelt produzieren als die jetzt
vorhandenen. Die Verlängerung der Laufzeiten von
Kernkraftwerken ist gegenwärtig ein politisches Tabu,
weil es nicht gelungen ist, sich in der Großen Koalition
zu Beginn entsprechend zu vereinbaren.
({6})
- Wir haben uns vereinbart, dass wir nicht einig sind,
Herr Kollege. Das war aber alles. Über mehr haben wir
uns nicht vereinbart.
({7})
Selbst der Ausbau erneuerbarer Energien wie der
Windenergie stößt zunehmend auf Widerstände. Der
Doppelausstieg aus Kohle und Kernenergie ist für mich
undenkbar. Die Folge wäre, dass die Energieversorgung
in Deutschland dramatisch in Gefahr geriete. Die erneuerbaren Energien könnten eine solche Lücke nicht rasch
genug schließen.
Wir brauchen deshalb eine offene und sachliche Diskussion über die energiepolitische Zukunft unseres Landes; dazu lade ich ein, Herr Kollege Kelber. Mehr Strom
in den Netzen ist die Bedingung dafür, dass Verbraucherinnen und Verbraucher auf die Dauer niedrige Preise bekommen.
({8})
Unabhängig davon, wie der Energiemix zukünftig aussieht, führt an einem Ausbau des Leitungsnetzes kein
Weg vorbei.
Dazu möchte ich noch ein paar Worte sagen: Wenn
man zum Beispiel den Wind aus dem Norden in den Süden bringen will, braucht man neue Leitungen. Der Bau
neuer Leitungstrassen ist sehr unbeliebt. Ich kann das sogar nachvollziehen. Wenn wir jedoch alles für teures
Geld unter die Erde legen wollen, dann sind die Hochspannungsleitungen unsicherer, und es kostet ein Vielfaches. Dies müsste dann auf die Verbraucher umgelegt
werden.
Mein Haus arbeitet deshalb für den zweiten Teil des
Energie- und Klimapaketes an einem Netzausbaugesetz.
Ziel ist eine Beschleunigung des Netzausbaus, damit in
die Netze rasch investiert wird. Wir wollen Planungssicherheit für den Netzausbau. Die Vorstellungen der
EU-Kommission zu einer sogenannten eigentumsrechtlichen Entflechtung lehnt die Bundesregierung deshalb
ab. Wir wollen nicht, dass das verpflichtend wird.
({9})
Wir wollen uns auch nicht von der EU-Kommission
vorschreiben lassen, dass wir enteignungsgleiche Eingriffe in das Eigentum an Netzen, aber auch an Gasleitungen vorzunehmen haben. Etwas anderes ist es, wenn
ein Unternehmen sein Eigentum freiwillig verkauft, wie
das der Eon-Konzern jetzt offensichtlich vorhat. Ich
weiß nicht, welche Motive dahinterstehen. Vor kurzem
hat dieser Konzern noch eine andere Haltung an den Tag
gelegt. Man hört auch davon, dass irgendwelche Deals
und der Erlass von Kartellstrafen ihn plötzlich in diese
Richtung bewegt haben.
({10})
Insofern ist das Handeln der EU-Kommission manchmal
etwas mysteriös und nur schwer nachvollziehbar.
Wenn jemand gegen Kartellrecht verstoßen hat, dann
muss er dafür zahlen, finde ich; das darf nicht mit anderen Dingen abgefunden werden.
({11})
Die faulen Deals, die da offensichtlich gemacht worden
sind, und zwar ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als der
Energierat über die verschiedenen Modelle beraten hat,
bedürfen meiner Ansicht nach einer intensiven Überprüfung.
Das kam überraschend. In der Sache bin ich natürlich
für so viel Wettbewerb wie möglich. Wenn die Leitungen und die Erzeugung nicht in einer Hand sind - wir
haben gesetzliche Einspeiseberechtigungen schon bevorzugt Nichtnetzbesitzern erteilt -, dann ist das im Prinzip
zu begrüßen. Aber es ist eine Reihe von Fragen zu beantworten: Wer hält die Netze in Zukunft so intakt, wie das
bis jetzt der Fall gewesen ist? Wer will sie überhaupt
kaufen? Die öffentliche Hand ist dafür am wenigsten geeignet. Was wird aus den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die dort beschäftigt sind? Dieser Bereich
ist ja der beschäftigungsintensivste Bereich der Stromkonzerne. Ich glaube, auf all diese Fragen müssen wir
Antworten finden, und uns muss gerade die Sorge um
die Beschäftigten umtreiben.
({12})
Ich warne deshalb vor Schnellschüssen. Gerade angesichts der Tatsache, dass aus den vorhin genannten
Gründen so viel Geld in den Netzausbau investiert werden muss, wäre es sehr problematisch, wenn Teile der
Netze - es handelt sich ja zunächst um einen Konzern,
der das vorhat, aber andere Konzerne signalisieren
ähnliche Absichten - plötzlich den Eigentümer wechseln. Wir werden, wie gesagt, all das sehr sorgfältig betrachten. Es ist meiner Ansicht nach eine vordringliche
Aufgabe, das sehr genau zu prüfen.
In dem Zusammenhang möchte ich noch sagen: Wir
streben eine Ergänzung des Außenwirtschaftsgesetzes
an, gemäß der eine Mitsprachemöglichkeit bzw. ein Einspruchsrecht der Bundesregierung verankert wird, wenn
Anlagen, die die öffentliche Sicherheit und Ordnung betreffen, den Besitzer wechseln oder mehr als 25 Prozent
der Stimmrechte von Betreibern solcher Anlagen erworben werden. Ich appelliere an alle, die noch unentschlossen sind, dieses Gesetz rasch auf den Weg zu bringen.
Sonst sieht es hinterher möglicherweise so aus, als ob
sich die Gesetzesänderung gegen einen bestimmten Käufer richten würde. Ich fände es gut, wenn es dieses Instrument gäbe; denn dann könnte man es, wenn man es
braucht, anwenden.
Ich hoffe, dass Unternehmen sich, falls sie einen Verkauf vornehmen - so etwas können wir ja nicht verhindern -, sehr verantwortungsbewusst bei der Auswahl der
Firma, die dann möglicherweise das Netz erwirbt, zeigen
und sich nicht rein nach dem Verkaufserlös richten, sondern all die von mir angesprochenen Punkte mitberücksichtigen.
({13})
Ansonsten wünsche ich mir eine gute Gesetzesberatung. Wir vom Bundeswirtschaftsministerium sind jederzeit bereit, auftauchende Fragen zu klären.
Herzlichen Dank.
({14})
Das Wort erhält nun die Kollegin Gudrun Kopp, FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Das EU-Kartellrechtsverfahren gegen Eon ist in
der Vergangenheit, Herr Minister Glos, in der Tat sehr
gespenstig gelaufen. Ich hätte mir gewünscht, dass kein
Deal, so wie es geschehen ist, abgeschlossen worden
wäre, sondern dieses Kartellrechtsverfahren erst einmal
ganz normal durchgeführt worden wäre.
({0})
Mich beunruhigt nicht, dass Eon sein Übertragungsnetz
verkaufen möchte. Dabei handelt es sich um eine freie
unternehmerische Entscheidung. Diesen Schritt würden
wir durchaus begrüßen. Es kann aber nicht sein, dass ein
Deal geschlossen wird, wobei wir den „Preis“ dafür
nicht erfahren. So etwas sollte es nicht geben.
Gerade in der Energiewirtschaft brauchen wir strukturelle Reformen. Wir müssen hier Strukturen aufbrechen. Dabei geht es darum, dass die Stromerzeugung
von der Netzverantwortung in gewisser Weise getrennt
wird. Wir haben hierzu einen entsprechenden Antrag
eingebracht und darin festgehalten: Die eigentumsrechtliche Entflechtung stellt für uns die Ultima Ratio dar.
Zugleich haben wir in einem weiteren Antrag die Schaffung einer Netz AG für Deutschland, in die alle Netze
von Netzbetreibern eingebracht werden, vorgeschlagen.
Eine solche Netz AG sollte unabhängig arbeiten und Investitionsentscheidungen treffen können, also alle Verantwortung für die Netze tragen, damit auf der einen
Seite dem Durcheinander und auf der anderen Seite der
Marktkonzentration, die wir augenblicklich haben, ein
Ende gemacht wird. Außerdem wollen wir eine Entflechtungsnorm aufnehmen. Auch das ist eine wichtige
Forderung. Das Kartellamt muss die Möglichkeit haben,
bestimmte Strukturen gerade im Erzeugungsbereich aufzubrechen. Dazu braucht man mehr als nur einige
wenige Gesetzeskorrekturen, nämlich vielmehr ein
Schwert, mit dessen Hilfe entsprechende Maßnahmen
tatsächlich durchgesetzt werden können.
({1})
Was in die derzeitige politische Landschaft passt, das
ist die Frage, wer, wenn jemand die Netze verkauft, sie
kaufen soll. Plötzlich kommt die Debatte auf, ob nicht
der Staat der Eigentümer der Netze sein sollte. Diese
Einstellung aufseiten der Linken wundert mich nicht.
Aber in Richtung SPD und Grünen muss ich sagen: Wir
haben doch erlebt, dass der Staat eben nicht der bessere
Verwalter ist. Als Beispiel nenne ich die Bahn. Hier sind
wir derzeit in schwierigsten Privatisierungsberatungen.
Dies zeigt, dass es nicht sinnvoll ist, den Staat zum Verwalter zu machen. Die DDR haben wir mit all den wirtschaftspolitischen Dissonanzen, die es dabei gegeben
hat, hinter uns gelassen.
({2})
Das kann es nicht sein.
({3})
Ich hoffe, Herr Minister Glos, dass Sie die Kraft haben, sich hier durchzusetzen, und dass Sie die Marktöffnung an dieser Stelle positiv begleiten und nicht durch
mehr Staat intervenieren wollen.
Wir haben heute den Gesetzentwurf zur Förderung
der Kraft-Wärme-Kopplung vorliegen. Beim KraftWärme-Kopplungsgesetz, das ja ein weiteres Mal verändert werden soll, gibt es eine Besonderheit. Die Ausgangslage war, dass auf der Basis der Daten von 1998 im
Bereich der Kraft-Wärme-Kopplung von 2002 bis 2005
CO2-Einsparungen im Umfang von 10 Millionen Tonnen
und bis 2010 im Umfang von mindestens 20 Millionen
Tonnen erfolgen sollen. In der Zwischenzeit hat die Bundesregierung einen Bericht, eine Art Zwischenbilanz,
vorgelegt. Dieser Bericht gibt sehr klar und deutlich zu
erkennen, dass diese Einsparungen nicht annähernd erreicht wurden. Das heißt, das Instrument hat nicht gewirkt. Die Bundesregierung hat jetzt entschieden, einen
Turnaround zu machen und zu sagen, wir wollen weiter
fördern, weil das Ergebnis nicht gestimmt hat, und zwar
so lange, bis ein Ergebnis herauskommt, das uns passt.
Dem Bericht ist auch zu entnehmen, dass durch das
Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz bis 2010 mit Zusatzkosten, die die Verbraucher zu tragen haben, im Umfang
von 5,6 Milliarden Euro zu rechnen ist. Das bedeutet
eine Steigerung der Kosten bis 2010 um 1,2 Milliarden
Euro. Wer hat diese Zusatzkosten zu tragen? - Natürlich
wieder einmal die Energiekunden. Das ist nicht akzeptabel, ganz zu schweigen davon, dass auch diese Änderung
des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes im Grunde genommen technologieselektiv ist. Hier will Politik eine
ganz bestimmte Technologie umsetzen. Auch wenn die
Instrumente nicht greifen und das Ergebnis nicht zufriedenstellend ist, soll weitergemacht werden. Nun, so hat
Minister Glos ausgeführt, sollen bis 2020 25 Prozent
des gesamten Stroms in Deutschland durch KraftWärme-Kopplung erzeugt und damit eine Verdoppelung
vorgenommen werden.
Darüber hinaus ist zu bedenken, dass mit der Verlängerung der Laufzeit des Gesetzes auch eine Ausweitung
des Geltungsbereichs einhergeht. Es sollen jetzt nicht
nur kleinere Anlagen Fördermittel beantragen dürfen,
sondern auch größere Anlagen.
({4})
Das heißt, die Größengrenzen werden gestrichen und die
Wärmenetze sollen mit in die Förderung hinein. Die Anzahl der zu fördernden Anlagen und Netze wird also steigen. Es wird ein Finanzvolumen von 750 Millionen Euro
pro Jahr aufgesetzt, und zwar gedeckelt. Darüber hinaus
soll für diejenigen, die solche Anlagen betreiben, die
Möglichkeit bestehen, bis Ende 2014 ihren Dauerbetrieb
anzumelden. Die Förderung würde dann bis 2020 laufen.
Das bedeutet im Umkehreffekt: Durch die Änderung
dieses Gesetzes werden - wiederum zulasten der Verbraucher - bis 2020 weitere 7,5 Milliarden Euro als
Fördermittel gebunden. Dieses Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz entwickelt sich zu einem Dauersubventionsinstrument. Wir haben davon ja schon einige andere; das
kennen wir aus der Vergangenheit. Das können wir von
der FDP-Bundestagsfraktion nicht akzeptieren.
({5})
Wir sagen: Die neuen Fördertatbestände bringen neue
Informationspflichten, also neue Bürokratie, mit sich.
Pro Jahr fallen dadurch Verwaltungskosten von circa
430 000 Euro für die jeweiligen Einheiten an. Diese Belastungen entstehen Wirtschaft und Verwaltung in diesem Bereich zusätzlich.
Wir, die FDP-Bundestagsfraktion, haben schon lange
gefordert, dass die Instrumente, die angewandt werden,
um Klimaschutz zu realisieren, dringend durchforstet
werden müssen. Die Liberalen haben den Entwurf eines
Wärmegesetzes eingebracht. Dieses Wärmegesetz
sollte in den Emissionshandel integriert werden. Dann
gäbe es an dieser Stelle Klimaschutz plus Kosteneffizienz und somit eine ganz andere Bilanz.
Das, was die Bundesregierung jetzt andenkt, also eine
Verlängerung der Geltungsdauer des Kraft-WärmeKopplungsgesetzes, mit dem die festgelegten Ziele - ich
sage es noch einmal sehr deutlich - nicht erreicht, sondern verfehlt worden sind und das zusätzliche Kosten
verursacht, wird die Verbraucher unter dem Strich belasten, ohne dass es zu dem notwendigen Ergebnis und zur
Einführung marktwirtschaftlicher Instrumente kommt.
Dies lehnen wir deutlich ab.
({6})
Zu dieser Debatte passt eine Umfrage. An diese will
ich erinnern, weil natürlich immer wieder die Frage im
Raum steht, wie nahe wir in der Energiepolitik an der
Realisierung unseres Zielkanons, bestehend aus Klimaschutz, Wirtschaftlichkeit und Versorgungssicherheit, sind. In einer aktuellen Umfrage des Mannheimer
Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung wurden
200 Energieexperten aus Deutschland danach befragt,
was nach ihrer Beobachtung Priorität in der Energiepolitik hat, die die Bundesregierung betreibt. Die Forscher
sagten: Höchste Priorität hat bei der Bundesregierung
mit 61 Prozent die Umweltverträglichkeit, nur noch mit
25 Prozent die Wirtschaftlichkeit und mit mageren
14 Prozent die Versorgungssicherheit.
Herr Minister Glos, das zeigt sehr deutlich: Sie haben
bescheinigt bekommen, dass das, was Sie leisten, nicht
dazu beiträgt, dass der in der Energiepolitik bestehende
Zielkanon, der gerade für die Wirtschaftspolitik, für Sie
als Ressortleiter von besonderer Bedeutung wäre, ausgewogen realisiert wird. Sie müssten dafür sorgen, dass
Wirtschaftlichkeit und Versorgungssicherheit eine Einheit mit dem Klimaschutz bilden können. Das tun Sie
leider bis heute nicht. Deshalb mahnen wir Liberalen Sie
noch einmal: Tun Sie etwas, um diesen Zielkanon endlich in ein Gleichgewicht zu bringen! Sorgen Sie für
mehr Wettbewerb und sorgen Sie auch dafür, dass die
Privatverbraucher genauso wie die Unternehmen in unserem Land nicht über Gebühr mit Kosten belastet werden, wodurch sie weniger wettbewerbsfähig sind!
({7})
Die FDP-Bundestagsfraktion legt Ihnen heute einen
Antrag vor, der sich mit mehr Wettbewerb im Messwesen im Strom- und Gasbereich befasst. Gerade im Messbereich gibt es eine große Chance. In den Haushalten
und Unternehmen gibt es 125 Millionen Messgeräte für
Wasser, Strom und Gas. Hier Wettbewerb zu schaffen
und mit intelligenten Zählern und Messmethoden den
Verbrauchern zu verdeutlichen, wann sie wie viel Strom
verbrauchen und wie sie ihren Stromverbrauch regulieren können, bietet eine hervorragende Chance, Gebühren
zu sparen. Diese Chance gibt es sowohl für die Wirtschaft als auch für die Privatverbraucher.
Herr Minister Glos, zwei Dinge sind nach unserer Ansicht nicht in Ordnung: Sie treten in Ihrem Gesetzentwurf für eine Öffnung des Messwesens innerhalb von
sechs Jahren ein. Sie möchten, dass zunächst das Gewerbe und die Industrie davon profitieren und erst dann,
zeitversetzt, die Privatkunden, also die Haushalte. Zu
dieser Abstufung sagen wir: Sie sind nicht ehrgeizig genug. Gehen Sie schneller voran. Sie brauchen keine
sechs Jahre, um die Marktöffnung zustande zu bringen.
Sorgen Sie dafür, dass die Marktöffnung schnellstmöglich erfolgt.
Frau Kollegin, bitte.
Legen Sie die notwendige Verordnung vor und sorgen
Sie dafür, dass die Privatkunden von der Öffnung genauso profitieren wie die Gewerbe- und Industriekunden.
({0})
Das nützt den Verbrauchern und wäre eine konsequente,
marktorientierte Energiepolitik.
Vielen Dank.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Rolf Hempelmann,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Auch wenn wir gerne über vieles andere reden, beschäftigen wir uns heute vor allen Dingen mit der Novelle des
Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes, des KWKG. Für viele
von uns ist das ein vertrautes Thema. Spätestens seit den
Koalitionsverhandlungen fordern einige Fraktionen, unter anderem die SPD-Fraktion, die Vorlage eines Monitoringberichts. Es war klar, dass in diesem Bereich
Handlungsbedarf besteht. Mit dem am 5. Dezember im
Kabinett beschlossenen Gesetzentwurf wurde eine tragfähige Grundlage für die parlamentarischen Beratungen
geschaffen, die von allen an der Kraft-Wärme-Kopplung
Interessierten positiv aufgenommen wurde. Vielen Dank
dafür.
Die Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung ist neben
der Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, des
EEG, und des Erneuerbare-Energien-Wärmegesetzes ein
Schwerpunktthema des integrierten Energie- und Klimapakets der Bundesregierung. Zu der geplanten Reduktion der CO2-Emissionen um 40 Prozent bis zum
Jahr 2020 soll dieses Paket mit einer Minderung des
CO2-Ausstoßes um 36 Prozent beitragen.
Der Ausbau der hocheffizienten KWK - im Jahr 2020
sollen 25 Prozent des Stromverbrauchs durch KWK gedeckt werden - ist ein unverzichtbarer Bestandteil dieser
Strategie. Die Verdopplung des KWK-Anteils - heute
liegt er bei etwa 12 Prozent - wird zu einer jährlichen
Reduktion der CO2-Emissionen um knapp 15 Millionen
Tonnen führen; der Minister hat das eben schon erwähnt.
Dieses Potenzial - ich denke, darüber sind wir uns in
diesem Hause einig - darf nicht ungenutzt bleiben.
({0})
Spätestens seit Vorlage des Monitoringberichts zum
derzeit geltenden KWKG wissen wir, dass auf diesem
Sektor Handlungsbedarf besteht. Der KWK-Anteil
konnte in den letzten Jahren gerade einmal stabilisiert
werden - insbesondere aufgrund von Investitionen kommunaler Unternehmen. Gleichzeitig hat die Zwischenprüfung, also der Monitoringbericht, gezeigt, dass auf
der Grundlage des bisherigen Gesetzes das CO2-Minderungsziel für das Jahr 2010 nicht erreicht werden kann.
Unter anderem deshalb haben wir frühzeitig zu dieser
Novelle gedrängt. Nach dem Motto „Besser spät als nie“
freuen wir uns, dass der Entwurf heute vorliegt.
Die KWK ist die effizienteste Technologie zur Ausnutzung des Energiegehaltes eines Primärenergieträgers.
Wir können mit ihr nach dem derzeitigen Stand der
Technik Wirkungsgrade von bis zu 90 Prozent erreichen.
Sie leistet damit nicht nur einen wesentlichen Beitrag zur
Minderung des CO2-Ausstoßes, sondern trägt auch zur
Ressourcenschonung bei. Aufgrund dieser Vorteile ist
das 25-Prozent-Ziel für 2020 auch kein End-, sondern
ein Zwischenziel. Wir können davon ausgehen - das
vom BMWi ausgegebene Gutachten macht das deutlich -,
dass hier noch weitere Potenziale schlummern, die mittelfristig gehoben werden sollten.
Wir setzen nicht auf ein einzelnes Instrument zur Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung, sondern wir schaffen neben dem KWKG auch an anderen Stellen geeignete Rahmenbedingungen für die KWK, unter anderem
im Erneuerbare-Energien-Gesetz. Denn - viele haben
das beobachtet - gerade in Regionen, in denen es hohe
Anteile sowohl von erneuerbaren Energien als auch von
Kraft-Wärme-Kopplung gibt, haben wir es durchaus mit
einem Konkurrenzverhältnis zwischen beiden zu tun.
Deswegen wird jetzt im KWKG eine Gleichbehandlung
von KWK und erneuerbaren Energien eingeführt. Zugleich streben wir in der Novelle des EEG eine verbesserte Netzintegration der erneuerbaren Energien an. Das
schafft mehr Planbarkeit in diesem Bereich und entschärft die Binnenkonkurrenz zwischen KWK und erneuerbaren Energien.
Ein zweiter Bereich, in dem wir die Rahmenbedingungen für KWK setzen, ist der Emissionshandel. Hier
haben wir eine Doppelbenchmark für den Nationalen Allokationsplan bis zum Jahre 2012 durchgesetzt. Das
heißt, es gibt eine Zuteilung sowohl für den Strom- wie
für den Wärmeanteil. Wir wollen diese Präferenz der
KWK auch weiterhin, also auch nach 2012, erhalten.
Wir begrüßen deswegen den Kommissionsvorschlag, für
die Wärmeproduktion im Bereich der KWK keine Versteigerung von Zertifikaten vorzusehen.
({1})
Dennoch - auch wenn diese Instrumente wichtig sind ist das KWKG das zentrale Instrument zur Förderung
dieser Technologie. Deswegen wollen wir an dieser entscheidenden Baustelle schnell vorankommen. Wir bauen
im Gesetzentwurf weiterhin auf eine umlagefinanzierte
Förderung der KWK - das ist richtig -, aber wir stehen
dazu, dass wir auch neue Fördertatbestände schaffen. Es
ist klargeworden, dass wir allein mit den bisherigen Mitteln die ambitionierten Ziele nicht erreichen werden.
Wir setzen die Förderung modernisierter KWK-Anlagen fort. Hinzu kommt aber, dass wir neu errichtete
KWK-Anlagen ohne Größenbeschränkungen fördern
und die industrielle Eigenerzeugung einbeziehen wollen.
All diese Schritte sind notwendig, um die vorgegebenen
Mengenziele erreichen zu können. Im Übrigen - das ist
jedenfalls ein Petitum unserer Fraktion - sollten wir
überprüfen, ob wir Eigenerzeugung nur in der Industrie
oder auch in anderen Branchen und Sektoren - im Handel, im Gewerbe, im Dienstleistungssektor - einbeziehen. Ich denke, die Trennung, wie wir sie bisher im Entwurf haben, macht relativ wenig Sinn.
({2})
Wir haben einige andere Petita, die wir im Rahmen
der parlamentarischen Beratungen ansprechen werden.
So ist durchaus darüber zu diskutieren, dass wir zur Zielerreichung mindestens die zugesagten Mittel flexibler
über die Jahre verwenden können. Möglicherweise muss
man auch über eine Mittelerhöhung nachdenken. Wir
brauchen mit Sicherheit eine Verlängerung der Anmeldefristen über den 31. Dezember 2014 hinaus. Ich will
nur einen Grund nennen, der für eine solche Fristverlängerung spricht: Wir alle wissen, dass wir im Kraftwerksbereich - das gilt im Übrigen für Anlagen bei erneuerbaren Energien genauso wie in jedem anderen Bereich,
also auch bei der Kraft-Wärme-Kopplung - einen stark
überhitzten Kraftwerksbaumarkt haben. Das führt zu
Knappheiten und erhöhten Preisen. Dies lässt sich am
besten durch eine Streckung des Investitionszeitraums
ausgleichen. Insofern ist auch eine entsprechende Verlängerung der Anmeldefristen notwendig.
({3})
Ein weiterer uns wichtiger Punkt betrifft die Förderabbrüche, die wir bei den kleinen KWK-Anlagen kommen sehen. Hier gibt es eine sprunghafte Entwicklung.
Die Förderung in bestimmtem Umfang bei kleinen und
in geringerem bei größeren KWK-Anlagen wollen wir
durch gleitendere Regelungen ersetzt sehen. Hier haben
wir also - Sie sehen das - noch eine ganze Menge Detailarbeit vor uns.
Wir begrüßen ausdrücklich, dass in dem vorliegenden
Entwurf auch der Aus- und Neubau von Nah- und Fernwärmenetzen vorgesehen ist. Hier sollen Investitionszuschüsse gegeben werden. Ich glaube, das ist eine ganz
wesentliche Voraussetzung für den Erfolg des Gesetzes
insgesamt. Schließlich ist die Erschließung von Wärmesenken notwendig, um die zusätzlichen Wärmepotenziale, die wir durch die Erhöhung des Anteils der KWK
schaffen wollen, auch vermarkten zu können.
Meine Damen und Herren, ich denke, dass viele Fragen, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen,
durch den vorliegenden Gesetzentwurf schon beantwortet sind. Über einige andere Fragen, die ich gerade aufgezählt habe, werden wir in der weiteren Debatte noch
zu diskutieren haben.
Klar ist: Die KWK trägt zur weiteren Dezentralisierung unserer Energieversorgungslandschaft bei. Sie
führt uns ein Stück weit weg von den großen Kondensationskraftwerken und hin zur Erhaltung lokaler Wertschöpfung und lokaler Arbeitsplätze. Sie stärkt die
Stadtwerke, die ihren Strom bereits zu über 80 Prozent
durch KWK erzeugen. Damit stärkt sie auch die Anbietervielfalt und den Wettbewerb. Das sind viele zusätzliche Argumente, die dafür sprechen, die Kraft-WärmeKopplung weiterzuentwickeln.
Auch wenn wir im Bereich der erneuerbaren Energien
bis zum Jahre 2020 sehr erfolgreich sind und es schaffen, ihren Anteil an der Stromerzeugung auf 30 Prozent
zu erhöhen, ist für uns klar, dass wir in großem Umfang
auch fossile Energieträger verstromen müssen, hier in
Deutschland, vor allem aber im Ausland, insbesondere
in Schwellenländern wie China und Indien. Wenn wir
bei der KWK Fortschritte erzielen, dann können wir national und international einen Beitrag zur klimaverträglichen Nutzung fossiler Energieträger leisten. Das ist gut
für das Klima. Das ist aber auch gut für unseren Export.
Deswegen glaube ich, dass wir auf dem richtigen Weg
sind.
In den letzten Monaten haben wir erlebt, dass Neuinvestitionen in Kraftwerke, insbesondere in Kohlekraftwerke, vor Ort auf Widerstände stoßen. Das ist in
gewissem Umfang nachvollziehbar, zum Beispiel dann,
wenn es um große Kondensationskraftwerke geht. Ich
persönlich glaube allerdings, dass wir auch in diesem
Bereich nicht ganz ohne neue Kraftwerke auskommen
werden. Schließlich sollen sie alte, klimaschädliche Anlagen ersetzen. Jedenfalls ist klar: Wir alle müssen ein
großes Interesse daran haben, dass neue Kraftwerke entstehen, die auf der Basis von Kraft-Wärme-Kopplung
betrieben werden. Es werden aber auch solche dabei
sein, die mit Kohle befeuert werden.
Ich denke, es ist auch die Aufgabe von Politik, hier
für Aufklärung und Akzeptanz zu sorgen. Wir brauchen
in Deutschland eine Art Arbeitsteilung. Wir müssen eine
sichere Energieversorgung, die Schaffung der Rahmenbedingungen für die Erhaltung von Industriearbeitsplätzen in der energieverbrauchenden Industrie und unsere
anspruchsvollen Klimaschutzziele miteinander verbinden. Das wird nicht funktionieren, wenn man republikweit überall CO2-freie Zonen einrichtet. Auch die Regionen müssen bereit sein, über neue KWK-betriebene
Kraftwerke hinaus einen Beitrag zu leisten.
({4})
Ansonsten würden wir von den Realitäten sehr schnell
überholt.
Wir müssen an vielen Fronten gleichzeitig erfolgreich
sein. Wir brauchen den massiven Ausbau der erneuerbaren Energien; dazu haben wir in der letzten Sitzungswoche die erste Lesung des Erneuerbare-EnergienGesetzes und des Erneuerbare-Energien-Wärmegesetzes
durchgeführt. Wir brauchen eine massive Steigerung der
Energieeffizienz auf der Angebots- und auf der Nachfrageseite; dazu werden wir entsprechende Maßnahmenpakete auf der Basis der Beschlüsse von Meseberg vorlegen. Wir brauchen die Modernisierung des fossilen
Kraftwerksparks, und zwar möglichst unter Einsatz der
umweltfreundlichen Kraft-Wärme-Kopplung. Wenn wir
diese drei Ansätze parallel verfolgen, dann ist das eine
gute Voraussetzung sowohl für Fortschritte im Bereich
der Ökologie als auch im Bereich der Ökonomie.
Ein weiterer wichtiger Punkt, der heute bereits angesprochen worden ist und den auch ich nicht unerwähnt
lassen will, betrifft die Netze. Auch eine wettbewerbsneutrale Organisation des Netzbetriebes muss in unser
aller Interesse liegen. Wir brauchen einen diskriminierungsfreien Zugang zu den Netzen, wir müssen möglichst vielen Anbietern eine faire Chance auf diesem
Markt geben, wenn wir den Wettbewerb vorantreiben
wollen. Wir brauchen aber auch den Ausbau der Netze.
Denn es ist klar, dass unsere Netze, wenn unsere Energieversorgung durch KWK und durch erneuerbare Energien dezentralisiert wird, immer leistungsfähiger werden
müssen. Wir brauchen deswegen Rahmenbedingungen,
die auf ein angemessenes Netzentgelt abzielen. Es muss
am Ende so sein, dass der Verbraucher keinen Euro mehr
zahlt als notwendig, zugleich aber Renditen erzielt werden können, die Investitionen in die Netze attraktiv halten. Das ist ein schwieriger Balanceakt, insbesondere für
die Bundesnetzagentur. Aber Enteignungsfantasien, Entflechtungsvorschläge, wie sie aus Brüssel kommen, haben nicht den Nachweis gebracht, dass sie zu dem gewünschten Doppelziel - zu sinkenden Preisen und mehr
Investitionen - führen; wer sich die Zahlen des United
Kingdom anschaut, wird zu diesem Ergebnis kommen.
Meine Redezeit ist abgelaufen, und ich möchte nicht
dem nächsten Redner unserer Fraktion Redezeit stehlen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Der nächste Redner - dem Sie die Redezeit nicht
stehlen können - ist der Kollege Oskar Lafontaine für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich verstehe ja, dass Sie mir gern die Redezeit stehlen würden; aber da steht die parlamentarische Geschäftsordnung davor. Insofern müssen Sie jetzt zuhören.
Es war heute Morgen schon von der sozialen Marktwirtschaft die Rede. Wir definieren soziale Marktwirtschaft als eine wirtschaftliche Ordnung, die Lohndumping und Monopolpreise verhindert. Wenn wir die
Situation in unserem Lande betrachten, müssen wir feststellen, dass wir nicht besonders erfolgreich gearbeitet
haben: Wir haben derzeit fallende Löhne, also echtes
Lohndumping, während die Monopolpreise steigen. Das
ist das Gegenteil von dem, was das Ergebnis der Ordnungs- und Wirtschaftspolitik einer sozialen Marktwirtschaft sein müsste.
({0})
Es hat keinen Sinn, wenn wir hier - dieser Ansatz ist
ja unstreitig - über die energetischen Wirkungsgrade der
Kraft-Wärme-Kopplung dozieren. Die Frage ist vielmehr, in welchem politischen Umfeld wir diskutieren:
Viele Bürgerinnen und Bürger in ganz Deutschland leiden zurzeit darunter, dass sie fallende Löhne, fallende
Renten zu verkraften haben, während die Monopolpreise
schamlos steigen. Das muss das Thema der heutigen Debatte sein.
({1})
Ich widme mich jetzt nicht den fallenden Löhnen, ich
widme mich den steigenden Preisen und sage, dass die
bisherige Ordnungspolitik der Regierung schlicht und
einfach nicht die gewünschten Erfolge hat oder, wenn
man so will, dass in den letzten Jahren eine Ordnungspolitik gemacht worden ist, deren Ergebnisse im Gegensatz zu den Zielen stehen, die immer wieder vorgetragen
werden. Die Monopolunternehmen kassieren immer
noch schamlos ab. Die Leidtragenden sind die Bürgerinnen und Bürger, die, ich sage es noch einmal, mit fallenden Löhnen und fallenden Renten konfrontiert sind. Das
ist die Lage in Deutschland.
({2})
Was kann man machen, um diese Entwicklung zu verhindern? Es gibt einen Ansatz, den die Linke schon
mehrfach vorgetragen hat und den auch andere Fraktionen befürworten: Das ist eine Verschärfung der Kartellgesetzgebung. Eine verschärfte Kartellgesetzgebung ist
in einer marktwirtschaftlichen Ordnung die einzige
Möglichkeit, Monopole zu bekämpfen und dafür zu sorgen, dass der Wettbewerb seine soziale Funktion erfüllt:
zu Preisen zu führen, die akzeptabel sind. Monopole haben die Folgen, die ich angesprochen habe. Die Linke ist
für eine Verschärfung der Kartellgesetzgebung, weil es
nicht darum geht - ich zitiere das sehr gerne -, wirtschaftliche Macht zu kontrollieren, sondern darum, wirtschaftliche Macht überhaupt zu verhindern.
({3})
Das ist ein Ansatz, für den ich mich immer wieder ausgesprochen habe. Ich berufe mich hier nicht auf Karl
Marx, sondern auf Walter Eucken - damit Sie wissen,
woher dieser Ansatz kommt.
Es ist nicht gelungen, wirtschaftliche Macht zu kontrollieren. Wir haben in Deutschland Monopolunternehmen, die die Energiepolitik in den letzten Jahren weitgehend bestimmt haben und die teilweise über Lobbyisten
die Gesetzgebung beeinflusst haben, was zu den negativen Folgen geführt hat, mit denen wir heute konfrontiert
sind.
({4})
Deshalb ist es zu begrüßen, dass die Kartellgesetzgebung verschärft wurde und dass die Verfahren nicht länger auf die Stromerzeuger beschränkt bleiben, sondern
auch auf die Gasversorger ausgedehnt werden. Das war
notwendig.
Ich stimme der Kritik durchaus zu: Es geht nicht an,
dass sich die Monopolunternehmen mit einigen Gesten
freikaufen können. Die Kartellverfahren sollten durchgezogen werden, damit Vertrauen in solche Verfahren
entsteht und nicht damit gerechnet werden muss, dass
der Lobbyismus wieder zu einem Deal führt und die
Kartellverfahren zurückgezogen werden.
({5})
Erstens ist also - darin besteht offensichtlich Übereinstimmung - eine Verschärfung der Kartellgesetzgebung
notwendig, wenn wir Monopolpreise verhindern wollen.
({6})
Zweitens stellt sich die Frage - darin gibt es unterschiedliche Auffassungen -, wer für die Netze zuständig sein
soll. In der Fachdebatte ist es weitgehend unstreitig, dass
man die Netze von den Stromerzeugern trennen sollte.
Ich wundere mich, dass die Bundesregierung in dieser
Frage den falschen ordnungspolitischen Ansatzpunkt
vertritt - damit ist sie innerhalb der Europäischen Union
ziemlich isoliert -, Netzbetrieb und Stromerzeugung
nicht zu trennen. Das passt ordnungspolitisch wie die
Faust aufs Auge. Denn wenn man an dieser Position
festhält, dann wird es nicht gelingen, Monopolpreise zu
verhindern.
({7})
Daher treten wir für die Trennung der Netze von den
Stromerzeugern ein.
Daraus ergibt sich die Frage, wem die Netze übertragen werden sollen. Dabei kann ich mich mit einem gewissen Vergnügen auf Hermann Scheer berufen. Denn er
hat sich als ein Energiepolitiker ausgewiesen, der tatsächlich die Verbraucher und den Umweltschutz im
Blick hat. Er fordert eine öffentliche Netzbetriebsgesellschaft unter gemeinsamer Trägerschaft des Bundes und
der Länder, die Eigentümer aller Stromübertragungsnetze werden sollten. Stromnetze seien unverzichtbarer
Bestandteil der öffentlichen Infrastruktur und gehörten
zur Daseinsvorsorge ebenso wie Straßen und Schienen.
Die Übernahme der Stromnetze durch die öffentliche
Hand könnte Scheer zufolge über die Netznutzungsgebühren refinanziert werden. Eine öffentliche Netzgesellschaft sei zudem neutral gegenüber allen Stromproduzenten und könne behördlich zum Netzerhalt und -ausbau
verpflichtet werden.
Damit trifft Hermann Scheer den Kern der Sache.
({8})
Die private Nutzung der Netze hat nur dazu geführt - das
hat das Beispiel Eon gezeigt -, dass man auf der einen
Seite überhöhte Preise fordert, aber auf der anderen Seite
die notwendigen Netzinvestitionen unterlässt, und wenn
man Schwierigkeiten mit der Kartellbehörde bekommt,
bietet man das mehr oder weniger marode Netz anderen
an. Dass man sich so der Verantwortung entziehen kann,
ist die Folge einer falschen wirtschaftlichen Ordnung im
Stromsektor.
({9})
An dieser Stelle will ich mit besonderem Genuss darauf hinweisen, dass die Kollegen der SPD-Fraktion ihre
Vorlagen überarbeiten müssen. Wenn Sie sich mit den
vermeintlich völlig unhaltbaren Forderungen der Linken
auseinandersetzen, gilt der Vorschlag, die Netze in öffentliche Hand zu übertragen, immer als sehr kostenträchtig. Wir begrüßen es außerordentlich, dass dieser
Vorschlag jetzt aus Ihren eigenen Reihen kommt. Das ist
durchaus eine Veränderung.
Zur Kostensituation möchte ich Folgendes feststellen
- leider ist der Kollege Struck nicht anwesend; vielleicht
kann man es ihm ausrichten -: Man muss die Prozentrechnung beherrschen. Die einzige geistige Aufgabe, die
man leisten muss, besteht darin, 5 Prozent des Sozialprodukts zu errechnen. Wenn man das ausrechnet, dann erkennt man, dass die gesamte Argumentation gegen die
Linke in sich zusammenfällt.
Ich wiederhole mein Angebot: Ich schenke demjenigen eine goldene Uhr, der widerlegt, dass in Deutschland
bei der durchschnittlichen Steuer- und Abgabenquote
Europas in den letzten Jahren keine einzige soziale Kürzung notwendig gewesen wäre. All diese Kürzungen waren ein einziger Betrug, weil man nicht in der Lage war,
in Deutschland eine durchschnittliche Steuer- und Abgabenquote zu erheben, die dem europäischen Durchschnitt entspricht.
({10})
Ich fordere also alle neoliberalen Professoren, Journalisten und Abgeordneten auf, diesen Satz zu widerlegen.
Eine goldene Uhr müsste eigentlich ein Anreiz sein.
Aber zurück zum Thema. Wir halten eine öffentliche
Netzstruktur für notwendig. Der dritte Vorschlag der
Linken, neben der Verschärfung des Kartellrechts und
einer öffentlichen Netzstruktur, ist die Rekommunalisierung der Energieversorgung. Das wird auch durch
meinen Vorredner Herrn Hempelmann gestützt. Sie haben darauf hingewiesen, dass die Kraft-Wärme-Kopplung gerade im kommunalen Bereich finanziert worden
ist. Das hat seine Gründe. Es hängt mit den Auseinandersetzungen zusammen, zu denen es häufig kommt, wenn
vor Ort größere Kraftwerksanlagen durchgeboxt werden
sollen.
Wir hatten eine ähnliche Situation in einer saarländischen Gemeinde, in der RWE die Leistung eines Kraftwerksblocks von 400 Megawatt auf 1 600 Megawatt erhöhen wollte. Hätte man dort beispielsweise eine KraftWärme-Kopplungsanlage auf einer vernünftigen Megawattbasis angeboten, dann wäre das sicherlich bei den
Bürgerinnen und Bürgern auf große Zustimmung gestoßen. Wenn man aber die bisherige falsche Politik fortsetzt,
den Monopolisten große Kraftwerksanlagen zu genehmigen, die keinen vernünftigen Effizienzgrad erreichen,
dann ist es richtig, dass die Bürgerinnen und Bürger eine
solche verfehlte Politik ablehnen. Das ist der entscheidende Zusammenhang.
({11})
Aus diesen Gründen ist die Linke für eine Rekommunalisierung der Energieversorgung. Dies ist nach unserer
Auffassung ein geeignetes Instrument, um dem jetzigen
Trend steigender Monopolpreise entgegenzuwirken und
dem Gedanken des Umweltschutzes Rechnung zu tragen. Aufgrund von Naturgesetzen ist es unwiderlegbar,
dass eine dezentrale Energieversorgung die umweltgerechteste Energieversorgung ist. Wenn man eine dezentrale Energieversorgung will, dann braucht man ein
kartellrechtliches Vorgehen gegen die bisherigen Anbieter, die alles im Sinn haben, aber nicht eine dezentrale
kleinräumige Energieversorgung.
Eine dezentrale Energieversorgung ist aber nicht nur
ökologisch, sondern auch beschäftigungspolitisch sinnvoll, wie alle Untersuchungen in den letzten Jahren gezeigt haben. Man kann hier tatsächlich vieles zusammenbinden. Wenn man akzeptiert, dass man bei
Ökologie nicht nur an Umweltschutz denken darf, sondern diesen Gedanken mit der sozialen Frage verbinden
muss, dann muss man alle ordnungspolitischen Weichenstellungen so vornehmen, dass das Soziale mit dem
Ökologischen verbunden wird; das heißt, man muss Monopolpreise unterbinden. Das heißt für uns auch eine Verschärfung des Kartellrechts und - das wiederhole ich eine öffentliche Netzstruktur, damit man wirklich Wettbewerb organisieren kann.
Es bringt nichts - das ist ein großer Irrtum -, den einen privaten Eigentümer zu wechseln und ihn durch einen anderen privaten Eigentümer zu ersetzen. Auch dieser wird im Sinne haben, hohe Erträge und Renditen zu
erwirtschaften. Damit wird er genauso preistreibend wie
die bisherigen Netzeigentümer wirken. Geben Sie diesen
verfehlten ordnungspolitischen Ansatz endlich auf!
({12})
Da Sie eben wieder von der DDR angefangen haben,
muss ich Ihnen sagen, dass das langsam ein bisschen billig und nervend ist. Im Norden Europas befindet sich
nicht die DDR. Wenn Sie beispielsweise in Dänemark
oder Schweden Verhältnisse wie in der DDR festgestellt
haben, dann haben Sie vielleicht eine falsche Sichtweise.
Ich möchte nur darauf hinweisen, dass man in diesen
Staaten sehr gute Erfahrungen mit der öffentlichen Netzstruktur gemacht hat. Ich fahre gerne mit Ihnen dorthin
und unterhalte mich vor Ort mit konservativen und auch
liberalen Politikerinnen und Politikern. Für die Linke reklamiere ich eine solche Struktur. Sie ist ein besseres Instrument als die bisherige Netzstruktur und wird zu sinkenden Preisen führen.
Ich fasse zusammen. Wir können die Energiedebatte
nicht nur auf der Grundlage technischer Daten führen.
Wir können die Energiedebatte nicht abgehoben von der
gesellschaftlichen Wirklichkeit in der Bundesrepublik
führen. Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass wir
hier ordnungspolitisch versagt haben, weil wir eine wesentliche Zielsetzung der sozialen Marktwirtschaft grob
verfehlt haben. Deutschland hat die dritthöchsten Gaspreise und mit die höchsten Strompreise in Europa. Sie
liegen um 50 Prozent - man höre! - über dem europäischen Durchschnitt. Wenn noch fallende Löhne hinzukommen, dann zeigt das, dass die bisherige Energiepolitik zu korrigieren ist. Sie muss einer Energiepolitik
weichen, die Umweltschutz und Soziales miteinander
verbindet. Dazu haben wir Vorschläge gemacht.
({13})
Das Wort erhält nun die Kollegin Bärbel Höhn, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
fand die Rede von Oskar Lafontaine schon spannend;
denn eines hat er nicht gemacht: Er hat nicht zum Thema
geredet.
({0})
Er hat sich gedacht: KWK - das versteht sowieso kein
Mensch; die Kraft-Wärme-Kopplung ist so abstrakt. Da
trage ich lieber meine bekannten Positionen wieder vor.
Ihre Art, Energiepolitik zu betreiben, Herr
Lafontaine, ist sehr widersprüchlich.
({1})
Sie haben eben wieder das Kraftwerk Ensdorf im Saarland genannt; da kennen Sie sich ja gut aus. Die Leute
haben mir auf einer Veranstaltung in Ensdorf - auch ich
bin dort gewesen - gesagt, dass Sie sich gegen das Kraftwerk aussprechen, weil dort keine heimische Kohle verfeuert wird.
({2})
Hier gilt offensichtlich das Motto: Wenn saarländische
Kohle verfeuert würde, dann würde es kein CO2-Problem geben. - Diese Energiepolitik ist nicht konsistent,
Herr Lafontaine.
({3})
Sie haben hier zu Recht gesagt: Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen sind eine gute Sache. - Darum geht es hier
ja eigentlich. Ich frage Sie nun aber: Warum verteidigen
Ihre Parteifreunde in den neuen Bundesländern jedes
Braunkohlekraftwerk, und zwar große Kohlekraftwerke,
die überhaupt keine Wärme auskoppeln können?
({4})
Ihre Haltung ist, auf alle Fragen eine einzige Antwort zu
geben, egal wie das Thema heißt, nämlich Verstaatlichung. Da muss ich in der Tat sagen: Das ist nicht die
richtige Logik, Herr Lafontaine. Verstaatlichung allein
ist kein Konzept.
({5})
Frau Kollegin Höhn, darf Ihnen die Kollegin
Enkelmann eine Zwischenfrage stellen?
Ja.
Frau Kollegin Höhn, Sie haben gerade behauptet, die
Linke stimme für weitere Braunkohlekraftwerke. Ist Ihnen bekannt, dass die Linke in Brandenburg eine Volksinitiative gegen den Aufschluss weiterer Braunkohletagebaue und gegen den Bau weiterer Kraftwerke
unterstützt? Dann können Sie hier nicht so etwas behaupten.
({0})
Das ist mir in der Tat bekannt. Auf der einen Seite
nehmen Sie in Brandenburg diese Position ein, weil Sie
versuchen, die Stimmung in der Bevölkerung zu nutzen;
({0})
auf der anderen Seite stellen Sie sich in anderen Bundesländern hin und verteidigen die Braunkohlekraftwerke.
Frau Enkelmann, das ist doch widersprüchlich:
({1})
Einmal so und einmal so, wie gerade der Volkswille ist.
Das geht nicht. Sie müssen schon eine konsistente Politik betreiben und ein klares Konzept haben; sonst funktioniert es nicht. Ich kenne mich in dieser Debatte, gerade
in Bezug auf die neuen Bundesländer, ganz gut aus.
({2})
Ich habe mich gerade gemeinsam mit Ihren Kollegen
vor Ort gegen das Kraftwerk in Lubmin ausgesprochen;
es gibt bei Ihnen ein paar Vernünftige. Es gibt aber auch
die anderen, die eine vollkommen kontraproduktive Politik betreiben. Wie Sie handeln, hängt davon ab, wie die
Stimmung vor Ort ist. Das mache ich Ihnen zum Vorwurf; denn wer immer nur die Stimmung vor Ort aufgreift, betreibt keine Politik, die durchgehend nachvollziehbar ist.
({3})
Wir debattieren hier über Kraft-Wärme-Kopplung;
ich möchte darauf zurückkommen. Kraft-Wärme-Kopplung hört sich irgendwie abstrakt an. Ich schätze einmal,
50 Prozent der Bevölkerung wissen gar nicht, was KraftWärme-Kopplung ist. - Herr Präsident, Sie haben ein
Zeichen gegeben?
Ja, so ist es. Ich bin ganz gerührt; denn es kommt so
selten vor, dass Redner prompt auf solche Signale reagieren. - Auch die Kollegin Kurth wollte Ihnen eine
Zwischenfrage stellen.
Okay.
Ich möchte dafür sorgen, dass bei der Debatte hier im
Hause kein einseitiges Bild entsteht, und daher meine
Fraktionskollegin Bärbel Höhn fragen, ob ihr bekannt
ist, dass im Burgenlandkreis - er liegt meines Wissens in
den neuen Bundesländern - gerade von SPD, CDU, FDP
und der Linken einträchtig ein Beschluss für den Bau eines Kraftwerks in Profen und für die Erschließung eines
neuen Braunkohletagebaus gefasst worden ist?
({0})
Ja. Ich bedanke mich bei der Kollegin Kurth, dass sie
darauf hingewiesen hat, damit die Widersprüche noch
einmal deutlich werden.
({0})
Ich möchte zur Kraft-Wärme-Kopplung zurückkommen. Ich sagte bereits: Ich glaube, 50 Prozent der
Bevölkerung wissen gar nicht, was das ist. Bei uns gibt
es große Kraftwerke, die Strom erzeugen. Die meisten
dieser großen Kraftwerke können die Wärme, die dabei
produziert wird, überhaupt nicht nutzen. Eine KraftWärme-Kopplungsanlage - das ist entscheidend - koppelt Strom, also Kraft und Wärme. Die großen Anlagen,
die bei uns in Deutschland stehen und Strom erzeugen,
können die abgegebene Wärme nicht nutzen und sind
deshalb absolut ineffizient.
Woran liegt es, dass diese nichteffizienten Kraftwerke
so stark verbreitet sind? Würden Sie hier in Berlin ein
großes Kraftwerk auf dem Alex bauen? Nein, denn die
Leute würden dann natürlich sofort demonstrieren; das
würden sie sich nicht gefallen lassen. Also werden die
großen Kraftwerke draußen auf dem Land gebaut. Dort
gibt es aber niemanden, der die Wärme abnehmen kann.
Der Effizienzgrad der alten Kraftwerke liegt bei rund
30 Prozent; die neuen Kraftwerke haben einen Effizienzgrad von 45 Prozent. Das heißt, dass mehr als die Hälfte
der Energie ungenutzt bleibt und nicht von der Bevölkerung genutzt werden kann. Diese Art von großen Kraftwerken - die Wärme kann nicht genutzt werden, weil es
keinen gibt, der sie abnimmt - können wir uns unter Gesichtspunkten des Klimaschutzes nicht mehr leisten.
({1})
Die kleinen Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen - sie
sind teilweise so klein, dass man sie in ein Hotel oder in
ein Familienhaus einbauen kann - haben einen Effizienzgrad von über 90 Prozent. Das heißt, nur ein kleiner Teil
der Energie geht verloren. Wir führen gerade die Diskussion: Können wir uns neue große Kraftwerke in
Deutschland noch leisten? Wir, die Grünen, sagen dazu:
Wir können uns in Deutschland keine großen Kohlekraftwerke, keine großen Braunkohlekraftwerke und
keine großen Steinkohlekraftwerke, mehr leisten; das ist
mit dem Klimaschutz nicht vereinbar.
({2})
Interessanterweise sagt das Bundesumweltministerium: Wir können noch sechs oder sieben davon bauen,
mehr aber nicht. Das finde ich schon spannend. De facto
ist es aber so, dass momentan über 20 dieser großen
Kraftwerke schon im Bau oder im Genehmigungsverfahren, also kurz vor der Realisierung, sind.
Ich will noch einmal an einen Satz von Angela
Merkel aus dem letzten Jahr erinnern. Sie hat gesagt,
dass jeder Mensch auf dieser Erde das Recht hat, die
gleiche Menge CO2 auszustoßen. Wir wissen von den
Experten, dass das nicht mehr als 2 Tonnen pro Person
und Jahr sein dürfen, eher weniger. - Herr Göppel nickt. Da wir in Deutschland 80 Millionen Menschen sind,
dürfen wir im Jahr 2050, für das dieses Ziel angestrebt
wird, also einen CO2-Ausstoß von 160 Millionen Tonnen haben.
Dieselbe Angela Merkel, die diesen Satz zu Recht gesagt hat, legt dann aber zusammen mit dem damaligen
RWE-Chef Roels - jetzt heißt der Chef Großmann - den
Grundstein für das Braunkohlekraftwerk in Neurath.
Und welchen Wirkungsgrad hat dieses Kraftwerk?
43 Prozent. Welchen CO2-Ausstoß hat es? 14 Millionen
Tonnen. Allein dieses eine Kraftwerk wird im Jahre
2050 10 Prozent der CO2-Menge ausstoßen, die uns
dann noch erlaubt sein wird. Da sieht man, wie absurd es
ist, eine solche Politik zu machen. Das geht so nicht!
({3})
Man darf nicht auf der einen Seite immer sagen, man sei
für den Klimaschutz, sich aber auf der anderen Seite
zum Beispiel für das große Kraftwerk in Lubmin oder
das Kraftwerk in Neurath aussprechen.
Interessant ist auch die Position der SPD. Ich habe
mir genau angeschaut, was die SPD auf ihrem Parteitag
im letzten Jahr beschlossen hat. Man hat sich gegen
große Kraftwerke ausgesprochen. Wenn es überhaupt
noch Steinkohlekraftwerke geben solle, dann nur als
kleine Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen.
({4})
Es ist schon spannend, dass die SPD-Basis weiter ist als
der Bundesumweltminister. Denn dieser verteidigt immer noch die großen Kraftwerke.
({5})
Das Gesetz, über das wir momentan sprechen, ist absolut notwendig. Wenn wir unsere Klimaschutzziele erreichen wollen, müssen wir es besser machen als bisher.
Denn das alte KWK-Gesetz hat nicht das erfüllt, was alle
sich davon erwartet hatten. Kraft-Wärme-Kopplung
hat momentan einen Anteil von gerade einmal gut
11 Prozent. Wir bräuchten aber viel mehr. Deshalb ist es
falsch, wenn jetzt ein Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz
vorgelegt wird, das eine Ausgabendeckelung bei
750 Millionen Euro vorsieht. Das ist zu wenig Geld, insbesondere wenn 20 Prozent der Mittel für den Netzaufbau eingesetzt werden sollen. Wir brauchen mehr Geld
für die Kraft-Wärme-Kopplung; denn wir brauchen
mehr Kraft-Wärme-Kopplung in diesem Land.
({6})
- Sehr schön, dass Sie mir dieses Stichwort geben, Frau
Kopp. Das Bundesumweltministerium hat nämlich ausgerechnet, dass Kraft-Wärme-Kopplung sich sehr wohl
rechnet, und zwar in Höhe von 12,90 Euro je eingesparter Tonne CO2.
Schauen Sie sich nur einmal an, wie teuer das
- durchaus notwendige - Gebäudesanierungsprogramm
ist, das dieselbe Bundesregierung aufgelegt hat, die dieses Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz vorgelegt hat. Verglichen mit den Kosten dafür, ist auch die Reduzierung
des CO2-Ausstoßes durch Kraft-Wärme-Kopplung finanziell effizient. Genau das wollen wir, und deshalb
müssen wir in diesem Bereich mehr tun.
({7})
Schauen wir doch einmal, was andere können. Dänemark liegt mittlerweile bei 53 Prozent Kraft-WärmeKopplung. Die Niederlande liegen bei 38 Prozent. Sie
haben in den 90er-Jahren in nur fünf Jahren eine Verdoppelung hinbekommen. Es gibt eine Aussage vom Bremer
Energie-Institut, wonach in Deutschland 57 Prozent
Kraft-Wärme-Kopplung wirtschaftlich möglich seien.
Diese 57 Prozent sollten wir so schnell wie möglich anstreben. Das muss das Ziel sein.
({8})
Ich möchte noch kurz auf die Stromnetze eingehen,
über die gerade diskutiert wurde, obwohl sie eigentlich
nicht Thema der Debatte sind. Eon hat in der letzten Woche in der Tat einen Coup gelandet, indem es seine Netze
einfach zum Verkauf angeboten hat. Herr Glos, ich
möchte einmal wissen, wie Sie sich gefühlt haben, als
Sie in Brüssel noch über einen dritten Weg verhandelt
haben, als Sie als Lobbyist von RWE gekämpft haben
und aus der Zeitung erfahren haben, dass Eon schon
lange einen Deal mit der EU-Kommission gemacht hat.
Das war doch eine Blamage für die Bundesregierung!
({9})
Es war auch deshalb eine Blamage, weil Ihr dritter Weg
überhaupt nicht tragfähig ist. Das, was Sie wollten, ging
zurück auf die Lobbyarbeit der Energiekonzerne, aber
noch nicht einmal aller. Eon hat dann gezeigt, dass es,
um nicht in dem Kartellverfahren zu unterliegen und
hohe Strafen zahlen zu müssen, bereit ist, sich auf einen
Deal einzulassen. Ich gebe Ihnen recht, dass das nicht in
Ordnung ist.
Aus meiner Sicht ist die Infrastruktur, also die Energienetze und das Schienennetz der Bahn, für die Wirtschaft in diesem Land absolut wichtig und notwendig.
Deshalb muss der Staat die Kontrolle über die Infrastruktur haben.
({10})
Ob das alles in staatlicher Hand sein muss, ist eine
zweitrangige Frage. Entscheidend ist doch, welche Kriterien wir für die Netze festlegen. Wir müssen für einen
Ausbau sorgen, sodass der im Norden mit Windkraft erzeugte Strom in das Netz eingespeist werden kann. Es
kann nicht sein, dass ein großer Teil dieses Stroms nicht
in das Netz eingespeist werden kann. Das müssen wir
ändern. Wir müssen des Weiteren die Netzengpässe beseitigen und die Kuppelstellen ausbauen. Wir müssen
zudem neuen Stromproduzenten den Zugang zu den Netzen erleichtern. Das sind die entscheidenden Kriterien.
Ob das alles in staatlicher Hand sein muss oder ob das
im Rahmen einer privaten Gesellschaft gemacht wird, ist
eine zweitrangige Frage. Zuerst geht es um das inhaltliche Ziel, die Gestaltung der Netze. Liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Linken, es ist total einfach, permanent Verstaatlichung zu fordern. Aber das ist nicht immer das beste Mittel. Gehen Sie ein bisschen differenzierter an die Sache heran!
({11})
Lassen Sie uns schauen, was sinnvoll ist: Ist es besser,
wenn es in staatlicher, oder ist es besser, wenn es in privater Hand bleibt? Ist zum Beispiel eine Netzgesellschaft besser, die sowohl privat als auch staatlich sein
kann? Das sehen wir in Dänemark und in der Schweiz.
Das wäre ein viel besseres Vorgehen. Das sollten wir
auch tun. Lassen Sie uns lieber inhaltlich diskutieren, anstatt plumpe ideologische Lösungen vorzuschlagen! Das
brauchen wir nicht.
({12})
Das Wort erhält nun der Bundesumweltminister
Gabriel.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
mich nicht in meiner Eigenschaft als Minister, sondern
als Abgeordneter des Deutschen Bundestages gemeldet.
Ich danke der SPD-Fraktion, dass sie mir Gelegenheit
gibt, ihr sozusagen die Redezeit zu stehlen. Es war nicht
beabsichtigt, dass ich nach Herrn Lafontaine spreche.
Herr Minister, ich mache Sie darauf aufmerksam,
dass Sie sich mit dieser Klarstellung dem starren Regime
unseres Redezeitmanagements unterworfen haben.
({0})
Ich habe mir vorher sagen lassen, dass ich nur fünf
Minuten reden darf, und die schlimme Konsequenz erklären lassen, wenn nicht.
Ich finde es gut, dass Herr Lafontaine gesagt hat, welche Richtung er bei der Energiepolitik in Deutschland
einschlagen will. Erstens. Frau Höhn hat absolut recht:
Es wird in den nächsten Jahren um den Netzausbau gehen. Zweitens. Es ist eine zweitrangige Frage, wer der
Träger des Netzausbaus ist. Drittens. Es ist interessant,
festzustellen, wie die Realitäten dort aussehen, wo sich
die Netze in öffentlichem Eigentum befinden. Herr
Lafontaine, Sie haben auf die skandinavischen Länder
verwiesen. Wenn man Dänemark dazuzählt, dann muss
man feststellen: Dort, wo sich die Netze in öffentlichem
Eigentum befinden, gibt es die höchsten Nutzungsentgelte. Herr Lafontaine, auch ich bin mit der Höhe der
Strompreise in Deutschland nicht zufrieden. Aber eines
ist klar: Deutschland ist netto Stromexporteur. Sie sagen
immer, Sie hätten viel Ahnung von Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie der Börse. Dann wissen Sie, dass die
Preise an den europäischen Strombörsen festgelegt werden. Es fließt nur deshalb Strom von Deutschland in andere europäische Staaten, weil dort die Preise höher sind
als in Deutschland. Das ist die Realität der Stromversorgung in Deutschland.
({0})
Wenn Sie der geschätzten Öffentlichkeit erklären, wir
sollten das alles verstaatlichen bzw. zurückkaufen, dann
sollten Sie wenigstens einen Satz dazu sagen, dass die
Voraussetzung dafür ist, dass der Staat eine vernünftige
Wirtschafts- und Finanzpolitik betreibt und einen ausgeglichenen Haushalt hat. Sie können der Öffentlichkeit
nicht bei jeder Gelegenheit sagen, der Staat solle es bezahlen, und dabei die Antwort auf die Frage schuldig
bleiben, wie wir zu vernünftigen staatlichen Einnahmen
kommen sollen.
({1})
Was Sie in der Wirtschafts- und Finanzpolitik wollen,
führt dazu, dass das, was Sie hier öffentlich erklären,
überhaupt nicht möglich ist. Mir geht es auch um die
Konsequenzen Ihres Handelns.
Sie fordern die Rekommunalisierung. Sie wollen
also den Netzausbau in Deutschland, die Milliardeninvestitionen, die notwendig sind, den Kommunen aufbürden. Ich kann bei dem Vorschlag nur sagen: Gute Besserung. - Das wird dazu führen, dass wir mit dem
Netzausbau nicht vorankommen. Das Ergebnis wird
sein, dass die erneuerbaren Energien nicht marktfähig
werden. Übrigens werden auch die Stadtwerke keine Investitionen in Anlagen zur Kraft-Wärme-Kopplung tätigen, wenn Sie ihnen den Netzausbau in Deutschland aufbürden. Was Sie machen, ist blanke Rabulistik und
nichts anderes. Das hat mit Energiepolitik und Energieversorgung in Deutschland überhaupt nichts zu tun.
({2})
Deutschland hat übrigens die größte Netzstabilität in
ganz Europa; Deutschland hat die geringsten Ausfallzeiten in ganz Europa. Es ist nicht ganz ohne, daran weiter
zu arbeiten. Das erfordert Investitionen in das Netz. Die
Voraussetzung dafür ist, dass der Netzeigentümer Rendite erwirtschaftet. Tun Sie doch nicht so, als müsste ein
Netzeigentümer in Zukunft keine ausreichenden Renditen mehr erwirtschaften! Bei dem, was Sie öffentlich erzählen, kann man den Eindruck gewinnen, dass das ein
Nullsummengeschäft ist. Ich sage Ihnen: Da werden
Milliardeninvestitionen fällig. Deswegen muss in diesem Bereich auch Geld verdient werden können.
Wir werden über die Eigentümerstruktur zu reden haben. Ich zum Beispiel will nicht, dass ausländische
Staatsfonds zu neuen Oligopolisten werden und die alten
Oligopolisten ablösen. Ich will nicht, dass Arbeitnehmerinteressen gefährdet werden.
({3})
Der Staat muss Rahmenbedingungen schaffen, aber wir
sind doch nicht selber Unternehmer in dem Bereich.
Wenn dem so wäre, dann hieße das, dass unsere Beamtinnen und Beamten bessere Netzinvestoren wären als
diejenigen, die damit Geld verdienen wollen. Ich will
den wirtschaftlichen Anreiz, mit dem Netz Geld zu verdienen, nutzen, damit mehr Anbieter in das Netz einspeisen können und damit mehr Wettbewerb entsteht. Es soll
am Netz Geld verdient werden und nicht daran, dass
man das Netz besitzt und andere, die einspeisen wollen,
außen vor lässt. Darum geht es in der öffentlichen Debatte. Das wollen wir durchsetzen.
({4})
- Doch, wir tun das in Deutschland über eine Regulierungsbehörde. Wir haben nämlich inzwischen so niedrige Netznutzungsentgelte, weil es eine Regulierungsbehörde gibt, die sich darum kümmert,
({5})
und nicht deshalb, weil wir Eigentümer sind. - Wir
setzen auf die dezentrale Energieversorgung, Herr
Lafontaine redet darüber.
({6})
Der Anteil der erneuerbaren Energien am Strommarkt
beträgt inzwischen 14 Prozent. Das ist deutlich mehr, als
wir erwartet haben. Wir wollen den Anteil auf bis zu
30 Prozent ausbauen. Es sind nicht nur die Kommunen
alleine, sondern Hunderttausende von Menschen in
Deutschland, die ihr Geld in erneuerbare Energien investiert haben, in Windenergie, in Solarenergie, in Wärmepumpen und in Holzpelletanlagen.
({7})
Das ist dezentrale Energieversorgung. Wir setzen auf das
Kartellrecht und verschärfen es. Herr Glos tut das. Wir
brauchen Ihre Ratschläge nicht dazu. Wir brauchen
auch, Herr Lafontaine, niemanden, der den Eindruck erweckt, es gehe ihm hier im Bundestag um Klimaschutz;
denn Mitglieder seiner eigenen Fraktion fordern dort, wo
sie betroffen sind, mehr Verschmutzungsrechte für
Braunkohlewerke in Deutschland. Das ist die Doppelzüngigkeit in der Energiepolitik, die Sie und Ihre Fraktion permanent an den Tag legen.
Vielen Dank.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst Folgendes feststellen: Frau
Höhn, wenn Sie mir vor einigen Monaten gesagt hätten,
dass ich einmal Ihre Meinung teile und Ihnen voller
Überzeugung hier in diesem Hause applaudiere, dann
hätte ich das in das Reich der Fabel verwiesen. Aber
heute war es so.
({0})
Sie hatten im Wesentlichen mit dem, was Sie hier ausgeführt haben, recht.
Auch ich möchte auf die Linken und Meister
Lafontaine eingehen; denn das ist in der Tat doppelzüngig und scheinheilig. Es sind schon die richtigen Begriffe genannt worden. Er stellt sich hier hin und sagt,
dass die Preise steigen. In der Tat, die Preise steigen,
({1})
aber sie steigen auch deshalb, weil 40 Prozent des Preises von Haushaltsstrom staatlich induziert sind, aus
Steuern und Abgaben bestehen. Ihre Fraktion hat schon
zig Anträge gestellt, aber schauen Sie einmal dorthin, wo
Sie in Verantwortung sind wie hier in Berlin. Was passiert dort mit den Abgaben, mit der Konzessionsabgabe
und anderen? Sie erhöhen sie. Das heißt, Sie sind der
größte Preistreiber.
({2})
Sie haben sich als Retter bzw. Hüter des Kartellrechts
hingestellt. Ich frage mich, wo Sie waren, als wir darüber im Wirtschaftsausschuss und hier im Plenum diskutiert haben. Sie haben gegen die Novelle des Kartellrechts gestimmt, die wir im letzten Jahr eingebracht
haben.
({3})
Das ist schon etwas doppelzüngig.
Zum Thema staatliche Netze. Das Netz ist ein natürliches Monopol. Ob das natürliche Monopol in staatlichem oder privatem Eigentum ist - es bleibt ein natürliches Monopol. Deshalb brauchen wir eine Regulierung,
die diesem natürlichen Monopol entsprechende Rahmenbedingungen setzt und einen Als-ob-Wettbewerb
darstellt. Hier haben wir vor fast drei Jahren gehandelt,
und als Folge der seinerzeit eingeführten Regulierung
sinken die Netznutzungsentgelte. Noch im vorletzten
Jahr betrug der Anteil der Netznutzungsentgelte bei
Haushaltsstrom 35 Prozent; im letzten Jahr sind die Entgelte um 1 Cent gesunken. Das heißt, die Regulierung
hatte eine preisdämpfende Wirkung; dies werden Sie
durch staatliche Reglementierung mit Sicherheit nicht
erreichen. Insofern ist es unerträglich, wenn Sie hier den
Robin Hood, den Rächer aller Enterbten, geben, in Wirklichkeit aber der Sheriff von Nottingham sind, der die
Leute mit Planwirtschaft und Sozialismus entmündigt
und auspresst. Das geht so wirklich nicht; das muss man
einmal in aller Deutlichkeit sagen.
({4})
Jetzt aber zum Thema des heutigen Tages, der KWKFörderung und der Liberalisierung des Zähl- und Messwesens: Die Große Koalition ist keine innige Liebesbeziehung, wohl aber eine funktionierende Arbeitsbeziehung. Dies zeigt sich auch bei den beiden Themen, die
wir jetzt diskutieren. Es ist schon ein bisschen schwierig,
zu erklären, was KWK überhaupt bedeutet; Herr Kollege
Hempelmann und andere haben es versucht. Wenn man
sich mit Leuten, die nicht jeden Tag mit dem Energiebereich zu tun haben, über Kraft-Wärme-Kopplung unterhält, dann gucken sie einen erst einmal etwas komisch
an. KWK ist in der Tat keine neue Kraftsportart und
auch nichts Unanständiges; es soll niemand verkuppelt
werden.
Bei KWK geht es schlicht um die Tatsache, dass bei
der Stromerzeugung auch Wärme entsteht und dass diese
Prozesswärme für Heiz- oder Kühlzwecke sehr effizient
eingesetzt werden kann und muss. Eigentlich brauchte
KWK gar nicht gefördert zu werden, weil es jeder von
sich aus machen müsste. Leider ist das aber nicht der
Fall. Da aus verschiedenen Gründen KWK nicht im notwendigen Umfang stattfindet, müssen wir das KWK-Gesetz erneut revidieren, Frau Kollegin Kopp. Es hat zwar
nicht nicht gewirkt, wie Sie gesagt haben, aber es hat
nicht in dem Umfang gewirkt, wie wir es uns vorgestellt
haben. Deshalb justieren wir jetzt das KWK-Gesetz neu
und ergänzen es um die Wärmenetze. Es soll also auch
die Möglichkeit geben, über KWK Wärmenetze zu fördern. Ich habe es gerade zu beschreiben versucht: Wenn
jemand in einer Anlage durch Stromerzeugung auch
Wärme erzeugt, dann braucht er einen Abnehmer - eine
Senke -, der diese Wärme kontinuierlich über das ganze
Jahr abnimmt.
Bei der Ausstattung mit Netzen gehen wir sehr differenziert vor und fordern keine Wärmenetze und auch
keine Nahwärmepflicht. Bei Neubaugebieten brauchen
wir heute nämlich keine Wärmenetze und auch keine
Kraft-Wärme-Kopplung im großen Stil mehr, weil wir
mit dem Passivbaustandard oder gar mit dem Plus-Haus
nicht mehr so viel Wärmebedarf - keine so große Wärmesenke - in einem Neubaugebiet haben. Dort brauchen
wir Klein-KWK, was wir mit diesem Gesetz jetzt auch
fördern wollen. Wir wollen mit diesem KWK-Gesetz
neue, innovative Anlagentechniken einsetzen können,
die in Deutschland entwickelt wurden und jetzt zum Exportschlager werden.
Was wollen wir damit erreichen? Wir haben das Integrierte Klima- und Energieprogramm und CO2-Reduktionsziele, die wir alle unterstützen und die natürlich
nicht nur mit einem Instrument erreicht werden können.
Insgesamt wollen wir bis 2020 CO2 um eine Größenordnung von 220 Millionen Tonnen reduzieren. So, wie wir
das Gesetz jetzt angelegt haben, können wir mit einem
Beitrag von 15 Millionen Tonnen 7 Prozent davon erreichen. Wir machen das aber nicht nur deshalb, sondern
auch, weil es effizient ist. Es ist eine Win-win-Situation,
die letztlich allen Beteiligten etwas Positives bringt.
Nun gehe ich auf den zweiten Punkt, die Liberalisierung des Mess- und Zählwesens, ein, der etwas technisch daherkommt, aber in seiner Bedeutung nicht hoch
genug einzuschätzen ist. Heute bekommt jeder Bürger
einmal im Jahr seine Stromrechnung, und während des
Jahres leistet er Abschlagszahlungen auf der Basis des
Vorjahresverbrauchs. Er weiß also gar nicht, was er monatlich, geschweige denn täglich oder stündlich an
Strom verbraucht. Er kann zwar ab und zu einmal in den
Keller gehen und den alten analogen Zähler ablesen - da
läuft so eine komische Drehscheibe -; aber letztlich hat
er keine direkte Beziehung zu dem von ihm verursachten
Stromverbrauch. Mit den neuen Techniken - ich bin
überzeugt, dass sie eine Revolution auslösen werden erhält der Verbraucher die Hoheit über seinen Stromverbrauch; denn er kann sich jederzeit am Computer anschauen, wie viel Strom er verbraucht, etwa wenn er
fernsieht, seine Geräte im Standby laufen lässt, sich rasiert oder auch nicht rasiert, wie mancher hier im Haus;
Herr Thierse ist nicht da. Durch die neuen Techniken
entstehen auch neue Geschäftsfelder; es werden neue
Produkte und Dienstleistungen angeboten werden. Es
wird sogar so weit gehen - dazu gibt es schon erste
Überlegungen -, dass man einen Kuchen zwei Stunden
später backt, weil nicht nur Großverbraucher, sondern
auch Angehörige normaler Haushalte die jeweils aktuellen Strompreise kennen. Das heißt, der vermeintlich
kleine Schritt der Liberalisierung des Zähl- und Messwesens wird zu großen Umwälzungen führen und Effizienzvorteile für alle bringen: für den Verbraucher im
Haushalt sowie für die Industrie und das Gewerbe. Der
Wettbewerb eröffnet neue Geschäftsfelder. Das ist die
Energiepolitik, die wir betreiben wollen. Wir setzen auf
Wettbewerb und erreichen so das Beste für den Verbraucher und die Wirtschaft.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun der Kollege Dirk Becker, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Nachdem wir Sozialdemokraten uns die Redezeit solidarisch geteilt haben, möchte ich mich auf einige Eckpunkte zum Thema Kraft-Wärme-Kopplung beschränken. Zu den allgemeinen energiepolitischen Themen ist
genug gesagt worden. Die Aussagen zur Kraft-WärmeKopplung waren übersichtlich. Ich möchte daher einige
Punkte noch einmal betonen.
Frau Höhn und Herr Pfeiffer haben zu Recht von dem
Problem berichtet, Kraft-Wärme-Kopplung zu vermitteln. Das ist nicht sexy. Solarenergie, Geothermie, das
sind spannende energiepolitische Themen. Kraft-WärmeKopplung ist eigentlich viel zu einfach: Es geht darum,
einen normalen Verbrennungsprozess, egal mit welchem
Brennstoffträger, zu nutzen, um Wärme und Strom auszukoppeln. Das ist eine ganz einfache Sache. Die höchste
Effizienz, die es auf dem Energiemarkt gibt, zu nutzen
und somit einen nennenswerten Beitrag zum Klimaschutz
zu leisten, ist der Kern der heutigen Diskussion.
Heute Morgen haben beide Energieminister gesprochen - ich sehe gerade keinen von beiden -;
({0})
ich will auf den ersten kurz Bezug nehmen. Herr Glos
hat natürlich - das ist in Energiedebatten üblich - einen
Schwenk auf das Thema Atomenergie gemacht. Dass es
darüber in der Großen Koalition unterschiedliche Auffassungen gibt, wissen wir. Eines will ich deutlich sagen:
Wenn wir die Energie, die wir verwenden, um das
Thema Atomenergie strittig zu diskutieren, nutzen würden, um die KWK auszubauen, würde sich die Diskussion über die Atomenergie erledigen; denn die Potenziale der KWK sind entsprechend groß.
({1})
- Frau Kopp, Sie schütteln den Kopf: Das ist nicht
Beckers Wunschkonzert. Sie sollten die Gutachten lesen.
Sie sollten schauen, was eine Enquete-Kommission des
Deutschen Bundestages ermittelt hat: Die Potenziale
sind riesig. - Dass Ihnen das nicht passt, ist klar. Ihre
energiepolitische Linie führt in eine Einbahnstraße.
KWK ist im Endeffekt ein wichtiger Baustein für den
Energiemarkt der Zukunft.
({2})
Die SPD-Fraktion hat schon 2005 begonnen, einen
Gesetzentwurf vorzubereiten. Wir haben ihn letztes Jahr
in die Diskussion eingebracht. Das war aufgrund der
Haltung des zuständigen Ministeriums lange Zeit nicht
einfach, weil es grundsätzlich andere Ausrichtungen bezüglich der Fragen „Ist KWK schon eigenwirtschaftlich
darstellbar?“ und „Wie sieht es mit der Erreichung des
Ziels, den CO2-Ausstoß zu vermindern, aus?“ gab. Ich
möchte mich beim Wirtschaftsministerium ausdrücklich
bedanken - man braucht jetzt nicht zurückzublicken -,
dass dort mittlerweile die Einsicht eingetreten ist, dass es
weiterhin einer umfassenden Förderung der Kraft-WärmeKopplung bedarf, damit wir unser gemeinsam vereinbartes Ziel erreichen. Dieses Ziel heißt: Der Anteil des
KWK-Stroms soll bis 2020 auf 25 Prozent steigen.
Ich sage sehr deutlich: Für die SPD ist dieses Ziel das
Kriterium, an dem wir unsere Maßnahmen ausrichten
wollen. Wenn wir dieses Ziel verfehlen, ist nicht nur ein
Ziel im IKEP verfehlt. Wenn wir mit dieser Technologie
die 25 Prozent nicht erreichen, scheitert auch das Ziel
der Bundeskanzlerin, bis 2020 die Energieeffizienz in
diesem Land zu verdoppeln. Ohne KWK gelingt es
nicht. Ohne KWK realisieren wir auch keine 40 Prozent
CO2-Minderung. Das heißt: KWK ist ein Schlüsselbaustein in der gesamten Klimastrategie, und so sollten wir
sie jetzt auch behandeln.
Wir begrüßen ausdrücklich, dass das Wirtschaftsministerium Eckpunkte, die unseren Forderungen entsprechen, gesetzt hat. Dazu gehören Neubau und Modernisierung ohne Größenbegrenzung. Frau Höhn, an dieser
Stelle bin ich anderer Auffassung als Sie. Wir können
nicht sagen, dass KWK toll und effizient ist, dies aber
nur im kleinsten Bereich wollen. Sie sprachen von Hotels, Areal- und Objektversorgung. Wenn wir die Kapazitäten in diesem Land insgesamt erneuern wollen, gehört es zur ehrlichen Diskussion, dass wir auch große
Anlagen mit dem Brennstoff Kohle brauchen, die in der
Doppelung der Energieauskopplung für Wärme und
Strom wesentlich effizienter sind als konventionelle
Kondensationskraftwerke. Das müssen wir den Menschen ehrlich sagen, um für Akzeptanz größer Kraftwerke, unabhängig vom Brennstoff, zu werben.
({3})
Für uns Sozialdemokraten sind im Endeffekt drei weitere Punkte wichtig. Die industrielle KWK muss in Gänze
berücksichtigt werden, nicht nur das produzierende Gewerbe. Wir müssen den Anmeldezeitraum - Rolf
Hempelmann hat es gesagt - verlängern. Man müsste eigentlich sagen: bis die 25 Prozent erreicht sind. Das wird
aber so nicht möglich sein. Wir werden uns über einen anderen Zeitraum verständigen müssen.
Wir müssen außerdem über die Frage der Finanzen
reden. Der Bundesrat hat einen Antrag gestellt, der eigentlich schlüssig ist. Wir Sozialdemokraten hatten ursprünglich 850 Millionen Euro gefordert. Das war die
Höchstbelastung im Jahr 2006. Es würde also keine
Mehrbelastung der Verbraucher geben, sondern der
Höchstbetrag von 2006 würde entsprechend beibehalten.
In jedem Fall muss es einen Ausgleich zwischen der Förderhöhe und der Höhe des Deckels geben sowie Flexibilisierung, was Netzausbau und Energieerzeugung angeht. Ansonsten haben wir ein großes Problem, unser
Ziel zu erreichen. Noch einmal: Für uns steht die Frage
der Zielerreichung im Mittelpunkt. Alle Instrumente
müssen darauf ausgerichtet werden.
Eines noch zur Frage der Zielerreichung. Die Große
Koalition und die Bundesregierung haben sich ein hohes
Ziel gesetzt: 25 Prozent. Das ist ein Ziel, mit dem man
auch nach außen entsprechend auftreten sollte. Von daher ist es nach meiner Einschätzung eigentlich selbstverständlich, dass dieses Ziel im Gesetz zu Beginn deutlich
benannt wird. Man braucht es nicht ein bisschen verschämt in der Begründung zu verstecken; wir haben keinen Grund dazu. Wir sollten dieses Ziel offensiv im Gesetzestext nennen; das würde ich mir wünschen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Weiter gute Beratungen!
({4})
Franz Obermeier ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Es ist
mehrfach gesagt worden: Bis 2020 25 Prozent KWKStrom, das ist die vorgegebene Zielsetzung. Wir Parlamentarier sollten alles daransetzen, dieses Ziel zu erreichen.
Ich halte das für extrem ambitioniert; denn die KWKRealisierung war schon in der Vergangenheit - nicht
erst, seit es die Gesetze gibt - mit einem großen Problem
behaftet. Ich verweise auf die Kombination von Strom
und Wärme bzw. Kälte an einer Lokalität - als jemand,
der früher Anlagen konzipiert und entwickelt hat, weiß
ich sehr genau, wovon ich rede -; genau dieser Umstand
ist die Ursache dafür, dass die Regelung, die irgendjemand einmal Schläferprämie genannt hat, nicht den notwendigen Erfolg hatte.
Wir laufen auch mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf Gefahr, die Ziele noch nicht zu erreichen.
({0})
Ich verweise in diesem Zusammenhang auf das PrognosGutachten. Es besagt, dass mit den Möglichkeiten, die
im Gesetz vorgesehen sind, 77 Terawattstunden Strom
durch Kraft-Wärme-Kopplung erzeugt werden können. Das entspricht nicht 25 Prozent des Stromverbrauchs in Deutschland, sondern ist erheblich weniger.
Zugleich besagt das Prognos-Gutachten: Die Kosten für
die Vermeidung von CO2-Ausstoß über Kraft-WärmeKopplung liegen zwischen 33 und 49 Euro je Tonne
CO2. - Das ist ein interessanter Wert und gibt mir die
Motivation, für die Kraft-Wärme-Kopplung zu kämpfen
und alles für den Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung,
die anerkanntermaßen eine ganz hervorragende Art der
Energieerzeugung bzw. Energienutzung ist, zu tun.
Wir haben nun die Förderung bei 750 Millionen Euro
gedeckelt. Es ist schon von einer Kollegin bzw. einem
Kollegen gesagt worden, dass man diesen Betrag nicht
starr bezogen auf ein Jahr sehen sollte, sondern eine gewisse Flexibilisierung ermöglichen sollte, damit es zu
keinem Abbruch bei der Förderung kommt.
Es ist meines Erachtens gerechtfertigt, die Frage zu
stellen, wie der zukünftige Kraftwerkspark in Deutschland aussehen soll, ob wir die großen fossilen Kraftwerke in Deutschland überhaupt noch brauchen. Selbst
wenn wir es nämlich anlagen- und planungstechnisch
darstellen können, dass die Wärme an mindestens
300 Tagen im Jahr vernünftig genutzt wird, stellt sich
immer noch die Frage nach der Größenordnung, also wie
viel Wärme tatsächlich sinnvoll genutzt werden kann.
Deswegen ist es natürlich wichtig, zu überlegen, ob man
nicht mit der Schaffung kleinerer Kapazitäten zu einer
besseren Ausnutzung kommt. Ich könnte mir vorstellen,
dass immer dann, wenn eine größere Fabrik errichtet
wird - in meinem Wahlkreis ist das gerade der Fall -, neben der Produktionsstätte auch eine Kraftwerksanlage
gebaut wird, die Prozesswärme für diese Anlage und
eventuell auch für weitere, in der Umgebung liegende
Verbraucher erzeugt. Wenn unsere Gesetzgebung dafür
sorgt, dass Betreiber solcher Anlagen einen Anreiz bekommen, in Kraft-Wärme-Kopplung zu investieren,
dann haben wir ein gutes Gesetz auf den Weg gebracht.
In der vergangenen Woche, Herr Bundeswirtschaftsminister, war Ihre Staatssekretärin Dagmar Wöhrl bei
der Inbetriebnahme einer Brennstoffzellenanlage in
meinem Wahlkreis dabei. Es handelt sich um eine Anlage, die 200 Kilowatt elektrische Leistung und einen erheblichen Anteil an Wärme erzeugt. Diese Wärme wird
dann in einer Kläranlage für die Trocknung von Klärschlamm genutzt.
Ich meine, wir sind technologisch auf einem sehr guten Weg. Dieses Gesetz wird die Kraft-Wärme-Kopplung weiter befördern. Wir müssen scharf beobachten,
wie sich die Dinge weiterentwickeln. Wir müssen auch
dafür sorgen, dass wir technologisch weiterkommen und
dass neben der Doppelnutzung von Primärenergie zugleich auch die Energieeffizienz von Anlagen zunimmt.
So könnten wir die Kraft-Wärme-Kopplung zu einem
Erfolgsmodell werden lassen und es schaffen, dass bis
zum Jahr 2020 ihr Anteil 25 Prozent an der Stromerzeugung beträgt.
Herzlichen Dank.
({1})
Klaus Barthel ist der nächste Redner für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
sind ja jetzt endlich wieder bei den Themen angekommen, um die es heute eigentlich geht. Wir sollten dabei
die Schlagzeilen, die die Stromzähler derzeit machen,
für unsere Zwecke nutzen. Auf der diesjährigen CeBIT
konnte man sehen, dass die Stromzähler digital werden;
manche Zeitungen schrieben von „Hightech-Stromzählern“.
Für uns Verbraucher bedeutet dieser Fortschritt, dass
wir dann zu Hause am Stromzähler oder am PC sehen
können, wenn wir stromfressende Geräte betreiben, und
unser Verhalten entsprechend verändern können. Im Kfz
ist es ja heute schon zur Normalität geworden, dass man
nicht erst an der Tankstelle, sondern schon während des
Fahrens darauf aufmerksam gemacht wird, wenn man
zum Beispiel aufgrund des Fahrverhaltens zu viel Sprit
verbraucht. In Kombination mit den lastabhängigen
Stromtarifen kann intelligente Haustechnik Kosten sparen. Zum Beispiel kann sich die Waschmaschine erst
dann einschalten, wenn der Strom günstig ist, und eben
nicht sofort.
Der bisher durchaus schon vorhandene Wettbewerb
beim Einbau und Betrieb von Strom- und Gaszählern hat
bisher weder dazu geführt, dass die Preise für die längst
abgeschriebenen Zähler gesunken sind, noch dazu, dass
innovative Zähler eingeführt wurden. Man muss sich ja
auch fragen, welches Interesse der bisherige Zählerbetreiber, nämlich die EVUs, haben sollte, moderne Zählertechnik einzubauen; denn er lebt ja vom Verbrauch
und nicht vom Sparen. Die Bundesregierung hat in ihrem Evaluierungsbericht aufgezeigt, dass die fehlende
Marktöffnung bei der Messung, also bei dem Ablesen
der Messgeräte, ein wesentliches Wettbewerbshindernis
beim Betrieb dieser Messstellen ist. Dieses Hindernis
wird mit Umsetzung des vorliegenden Gesetzentwurfs
der Bundesregierung beseitigt.
Auch wenn es in den Berichten wie Science Fiction
klingt und die intelligente Waschmaschine noch nicht
auf dem Markt ist, haben wir jetzt auf dem Strommarkt
die Chance, intelligente Zähler im Wettbewerb zu etablieren und den Verbraucherinnen und Verbrauchern damit eine deutlich erweiterte Kontrolle ihres Stromverbrauchs zu geben. Dahinter steckt die Zielvorstellung,
innerhalb der nächsten sechs Jahre zu einem möglichst
flächendeckenden Einsatz von solchen Zählern und
Steuerungen sowie zu lastvariablen Tarifen zu kommen.
({0})
Nach der E-Energy-Studie, die im Auftrag des BMWi
erarbeitet worden ist, geht es hier um einen Markt von
etwa 49 Millionen Zählstellen mit einem Gesamtvolumen von etwa 5 Milliarden Euro. Das ist eine hohe Investition, aber auf die Dauer sicherlich lohnend für die
Verbraucher, die Volkswirtschaft und das Klima.
Gerade im Zusammenhang mit den künftigen lastvariablen Tarifen kann eine Stromkostenkontrolle zur
Verschiebung der Nachfrage in Schwachlastzeiten genutzt werden. Das Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt, Energie geht von einer Einsparmöglichkeit von
5 bis 10 Prozent des Gesamtstromverbrauchs der Haushalte aus. Das wären etwa 5 bis 10 Millionen Tonnen
CO2 pro Jahr. Das ist doch was! Wenn teure Spitzenlastkraftwerke nicht mehr in gleichem Umfang benötigt
werden wie bisher, dann führt das außerdem zu sinkenden Stromerzeugungskosten und zur Entlastung der
Netze.
Es geht darum, den Wettbewerb so zu gestalten, dass
ein Anreiz für neue Anbieter und für die Nachfrage nach
deren Angeboten entsteht. Dazu benötigen wir einfache,
schnelle und kostengünstige Geschäftsprozesse. Deswegen brauchen wir eine Standardisierung und Anwendungsmöglichkeit der Regulierungsinstrumente der Bundesnetzagentur auf die Beziehung zwischen den
Netzbetreibern und den Messstellenbetreibern und hinsichtlich der Wechselmöglichkeit der Endverbraucher
gegenüber den Messstellenbetreibern. Das mag sich alles technokratisch anhören, aber bei der Lösung der
Energie- und Klimaschutzprobleme führt nur eine Gesamtstrategie mit vielen Elementen zum Erfolg. Der
vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung zur
Öffnung des Messwesens bei Strom und Gas für Wettbewerb ist ein nicht zu unterschätzendes Element dieser
Gesamtstrategie und deswegen hier nicht zu verachten.
({1})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Dr. Georg Nüßlein, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Als
Umweltpolitiker bin ich der festen Überzeugung, dass
wir die Verdoppelung des Anteils von Strom aus KraftWärme-Kopplung an der Gesamtstromerzeugung bis
2020 im Sinne von Ressourcenschonung und Klimaschutz brauchen. Deutschland als führende Wirtschaftsnation hat an dieser Stelle eine nicht zu unterschätzende
Vorbildfunktion. Dass wir das im Rahmen der Umlagefinanzierung tun, halte ich für nicht verkehrt. Die Umlagefinanzierung wird nämlich wie beim EEG in ganz besonderer Weise der Verantwortung der Stromverbraucher
für eine ressourcen- und klimaschonende Stromversorgung gerecht. Sie ist an dieser Stelle sehr viel zielorientierter und effizienter als beispielsweise die Ökosteuer,
mit der wir den Stromverbrauch auch belasten.
({0})
Wenn man über das Thema Effizienz redet, dann
muss man, wie hier schon mehrfach angeklungen, klipp
und klar sagen, dass man, um die Effizienz zu steigern,
die bei der Stromproduktion entstehende Wärme nutzen
muss. Das geht nur durch Dezentralität. Dezentralität ist
unabdingbar. Aus Sicht eines Wirtschaftspolitikers sage
ich: Sie bietet natürlich auch Chancen; denn es geht bei
diesem Thema auch um den Mittelstand, sowohl was die
Produktion als auch den Verbrauch angeht. Für den Mittelstand steht die Union wie kaum eine andere Partei.
({1})
Die Netze sind reguliert worden. Den Stadtwerken
müssen wir zurufen, dass sie ihr Heil auch in der Stromproduktion suchen müssen, weil dank des Bundeswirtschaftsministers im Bereich der Netze keine Monopolgewinne mehr möglich sind. Das ist auf der einen Seite
ein entscheidender Erfolg. Auf der anderen Seite müssen
wir aber den Stadtwerken, denjenigen, die auch davon
betroffen sind - das sind ja nicht nur die großen Vier -,
entsprechende Geschäftsmodelle aufzeigen. In diesem
Sinne ist das Einspeiserecht, das wir im KWK-Gesetz
genauso verankert haben wie im EEG, ein wichtiges regulatorisches Element, eine Voraussetzung dafür, dass
auch kleine Unternehmen, Mittelständler Zugang zu den
Netzen haben. Wir tun hier etwas ganz besonders Wichtiges und Richtiges.
Angesichts dessen, was Oskar Lafontaine heute zum
Besten gegeben hat, frage ich mich schon, warum er immer dann, wenn unser Wirtschaftsminister handelt, nicht
mit dabei ist, zum Beispiel dann, wenn es um eine Verschärfung des Kartellrechts geht. Warum stimmen Sie da
nicht zu? Als Vertreter der Union sage ich aber auch:
Sehr viel Wert legen wir auf die Stimmen der Linken
nicht.
({2})
Die Effizienzförderung ist im Übrigen ein industriepolitischer Eingriff, um auch in diesem Bereich die
Technik voranzubringen. Es besteht die Frage, wo in Zukunft Klimaschutz gemacht wird und wie über das
Thema des Klimaschutzes entschieden wird. Nur dann,
wenn es uns gelingt, technisch voranzukommen, werden
wir nicht nur in Deutschland, sondern auch weltweit etwas verändern.
Nun ist heute mehrfach über den Strompreis diskutiert
worden. Grundsätzlich bin ich der festen Überzeugung,
dass wir hier eine Deckelung brauchen, dass wir aber
nicht alles, was mit Klimaschutz zu tun hat, sofort
deckeln sollten. Das sage ich auch in Richtung der eigenen Reihen. Wir können letztendlich nicht unsere Kanzlerin deckeln. Das sollten wir nicht tun; denn sie ist die
Galionsfigur beim Klimaschutz.
({3})
Deshalb bitte ich, dies entsprechend zu berücksichtigen.
Wenn man eine solche Deckelung beschließt, wie
man sie im Moment vorsieht - eine Deckelung der
KWK-Zuschlagssumme bei 750 Millionen Euro pro Jahr
und eine Deckelung des Zuschlags für den Neu- und
Ausbau von Wärmenetzen bei 150 Millionen Euro pro
Jahr -, dann entsteht ein Problem, wenn der Kreis der
zuschlagsberechtigten KWK-Anlagen- und Wärmenetzbetreiber sehr weit gefasst wird. Darüber sollten wir im
Laufe der Debatte noch einmal nachdenken.
Wir brauchen aus meiner Sicht zum einen Eingrenzungen, was das Thema Netze angeht. Da dürfen wir uns
nicht zu stark auf die großen Netze, die Fernwärmenetze
im großstädtischen Bereich, versteifen. Die Investitionsvolumina sind hier sehr groß; hier würden wir die
Deckelung relativ schnell erreichen. Zum anderen müssen wir beim Thema der Versorgung über die Frage
nachdenken, ob industrielle Anlagen zur Eigenversorgung wirklich erkennbar förderbedürftig sind oder ob
man da nicht noch etwas nachjustiert, damit wir nicht zu
schnell einen zu großen Druck auf diesen Deckel bekommen, was dazu führen würde, dass wir ihn relativ
schnell anheben würden. Das bringt letztendlich nicht
das gewünschte Ergebnis.
Wir setzen uns für eine zielgerichtete Förderung ein,
für eine Förderung, die Investitionssicherheit schafft,
insbesondere im Bereich der kleinen Anlagen unterhalb
einer Leistung von 10 Megawatt; denn hier geht es wirklich darum, einen Anstoß zu geben, dass dieses Thema
vorankommt.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 16/8305, 16/8306 und 16/7872 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Wissenschaftsfreiheitsgesetz einführen - Mehr
Freiheit und Verantwortung für das deutsche
Wissenschaftssystem
- Drucksache 16/7858 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska
Hinz ({1}), Kai Gehring, Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wissenschaftssystem öffnen - Mehr Qualität
durch mehr verantwortliche Selbststeuerung
und Kooperation
- Drucksache 16/8221 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({3})
Präsident Dr. Norbert Lammert
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Petra Sitte,
Cornelia Hirsch, Volker Schneider ({4})
und der Fraktion DIE LINKE
Die Zukunft der Lehre und Forschung an
Hochschulen mit Hilfe der Juniorprofessur
stärken
- Drucksachen 16/3192, 16/8369 Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Grütters
Uwe Barth
Kai Gehring
Interfraktionell sind für diese Aussprache anderthalb
Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Kollegin Cornelia Pieper für die FDP-Fraktion.
({5})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
heutige Tag könnte zu einer Sternstunde des deutschen
Parlaments werden; denn wir beraten die Initiative der
FDP-Bundestagsfraktion für ein Wissenschaftsfreiheitsgesetz.
({0})
Der Antrag liegt Ihnen, Herr Tauss, bereits seit Ende Januar vor.
Wollen wir den rasanten Herausforderungen im globalen Wettbewerb standhalten, die Qualität unseres Wissenschaftssystems stetig steigern, vor allem aber internationalen Entwicklungen immer einen Schritt voraus sein
und die besten Köpfe nach Deutschland holen, dann
brauchen wir eine neue Kultur für Innovationen. Mit
einem Wort: Wir müssen in der Wissenschaft mehr Freiheit wagen!
({1})
Dazu bedarf es eines mutigen Schrittes hin zu einem
Wissenschaftsfreiheitsgesetz, das der Wissenschaft wie
der Wirtschaft gleichermaßen die notwendige Luft zum
Atmen gibt, das Barrieren abbaut und Forschung und
Lehre enger zusammenführt, das Eigenverantwortung
stärkt und Bürokratie abbaut, das eine bessere Bezahlung der in- und ausländischen Wissenschaftselite ohne
Fesselung innerhalb des Tarifvertrages des öffentlichen
Dienstes ermöglicht und das Grenzen für Fachkräfte öffnet. Das ist die Wissenschaftspolitik, die wir von der
Bundesregierung erwarten.
({2})
Ein athenischer Staatsmann, Perikles, hat bereits gesagt: Das Geheimnis der Freiheit ist Mut.
({3})
Angst schafft keine Zukunft! Angst vor neuen Forschungsfeldern und Erfindungen würde Deutschland in
der Technologieführerschaft um Jahrzehnte zurückwerfen. Schauen wir uns die Politik der Bundesregierung an:
Sie setzt in manchen Bereichen mehr auf Risiken denn
auf Chancen. Schauen wir uns die grüne Biotechnologie
an. Schauen Sie sich die Haltung der Bundesregierung
zur kerntechnischen Sicherheitsforschung an. Aber auch
die aktuelle Debatte über Stammzellforschung ist nicht
das, was der Spitzenstandort Deutschland braucht. Wir
brauchen mehr Freiheit für die Forschung in diesem
Land.
({4})
Im Vergleich der größten Forschungsnationen liegt
Deutschland hinter den USA und Japan auf Platz drei.
Schwellenländer wie Indien, China und die Länder Südamerikas holen aber in einem rasanten Tempo nach, was
sie in den letzten Jahren bei Forschung und Entwicklung
versäumt haben. China wird Deutschland nach Einschätzung der Bundesagentur für Außenwirtschaft im kommenden Jahr als Exportweltmeister ablösen. Was heißt
das? Wir müssen auf Ideen, auf neue Forschung setzen.
Wir müssen auf Innovationen setzen. Die CeBIT ist ein
Beispiel dafür, was wir damit weltweit bewirken können.
Deutschland braucht ein positives Forschungsklima frei von ideologischen Debatten. Die vorherrschende, oft
angstbesetzte Kultur des Risikos muss sich in eine zukunftsorientierte Kultur der Chancen wandeln, in der die
Herausforderungen tatkräftig angegangen werden.
({5})
Deswegen setzt sich die FDP vehement dafür ein,
dass der in Art. 5 des Grundgesetzes verankerten Wissenschafts- und Forschungsfreiheit in einem umfassenden Sinne Geltung verschafft wird. Die freie Entfaltung von Wissenschaft und Forschung muss ermöglicht
werden. Bürokratische Hürden und ideologisch determinierte Überregulierungen gehören abgebaut, Frau Ministerin.
Eine Hochschule oder eine Forschungseinrichtung
muss zukünftig wie ein Unternehmen geführt werden
können. Trotz vieler Reformen ist es im außer- und universitären Forschungsbereich in den letzten 20 Jahren
nicht gelungen, bestehende Hemmnisse im Haushaltsrecht, im Tarifrecht oder im Vergaberecht zu beseitigen.
Das müssen wir jetzt anpacken. Es geht um ein leistungsfähiges deutsches Wissenschaftssystem. Wir müssen große Forschungsverbünde zwischen Wirtschaft,
außeruniversitären Forschungseinrichtungen und Hochschulen ermöglichen. Präsente und hervorragende Beispiele sind die RWTH Aachen, das Forschungszentrum
Jülich oder auch das Karlsruhe Institute of Technology.
Ausgerechnet dort, wo die FDP mitregiert, findet so etwas statt.
({6})
Beteiligungen an Ausgründungen und Unternehmen
sind ein wichtiges strategisches Instrument. GlobalhausCornelia Pieper
halte müssen eingeführt und die kameralistische Haushaltsführung muss abgeschafft werden. Das ist die Voraussetzung für die weitgehende Selbstverwaltung der
Wissenschaftseinrichtungen in Deutschland.
Wir fordern die Bundesregierung auf, gemeinsam mit
den Ländern zu handeln. Wir wollen insbesondere, dass
der Wissenschaftstarifvertrag ein Thema für dieses
Haus wird. Frau Ministerin, ich glaube, das ist eine
Kernaufgabe für die, die sich für die Freiheit für Wissenschaft begeistern. Denn wir alle wissen: Der Tarifvertrag
des öffentlichen Dienstes ist der größte Hemmschuh für
unser Wissenschaftssystem im internationalen Wettbewerb. Er muss abgeschafft werden.
({7})
Frau Ministerin, fassen Sie Mut, überzeugen Sie den
Innenminister und sorgen Sie dafür, dass die Hochschulen und Forschungseinrichtungen endlich einen eigenen
Wissenschaftstarifvertrag bekommen. Dann wären wir
hinsichtlich der attraktiven Arbeitsbedingungen von
deutschen, aber auch ausländischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in diesem Land ein großes
Stück weiter.
Ich frage Sie: Wann haben wir Ihr Wissenschaftsfreiheitsgesetz zu erwarten? Für mich heißt der Schlüssel
zum Erfolg: Freiheit für die Wissenschaft. Handeln Sie
endlich!
({8})
Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Dr. Annette
Schavan.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Es ist erfreulich, wenn über
die Entscheidungen der Bundesregierung die sie tragenden Fraktionen, Vertreter der Länder - Kollege
Pinkwart, herzlich willkommen - und auch die Opposition einer Meinung sind.
({0})
- Pardon, Teile der Opposition, die Linke also ausgeschlossen. Das hätte mich auch gewundert.
({1})
- Was haben Sie mit den Linken zu tun? Das verstehe
ich jetzt überhaupt nicht, Herr Taus.
Ich finde jedenfalls, dass es eine positive Entwicklung
ist, wenn immer mehr Vertreter dieses Hohen Hauses die
Ideen für mehr Selbstständigkeit, mehr Spielräume und
für eigene Verantwortung vor Ort mittragen. Wir reden
damit letztlich über den nächsten wichtigen Schritt zur
Steigerung der Attraktivität Deutschlands im internationalen Wettbewerb der Wissenschaftssysteme und der Innovationsstandorte. Das ist das Thema.
Was in diesem Wettbewerb wird bedeutsam? Welche
Faktoren spielen eine Rolle in diesem internationalen
Wettbewerb, der keineswegs nur die Hochschulen, sondern zum Beispiel auch ganz zentral die Möglichkeiten,
die Spielräume für die Partnerschaft zwischen Wissenschaft und Wirtschaft betrifft? Ich rufe in Erinnerung
- ich sage das auch, weil es in einem der vorliegenden
Anträge steht -: Das ist natürlich nicht der einzige notwendige Schritt. Wir reden über ein ganzes Paket unterschiedlicher Schritte. Viele wurden schon getan. Ich erinnere an die Exzellenzinitiative, die eine wichtige
Ausdifferenzierung im Wissenschaftssystem mit einer
deutlich höheren Sichtbarkeit von einzelnen Hochschulstandorten geschaffen hat, an die Hightechstrategie und
an den Spitzenclusterwettbewerb, der ein Paradebeispiel
für die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und
Wirtschaft darstellt.
Ich weise in diesem Zusammenhang auf die Internationalisierungsstrategie und auf strukturelle Weiterentwicklungen - ich habe das KIT eben schon genannt hin. Übrigens ist das klare Bekenntnis der Bundesregierung und der sie tragenden Regierungsfraktionen
zum 3-Prozent-Ziel nicht zu vernachlässigen.
({2})
Auch das hat viel Dynamik ins System gebracht.
Schließlich geht es um die Stärkung der Forschung an
Universitäten durch die Einführung der Programmkostenpauschale. In einem Satz: Die Große Koalition hat
bislang schon deutliche Bewegung in den Innovationsstandort Deutschland gebracht.
({3})
- Liebe Frau Burchardt, jetzt komme ich zum nächsten
Punkt, der in Meseberg beschlossen wurde.
Kurz gesagt geht es dabei um die Spielregeln des
Good Governance. Unsere Institute, das FraunhoferInstitut, das Max-Planck-Institut, die Helmholtz-Gemeinschaft und andere, die in vielen internationalen
Netzwerken sind und sich im Wettbewerb befinden,
müssen in diesem Wettbewerb in den nächsten Jahren
die gleiche Stärke behalten, die sie bislang hatten. Denn
gerade unsere außeruniversitären Forschungseinrichtungen sind im internationalen Wettbewerb stark. Klar ist
aber: Das bisherige Regelwerk behindert die weitere
Entfaltung und die weitere Internationalisierung. Deshalb muss dieses Regelwerk weiterentwickelt, modernisiert und flexibilisiert werden. Die Spielräume müssen
vergrößert werden.
({4})
Wie ist im Moment der Stand der Dinge? Die Themen, um die es geht, und die Teile des Regelwerkes, die
verändert werden sollen, sind identifiziert. Die Beratungen auf Arbeitsebene haben begonnen. Erste Schritte,
die das BMBF ohne die Einbeziehung anderer Ressorts
unternehmen kann - sie betreffen verwaltungsinterne Erlasse -, werden oder sind bereits auf den Weg gebracht.
Die Eckpunkte für entsprechende Neuregelungen werden dem Kabinett im Sommer vorliegen.
({5})
Ich nenne vier Beispiele für das, was geplant ist:
Erstens. Die haushaltsrechtliche Detailsteuerung im
Hinblick auf die Forschungseinrichtungen muss zurückgefahren werden. Mit dem Wissenschaftsfreiheitsgesetz
müssen die haushaltsrechtlichen Rahmenbedingungen
flexibilisiert werden: Globalhaushalte, Übertragung der
Haushaltsmittel, Ausbau der vorhandenen Deckungsfähigkeiten und Verzicht auf Stellenpläne. Wir brauchen
eine aufgaben- und ergebnisbezogene Steuerung - keine
Abschaffung der Steuerung, aber eine Modernisierung
der Steuerung mit Blick auf Ergebnisse und Aufgaben.
Zweitens. Forschungseinrichtungen müssen ohne umständliche Genehmigungsverfahren Beteiligungen an
Unternehmen im In- und Ausland eingehen können, um
sich national, aber auch international zu vernetzen. Dadurch werden neue strategische Geschäftsfelder erschlossen und neue Kooperationspartner gefunden. Beteiligungen an Ausgründungen und die Gründung von
Joint Ventures mit der Industrie sind die Voraussetzungen für die Verwertung von Spitzentechnologie.
Drittens. Bei Bau- und Vergabeverfahren müssen wir
wissenschaftsfreundlicher werden. Aufwendige Verfahren und administrative Hemmnisse schaden der Innovationskraft. Deshalb muss es auch hier größere Spielräume für globale Bewilligungen geben.
Viertens. Wir brauchen die Flexibilisierung des Vergaberahmens. Das ist ein sehr wichtiger Punkt, bei dem
vor allem die Zusammenarbeit zwischen dem Bund und
den Ländern wichtig sein wird. Es gehört ja zu den Stärken des deutschen Systems, dass Bund und Länder die
Forschungsorganisationen gemeinsam tragen. Wenn ich
von einer Flexibilisierung des Vergaberahmens spreche,
dann meine ich nicht seine Abschaffung. Das dauert länger. Ich vermute, dass das erst der übernächste Schritt
sein wird. Der nächste Schritt muss sein, dass wir auch
im Hinblick auf die Globalhaushalte für eine Flexibilisierung sorgen, sodass es bei konkreten Verhandlungen
deutlich größere Spielräume gibt als jetzt.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, manches ist auch
ohne Wissenschaftsfreiheitsgesetz machbar. Mein Haus
wird schon jetzt, also im Vorgriff, die bestehenden Möglichkeiten nutzen, um die Beschränkungen der Förderung der Projekte von Forschungseinrichtungen, zu denen es in der Vergangenheit gekommen ist, aufzuheben.
Das betrifft insbesondere die Bagatellgrenze für Zuwendungen; ein ganz konkretes Beispiel ist der berühmte
Dudenhausen-Erlass.
({7})
Wir werden die Bagatellgrenze bzw. den Höchstwert für
freihändige Vergaben im Wettbewerb von 8 000 Euro
auf 30 000 Euro anheben.
({8})
Das heißt, dass die Forschungseinrichtungen bei vielen
Beschaffungen von der Verpflichtung zur öffentlichen
Ausschreibung befreit sein werden.
({9})
Wenn wir von mehr Selbstständigkeit und mehr Freiheit reden, geht es nicht um weniger Verantwortung und
weniger Rechenschaft. Wir - die Haushälter, die Finanzpolitiker, die Innenpolitiker und diejenigen, die sich in
spezieller Weise mit Innovationsfragen beschäftigen sind dabei, die Weichen zu stellen und neue Schritte zu
tun, um die Innovationsbedingungen für die Organisationen zu modernisieren, die in besonderer Weise die Verstetigung der Dynamik, die entstanden ist, leisten sollen.
Je größer der Konsens in diesem Hause, je größer der
Konsens zwischen Parlament und Regierung, zwischen
Ländern und Bund ist, desto umfassender kann das Paket
werden. Ich wünsche mir ein Paket - so werden wir mit
den Eckpunkten in die Ressortverhandlungen und ins
Kabinett gehen -, von dem ein klares Signal und ein
Schub für die außeruniversitären Forschungseinrichtungen ausgeht.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat jetzt der Kollege Volker Schneider von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
habe es durch einen Zwischenruf schon angedeutet:
Ganz so breit ist die Übereinstimmung zwischen Opposition und Regierung nun doch nicht.
Worum geht es? Die Bundesregierung hat im
August 2007 im Rahmen ihrer Meseberger Beschlüsse
erklärt, dass sie, um die Rahmenbedingungen für Experten, Spezialisten und Nachwuchskräfte attraktiv zu machen, mehr Flexibilität für Forschungseinrichtungen und
Hochschulen schaffen will. Weil diese Bundesregierung
ähnlich wie ihre Vorgängerregierung gerne mit attraktiven Worthülsen arbeitet, hat sie sich nicht gescheut, eine
kleine Anleihe in Nordrhein-Westfalen zu nehmen und
hat ihr Projekt mit dem Etikett „Wissenschaftsfreiheitsgesetz“ versehen. „Wissenschaft“ ist gut, „Freiheit“
noch besser, ein „Wissenschaftsfreiheitsgesetz“ zu kreieren das Allerbeste.
({0})
Volker Schneider ({1})
Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, nicht gerade begeistert
darüber waren, wie kess die Große Koalition Ihr Anliegen übernommen hat.
({2})
Nun ist die Bundesregierung in Bezug auf Ankündigungen stets mit flotten Schritten unterwegs; bei der Umsetzung präferiert sie bekanntermaßen Trippelschritte. Das
wiederum gibt der FDP die Möglichkeit, ihrerseits mit
einem Antrag für die Einführung eines Wissenschaftsfreiheitsgesetzes vorzupreschen. Weil Sie von der FDP
auf Bundesebene noch keine eigenen Vorschläge erarbeitet haben, schreiben Sie der Einfachheit halber nieder,
was der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Herr Kleiner, und seine Generalsekretärin, Frau
Dzwonnek, im Bildungsausschuss vorgetragen haben.
Das wiederum findet sich im sogenannten Barrierepapier
der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren wieder.
({3})
Sie haben diese Forderungen eins zu eins übernommen wahrlich keine große Leistung, eher ein Dokument überzeugender Lobbyarbeit.
({4})
Zu den Inhalten Ihres Antrags. Sie gehen in Ihrer
Analyse davon aus, dass die Trennung der Aufgaben der
Universitäten und der öffentlichen außeruniversitären
Forschungseinrichtungen nicht unproblematisch ist und
deshalb neue Wege zu einer engen Wissenschafts- und
Forschungskooperation aller Akteure zu beschreiten
sind.
Aus Sicht der Linken ist dem insoweit zuzustimmen,
als die Trennung von außeruniversitärer und universitärer Forschung mittlerweile zu einem Missverhältnis in
der Verteilung der Mittel geführt hat. Während die
Hochschulen trotz steigender Studierendenzahl und steigenden Qualifikationsanforderungen mit stagnierenden
Mitteln zu kämpfen haben, werden die Mittel für die ohnehin gut ausgestatteten außeruniversitären Forschungseinrichtungen durch den Pakt für Forschung und Innovation jedes Jahr um 3 Prozent erhöht. Mittlerweile
erhalten die außeruniversitären Institute fast so viel an
Mitteln wie die Hochschulen für den Forschungsbereich.
Die Linke hält dies nicht für sinnvoll.
({5})
Wir vertreten die Auffassung, dass neue Wege einer engeren Kooperation nur ein erster Schritt sein können.
Mittelfristig ist die historisch bedingte Versäulung jedoch zu überwinden.
Weiter gehen Sie in Ihrem Antrag - typisch liberal,
wie ich meine - davon aus, dass sich die Forschungsund Entwicklungspolitik auf Felder einer möglichen
wirtschaftlichen Verwertung konzentrieren muss. Wir als
Linke sagen Ihnen dazu deutlich: Wer die Forschungsförderung nur noch auf verwertungsnahe Bereiche konzentrieren will, der schafft keine Wissenschaftsfreiheit,
sondern beerdigt sie.
({6})
Hochschulen und Forschungsinstitute haben die Aufgabe, je nach Profil mehr oder weniger zweckfreie wissenschaftliche Erkenntnisse auf allen gesellschaftlich
relevanten Gebieten zu erarbeiten, kontrovers zu diskutieren und der Gesellschaft und ihren Mitgliedern zugänglich zu machen. Bereits heute ist der Einfluss wissenschaftsfremder Instanzen über private Drittmittel,
Auftragsforschung, Stiftungsprofessuren etc. sehr hoch.
Autonomie wollen Sie stattdessen am liebsten dadurch
schaffen, dass Sie nicht unproblematische Forschungsbereiche wie Kerntechnik, Sicherheits- und Endlagerforschung, Biotechnologie und Stammzellforschung jeglicher gesellschaftlichen Kontrolle entziehen wollen.
Auch hier sagen wir als Linke deutlich: Die Freiheit der
Wissenschaft kann und darf nicht durch unkontrollierte
Eingriffe in Grund- und Menschenrechte durchgesetzt
werden.
({7})
Auch die Wissenschaft muss sich auf dem Boden der
Menschenrechte und des Grundgesetzes bewegen. Das
nicht im Blick zu behalten wäre nichts anderes als ein
unverantwortlicher und ungezügelter Liberalismus.
({8})
- Lesen Sie die einleitende Analyse Ihres eigenen Antrages!
Leider kann ich nur auf einige Aspekte Ihres Forderungsteils eingehen. Wie Sie die Leistungsfähigkeit des
deutschen Wissenschaftssystems dadurch steigern wollen, dass Sie die Verwendung öffentlicher Gelder in diesem Bereich einer öffentlichen Kontrolle entziehen wollen, ist schon bemerkenswert. So viel Liberalität würden
wir uns auch gegenüber den sozial Schwachen - beispielsweise ALG-II-Beziehern - wünschen.
Wir als Linke sagen an dieser Stelle ganz klar: Die
Einbringung solcher Ressourcen in gemeinsame Kooperationen mit anderen Einrichtungen oder gar
Wirtschaftsunternehmen bedarf selbstverständlich der
öffentlichen Kontrolle.
Im Hinblick auf Firmengründungen sollte Ihnen wenigstens bekannt sein, dass die Beteiligung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an privatwirtschaftlichen
Firmen häufig zur Vernachlässigung ihrer Kernaufgaben
führt. Sollte nun in großem Maßstab die Unternehmensbeteiligung Aufgabe der gesamten Einrichtung werden,
entstünden öffentlich-private Partnerschaften mit den
von uns immer wieder kritisierten Folgen wie Intransparenz, ungeklärte Fragen geistiger Eigentumsrechte und
daraus resultierend die Sozialisierung anfallender Kosten bei gleichzeitiger Privatisierung anfallender Gewinne.
Volker Schneider ({9})
Ein besonderes Bonbon sind Ihre Ausführungen zu
einem Wissenschaftstarifvertrag. Es dürfte Ihnen nicht
unbekannt sein, dass solche Tarifverträge im Rahmen
der Tarifautonomie mit Gewerkschaften ausgehandelt
werden.
({10})
Insoweit würde es nicht schaden, einen Blick darauf zu
richten, was derzeit von den betroffenen Gewerkschaften
Verdi und GEW gefordert wird, bevor Sie exorbitante
Gehälter und zusätzliche Sozialleistungen für Spitzenkräfte fordern. Mir scheint, dass Ihnen ein wenig der
Blick für die Realitäten der Beschäftigten an Universitäten fehlt.
Werfen Sie einen Blick auf die Exzellenzhochburg
Bayern! Die Pressestelle der Universität Bayreuth
schreibt - ich zitiere -:
Über 60 Prozent der Forschung und Lehre an den
Universitäten werden von wissenschaftlichen Mitarbeitern erbracht, viele von diesen befinden sich in
der Qualifikationsphase für die Wissenschaftlerlaufbahn. Ihre Entlohnung aber weist noch schwerwiegendere Defizite als die der Professoren auf.
Gegenwärtige Praxis
- in Bayern ist, dass Wissenschaftler mit erfolgreich abgeschlossenem Studium weit überwiegend auf halben
Stellen promovieren - dabei jedoch mindestens
50 Arbeitsstunden pro Woche tätig sind. Sie erhalten in der Eingangsstufe E13/1 des neuen Tarifsystems der Länder ({11}) brutto 1.450 Euro und
somit umgerechnet weniger als der tariflich festgelegte Mindeststundenlohn im westdeutschen Reinigungsgewerbe.
So weit die Universität Bayreuth.
Angesichts solcher Verhältnisse ist es doch nicht
mehr als verständlich, dass Gewerkschaften zunächst
einmal Lösungen für die breite Masse der Arbeitenehmer anstreben, bevor sie auch nur bereit sind, über die
Vergütung von Spitzenkräften zu reden, zumal angesichts gedeckelter Haushalte höhere Verdienste in der
Spitze nur durch eine Ausdünnung in der Breite realisiert
werden könnten. Bei einem Verdienst von 1 450 Euro
sehe ich diesbezüglich keine Einsparmöglichkeiten. Bevor Sie also auch nur auf die Idee kommen könnten, Ihre
Spitzenkräfte zu beglücken, müssen Sie deutlich mehr
Geld in das System pumpen, um die Defizite in der
Breite zu beseitigen.
({12})
Ich möchte noch eine weitere Forderung aufgreifen,
das Punktesystem für Einwanderer. Die Linke steht Vorschlägen positiv gegenüber, mit denen eine geregelte
Zuwanderung ermöglicht werden kann. Ein System,
wie es die CDU/CSU bevorzugt, das sich ausschließlich
am Einkommen orientiert, lehnen wir ab. Insoweit sind
die Vorschläge der FDP durchaus ein Fortschritt, weil
hier weitere Kriterien berücksichtigt werden sollen.
Dennoch können wir nicht zustimmen, dass Zuwanderung nur unter dem Blickwinkel von nationalstaatlichen
und wirtschaftlichen Interessen beurteilt wird. Eine Einwanderungspolitik, die Menschen auf Verwertungsgrößen reduziert, lehnt die Linke ab.
({13})
Außerdem muss im Blickfeld bleiben, dass der Import
von Fachkräften keinesfalls zulasten der Herkunftsländer gehen darf. Vieles von dem, was sich zwischenzeitlich global abspielt, kann nur noch als Bildungsimperialismus bezeichnet werden.
({14})
Fazit: Ich sehe wenig Chancen, dass meine Fraktion diesem FDP-Antrag im weiteren Verfahren wird zustimmen
können.
({15})
Ich komme zu dem Antrag der Grünen. Die Auffassung, dass Transparenz und Gemeinnutzen ebenso wie
die Gleichstellung wichtige Reformziele in der Wissenschaftspolitik sind, teilen wir. Nur ein kleiner Hinweis
zum letzten Punkt: Deutschland ist nicht mehr so neoliberal, dass man Gleichstellung nur unter dem Aspekt
von Effizienz- und Innovationsgewinn betrachten darf.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, man
darf wieder den Aspekt der Gerechtigkeit betonen, und
man darf auch auf das Grundgesetz verweisen.
({16})
Mit großem Interesse haben wir gelesen, dass die
Grünen die Autonomie der Hochschulen mit verstärkter
Mitbestimmung einrahmen wollen. Das sieht auch die
Linke als sinnvoll an. Leider vermissen wir in Ihrem Antrag jedwede Konkretisierung zu diesem Punkt. Die weiteren Forderungen der Grünen sind im wahrsten Sinne
des Wortes durchaus diskussionswürdig, positiv wie negativ. Die Vorstellungen zur Gleichstellungspolitik erscheinen uns noch unausgegoren. Wo gefordert wird, genuine Aufgaben unternehmerischer Forschung und
Entwicklung staatlich direkt zu subventionieren, lehnen
wir das als Linke entschieden ab. Den Forderungen zum
Urheberrecht dagegen können wir uneingeschränkt zustimmen.
Auch die Grünen fordern einen Wissenschaftstarifvertrag. Dabei begrüßen wir als Linke insbesondere,
dass die Grünen davon ausgehen, dass im Mittelpunkt
des Arbeitsrechts in der Wissenschaft das unbefristete
Arbeitsverhältnis stehen muss.
({17})
Aber Sie hätten etwas dazu sagen müssen, a) wie Sie das
finanzieren wollen und b) dass dann unbedingt das Wissenschaftszeitvertragsgesetz abgeschafft werden muss.
({18})
Volker Schneider ({19})
- Lieber Kollege Gehring, wir sagen an dieser Stelle,
dass man Geld in das System pumpen muss. Sie aber
verschweigen das. Daher frage ich mich, wie Sie das
umsetzen wollen.
({20})
Ich wiederhole, dass ein Wissenschaftstarifvertrag
bzw. wissenschaftsspezifische Regelungen im TVöD aus
Sicht der Linken in erster Linie zur sozialen Absicherung der zunehmend prekär Beschäftigten, besonders der
Lehrbeauftragten, Postdoktoranden, studentischen Beschäftigten, Promovierenden und des sonstigen Mittelbaus, führen müssen und nicht zur Zahlung exorbitanter
Prämien an wenige. Dieser Wissenschaftstarifvertrag
muss bundesweit einheitlich sein, damit die Zersplitterung im Tarifrecht für die Wissenschaft überwunden
werden kann und Mobilität möglich ist.
Ein letzter Punkt.
Nein, Herr Kollege Schneider, Sie müssen jetzt zum
Schluss kommen.
Ein allerletzter Satz.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, nur auf einer
breiten Basis werden Sie Spitzenkräfte bekommen.
Wenn schon die jungen Wissenschaftler abwandern,
dann haben Sie ein Problem.
({1})
Danke schön.
({2})
Das Wort hat der Kollege René Röspel von der SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir reden heute unter anderem über den FDPAntrag, ein Wissenschaftsfreiheitsgesetz einzuführen.
Frau Ministerin Schavan hat deutlich gemacht, dass die
Forderung nach einem solchen Gesetz und die Vorbereitung dazu auf die Initiative der Bundesregierung nach
der Kabinettsklausur in Schloss Meseberg im Sommer
des letzten Jahres zurückgeht.
Erlauben Sie mir zu Beginn die grundsätzliche Bemerkung, dass Wissenschafts- und Forschungsfreiheit in
Deutschland ein sehr hohes Gut sind und durch Art. 5
Abs. 3 des Grundgesetzes geschützt sind. Wir haben
über Forschungsfreiheit und ihre Grenzen sehr häufig
diskutiert. Zuletzt ging es am Montag in einer fünfstündigen Anhörung um die Frage, inwieweit man in
Deutschland mit embryonalen Stammzelllinien forschen
darf. Forschungsfreiheitsbeschränkungen gibt es aber
auch in anderen Bereichen, zum Beispiel bei der Diskussion um Tierversuche. Heute geht es also gar nicht um
Forschungsfreiheit im eigentlichen Sinne, sondern um
eine Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Wissenschaft.
Man kann die Forschungsfreiheit positiv - durch Förderung - und negativ - durch Nichtförderung - beeinflussen. Erlauben Sie mir, dass ich kurz auf die ständig
wiederkehrende Kritik am Atomausstieg in FDP-Anträgen eingehe; vielleicht können Sie das bei den nächsten
Anträgen endlich einmal aussparen.
({0})
Ich bin ausdrücklich der Auffassung, dass die Politik im
Sinne der Verantwortung für die ganze Gesellschaft und
für künftige Generationen
({1})
die Möglichkeit haben muss, über die Forschungsförderung steuernd in die Forschung einzugreifen. Sie sollten
es akzeptieren, dass eine durch Wahlen legitimierte Bundestagsmehrheit von SPD und Grünen vor einigen Jahren den Ausstieg aus der Kernenergie und den Einstieg
in die alternativen Energien beschlossen hat. Sie irren,
wenn Sie, liebe Kollegen von der FDP, in Ihrem Antrag
behaupten, der Einstieg in die alternativen Energien
stelle ein Problem in Hinblick auf die wirtschaftliche
Leistungsfähigkeit dar. Solar- und Windenergie sind
mittlerweile Spitzentechnologien; wir sind in dem Bereich Weltmeister.
({2})
Sie wollen wieder in die Kernenergie - ein Auslaufmodell - einsteigen. Die Uranvorräte sind aber begrenzt.
Die radioaktiven Abfälle sind nicht beherrschbar.
Uran 238 hat eine Halbwertszeit von 4,5 Milliarden Jahren. Davon produzieren wir jeden Tag ungeahnte Mengen. Wenn Sie wieder in die Kernenergie einsteigen wollen, dann suchen Sie sich endlich eine parlamentarische
und gesellschaftliche Mehrheit dafür; Sie werden sie
nicht finden. Akzeptieren Sie das! Schreiben Sie aber
doch nicht in jeden Antrag, dass Sie den Ausstieg kritisieren!
({3})
Wir wollen heute nicht über das Grundrecht der Forschungsfreiheit und der Wissenschaftsfreiheit reden,
sondern über die Rahmenbedingungen für Wissenschaft und Forschung in Deutschland. Im Groben gibt es
zweierlei Rahmenbedingungen: finanzielle und strukturelle. Über die finanziellen Rahmenbedingungen brauchen wir nicht lange zu reden; die Vorgängerregierung
und die jetzige Regierung haben eine Menge getan und
erhebliche Mittel in die Forschungsförderung gesteckt.
Heute wollen wir über die strukturellen und organisatorischen Rahmenbedingungen reden. Es ist gut, wenn wir
die Wissenschaftsorganisation stärken. Ich finde den Titel des Antrags der Grünen übrigens deutlich gelungener
und abwägender als den Titel des FDP-Antrags.
Wir haben nichts dagegen - das hat auch die Ministerin gesagt -, im Bereich der Forschungsförderung Vorschriften zu entrümpeln, auf bürokratische Eingriffe zu
verzichten und mehr Flexibilität in den Bereichen Haushaltsführung, Vergabe- und Baurecht für die Forschungseinrichtungen zu schaffen. Der Teufel steckt aber im Detail: Was heißt das konkret?
Ich möchte nur ein Beispiel herausgreifen - Sie erwähnen es in Ihrem Antrag -: die Forderung nach attraktiveren Vergütungskonditionen für exzellente Wissenschaftler. Auch in diesem Bereich hat die
Vorgängerregierung schon eine Menge erreicht, etwa die
leistungsorientierte W-Besoldung. Wir sind dort sicherlich noch nicht am Ende der Möglichkeiten. Wir hören
alle naselang von Forschungsorganisationen: Wir können wieder einen Forscher nicht halten, weil ihm in anderen Ländern ein höheres Gehalt geboten wird. Das ist
sicherlich so. Man muss sich überlegen, was die Forderung nach besserer Vergütung bedeutet - unabhängig davon, dass in vielen Bereichen eine flexible Handhabung
schon möglich ist -: Legen wir bei den exzellenten Forschern eine Schippe drauf, führt das möglicherweise zu
Disparitäten im Tarifvertragssystem. Bieten wir nur Wissenschaftlern, die ins Ausland gehen wollen oder die wir
aus dem Ausland holen wollen, eine höhere Vergütung?
Führt das möglicherweise zu einem Wettbewerb zwischen den Forschungseinrichtungen, der nicht wünschenswert sein kann, weil die finanziell bessergestellte
Forschungseinrichtung aus der A-Stadt dann den Spitzenwissenschaftler aus B-Dorf abwerben würde? Für das
System ist damit überhaupt nichts gewonnen; es geht nur
Geld verloren. Möglicherweise würde man für einen
Spitzenforscher so viel Geld verbrauchen, dass man damit drei Nachwuchskräfte über längere Zeit fördern
könnte. Erfordert die demografische Entwicklung nicht
eher - dazu haben wir vor kurzem etwas bei der Anhörung zu den Zukunftsperspektiven von Frauen im
Wissenschaftssystem gehört -, dass wir allen jungen
ausgebildeten Wissenschaftlern den Zugang zum Forschungssystem ermöglichen und wir sie nicht herausdrängen? Wenn es eine freie Wissenschaftlerstelle gibt,
können wir es uns noch leisten, dass wir den Wettbewerb
so ausgestalten, dass nur der bessere von den zwei Bewerbern genommen wird und der etwas schlechtere als
Taxifahrer durch Berlin fahren muss und der Wissenschaft verlorengeht?
Wir können es uns auch nicht mehr leisten - auch das
erfahre ich häufig -, dass bei einem jungen Wissenschaftlerehepaar nur der Mann als Forscher angestellt
wird - so ist es üblich - und die hochqualifizierte Frau
für die Kinderbetreuung nach Hause geschickt wird. Da
gibt es viele Beispiele, die man täglich erleben kann.
Besser ist es sicherlich, wenn beide am Institut arbeiten
können und die Kinder im Institutskindergarten betreut
werden; das ist sicherlich unstrittig. Das ist eine strukturelle Rahmenbedingung, die in einigen Forschungseinrichtungen mittlerweile auch umgesetzt wird.
({4})
Wenn Flexibilität bei der Bezahlung auch zu einer
Verbreiterung und Verbesserung der Basis des wissenschaftlichen Personals führt, dann bin ich dabei. Übrigens ist das, was ich gerade erläutert habe, nicht frei erfunden, sondern beruht auf Erfahrungen. Im Dezember
waren wir mit dem Forschungsausschuss - die Kollegen
Gehring und Schneider waren dabei - am weltweit
höchst renommierten Weizmann-Institut in Israel. Dort
gibt es hervorragende junge und ältere Wissenschaftler.
Ich habe Herrn Professor Zajfman, den Direktor des Instituts, gefragt, wo er diese guten Leute herbekommt, ob
er sie etwa mit viel Geld aus dem Ausland holt. Als ich
ihn gefragt habe, wie diese Leute bezahlt werden, hat er
geantwortet, die Bezahlung sei mit der in den USA nicht
vergleichbar und „very far away from German scale“,
also weit unter den deutschen Maßstäben. Sie verdienen
lange nicht so viel wie deutsche Wissenschaftler. Das
zeigt, dass es nicht allein um Geld, sondern auch um andere Rahmenbedingungen geht. Wir haben sehr gut lernen können, wie wichtig es ist, vor Ort ein vernünftiges
Angebot für die Ehepartner und Familien der Wissenschaftler zu schaffen und vor allen Dingen jungen Wissenschaftlern eine Perspektive aufzuzeigen, die darüber
hinausgeht, für zwei oder fünf Jahre am Institut zu arbeiten, ohne zu wissen, wie es danach weitergeht.
({5})
Am Weizmann-Institut kann jeder, der gut ist, entweder
wissenschaftlicher Mitarbeiter oder Professor auf Lebenszeit werden und erhält damit eine Perspektive, die
man in Deutschland häufig nicht findet.
Zwei Stichworte will ich noch aufgreifen. Sie, die
FDP, fordern in Ihrem Antrag, die Altersgrenze für herausragende Wissenschaftler aufzuheben. Wir als SPD
halten die Überlegungen zu einer Seniorprofessur seit
Längerem für richtig. Allerdings darf das nicht dazu führen, dass Nachwuchskräfte verdrängt werden, sondern es
muss dafür eigene Stellen geben, möglichst auch eigenständig finanziert.
Außerdem schreiben Sie in Ihrem Antrag, dass Sie
ausländerrechtliche Hürden beseitigen wollen. Unser
Vorschlag dazu lautet: Starten Sie über Nordrhein-Westfalen eine Bundesratsinitiative.
({6})
Holen Sie sich Herrn Koch dazu, solange er noch Ministerpräsident in Hessen ist. Dann kann er zeigen, dass er
auch für eine andere Ausländerpolitik steht. Wir sind bei
diesem Thema sicherlich diskussionsbereit.
Herr Kollege Röspel, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Sitte?
Gerne.
Herr Kollege, die SPD hat in der letzten Legislaturperiode das Juniorprofessurenprogramm aufgelegt. Wir haben heute auch unseren Antrag mit dem Titel „Die Zukunft der Lehre und Forschung an Hochschulen mit
Hilfe der Juniorprofessur stärken“ zu diskutieren. Sie haben vorhin selber erwähnt, wie wichtig es ist, die Förderung von Spitzenkräften und die Förderung von Nachwuchskräften in das richtige Verhältnis zu setzen. Ich
möchte einfach die Gelegenheit nutzen, Ihre Position zur
Fortsetzung des Programms zu Juniorprofessuren zu erfragen.
Ich bedanke mich ausdrücklich dafür, dass Sie eine
Initiative der SPD - nämlich die zur Juniorprofessur loben und für sinnvoll halten. Wir werden uns weiter dafür einsetzen, weil es eine gute Maßnahme ist.
({0})
Das sollte in der Kürze der Zeit genügen.
Ich würde gerne den Bogen zur Wissenschaftsfreiheit
schließen. An zwei Punkten habe ich große Sorge, was
die Zukunft der Wissenschaftsfreiheit in unserem Lande
anbelangt. Erstens ist mein Eindruck, dass es früher im
Interesse von Wissenschaftlern lag, ihre Ergebnisse
möglichst schnell auf Konferenzen oder in Fachzeitschriften zu veröffentlichen. Ich habe den Eindruck, dass
sich das Interesse jetzt dahin verschiebt, Patente zu erarbeiten und anzumelden. Das allerdings setzt voraus, dass
man möglichst lange geheim, nicht mehr transparent und
kooperativ arbeitet. Deswegen appelliere ich an das Ministerium: Wir brauchen eine Neuheitsschonfrist, die es
ermöglicht, seine Ergebnisse zu veröffentlichen und der
Wissenschaft zur Diskussion zur Verfügung zu stellen,
ohne sich der Möglichkeit zu berauben, ein Patent anzumelden.
Wir haben heute darüber geredet und wir werden sicherlich noch länger darüber reden, dass Wissenschaftler
frei arbeiten können müssen. Der zweite Punkt, um den
es mir geht, ist aber die Freiheit junger Menschen - es
sitzen heute viele unter den Zuschauern -, Wissenschaftler werden zu können.
({1})
Ich mache mir zunehmend Sorgen darüber, dass jungen
Menschen in gewissen Bundesländern - der entsprechende NRW-Minister sitzt ja hier - durch die von der
FDP mitverantworteten Studiengebühren zunehmend
die Möglichkeit genommen wird, ein Studium aufzunehmen.
({2})
Das hat nicht intellektuelle, sondern rein finanzielle
Gründe; das ist eine Tatsache. Das betrifft die Fachkräfte
und geht bis in die Mittelschicht. In der letzten Bürgersprechstunde habe ich erlebt, dass eine Lehrerin gesagt
hat: Mein zweiter Sohn will jetzt beginnen, zu studieren.
Das macht 2 000 Euro im Jahr. Ich komme langsam an
meine finanziellen Grenzen. - Diese Einschränkung der
Wissenschaftsfreiheit und der Möglichkeit, Wissenschaftler zu gewinnen, werden wir Sozialdemokraten
nicht hinnehmen. Das halten wir für grundlegend falsch.
({3})
Bei allen anderen Punkten, die zur Diskussion stehen,
sind wir gerne gesprächsbereit.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Kai Gehring von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
letzten Jahr hat die Bundesregierung in Meseberg ein
Wissenschaftsfreiheitsgesetz versprochen. Bis jetzt ist
es ein Yeti geblieben. Vielleicht gibt es irgendwann ein
solches Gesetz. Aber gesehen hat es bisher noch niemand. Nach der Rede von Ministerin Schavan ist mir leider unklar geblieben, was tatsächlich drinstehen soll.
Mal gucken, ob es irgendwann schriftlich vorliegt.
({0})
Plötzlich, Monate später nach der Ankündigung der
Bundesregierung, rufen auch Sie von der FDP nach einem Wissenschaftsfreiheitsgesetz. Sie wollen Freiheit
per Gesetz, obwohl das im Grundgesetz klar verankert
ist. Das klingt so, als glaubten Sie wirklich, dass Sie mit
einem einzigen Bundesgesetz die Grundlagen für mehr
Selbstbestimmung in der Wissenschaft legen könnten
und dass es bei den notwendigen Verbesserungen im
Wissenschaftssystem einzig und allein um mehr Freiheit
gehe. Dabei ist das überragende Ziel moderner Forschungspolitik vor allem mehr Qualität. Aber davon haben Sie heute gar nicht gesprochen.
({1})
Wir dürfen dabei nicht eindimensional auf den Faktor
Freiheit schauen, sondern müssen an einer Reihe von
Rädchen drehen. Dazu gehören eine gute Forschungsinfrastruktur, attraktivere Arbeitsbedingungen für Forscherinnen und Forscher, mehr Eigenverantwortung und
Transparenz, mehr Kooperation und eine bessere Gleichstellungs- und Nachwuchsförderungspolitik. Darum geht
es, wenn wir die Forschung und Wissenschaft in
Deutschland wirklich stärken wollen.
({2})
Natürlich geht es auch um mehr Freiheit, wenn wir Neugier und Verantwortung in Forschung und Wissenschaft
ermöglichen wollen. Aber Freiheit ist kein Selbstzweck
à la FDP. Was helfen der Wissenschaft zusätzliche Freiräume, wenn ihr keine Mittel zur Verfügung gestellt werden, diese auszufüllen? Ein Lehrstück - oder vielmehr
ein Bad-Practice-Beispiel dafür - bietet das Land Nordrhein-Westfalen mit seinem Hochschulfreiheitsgesetz,
das Schwarz-Gelb auf den Weg gebracht hat. Die NRWLandesregierung selbst räumt mittlerweile in Bezug auf
die internationale Zusammenarbeit ein, die Hochschulen
hätten nun mehr Freiheiten, nutzten diese aber gar nicht,
und die Politik könne nun gar nichts mehr machen. Ist
das die Politik, die Ihnen vorschwebt? Ich hoffe nicht.
Frau Ministerin Schavan, wenn Sie mit Ihrem Wissenschaftsfreiheitsgesetz klammheimlich eine schwarzgelbe Bildungskoalition schmieden wollen, um Herrn
Westerwelle wieder einmal zu beruhigen, dann überlegen Sie sich das besser zweimal; denn das sogenannte
Hochschulfreiheitsgesetz in NRW setzt den Wissenschaftlern externe Hochschulräte quasi als Dienstvorgesetzte vor die Nase. Da wird demokratische Kontrolle
durch marktwirtschaftliche Gängelung ersetzt. Ist das
die Freiheit, die Sie meinen? Ich hoffe, nicht.
({3})
Eine Hochschule ist nicht dasselbe wie ein Unternehmen. So muss es auch bleiben.
({4})
Natürlich wollen auch wir Grüne mehr Selbstbestimmung in Wissenschaft und Forschung. Aber Autonomie
bedeutet für uns nie die Abwesenheit von Spielregeln.
Das ist ein zentraler Unterschied zu Ihnen.
({5})
Mehr Autonomie bedeutet auch mehr Eigenverantwortung. Hochschulen und Forschungseinrichtungen müssen gewährleisten, dass sich die Forschung qualitativ
verbessert. Es geht um Transparenz, demokratische
Rückbindung und Mitbestimmung. Finanzmittel müssen effizienter eingesetzt werden, um genau dort anzukommen, wo sie gebraucht werden. Deshalb schafft die
Einführung von Globalhaushalten eine gute Grundlage
für die Selbststeuerung. Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen müssen selbst darüber entscheiden können, wie die vorgesehenen Mittel zwischen Sach- und
Personalhaushalt aufgeteilt werden.
Aber Autonomie darf nicht dazu führen, dass zum
Beispiel kleine Fächer aussortiert werden, weil sie nach
FDP-Logik womöglich zu wenig Leistung im Verhältnis
zu den Investitionen bringen. Hier gibt es weiterhin eine
wichtige Steuerungsaufgabe von Politik und hier wird
deutlich, dass ein simples Wissenschaftsfreiheitsgesetz
nicht alle Probleme der Wissenschaft löst, sondern sogar
neue Probleme schaffen kann.
({6})
Das betrifft auch das Thema Wissenschaft als Beruf.
Seitdem die Große Koalition das Wissenschaftszeitvertragsgesetz eingeführt hat, gilt für viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Deutschland die unbefristete Befristung. Viele Nachwuchstalente gehen daher der
Wissenschaft verloren oder wandern gleich ins Ausland
ab, weil es dort verlässlichere Karrierewege gibt. Was
wir brauchen, ist eine Angleichung an das normale Arbeitsrecht, wo Befristung die Ausnahme und nicht die
Regel für alle ist. Ihre Vorschläge für mehr Flexibilität
bei der Bezahlung von exzellenten Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftlern, die Sie, Frau Ministerin, gemacht
haben, greifen hier eindeutig zu kurz. Was wir brauchen,
ist ein Wissenschaftstarifvertrag, der Wissenschaft in
Deutschland international wettbewerbsfähiger macht.
Das ist unser Ziel.
({7})
- Dann haben wir ausnahmsweise einmal etwas gemeinsam, Frau Pieper. ({8})
Der Wissenschaftstarifvertrag, zu dem wir schon Vorschläge gemacht haben, ist eine gute Sache. Aber an dieser Stelle gibt die Große Koalition plötzlich ihren eigenen Wahlspruch „Mehr Freiheit wagen“ offensichtlich
auf.
({9})
Denn mit dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz haben
Sie eine Tarifsperre eingeführt. Hier wird dirigistische
Zentralsteuerung vor das freiheitliche Vertrauen auf die
Forschungsorganisation und die Tarifvertragsparteien
gestellt. Deshalb ist das der falsche Weg.
({10})
Auch in der Doktorandenausbildung gilt zu wenig normales Arbeitsrecht. Das deutsche Stipendiensystem
reicht bei weitem nicht aus, um die Förderung von hervorragenden Nachwuchswissenschaftlern zu gewährleisten. Wir brauchen deutlich mehr reguläre Stellen für
Doktorandinnen und Doktoranden. Gerade Nachwuchswissenschaftler müssen ihre Karriere planen können; die
Vereinbarkeit von Familie und Wissenschaft muss endlich gewährleistet werden.
({11})
Die von Rot-Grün eingeführte Juniorprofessur hat erste
wichtige Grundsteine für die Stärkung der wissenschaftlichen Karriere junger Wissenschaftler gelegt. Mich
würde schon interessieren, ob das künftig weitergeht, ob
man diese Stärkung im Rahmen des Hochschulpaktes als
qualitatives Ziel vorgibt, also ob Bund und Länder die
Juniorprofessur ausbauen und dabei die Tenure-TrackOption stärken. Das wäre ein wichtiges Ziel, um jungen
Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern Zukunftsperspektiven zu geben.
({12})
Frauen sind immer noch weit von gleichen Karriereperspektiven in der Wissenschaft entfernt. Das hat die
von uns Grünen angeregte Anhörung zu Frauen in der
Wissenschaft vor zwei Wochen im Forschungsausschuss
mehr als deutlich gezeigt. Das ist ein weiteres Beispiel
dafür, dass eine grenzenlose Autonomie à la FDP nicht
weiterhilft. Ob wir Gleichstellung in der Wissenschaft
erreichen, darf der Politik nicht egal sein.
({13})
Die Wissenschaft braucht klare politische Zielvorgaben
auf dem Weg zu Gleichstellung und Geschlechtergerechtigkeit. Ansonsten warten wir darauf noch 200 Jahre
oder länger. So kann es nicht laufen. Es geht darum, den
Anteil von Frauen auf allen Qualifikations- und Karrierestufen in Forschung und Wissenschaft deutlich zu steigern. Wie die Wissenschaft dieses Ziel erreicht, soll sie
autonom entscheiden. Ob sie es erreicht, muss jedoch
Konsequenzen bei der Mittelvergabe nach sich ziehen.
Nur so schaffen wir eine Verbindlichkeit dafür, dass
Frauen endlich die gleichen Karriereperspektiven in der
Wissenschaft haben.
({14})
Eine Reform des deutschen Wissenschaftssystems
muss auch den europäischen und globalen Forschungsraum einbeziehen. Wissenschaft lebt schließlich von Internationalität, Mobilität, Kreativität und Austausch. Wir
wollen, dass Wissenschaftler durch Auslandsaufenthalte
ihre Forschungs- und Lehrkompetenzen erweitern und
stärken können. Genauso wollen wir aber auch ausländische Wissenschaftler, die in Deutschland arbeiten wollen, willkommen heißen. Dazu müssen wir allerdings die
völlig bürokratischen Zuwanderungshürden dringend
senken.
({15})
Dazu gehört eine erleichterte Visumvergabe. Wir brauchen auch Dual-Career-Couple-Programme, die Arbeitsangebote für Ehe- und Lebenspartner und Kitaplätze für die Kinder. Schließlich brauchen wir
international konkurrenzfähige Gehälter; denn nur so
schaffen wir eine ständige Brain-Circulation, den beständigen Austausch, den wir dringend brauchen.
({16})
- Ja, es geht nicht nur um Braindrain, sondern auch darum, dass man sich international austauscht. Weil uns
dies in der globalen Wissensgesellschaft stärkt und bereichert, ist das ein wichtiger Punkt.
({17})
Autonomie der Wissenschaft bedeutet auch, dass Forschungsergebnisse stärker zugänglich gemacht werden.
Es muss endlich ein wissenschaftsfreundliches Urheberrecht geben. Es kann nicht sein, dass öffentlich geförderte Forschungsprojekte ihre Ergebnisse der Öffentlichkeit nicht kostenlos zur Verfügung stellen dürfen.
Das kann doch nicht wahr sein.
({18})
Dem Prinzip des Open Access entsprechend sollten daher wissenschaftliche Erkenntnisse nach Ablauf einer
ganz bestimmten Frist frei verfügbar sein.
Unsere Vorschläge sind im Übrigen von der maßgeblichen EU-Richtlinie gedeckt und sollten umgehend in
einem Dritten Korb zur Regelung des Urheberrechts in
der Informationsgesellschaft umgesetzt werden.
({19})
Dann könnten Sie gleich in einem Aufwasch die wissenschaftsfeindlichen Änderungen im Zweiten Korb rückgängig machen; denn bei diesem Gesetz waren der Großen Koalition die Lobbyinteressen offensichtlich
wichtiger als die Freiheit der Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler.
({20})
Stärkere Selbstbestimmung der Wissenschaft heißt
für uns nicht zuletzt, dass die Versäulung der deutschen
Forschungslandschaft zwischen universitären und außeruniversitären Einrichtungen aufgebrochen wird.
Die gemeinsame Berufung von Professorinnen und Professoren an Hochschulen und Forschungseinrichtungen
ist ein wichtiger Anfang. Wir haben zudem vorgeschlagen, einen Teil der Mittel des Paktes für Forschung und
Innovation für gemeinsame Projekte universitärer und
außeruniversitärer Einrichtungen zur Verfügung zu stellen. Auch das gäbe sicherlich einen ganz wichtigen Impuls. Des Weiteren schlagen wir zur bundesweiten Koordination ein Forum für Forschungsförderung vor, wie es
der Wissenschaftsrat schon 2003 gefordert hat. Dieses
Forum kann ebenso wie der gemeinsame Austausch die
Versäulung verringern und die Kooperation der Forschungsakteure tatsächlich verbessern.
({21})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, wenn Sie
Forschung und Lehre in Deutschland wirklich umfassend fördern wollen, ist es mit einem schlichten Ruf
nach einem Wissenschaftsfreiheitsgesetz nicht getan.
Stattdessen brauchen wir eine gemeinsame Kraftanstrengung von Bund und Ländern, um die Qualität der Wissenschaft und die Attraktivität des Wissenschaftsstandortes weiter zu stärken. Hier sollten wir endlich
anpacken.
Herzlichen Dank.
({22})
Das Wort hat der Kollege Michael Kretschmer von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das deutsche Wissenschaftssystem befindet sich - dies wurde
bereits gesagt - in einem immer schärfer werdenden
internationalen Wettbewerb um Forschungsmittel, um
exzellente Projekte und natürlich um die besten Köpfe.
Unter der Regierung Merkel sind bereits große Erfolge
in diesem Bereich erzielt worden. Mit dem Sechsmilliardenprogramm haben wir ganz klar gezeigt, wo wir
Schwerpunkte setzen. Keine Bundesregierung in der Geschichte der Bundesrepublik hat so viel Geld auf einmal
in die Hand genommen und in Forschung und Entwicklung investiert. Das ist ein wirklich gutes Signal.
({0})
Doch Geld und eine starke Fokussierung auf Exzellenz allein reichen nicht aus, um Deutschland in diesem
Wettbewerb ganz vorn zu halten. Um dort zu bleiben,
bedarf es eines Abbaus bürokratischer Hemmnisse in der
deutschen Forschung. Es bedarf einer Flexibilisierung
des Gesamtsystems und einer Stärkung der Eigenverantwortung der Wissenschaftseinrichtungen und der Wissenschaftler. Wir können stolz auf das sein, was wir in
den vergangenen Jahren in diesem Bereich erreicht haben.
Hervorgehoben werden sollte auch, dass Frau Bundesministerin Schavan die Strukturen in der deutschen
Wissenschaft in einem enormen Umfang und in einer
wirklich beeindruckend geräuschlosen Weise verändert
hat. Ich nenne nur beispielhaft das Karlsruher Institut für
Technologie und JARA, die Jülich-Aachen Research Alliance. Es wären noch viele andere Bereiche zu nennen;
gerade angesprochen wurde die Versäulung im deutschen Wissenschaftssystem. In den vergangenen Jahren
ist in diesem Bereich so viel verändert worden wie in
vielen Jahrzehnten zuvor nicht.
({1})
Das ist ein Erfolg dieser Regierung, dieser Koalition und
natürlich auch dieser Bundesministerin. Wir können ihr
dafür dankbar sein, und wir können ihr auch dazu gratulieren, weil es für uns alle gut ist.
Wir wollen den Wettbewerb, und wir wollen ihn auch
gewinnen. Ein wichtiger Schritt dazu ist die Einführung
der Overhead-Finanzierung bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Ich denke, wir sind uns einig, dass
es uns damit gelungen ist, die in der Wissenschaft Erfolgreichen zu belohnen und etwas zu beenden, was dort
über Jahre behindert hat, nämlich dass diejenigen, die
wirklich viele Drittmittel eingeworben haben, am Ende
von ihren Kollegen behindert wurden, weil auch von ihnen Ressourcen abgegriffen worden sind. Jetzt kann man
sagen: Diejenigen, die Forschungsgeld einwerben und
erfolgreich sind, nutzen auch der Gesamtinstitution, in
der sie arbeiten. Die Overhead-Finanzierung ist eine
ganz wichtige Maßnahme gewesen.
({2})
Wir wollen die rechtlichen Rahmenbedingungen noch
attraktiver, noch forschungsfreundlicher und international noch konkurrenzfähiger machen. Aus diesem Grund
begrüßt die CDU/CSU-Fraktion, dass die Bundesregierung sich aufgemacht hat, ein Wissenschaftsfreiheitsgesetz zu erarbeiten, um die derzeit bestehenden Hemmnisse im Haushaltsrecht, im Tarifrecht, im Ausländerund Aufenthaltsrecht sowie im Vergaberecht zu beseitigen. Ich begrüße ausdrücklich, dass die Bundesministerin heute hier schon angekündigt hat, dass die Bagatellgrenze von 8 000 Euro auf 30 000 Euro angehoben wird.
Das ist ein richtiger und wichtiger Schritt.
({3})
Wir müssen eines sagen - in dieser Debatte ist es
deutlich geworden -: Das, was die Grünen und die PDS
hier vorgetragen haben, zeigt, dass sie keine Parteien
sind, die mehr Freiheit und mehr Wettbewerb im Wissenschaftssystem wollen. Das, was wir wollen, ist in der
Tat eine Veränderung der Philosophie. Vieles geht dann
eben so nicht mehr. Es geht dann nicht mehr, dass Landeswissenschaftsminister und -ministerien der Bürokratie vorgeben, was passiert. Es bedeutet, dass es zu größerer Ungleichheit kommen wird, dass diejenigen, die
erfolgreich sind und für viel Qualität sorgen - wir brauchen sie; das Thema Qualität ist angesprochen worden -,
belohnt werden und dass diejenigen, die nicht so gut,
besser gesagt: schlecht sind, im Zweifel nicht mehr mitspielen können. Das ist die Voraussetzung für Exzellenz,
die zumindest wir als Union wollen.
({4})
Ein Wissenschaftstarifvertrag ist ein ganz wichtiger
Punkt. Die Forderung, einen solchen Vertrag einzuführen, wird seit vielen Jahren erhoben. Wir sollten ehrlich
sein und versuchen, praktisch vorzugehen. Ich kann den
Ländern nur dazu raten, den Hochschulen die Tariffähigkeit zu geben. Die Hochschulen sollten beginnen, mit
den Gewerkschaften einen Wissenschaftstarifvertrag,
einen Spartentarifvertrag, auszuhandeln. Dieser Tarifvertrag sollte dann von anderen übernommen werden.
Der Bund kann mit der Helmholtz-Gemeinschaft ähnlich
vorgehen.
Ich glaube, es bringt nichts, wenn die Bundesebene
versucht, mit der Gewerkschaft übereinzukommen. Hier
müssen Tatsachen geschaffen werden, und das nach
Möglichkeit schnell und von unten. Die Forderung, einen Wissenschaftstarifvertrag zu schaffen, ist wichtig.
Wenn wir tatsächlich wollen, dass es durch Wettbewerb
zu Exzellenz kommt, dann müssen wir erkennen, dass
das nicht durch das öffentliche Dienstrecht erreicht werden kann.
({5})
Wir müssen über weitere Punkte reden. Deutschland
ist ein Land, in dem in enormem Maße ausgebildet wird,
und zwar im Bereich der wissenschaftlichen Exzellenz,
sei es im Studium, sei es in der Doktorandenausbildung. Wir müssen dafür sorgen, dass die Personen, die
hier - auch mit deutschem Steuergeld - ausgebildet werden, in diesem Land arbeiten können. Aus diesem Grund
müssen wir mit den Innenpolitikern jetzt diesen Streit
ausfechten. Wir müssen das Ausländerrecht so ändern,
dass diejenigen, die wir brauchen, in diesem Land arbeiten können und dass wir attraktiv für sie sind.
({6})
Im Zusammenhang mit den Fragen der Finanzen, der
Globalhaushalte, der Übertragbarkeit der Mittel und des
Ausländerrechts gilt das, was die Ministerin schon angesprochen hat: Die Forschungspolitiker im Deutschen
Bundestag sind sich - bis auf diese beiden Ausnahmen bezüglich der Zielrichtung im Wesentlichen einig. Die
Konfliktlinien sind eher in anderen Bereichen zu suchen,
nämlich zu den Innenpolitikern und den Finanzpolitikern. Wir sollten hier gemeinsam vorgehen. Das ist auch
eine Einladung an diejenigen in der Opposition, die tatsächlich etwas erreichen wollen. Wenn wir Deutschland
in diesem Bereich attraktiv machen wollen, brauchen
wir Veränderung. Sie vonseiten der FDP können gerne
daran mitwirken,
({7})
da es im gesamtstaatlichen Interesse liegt.
({8})
Wir sind auf dem richtigen Weg. Es geht jetzt um die
Ausgestaltung und um die Entwicklung von Ideen. Die
Bundesrepublik hat sich mit dem 6-Milliarden-Programm und der Hightech-Strategie im internationalen
Wettbewerb zurückgemeldet. Wir sagen ganz klar: Ja,
wir wollen den Wettbewerb! Wir wollen ihn gewinnen! Mit der Diskussion über bessere Rahmenbedingungen,
die wir hier heute führen, untermauern wir diese Zielsetzung.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat jetzt der Minister für Innovation, Wissenschaft, Forschung und Technologie des Landes Nordrhein-Westfalen, Professor Andreas Pinkwart.
({0})
Dr. Andreas Pinkwart, Minister ({1}):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Exzellenzinitiative und der Pakt für Forschung und Innovation haben Schwung in die deutsche
Wissenschafts- und Forschungslandschaft gebracht. Es
gilt jetzt, diesen Schwung mutig zu verstärken und in
den nächsten Jahren zu verstetigen. Dafür brauchen wir
zweierlei: mehr Gestaltungsfreiheit und mehr Gestaltungskraft für unsere Hochschulen und Forschungseinrichtungen in Deutschland.
({2})
Zur Gestaltungsfreiheit: Hier muss es unser Ziel
sein, Wissenschaft und Hochschulen endlich von unnötigen Fesseln des Staates und der Bürokratie zu befreien.
Wir begrüßen daher die von der Bundesministerin
Annette Schavan angekündigte Wissenschaftsfreiheitsinitiative nachdrücklich. Wir wollen, dass die von Bund
und Ländern gemeinsam getragenen außeruniversitären
Forschungseinrichtungen die gleichen Gestaltungsfreiheiten erlangen können, wie wir sie unseren Hochschulen in Nordrhein-Westfalen mit dem Hochschulfreiheitsgesetz bereits gegeben haben.
({3})
Sie alle haben sich sehr darüber gefreut, und der zweite
Durchlauf der Exzellenzinitiative Nordrhein-Westfalen
hat gezeigt, dass es den Hochschulen offensichtlich gut
bekommen ist, denn sie haben ihre Wettbewerbsposition
in der Exzellenzinitiative deutlich steigern können.
({4})
Einen besseren Beleg dafür, dass das Hochschulfreiheitsgesetz in Nordrhein-Westfalen sehr gut ist, kann es
gar nicht geben.
({5})
- Der Realitätsverlust spiegelt sich eher anderenorts wider. Offensichtlich - darauf möchte ich hinweisen - gibt
es gerade bei den Grünen Widersprüche zwischen Anträgen und Wortbeiträgen.
({6})
Ich habe Ihren Antrag, der unseren Gedanken des Hochschulfreiheitsgesetzes aufnimmt,
({7})
eigentlich mit großer Freude gelesen. Ich habe mir gesagt: Menschenskinder, das ist eine tolle Initiative. Vielleicht gibt es tatsächlich eine breite parlamentarische
Mehrheit für mehr Freiheit in Wissenschaft und Forschung.
In dem Antrag der Grünen steht unter anderem - mit
Genehmigung des Präsidenten darf ich zitieren -:
({8})
Die Einführung von Globalhaushalten ist eine
Grundlage für die notwendige Selbststeuerung der
Forschungseinrichtungen.
({9})
- Ich zitiere nicht aus dem Antrag der FDP, sondern aus
dem Antrag der Grünen. - Weiter heißt es da:
Um unternehmerisches Denken, Eigenverantwortung und Managementfähigkeiten zu stärken, muss
die Entscheidungsgewalt darüber, wie die vorgesehenen Mittel zwischen Sach- und Personalkosten
aufgeteilt werden, in der Einrichtung selbst liegen.
„Prima!“, kann ich dazu nur sagen. Genau das wollen
wir auch.
Dr. Andreas Pinkwart, Minister ({10})
({11})
Bekennen Sie sich doch bitte auch in Ihren Wortbeiträgen dazu!
({12})
Wir brauchen endlich ein leistungsbezogenes Vergütungssystem und ein international konkurrenzfähiges
Dienst-, Arbeits- und Zuwanderungsrecht, das
Deutschland für die besten Köpfe attraktiv macht.
({13})
Hierzu ist eine Überwindung der Hemmnisse durch das
Besserstellungsverbot und den Vergaberahmen notwendig. Frau Bundesministerin Schavan hat das vorhin vorsichtig angedeutet. Es ist nicht einfach - das verstehe
ich -, aber wir sollten versuchen, das zu erreichen.
In der Debatte habe ich von Herrn Röspel gehört, dass
man vielleicht lieber auf ein paar Spitzenleute verzichten
sollte, um in der Breite wirksamer zu sein. Dazu muss
ich Ihnen sagen: Sie haben die Gesamtzusammenhänge
offensichtlich immer noch nicht richtig erkannt. Wer
Spitze will, muss auch Breite fördern.
({14})
- Einen Moment! Deswegen versuchen wir in Nordrhein-Westfalen, wo Sie sehr lange Regierungsverantwortung getragen haben, die Hochschulen finanziell
endlich so auszustatten, dass sie in der Breite wie in der
Spitze konkurrenzfähig werden können.
({15})
Wir brauchen beides, und dafür brauchen wir auch die
richtigen Rahmenbedingungen.
({16})
Ich will Ihnen ein Beispiel geben zum Thema Flexibilisierung der Altersgrenzen - das fiel auch in Ihre
Verantwortung -: Als wir uns im vergangenen Jahr über
die Verleihung des Nobelpreises an Peter Grünberg freuten, wurde uns noch einmal vor Augen geführt, wie zu
Zeiten, als Sie Regierungsverantwortung im Bund wie
im Land Nordrhein-Westfalen innehatten, mit Spitzenwissenschaftlern umgegangen worden ist. Peter
Grünberg war ja immer schon ein ganz herausragender
Wissenschaftler. Er erhielt den Zukunftspreis und andere
Preise. Als er mit 65 Jahren unter Ihrer Verantwortung
zwangsweise in den Ruhestand versetzt wurde, hat man
ihm noch einen 400-Euro-Job angeboten.
({17})
Wir müssen solchen Spitzenleuten unabhängig von Altersgrenzen endlich die Anerkennung geben, die sie im
Ausland längst erhalten. Wir müssen verhindern, dass
sie abwandern. Wir müssen dafür sorgen, dass sie hier
bleiben und gezielt gefördert werden.
({18})
Meine Damen und Herren - ich bekomme ja jetzt viel
Zustimmung von Ihnen -, wir brauchen neben Gestaltungsfreiheit auch Gestaltungskraft. Das heißt, wir
müssen mehr für die Hochschulen und die Forschungseinrichtungen tun. Deswegen möchte ich Ihnen zurufen
und hoffe auf tatkräftige Unterstützung durch die Mehrheit des Hauses und insbesondere durch die Kolleginnen
und Kollegen, die zur Regierungskoalition gehören: Lassen Sie uns zusehen, dass Bund und Länder sehr schnell
zusammenkommen, um den Hochschulpakt fortzuschreiben. Wir erwarten im kommenden Jahrzehnt Gott
sei Dank weiter steigende Studierendenzahlen. So geht
es jetzt in diesem Jahr auch darum, dass Bund und Länder den Hochschulpakt I fortschreiben. Insgesamt gilt es,
zusätzliche Anstrengungen zu unternehmen, damit jeder,
der im kommenden Jahrzehnt studieren möchte, in
Deutschland einen qualitätsvollen Studienplatz antrifft.
({19})
Außerdem muss die Exzellenzinitiative fortgeschrieben werden. Es ist ganz wichtig, dass Sie jetzt die Mittel
bereitstellen und das Programm verlängern, damit wir
auch über den Fünfjahreszeitraum hinaus im Rahmen
der Exzellenzinitiative die dritte Ebene fördern können.
Wir sind dazu bereit.
({20})
Schließlich rufe ich Sie dazu auf, uns auch bei der
Einführung eines leistungsfördernden Stipendiensystems in Deutschland zu helfen. Bisher erhalten nur
2 Prozent der Studierenden in Deutschland ein Stipendium. Andere Länder haben viel höhere Quoten. Wir
würden gerne mit den anderen Ländern und dem Bund
zusammen diese Quote in den nächsten Jahren auf
10 Prozent erhöhen. Das wäre ein Beitrag dazu, neben
der Verbesserung der Situation in der Breite auch Spitzenleute in Deutschland zu halten.
({21})
Gestatten Sie mir einen letzten Gedanken zum Thema
Forschungsfreiheit. Das, was Herr Röspel zur Kernenergieforschung gesagt hat, fand ich doch schon erstaunlich. Wenn wir von der Freiheit der Forschung reden, müssen wir Freiheit auch da zulassen, wo sie uns
vielleicht aus allgemeinpolitischen Opportunitäten nicht
so passt.
({22})
Dr. Andreas Pinkwart, Minister ({23})
Die Vorgängerregierungen, sowohl im Bund als auch im
Land Nordrhein-Westfalen, haben die Kernenergiesicherheits- und -entsorgungsforschung in NordrheinWestfalen, also in Jülich und Aachen, bewusst auslaufen
lassen. Wir haben das wieder rückgängig gemacht: Aus
einer moralischen Verpflichtung und unbeschadet der
Frage, ob wir dauerhaft Kernenergie einsetzen, tragen
wir Verantwortung dafür, dass Spitzenforschung in
Deutschland auf diesen Gebieten genauso wie bei der
Erforschung einer vierten Generation von Reaktoren
möglich ist.
({24})
Denn wenn wir die Herausforderungen durch den Klimawandel wirklich ernst nehmen, müssen wir alle
Optionen für die Zukunft, also auch dieses Gebiet, in den
Blick nehmen.
({25})
Herzlichen Dank für Ihre freundliche Aufmerksamkeit.
({26})
Das Wort hat jetzt der Kollege Swen Schulz von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir haben nun in dieser Debatte schon einige Beiträge gehört. Ich habe meine Schwierigkeiten damit, mit
welchem Pathos hier für ein Wissenschaftsfreiheitsgesetz eingetreten wird.
({0})
Unbestritten gibt es einige Stellen, an denen der Wissenschaft mehr Eigenständigkeit eingeräumt werden sollte.
Dazu ist ja heute einiges gesagt worden.
Die Freiheit, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist
aber nicht das einzige Kriterium für ein gutes Wissenschaftssystem. Das haben dankenswerterweise auch die
Grünen in der Einleitung Ihres Antrages festgestellt.
Man erhält immer viel Applaus, wenn man mehr Freiheit
fordert. Doch zur Freiheit gehört auch die Verantwortung.
({1})
Gerade in der für die Gesellschaft so wichtigen Wissenschaft müssen wir eine klare Vorstellung davon haben,
wer was tun darf und soll und wer welche Verantwortung
übernehmen kann und muss. Wir könnten natürlich sagen: Bitte schön, die Wissenschaft ist vollkommen frei
und kann machen, was sie will. Dann muss sie aber selber zusehen, wie sie sich finanziert. Aber diese Art von
Freiheit vom Staat will natürlich niemand. Die Steuergelder sollen weiterhin fließen. Wenn jedoch öffentliche
Mittel verwendet werden, dann müssen diese auch im
öffentlichen Interesse eingesetzt und das muss entsprechend nachgewiesen werden.
({2})
Darüber müssen wir in Parlament und Regierung wachen.
Unsere Aufgaben gehen aber noch über die Kontrolle
der Verwendung von Steuergeldern hinaus. Die Wissenschaft in Deutschland - das ist Verfassungsrecht - ist
frei. Doch Freiheit hat immer auch Grenzen. Darum
finde ich es kritisch, dass die FDP in ihrem Antrag Forschungsverbote und bürokratische Eingriffe geißelt und
dafür die kerntechnische Forschung sowie die Stammzellforschung als Beispiele benennt. Es gibt so grundsätzliche Fragen der Ethik und der Sicherheit, da können
wir nicht einfach sagen, das geht uns nichts an.
({3})
Das ist nicht nur eine Sache der Wissenschaftler, sondern
Thema öffentlichen Interesses.
({4})
Das muss immer im Einzelfall diskutiert und gegebenenfalls kontrovers abgestimmt werden. Aber die Möglichkeit des Einschreitens des Gesetzgebers dürfen wir uns
nicht nehmen. Wir als Vertreterinnen und Vertreter des
Volkes sind in der Pflicht und dürfen uns darum nicht
drücken.
({5})
Im Übrigen würden wir die Wissenschaft mit dieser Aufgabe auch überfordern.
Wie die SPD insgesamt hänge ich nicht irgendwelchen staatlichen Steuerungsfantasien nach. Vielmehr
weise ich auf das diffizile Verhältnis von Staat und
Wissenschaft hin, bei dem wir es in die eine wie auch in
die andere Richtung übertreiben können. Der Staat soll
nicht Einzelheiten vorschreiben. Globalhaushalte und
Zielvereinbarungen sind sinnvollere Instrumente als eine
Detailsteuerung. Es geht zum einen darum, staatliche
Schwerpunktsetzungen zu ermöglichen, etwa durch die
Auflage von thematischen Forschungsprogrammen, die
im öffentlichen Interesse sind, zum Beispiel zur Sicherheit, Bildung oder Gesundheit. Zum anderen muss die
Wissenschaft Freiräume haben, auf eigene Faust zu forschen, jenseits von öffentlichen Debatten. Die Politik ist
eben nicht immer mit größerer Weisheit gesegnet als die
der Wissenschaft innewohnende Bewegung. Dafür gibt
es viele Beispiele. So hat sich bis PISA kaum jemand für
die Bildungsforschung interessiert. Mit den Islamwissenschaften war es bis zu den Anschlägen vom
11. September 2001 ganz ähnlich. Jetzt sind wir froh,
dass wir die kompetenten Wissenschaftlerinnen und
Swen Schulz ({6})
Wissenschaftler haben. Darum müssen wir auch die sogenannten kleinen oder Orchideenfächer schützen.
({7})
Wir haben in der Debatte über die Geistes- und Sozialwissenschaften darüber gesprochen. Auch das ist
eine Verantwortung von Wissenschaft und Politik.
({8})
Es wäre falsch, der Wissenschaft die Freiheit zu geben,
sozusagen ganze Wissenschaftszweige absterben zu lassen. Aber die Wissenschaft muss so frei sein, auch gegen
einen aktuellen politischen Trend die Orchideen pflegen
zu können.
Sie sehen also, es geht uns Sozialdemokraten um ein
vernünftiges Zusammenspiel von Wissenschaft und
Politik, von Freiheit und Verantwortung.
({9})
Das ist ein Verhältnis, das natürlich nicht immer spannungsfrei ist, das jeweils ausdiskutiert werden muss, zu
dem es aber keine gute Alternative gibt.
Ich weise auf einen weiteren Punkt hin: Für die Sozialdemokratie hat der Freiheitsbegriff immer noch eine
andere Dimension als für die Liberalen. Für uns geht es
nicht nur um die Freiheit vom Staat. Wir verstehen Freiheit immer auch als die Ermöglichung, die Befähigung,
sich zu entfalten. Der Staat muss dafür die Bedingungen
schaffen.
({10})
Sonst setzen sich immer nur die Starken und die Reichen
durch.
({11})
Wir wollen die Freiheit der Wissenschaft, sich Themen annehmen zu können, die nicht privat finanziert
werden. Das betrifft die bereits angesprochenen Orchideenfächer, die Grundlagenforschung, auch gesellschaftskritische Wissenschaft.
({12})
Eine Wissenschaft, die sich nur dem Geld verschreibt,
macht die Gesellschaft arm, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({13})
Wir müssen natürlich immer auch die Lehre mit bedenken, denn sie ist für die weitere Entwicklung der
Wissenschaft von elementarer Bedeutung und darüber
hinaus ein ganz wichtiges Thema für die Chancengleichheit.
Zu den Studiengebühren hat bereits der Kollege
Röspel das Notwendige gesagt.
Ein weiteres Problem der Lehre an Deutschlands
Hochschulen ist, dass sie nicht so recht belohnt wird. Sie
wird als Last wahrgenommen. Der einzelne Wissenschaftler und die Hochschule erhalten Geld und Renommee über Forschung, aber nicht für die Lehre. Dazu
haben auch wir mit den Programmen der Forschungsförderung beigetragen. Es liegt auf der Hand, dass wir nun
endlich auch einen Schwerpunkt auf die Unterstützung
und Prämierung von guter Lehre, und zwar für alle Studierenden, legen müssen.
({14})
Es gibt ein wunderbares Konzept für ein staatlich organisiertes Anreizsystem, das der Wissenschaft viel
Freiheit lässt: das Prinzip „Geld folgt Studierenden“.
({15})
Danach erhalten die Hochschulen Geld, wenn sie Studierende anlocken.
({16})
Dadurch entsteht ein toller und konstruktiver Wettbewerb um die beste Lehre, Frau Flach. Die Studierenden
sind dann nicht mehr eine Last, sondern werden zur Lust
der Hochschulen.
({17})
Bei aller Unterstützung, die ich einzelnen Aspekten
des vorgelegten FDP-Antrages gebe, ist mir der Antrag
der Grünen von der ganzen Philosophie her sympathischer.
({18})
Ich habe jetzt nicht die Zeit, das im Einzelnen auszuführen;
({19})
ich denke, das glauben Sie mir auch so.
Ich will nur noch die Gelegenheit nutzen, um kurz auf
das von den Grünen erwähnte und sehr wichtige Thema
Föderalismusreform II einzugehen. Tatsächlich haben
wir im Rahmen dieser Debatte die Chance, endlich den
verstaubten Investitionsbegriff der Nachkriegszeit wegzubekommen.
({20})
Er bevorzugt Ausgaben für Beton und benachteiligt Investitionen in die Köpfe; das gehört endlich geändert.
Wenn wir in diesem Zusammenhang aber über eine
neue Schuldenregel sprechen, dann dürfen wir eines
nicht zulassen, nämlich ein Schuldenverbot.
({21})
Swen Schulz ({22})
Bei aller Sympathie für das Ziel, Schulden zu reduzieren: Es muss auch in schwierigen Zeiten Spielraum für
Investitionen geben; sonst besteht die große Gefahr, dass
die Mittel für die Wissenschaft reduziert werden.
({23})
Denn den Menschen liegt - das will ich ihnen gar nicht
vorwerfen - die Finanzierung ihres aktuellen Lebens näher als die Ausgaben für die Zukunft. Zur Wissenschaftsfreiheit gehört aber auch eine verlässliche öffentliche Finanzierung. Diese dürfen wir nicht aufs Spiel
setzen. Darum kommt ein Schuldenverbot überhaupt
nicht infrage.
Die Freiheit der Wissenschaft ist wichtig. Sie muss
gestärkt werden. Gleichzeitig muss die öffentliche Verantwortung wahrgenommen werden. Das können letztendlich nur wir Volksvertreter. Das ist unsere Pflicht.
Das dürfen wir nicht vernachlässigen.
Herzlichen Dank.
({24})
Das Wort hat die Kollegin Marion Seib von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine gestrigen Einlassungen in diesem Hohen Hause
zur unkompliziert gewordenen Förderung der Forscher
und Entwickler im IKT-Forschungsbereich sowie meine
Forderung nach mehr internationaler Vernetzung und internationaler Kooperation kann ich heute wiederholen,
diesmal nicht nur für den IKT-Bereich, sondern für die
gesamte Wissenschaftsszene.
In Gesprächen mit Wissenschaftlern, Forschern und
Entwicklern vor Ort erntet man bei einer Darstellung der
Notwendigkeiten nichts anderes als ungläubiges Kopfschütteln. Trotz der eben gehörten Meinung von Ihnen,
Herr Kollege Schulz, kann man eines feststellen: Die
Wissenschaftsszene braucht mehr Freiraum für fachliche Exzellenz; das will ich gerne begründen. Der Weg
zu diesem Ziel ist aber mit unglaublich komplizierten
und viel zu vielen Hürden verstellt. Der internationale
Austausch im schriftlichen Verfahren ist ganz selbstverständlich geworden. Wer etwas mitzuteilen hat, bedient
sich weltweit der englischen Sprache. Damit steht dem
Wissensaustausch und der Verständigung im schriftlichen Verfahren nichts mehr im Wege.
Wehe aber, wenn Wissenschaftler und Hochschullehrer versuchen, ihre Nachwuchswissenschaftler in den
Genuss der Mitarbeit bei hochanerkannten ausländischen Kapazitäten zu bringen, um ihnen eventuell Referenzen für ihre künftige Tätigkeit zu verschaffen. Diese
Nachwuchswissenschaftler finden die Bedingungen im
Ausland dann so prima, dass sie über Jahre für Deutschland verloren sind. Oder wehe den Wissenschaftsverantwortlichen, wenn sie versuchen, Kapazitäten aus dem
Ausland nach Deutschland zu holen, um in der Zusammenarbeit von Forschung und Lehre den internationalen Standard zu halten oder zu fördern. Da merken sie
dann, dass Deutschland nicht nur von fachlicher Konkurrenz umzingelt ist. Sie merken auch, dass sie sich einem weiteren interessanten Wettbewerb zu stellen haben, nämlich dem weltweiten Wettbewerb der
Arbeitgeber um hochinteressante Leistungsträger. Diesen Wettbewerb können sie unter den zurzeit gegebenen
Umständen aber nur verlieren. Wenn Beamtenrecht und
sonstige öffentliche Dienstvorschriften mit den Regelwerken ausländischer Mitbewerber in Konkurrenz treten, sind die Verhandlungen gelaufen, ehe sie begonnen
haben.
Was ist zu tun? Wir müssen die Situation der wissenschaftlichen Einrichtungen und Hochschulen als Arbeitgeber dringend verändern. „Verändern“ heißt in diesem
Fall nicht, verehrte Kollegen von der linken Seite, das
Kind mit dem Bade auszuschütten. Wir müssen der Realität ins Auge schauen. International beobachtete Forschungsfelder und veränderte Konkurrenzsituationen
müssen mit neuen Instrumenten ausgestattet werden.
Hierunter fallen Globalhaushalte mit Direktverantwortung gegenüber den Rechnungshöfen. Vor allem aber
brauchen wir ein neues, modernes Tarifrecht mit flexiblen Elementen und Mut zur Lücke, insbesondere in den
hohen Tarifstufen.
Was aber am allerdringendsten gebraucht wird, ist das
Vertrauen der Legislative und der Exekutive in die Redlichkeit und das Können der Verantwortlichen in den
Hochschulen und den anderen wissenschaftlichen Einrichtungen.
({0})
Wir trauen den Verantwortlichen hinsichtlich ihrer intellektuellen, fachlichen, wissenschaftlichen Arbeit sehr
viel zu. Wir hoffen, dass sie drängende Fragen der Gesellschaft und der einzelnen Menschen lösen, und erwarten ganz selbstverständlich, dass sie fachlich im internationalen Vergleich nicht zurückfallen. Dass sie innerhalb
der vorgegebenen Möglichkeiten den besten Weg zu einer verantwortlichen Verwendung der zur Verfügung stehenden Mittel finden, das trauen wir ihnen aber nicht zu.
({1})
Viele können sich ihrer fachlichen Arbeit nicht ausreichend widmen, weil sie viel Zeit für die streng vorgeschriebenen, detaillierten Einnahme-Ausgaben-Rechnungen aufbringen müssen. Wir degradieren sie zu
überbezahlten Buchhaltern. Klar ist: Ich bin ein Fan ordnungsgemäßer Buchhaltung und schätze das Können
und den Einsatz aller Verantwortlichen, vom Buchhalter
bis zum Buch-, Wirtschafts- und Steuerprüfer. Die Wissenschaftler sind in der Regel aber nicht als Buchhalter
angestellt.
({2})
Sie wollen nach einhelligem Bekunden den Großteil ihrer Zeit ihren fachlichen Aufgaben widmen. Wenn wir
diese Erkenntnis zugrunde legen, kommen alle politisch
Verantwortlichen, im Bund wie in den Ländern, sehr
schnell zu der Auffassung, dass wir rasch ein Wissenschaftsfreiheitsgesetz brauchen, wie Frau Bundesministerin Schavan eben gesagt hat.
({3})
Wenn alle an diesem Prozess Beteiligten ihre ganz persönliche „Exzellenz“ einbringen, gelingt uns sicher ein
guter Wurf.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg Tauss von der
SPD-Fraktion.
Herr Pinkwart freut sich schon.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! - In der Tat, Herr Minister Pinkwart, mit Ihnen möchte ich beginnen. Ihr Beispiel von dem Wissenschaftler, der vorzeitig in Rente gehen musste, um dann
einen 400-Euro-Job angeboten zu bekommen, hat mich
zutiefst beeindruckt. Nachdem Sie sich auf dieses
Thema geschwungen haben wie ein blond gelockter
Jüngling aus der Antike auf sein Pferd, muss man glauben, dass Sie in NRW auf diesem Gebiet Vorbildliches
geleistet haben. Aber was haben Sie gemacht? Sie haben
ein Experimentchen gestartet, das am 31. Dezember dieses Jahres ausläuft. So sieht mutige Politik nicht aus.
({1})
Lassen Sie die Älteren doch länger arbeiten; für das
Dienstrecht seid ihr zuständig. Das darf aber nicht dazu
führen, dass die Stellen für Nachwuchswissenschaftler
nicht besetzt werden. Wir brauchen Doppelberufungen
und Ähnliches. So können wir miteinander etwas bewegen.
({2})
Kollege Schneider, Sie waren so unglaublich gesetzesbegeistert. Sie haben gesagt: Ein Gesetz ist immer
gut. Nun gut, das ist Ihre Position. Vielleicht können wir
uns darauf einigen: Wenn ein Gesetz nicht notwendig ist,
dann ist es notwendig, dass das Gesetz nicht erlassen
wird.
({3})
Das ist nicht von mir, sondern von Montesquieu. Dem
können wir wohl parteiübergreifend zustimmen.
Richtig ist: Wir reden hier nicht über überflüssige gesetzliche Regelungen, sondern über Rahmenbedingungen, die verbessert werden müssen, und zwar vom öffentlichen Dienstrecht bis zu den vielen anderen
Bereichen, die angesprochen worden sind. Ich glaube in
der Tat, wir sollten diese Debatte klar beginnen mit der
Aussage - sie ist an verschiedenen Stellen erfolgt -, dass
wir in Deutschland selbstverständlich die Freiheit von
Wissenschaft und Forschung grundgesetzlich geschützt und verankert haben
({4})
und dass wir heute darüber reden und es unser Ziel ist,
zu einer weiteren Stärkung der Wissenschaft zu kommen. Ich glaube, das bringt es auf den Punkt.
({5})
Ich kann nicht nachvollziehen, was ich diese Woche
im Spiegel gelesen habe. Man hat an der einen oder anderen Stelle den Eindruck, dass dem Schreiber die Fantasie durchgegangen ist. Die Forschung in Deutschland
muss nicht vor imperialistischer Politik geschützt werden. Die Forschung in Deutschland ist nicht gefesselt
und nicht bewegungsunfähig. Die anhaltenden und nachhaltigen Erfolge unserer deutschen Wissenschaft in einer
globalisierten Welt beweisen das ein aufs andere Jahr.
Von Gängelung durch die Politik kann keine Rede sein.
Ich glaube, wir sollten mit Selbstbewusstsein sagen: Für
kaum eine Gemeinschaft in Deutschland hat es in den
vergangenen Jahren eine derartig gute Unterstützung
durch die Politik im Bund und auch einigen Ländern
- bei euch mache ich ein paar Abstriche, lieber Herr
Pinkwart; aber wir reden hier in erster Linie über den
Bund - gegeben wie für Wissenschaft und Forschung.
Ich glaube, das sollten wir an dieser Stelle gegen alle
möglichen Anwürfe von anderer Seite richtigstellen.
({6})
Dies ist natürlich nicht dem Zufall geschuldet, sondern der Tatsache, dass wir bis hin zum Bundesfinanzminister der Auffassung sind - und dies nicht erst seit
gestern, sondern kontinuierlich in den letzten Jahren -,
dass wir selbstverständlich nicht Forschungsnation sein
können, dass wir nicht Exportnation Nummer eins sein
können, wenn wir im Bereich Bildung, Wissenschaft
und Forschung Infrastrukturen vernachlässigen. Aus diesem Grunde, also auch im Interesse dieses ökonomischen Ziels, sind hier verstärkte Anstrengungen notwendig.
({7})
Deswegen bin ich über den Jubel in den Ländern über
die PISA-Erfolge, dass wir von Platz was-weiß-ich auf
Platz 13 gerückt sind, nicht glücklich. Wir wären über
Platz 13 bei den Exportnationen nicht glücklich. Wir
müssen im Bereich Bildung und Forschung anstreben,
wie beim Export die Nation Nummer eins zu werden.
Das muss unsere Zielssetzung sein; wir sollten nicht
über das eine oder andere hintere Plätzchen jubeln.
({8})
Wir haben selbstverständlich schon versucht, einiges
auf den Weg zu bringen. Ich erinnere an Debatten in früheren Jahren, bei denen man gesagt hat: Stellenpläne haben Verfassungsrang, und Budgets dürfen um Gottes
willen nicht übertragen werden. Hier hat es Fortschritte
gegeben, und es gibt sicherlich weitere Möglichkeiten.
Wir haben auf die programmorientierte Förderung umgestellt. Wir haben sie wettbewerblich ausgerichtet. Weg
von der Detailsteuerung und hin zur Globalsteuerung diesen Trend wollen und können wir mit Sicherheit in
den nächsten Jahren verfolgen.
({9})
Ich erinnere an den Pakt für Forschung und Innovation. Ich erinnere an die Exzellenzinitiative für Spitzenhochschulen und den Hochschulpakt, in dessen
Rahmen wir über die DFG zusätzlich 700 Millionen
Euro an die Hochschulen geben. Auch davon profitieren
die Universitäten und die Studierenden unmittelbar.
({10})
Alle diese von mir genannten - im Übrigen vollständig wissenschaftsgesteuerten; auch dies sei noch einmal
gesagt - Initiativen stehen zur Verlängerung an. Darüber
werden wir reden. Ich glaube, auch hier werden wir Impulse setzen. Das heißt, es geht nicht um einen Teilaspekt, sondern um das ganze Bündel an Maßnahmen.
Auf gar keinen Fall wollen wir - lieber Herr Kollege
Pinkwart, darüber müssen wir noch einmal reden, wenn
wir Koalitionsverhandlungen führen;
({11})
da seid ihr noch nicht ganz auf dem richtigen Trip - die
Wissenschaftsfreiheit in Deutschland durch eine Fremdbestimmung durch Wirtschaftsvertreter in den Universitäten ersetzen. Das kann weiß Gott nicht unser Ziel
sein. So verstehen wir den Freiheitsbegriff nicht. Da habt
ihr in Nordrhein-Westfalen Korrekturbedarf.
({12})
Eine zweite Legende betrifft das viel zitierte Wort
vom unternehmerischen Handeln im Forschungs- und
Universitätsbereich. Selbstverständlich ist im Detail
prinzipiell nichts dagegen einzuwenden, aber können
Universitäten und Forschungseinrichtungen es tatsächlich wollen, in jedem Aspekt wie ein Unternehmen behandelt zu werden? Sollen das unternehmerische Risiko,
das Versagen am Markt und Insolvenzen wirklich Alltagserfahrung im Forschungssystem werden? Diese Fragen müssen von denen, die das fordern, beantwortet
werden. Wie soll qua Definition hochriskante Grundlagenforschung in ein solches Verständnis unternehmerischen Handelns eingefügt werden? Forschung birgt
- wie auch das wirtschaftliche Leben - stets das Risiko
des Scheiterns. Aber das Risiko des Scheiterns muss in
einer Wirtschaftsordnung anders betrachtet werden als
das Scheitern eines Forschungsprojektes.
({13})
Die überwiegend steueralimentierten und abgesicherten Einrichtungen sollten bedenken, dass es nicht schon
unternehmerisches Handeln ist, wenn man sich als Manager geriert. An diesem Punkt sollte semantisch abgerüstet werden. Ich glaube, das ist notwendig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Notwendigkeit
der Stärkung der Wissenschaft und der Sicherung von
Attraktivität und Forschungsfreundlichkeit stellen wir in
den unterschiedlichen Bereichen fest. Ich sage nochmals: Das, was im Spiegel zu lesen war - dass ahnungslose Beamte in den Ministerien sachkundige Vorschläge
von Forschern verwerfen und nach Gutsherrenart verfahren -, ist eine bösartige Unterstellung. Das sage ich auch
an die Adresse der Mitarbeiter des Bundesministeriums
für Bildung und Forschung, die gemeinsam mit den Projektträgern eine hervorragende und qualifizierte Arbeit
im Sinne der Förderung von Wissenschaft und Forschung leisten.
({14})
Sie sind nicht diejenigen, die die Forscher von morgens
bis abends schikanieren.
Wir haben weitere Impulse gesetzt. Ich erinnere an
unseren Plan, ab Herbst 2008 hochdotierte Alexandervon-Humboldt-Professuren zu schaffen. Damit werden
wir international renommierte Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler nach Deutschland locken.
Es gibt verschiedene Maßnahmen, um junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die ins Ausland gegangen sind, zurückzuholen. Es ist überhaupt nichts dagegen einzuwenden, wenn sie sich den Wind um die
Nase wehen lassen. Wir müssen uns allerdings darüber
unterhalten, wie wir denjenigen, die zurückkommen
wollen, um ihre Arbeit in Deutschland fortzusetzen, attraktive und lukrative Bedingungen bieten können. Hierfür gibt es zwar gute Beispiele, aber wir können noch zulegen. Einige Stichpunkte zu diesem Thema sind heute
bereits gesagt worden.
({15})
- Ja, die meisten sind unter Rüttgers ins Ausland gegangen. Das kann man nicht leugnen. Da unser lieber Koalitionspartner das anders sieht, will ich mich jetzt aber ein
bisschen zurückhalten. Diese Bemerkung ist allerdings
richtig.
Am KIT, dem Karlsruhe Institute of Technology, machen wir wichtige Erfahrungen. Das ist eine tolle Geschichte. Es zeigt sich natürlich auch, welche Probleme
es gibt. Hier können wir im Hinblick auf das Wissenschaftsfreiheitsgesetz noch etwas lernen.
Ein Problem, mit dem das KIT zu kämpfen hat, ist:
Einerseits muss sich das KIT am teilweise inkompatiblen und bürokratischen Rechtsrahmen des Landes Baden-Württemberg orientieren; Stichwort: Universität.
Andererseits muss es sich nach dem Rechtsrahmen des
Bundes richten, Stichwort: 90-prozentige Finanzierung
des Forschungszentrums Karlsruhe und wesentlich mehr
Mitwirkung des wissenschaftlichen Personals. Das kann
sich in der Folge, bei der Zusammenarbeit mit der
Universität, durchaus als Problem erweisen. Dieses Problem müssen wir lösen.
Einen Teil dessen, was am KIT getan wird, kann nur
auf der Basis rechtlicher Graubereiche geschehen. Daher
müssen wir jetzt erst einmal eine öffentliche Körperschaft nach Landesrecht schaffen, um im Rahmen einer
Umgehungskonstruktion die Kooperation zwischen Forschungszentrum und Universität zu ermöglichen. Das ist
eine elegante Lösung. Sie zeigt aber auch, wie bürokratisch manche Hemmnisse sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem KIT haben
wir einen Erfahrungsträger. Mit Blick auf die Kooperation der RWTH Aachen mit dem Forschungszentrum Jülich kann etwas Ähnliches geschehen. Dann könnten wir
darüber reden, das Vorschriftendickicht von Bund und
Ländern gemeinsam zu entrümpeln. Diese Gelegenheit
wollen wir nutzen. Wenn zur Erreichung dieses Ziels gesetzliche Maßnahmen notwendig sind, dann werden wir
handeln. Ich bin der Ministerin dankbar, dass sie auch
untergesetzliche Regelungen angesprochen hat, durch
die man in der einen oder anderen Frage viel schneller zu
Lösungen kommen kann.
Da auch das Thema Tarifverträge erwähnt worden
ist, möchte ich darauf hinweisen: Für Tarifverträge ist
nicht die Politik zuständig; das muss klar sein. Tarifverträge, auch im Bereich der Hochschulen, werden von
den Ländern geschlossen. Die Länder haben die Tarifgemeinschaft auf den Hund kommen lassen, Herr
Pinkwart. Es wäre notwendig, dass Sie hier Impulse setzen. Der Bund ist bereit, hierzu seinen Beitrag zu leisten.
Die letzten Tarifverhandlungen für den öffentlichen
Dienst waren, was die Stärkung der Wissenschaft und
des Nachwuchspersonals angeht, nicht gerade ein Ruhmesblatt; das ist völlig klar. Deswegen unterstützen wir
die Forderung der FDP nach einem Wissenschaftstarifvertrag. An dieser Stelle können wir aber nicht handeln.
Handeln müssen andere.
({16})
Mit den Grünen sind wir uns einig, dass wir für Wissenschaft und Forschung ein modernes Urheberrecht
brauchen. Ganz so grässlich, wie Sie es dargestellt haben, ist das, was wir getan haben, aber nicht. Wir haben
SUBITO gestärkt und im Rahmen des zweiten Korbes
weitere Maßnahmen auf den Weg gebracht. Da ich gerade sehe, dass der Kollege Manzewski hier ist, möchte
ich sagen: Wir haben in der Tat noch viel zu tun, um unser Urheberrecht wissenschaftsfreundlich zu gestalten.
Wir haben gute Ideen, über die wir mit unseren Kolleginnen und Kollegen diskutieren werden.
Lieber Herr Präsident, ich will die Hoffnung zum
Ausdruck bringen, dass ein Gewinner dieser Debatte
schon feststeht: die Forschung in Deutschland. Wir werden sie weiterhin stärken. Dafür ist der heutige Tag ein
gutes Zeichen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({17})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Carsten Müller von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Tauss von unserem geschätzten Koalitionspartner
hat vieles gesagt, was richtig ist.
({0})
- Vieles. Wir wollen es nicht übertreiben.
Ich will auf den Antrag der Grünen, der ebenfalls zur
Diskussion steht, eingehen. Die Grünen haben in ihrem
Antrag geschrieben:
Das Wissenschaftssystem in Deutschland ist besser
als sein Ruf, weist aber einige Schwächen auf …
Diese Feststellung ist richtig. Diese Schwächen zu beheben, ist Aufgabe der Großen Koalition. Wir freuen uns
natürlich über jeden, der daran mitarbeitet. Aus freundlicher Rücksichtnahme auf die Kolleginnen und Kollegen
von Bündnis 90/Die Grünen wegen der Gespräche in anderer Sache und an anderer Stelle will ich auf diesen Antrag nicht näher eingehen.
({1})
Ein weiterer Antrag liegt uns vor; er stammt von der
FDP. Er ist interessant zu lesen, und einige Aspekte sind
durchaus zu berücksichtigen. Aber ich glaube, es ist dem
Ziel, das wir erreichen wollen, nicht dienlich, wenn das
Wissenschaftsfreiheitsgesetz überfrachtet wird.
({2})
Ich darf auf das verweisen, was der Kollege Tauss eben
zur Frage eines Wissenschaftstarifvertrages ausgeführt
hat: Er hat zu Recht gesagt, dass wir eines nach dem anderen tun sollten.
Wir verfolgen mit dem Wissenschaftsfreiheitsgesetz
im Grundsatz zwei Ziele: Wir wollen weniger Bürokratie und mehr Eigenverantwortung für die universitären
und die außeruniversitären Forschungseinrichtungen.
Ich bin froh, dass Ministerin Annette Schavan diesem
Anliegen Priorität gegeben hat.
({3})
Wir wollen praktikable, flexible Rahmenbedingungen,
um die Hochschulen und Forschungseinrichtungen im
Wettbewerb um die besten Köpfe, um finanzielle Mittel
und um Innovationen und Technologien zu unterstützen.
Wir freuen uns natürlich darüber, dass Sie mitarbeiten
wollen, Frau Pieper.
({4})
- Um zu treiben, hätten Sie ein halbes Jahr früher kommen müssen. Aber, wie gesagt: Wir freuen uns über jeden, der uns auf diesem Weg begleitet.
Das Vorfeld ist geschaffen; die Exzellenzinitiative ist
ein Stichwort. Wir wollen, um Arbeitsplätze und Wirtschaftskraft in Deutschland zu akkumulieren, mit diesem
Gesetz auf die großen Herausforderungen reagieren, die
sich schnell wie folgt zusammenfassen lassen: erhöhte
Mobilität, Bekämpfung des Braindrain. Wir brauchen einen Braingain; Herr Kollege Gehring hat das ebenfalls
aufgegriffen. Wir stehen in einem globalen Wettbewerb.
Es gibt einen immer schneller werdenden Wettlauf um
verwertbare Produkte.
Die nötige Flexibilität bei den Rahmenbedingungen
ist genannt. Wissenschaft braucht Freiheit. Wir wollen
dazu beitragen, dass Deutschland zu einem Magneten
für Wissenschaftler und Forscher aus der ganzen Welt
wird. Es gibt eine Menge zu tun. Wir haben in der vergangenen Woche lesen können, dass weniger als
500 Wissenschaftler aus Nicht-EU-Ländern zu uns gekommen sind. Das heißt, wir müssen zusehen, dass wir
kurzfristig - ich bin optimistisch, dass uns das gelingt mit den Freunden der Innenpolitik sinnvolle Lösungen
finden. Wir können es nicht hinnehmen, wenn es hier
eine Blockade gibt.
({5})
In vielen Reden sind gute Lösungen angeklungen. Ich
will den Bereich des Urheberrechtes herausgreifen. Ich
freue mich, dass sich der Kollege Manzewski von unserem Koalitionspartner die Gelegenheit nicht entgehen
lässt, davon überzeugt zu werden, dass wir beim dritten
Korb kurzfristig Veränderungen vornehmen müssen. Wir
rechnen fest mit Ihrer Unterstützung, meine Damen und
Herren.
({6})
Wir wollen, dass die Entscheidungswege in den Forschungseinrichtungen schnell und unbürokratisch werden. Sie alle wissen, wie viel Zeit zum Beispiel das Ausfüllen von Reisekostenanträgen einnimmt. Diese Zeit ist
in Forschung und Entwicklung besser investiert.
({7})
Wir wollen in unserer Arbeit drei Schwerpunkte setzen: Wir wollen im Bereich Personal flexible und attraktive Vergütungskonditionen,
({8})
übrigens nicht nur für die, die absolute Spitzenleistungen
erbringen, sondern durchweg. Das ist geboten.
({9})
Wir wollen Anreizsysteme schaffen. Das begünstigt natürlich diejenigen, die besonders leistungsfähig sind.
Diejenigen, die nicht so leistungsfähig sind, bekommen
etwas weniger. Im Bereich der Haushaltssystematik wollen wir die Gesichtspunkte der Überjährigkeit, der Übertragbarkeit und der Deckungsfähigkeit von Mitteln verfolgen.
Es geht uns auch um Kooperation und Vernetzung,
um Beteiligungen und Ausgründungen. Wir wollen diese
erleichtern. Das heißt - ich sage das ausdrücklich -:
mehr Chancen, aber auch mehr Risiko. Dessen müssen
wir uns bewusst sein, und das müssen wir in Kauf nehmen.
({10})
Ich glaube aber, dass die Rechnung unterm Strich aufgehen wird.
Der eine oder andere Redebeitrag heute hat mich
nicht überzeugt. So erinnere ich mich nur sehr ungern an
den Beitrag der Linksfraktion. Bei FDP und Grünen sehe
ich Nachholbedarf, aber wenigstens stimmt die grobe
Richtung.
Ich freue mich, diese Debatte mit der folgenden Feststellung beenden zu können: Mit Ministerin Annette
Schavan und den Fraktionen der Großen Koalition werden wir im Bereich der Wissenschaftsfreiheit die wichtigen Ziele schnell erreichen.
Ich danke Ihnen.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/7858 und 16/8221 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist das so beschlossen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem An-
trag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Die Zukunft
der Lehre und Forschung an Hochschulen mit Hilfe der
Juniorprofessur stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8369, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3192
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
aller Fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die
Linke.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 k und 16
sowie Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf:
28 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Haushaltsgrundsätzegesetzes ({0})
- Drucksache 16/7252 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Einheitengesetzes und des Eichgesetzes, zur Aufhebung des Zeitgesetzes, zur
Änderung der Einheitenverordnung und zur
Änderung der Sommerzeitverordnung
- Drucksache 16/8308 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 8. September 2006 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik
Trinidad und Tobago über die Förderung und
den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 16/8251 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 1. August 2006 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik
Madagaskar über die gegenseitige Förderung
und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 16/8252 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 8. November 2006 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Republik Guinea über die gegenseitige Förderung
und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 16/8253 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 5. Februar 2007 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich
Bahrain über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 16/8254 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 30. Mai 2007 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Sultanat
Oman über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 16/8255 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Martin Zeil, Dr. Karl Addicks, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Privatisierung öffentlicher Aufgaben zur Stärkung der sozialen Marktwirtschaft
- Drucksache 16/7735 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({8})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Elisabeth
Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Versorgungsqualität der Substitutionsbehandlung für Opiatabhängige verbessern
- Drucksache 16/8212 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({9})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Schummer, Ilse Aigner, Michael Kretschmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Willi Brase,
Jörg Tauss, Ulla Burchardt, weitere Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Neuausrichtung der Europäischen Stiftung für
Berufsausbildung
- Drucksache 16/8382 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({10})
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
k) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt
- Drucksache 16/7082 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({11})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
16 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 22. November 2004 über das Europäische Korps und die Rechtsstellung seines
Hauptquartiers zwischen der Französischen Republik, der Bundesrepublik Deutschland, dem
Königreich Belgien, dem Königreich Spanien
und dem Großherzogtum Luxemburg ({12})
- Drucksache 16/8250 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({13})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Mechthild Dyckmans, Sabine LeutheusserSchnarrenberger, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Vorschlag für eine Verordnung des Rates über
die Zuständigkeit und das anwendbare Recht
in Unterhaltssachen, die Anerkennung und
Vollstreckung von Unterhaltsentscheidungen
und die Zusammenarbeit im Bereich der Unterhaltspflichten
- Drucksache 16/8377 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({14})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Kauch, Angelika Brunkhorst, Horst Meierhofer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Freiwilligen projektbasierten Klimaschutz auf
verbreiteter Grundlage voranbringen
- Drucksache 16/7174 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({15})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.1)
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 16/8250 zu
Tagesordnungspunkt 16 soll abweichend von der Tages-
ordnung federführend im Verteidigungsausschuss bera-
ten werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zu den Beschlussfassungen zu
Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 29 a:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Wahlprüfungsgesetzes
- Drucksache 16/7463 -
1) Anlage 2
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({16})
- Drucksache 16/8354 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Kaster
Dr. Carl-Christian Dressel
Jörg van Essen
Volker Beck ({17})
Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8354, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter
Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Enthaltung der
Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit gleichen Mehrheitsverhältnissen angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({18}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Patrick Döring, Hans-Michael
Goldmann, Horst Friedrich ({19}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Obligatorische Haftpflichtversicherung für gewerbliche Binnenschiffe beim Transport gefährlicher Güter
- Drucksachen 16/6640, 16/8030 Berichterstattung:
Abgeordnete Annette Faße
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8030, den Antrag der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/6640 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP und der Fraktion Die
Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Tagesordnungspunkt 29 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({20})
- zu der Verordnung der Bundesregierung
Einundachtzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung
- zu der Verordnung der Bundesregierung
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Zweiundachtzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung
- zu der Verordnung der Bundesregierung
Einhundertfünfundfünfzigste Verordnung zur
Änderung der Einfuhrliste
- Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz - Drucksachen 16/7795, 16/7796, 16/7797,
16/8261 Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz
Der Ausschuss empfiehlt unter den Buchstaben
a bis c seiner Beschlussempfehlung, die Aufhebung der
Verordnungen der Bundesregierung auf Drucksachen
16/7795, 16/7796 und 16/7797 nicht zu verlangen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlungen
sind mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
FDP-Fraktion, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei
Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 29 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 363 zu Petitionen
- Drucksache 16/8201 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 363 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 364 zu Petitionen
- Drucksache 16/8202 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 364 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 365 zu Petitionen
- Drucksache 16/8203 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 365 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24})
Sammelübersicht 366 zu Petitionen
- Drucksache 16/8204 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 366 ist bei Gegenstimmen der
Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 367 zu Petitionen
- Drucksache 16/8205 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 367 ist bei Gegenstimmen der
FDP-Fraktion mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen
angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 368 zu Petitionen
- Drucksache 16/8206 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 368 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27})
Sammelübersicht 369 zu Petitionen
- Drucksache 16/8207 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 369 ist wiederum mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei
Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28})
Sammelübersicht 370 zu Petitionen
- Drucksache 16/8208 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 370 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und
der FDP-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29})
Sammelübersicht 371 zu Petitionen
- Drucksache 16/8209 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 371 ist mit den Stimmen der
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei
Gegenstimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 372 zu Petitionen
- Drucksache 16/8210 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 372 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Unterschiedliche Auffassungen in der Bundesregierung zu den Folgerungen aus der Onlineentscheidung des Bundesverfassungsgerichts
vom 27. Februar 2008
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Wolfgang Wieland, Bündnis 90/Die Grünen, für
den Antragsteller das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Mittwoch vergangener Woche war - das darf man mit Fug
und Recht sagen - ein historischer Tag. Das Bundesverfassungsgericht hat nicht nur ein Urteil zur Onlinedurchsuchung gefällt, sondern auch ein neues Grundrecht kreiert: das Recht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit
und Integrität informationstechnischer Systeme.
({0})
So wie die Schaffung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung mit dem Volkszählungsurteil die
rechtliche Antwort auf die automatisierte Datenverarbeitung war, ist dieses neue Grundrecht die Antwort auf die
technischen Möglichkeiten des Informationszeitalters.
({1})
In Zukunft wird sich jede staatliche Gewalt daran messen lassen müssen. Deshalb war dieser 27. Februar ein
stolzer Tag für die Bürgerrechte.
({2})
Ich höre „Sehr richtig!“ von der FDP. Deswegen sei
es mir erlaubt, auf den Umstand hinzuweisen, dass dieser Tag nur Sieger kannte. Alle wollten etwas von dem
Glanz abbekommen, von Wolfgang Schäuble über
Guido Westerwelle und Christian Ströbele bis Dieter
Wiefelspütz und Wolfgang Nešković. Wenn so etwas an
einem Wahlabend geschieht, dann weiß der Fernsehzuschauer: Da kann etwas nicht stimmen. Deswegen
möchte ich zwei Sieger der besonderen Art etwas würdigen.
Dazu gehört zunächst - sorry - die FDP; sie hat sich
selbst besiegt:
({3})
In liberaler Wendigkeit hat sie sowohl die Position des
Klägers als auch die des Beklagten eingenommen. Sie
glaubte offenbar, dadurch so etwas wie doppelte Gewinnchancen zu haben.
({4})
War Ihnen Herr Wolf etwa peinlich? Nein, Ihnen scheint
wenig peinlich zu sein.
({5})
Auch Sie erklärten sich zu strahlenden Siegern.
Die Reaktion des Herrn Bundesinnenministers war
deutlich problematischer. Jeder weiß, dass er die Entscheidung gar nicht abwarten wollte. Wir erinnern uns
an eine Koalitionskrise nach der anderen seit vergangenem Sommer,
({6})
die er dadurch ausgelöst hat, weil er immer wieder betonte, er wolle, dass sein Entwurf eines BKA-Gesetzes
sofort umgesetzt wird. Er hat nicht einmal die mündliche
Urteilsbegründung des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, abgewartet. Noch
während sie verkündet wurde, veröffentlichte er eine
schriftliche Pressemitteilung mit dem Tenor, Onlinedurchsuchungen seien grundsätzlich zulässig, jetzt
könne das BKA-Gesetz zügig umgesetzt werden und er
sehe sich allen Ernstes bestätigt.
({7})
Verehrter Herr Staatssekretär, ich hoffe, inzwischen
haben Sie das Urteil in Ihrem Haus einmal gelesen.
({8})
Dann wissen Sie nämlich: Die Onlinedurchsuchung ist
grundsätzlich zulässig; das Gericht hat sie aber nur unter
ganz engen Voraussetzungen für den Ausnahmefall zugelassen. Der Entwurf eines BKA-Gesetzes, den Sie vorgelegt haben, sieht vor, dass allein die Gefahr des grenzüberschreitenden internationalen Terrorismus - diese
Gefahr besteht leider täglich; sie wird auch in den nächsten zehn Jahre bestehen - als Begründung für eine
Onlinedurchsuchung ausreichen soll. Genau das geht
nicht.
In Zukunft muss eine auf Tatsachen gestützte, konkrete Gefahr für Leib und Leben, für die Freiheit oder
für den Bestand des Staates gegeben sein; nur dann kann
im Ausnahmefall von diesem Mittel Gebrauch gemacht
werden. Im Übrigen verlangt das Gericht einen wasserdichten Schutz des Kernbereichs der privaten Lebens15584
gestaltung. Auch davon steht in Ihrem Gesetzentwurf
kein Wort. Deswegen hat das Gericht nicht nur das Verfassungsschutzgesetz von NRW zerpflückt, sondern implizit auch Ihren Entwurf zerrissen.
({9})
Wir, die Grünen, hätten uns eine Entscheidung gewünscht, nach der die Onlinedurchsuchung grundsätzlich nicht zulässig ist. Wir akzeptieren, wie das Bundesverfassungsgericht geurteilt hat, sagen aber: Das ist kein
Prinzip „Blankoscheck“. Wir stellen die Frage: Was geschieht nun eigentlich mit denjenigen, die bei uns bereits
Onlinedurchsuchungen ohne gesetzliche Grundlage
durchgeführt haben? Ich denke, das ist möglicherweise
strafbar. Es kann doch nicht der Running Gag sein, dass
sich der Staatssekretär weigert, in den Innenausschuss zu
kommen, wie das beim damals zuständigen Staatssekretär der Fall war. Wir wollen endlich rechtsstaatliche Aufklärung darüber, was geschehen ist; schließlich leben wir
nicht in einer Bananenrepublik.
({10})
Entscheidend ist auch Folgendes: Jetzt muss der gesamte Entwurf eines BKA-Gesetzes auf den Prüfstand.
Der Entwurf enthält ein Best-of aus dem Katalog des
Überwachungsstaates: Schleierfahndung, Rasterfahndung, IMSI-Catcher, großer Lauschangriff, kleiner
Lauschangriff, Spähangriff per Video, Einsatz von verdeckten Ermittlern und von V-Leuten usw. Das ganze
Alphabet hat man gebraucht, um diese Befugnisse zu katalogisieren. Das alles geschieht ohne die Kontrolle des
Generalbundesanwaltes und ohne eine parlamentarische
Kontrolle, die diesen Namen verdient.
Sie glauben doch wohl nicht, dass wir eine Art FBI
mit vollen geheimdienstlichen Befugnissen brauchen
oder gar wollen. Die Diskussion über das BKA-Gesetz
beginnt erst jetzt, und für uns ist die Richtung dabei völlig klar: Wir brauchen keinen Generalverdacht gegen
alle Bürgerinnen und Bürger. Wir wollen keine omnipräsente staatliche Kontrolle. Auch deswegen sagen wir an
dieser Stelle noch einmal: Vielen Dank, Bundesverfassungsgericht!
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Bosbach
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Grünen haben eine Aktuelle Stunde unter der Überschrift „Unterschiedliche Auffassungen in der Bundesregierung zu den Folgerungen aus der Onlineentscheidung
des Bundesverfassungsgerichts vom 27.02.2008“ beantragt. Ich habe vor der Rede des Kollegen Wieland nicht
verstanden, warum sie die Aktuelle Stunde beantragt haben, und nach der Rede erst recht nicht.
({0})
Denn über unterschiedliche Auffassungen haben Sie gar
nicht referiert. Ich habe allerdings Verständnis dafür,
dass Sie nicht über unterschiedliche Auffassungen - also
über Ihren eigenen Antrag - referiert haben, weil Sie
dazu nämlich gar nichts referieren können.
Die Lage ist an Schlichtheit kaum zu überbieten:
Erstens. Der internationale Terrorismus ist nicht nur
hoch kommunikativ, sondern er arbeitet auch hoch konspirativ. Wer die Umstände der Beobachtung und Festnahme der Terroristen aus dem Sauerland kennt, weiß,
dass die Überwachung der Kommunikation von überragender Bedeutung für deren Überführung war.
Zweitens. Deswegen können wir auf das Fahndungsmittel der Onlinedurchsuchung nicht generell verzichten. Es geht um die Sicherung flüchtiger Beweise. Würden wir sagen, dass wir keine Onlinedurchsuchungen
durchführen, würden wir den Terroristen einen staatsfreien Raum zur Kommunikation garantieren. Wir würden Ihnen signalisieren: Wenn ihr auf diese Weise weltweit kommuniziert, seid ihr vor dem Staat sicher. Genau
das darf nicht geschehen.
({1})
Drittens. Wir haben immer gesagt, dass die Onlinedurchsuchung ein tiefer Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen ist, der nur unter ganz engen Voraussetzungen und unter Einhaltung hoher rechtlicher
Hürden stattfinden darf.
Viertens. Das Bundesverfassungsgericht hat jetzt präzise definiert, wie diese rechtlichen Voraussetzungen
auszusehen haben. Der Referentenentwurf zum BKAGesetz - es gab übrigens noch gar keinen Gesetzentwurf
im engeren Sinne; es hat noch keinen Kabinettsbeschluss
gegeben - muss entsprechend präzisiert werden.
({2})
Fünftens. Wir werden anhand der Entscheidungsgründe des Bundesverfassungsgerichtes sehr sorgfältig
prüfen müssen - das kann man nicht aus der Hüfte machen -, welche Schlussfolgerungen sich beispielsweise
für die Strafverfolgung im Rahmen der Strafprozessordnung und für die Gesetze der Dienste ergeben. Darüber
herrscht in der Bundesregierung und zwischen den Koalitionsparteien vollkommene Übereinstimmung. Deswegen muss man in den nächsten 50 Minuten auch nicht
dasselbe mit immer neuen Worten wiederholen.
({3})
Dessen ungeachtet bin ich Ihnen, Herr Kollege
Wieland, für Ihren Beitrag dankbar, weil Sie damit auf
zwei Dinge aufmerksam gemacht haben: Erstens war der
Streitgegenstand in Karlsruhe nicht irgendein Gesetz der
Bundesregierung, sondern das nordrhein-westfälische
Gesetz über den Landesverfassungsschutz NRW, verabschiedet unter dem liberalen Innenminister Ingo Wolf.
({4})
Ich kritisiere das gar nicht, sondern stelle es lediglich
fest.
Besonders beeindruckend war allerdings der Hinweis
darauf, dass eine Bundesregierung schon einmal eine
Onlinedurchsuchung veranlasst hat, allerdings ohne gesetzliche Grundlage. Soweit erinnerlich, war das die
Bundesregierung, an der die Bündnisgrünen beteiligt
waren.
({5})
Es gehört schon eine ganze Menge Chuzpe dazu, nach
dem Ausscheiden aus der Bundesregierung Aufklärung
zu verlangen, obwohl man an dieser Bundesregierung
selber beteiligt war.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz von der FDPFraktion.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie Sie sehen,
habe ich etwas mitgebracht, das jeder von Ihnen im Büro
haben und in das jeder ab und zu hineinschauen sollte:
das Grundgesetz. Ich habe es mitgebracht, weil ich den
Eindruck habe, dass die meisten meiner Kolleginnen und
Kollegen jedenfalls in den Koalitionsfraktionen seit langem nicht mehr hineingeschaut haben. Ich möchte Sie
auf Art. 20 Abs. 3 hinweisen:
Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige
Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
Leider haben wir in den vergangenen Jahren immer wieder erleben müssen, dass sich die Mehrheit dieses Parlaments über diesen Artikel hinweggesetzt hat. Das ist
beim Luftsicherheitsgesetz, beim Verbraucherinformationsgesetz und bei vielen anderen Gesetzen so gewesen.
An dieser Stelle möchte ich zwei Herren auf der Zuschauertribüne begrüßen - das können Sie mir nicht übel
nehmen -, die dafür gesorgt haben, dass das Bundesverfassungsgericht Geschichte geschrieben hat: unseren
ehemaligen Kollegen Burkhard Hirsch und unseren ehemaligen Bundesinnenminister Gerhart Baum.
({0})
Wir befassen uns heute zum wiederholten Mal mit einer weiteren Niederlage der Mehrheit dieses Parlaments.
Das, was Herr Schily begonnen hat - darauf hat mein
Kollege Bosbach zu Recht hingewiesen -, haben Herr
Schäuble und die Große Koalition ungehindert fortgesetzt.
({1})
Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, sagen, dass Sie das gar nicht gemacht hätten, möchte ich Sie darauf hinweisen, dass Sie alle dem
Bundeshaushalt 2007 zugestimmt haben, der heimliche
Onlinedurchsuchungen vorsieht. Die Warnungen, die
wir von der FDP und andere Oppositionsfraktionen in
diesem Zusammenhang geäußert haben mit der Bitte,
das zu überdenken, sind von Ihnen rüde beiseite gewischt worden.
({2})
Der Bundesinnenminister hat sogar gesagt: Frau Piltz,
ich brauche keine Rechtsgrundlage. Die innenpolitischen Sprecher von SPD und CDU/CSU haben dem
nicht widersprochen.
({3})
Ganz im Gegenteil: Sie wollten Onlinedurchsuchungen
ohne ein konkretes Gesetz. Das ist also genauso Ihre
Niederlage wie die meines Innenministers in NordrheinWestfalen.
({4})
Ich sage Ihnen nur eines dazu: Ingo Wolf hat sicherlich
verloren. Aber er hat ein Gesetz gemacht und als einziger Innenminister in diesem Land versucht, eine Rechtsgrundlage zu schaffen. Damit ist er jetzt gescheitert.
({5})
Aber Sie haben es erst gar nicht versucht. Im Übrigen ist
er nicht nur mein Minister, sondern auch der Minister
der CDU. Sie sind in Nordrhein-Westfalen genauso baden gegangen wie wir. Schieben Sie das nicht uns in die
Schuhe! Das ist eine Unverschämtheit.
({6})
Der Erfolg hat immer viele Väter. Dass Sie sich alle
freuen, ist aus meiner Sicht angesichts dessen verwunderlich, was uns Karlsruhe auf den Weg gegeben hat. Es
wurde schon gesagt: Ein neues Grundrecht ist geboren
worden. Ich nenne es kurz IT-Grundrecht, sodass es
leichter zu handhaben ist. Es ist ein weiterer Baustein
zum Schutz der Freiheit der Bürger. Aber was ist nach
einer kurzen Selbstfeierstunde der Großen Koalition passiert, die aus meiner Sicht eher hätte Buße tun müssen?
Das BKA-Gesetz solle nun schnell kommen, sagt der
Kollege Uhl. Damit könne man in einigen Wochen fertig
sein, wenn Frau Zypries - so gesehen haben die Grünen
recht, auch wenn es nicht meine Sache ist, sie zu verteidigen - nicht durch juristische Rechthaberei stören
werde. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: juristische Rechthaberei nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts! Der Kollege Wiefelspütz findet
es nicht schwierig - er ist offenbar vorsichtshalber nicht
anwesend -, das Urteil im BKA-Gesetz umzusetzen. Sie
versuchen nicht einmal mehr, den Schein zu wahren.
Das ist kein respektvoller Umgang mit dem Bundesverfassungsgericht und dem Grundgesetz.
Ich kann nach Ihren Äußerungen nur eines vermuten:
Sie haben das Urteil gar nicht zu Ende gelesen.
({7})
Sie haben dort aufgehört zu lesen, wo es darum geht,
dass das neue IT-Grundrecht nicht schrankenlos ist. Aber
die Schranken haben es in sich, nicht nur in prozessualer
Hinsicht, sondern auch in materieller. Wir sind sehr gespannt darauf, wie Sie das in ein paar Wochen umsetzen
wollen. Ich kann mir das nur schwer vorstellen. Es ist
nicht juristische Rechthaberei, sondern der Respekt vor
unserer Verfassung, der es gebietet, mit diesem Urteil
anders umzugehen.
({8})
Im Unterschied zu Ihnen sehen wir, die Liberalen, zuerst das Grundrecht und dann die Einschränkung. Sie sehen zuerst die Schranken und, wenn überhaupt, dann das
Grundrecht. Das ist wirklich sehr bedauerlich.
({9})
So verwundert es mich nicht, dass ich von Herrn
Schäuble nur gehört habe, es sei gut, dass es Schranken
der Freiheit gebe. Frau Zypries hat immerhin angedeutet,
dass Freiheitsrechte erweitert worden sind. Da ist der
Unterschied in dieser Großen Koalition.
Zum Schluss möchte ich Ihnen noch einen Satz zum
Nachdenken mitgeben, den Sie sich bei all Ihren Gesetzesvorhaben immer vergegenwärtigen sollten. Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt:
Eine Erhebung solcher Daten beeinträchtigt mittelbar die Freiheit der Bürger, weil die Furcht vor
Überwachung, auch wenn diese erst nachträglich
einsetzt, eine unbefangene Individualkommunikation verhindern kann.
Das gilt nicht nur in Bezug auf Eingriffe in Rechte gemäß Art. 10 Grundgesetz.
Frau Kollegin.
Ich komme sofort zum Schluss. - Wenn Freiheit immer mehr als Hindernis wahrgenommen wird, wenn sich
derjenige, der sich auf seine verfassungsrechtlich verbürgten Freiheitsrechte beruft, rechtfertigen muss, verlieren die Grundrechte an Substanz. Das ist mit der FDP
nicht zu machen.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Fritz Rudolf Körper,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch
ich muss noch einmal den Titel dieser Aktuellen Stunde
zitieren: „Unterschiedliche Auffassungen in der Bundesregierung zu den Folgerungen aus der Onlineentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Februar
2008“. Abgesehen davon, dass das Bundesverfassungsgericht nicht online entscheidet, gibt es auch keine unterschiedlichen Auffassungen über die Folgerungen und
Konsequenzen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Problematik der Onlinedurchsuchung.
({0})
Die Kolleginnen und Kollegen vom Bündnis 90/Die
Grünen reden nach meinem Dafürhalten über ein Phänomen, das es nicht gibt. Deswegen wäre diese Aktuelle
Stunde nicht notwendig gewesen.
({1})
- Warum ich rede? Weil beispielsweise Ihr Redebeitrag
von Unrichtigkeiten geprägt war. Wenn Sie, Frau Piltz,
sagen, es seien Mittel bereitgestellt worden, um Onlinedurchsuchungen durchzuführen, so ist das schlichtweg
falsch, weil es um Mittel ging, um die Möglichkeit von
Onlinedurchsuchung zu erforschen, und das war richtig
und gut so. Diese Forschung braucht man, wenn man
über dieses Instrument redet.
({2})
Bundesjustizministerium und Bundesinnenministerium müssen sich mit dem Urteil beschäftigen. Es ist etwas über das Thema Strafverfolgung gesagt worden; das
bedarf einer sorgfältigen Prüfung. Diese Prüfung betrifft
die Umsetzung des Urteils. Was das Bundeskriminalamt
anbelangt, so werden wir zügig entscheiden. Ich finde,
es ist wichtig, dass wir diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abgewartet haben. Ich will hier bekennen, dass wir auf unser Betreiben hin abgewartet haben. Es ist schon gesagt worden, dass es im Grunde
genommen nicht nur um das Verfassungsschutzgesetz
von Nordrhein-Westfalen ging. Ich bin überrascht, dass
es offensichtlich nur Gewinner und Sieger gibt und dass
das Urteil von Karlsruhe allseits freundlich aufgenommen wurde. Richtig ist, dass das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme durch die Entscheidung
geschaffen wurde, und das ist gut so. Das ist auch der
Maßstab für die weitere Vorgehensweise.
({3})
Ich denke, wir sind da auf einem guten Wege. Dieses
Urteil schützt die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger, und es ist ausgesprochen praxisorientiert. Es schützt
auf der einen Seite die Bürger vor unverhältnismäßigen
Eingriffen des Staates in die Freiheitsrechte, und es ermöglicht auf der anderen Seite, dass der Staat seinerseits
die Bürgerinnen und Bürger vor verbrecherischen Angriffen schützen kann, worauf die Bürger ebenfalls einen
Anspruch haben, was ich unterstreichen möchte.
Ich finde auch, dass wir ein Bundeskriminalamt brauchen, das dem entspricht, was wir mit dem BKA-Gesetz
konzipieren; denn der terroristischen Herausforderung
muss durch eine schlagkräftige Einrichtung wie das
Bundeskriminalamt, das in Gesamtdeutschland tätig ist,
begegnet werden. Es ist längst erforderlich, dass wir ein
solches Bundeskriminalamt mit diesen Kompetenzen bekommen.
({4})
Deswegen werden wir die anstehenden Entscheidungen entlang der Maßgabeentscheidung von Karlsruhe
treffen. Onlinedurchsuchungen sind nur bei tatsächlichen Anhaltspunkten für eine konkrete Gefahr für ein
überragend wichtiges Rechtsgut möglich. Ihre Anordnung unterliegt grundsätzlich dem Richtervorbehalt. Der
Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung ist
zu gewährleisten. Das sind ganz wichtige Vorgaben dieser Karlsruher Entscheidung, die - dessen bin ich mir sicher - ihren Niederschlag finden werden. Auch halte ich
es für wichtig, dass die Karlsruher Entscheidung ein sogenanntes zweistufiges Schutzkonzept vorsieht, was die
Datenerhebung und -weitergabe anbelangt. Es war gut,
dass wir diese Entscheidung abgewartet haben. Dies
wird uns die Gesetzesberatung erleichtern. Ich bin sicher, dass wir diese Baustelle BKA-Gesetz in relativer
Zügigkeit zu Ende bringen.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Jan Korte, Fraktion
Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zumindest nach dieser Aktuellen Stunde ist
eines geklärt - deswegen hat sie sich auch gelohnt -: Die
SPD ist in der Frage der Onlinedurchsuchung umgefallen. Das ist nach Ihren Ausführungen jetzt klar; Sie werden diesen weiteren Grundrechtseingriff mittragen.
Nun zu dem Urteil: Erstens. Das Bundesverfassungsgericht hat wieder einmal einer schrankenlosen Lawand-Order-Politik Einhalt geboten. Beim letzten Mal
- das muss man der Fairness halber auch sagen - war es
das rot-grüne Luftsicherheitsgesetz, das die Grünen mitgetragen haben. Das darf man auch nicht ganz außen vor
lassen.
Zweitens. Wir begrüßen, dass ein Grundrecht - ich
übersetze es - auf digitale Intimsphäre geschaffen
wurde, das es künftig zu beachten gilt. Dies unterstützen
wir Linken ausdrücklich. Dieses Urteil zeigt - das ist das
Entscheidende, und deshalb müssen wir hier auch darüber diskutieren -, dass es jetzt an der Zeit ist, in sich zu
gehen. Mehr noch, nach diesem Urteil wäre es eigentlich
sinnvoll, ein Moratorium zu beschließen und sämtliche
Schäuble’schen Sicherheitsvorstellungen, die hier auf
dem Tisch liegen und in jeder Woche neu ins Parlament
gebracht werden, erst einmal auf Eis zu legen und mit
Bürgerrechtsorganisationen und vielen anderen zu diskutieren und zu evaluieren.
({0})
Natürlich ist es eine politische Auseinandersetzung,
die wir hier führen müssen. Die Linke sagt mit Blick auf
das Urteil ganz klar: Nicht alles, was technisch und übrigens auch rechtlich möglich ist, muss gemacht werden.
Das muss es mitnichten, wir müssen hier eine politische
Entscheidung treffen.
({1})
Die politische Entscheidung liegt darin, ob wir im Sinne
von Wolfgang Schäuble und der Union den Weg in den
präventiven Überwachungsstaat weitergehen wollen, der
immer auch mit viel Angst in der Gesellschaft verbunden ist und die Gesellschaft lähmt und verunsichert, oder
ob wir weiter auf einen offenen, freiheitlichen, selbstbewussten und aufmüpfigen sozialen Rechtsstaat setzen
wollen. Diese Frage muss hier politisch entschieden
werden. Ich kann der SPD nur raten, sich eher uns anzuschließen. In Hessen haben Sie gezeigt, dass Sie zu Umkehr und Einsicht fähig sind. Das sollten Sie bei dieser
praktisch-inhaltlichen Frage endlich einmal nachvollziehen.
Drittens. Ich komme noch einmal zum Kern dessen,
worum es bei der Onlinedurchsuchung geht. Darüber ist
nun viel geschrieben worden, und man muss sich überlegen, was das bedeutet. Über jeden Menschen, der einen
Laptop oder einen privaten PC hat, kann man bei einer
Onlinedurchsuchung wirklich fast alles erfahren: von
Liebesbriefen über Fotos bis hin zu Steuererklärungen
usw. Weil man alles erfährt, ist der Eingriff in dieses
Grundrecht der digitalen Intimsphäre so schlimm.
Nun kommt das Entscheidende, weshalb wir sagen,
dass wir die Onlinedurchsuchung überhaupt nicht brauchen. Als Linke haben wir eine sehr kluge Kleine Anfrage an die Bundesregierung gestellt, die überraschenderweise auch sehr klug geantwortet hat. Wir wollten
von der Bundesregierung wissen, Herr Staatssekretär, ob
es zu Onlinedurchsuchungen keine Alternative gibt, ob
man sie also unbedingt braucht, um den Kampf gegen
den internationalen Terrorismus zu gewinnen. Ich zitiere
jetzt aus der Antwort - ich finde sie sehr richtig; wir unterstützen sie ausdrücklich -:
Im Zuge von Online-Durchsuchungen können regelmäßig dieselben Erkenntnisse gewonnen werden
wie durch „offene“ Durchsuchungen und die Auswertung sichergestellter Computerdateien.
({2})
Das sagen Sie. Es ist ganz einfach: Wir müssen darauf
verzichten.
Wir sollten das zum Anlass nehmen, einen grundsätzlichen Richtungswechsel in der Innenpolitik vorzunehmen. Ich glaube, das ist auch politisch geboten. Kollege
Wieland hat Richtiges zum Referentenentwurf des
BKA-Gesetzes gesagt: Wir brauchen mitnichten ein
deutsches FBI; wir sollten weiter auf eine föderale
Struktur setzen - das ist eine wichtige Erfahrung aus der
Geschichte -, um keine Zentralisierung von Geheimdienst- und Polizeikompetenzen zuzulassen.
({3})
Die föderale Struktur sollten wir nicht aufgeben.
({4})
Angesichts der Debatten in der Bevölkerung ist es
wichtig, auch einmal zur Kenntnis zu nehmen, dass offensichtlich nicht nur die Linke und das Bundesverfassungsgericht, sondern in zunehmendem Maße auch die
Bevölkerung einfach keinen Bock mehr haben auf die
ständigen Überwachungsmaßnahmen, die uns hier jede
Woche vorgelegt werden. Diese Maßnahmen bringen
weniger Sicherheit. Wir brauchen sie nicht, wie die Bundesregierung selber sagt. Deswegen ist es jetzt wirklich
an der Zeit, hier eine Umkehr vorzunehmen, einfach einmal in sich zu gehen und in diesem Falle vielleicht wirklich mehr und nicht weniger Freiheit zu wagen. Das hat
immerhin die Bundeskanzlerin hier großspurig angekündigt und das könnte man wirklich einmal umsetzen.
Schönen Dank für die unfreundliche Aufmerksamkeit.
({5})
Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kollege Jerzy Montag, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Kollege Bosbach, lieber Kollege Körper, Ihr Versuch,
hier in Ihren beiden Beiträgen Einigkeit vorzugaukeln,
ist unwahr, durchsichtig und lächerlich.
({0})
Jeder in der Republik weiß von den tiefen Zerwürfnissen
zwischen dem Justizministerium und dem Innenministerium in dieser Frage.
({1})
Sie haben es tatsächlich geschafft, dies hier unter dem
Deckel zu halten, indem Sie Ihren Kolleginnen und Kollegen den Mund verboten haben.
({2})
Es ist ein einmaliger und parlamentarisch erbärmlicher
Vorgang, dass Sie auf Ihre Redebeiträge verzichten und
aus einer Aktuellen Stunde eine halbe machen.
Das Bundesverfassungsgericht hat am 27. Februar
2008 den Bürgern ein großes Geschenk gemacht. Wir
alle haben ein neues Grundrecht erhalten. Das letzte Mal
geschah dies vor 25 Jahren. Dieses Grundrecht lautet:
Die Vertraulichkeit und Integrität des informationstechnischen Systems jedes Menschen wird gewährleistet.
Nach der Urteilsverkündung hörten wir manche Beifallsbekundungen. Manche klangen arg gekünstelt und
spitzlippig. Manche waren schlicht verlogen. Wir Grünen sagen an dieser Stelle aus vollem Herzen und innerer
Überzeugung Dank nach Karlsruhe für diese Entscheidung und für dieses neue Grundrecht.
Ich will die entscheidenden Sätze in Erinnerung rufen: Die moderne Informationstechnik und die weltweite
Vernetzung von auf dieser Technik aufbauenden Informationssystemen begründen für den Einzelnen neue
Persönlichkeitsgefährdungen. Jeder Mensch ist darauf
angewiesen, dass der Staat seine ungehinderte Persönlichkeitsentfaltung gewährleistet, hier die Vertraulichkeit
und Integrität der zur Persönlichkeitsentfaltung genutzten informationstechnischen Systeme.
Sowohl der Schutz des Telekommunikationsgeheimnisses als auch der Schutz der Wohnung, des informationellen Selbstbestimmungsrechts und des allgemeinen
Persönlichkeitsrechts hinterlassen auf diesem Gebiet
Schutzlücken, und diese Schutzlücken werden durch das
neue Grundrecht nunmehr geschlossen.
Das Grundrecht gilt nicht schrankenlos. Für den Präventivbereich hat das Bundesverfassungsgericht höchste
Grenzen festgelegt. Zum Repressivbereich hat sich das
Bundesverfassungsgericht nicht geäußert. Die Grenzen
dürften wegen der bereits realisierten Gefahr aber sicherlich noch höher zu ziehen sein. Ein effektiver absoluter
Kernbereichsschutz und ein umfassender Richtervorbehalt sind für das Bundesverfassungsgericht die Mindestvoraussetzungen, die einzuhalten sind.
Ausdrücklich hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die Fragen, ob Onlinedurchsuchung und
Onlineüberwachung geeignete und erforderliche Mittel
sind, vom Gesetzgeber zu beurteilen und zu entscheiden
sind. Damit ist der Bundestag am Zug.
Wir Grüne sagen zu dieser Frage ganz deutlich: Bisher ist von den Sicherheitsbehörden nichts Konkretes
vorgetragen worden, das den Einsatz über den Bereich
der Internettelefonie hinaus als unabweisbar notwendig
erscheinen lassen würde. In der Abwägung zwischen unkonkreten, zum Teil herbeifabulierten möglichen abzuwehrenden Gefahren oder Fahndungserfolgen und dem
essenziellen erheblichen Grundrechteschaden nicht nur
für einzelne Betroffene, sondern potenziell für alle Nutzer des neuen informationstechnischen Systems entscheiden wir uns heute gegen den Einsatz von Trojanern,
Schadsoftware und Firewall-Überwindungsprogrammen in der Hand des Staates.
({3})
Meine Damen und Herrn, wie wird es weitergehen?
In der taz lesen wir: Schäuble hat das bekommen, was er
wollte. Er muss seinen Gesetzentwurf nicht umschreiben. - Prantl schreibt in der Süddeutschen: Schäuble
wird sein geplantes Onlinedurchsuchungsrecht ganz neu
fassen müssen. - Die bedächtigen und richtigen Worte
der Justizministerin Zypries in allen Ehren - nach den
Erklärungen von Bosbach, Uhl und anderen erwarten
wir von der Union einen brutalstmöglichen Angriff auf
das Urteil des Bundesverfassungsgerichts und auf das
neue Grundrecht.
({4})
Für die CSU meldet sich schon Frau Merk aus Bayern
und will die Onlinedurchsuchung zur Verfolgung der
Kinderpornografie einsetzen. Das wird zu einer Aufblähung wie im Fall des § 100 a StPO führen.
Es stimmt uns sehr nachdenklich, dass BKA-Chef
Ziercke erklärt, die öffentliche Debatte über die Onlinedurchsuchung müsse jetzt ein Ende haben. Dies kommt
für uns Grüne überhaupt nicht infrage.
({5})
Wir wollen die Onlinedurchsuchung nicht. Wir werden
darüber reden, besonders in diesem Parlament.
Die Debatte ist jetzt eröffnet.
({6})
Wir warten auf Ihren Gesetzentwurf. Wir versprechen
Ihnen: Wir werden Sie an dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu messen wissen.
Danke.
({7})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
({0})
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Förderung von Jugendfreiwilligendiensten
- Drucksachen 16/6519, 16/6967 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({1})
- Drucksache 16/8256 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Markus Grübel
Sibylle Laurischk
Kai Gehring
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Hellmut
Königshaus, Dr. Karl Addicks, Sibylle
Laurischk, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Jugendfreiwilligendienste in einen gemeinsamen Gesetzesrahmen zusammenfassen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
Britta Haßelmann, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Jugendfreiwilligendienste ausbauen und Gesamtkonzeption entwickeln
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zu Prüfaufträgen zur Zukunft der Freiwilligendienste,
Ausbau der Jugendfreiwilligendienste und
der generationsübergreifenden Freiwilligendienste als zivilgesellschaftlicher Generationenvertrag für Deutschland
- Drucksachen 16/6769, 16/6771, 16/6145,
16/8256 Berichterstattung:
Abgeordnete Markus Grübel
Sibylle Laurischk
Kai Gehring
Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Förderung von Jugendfreiwilligendiensten liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP und der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Markus Grübel, CDU/CSU-Fraktion.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben in der letzten Zeit viel über junge Menschen
in Deutschland gesprochen, die uns Sorgen machen. Ich
denke zum Beispiel an die unsäglichen Vorfälle in der
Münchner U-Bahn.
Heute haben wir andere junge Menschen im Blick:
junge Menschen, die zupacken anstatt zuzuschlagen,
junge Idealisten, junge Frauen und junge Männer, die
ihre Zeit für andere Menschen und für das Gemeinwohl
einsetzen. Dies tun sie im Freiwilligen Sozialen Jahr, im
Freiwilligen Ökologischen Jahr und in den verschiedensten Freiwilligendiensten im Ausland. Die Koalition aus
CDU/CSU und SPD hat sich auf die Fahnen geschrieben, das bürgerschaftliche Engagement in Deutschland
und dessen Rahmenbedingungen zu verbessern. Jugendfreiwilligendienste sind eine ganz besondere Form von
bürgerschaftlichem Engagement.
({0})
Jedes Jahr leisten fast 30 000 junge Menschen einen
Freiwilligendienst. Freiwilligendienste in der Jugend ermöglichen neue Lernerfahrungen, geben Orientierung
bei der persönlichen Berufswahl und vermitteln wichtige
fachliche, soziale und interkulturelle Fähigkeiten. Sie
stärken die Selbstständigkeit, das Selbstbewusstsein und
auch das Verantwortungsbewusstsein von jungen Menschen. Durch die Verknüpfung von Bildung und Übernahme konkreter Verantwortung sind sie seit vielen Jahrzehnten ein wichtiges Bindeglied zwischen Schule und
Beruf sowie Schule und Studium.
({1})
Aus diesem Grund werden das Freiwillige Soziale
Jahr und das Freiwillige Ökologische Jahr vom Staat gefördert. Wir haben seit 2006 die Haushaltsmittel für die
Freiwilligendienste erhöht: von rund 16,2 Millionen
Euro auf 20,2 Millionen Euro.
({2})
Durch den vorliegenden Gesetzentwurf werden die
Rahmenbedingungen für Jugendfreiwilligendienste weiter verbessert. Der Gesetzentwurf greift damit auch eine
zentrale Forderung des vom 15. Deutschen Bundestag
fraktionsübergreifend beschlossenen Antrages „Zukunft
der Freiwilligendienste“ auf.
Der vorliegende Gesetzentwurf fasst die zwei bestehenden Gesetze über das Freiwillige Soziale Jahr sowie
über das Freiwillige Ökologische Jahr zusammen, behält
aber die guten Grundsätze der seitherigen Gesetze. Es
gilt also: Aus zwei mach eins.
Außerdem hebt der Gesetzentwurf hervor, dass
Jugendfreiwilligendienste an Lernzielen orientierte
Dienste sind und streicht damit den Bildungscharakter
der Dienste stärker als bisher heraus.
Weiterhin wird die Möglichkeit eröffnet, einen kombinierten Jugendfreiwilligendienst im In- und Ausland
abzuleisten. Gerade an einem kombinierten Jugendfreiwilligendienst im In- und Ausland sind junge Menschen
ganz besonders interessiert. Ich nehme an, dass sich auch
die Trägerlandschaft auf diese neue Möglichkeit einstellen wird. So erhalten junge Menschen, die zum Beispiel
im Inland mit betreuungsbedürftigen Menschen bzw. mit
pflegebedürftigen älteren Menschen arbeiten, die
Chance, eine ähnliche Arbeit im Ausland unter ganz anderen Bedingungen zu verrichten und gleichzeitig ihre
Sprachkenntnisse zu verbessern und eine andere Kultur
kennenzulernen. So kann man am Ende auch gute Vergleiche zwischen dem, wie etwas in Deutschland gemacht wird, und dem, wie etwas im Ausland gemacht
wird, ziehen.
({3})
Schließlich eröffnet das Gesetz einen gangbaren Weg,
um die Umsatzbesteuerung von Jugendfreiwilligendiensten zu vermeiden.
Im Rahmen der Beratungen hier im Bundestag wurden am Gesetzentwurf noch Änderungen vorgenommen.
Exemplarisch möchte ich auf die Markennamen FSJ und
FÖJ, also Freiwilliges Soziales Jahr und Freiwilliges
Ökologisches Jahr, eingehen. Im ursprünglichen Gesetzestext waren noch die Begriffe „freiwilliger sozialer
Dienst“ und „freiwilliger ökologischer Dienst“ vorgesehen. Die eingeführten Namen bleiben nun erhalten.
Beide Begriffe sind in der Gesellschaft, insbesondere bei
jungen Leuten, sehr positiv belegt und haben einen hohen Wiedererkennungswert. Wir hätten auch nicht die
Werbemittel wie zum Beispiel Eon, um einen neuen Namen bekannt zu machen. Selbst wenn wir sie hätten,
würden wir sie sinnvoller einsetzen. Die in der breiten
Öffentlichkeit bekannten Abkürzungen FSJler oder FÖJler bleiben also erhalten; sie haben sich, wie gesagt, bewährt. „Ich bin FSJler“, ist kurz und prägnant. Demgegenüber klingt der Satz: „Ich leiste einen freiwilligen
sozialen Dienst, der ein Jahr dauert“, doch etwas umständlich und kommt der Jugend nicht so leicht über die
Lippen.
Weiterhin möchte ich darauf hinweisen, dass der
Dienst zeitlich flexibilisiert wird. Der Regeldienst beträgt, wie schon die Namen Freiwilliges Soziales Jahr
bzw. Freiwilliges Ökologisches Jahr sagen, zwölf Monate. Er kann um bis zu sechs Monate auf achtzehn Monate verlängert werden. Er kann auch kürzer sein, die
Minimaldauer beträgt sechs Monate. Er kann dabei in
Drei-Monats-Abschnitten aufgeteilt und mit Abständen
geleistet werden. Wenn ein besonderes pädagogisches
Konzept vorliegt, kann der Dienst auf maximal
24 Monate verlängert werden. Allerdings wird im Gesetzentwurf klargestellt, dass der Träger darüber entscheidet, ob er solche Möglichkeiten anbietet, da nicht
bei jedem Freiwilligendienst ein kurzer sechsmonatiger
Dienst sinnvoll ist.
Das Gesetz soll nun zum 1. Juni 2008 in Kraft treten.
Wir haben aber entsprechend sichergestellt, dass Altverträge nicht nachträglich die Rechtsgrundlage verlieren.
So ist die Berücksichtigung des Kindergeldanspruchs innerhalb des Programms „weltwärts“ ab dem 1. Januar
2008 gewährleistet.
Vor dem Hintergrund unseres Nationalen Integrationsplans wollen wir, dass mehr Jugendliche mit Migrationshintergrund und mehr benachteiligte Jugendliche
einen Jugendfreiwilligendienst leisten. Ich möchte aber
bei den Begrifflichkeiten zur Vorsicht mahnen: Nicht jeder Jugendliche mit Migrationshintergrund ist ein benachteiligter Jugendlicher. Wir definieren ja häufig auch
Hauptschüler als benachteiligte Jugendliche, aber nicht
jeder Hauptschüler ist ein benachteiligter Jugendlicher.
Hier wäre es schwer, andere Begrifflichkeiten zu finden.
Unser Ziel ist nun, dass diese Gruppe, die unterdurchschnittlich bei Jugendfreiwilligendiensten vertreten ist,
stärker dafür gewonnen wird und sich mehr daran beteiligt. Wir müssen allerdings sehen, dass hier der Zahl
Grenzen gesetzt sind, weil problematische Jugendliche
häufig auch einen erhöhten Betreuungsbedarf für Träger
und Einsatzstelle nach sich ziehen. Hier stößt man
schnell an Grenzen. Deshalb muss das Verhältnis stimmen.
Wir wollen auch, dass sich Migrantenorganisationen
stärker als Träger oder als Einsatzstellen am Jugendfreiwilligendienst beteiligen. Dazu bringen wir einen Entschließungsantrag ein. Ich hoffe, dass dieser EntschlieMarkus Grübel
ßungsantrag mit den Stimmen aller Fraktionen des
Deutschen Bundestages beschlossen wird.
({4})
Fragen zur Umsatzsteuer waren ein Auslöser für dieses Gesetz. Seit mehreren Jahren drohen den Trägern
Umsatzsteuernachforderungen. Für kleine Träger könnten diese Forderungen für zurückliegende Zeiten erhebliche Probleme bedeuten und existenzbedrohend sein. Seit
mehreren Jahren vertreten das Bundesfinanzministerium
und die Länderfinanzverwaltungen die Auffassung, dass
zwischen Träger und Einsatzstelle ein umsatzsteuerrechtliches Leistungsaustauschverhältnis begründet wird
mit der Konsequenz, dass eine Umsatzsteuer in Höhe
von 19 Prozent anfällt. Ausgangspunkt der Debatte war
Baden-Württemberg. Dort hatte das Deutsche Rote
Kreuz eine Umsatzsteuerprüfung gehabt. Die Finanzverwaltung war der Meinung, dass umsatzsteuerpflichtige
Vorgänge vorliegen. Im Prinzip kann man diese Thematik mit der Überlassung von Arbeitskräften durch Zeitarbeitsfirmen vergleichen. Wir waren uns aber hier im
Bundestag fraktionsübergreifend einig, dass die Jugendfreiwilligendienste grundsätzlich nicht umsatzsteuerpflichtig sein sollen. Im Gesetz haben wir einen Weg gefunden, der das Problem weitgehend beseitigt.
Abschließend danke ich allen jungen Menschen, die
freiwillig für andere einen Dienst tun. Junge Menschen
leisten dadurch einen wichtigen Beitrag für unsere Gesellschaft und profitieren auch selbst davon.
Herzlichen Dank.
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sibylle Laurischk,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Dem Dank an die Jugendlichen, die einen Freiwilligendienst leisten, können wir uns uneingeschränkt
anschließen. Bereits in der vergangenen Legislaturperiode haben wir ja einen fraktionsübergreifenden Antrag vorgelegt und darin unsere besondere Wertschätzung für die Jugendfreiwilligendienste zum Ausdruck
gebracht.
({0})
Die Koalition behauptet, in dem vorgelegten Gesetzentwurf den gesamten Antrag aus der letzten Legislaturperiode umzusetzen. Das stimmt leider nicht, da fraktionsübergreifend das Hauptanliegen des damaligen
Antrags der quantitative Ausbau der Jugendfreiwilligendienste war. Damit war der Ausbau der bestehenden
Dienste gemeint. Nun erleben wir beim Ausbau von FSJ
und FÖJ eine Stagnation, obwohl noch immer wesentlich mehr Jugendliche dieses Angebot nachfragen, als
Plätze vorhanden sind. Gleichzeitig erfolgt die explosionsartige Bereitstellung von Freiwilligendiensten in
anderen Ministerien. Daher ist festzustellen: Mit dem
vorgelegten Gesetzentwurf wird die Anzahl der Plätze
bei den Jugendfreiwilligendiensten FSJ und FÖJ nicht
erhöht. Durch die Reduzierung des Gesetzes auf Regelungen im Bereich FSJ und FÖJ werden die sozialund sozialversicherungsrechtlichen Widersprüchlichkeiten bei den Jugendfreiwilligendiensten sogar noch verschärft. Von einer Umsetzung des gemeinsamen früheren
Antrages kann also keine Rede sein.
({1})
Sie wissen, dass es die FDP jugendpolitisch für nicht
hinnehmbar hält, dass es einen Rentenversicherungsanspruch für Teilnehmer des FSJ gibt, aber nicht für
„weltwärts“-Teilnehmer. „Weltwärts“ ist der vom Entwicklungshilfeministerium quasi aus dem Zylinder gezauberte neue internationale Freiwilligendienst. Die
SPD-Ministerin Wieczorek-Zeul und ihre Parlamentarische Staatssekretärin, Frau Karin Kortmann, stemmen
sich mit allen Mitteln dagegen, den „weltwärts“-Teilnehmern die gleichen Rechte wie den FSJ-Teilnehmern zu
gewähren. Das ist eine etwas eigenartige Auffassung
von Gerechtigkeit, die ich mir eigentlich nur mit den
derzeitigen Diskussionen in Hessen erklären kann.
„Weltwärts“ ist ein Novum, da die Teilnahme bis zu
zwei Jahren dauern kann und dies sozialversicherungsrechtlich eine massive Schlechterstellung gegenüber anderen Freiwilligendiensten bedeutet. Man bedenke, dass
die Bundesregierung das Renteneintrittsalter gerade um
zwei Jahre mit der Begründung angehoben hat, dass die
bisherige Einzahlungsdauer in die Rentenversicherung
nicht mehr ausreiche, und nun jungen Menschen bei
„weltwärts“ Beitragszahlungen verweigert. Weiterhin regelt das Gesetz zwar den Kindergeldanspruch für den
Teilnehmerkreis des „weltwärts“-Programms, aber nicht
für den sogenannten Anderen Dienst im Ausland. Das ist
deshalb besonders unverständlich, da das „weltwärts“Programm auf den Bestimmungen des Anderen Dienstes
im Ausland aufbaut.
({2})
Beides sind sogenannte ungeregelte Dienste. Der ADiA,
der Andere Dienst im Ausland, fällt direkt in den Regelungsbereich des Familienministeriums.
Folgendes ist daher eine Fußnote zum anstehenden
Weltfrauentag: Das Bundesamt für Finanzen hat als vorgesetzte Dienststelle im November 2006 eine Weisung
zu § 34 Einkommensteuergesetz erlassen, wonach kein
Kindergeld mehr an Eltern von jungen Frauen gezahlt
wird, die den Anderen Dienst im Ausland ausüben, während Eltern von jungen Männern, die diesen Dienst nach
einer anerkannten Kriegsdienstverweigerung gemäß
§ 14 b ZDG ausüben, weiterhin Kindergeld bekommen.
({3})
Die Konsequenz bei den betroffenen Eltern ist nicht nur
der Wegfall des Kindergeldes, sondern der Wegfall aller
Leistungen, die direkt an den Kindergeldbezug anknüpfen. Beispielsweise bekommen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes keine Erhöhung des Ortszuschlags mehr.
Eltern, die das sogenannte Baukindergeld beziehen, wird
dies mit dem Wegfall des Kindergelds unter Umständen
gestrichen.
Nach dem neuen Gesetz ist es nun so: Eltern von
„weltwärts“-Teilnehmern und anerkannten Wehrdienstverweigerern, die an einem Anderen Dienst im Ausland
teilnehmen, bekommen Kindergeld. Eltern junger
Frauen, die an einem Anderen Dienst im Ausland teilnehmen, und Eltern allgemeiner Zivildienstverweigerer
bekommen kein Kindergeld.
Ich finde, das ist eine Gesetzgebung, die inhaltlich
nicht mehr nachvollziehbar ist. Sie können sehen, dass
die Zusammenlegung des FSJ- und des FÖJ-Förderungsgesetzes Stückwerk bleibt, da alle anderen Jugendfreiwilligendienste nicht mit in die Gesetzesvorlage einbezogen
werden. Es ist sehr fragwürdig, dass das Programm
„weltwärts“, das mit 70 Millionen Euro subventioniert
wird, damit weiterhin keine Gesetzesgrundlage hat, obwohl das vorliegende Gesetz die Möglichkeit bot, alle
Jugendfreiwilligendienste in einem gemeinsamen Rahmen zu vereinheitlichen.
Zum Stichwort „Umsatzsteuer“ kann ich nur sagen:
Der Bundesrat hat in seinem Beschluss vom 12. Oktober
2007 die Bundesregierung aufgefordert - er hat das bestehende Problem, das sich aus den bekannten Fristgründen ergibt, sehr zutreffend erkannt -, den vorliegenden
Gesetzentwurf zurückzuziehen und zeitnah einen neuen
Gesetzentwurf vorzulegen, der sich auf die Lösung der
Umsatzsteuerproblematik beschränkt.
Wie aus dem Entschließungsantrag der FDP-Fraktion
ersichtlich, wünscht sich die FDP-Fraktion eine Rahmengesetzgebung, die die gesamten Bedingungen der
Jugendfreiwilligendienste unabhängig vom sich jeweils
für zuständig erklärenden Ministerium regelt. Mit dem
hier vorgelegten Gesetzentwurf können wir unter diesen
Voraussetzungen nicht einverstanden sein. Wir werden
es ablehnen und uns bei der Abstimmung über die vom
Ausschuss empfohlene Entschließung der Koalition enthalten.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Sönke Rix, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nun kann man nach dem Beitrag der FDP annehmen,
der vorliegende Gesetzentwurf sei das Schlechteste vom
Schlechtesten.
({0})
Aber dem ist nicht so. Wir haben in dieser Vorlage mehrere Punkte aus den Debatten der vergangenen Zeit aufgegriffen, aber auch etwas ganz Konkretes - Sie haben
es zum Schluss Ihrer Rede angesprochen -, die Umsatzsteuerregelung. Auch ich hätte mir etwas anderes vorstellen können, nämlich dass es - ich sage es etwas naiv einen Ausnahmetatbestand gibt. Das geht aber wohl aus
finanzrechtlichen Gründen nicht. Von daher bin ich froh,
von den Trägerinnen und Trägern die Rückmeldung bekommen zu haben: Schön ist das nicht; wir tragen diese
Situation aber, so wie sie ist, mit, weil uns nichts anderes
übrig bleibt; denn wir wollen die Erhebung der Umsatzsteuer bei den Freiwilligendiensten vermeiden.
({1})
Ich gehe davon aus, dass sich die Länder an diese Absprachen halten werden und nicht hinterher die Umsatzsteuer einfordern werden.
Aber was wir in diesem Gesetz besonders geregelt haben, ist die Flexibilisierung der Dienste insgesamt. Wir
sind von Folgendem ausgegangen: Die Situation der jungen Menschen hat sich verändert. Sie hat sich insofern
verändert, als es klassischerweise nicht mehr so ist:
Nach der Schulzeit habe ich ein komplettes Jahr zur Verfügung, um vielleicht ein Freiwilliges Soziales Jahr oder
ein Freiwilliges Ökologisches Jahr zu absolvieren. Nein,
es ist so, dass die jungen Menschen durchaus andere
Zeitperspektiven haben. Von daher begrüße ich es ausdrücklich, dass wir zeitliche Flexibilisierungen in diesen
Gesetzentwurf mit aufgenommen haben. Aber wir haben
für die Trägerinnen und Träger zur besseren Planung
auch klargestellt, dass es hierbei gewisse Regeln gibt
und damit diese zeitliche Flexibilisierung nur in Ausnahmefällen möglich ist.
Was sind das für Ausnahmefälle? Schauen wir uns
einmal an, wer klassischerweise ein Freiwilliges Soziales Jahr macht. Ich will niemandem zu nahe treten,
aber häufig sind es junge Mädchen, die gerade ihr Abitur
gemacht haben, die ein Freiwilliges Soziales Jahr absolvieren. Wir wollen aber auch andere ansprechen, nämlich die jungen Männer und Frauen, die keinen hohen,
vielleicht sogar gar keinen Schulabschluss haben und
Probleme haben, einen Ausbildungsplatz zu finden. Um
diese Jugendlichen besser ansprechen zu können, ist die
zeitliche Flexibilisierung erforderlich. Deshalb begrüße
ich sie außerordentlich.
Es ist zu betonen, dass wir uns nach der Anhörung
schnell darauf geeinigt haben - Herr Grübel hat das bereits angesprochen -, die klassischen Markennahmen
„Freiwilliges Soziales Jahr“ und „Freiwilliges Ökologisches Jahr“ beizubehalten. Warum soll man gute Namen
für gute Modelle beiseiteschieben? Wir wollen sie beibehalten, nicht nur, weil sie gut klingen - „Ich bin FSJler!“ oder „Ich bin FÖJ-ler!“ -, sondern auch, weil man
Erfolgsnamen - das weiß man aus der Werbung und aus
anderen Bereichen - nicht ändern sollte. Wir lassen diese
Erfolgsnamen natürlich bestehen.
({2})
Wir haben auch die Struktur verändert. Die Kombination von In- und Auslandsdiensten und die Kombination
verschiedener Einsatzstellen sind jetzt möglich. So kann
man ein paar Monate lang etwas für seinen BildungsabSönke Rix
schluss tun und dann wieder ein paar Monate bei dem
Träger arbeiten. Auch diese Flexibilisierung war nötig.
Die Kritik der FDP, dass das Gesetz nicht alle Dienste
einbindet, teile ich nicht. Wir haben ein Freiwilligendienstgesetz. Das ist das Fundament. Auf dieser Basis
können sämtliche Freiwilligendienste einbezogen werden.
({3})
Sehen wir darin doch eine Chance. Wir haben endlich
die Möglichkeit, FSJ, FÖJ und andere Programme gesetzlich klar zu regeln. Ich hoffe, dass wir das auch für
die anderen Dienste regeln können.
Es ist unsere Aufgabe, das bürgerschaftliche Engagement insgesamt zu stärken, vor allem aber das Engagement von jungen Leuten. Wir wissen, dass das nicht immer ganz einfach ist.
Sie haben behauptet, dass ein Ausbau nicht mehr
stattfinde. Das ist nicht richtig. Wir haben die Haushaltsmittel für diese Programme im letzten Jahr und in den
Jahren zuvor erhöht. Die Initiative ging von der SPDFraktion aus. Ich bin mir sicher, dass die Haushaltsmittel
für diese Programme auch in den nächsten Jahren erhöht
werden, sodass auch weiterhin ein quantitativer Ausbau
stattfindet, was unser aller Anliegen ist. Sie können sicher sein, dass wir im Rahmen der Haushaltsberatungen
ein entsprechendes Zeichen setzen werden.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich gebe das Wort der Kollegin Elke Reinke, Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Werte Gäste! Wir beraten heute abschließend das Gesetz
zur Förderung von Jugendfreiwilligendiensten. Wir alle
wissen, wie wichtig diese Dienste für junge Menschen
sind. Sie haben aber die Chance vertan, diese Dienste sozial gerechter auszugestalten.
Selbst für die Regelung der Umsatzsteuer, die wesentlicher Anlass für den Gesetzentwurf war, bieten Sie
keine klare Lösung an. Erfreulich ist, dass wenigstens
ein paar Anregungen aus der Anhörung Eingang in den
Gesetzentwurf gefunden haben. So war es richtig, die
bewährten Bezeichnungen „Freiwilliges Soziales Jahr“
und „Freiwilliges Ökologisches Jahr“ beizubehalten und
beide Dienste in einem Gesetz zu verankern. Zweckmäßig wäre es aber, auch kommende Freiwilligendienste
besser zu koordinieren und in einem einheitlichen Regelwerk zusammenzufassen.
Ich komme kurz auf das im Rahmen des Freiwilligen
Sozialen Jahres geplante Einsatzfeld „Zivil- und Katastrophenschutz“ zu sprechen: Das Technische Hilfswerk
hat ein Nachwuchsproblem. Die Linke befürchtet, dass
diese Lücke nun mit jungen Freiwilligen gefüllt wird. So
wollen wir Freiwilligendienste nicht verstanden wissen.
Jugendliche brauchen neben dem Ehrenamt betriebliche
Ausbildungsplätze und gebührenfreie Studienplätze.
({0})
Für uns ist wichtig, dass die Regeldauer zwölf Monate beträgt und nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen verkürzt oder verlängert werden kann. Dass eine
Dauer von 24 Monaten möglich sein soll, halte ich für
keine gute Idee. Bei solch langen Dienstzeiten wächst
die Gefahr, dass Freiwillige als billige Arbeitskräfte zum
Einsatz kommen.
Völlig überflüssig finde ich, dass in Art. 1 eingefügt
wird: Freiwilligendienste fördern die Bildungsfähigkeit
der Jugendlichen. Waren die Absolventinnen und Absolventen von Freiwilligendiensten bisher etwa bildungsunfähig? Die Jugendfreiwilligendienste sollen bilden,
nicht nur bildungsfähig machen. Selbst wenn der vorliegende Gesetzentwurf nur ein Rahmengesetz sein soll,
vermissen wir deutliche qualitative Verbesserungen.
Aus diesem Grund hat meine Fraktion einen Entschließungsantrag vorgelegt, der die zentralen Forderungen der Linken zusammenfasst. Ich möchte auf drei Bereiche eingehen.
Zunächst zur sozialen Absicherung der Jugendlichen:
Wir wollen, dass alle Jugendlichen, die sich für einen Jugendfreiwilligendienst interessieren, diese Möglichkeit
nutzen können. Aber dazu ist das durchschnittliche Taschengeld einfach nicht ausreichend. Es ist sehr zu bedauern, dass Sie die Kritik der ehemaligen Freiwilligen
nicht berücksichtigen, die in der Studie zum FSJ und
FÖJ veröffentlicht wurde. Nach fast 20 Jahren deutscher
Einheit ist es ebenso unverständlich, dass die maximale
Taschengeldhöhe im Osten niedriger ist als im Westen.
({1})
Erklären Sie doch einmal einem Jugendlichen aus Magdeburg, warum er als Taschengeld nur 270 Euro bekommen kann, aber ein junger Mensch aus Fulda 318 Euro.
Hier hätten Sie wieder einmal eine Gelegenheit gehabt,
eine Ost-West-Angleichung herzustellen. Herr Dr. Kues,
Sie hatten ausgeführt, es sei eine gefühlte Differenz.
Aber 48 Euro sind sehr real. Weiterhin fehlt eine umfassende Sozialversicherungspflicht für alle Jugendfreiwilligendienste.
Ein weiterer Bereich ist die Mitbestimmung. Hier hätten wir erwartet, dass gerade die Sozialdemokraten auf
diesen Punkt besonderen Wert legen. In der Begründung
zu § 10 des Gesetzentwurfes wird von keinem Arbeitsverhältnis im engeren Sinne ausgegangen. Es bleibt also
unklar, um welche Art von Arbeitsverhältnis es sich handelt und welche Rechte die jungen Menschen haben.
({2})
Diese Klausel ist ein Einfallstor und bedeutet übersetzt:
Es gelten keine Mitbestimmungsrechte nach dem Betriebsverfassungsgesetz. Die Linke fordert genau diese
Mitbestimmungsrechte für die Jugendlichen. Uns ist das
wichtig.
({3})
Diesen Punkt vergessen auch die Grünen in ihrem Antrag. Bei der FDP muss man erst gar nicht danach suchen.
({4})
Der dritte Aspekt ist die Verdrängung regulärer Beschäftigung. Jugendfreiwilligendienste dürfen nicht als
Warteschleife für fehlende betriebliche Ausbildungsplätze missbraucht werden. Sie dürfen weder reguläre
Arbeitsplätze ersetzen noch zur Ausdehnung des Niedriglohnsektors führen. Freiwilliges Engagement darf nicht
mehr und mehr zum Notnagel beim Abbau des Sozialstaates werden. Schauen Sie doch in den Pflegebereich.
Dort ist es schon Normalität. Freiwilligendienste und
bürgerschaftliches Engagement dürfen nicht all das
übernehmen, was die öffentliche Hand nicht finanzieren
kann oder will. Deshalb ist die Bundesregierung aufgefordert, in Richtung öffentlich finanzierter Beschäftigung aktiv zu werden.
Bei der Ausgestaltung der Jugendfreiwilligendienste
müssen bildungspolitische und sozialpolitische Ziele
gleichermaßen berücksichtigt werden. Leider wird der
vorliegende Gesetzentwurf dieser Forderung nicht gerecht. Das ist schade für die vielen jungen engagierten
Menschen. Sie hätten spürbare Verbesserungen verdient.
Vielen Dank.
({5})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Kai Gehring, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir reden hier heute über eine Gruppe, die sich durch
die höchste Engagementbereitschaft und das stärkste
freiwillige Engagement aller Altersgruppen auszeichnet, nämlich die Jugendlichen. Dies muss an dieser
Stelle einmal klar gesagt werden, weil es zeigt: Jugendliche sind viel besser als ihr Ruf. Deshalb nervt es, wenn
Medien vor allem dann über die Jugend berichten, wenn
etwas schiefläuft.
({0})
Jugendliche sind bereit - das ist überdeutlich -, sich
zu engagieren und durch ökologisches, soziales und kulturelles Engagement im In- und Ausland Verantwortung
zu übernehmen. Zurzeit kommen vier Bewerbungen auf
einen Freiwilligendienstplatz. Dieses hohe Engagementpotenzial von Jugendlichen ist ein hohes Gut und muss
genutzt werden. Deshalb brauchen wir dringend eine
deutliche Aufstockung und Ausweitung bei den Freiwilligendienstplätzen.
({1})
Das großkoalitionäre Gesetz muss sich daran messen
lassen, ob für diese Jugendlichen bessere Bedingungen
geschaffen werden und ob der fraktionsübergreifende
Beschluss aus der letzten Legislaturperiode umgesetzt
wird. Hierbei enttäuscht die Große Koalition gleich doppelt. Sie hätten im Übrigen mit unserer Unterstützung einen großen Wurf für die Weiterentwicklung aller Freiwilligendienste schaffen können, haben diese Chance
aber leider vertan.
({2})
Anstatt die Einzelinitiativen verschiedener Ministerien fachlich zu bündeln und auf eine pädagogisch sinnvolle Grundlage zu stellen, sollen in dem Gesetzentwurf
nur zwei Dienste geregelt werden. Deshalb ist es unzureichend. Dass Herr Grübel es geradezu feiert, dass die
bestehenden Namen FÖJ und FSJ erhalten bleiben, ist
ein Beispiel dafür, wie unzureichend das Gesetz selbst
ist.
In unserem grünen Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, endlich ein Gesamtkonzept für einen deutlichen Ausbau der Freiwilligendienste vorzulegen, das ihr
jugend- und bildungspolitisches Profil schärft.
({3})
Wir fordern einen Freiwilligendienstplan, in dem die finanziellen Mittel für alle Freiwilligendienste analog zum
Kinder- und Jugendplan gebündelt werden. Unser Ziel
ist, zusätzlich zum neuen entwicklungspolitischen Freiwilligendienst die Zahl aller Freiwilligendienstplätze bis
2015 auf 37 000 zu verdoppeln. Eine Verdoppelung kann
man gegenfinanzieren und schaffen.
({4})
Wesentlich ist für uns die Sicherung der Qualität aller
Freiwilligendienste. Als Lernphase müssen sie noch
stärker auf Orientierung, Bildung und Qualifizierung
ausgerichtet sein. Eine gute pädagogische Begleitung
muss Jugendliche bei der Gewinnung neuer Erfahrungen
unterstützen. Benachteiligte Jugendliche - oft aus bildungsfernen und armen Elternhäusern und viel zu oft
auch mit Migrationshintergrund - müssen besonders ermuntert und unterstützt werden. Im Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen wird zwar eine der betroffenen Gruppen erwähnt. Aber ich frage mich: Wieso
haben Sie dazu nicht in Ihrem Gesetzentwurf sinnvolle
Regelungen getroffen?
({5})
Absolutes Negativbeispiel für Ihr planloses Handeln
ist das „Freiwillige Technische Jahr“ des Bildungsministeriums,
({6})
das nichts anderes als ein unbezahltes Langzeitpraktikum ist, für das man sich aber diesen gut klingenden BeKai Gehring
griff ausleiht. Auch das Innenministerium plant bereits
ein „Freiwilliges Katastrophenschutzjahr“. Eine Koordination dieser zweifelhaften Initiativen wird von der Bundesregierung offensichtlich überhaupt nicht betrieben.
({7})
Dadurch wird die Bedeutung der erfolgreiche Marke
„Freiwilliges Jahr“ verwässert statt gestärkt. Dies ist übrigens ein Symptom der gesamten Jugendpolitik der
Bundesregierung und der Bundesjugendministerin. Sie
handeln getreu dem Motto: lieblos, planlos, ziellos. Das
ist nämlich leider bei allen jugendpolitischen Themen
der Fall.
({8})
Man merkt Ihrem Gesetzentwurf an, dass Ihr Ziel in
erster Linie die Umsatzsteuerbefreiung war. Die inhaltliche Konzeption und Weiterentwicklung der Freiwilligendienste wird darin leider vernachlässigt. Die Möglichkeit der Stückelung und Verlängerung der
Dienstdauer, die Sie in Ihrem Gesetzentwurf vorsehen,
kann dazu führen, dass ein Freiwilliger künftig bis zu
vier Sechsmonatsdienste bei verschiedenen Trägern leistet. Die zeitliche Ausweitung auf zwei Jahre birgt auch
die Gefahr, neue Warteschleifen für Jugendliche zu
schaffen, anstatt ihr Engagement zu fördern.
({9})
Leider völlig ignoriert wird in Ihrem Gesetzentwurf
der besondere Regelungsbedarf im Hinblick auf jugendliche Freiwillige im Ausland. Der Freiwilligendienst
„weltwärts“ kann allerdings ein guter Beitrag zum globalen Lernen sein, den wir begrüßen
({10})
und konstruktiv begleiten.
({11})
Enttäuschend ist aber, dass er in Ihrem Gesetzentwurf
nicht verankert ist. Wer Jugendliche im Rahmen eines
70-Millionen-Euro-Programms ins Ausland schickt, darf
keinerlei Zweifel daran aufkommen lassen, dass die pädagogischen und fachlichen Qualitäten des Freiwilligendienstes im Partnerland vor Ort einwandfrei sind. Ich
gehe davon aus, dass die Bundesregierung sich hier stärker anstrengt.
({12})
Wir müssen auf jeden Fall genau überprüfen, ob die geweckten Erwartungen und die gesetzten Qualitätsstandards auch erfüllt werden.
All diese Punkte zeigen: Ihr Gesetzentwurf ist konzeptionell dürftig und enttäuschend. Er wird den Ansprüchen des interfraktionellen Beschlusses aus der letzten Legislaturperiode leider in keiner Weise gerecht.
Herr Kollege.
Er bietet keine ausreichende Grundlage für einen bedarfsorientierten und qualitätsvollen Ausbau sowie für
die sozialversicherungsrechtliche Gleichbehandlung der
einzelnen Dienste.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist überschritten.
Noch eine letzte Bemerkung. - Gerade weil uns das
Engagement von Jugendlichen sehr wichtig ist und wir
es nachhaltig fördern wollen, lehnen wir den vorliegenden Gesetzentwurf ab.
({0})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Dr. Hermann Kues.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bei dem Gesetz, über das wir heute reden, gibt der Staat
nicht Milliardenbeträge für eine Leistung aus; dennoch
wird mit diesem Gesetz eine wichtige Weichenstellung
für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft vorgenommen.
Es geht nicht darum, das zu tun, worauf die Anträge
der Oppositionsfraktionen hinauslaufen, nämlich mehr
Geld auszugeben. Es geht vielmehr darum - der Kollege
Gehring hat es angesprochen -, das vorhandene Potenzial der Bürgerinnen und Bürger, der Jugendlichen, sich
freiwillig einzubringen, auszuschöpfen.
Mindestens so wichtig ist, dass wir eine Antwort auf
die Überforderung des Staates finden. Der Staat ist,
wenn er all das, was an Aufgaben anfällt, allein schultern
will, finanziell und strukturell überfordert. Es geht also
auch darum, sich von der Illusion zu trennen, Vater Staat
mache das schon. Wir wollen eine Gesellschaft, in der
der Staat den Rahmen setzt und in der sich die Bürgerinnen und Bürger aufgefordert fühlen, mit anzupacken, wo
es nur geht. Das ist die Philosophie der Freiwilligendienste.
({0})
Den Rahmen dafür müssen Bund, Länder und Gemeinden bieten. Wer es am Taschengeld festmacht, will
Stimmung machen. Denn das Taschengeld wird frei vereinbart zwischen den Trägern und den Jugendlichen, die
den Dienst leisten wollen. Wollen Sie den Trägern, die
solche Stellen anbieten, vorschreiben, wie viel sie zu
zahlen haben? Das sind freiwillige Vereinbarungen, dafür ist der Bund nicht zuständig. Ich denke, es ist gut,
wenn man sich innerhalb der Gesellschaft darauf verständigt, wie das ausgestaltet werden soll.
({1})
Ich bin fest davon überzeugt: Wer einmal einen Teil
seiner Zeit für eine wichtige Aufgabe einsetzt - sich beispielsweise um Behinderte kümmert oder etwas für alte
Menschen tut -, der gewinnt ein Gespür dafür, was tatsächlich notwendig ist. Deswegen ist es eine schöne Entwicklung, dass das Interesse an den Freiwilligendiensten
in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen ist. 2002
wurden 15 000 Plätze aus Bundesmitteln gefördert;
fairerweise muss man sagen, dass entsprechende Landesmittel hinzukommen und dass sich auch die Träger
entsprechend engagieren müssen. Heute sind es 24 000
Plätze im FSJ und im FÖJ einschließlich der Dienste
nach § 14 c Zivildienstgesetz.
Wenn es Unterschiede gibt, hat das etwas damit zu
tun, dass die Freiwilligendienste nach dem Zivildienstgesetz analog zum Bundeswehrdienst organisiert sein
müssen; man muss sich das genau anschauen.
Ich finde es im Übrigen positiv, dass sich, etwa bei
„weltwärts“, auch andere Ressorts engagieren. Wichtig
ist, dass wir möglichst viel vom Potenzial der Gesellschaft mobilisieren. Dafür wollen wir den Rahmen
schaffen.
({2})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Laurischk?
Selbstverständlich.
Herr Staatssekretär, Sie haben davon gesprochen,
dass Sie den Rahmen schaffen wollen. Warum schaffen
Sie nicht auch einen Rahmen für einen so groß angelegten Freiwilligendienst wie „weltwärts“, gerade in sozialversicherungsrechtlicher Hinsicht? Das ist genau der
Punkt, den wir kritisieren: Hierfür ist eben kein Rahmen
geschaffen worden. In dieser Hinsicht sind Ihre Ausführungen missverständlich.
Ich glaube nicht, dass meine Äußerungen missverständlich sind. Die Freiwilligendienste sind recht unterschiedlich geregelt. Das gilt für die Dienste, die im Zivildienstgesetz geregelt sind, das gilt für den Dienst
„weltwärts“, und das gilt auch für die Überlegungen im
Bildungsbereich, eine Art Praktikum zu ermöglichen.
Angesichts dieser Unterschiede ist es klar, dass es Anpassungsnotwendigkeiten gibt; das habe ich im Ausschuss mehrfach gesagt. Wir müssen uns das genau anschauen und einen Weg finden, damit das Angebot in
sich schlüssig ist, auch was den Bezug von Kindergeld
angeht. Das wissen wir. Sie wissen aber auch, Frau
Laurischk, dass wir nicht zuletzt vor dem Hintergrund
der Frage der Umsatzsteuer Regelungen finden mussten.
Das stand lange im Raum. Es musste ein Weg gefunden
werden, damit Einsatzstellen bzw. Träger nicht mit Umsatzsteuernachzahlungen rechnen müssen. Das Thema
ist mit der Verabschiedung des Gesetzentwurfs nicht abgeschlossen. Wir gehen aber damit einen entscheidenden
Schritt in die richtige Richtung und schaffen damit auch
mehr Transparenz.
Damit sind zwar noch nicht alle Aufgaben bewältigt,
aber wir arbeiten weiter daran. Insofern sind wir auf einem sehr guten Weg.
({0})
Ich will noch einmal die zentralen Aspekte des neuen
Gesetzes nennen. Erstens werden FÖJ und FSJ zusammengefasst. Damit schaffen wir mehr Transparenz und
Rechtsklarheit. Wir wollen aber die bewährten Marken
FÖJ und FSJ erhalten - auch das war Gegenstand der
Diskussion -, weil diejenigen, die sich über Jahre in diesem Bereich eingesetzt haben, wie ich finde, zu Recht
darauf hingewiesen haben, dass mit der neuen Gesetzgebung etwas verloren ginge, das in der Bevölkerung bekannt ist. Insofern schafft der Gesetzentwurf Klarheit.
Zweitens. Dass man die Jugendfreiwilligendienste
jetzt auch zeitlich flexibler gestalten kann, trägt der Tatsache Rechnung, dass diese Dienste Bildungsdienste
sind. Sie haben eine sehr wichtige Orientierungsfunktion. Es ist ein großer Unterschied, ob ein Jugendlicher
- beispielsweise nach einer Ausbildungsphase - einen
solchen Dienst antritt oder jemand aus der älteren Generation, der bereits aus dem Erwerbsleben ausgeschieden
ist. Wir hatten zeitweise in Erwägung gezogen, die
Dienste zusammenzufassen. Die Motive zur Teilnahme
unterscheiden sich aber sehr. Für junge Menschen haben
die Dienste eine sehr wichtige Orientierungsfunktion.
Wir wissen aus Diskussionen in anderen Bereichen,
dass, wenn man junge Männer für eine spätere berufliche Tätigkeit etwa im Pflegedienst gewinnen will, von
großer Bedeutung ist, ob sie vorher in diesem Bereich tätig sein konnten. In dem Fall sind sie eher motiviert, solche Aufgaben zu übernehmen. Insofern ist das von großer Bedeutung im Hinblick auf die Gewinnung gerade
junger Männer als Fachkräfte im Bereich der Pflege.
Drittens wird - das wurde bereits angesprochen - die
Zeitstruktur flexibilisiert.
Viertens flexibilisieren wir die Träger- und Einsatzstellenstruktur. Damit können die vertraglichen Rechte
und Pflichten freier vereinbart werden.
Fünftens und letztens behalten wir die Sozialversicherungspflicht für In- und Auslandsdienste bei.
Dieses Thema ist uns deswegen so wichtig - das
betone ich ausdrücklich -, weil es Jugendliche in
Deutschland in das richtige Licht rückt, die sich schon
seit Jahren freiwillig zum Dienst in der Altenarbeit, Behindertenarbeit und im Umweltschutz verpflichten. Das
ist die Jugend, auf die unser Staat auch künftig bauen
kann.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Bärbel Kofler,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es freut mich sehr, dass ich als Entwicklungspolitikerin zum Thema Jugendfreiwilligendienste sprechen
kann. Es war viel von dem neuen Programm „weltwärts“
der Freiwilligendienste die Rede, das es seit September
2007 gibt. Es ist viel gesagt worden, aber leider wenig
Richtiges. Ich denke dabei insbesondere an die FDP.
Ich glaube, es ist gut, dass ich als Entwicklungspolitikerin zu diesem Thema sprechen und vielleicht den einen oder anderen Punkt klarstellen kann, was dieses Programm anbelangt. Sie haben kritisiert, das BMZ habe ein
Programm aus dem Hut gezaubert; es fehle an Regelungen für die jungen Menschen; man wisse nicht, welche
sozialversicherungsrechtlichen Standards gelten sollen
usw. Ich habe ein bisschen den Eindruck, dass bei der
FDP Krokodilstränen vergossen werden. Wenn Ihnen
das Wohl unserer Sozialkassen und die Sozialversicherungsbiografien der Menschen so am Herzen liegen,
dann wäre ich sehr froh, wenn Sie uns in der Frage des
Mindestlohns genauso unterstützen würden, wie Sie sich
in diesem Bereich der Rentenversicherung annehmen.
({0})
- Das ist nicht billig, sondern es ist die Replik, die Ihr
Ansinnen verdient.
Junge Menschen im Programm „weltwärts“ sind sozial gut abgesichert und abgefedert. Sie genießen Auslandskrankenschutz, Unfall- und Invaliditätsschutz und
haben eine Rückholversicherung. Sie werden in der Pflegeversicherung im Inland weiter versichert. Zudem haben sie die Möglichkeit, sich in der Rentenversicherung
nachzuversichern. Ich glaube, dass das Programm „weltwärts“ viele wesentliche Punkte berücksichtigt. Es
nimmt im Übrigen mit seiner Finanzierungsstruktur ganz
wesentliche Punkte auf, sodass auch Menschen mit niedrigem Einkommen und geringen Verdienstchancen die
Möglichkeit bekommen, ins Ausland zu reisen, Lebenserfahrung zu sammeln, Kompetenz in interkultureller
Kommunikation zu erwerben sowie Toleranz zu erlernen
und Verständnis zu bekommen. Diese Dinge sollen die
Jugendfreiwilligendienste fördern; diese Qualitäten benötigen wir auch in unserem Land dringend.
({1})
Sie haben die Regelungen für junge Frauen besonders
kritisiert, was ich überhaupt nicht nachvollziehen kann.
({2})
Was haben bisher die jungen Frauen gemacht, die ein
freiwilliges Jahr im Ausland ableisten wollten? Die Zahl
derjenigen, die über § 14 c Zivildienstgesetz reisen
konnten - das betrifft logischerweise Frauen nicht -, betrug 1 100 im Jahr. Die Zahl der anderen, die von sich
aus fahren und die Kosten selbst tragen müssen, beläuft
sich auf knapp 400 im Jahr. Was ist nun eine adäquate
Förderung der Frauen?
Mit dem Programm „weltwärts“ wird insbesondere
jungen Frauen die Möglichkeit gegeben, im Rahmen
entwicklungspolitischer Themenstellungen im Ausland
tätig zu sein. Die Trägerorganisationen erhalten
580 Euro. Die jungen Menschen sind versichert - das
habe ich schon angesprochen -, bekommen Unterkunft
und Verpflegung und erhalten ein Taschengeld. Was ich
begrüße und für besonders wichtig und notwendig halte,
ist die pädagogische Anleitung der jungen Menschen. In
vielen Ländern der Dritten Welt, den Entwicklungsländern, ist das ein ganz wichtiger Punkt. Genau das passiert.
Die Zahlen zeigen, dass sich seit September 2007 für
dieses Programm 5 000 junge Menschen interessiert haben, 70 Prozent davon Frauen. In diesem Jahr werden
wir 3 000 Plätze schaffen. Insgesamt ist die Schaffung
von 10 000 Plätzen vorgesehen. Sie können das doch
nicht mit einer Zahl im dreistelligen Bereich vergleichen. Das aber ist die Größenordnung, in der Frauen im
Ausland ihren Freiwilligendienst leisten können. Hier
wird Engagement für Frauen möglich gemacht.
({3})
Jungen Menschen wird ein Engagement jenseits des
Einkommens und der Berufsbildung ermöglicht. Bisher
wurde es jungen Menschen ohne Studium oder Abitur
sehr schwer gemacht, einen solchen Dienst wahrzunehmen. Junge Menschen mit Haupt- oder Realschulabschluss oder mit einer Berufsausbildung werden ebenso
wie Menschen mit geringeren Einkommensmöglichkeiten angesprochen.
Ich glaube, das ist ein rundum gelungenes Programm.
Ich bedanke mich beim BMZ für dieses Programm. Die
Abstimmung mit dem Familienministerium verlief hervorragend. Ich hoffe, wir können dieses Programm gemeinsam gut weiterentwickeln.
Danke.
({4})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Dieter Steinecke, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen!
Die Demokratie lebt durch das Engagement der
Bürgerinnen und Bürger. Darum wollen wir eine
starke, lebendige Bürgergesellschaft …
Diese Feststellung ist nicht neu, sie ist auch nicht von
mir. Ich habe sie vielmehr dem Hamburger Programm
meiner Partei entnommen. Als sie das formulierte und
beschloss, war die zugrunde liegende Erkenntnis nicht
mehr ganz taufrisch. Schon vor fast 2 000 Jahren stellte
der römische Schriftsteller Seneca fest - ich zitiere -:
Die menschliche Gesellschaft gleicht einem Gewölbe, das zusammenstürzen müsste, wenn sich
nicht die einzelnen Steine gegenseitig stützen würden.
Unser Leitbild ist eine moderne - nicht 2 000 Jahre alte -,
funktionierende Bürgergesellschaft. Dies ist keineswegs
nur eine Forderung oder gar eine Utopie. Tagtäglich
wird dieses Leitbild auf die verschiedensten Weisen
praktiziert und mit Leben erfüllt.
Bürgerschaftliches Engagement - das betone ich - ist
nicht nur ein reines Geben an die Gesellschaft. Es ist
mehr als ein Opfer an Zeit und manchmal auch an Geld.
Wer sich bürgerschaftlich engagiert, bekommt auch etwas zurück. Er kommt mit anderen Menschen zusammen, kann Bestätigung erfahren und seinen persönlichen
Horizont erweitern. Bürgerschaftliches Engagement bedeutet Mitwirkung und Teilhabe an unserem gelebten
demokratischen Gemeinwesen.
Heute sprechen wir über zwei besonders erfolgreiche
Formen des bürgerschaftlichen Engagements: das Freiwillige Soziale und das Freiwillige Ökologische Jahr.
Seit den 50er- respektive seit den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts haben sich diese Dienste zu einer
Orientierungs- und Lernzeit für junge Menschen entwickelt und sich in hervorragender Weise bewährt.
Im vorliegenden Entwurf wird gerade der Bildungscharakter betont. Eindeutig wird hervorgehoben, dass
sich der Jugendfreiwilligendienst an klaren fachlichen
Lernzielen und am Erwerb sozialer und kultureller Kompetenzen orientieren muss und angemessen pädagogisch
begleitet werden muss.
Ich fasse kurz zusammen: Das Freiwillige Soziale
und das Freiwillige Ökologische Jahr stellen Dienste an
der Allgemeinheit dar, von denen der Dienstleistende
durch Erweiterung seiner Kenntnisse und Fähigkeiten
profitiert und durch die er gesellschaftliche Teilhabe unmittelbar erfährt und praktiziert.
Nach bisheriger und künftiger Rechtslage steht diese
wertvolle Bildungs- und Erfahrungschance allen jungen
Menschen zwischen dem Ende ihrer Schulpflicht und
dem 27. Lebensjahr offen. In der Realität sieht die Sache
jedoch anders aus - meine Vorredner haben das zum Teil
schon erwähnt -: Zwar ist der Anteil junger Männer
durch die Einführung von § 14 c in das Zivildienstgesetz
deutlich angestiegen, doch nach wie vor werden die Angebote der Jugendfreiwilligendienste in erster Linie von
Realschulabsolventen und Abiturienten wahrgenommen.
Junge Menschen mit niedrigerem oder gar ohne Bildungsabschluss bleiben in der Regel unerreicht. Dabei
könnten gerade sie ganz konkret von den Bildungs- und
Dienstangeboten profitieren. Daher sollten wir gezielt
versuchen, den Anteil benachteiligter Jugendlicher an
den Dienstleistenden zu erhöhen; dies ist im Rahmen des
Gesetzes möglich. Dabei sollten nicht nur Werbungsmaßnahmen ergriffen werden; die Träger müssen sich
offen für die potenziellen Dienstleistenden zeigen und in
den Stand versetzt werden, die nicht immer unproblematischen jungen Menschen zu schulen und pädagogisch zu
begleiten.
Besondere Bedeutung kommt den Migrantenselbsthilfeorganisationen zu. Die Bundesregierung sollte sie
durch gezielte Ansprache und Unterstützungsmaßnahmen ermuntern, als Träger, als Einsatzstellen oder als
Partner bereits aktiver traditioneller Träger im System
der Freiwilligendienste mitzuwirken. Hierdurch würden
diese Dienste für junge Menschen mit Migrationshintergrund attraktiver.
({0})
Die positiven Folgen für die Dienstleistenden und die
Gesellschaft liegen auf der Hand.
Die Öffnung der Freiwilligendienste für weitere
Kreise der Jugend in unserem Land kann es nicht umsonst geben. Die Verbreiterung der Trägerbasis und die
erforderliche zielgruppenspezifische Anpassung und
Verbesserung der pädagogischen Betreuung kosten viel
Geld. Ich finde, man sollte immer fragen - das tun nicht
alle in diesem Hause -: Woher soll das Geld kommen?
Ich möchte dazu einen Vorschlag machen. Zurzeit kursieren Eckpunkte für das Vorhaben, eine freiwillige oder
auch pseudofreiwillige Verlängerung des Zivildienstes
- eines Zwangsdienstes nur für junge Männer - zu ermöglichen.
({1})
Das ist in meinen Augen sachlich unnötig und würde den
Haushalt des BMFSFJ mit ansehnlichen Beträgen belasten.
({2})
Dieses Geld könnte weitaus sinnvoller für eine Verbreiterung und Stärkung der Jugendfreiwilligendienste eingesetzt werden. Dies läge in meinen Augen weit mehr
im Interesse benachteiligter junger Menschen und unserer gesamten Gesellschaft.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Förderung von Jugendfreiwilligendiensten, Drucksachen
16/6519 und 16/6967. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8256, den Gesetzentwurf der Bundesregierung in Kenntnis des
Berichts der Bundesregierung zu Prüfaufträgen zur
Zukunft der Freiwilligendienste, Ausbau der Jugendfreiwilligendienste und der generationsübergreifenden Freiwilligendienste als zivilgesellschaftlicher Generationenvertrag für Deutschland auf Drucksache 16/6145 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag
der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/8414? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalition bei Enthaltung
von Bündnis 90/Die Grünen und bei Gegenstimmen der
FDP abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/8413? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag
ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen,
CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Die
Linke abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 5 b. Wir setzen die Abstimmung
über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache 16/8256
fort.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
FDP auf Drucksache 16/6769 mit dem Titel „Jugendfreiwilligendienste in einen gemeinsamen Gesetzesrahmen
zusammenfassen“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FDP angenommen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Jugendfreiwilligendienste ausbauen und Gesamtkonzeptionen
entwickeln“ auf Drucksache 16/6771. Wer stimmt für
die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von SPD und CDU/CSU bei Gegenstimmen
von Bündnis 90/Die Grünen und FDP und bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8256 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Fraktion
Die Linke, SPD, CDU/CSU bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Grünbuch
Hin zu einer neuen Kultur der Mobilität in der
Stadt ({1})
KOM ({2}) 551 endg.; Ratsdok. 13278/07
- Drucksachen 16/6865 Nr. 1.19, 16/8360 Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Hofbauer
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Sören Bartol, SPD-Fraktion.
({3})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Europäische Kommission hat im September 2007 ein Grünbuch mit dem Titel „Hin zu einer
neuen Kultur der Mobilität in der Stadt“ vorgelegt, das
Grundlage für einen europäischen Aktionsplan sein soll.
Wir als SPD-Fraktion begrüßen ausdrücklich diese Initiative der EU-Kommission, mit der der Stadtverkehr
flüssiger, intelligenter, zugänglicher und sicherer werden
soll und die Städte grüner werden sollen.
Wir haben zusammen mit unserem Koalitionspartner
einen Antrag eingebracht, in dem wir Handlungsoptionen der EU für eine sozial- und umweltverträgliche Mobilität in Städten aufzeigen. Wir wollen, dass sich der
Bundestag mit dieser Stellungnahme aktiv und konstruktiv an der laufenden zweiten Konsultationsphase zur
Vorbereitung des Aktionsplans beteiligt.
({0})
Wenn es um die Zukunft unserer Städte geht, dürfen
nicht formalrechtliche Kompetenzstreitigkeiten im Vordergrund stehen. Reflexartige Ablehnung ist unangebracht angesichts der Aufgabe, städtische Mobilität so
zu gestalten, dass sie die Qualität der Städte als
Wirtschafts- und Wohnstandorte nicht einschränkt.
Diese Aufgabe erfordert die gemeinsame Suche nach
Lösungen auf örtlicher, regionaler, nationaler und europäischer Ebene. Wir begrüßen, dass sich die Kommission dieser Aufgabe stellt.
({1})
Wir sollten das Grünbuch aber nicht mit Erwartungen
überfrachten, wie es die Grünen in ihrem Entschließungsantrag tun. Das Grünbuch kann nicht das Vehikel
sein, ein generelles Tempolimit einzuführen. Eine Einführung durch die Hintertür Europa befördert nicht gerade die Akzeptanz der EU bei den Bürgern. Tempolimit
- ja oder nein, das müssen wir in Deutschland unter uns
klären.
({2})
Auch einheitliche Vorgaben zu Citymautsystemen machen wenig Sinn; denn von einer flächendeckenden Einführung sind wir weit entfernt. Es ist sicherlich sinnvoll,
sich die Beispiele wie London und Stockholm anzusehen
und Erfolgsbedingungen für eine Citymaut zu identifizieren. Bei der Übertragbarkeit auf deutsche Städte bin
ich allerdings skeptisch.
({3})
Die Vielfalt europäischer Städte verbietet einheitliche
Lösungen, und die will auch keiner. Die lokalen Akteure
sind diejenigen, die sich vor Ort am besten auskennen.
Sie sind diejenigen, die lokal angepasste Strategien entwickeln können. Sie sind vor allem diejenigen, die bei
den Betroffenen Akzeptanz schaffen können. Das weiß
auch die Kommission. Wir nehmen sie beim Wort, wenn
es um die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und die
Beachtung der kommunalen Planungshoheit geht.
Vieles von dem, was im Grünbuch vorgeschlagen
wird, ist in Deutschland schon lange Praxis. Deutsche
Städte haben einen reichen Erfahrungsschatz erfolgreicher Stadtverkehrskonzepte, von Tempo-30- und Fußgängerzonen über Parkraumbewirtschaftung, Busspuren,
Ampelvorrangschaltungen und Radwegenetze bis hin
zum Verkehrsmanagement. Wir haben anderen Städten in
Europa viel Beispielhaftes zu bieten. Es gibt aber auch
einiges, was wir im Austausch mit anderen dazulernen
können. Wir sehen den europäischen Mehrwert eines Aktionsplans zur städtischen Mobilität durchaus. Die EU
kann eine wesentliche Rolle spielen, wenn es um den
Austausch von Daten und Erfahrungen geht. Sie kann
geltende Rechtsakte und Förderinstrumente evaluieren,
vereinfachen und zu einem integrierten Ansatz bündeln.
Auch bei der Harmonisierung technischer Leitlinien ist
die EU gefordert. Ich denke hier zum Beispiel an die Plaketten für Umweltzonen, die bisher überall in Europa anders aussehen, und an einheitliche Standards bei Telematikanwendungen im öffentlichen Personennahverkehr,
die grenzüberschreitend Fahrplanauskünfte und E-Ticketing erlauben. Technische Insellösungen mögen innovativ sein, wirtschaftlich sind sie auf Dauer nicht.
Die Kommission erkennt ganz richtig, dass sich städtische Verkehrsprobleme nur durch eine integrierte Politik lösen lassen. Darin hat sie unsere volle Unterstützung.
Einerseits müssen wir die technologischen Potenziale zur
Verbesserung der Fahrzeugtechnik ausschöpfen und die
Leistungsfähigkeit einzelner Verkehrsmittel optimieren.
Andererseits müssen wir den Fußgänger-, Rad- und öffentlichen Personennahverkehr attraktiv, sicher und barrierefrei gestalten. Mehr noch: Wir müssen die Innenstadtentwicklung von Städten stärken sowie Siedlungs-,
Wirtschafts- und Infrastrukturentwicklung in regionaler
Kooperation betreiben. Mit der Baugesetzbuchnovelle
haben wir hier in Deutschland einen wichtigen Schritt
getan, der zu einer Revitalisierung der Innenstädte beitragen wird.
({4})
Eine fahrrad- und fußgängerfreundliche Stadt mit einer
funktionalen Mischung aus Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und Freizeit bietet ein gesundes und sicheres Lebensumfeld gerade für Kinder und ältere Menschen. Sie
bewegen sich überwiegend im Nahbereich.
({5})
Auch für Menschen mit geringem Einkommen, die oft
an besonders belasteten Hauptverkehrsstraßen wohnen,
ist ein stadtverträglicher Verkehr ein großer Gewinn.
Wir können es uns nicht leisten, wie Abu Dhabi
Sir Norman Foster für den Neubau einer CO2-neutralen
Ökostadt zu engagieren. Dafür fehlen uns die Öldollar.
Wir in Europa haben über Jahrhunderte gewachsene
Städte. Diese Städte mit all ihren Problemen, aber auch
mit ihren baulichen, sozialen und kulturellen Qualitäten
ökologisch nachhaltig und lebenswert zu gestalten, das
ist die eigentliche Herausforderung. Die während der
deutschen EU-Ratspräsidentschaft beschlossene Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt betont
die Bedeutung der Städte für die gesellschaftliche und
die wirtschaftliche Entwicklung. Der weiterwachsende
Verkehr droht allerdings zum Wachstumshemmnis zu
werden, wenn es uns nicht gelingt, Wirtschafts- und Verkehrswachstum voneinander zu entkoppeln. Dieses Ziel,
das die Kommission im Verkehrsweißbuch von 2001
formuliert hat, muss weiter im Blick bleiben.
Die Städte stehen vor der Herausforderung, Mobilität
von Menschen, Gütern und Dienstleistungen zu ermöglichen, gleichzeitig aber die Belastungen für Mensch und
Umwelt zu senken. Dabei können sie tatkräftige Unterstützung gebrauchen, sowohl von uns im Deutschen
Bundestag als auch - das ist meine Meinung - vonseiten
der EU.
Vielen Dank und gute Beratung.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Patrick Döring, FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Hin zu einer neuen Kultur der Mobilität in der Stadt“
heißt das Grünbuch der Europäischen Union. Zuallererst
fragt man sich doch: Was hat eigentlich Brüssel damit zu
tun? Wer jemals in Brüssel war, der kann erkennen, dass
man vielleicht national oder lokal schon allein in dieser
Stadt das eine oder andere verbessern könnte. Vielleicht
sollten sich die Bediensteten der Kommission nicht mit
allgemeinen philosophischen Grundsätzen befassen,
sondern lokale Politik beobachten; denn die ist zuständig.
({0})
Deshalb sage ich für die FDP-Fraktion: Ja, vieles, was in
dem Grünbuch steht, ist in deutschen Städten gelebte
Praxis.
({1})
- Ja, vieles, was darin steht, ist in deutschen Städten gelebte Praxis. - Und weil der Zwischenruf vom Kollegen
Hettlich gekommen ist: Ich kann verstehen, dass mancher dieses Grünbuch mit den vielen dirigistischen Vorschlägen zu Citymaut, Parkraumbewirtschaftung usw.
zum Vehikel nehmen will, um seine ideologische Verkehrspolitik in Deutschland durchzusetzen.
({2})
Aber mehr als 80 Prozent der Hamburger haben gerade
nicht Grün und damit nicht die Citymaut gewählt, lieber
Herr Kollege. Ich bin sehr gespannt, ob die schwarzgrüne Koalition eine Citymaut einführt und wie sich die
Union dann dazu verhält. All das beobachte ich mit großem Interesse.
({3})
Aber für diese Maßnahme gibt es keine Unterstützung.
({4})
Es ist richtig, das in den Städten zu diskutieren. Wir werden sehen, dass es dafür weitestgehend keine Mehrheiten gibt.
Was die Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und
Verkehrswachstum betrifft, so kann man zurzeit das Gegenteil von dem beobachten, was der Kollege Bartol gesagt hat. Das Verkehrswachstum ist stärker als das
Wirtschaftswachstum, weil in Deutschland der Durchgangsverkehr insgesamt eine große Rolle spielt. Wir haben in den Städten wachsende Verkehre, weil es eine
Rückbesinnung auf die Innenstädte gibt und die leerstehenden Ladenlokale in den Fußgängerzonen wieder vermietet werden. Man kommt wieder weg von der grünen
Wiese, was wir alle wollten.
({5})
Man kann dieses Grünbuch lesen und dann wie die
Koalition die Fahne der Subsidiarität hochhalten, damit
bloß keiner auf die Idee kommt, mit gesetzgeberischen
Maßnahmen in Deutschland einzugreifen. Da unterstützen wir den Antrag der Koalition ausdrücklich. Es finden
sich aber auch noch, wie ich finde, einige zu positive Bewertungen in dem Entschließungsantrag. Die Befürchtung der FDP-Fraktion ist, dass dann, wenn man mit
Standardisierung und Harmonisierung anfängt - Herr
Kollege Bartol, das beginnt bei der europaweit harmonisierten Umweltplakette -, Rechte abgeleitet werden, weitere Regelungen, die tief in die kommunale Selbstverwaltung eingreifen, zu treffen.
({6})
Es ist in diesem Hause noch nie darüber diskutiert worden - jedenfalls habe ich davon noch nichts gehört -, ob
wir europaweit einheitliche Nummernschilder oder europaweit einheitliche Fahrzeugscheine brauchen. Aber jetzt
soll das Harmonisierungsziel in der Einführung europaweit einheitlicher Umweltplaketten bestehen. Da kann
ich nur sagen: Lasst viele Blumen blühen.
({7})
Man kann darüber streiten, ob Umweltzonen überhaupt sinnvoll sind.
({8})
Vielleicht sollten wir darüber einmal sprechen. Nach der
Anhörung von gestern über die Wirksamkeit von Rußpartikelfiltern können wir darüber streiten, ob der ganze
Vorgang irgendeine Auswirkung hat. Ich komme immer
mehr zu der Überzeugung, dass das höchste Feinstaubaufkommen in meiner Heimatstadt Hannover am letzten
Jahr am Ostermontag zu verzeichnen war. Das lag nicht
an dem vielen Verkehr, sondern an den Osterfeuern rund
um die Stadt. Das ist doch der Punkt. Das hat nichts mit
dem Feinstaub zu tun, der vom Autoverkehr hervorgerufen wird.
({9})
Allerletzte Bemerkung zum städtischen Verkehr insgesamt. Wie anfällig städtischer Verkehr ist, wie austariert dieses System ist, erkennen wir dieser Tage durch
den Streik von Verdi. Heute Morgen ist den meisten von
uns aufgefallen, dass viel mehr Pkws auf den Straßen
Berlins sind, weil die BVG nicht fährt. Das macht doch
deutlich, dass diese Systeme in jeder Stadt individuell
eingespielt und ausbalanciert sind. Wir müssen uns aber
auch überlegen, wie man bei der aktuellen Situation in
Deutschlands Städten, mit Streik im Nahverkehr und
vielleicht einem Streik bei der DB AG - das würde ab
Montag die S-Bahnen betreffen -, mit dem zusätzlichen
Verkehrsaufkommen überhaupt umgeht und wie die
Kommune oder auch der betroffene Bürger darauf reagieren kann. Ich bin schon etwas irritiert, dass die Busspuren mancher deutscher Städte, auf denen zurzeit wegen des Streiks keine Busse fahren, nicht für den
zusätzlichen Autoverkehr während der Streiktage geöffnet werden. Auch bin ich ratlos, wie man mit den parkenden Fahrzeugen - ich denke allein an die zu parkenden Fahrzeuge unserer Mitarbeiter, die nicht mit dem
Nahverkehr in die Stadt gekommen sind - umgehen will,
wenn der Streik anhält.
Diese Beispiele machen deutlich, dass solche Fragen
vor Ort zu lösen sind. Dafür braucht man weder Grünbücher noch Legislativen aus Brüssel. Ich bin dafür, dass
wir sehr intensiv darüber streiten, wie man städtische
Mobilität organisiert, aber nicht auf europäischer Ebene,
sondern mit Ratsfrauen und Ratsherren in den Kommunen vor Ort.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat der Kollege Klaus Hofbauer, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Erlauben Sie mir eine Vorbemerkung:
Wir haben uns schon oft darüber beklagt, dass wir im
Deutschen Bundestag über europäische Richtlinien und
Entscheidungen zu spät oder gar nicht informiert wurden, sodass wir nicht mitentscheiden konnten. Deshalb
begrüßen wir es außerordentlich, dass wir noch vor Verabschiedung des Aktionsplans zur städtischen Mobilität
die Möglichkeit haben, zu dieser umfangreichen Vorlage
Stellung zu nehmen und so den Prozess entscheidend
mitzugestalten.
({0})
Lieber Herr Kollege Döring, wir sind nicht weit auseinander. Das hätten Sie gemerkt, wenn Sie unsere Beschlussempfehlung gelesen hätten.
({1})
Ich zitiere aus einem Spiegelstrich:
Der Bundestag fordert:
- das Subsidiaritätsprinzip bei der Erarbeitung des
Aktionsplans zur städtischen Mobilität strikt zu
beachten.
({2})
Das ist eine ganz klare Aussage. Wir werden darauf achten, dass dies auch eingehalten wird. - Ich zitiere auch
noch den zweiten Satz:
Die kommunale Planungshoheit muss nach Auffassung des Deutschen Bundestages uneingeschränkt
gewahrt bleiben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, konkreter und
deutlicher können wir unsere Forderungen in dieser Stellungnahme nicht formulieren. Wir haben damit einen
Beitrag dazu geleistet, gute Anregungen zu geben.
({3})
Gerade uns Verkehrspolitikern ist bewusst - wir haben diese Beschlussempfehlung auch mit den Europapolitikern abgestimmt, und ich bedanke mich ausdrücklich,
dass wir zu einer gemeinsamen Initiative gekommen
sind -, dass wir es mit einer dramatischen Zunahme des
Verkehrs zu tun haben. Die Folgen sind Staus, Verspätungen, Luft- und Lärmemissionen und vor allem erhöhte Verkehrsunfallzahlen bei Fußgängern und Radfahrern. Deshalb gehe ich auf die fünf wesentlichen Punkte
des Grünbuchs ein, die wir als wichtige Anregungen auffassen, die - darauf werden wir achten - auch vor Ort
diskutiert werden müssen. Außerdem werden wir prüfen,
was auf unserer Ebene verändert werden muss. Vor allen
Dingen muss dies aber in den Kommunen diskutiert werden. Wir wollen nicht, dass hier den Kommunen etwas
vorgeschrieben wird; aber wir wollen, dass dies in geeigneter Weise umgesetzt wird.
Es geht erstens darum, mehr für einen flüssigen Verkehr in der Stadt zu tun. Ich bin davon überzeugt, dass
jede Kommune prüfen kann, ob sie dazu in ausreichendem Maße beiträgt.
Zweitens sollten wir die Luftverschmutzung in den
Städten betrachten. Sie lässt sich zum Beispiel durch alternative Kraftstoffe - Stichwort: Einführung von Wasserstoff - reduzieren. Das sind die Herausforderungen,
die wir zu bewältigen haben.
Ich nenne einen dritten und vierten Punkt: hin zu intelligenterem Nahverkehr, hin zu zugänglicherem Nahverkehr. Wir müssen insbesondere die Mobilität von Behinderten, von älteren Menschen und von Familien mit
Kindern stärken. Wenn man Opa ist und mit einem
Kleinkind unterwegs ist, erlebt man, wie es ist, wenn
man sich in den Zentren mit einem Kinderwagen bewegt. Ich muss feststellen: Es ist noch einiges zu verbessern. Das sollte man hier entsprechend darstellen und
umzusetzen versuchen.
({4})
Ich möchte das, was der Herr Kollege Bartol gesagt
hat, voll und ganz unterstreichen. Wir, Deutschland, sollten unser Licht nicht unter den Scheffel stellen. In
Deutschland ist bereits viel passiert; wir sind auf einem
guten Weg. Ich möchte insbesondere unseren Kommunen ein Wort des Dankes sagen. Die Kommunalpolitik
steht oben auf unserer Agenda. Was wir erreicht haben,
sollten wir positiv darstellen. Wir brauchen uns nicht zu
verstecken. Wir können selbstbewusst auf unsere Erfolge in diesem Bereich in den letzten Jahren verweisen.
Der Herr Kollege Bartol hat diese Punkte bereits angesprochen.
Erlauben Sie mir, auf noch einen wichtigen Punkt
hinzuweisen. Ich glaube, für die Lösung der Probleme
des städtischen Verkehrs ist insbesondere ein enges Zusammenwirken der Zentren und der umliegenden Regionen notwendig. Der größte Teil der Arbeitsplätze befindet sich nach wie vor in den Zentren. Der meiste Verkehr
entsteht in der Früh, wenn die Pendler in die Zentren
fahren, und am Abend, wenn sie zurückfahren. Deswegen betrifft dieses Thema nicht allein die Städte; vielKlaus Hofbauer
mehr muss das Umland einbezogen werden. Je attraktiver wir den Nahverkehr gestalten, desto besser ist der
Individualverkehr in den Zentren.
Dazu haben wir, der Bund, einen ganz entscheidenden
Beitrag geleistet, als wir bei der Bahnreform Mitte der
90er-Jahre dafür gesorgt haben, dass Regionalisierungsmittel eingesetzt wurden. Wir sollten hier einmal deutlich sagen, dass die Verwendung von Regionalisierungsmitteln zur Stärkung des öffentlichen Nahverkehrs, wie
es bei uns praktiziert wird, beispielgebend ist.
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch eines erwähnen: Die Vorschläge des Bundesrats werden in den
Entscheidungsprozess über den Aktionsplan einbezogen
werden. Auf vielen Seiten werden viele Anregungen gemacht, hinter denen wir stehen und die wir unterstützen.
Erlauben Sie mir, zum Abschluss Folgendes zusammenfassend zu sagen: Wir sollen nicht in die Kompetenz
der Kommunen eingreifen. Wir sollen Anregungen und
Impulse geben. Das Grünbuch enthält dazu einiges. Ich
habe hier großes Vertrauen in die Kommunalpolitiker,
weil hier wirklich Vorbildliches geleistet wird. Wir müssen vor allen Dingen dafür Sorge tragen, dass das Subsidiaritätsprinzip auch bei dieser Regelung eingehalten
und festgeschrieben wird. Wenn das geschieht, können
wir dieses Grünbuch unter den genannten Gesichtspunkten unter dem Strich positiv - als etwas, das Anregungen
und Vorschläge enthält - bewerten.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({5})
Ich gebe das Wort der Kollegin Dorothée Menzner,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Im Grünbuch der Europäischen Kommission nimmt die
Organisation des städtischen Verkehrs mit öffentlichen
Verkehrsmitteln großen Raum ein. Das ist ohne Zweifel
eine richtige Orientierung. Sie entspricht den Grundsätzen, die die Linke vertritt. Doch den Verkehr zu optimieren, ohne gleichzeitig stadtplanerische, ökologische, soziale Bedingungen und deren Veränderung in den Blick
zu nehmen, greift nach unserer Überzeugung zu kurz.
Wenn Städte lebenswerter werden sollen, dann müssen wir den Autoverkehr deutlich mindern. Das wissen
wir alle; ich glaube, dass an dieser Stelle kein großer
Dissens besteht. Auch die Stellungnahme des Deutschen
Städtetages weist in diese Richtung. Doch wo gibt es
hierzulande so etwas wie eine Citymaut oder überhaupt
solche Ansätze? Eine solche Maut könnte den Autoverkehr wirklich einschränken, was sich am Beispiel London zeigt. Aber wir wissen auch, dass es massive Widerstände, nicht zuletzt der Autolobby, gibt;
({0})
schließlich klagt Porsche in Großbritannien gegen die
Citymaut.
Parkraumbewirtschaftung, Tempo 30, Radfahrrouten,
Ampelvorrangschaltung und Verkehrsmanagement sind
für die Städte unerlässlich. Doch weiß jeder hier im
Haus, dass es gegensätzliche Interessen gibt und dass es
schwierig ist, diese vor Ort konkret unter einen Hut zu
bringen. Ein generelles Umdenken kann aber nicht allein
von der Verkehrspolitik ausgehen. Ein generelles Umdenken - ich nenne das Stichwort „Klimaschutz“ - ist allerdings dringend notwendig.
Zurück zum Grünbuch und zu dem, was darin steht.
Mir fehlen Finanzierungsmodelle, zum Beispiel eine
Abgabe für den ÖPNV. Mir fehlen an dieser Stelle Ansätze, wie wir sie zum Beispiel aus amerikanischen oder
französischen Städten kennen. Dort haben solche
ÖPNV-Abgaben komplette Straßenbahnsysteme finanziert. Wohl jeder wird den grundsätzlichen Zielen zustimmen, die im Grünbuch formuliert sind. Der Verkehr
in der Stadt soll flüssiger, die Städte sollen sauberer und
der Nahverkehr soll intelligenter, zugänglicher und sicherer werden.
Zum letzten Punkt, welcher in den letzten Tagen erschreckend aktuell ist: Immer häufiger kommt es zu
schwerwiegenden Überfällen auf Fahrpersonal oder
auch auf Gäste. Der Aggressionspegel in unserer Gesellschaft steigt; das ist eine traurige Tatsache. Ich brauche
keine großen soziologischen Untersuchungen, um zumindest einige der Ursachen zu finden, die sich in Verkehrsmitteln Bahn brechen - aber natürlich längst nicht
nur dort. Es sind zunehmende soziale Polarisierung, Verarmung, Chancenlosigkeit und auch Ausgrenzung, die
sich in Gewalt entladen. Doch gerade in den Bereichen,
in denen wir Sicherheit schaffen könnten, sind in den
letzten Jahren rigoros Stellen abgebaut worden. Personal
wurde durch Videoüberwachung ersetzt, die zwar vielleicht dazu beitragen kann, die Täter zu überführen, aber
einem Opfer in unmittelbarer Not nicht unbedingt hilft.
Zu einem attraktiven Nahverkehrskonzept gehört deshalb nach unserer Meinung Präsenz von Personal, und
zwar in den Fahrzeugen, auf den Bahnhöfen und an den
Haltestellen.
({1})
In dem Zusammenhang kann der Vorschlag des Berliner
Senats, 1-Euro-Jobber einzusetzen, nur als makabrer
Scherz gewertet werden.
({2})
- Das war Senator Sarrazin.
({3})
Leider weist das Grünbuch mitunter in eine falsche
Richtung. In Ihren Vorlagen tappen Sie auch in die Falle
naiver Technikbegeisterung - als wären die Probleme
mit technischem Schnickschnack zu lösen. Handys
tauchen in den Vorlagen doch nur deshalb auf, weil das
Wort „E-Ticketing“ im Grünbuch steht. Abgesehen davon, dass es bisher gar kein funktionierendes Modell für
E-Ticketing gibt: Wer würde zu den Nutzern eines solchen Modells gehören? Viele Menschen haben schlicht
und ergreifend kein Konto, von dem abgebucht werden
könnte. Das trifft wieder Schüler und Empfänger von
Transferleistungen. Sie wären von einem solchen Modell
ausgeschlossen; ihnen brächte das überhaupt nichts. E-Ticketing würde also nur einen erlauchten Kreis von Fahrgästen erreichen. Das könnte allenfalls ein ergänzendes
Angebot sein. Konventionelle Fahrscheine könnten dadurch niemals ersetzt werden. - Nur am Rande möchte
ich anmerken: Außerdem könnte E-Ticketing auch genutzt werden, um Bewegungsprofile zu erstellen.
Viele Menschen fühlen sich schon heute durch gängige Fahrscheinautomaten überfordert. Das ist häufig
eine Zugangsbarriere bei öffentlichen Verkehrsmitteln.
Da würde E-Ticketing noch eins draufsetzen. Wir müssen intelligenten Nahverkehr schaffen. Das heißt: vereinfachen, Zugänglichkeit verbessern, Tarife vereinfachen,
es nicht immer noch komplizierter machen.
Ich fasse zusammen: Wenn es darum geht, die Ziele,
die im Grünbuch formuliert sind, zu erreichen, wird reine
Verkehrspolitik immer Flickschusterei bleiben. Attraktive
Stadtverkehrskonzepte müssen zunächst einmal sozialen Grundsätzen folgen und alle Menschen einschließen.
Wir befürworten ein ganzheitliches Konzept. Aus diesem Grund erhält der vorliegende Entschließungsantrag
nicht unsere Zustimmung.
Danke.
({4})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Peter Hettlich,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Patrick Döring, du hattest das Verkehrskonzept der Hamburger FDP für städtische Mobilität hervorgehoben. Wenn das wirklich so gut ist, frage
ich mich natürlich, warum die FDP dort nur 4,8 Prozent
bei der letzten Wahl bekommen hat.
({0})
Was aus der Forderung nach Einführung einer Citymaut
in Hamburg wird, werden wir ja sehen. Ich habe übrigens nicht auf meinem Schirm gehabt, dass Hamburg
von unserer Seite aus prioritär für solch ein Vorhaben ins
Spiel gebracht worden wäre. Aber auf den Punkt
Citymaut werde ich gleich noch einmal gesondert eingehen.
Dann bist du auf das Thema „Mobilität in der Stadt“
anhand der aktuellen Situation in Berlin eingegangen.
Das ist in der Tat ein delikates Thema. Ich frage mich
natürlich, welche Schlüsse ich aus deinen Bemerkungen
zu ziehen habe. Willst du, dass wir die Straßennetze der
Städte darauf ausrichten, dass sie, wenn der öffentliche
Verkehr aufgrund von Streiks ausfällt, den gesamten privaten Individualverkehr aufnehmen können? Oder willst
du, dass wir in Zukunft Streiks verbieten, damit der öffentliche Verkehr garantiert werden kann? Ich glaube,
die Situation in Berlin zeigt ganz deutlich, wie wichtig
öffentlicher Verkehr gerade in dieser Stadt ist. Aber auch
in anderen Städten merken wir dann, wenn er nicht mehr
funktioniert, wie wichtig er ist. Die Stärkung des öffentlichen Verkehrs - diesen Punkt finden wir ja auch im
Grünbuch wieder - ist eine ganz zentrale grüne Forderung. In dieser Frage bleiben wir hart. Davon werden wir
nicht abgehen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben im Ausschuss schon über das Grünbuch diskutiert. Es ist ein
viel besseres Papier, als es von vielen hier dargestellt
wird. Ich warne auch davor, hier immer wieder reflexartig zu sagen, die Subsidiarität dürfe nicht angetastet
werden. Ich sage noch einmal: Sie stellt auch für uns ein
sehr hohes Gut dar, aber sie entbindet uns nicht von der
Pflicht, hinzuschauen, was funktioniert und was nicht
funktioniert. Getreu dem Motto „Die Gedanken sind
frei“ lasse ich mir als Bundespolitiker nicht verbieten
und möchte ich auch Europapolitikern nicht verbieten,
über die Frage der Mobilität in der Stadt zu diskutieren
und entsprechende Vorschläge zu machen.
({2})
Angesichts der Situation in unseren Städten kann ich
deinen Ausführungen, lieber Patrick Döring, nicht zustimmen. Ich weiß nicht, wie du dazu kommst, ein derartiges Idealbild von den deutschen Städten zu entwerfen.
({3})
Schauen wir uns einmal die Fakten an: In den Städten
entstehen 70 Prozent der Luftschadstoffe und 40 Prozent
des verkehrsbedingten CO2, und ein Drittel der tödlichen
Unfälle findet dort statt. Davon sind vor allen Dingen
Fußgänger und Radfahrer betroffen. Angesichts dessen
muss man sich fragen, ob die Situation wirklich so toll
ist, dass wir uns zurücklehnen können und nichts mehr
machen müssen. Nein, all dies gibt Anlass, uns stärker
mit den Vorschlägen des EU-Grünbuchs auseinanderzusetzen.
({4})
Wir leben in Deutschland allerdings auch ein bisschen
in einer paradoxen Welt. Die Menschen wollen auf der
einen Seite in einer europäischen Stadt leben, aber auf
der anderen Seite wünschen sie sich als Autofahrer am
liebsten automobilzentrierte Zustände wie in amerikaniPeter Hettlich
schen Städten. Deshalb sagen viele Leute auch ganz realistisch: In diesen europäischen Städten, in denen bevorzugt Mobilität stattfindet, für die diese Städte eigentlich
nicht gedacht sind, wollen wir nicht leben. Wenn es anders wäre, gäbe es ja keine Suburbanisierung. Wenn man
die Leute fragt, warum sie aus der Stadt wegziehen - ich
empfehle hierzu die neue Studie des BBR, in der es darum geht, unter welchen Umständen Leute eventuell in
die Stadt zurückziehen würden -, erhält man sehr erschreckende Antworten: Nur 15 Prozent der Deutschen
wollen in Großstädten leben, und nur 35 Prozent der
Großstädter wollen in Zukunft noch in Großstädten leben. Wenn das kein Grund ist, um tätig zu werden, dann
brauchen wir eigentlich gar keine Diskussion mehr zu
führen.
Schauen Sie sich einmal an, wie sich die Kernstädte
aufgrund des demografischen Wandels entwickeln: Die
Kernstädte werden in Zukunft ebenso wie übrigens die
peripheren Räume Bevölkerung verlieren; Zuwachs wird
es nur in den Räumen geben, die wir als Speckgürtel bezeichnen. Dabei wissen wir ganz genau, dass solche
Speckgürtel sehr problematisch sind. Der Kollege
Hofbauer sagt daher zu Recht: Wir müssen uns gerade
bei der Frage der Mobilität über Möglichkeiten zur interkommunalen Zusammenarbeit verständigen.
({5})
Hier gibt es erheblichen Handlungsbedarf. Klaus
Hofbauer hat recht, wenn er sagt: In den Städten arbeiten
und auf dem Lande wohnen, das funktioniert nicht. Das
geht immer zulasten anderer. Über diesen Punkt müssen
wir also auf jeden Fall diskutieren; hier müssen wir tätig
werden.
Wir diskutieren bei fast jeder Sitzung hier im Bundestag über die Frage des Klimaschutzes. Insofern besteht
doch gar kein Grund, sich über die Forderungen, die wir
aufgestellt haben, aufzuregen. Eine Forderung lautet:
Reduktion der CO2-Emissionen in den Städten um
20 Prozent bis 2020 und um 80 Prozent bis 2050. Was ist
denn daran schlimm? Auch an der Forderung, die Zahl
der Verkehrstoten zu halbieren - das steht ja auch in der
Europäischen Charta für Straßenverkehrssicherheit -,
kann ich nichts Schlimmes finden. Welche dieser Forderungen könnte man den Leuten nicht ins Stammbuch
schreiben?
Zur Citymaut sage ich ganz klar: Ich halte dies nicht
für die Paradelösung für alle Städte. Man muss genau
hinschauen. Ich weiß nicht, ob die Citymaut beispielsweise in Hamburg oder Stuttgart funktioniert; das sollen
die Kommunen selber entscheiden. Aber lassen Sie uns
darüber diskutieren, ob dies tatsächlich ein interessantes
Lenkungsinstrument ist. Ich finde, dass wir uns an dieser
Stelle unnötigerweise beschränken.
In unserem Entschließungsantrag steht auch, dass wir
die Städte unterstützen müssen. Es nützt nichts, die
Kommunalpolitiker alleine zu lassen; wir müssen sie unterstützen. Das können wir auch finanziell machen. Hier
gibt es eine Menge Möglichkeiten.
Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Die Zukunft der Städte
liegt in unseren Händen, in den Händen nicht nur der
Bundespolitiker, sondern auch der Kommunalpolitiker.
Insofern gibt es keinen Grund, an dieser Stelle über das
Grünbuch zu jammern. Wir sollten vielmehr versuchen,
die Dinge in aktuelle Politik umzusetzen.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Ulrich Kasparick.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst gilt mein Dank den Koalitionsfraktionen für den
Entschließungsantrag. Die Bundesregierung hat auf das
Angebot der Europäischen Kommission reagiert, sich an
einem europäischen Diskussionsprozess, „Grünbuch“
genannt, zu beteiligen, der auf folgende Problemlage
eine Antwort finden muss: 60 Prozent der EU-Bürger
leben in Städten mit mehr als 10 000 Einwohnern, in
denen 85 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der EU produziert werden. Mittlerweile haben wir einen volkswirtschaftlichen Schaden durch Staus, Lärm und Verspätungen von 100 Milliarden Euro pro Jahr. Diesen
volkswirtschaftlichen Schaden können wir nicht einfach
hinnehmen. Peter Hettlich hat es bereits gesagt: EU-weit
40 Prozent der CO2-Emissionen im Nahverkehr und
70 Prozent der sonstigen Schadstoffe entstehen in Städten. Ein Drittel der tödlichen Unfälle ereignet sich in
Stadtgebieten. Das ist die Herausforderung, vor der wir
stehen.
Die Frage ist, wie wir damit umgehen. Die Kommission hat einen breiten europäischen Konsultationsprozess angeregt, den wir ausdrücklich begrüßen. Wir brauchen diesen Konsultationsprozess, weil uns der Befund
sagt, dass dringender Handlungsbedarf besteht. Wir
müssen uns um einen integrierten Politikansatz in den
Städten bemühen.
Mich freut, dass Deutschland gegenüber Brüssel mit
einer Stimme spricht. Wir - Bundesrat, Koalitionsfraktionen und Bundesregierung - sind uns einig, was die
Beachtung des Subsidiaritätsprinzips betrifft. Mich freut
insbesondere, dass die Kommission zugesagt hat, dies zu
beachten.
Warum brauchen wir eine Diskussion auf breiter
Ebene? Es gibt gute Beispiele, die wir aus Deutschland
beisteuern können; aber auch in Deutschland besteht
Handlungsbedarf. So sehen wir, dass in den Stadtplanungsämtern noch zu wenig integrierte Ansätze verfolgt
werden. Beispielsweise machen wir die Erfahrung, dass
es noch nicht überall selbstverständlich ist, in Stadtentwicklungskonzepten verstärkt über nicht motorisierten Individualverkehr zu sprechen. Dabei kann uns ein europäischer Diskussionsprozess sehr unterstützen. Wir erwarten
mit großer Spannung, was im Herbst als konkreter Maßnahmenvorschlag aus Brüssel an die Nationalstaaten geleitet werden wird. Wir werden diese konkreten Vorschläge auf ihre Umsetzbarkeit hin überprüfen. Dabei
wird zu prüfen sein, was der Bund, die Länder und die
Kommunen direkt tun können. Insgesamt ist der Konsultationsprozess, den die Kommission angestoßen hat, aus
deutscher Sicht begrüßenswert.
Ich lade Sie ein, sich über den heutigen Beschluss hinaus zusammen mit dem zuständigen Fachressort an dieser Diskussion zu beteiligen, damit wir ein großes Problem unserer Volkswirtschaft besser lösen als in der
Vergangenheit; denn einen volkswirtschaftlichen Schaden in Höhe von 100 Milliarden Euro, der durch Staus
und Lärmemissionen verursacht wird, können wir nicht
akzeptieren. Ich freue mich sehr auf die praktischen Vorschläge, die wir im Konsultationsprozess miteinander erarbeiten können. Best practice haben wir als Kommunikationsmechanismus verabredet. Deutsche Städte können
eine Menge dazu beitragen.
Herzlichen Dank für Ihre politische Unterstützung.
({0})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Bernhard Kaster,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Das von der Europäischen Kommission
vorgelegte Grünbuch umfasst 25 Textseiten mit 25 klug
formulierten Fragen, die jetzt im Rahmen einer Anhörung an die Öffentlichkeit und an uns, das nationale Parlament, gerichtet werden. Die entscheidende Frage wird
aber nicht gestellt: Brauchen wir überhaupt dieses Grünbuch?
({0})
Man kann auch die Frage stellen: Hat ein Grünbuch
überhaupt eine Bedeutung? Dass es Bedeutung hat, kann
allerdings mit einem klaren Ja beantwortet werden.
Das heute zur Debatte stehende Grünbuch gibt die
Antwort darauf selbst. In diesem Grünbuch wird ein Aktionsplan angekündigt. Es werden für ganz Europa Regulierung, Rechtsetzung und einheitliche Richtlinien auf
dem Gebiet der städtischen Verkehrspolitik angekündigt.
Lassen Sie mich an dieser Stelle auf Folgendes hinweisen: Man muss bei Stellungnahmen zu Grünbüchern aufpassen. Das kann sich nämlich später in der Begründung
von europäischem Recht niederschlagen. Das können
Sie in manchem Urteil des Europäischen Gerichtshofes
nachlesen; denn dort hat das schon Eingang gefunden.
({1})
So werden konkrete Legislativ- und Harmonisierungsvorschläge angedacht, etwa für das Citymautsystem - das
ist schon gesagt worden -, zur Parkraumbewirtschaftung,
für standardisierte Telematikanwendungen im öffentlichen Personennahverkehr, für Definitionen von Schnittstellen beim Fahrgeldmanagement oder für einheitliche
Vorgaben im Bereich der Citylogistik im Güterverkehr.
Dazu sage ich ausdrücklich: In den Städten ist in all diesen Teilbereichen schon vieles mit großer Kreativität auf
den Weg gebracht worden.
({2})
Es liegen auch schon viele Erfahrungen sowohl in positiver als auch in kritischer Form vor; dazu gehört auch das
Thema Citymaut.
Wenn wir uns über die Sinnhaftigkeit all dieser Vorschläge unterhalten, müssen immer drei Gesichtspunkte
im Vordergrund stehen: erstens das Subsidiaritätsprinzip
und zweitens die Verhältnismäßigkeit. Drittens ist zu
prüfen, ob dadurch ein europäischer Mehrwert gegeben
ist. Dazu heißt es im Grünbuch:
Europas Städte unterscheiden sich alle voneinander.
- Wie wahr! Aber sie stehen vor ähnlichen Herausforderungen …
Das klingt gut, das klingt schön, und das ist sogar richtig. Aber was folgert die Kommission daraus? Die Kommission folgert daraus: Wir brauchen gemeinsame Lösungen, wir brauchen europäische Vorgaben, wir
brauchen europäisches Recht. - Genau das ist falsch.
({3})
Die kommunale Selbstverwaltung und die Planungshoheit unserer Städte sind Garanten dafür, dass im Wettbewerb der Städte und Metropolen die lokal bestmöglichen Lösungen von den lokalen Akteuren, das heißt von
den Kommunalpolitikern, den Bürgern und der Wirtschaft in den Städten, gesucht werden.
({4})
Die kommunale Selbstverwaltung ist für uns ein wirklich hohes Gut. Wir müssen aufpassen, dass sie nicht
durch eine europäische Überregulierung ausgehöhlt
wird.
({5})
Selbstverständlich brauchen wir einen europäischen
Erfahrungsaustausch. Die hierzu im Grünbuch gemachten Vorschläge weisen in die richtige Richtung. Erfahrungsaustausch und Datenerhebungen sind Dinge, die zu
begrüßen sind. Aber eines brauchen wir beispielsweise
überhaupt nicht - es ist inzwischen das liebste Kind der
Kommission geworden -: eine Agentur. Diese bürokratischen Monster überziehen inzwischen ganz Europa. Es
sind inzwischen 37. Im Grünbuch hat man nur eine Namensumbenennung vorgenommen. Es heißt nicht mehr
„Agentur“; es heißt jetzt „Beobachtungsstelle für die
Mobilität in der Stadt“.
({6})
- Ganz genau; es ist das Gleiche.
Der geltende EG-Vertrag wie auch der künftige Vertrag von Lissabon beinhalten da, wo es vernünftig ist,
wichtige Zuständigkeiten für die europäische VerkehrsBernhard Kaster
politik. Ich will ein paar Beispiele nennen: gemeinsame
Regeln für Verkehrsunternehmen, ein gemeinsames Verkehrszulassungsrecht, gemeinsame Sicherheitsbestimmungen oder den großen Komplex der transeuropäischen Netze. Da ist das vernünftig.
({7})
Zugleich verpflichten die bereits geltenden europäischen Verträge und erst recht der noch zu ratifizierende
Vertrag von Lissabon die Gemeinschaftsorgane zur Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips. Nicht nur die Kommunalpolitiker in unseren Städten, nein, alle Bürger werden
dankbar dafür sein, wenn wir dieses Subsidiaritätsprinzip
ernst nehmen - auch und gerade für weniger Bürokratie in
Europa.
Jeder, der sich einmal speziell durch den Brüsseler
Stadtverkehr gekämpft hat, hat ein gewisses Verständnis
dafür, dass sich gerade die Europäische Kommission in
Brüssel so umfangreich Gedanken über flüssigeren Verkehr, über intelligentere Nahverkehrslösungen macht.
({8})
Aber als Antwort darauf einen Aktions- und Bürokratieplan für ganz Europa vorzusehen, ist der falsche Weg.
Vielen Dank.
({9})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Martin Burkert, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Besucherinnen und Besucher auf der Tribüne! Herr Kaster, damit kein falscher Eindruck entsteht, möchte ich zu Beginn meiner Rede klarstellen,
dass wir in einer Koalition sind und den Antrag gemeinsam erarbeitet haben.
({0})
Herr Kaster, ich will daran erinnern, dass in Brüssel jetzt
ein kompetenter Bayer sitzt; Sie können ja mal überlegen,
wen ich meine. Deswegen sehen wir keine Gefahr - da
können Sie sicher sein -, wenn es in Brüssel um Dinge
wie Bürokratie geht.
Als im Jahr 1971 das erste bundesweite Umweltprogramm vorgelegt wurde, hatte die Europäische Gemeinschaft schon zwei Umweltrichtlinien verabschiedet.
Noch heute gilt: Viele Standards, die wir beim Umweltschutz erreicht haben, gehen auf europäische Initiativen
zurück. Wir von der SPD wissen daher um die Bedeutung des europäischen Einflusses auf den Umweltschutz.
Wenn sich die EU nun den Problemen des Stadtverkehrs
zuwendet, werden wir daher nicht gleich auf eine kategorische Blockade einschwenken.
Die FDP hatte dem Ausschuss einen Antrag vorgelegt, in dem von Angriffen der europäischen Ebene die
Rede ist, welche die Mobilität der Menschen verschlechtern und verteuern wolle.
({1})
Diese Rhetorik, sehr geehrter Herr Döring, ist völlig
überzogen. Europa ist keine Einbahnstraße. Das zeigt im
Übrigen wieder einmal, was die FDP von umweltpolitischer Verantwortung hält.
({2})
Die Kommission verfolgt mit ihrem Grünbuch drei
Zielrichtungen: Erstens. Der Verkehr in den Städten soll
flüssiger werden. Zweitens. Die Städte sollen sauberer
werden. Drittens. Der Nahverkehr soll attraktiver werden. Diese Ziele sind doch wohl absolut zu begrüßen.
({3})
Anstatt sofort zu blockieren, ergreifen wir die
Chance, die uns das Grünbuch liefert. Wir nehmen die
Handreichung der Kommission ernst und wollen, dass
sich der Bundestag am Konsultationsverfahren beteiligt.
Im Zuge dieser Beteiligung wollen wir die positiven Ansätze für den Umweltschutz in den Städten unterstützen.
Als positive Ansätze bewerten wir zum Beispiel den europaweiten Erfahrungsaustausch, die Anregungen zur
Optimierung des motorisierten Stadtverkehrs und zur
Förderung intelligenter Verkehrssysteme.
({4})
Ich habe mich in meiner Heimatstadt Nürnberg erkundigt. Dort wurde mir bestätigt, dass man neue Rechtsakte
der EU durchaus kritisch sehen würde. In diesem Sinn
hat sich auch der Deutsche Städtetag gegen Eingriffe in
die kommunale Selbstverwaltung ausgesprochen.
({5})
Diese Bedenken der Kommunen berücksichtigen wir in
unserem Antrag.
({6})
Weil wir aber auch um die Chancen und Potenziale eines
gemeinsamen Vorgehens wissen, wollen wir die Tür
nicht zuschlagen. Stattdessen agieren wir umweltpolitisch vernünftig. Wir fordern die Kommission auf, sich
an die Kompetenzverteilung zu halten, und plädieren
gleichzeitig dafür, auf europäischer Ebene nach Wegen
zu suchen, wie die Städte bei der Umsetzung eines nachhaltigen Stadtverkehrs wirksam unterstützt werden können.
Im Unterschied zur FDP haben wir einen ausgewogenen Antrag vorgelegt, mit dem die positiven Aspekte unterstützt werden, und gleichzeitig den Appell formuliert,
die Kompetenzverteilung zu beachten. Er verdient die
Unterstützung des Hohen Hauses. Ich bitte Sie, sich auf
die Beschlussempfehlung des Ausschusses einzulassen
und entsprechend abzustimmen.
Danke.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf
Drucksache 16/8360 zu der Unterrichtung durch die
Bundesregierung mit dem Titel „Grünbuch - Hin zu einer neuen Kultur der Mobilität in der Stadt“. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine
Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke und der Grünen bei Stimmenthaltung
der FDP angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/8415. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Fraktion die Grünen abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Kersten Naumann, Heidrun Bluhm, Petra Pau,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Förderung der demokratischen Teilhabe und
Stärkung des Petitionsrechts
- Drucksachen 16/2181, 16/6785 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Kersten Naumann, Fraktion Die Linke, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die da oben machen doch sowieso, was sie wollen. Diese Haltung vieler Menschen bestätigte kürzlich der
Thüringen-Monitor. Als „Achillesferse“ der Demokratie
bezeichneten die Jenaer Wissenschaftler die „als unzureichend wahrgenommene Bereitschaft der politischen
Eliten, Anliegen der Bürger … ernst zu nehmen.“
80 Prozent der Befragten meinen, dass die Parteien nur
auf Stimmenfang aus sind. Zwei Drittel glauben, keinen
Einfluss darauf zu haben, was die Regierung tut - so die
Autoren der Untersuchung.
Deutlicher Beweis dieser Stimmung sind die zahlreichen Beschwerden an die Bundesregierung und an den
Bundestag, insbesondere gegen die sozialen Ungerechtigkeiten, die Gesundheits- und die Rentenreform,
Hartz IV und die Praxisgebühr, um nur einige zu nennen.
In der Antwort auf unsere Frage, welche Rolle Petitionen im Gesetzgebungsverfahren spielen, lesen wir - ich
zitiere -:
Die Berücksichtigung von Erkenntnissen, die aus
Bitten und Beschwerden der Bürgerinnen und Bürger gewonnen werden, ist für den gesamten Bereich
der Gesetzgebungsarbeit und Verwaltungstätigkeit
des Bundes selbstverständlich. Die Zusammenarbeit der Bundesministerien mit den Bundesbeauftragten und den Beauftragten der Bundesregierung
… spielt hierbei eine wichtige Rolle.
Nicht die Zusammenarbeit mit dem Petitionsausschuss spielt eine wichtige Rolle, sondern die mit den
Bundesbeauftragten und den Beauftragten der Bundesregierung. Da stellt sich doch die Frage: Wie ernst nimmt
die Bundesregierung eigentlich den Petitionsausschuss
und dessen Beschlüsse?
({0})
Die Frage beantwortet sich anhand folgender Zahlen
aus den letzten zwei Jahren von selbst. Von den im Petitionsausschuss meist einstimmig gefassten 165 Erwägungs-, Berücksichtigungs- und Materialüberweisungen
an die Bundesregierung wurden - bei 114 abgeschlossenen - lediglich 38 positiv, aber 76 negativ beschieden.
Das sind 66 Prozent Negativbescheide.
Ich nenne hier nur ein Beispiel für die Ignoranz der
Bundesregierung gegenüber Beschlüssen des Petitionsausschusses: Mehrere Bürgerinnen und Bürger wandten
sich mit einer Petition gegen die Kürzung der Regelleistung im Falle eines Krankenhausaufenthaltes. Da dieser
Vorgang dem Willen des Gesetzgebers widersprach,
überwies der Petitionsausschuss die Petition der Bundesregierung zur Erwägung, weil die Eingabe Anlass zu einem Ersuchen an die Bundesregierung gab, das Anliegen noch einmal zu prüfen und nach Möglichkeiten der
Abhilfe zu suchen. Was machte die Bundesregierung?
Sie schaffte keine Abhilfe, sondern binnen sechs Wochen beschloss sie, Unrecht zu Recht zu machen, und
entsprach so in keiner Weise dem einstimmigen Votum
des Petitionsausschusses.
Da verwundert es nicht, wenn die Bundesregierung
auf die Frage nach der Bedeutung von Überweisungsbeschlüssen durch den Petitionsausschuss an sie lediglich
antwortet - ich zitiere -:
Die Bundesregierung verfährt mit den an sie gerichteten Überweisungsbeschlüssen des Petitionsausschusses nach Maßgabe ihrer Prüf- und Berichtspflichten.
Das spricht doch Bände. Man nimmt diese Beschlüsse
nicht auf, um die Politik auf den Prüfstand zu stellen,
sondern man kommt lediglich den Berichtspflichten
nach.
Staatliche Sozialsysteme erfuhren in den letzten Jahren massive Einschränkungen und wurden abgebaut. Die
Berichte über Kinderarmut, über die Situation von Rentnern, kranken und behinderten Menschen sowie Migranten belegen diese Entwicklung in erschreckender Weise.
Die Sozialgerichte registrieren einen drastischen Anstieg
der Zahl der Klagen und der eingereichten Widersprüche. Diese Klageflut hat ihre Ursachen. Die Menschen
fühlen sich in ihren individuellen Rechten massiv beschnitten.
({1})
Mit keinem Wort wurde in der Antwort auf unsere
Große Anfrage auf direktdemokratische Mittel wie
Volksinitiativen eingegangen. Die Bürger wollen allerdings mehr mitreden. Aber auf Bundesebene gibt es das
Mittel der Volksinitiative nicht. Es können nur Massenpetitionen eingereicht werden. Die Linke ist der Auffassung, dass sie in den Stand von Volksinitiativen gehoben
werden sollten.
({2})
Viele von ihnen sind von größter öffentlicher Brisanz
und von größtem Interesse. Sie betreffen zum Beispiel
das NPD-Verbot, den Afghanistan-Einsatz, die Pendlerpauschale, die Praxisgebühr und die Rentenungerechtigkeit, um nur einige zu nennen. Doch auch hier entscheiden zwei Drittel des Bundestages gegen zwei Drittel der
Bevölkerung. Ist es dann noch verwunderlich, dass immer mehr Bürgerinnen und Bürger, wie eingangs zitiert,
sagen: „Die da oben machen doch sowieso, was sie wollen“?
Politikverdrossenheit verbreitet sich immer mehr. Die
schleichend zunehmende Wahlabstinenz ist dafür ein
starkes Indiz. Hinter der Sorge, das Volk entscheide
spontan und sei für komplexe Entscheidungen nicht reif,
verbirgt sich ein eigenartiges Demokratieverständnis.
Allen Unkenrufen zum Trotz hat ein Bürgerentscheid
das demokratische Modell noch nie ins Wanken gebracht, nicht einmal beim schwer überschaubaren Bürgerhaushalt, der in Köln und in Berlin-Lichtenberg praktiziert wird.
Bürgerbeteiligung ist sinnvoll, weil für eine Konsolidierung des Haushalts die Zustimmung der Menschen notwendig ist.
Dieses Zitat stammt nicht von einem Linken, sondern
von einem Finanzpolitiker der CDU-Fraktion in Hamburg. Wenn er im Bundestag säße, müsste er sich wahrscheinlich von seiner eigenen Fraktion eines Besseren
belehren lassen.
Meine Damen und Herren, abschließend möchte ich
sagen: Die Politik reagiert nicht mehr auf die gemeinschaftlichen Bedürfnisse der Bürger. Die Fraktion Die
Linke will das ändern. Wir fordern deshalb eine umfassende Demokratisierung aller Bereiche: hin zu einer bürgernahen Verwaltung, zu Bürgerbeteiligungsverfahren
und zu transparenten Strukturen.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort hat nun Kollege Günter Baumann, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren!
Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder
Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die
Volksvertretung zu wenden.
So unser Grundgesetz. Der Petitionsausschuss, meine
Damen und Herren von den Linken, ist ein hohes Gut
unserer Demokratie. Ich möchte eindeutig sagen: Dieses
hohe Gut der Demokratie hat sich bisher bewährt.
({0})
Wir Abgeordneten bemühen uns unter sehr großem
Arbeitsaufwand, jede einzelne Petition sach- und fachgerecht zu bearbeiten.
({1})
Wir haben einen Ausschussdienst, der mit Fachexperten
besetzt ist, die uns hervorragend zuarbeiten,
({2})
damit es uns leichter fällt, Entscheidungen zu treffen.
({3})
Frau Naumann sagte: Die Politikverdrossenheit nimmt
zu, die da oben reagieren nicht, und es funktioniert einfach nicht mehr. - Ich möchte Ihnen einige wenige Zahlen
nennen, die eine vollkommen andere Sprache sprechen.
Im letzten Jahr wurden beim Bundestag rund 17 000 Petitionen eingereicht. Zur Verdeutlichung: Das entspricht
ungefähr 65 Petitionen pro Tag.
({4})
- Ich werde Ihnen gleich erklären, was damit passiert.
Außerdem gibt es eine ganze Reihe von Massen- und
Sammelpetitionen. Dazu will ich Ihnen noch eine Zahl
nennen: Jedes Jahr beteiligen sich daran etwa
500 000 Bürger. Dieses System wird also umfassend genutzt. Das Beispiel, das Sie vorhin angeführt haben, war
eine Verzerrung der Wirklichkeit. Denn von allen Petitionen, die bei uns eingereicht werden, werden etwa
35 Prozent für die Bürger positiv beschieden,
({5})
in welcher Form auch immer. Sie sollten also nicht den
Eindruck erwecken, dass „dort oben“ nichts passiert.
Das ist eine falsche Darstellung.
({6})
Ich verstehe nicht, wie Sie im Deutschen Bundestag
ernsthaft behaupten können, die Rechte der Bürger würden beschnitten;
({7})
denn gerade das Petitionsrecht wird von den Bürgern
ausgiebig genutzt.
Selbstverständlich kann das Petitionsrecht noch verbessert werden. Insbesondere in den letzten Jahren sind
einige Neuregelungen getroffen worden. Wir haben die
Möglichkeit geschaffen, Petitionen per E-Mail einzureichen. Diese Möglichkeit wird von den Bürgern genutzt.
Ungefähr 10 Prozent der Petitionen werden per E-Mail
eingereicht. Man kann also nicht sagen, die Bürger würden das nicht akzeptieren.
({8})
Darüber hinaus gibt es die Form der öffentlichen Petition; im letzten Jahr wurden etwa 600 von ihnen eingereicht. Bei öffentlichen Petitionen hat man die Möglichkeit, im Internet mit zu unterzeichnen und einen
Kommentar abzugeben.
({9})
Auch dazu eine Zahl: Im letzten Jahr wurden von den
Bürgerinnen und Bürgern knapp 900 000 Einträge vorgenommen. Man kann also nicht sagen, sie würden diese
Möglichkeit nicht akzeptieren und sich nicht beteiligen.
Das ist eine falsche Darstellung.
({10})
In dieser Wahlperiode haben wir bereits sechs öffentliche Sitzungen zu Petitionen aus den Bereichen Berufspraktika, Nichtraucherschutz, nichteheliche Lebensgemeinschaften, Wahlrecht, Steuer und Verkehr
durchgeführt. Die Beteiligung der Bürger war hoch. Das
zeigt, dass man nicht pauschal von Politikverdrossenheit
sprechen kann.
Wir gehen auch auf Messen. Am Wochenende sind
wir auf der Thüringen-Ausstellung in Erfurt.
({11})
Ich habe gerade auf Messen immer wieder erlebt, dass
die Bürger dankbar sind, mit uns ins Gespräch kommen
zu können. Man kann also nicht sagen: Die da oben sind
weit weg.
Die Arbeit des Petitionsausschusses wird von den
Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land angenommen. Unsere Bilanz kann sich sehen lassen. Insofern
stellt sich die Frage: Was will die Linke mit ihrer Großen
Anfrage? Wir haben Ihnen bereits im Juni letzten Jahres
eine klare Antwort gegeben. Sie wollen ein anderes Petitionsrecht, Sie wollen einen anderen Staat, Sie wollen
ein anderes Land.
({12})
Wir werden das nicht mitmachen.
({13})
Das Petitionsverfahrensrecht, eine Angelegenheit des
Deutschen Bundestages und ein Instrument der parlamentarischen Kontrolle, ist nicht zu verwechseln mit
Eingaben an die Regierung. Exekutive und Legislative
sind zwei ganz verschiedene Dinge.
({14})
- Das haben Sie inzwischen gelernt? Das freut mich.
Doch Sie haben, wie aus Ihren Fragen und Unterstellungen hervorgeht, nach wie vor ein einseitiges Verständnis
des Funktionierens von Legislative und Exekutive.
Neben dem Forum des Petitionsausschusses gibt es
die Regierungsbeauftragten. Gewiss kann man die Meinung vertreten, wir hätten zu viele davon; diese Meinung
habe auch ich schon vertreten. Aber es bleibt festzuhalten: Die Regierung ist von uns unabhängig, die Arbeit
des Petitionsausschusses wird in keiner Form untergraben. Im Petitionsausschuss geht es um ganz spezielle
Fachgebiete und Sachgebiete. Ein Monopol für die Bearbeitung von Bürgerproblemen gibt es nicht. Es gibt mehrere Stellen, die dafür zuständig sind. Insgesamt funktioniert das im Bundestag und bei der Regierung gut.
Ferner gibt es die Ombudsleute der Länder; auch sie sind
eine Bereicherung.
Eine Instrumentalisierung des Petitionsrechts, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Linken, werden wir
nicht mitmachen.
({15})
Ich will auf einige Punkte Ihrer Anfragen eingehen.
Beim Thema Asyl fordern Sie, dass ein laufendes Petitionsverfahren aufschiebende Wirkung hat. Sie wollen,
dass für die Dauer des Petitionsverfahrens eine Duldung
eingeführt wird. Das ist das Gegenteil von dem, was in
unseren Gesetzen steht. Eine Härtefallkommission auf
Bundesebene wird es nicht geben. Wir haben Regelungen in den Ländern, die hervorragend funktionieren.
({16})
- Sie funktionieren hervorragend.
({17})
- Sie können sich vor Ort informieren.
Der Petitionsausschuss ist kein Fachausschuss, der
Gesetze in den Bundestag einbringen könnte, Frau
Naumann.
({18})
Das ist nicht unsere Aufgabe. Unsere Aufgabe ist es,
Probleme, Bitten, Anregungen der Bürger zu bearbeiten.
Davon haben wir, lieber Josef Winkler, jede Woche mehGünter Baumann
rere auf unserem Schreibtisch. Wir machen hier eine hervorragende Arbeit.
({19})
Ich möchte im Zusammenhang mit den Anfragen
noch ansprechen, dass wir es nicht zulassen werden, dass
die Linksfraktion das Petitionsrecht missbraucht,
({20})
wie es in der letzten Zeit mehrmals passiert ist. Wir werden nicht zulassen, dass die Linkspartei auf Bögen, auf
deren Kopf „Die Linke“ steht, Unterschriften sammelt
und mit ihren Parteifotografen aus der öffentlichen Annahme der Petition eine Show macht.
({21})
Dann findet eben keine öffentliche Annahme von Petitionen mehr statt, zum Nachteil der Petenten. So haben
wir leider reagieren müssen.
({22})
Eines zum Schluss - meine Redezeit geht zu Ende -:
Ich finde es als Bürger der neuen Bundesländer unerträglich, wenn sich ausgerechnet diejenigen, die an menschenverachtenden Aktionen mit schuld sind, im Petitionsausschuss mit höchsten Voten für Opfer des SEDRegimes einsetzen.
({23})
Die Linkspartei verhöhnt die Opfer. Das ist unerträglich.
({24})
Ich komme zum Schluss. Das Petitionsrecht ist ein
hohes Gut in unserer lebendigen Demokratie, und - das
sage ich deutlich - es funktioniert auch. Die Bürger nehmen es an. Wir haben keine Veranlassung, es aus parteipolitischen Gründen - weil die Linken dies wollen - zu
verändern.
Vielen Dank.
({25})
Das Wort hat nun Jens Ackermann, FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Wir beraten heute die Große Anfrage der Linken zum Petitionsrecht. Die Antwort der Bundesregierung hat einige Zeit auf sich warten lassen.
({0})
Das war notwendig, weil der größte Teil der Fragen
nichts mit dem Petitionsrecht zu tun hat.
({1})
Dennoch sind die Antworten präzise und angemessen.
Dafür danke ich den unbekannten Verfassern.
({2})
Die Große Anfrage der Linken gleicht einem Stochern im Nebel. Sie vermischen Fragen und Forderungen. Was Sie herausfinden möchten, wird nicht recht
klar.
({3})
Was möchten Sie? Möchten Sie mehr Bürgernähe? Im
Petitionswesen haben wir Gott sei Dank viel Bürgernähe. Wir besuchen Messen und sind vor Ort.
Möchten Sie mehr Transparenz? Auch das haben wir
im Petitionswesen bereits. Wir tagen öffentlich. Unsere
Sitzungen sind im Internet nachzuvollziehen.
Möchten Sie mehr Kontrolle? Auch das haben wir im
Petitionswesen. Wir - der Deutsche Bundestag - sind
das Kontrollorgan.
({4})
Frau Naumann, Sie haben ausgeführt, dass Bedeutung, Ausübung und Effektivität des Petitionsrechts von
Regierung, Parlament und Medien unterschätzt werden.
Das mag zwar sein, aber auf sie kommt es nicht an. Es
geht um die Bürgerinnen und Bürger. Sie sind wichtig.
Die Menschen machen regen Gebrauch von ihrem Petitionsrecht.
Die FDP steht für eine Stärkung der Bürgergesellschaft, für mehr Eigenverantwortung und mehr Bürgerbeteiligung.
({5})
Wir haben am Anfang dieser Legislaturperiode einen
Gesetzentwurf in den Deutschen Bundestag eingebracht,
der die Einführung von Volksinitiativen, Volksbegehren
und Volksentscheiden in das Grundgesetz fordert. Es ist
in der Tat notwendig, dass sich die Bürgerinnen und Bürger stärker an den politischen Prozessen beteiligen. Die
FDP möchte mehr Bürgerbeteiligung. Das Petitionswesen leistet einen Beitrag dazu. Es ist ein hohes Gut in unserem Land.
Oft ist eine Petition der letzte Strohhalm der Bürgerinnen und Bürger, wenn sie nicht mehr weiterwissen.
Alle Fraktionen im Hause sind verpflichtet, sich der
Nöte und Sorgen der Petenten anzunehmen.
({6})
Ein klug genutztes Petitionsrecht kann Schritt für
Schritt für mehr Bürgernähe und mehr Transparenz sorgen. Um dieses kostbare Gut zu bewahren, müssen wir
alle darauf achten, wie wir als Abgeordnete damit umgehen.
({7})
Zwei Punkte sollten vermieden werden. Erstens darf
der Petitionsausschuss nicht dazu missbraucht werden,
politische Schlachten auszutragen. Das können wir in
jedem anderen Ausschuss tun und unsere unterschiedlichen Ansätze zum Tragen bringen - sei es in der Steuerpolitik, in der Bildungspolitik oder in der Gesundheitspolitik -, aber nicht im Petitionsausschuss. Im
Petitionsausschuss müssen wir das Anliegen des einzelnen Bürgers betrachten. Darum muss es gehen. Die politischen Schlachten müssen außen vor bleiben.
({8})
Zweitens müssen Petitionen auch dann zügig bearbeitet werden, wenn sie innerhalb der Koalitionsfraktionen
strittig sind. Eine Verschleppung aus parteitaktischen Erwägungen haben die Petentinnen und Petenten nicht verdient.
Den politischen Missbrauch spreche ich aus einem
konkreten Anlass an. Die Obleute wurden im letzten
Jahr eingeladen, eine Petition mit vielen Unterschriften
gegen den Bundeswehreinsatz in Afghanistan entgegenzunehmen. Dieses Anliegen wurde ebenso ernst genommen wie jede andere Petition. Im Nachhinein hat sich
herausgestellt, dass dies eine Parteiaktion der Linken
war. Sie tun damit dem Petitionswesen keinen Gefallen.
Im Gegenteil: Damit gefährden Sie das Petitionswesen.
({9})
Der Gedanke an Parteitaktik drängt sich auch an anderer Stelle auf. Auf Initiative der FDP-Fraktion haben
wir den Ausschussdienst gebeten, eine Liste zu erstellen,
wie viele Petitionen noch in der Warteschleife sind. Oft
gibt es Beratungsbedarf, man muss sich noch einmal abstimmen, und eine Petition wird zurückgestellt. Dagegen
habe ich nichts einzuwenden. Aber in einigen Fällen
muss man schon erkennen, dass eine Petition dann, wenn
man sich nicht einigen kann, wieder und wieder vertagt
wird. Damit ist dem Petenten nicht geholfen. Er hat es
auch nicht verdient, dass es zu keinem Votum kommt,
bloß weil sich die Koalition nicht einigen kann.
({10})
Das darf meines Erachtens nicht sein.
Insgesamt ist unser Petitionswesen gut und notwendig. Es funktioniert. Das Petitionsrecht zu fördern, heißt,
Demokratie zu leben. Das ist das Ziel der FDP-Bundestagsfraktion.
({11})
Das Wort hat nun Michael Bürsch für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die
Große Anfrage der Linken behandelt zwei Themen: Förderung der demokratischen Teilhabe und Stärkung des
Petitionsrechts. Zum zweiten Teil wird meine Kollegin
Lösekrug-Möller das Passende sagen.
Gerade bei Themen wie der Förderung der demokratischen Teilhabe ist man auf der Suche nach Gemeinsamkeiten. Ich kann eine Gemeinsamkeit nennen, die uns
wahrscheinlich zur großen Überraschung der Fraktionen
alle eint. Es ist der erste Satz der Großen Anfrage:
Demokratie lebt von dem Engagement und der tatsächlichen Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger.
Genau richtig! Wie wahrscheinlich alle hier kann ich
dem zustimmen. Ansonsten schließe ich mich der Beurteilung des Kollegen Ackermann an. Auch ich weiß
nicht so recht, worauf das Ganze hinauslaufen soll. Ich
will in meinem Teil, Formen der Beteiligung, ein bisschen Licht ins Dunkel bringen und eine gewisse Systematik vorschlagen.
Zunächst einmal möchte ich zwei Feststellungen zu
diesem Thema treffen, die nicht ganz zueinander passen.
Auf der einen Seite gibt es in Deutschland ein beträchtliches Engagement. 23 Millionen Menschen in Deutschland sind engagiert; das ist die Feststellung des Freiwilligensurvey. Aus diesem Freiwilligensurvey wissen wir
auch, dass mehr als zwei Drittel der Menschen durch Engagement die Gesellschaft zumindest im Kleinen mitgestalten wollen. Wir wissen aus anderen Umfragen, dass
über 80 Prozent der deutschen Bevölkerung starkes oder
mittleres politisches Interesse haben. Es ist also nicht so,
dass die Deutschen kein Interesse an Politik haben.
Auf der anderen Seite wissen wir alle, dass sich das
nicht mit dem verträgt, was wir zum Beispiel in Sachen
Wahlbeteiligung erleben. Ich nenne hier als Stichwort
nur die Beteiligung von 64 Prozent bei der Wahl in
Hamburg. Wir erleben eine weiter sinkende Zahl an Parteimitgliedern. Auch bei der Bürgerbeteiligung sind die
Zahlen und Fakten leider nicht sehr erfreulich.
Ich nenne zwei Beispiele. Erstes Beispiel: Immer wieder - auch in Ihrer Anfrage - wird das Bürgerbegehren
genannt. Zwischen 1956 und 2005 sind in den rund
14 000 deutschen Kommunen weniger als 3 000 Bürgerbegehren durchgeführt worden. Wenn man das auf die
50 Jahre umrechnet, dann sind das nach Adam Riese pro
Jahr durchschnittlich 60 Bürgerbegehren, verteilt auf
alle 14 000 Kommunen. Das ist wirklich nicht beträchtlich.
Das zweite Beispiel ist die Bürgerkommune. Dieses
Modell, das Ende der 90er-Jahre mit einem wunderbaren
Konzept für Bürgerbeteiligung gestartet ist, ist nicht die
große Erfolgsgeschichte geworden. Die Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement hat selber
das Resümee gezogen: Bislang unterstützen die wenigsten Kommunen bürgerschaftliches Engagement aus dem
Blickwinkel der Schaffung einer bürgerorientierten
Kommune. Ich könnte die Beispiele noch erweitern. Fazit ist: Auf der einen Seite gibt es ein beträchtliches
Engagement und ein großes politisches Interesse, aber
auf der anderen Seite ein deutliches Defizit.
Was ist zu tun? Ich kann mit Fug und Recht auf die
Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages verweisen, der ich einmal vorgestanden habe. Sie hat das
Leitbild der Bürgergesellschaft vertreten. Das ist für uns
vielleicht eine Orientierung. Dort heißt es: Die demokratischen und sozialen Strukturen unseres Landes sollen
durch die aktiv handelnden, an den gemeinschaftlichen
Aufgaben teilnehmenden Bürgerinnen und Bürger mit
Leben erfüllt, verändert und auf zukünftige gesellschaftliche Bedürfnisse zugeschnitten werden.
Was kann das nur bedeuten? Offensichtlich entsprechen die Formen und Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung, die wir anbieten, nicht den Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger. Das Wichtigste ist vermutlich nicht
die Wahlbeteiligung; obwohl es seine Berechtigung hat,
die Wahlbeteiligung zu beobachten, sollten wir nicht nur
auf sie schauen. Es ist auch berechtigt - ich bin dafür -,
über Formen der direkten Demokratie nachzudenken.
Vermutlich ist viel wichtiger, echte Beteiligung anzubieten, das heißt, den Menschen eine Möglichkeit zu bieten,
die sie in Wahlen nicht mehr unbedingt sehen, nämlich
wirklich etwas mitzugestalten.
Man kann zum Beispiel den Bürgerinnen und Bürgern in Kommunen oder Bezirken die Möglichkeit eröffnen - in Berlin wird das zum Teil getan -, über den
Bürgerhaushalt ein wirkliches Mitspracherecht zu erhalten. Der Bürgerhaushalt ist schon vor 15 Jahren in Brasilien entwickelt worden. Jetzt gibt es hier in Berlin und
überall in Deutschland erfolgversprechende, erfreuliche
Modelle, die nichts an der repräsentativen Demokratie
ändern; denn weiterhin entscheiden die gewählten Repräsentantinnen und Repräsentanten am Ende über den
Haushalt. Die Bürgerinnen und Bürger werden über
wirkliche Mitsprachemöglichkeiten ernsthaft an der Entstehung und Entwicklung des Haushalts beteiligt. Sie
können darüber mitbestimmen, welche Prioritäten in einem Haushalt gesetzt werden.
Wir müssen uns fragen: Welche Formen der Mitbestimmung und der Beteiligung gibt es, damit Bürgerinnen und Bürger das Gefühl haben: Es geht nicht um eine
Alibi- oder Schaufensterveranstaltung, sondern es ist
wirklich ernst gemeint, es wird so praktiziert, wir nehmen daran teil? Der Bürgerhaushalt ist eine Form, die
ich empfehlen kann.
Eine zweite Form ist in den letzten zwei Jahren modellhaft erprobt worden: das Bürgerpanel. Die Idee
stammt aus England. Es ist eine viel weniger aufwendige
Form, Bürgerinnen und Bürger zu beteiligen, indem man
sie regelmäßig befragt; in der Stadt Nürtingen wird das
hervorragend umgesetzt. Es geht dabei um Fragen, die
die Kommune und damit die Bürgerinnen und Bürger essenziell betreffen.
Ein Modellversuch, der von der Verwaltungshochschule Speyer betreut wird, hat zu sehr erfreulichen Ergebnissen geführt: Ein Bürgerpanel erzeugt einen geringen Aufwand sowie geringe Kosten und führt zu einer
großen Beteiligung sowie zu einem deutlichen Interesse
der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, das Projekt
fortzusetzen. Daraus entwickelt sich eine immer intensivere Form des Engagements und der Beteiligung an Bürgerangelegenheiten. Das Bürgerpanel scheint eine sehr
sinnvolle Form der Beteiligung zu sein, die wir weiterentwickeln sollten.
Letztlich läuft alles auf das hinaus, was Max Frisch
gesagt hat - damit kommen wir zum Thema der Debatte
zurück -:
Demokratie heißt, sich in die eigenen Angelegenheiten einzumischen.
Wenn wir das ernst meinen und die Demokratie insofern wirklich wiederbeleben wollen, müssen wir - das ist
ein entscheidender Punkt - ernsthafte Möglichkeiten der
Beteiligung und der Mitbestimmung bieten. Am Ende
zählt, was sich wie ein roter Faden durch die Arbeit der
Enquete-Kommission gezogen hat: Wir müssen eine Anerkennungskultur schaffen, sodass die Bürgerinnen und
Bürger, die sich die Mühe machen, sich zu beteiligen,
dafür entsprechende Wertschätzung und Würdigung erfahren.
Ich habe viel dadurch gelernt, dass ich viel gelesen
habe. Deswegen habe ich der Linken eine wunderbare
Veröffentlichung mitgebracht: Beteiligungsverfahren
und Beteiligungserfahrungen. Dort können Sie auf
80 Seiten wunderbar nachlesen, was ich eben in sieben
Minuten gesagt habe. Ich wünsche eine angenehme Lektüre.
({0})
Ich erteile das Wort Monika Lazar, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
sind im Petitionsausschuss viel Kummer gewöhnt; aber
die Auseinandersetzung mit dieser Großen Anfrage und
die Antwort der Bundesregierung waren nicht so erquicklich. Wir haben wahrlich keinen Grund, die Bundesregierung in Schutz zu nehmen; aber die Linke hat
mit der hier vorgelegten Anfrage wenig getan, um die
Bundesregierung um den Schlaf zu bringen - eher im
Gegenteil.
({0})
Sie hat der Bundesregierung ein Tableau zur Verfügung
gestellt, sich besonders bürgerfreundlich darzustellen.
({1})
Wir können die Selbstgefälligkeit in der Bundesregierung, die aus dieser Antwort spricht, allerdings nicht
durchgehen lassen; dasselbe gilt für das vordemokratische Petitionsverständnis der Linksfraktion.
({2})
Was ist unsere Aufgabe im Petitionsausschuss? Unsere tägliche Erfahrung ist doch, dass sich die Menschen
massenhaft darüber beschweren, dass sie auf Ämtern
häufig herablassend behandelt werden, dass sie keine
Antworten oder in unverständlichem Bürokratendeutsch
verfasste Antworten erhalten oder dass sie gar falsch beraten worden sind. Manchmal gab es sogar gänzlich fehlerhafte amtliche Bescheide, die wir kritisiert haben.
Die Bundesregierung weist in Ihrer Antwort auf die
Große Anfrage darauf hin, dass der Bundestag kein Monopol auf die Behandlung von Bürgerbeschwerden hat.
Das stimmt. Aber dann kann man nicht den lapidaren
Hinweis geben, der Bürger könne sich ja entscheiden, ob
er sich an die Beauftragten der Bundesregierung oder an
den Petitionsausschuss wende. Entscheiden kann sich
die Bürgerin oder der Bürger tatsächlich. Wenn er etwas
erreichen will, sollte er sich aber an uns, an den Petitionsausschuss, wenden. Jeder Bürger und jede Bürgerin
hat das Recht auf eine Prüfung seiner oder ihrer Eingabe
durch den Petitionsausschuss.
Der Petitionsausschuss hat Verfassungsrang; die Vorrednerinnen und Vorredner haben darauf schon hingewiesen. Darauf muss man die Bundesregierung, gleich
welcher Zusammensetzung, immer wieder mit Nachdruck hinweisen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, Sie könnten wissen, dass wir im Petitionsausschuss
zurzeit sehr intensiv an der Fortentwicklung von öffentlichen Petitionen und der bürgerschaftlichen Teilhabe arbeiten. Wir befinden uns in einer bedeutsamen Phase der
Fortentwicklung des Petitionsrechts. Das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag hat
uns einen außerordentlichen Erfolg bei der Einführung
öffentlicher Petitionen bescheinigt.
({3})
Ich zitiere:
Mit der Etablierung des Modellversuchs „öffentliche Petition“ im September 2005 hat der Deutsche
Bundestag, insbesondere sein Petitionsausschuss,
einen Beitrag dazu geleistet, das im Grundgesetz
verankerte Petitionsrecht weiter zu stärken und auszubauen … Es wurde größere Transparenz und Öffentlichkeit für das Petitionsverfahren geschaffen
und Raum für den möglichst rationalen Austausch
von Argumenten in Petitionsangelegenheiten bereitgestellt.
Das scheinen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der Linksfraktion, nicht mitbekommen zu haben.
({4})
Der Modellversuch wird jetzt in den Regelbetrieb überführt. Er hat auch gezeigt, wo wir es noch besser machen
können. Darum suchen wir nach Mitteln und Wegen,
aufgetretene Schwächen zu beseitigen und neue Erkenntnisse aufzunehmen.
({5})
- Na ja, niemand ist vollkommen, auch nicht der Petitionsausschuss.
({6})
Darüber hinaus arbeiten wir im Ausschuss sehr aktiv
an der bürgerfreundlichen Ausgestaltung öffentlicher
Ausschusssitzungen. Das sind die Punkte, nach denen
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, fragen sollten, und zwar im Ausschuss, wo wir alle miteinander beraten. Aber wo sind Ihre Vorschläge? Das Petitionsrecht, die Verfahrensgrundsätze, liegen in unserer
Verantwortung. Diesbezüglich kann man etwas verändern. Machen Sie im Ausschuss Vorschläge, dann können wir darüber beraten.
({7})
Aber sich nur darüber zu beklagen, dass die Bundesregierung das nicht tut, macht überhaupt keinen Sinn.
Wir drehen im Petitionsausschuss gewiss nicht am
großen Rad der Weltgeschichte. Aber wir verbessern die
Welt jeden Tag ein kleines Stück.
({8})
Dabei geht es um das sprichwörtliche Bohren dicker
Bretter. Dafür bedarf es solider Handwerkerinnen und
Handwerker. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Linksfraktion, arbeiten Sie dabei mit. Im Petitionsausschuss hat wirklich niemand Berührungsängste im Hinblick auf Ihre Fraktion.
({9})
Sie sind herzlich eingeladen, Ihre Vorschläge zu präsentieren. Wenn sie vernünftig sind, haben Sie uns auf Ihrer
Seite.
({10})
- Da mache ich Ihnen schon einmal ein Angebot, und
dann kommt so etwas.
Wir wollen das Petitionsrecht zu einem politischen
Mitwirkungsrecht machen. Sie wollen das Petitionsrecht
zu einem politischen Kampfinstrument machen. Das haMonika Lazar
ben wir bei den öffentlichen Petitionsübergaben mitbekommen; das ist schon von einigen angesprochen worden. Ich war ebenfalls dabei und empfand das als sehr
unangenehm.
({11})
Vor allen Dingen haben Sie nichts damit erreicht. Was ist
dabei herausgekommen? - Zurzeit gibt es keine öffentlichen Petitionsübergaben.
({12})
Das ist für uns alle sehr betrüblich, und wir müssen uns
überlegen, wie wir aus dieser Sache wieder herauskommen.
({13})
Wir sollten die Debatte über diese Große Anfrage
schnell hinter uns bringen und uns wieder mit aller Kraft
den eigentlichen Aufgaben des Petitionsausschusses zuwenden.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat nun Carsten Müller, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich
mich den Kollegen der Linksfraktion zuwende, möchte
ich ein Wort an den Kollegen Ackermann richten. Ich
will einen möglicherweise bestehenden falschen Eindruck widerlegen. Sie haben gesagt, es bestehe zu häufig
Uneinigkeit zwischen den Fraktionen der Großen Koalition, es würden Petitionen vertagt werden. Die Zahlen
sprechen aber eine andere Sprache. 112 Petitionen wurden vertagt, davon 31 auf Wunsch der CDU/CSU-Fraktion, 19 wegen einer zusätzlichen Berichterstattung - also
wegen einer besonders intensiven Nacharbeit und eines
besonderen Engagements für das vorgebrachte Anliegen und 12 wegen Beratungsbedarfs. Da bleibt noch viel
Platz für das Vertagen durch andere Fraktionen. Wenn
Sie die Zahlen genau überprüfen, dann kommen Sie
dazu, dass die FDP nicht selten vertagt hat.
({0})
Zur Großen Anfrage der Linksfraktion. Man muss
ehrlicherweise sagen: zur sogenannten Großen Anfrage;
denn die Anfrage ist nur dem Umfang nach groß. Der Inhalt bleibt dahinter doch signifikant zurück.
({1})
Als Erstes fällt auf: Hier wird die Regierung zu einer originären Aufgabe des Parlaments befragt. Schon das mutet merkwürdig an.
({2})
Trotz der zahlreichen Fragen hat mir die Frage 109 an
die Bundesregierung gefehlt, wann sie gedenkt, einen
Bundespetitionsminister zu ernennen. Das hätte zu Qualität und Anzahl gepasst.
({3})
Wir von der Union teilen diese - es wurde gesagt: vordemokratische - Auffassung von Staatsorganisation nicht.
Schauen wir uns die Fragen im Einzelnen an. Sie stellen bisweilen Fragen, die Sie mit einer einfachen Internetrecherche selbst hätten beantworten können; ich will
Ihre Leistungsfähigkeit nicht herabwürdigen. Wir haben
allerdings den Eindruck, dass Sie den Petitionsausschuss
und einzelne Petitionen, zum Teil von Ihnen selbst auf
den Weg gebracht, populistisch ausschlachten wollen.
Ich erinnere nur an die letzte Sitzung des Petitionsausschusses, als Sie eine Petition mit einem hohen Votum
versehen wollten, die die Anhebung des Kindergeldes
um einen abenteuerlich hohen Betrag vorsah. Das fanden Sie erwägenswert. Sie sind aber eine Antwort auf
die Frage schuldig geblieben, wie Sie die daraus resultierenden Mehrausgaben in Höhe von 24,2 Milliarden Euro
gegenfinanzieren wollen.
({4})
Das sind so eben 10 Prozent des Bundeshaushaltes, und
Sie leiten das weiter und tun so, als ob es Sie interessierte. In Wahrheit verklapsen Sie den Petenten, weil Sie
ihm nicht die Wahrheit sagen.
({5})
Sie fordern einen Volksentscheid auf Bundesebene.
Es steht in diesem Hause jedermann gut an, wenn er erst
einmal vor seiner eigenen Tür kehrt, und zwar in jeder
Hinsicht. Ich rate Ihnen dringend, sich mit Ihren Parteigenossen in Berlin auseinanderzusetzen. Ich erinnere daran, dass wir es im Augenblick in Berlin mit der engagiert diskutierten Frage nach der Zukunft des Flughafens
Tempelhof zu tun haben. Viele Berliner Bürgerinnen und
Bürger sprechen sich für den Erhalt dieses Flughafens
aus. Es soll nun am 27. April - dafür gibt es nennenswerten Zuspruch - einen Volksentscheid geben. Die rotrote Koalition in Berlin möchte den Flughafen Tempelhof schließen, weiß aber ganz genau, dass sie bei diesem
Volksentscheid außergewöhnlich schwach dastünde.
Was passiert? Es ist angedacht - und zwar unter Beteiligung der Linkspartei -, vorab den Flughafen womöglich
an Immobilienspekulanten zu verscherbeln, damit Ihre
Parteigenossen dem Bürgerwillen nicht nachgeben müssen. Sie haben in Wahrheit gar kein echtes Interesse an
demokratischen Prozessen. Sie ignorieren den Bürgerwillen konsequent.
Carsten Müller ({6})
({7})
- Herr Bürsch, das müssen Sie aushalten. Ich will Sie
gern überzeugen, sich für die Interessen der Bürgerinnen
und Bürger in Berlin einzusetzen.
({8})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Petra Sitte?
Mit außerordentlichem Vergnügen.
({0})
Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, zu welchem Zeitpunkt der Beschluss gefasst wurde, den Flughafen Tempelhof zu schließen, und von wem? Wenn Sie die Antwort nicht sofort parat haben sollten: erstens in der
Regierungszeit von Herrn Kohl und zweitens in der Regierungszeit von Herrn Diepgen. Wenn ich recht informiert bin, sind sie Ihre Parteigenossen. Ist das so?
Die erste Frage kann ich mit Ja beantworten. Ich freue
mich darüber, in derselben Partei zu sein wie Eberhard
Diepgen und Helmut Kohl. Das ist ein weiterer guter
Grund für eine Mitgliedschaft in der CDU.
({0})
Im Übrigen unterlassen Sie und Ihre Parteigenossen es in
Berlin aktiv, einen sinnvollen Beschluss herbeizuführen
und den Bürgerwillen zu respektieren.
({1})
Wir haben - das hat der Kollege Baumann richtigerweise ausgeführt - eine außerordentlich hohe Zahl von
Petitionen, die dieses Haus jährlich erreichen. Die Größenordnung beträgt 17 000 bis 20 000 Petitionen pro
Jahr. Diesen Petitionen wird ernsthaft nachgegangen,
und sie werden mit großem Engagement bearbeitet. Wir
haben die Möglichkeiten des Zugangs zum Parlament
und dessen Erreichbarkeit sowie die Möglichkeit, einzelne Petitionen zu diskutieren, erheblich ausgeweitet
und vereinfacht, und zwar durch die Zulassung von elektronischen Petitionen, von Massenpetitionen, von öffentlichen Petitionen und durch öffentliche Ausschussberatungen. Der Petitionsausschuss lässt es sich nicht
nehmen, sich auch vor Ort über Sachverhalte zu informieren. Darin kommt die ernsthafte Arbeit des Petitionsausschusses zum Ausdruck.
Der Kollege Bürsch hat in seinem Redebeitrag anklingen lassen, dass den Bürgerinnen und Bürgern eher
damit geholfen ist, dass man sich um ihre Anliegen kümmert und dass man die Grundlagen für bürgerschaftliches Engagement ausbaut und verbessert, anstatt hier einen Klamauk zu veranstalten.
({2})
Die Große Koalition hat das Gesetz zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements auf den Weg
gebracht und am 6. Juli 2007 beschlossen. Damit wurde
ein stabiles Fundament gelegt und es wurden nicht zuletzt die steuerlichen Rahmenbedingungen erheblich
verbessert. Wir sehen die Erfolge schon heute.
({3})
Deswegen will ich den Ratschlag meiner Vorrednerin
Monika Lazar gerne beherzigen: Wir wollen diese Beratung relativ schnell hinter uns bringen, weil sie zum Teil
unerfreulich ist. Diese Anfrage ist nichts anderes als
Klamauk. Meine Damen und Herren Kollegen von der
Linksfraktion, Ihnen sollte zu denken geben, dass diese
Bewertung praktisch einhellig von allen anderen Fraktionen hier im Hause vorgenommen wird, die im
Übrigen bei allen Unterschieden in der Sache im Petitionsausschuss und darüber hinaus außerordentlich konstruktiv zusammenarbeiten.
Vielen Dank.
({4})
Als letzter Rednerin in dieser Debatte erteile ich Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller, SPD-Fraktion, das
Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Wir könnten das Ganze mit
den Worten zusammenfassen: Schade eigentlich. Schade
eigentlich, dass wir hier über ein gutes Recht reden, das
durch unsere Verfassung gewährleistet, aber durch die
Anfrage infrage gestellt wird. Schade eigentlich, dass
108 Fragen an die Regierung gestellt worden sind und
die Antworten heute im Plenum behandelt werden. Die
Fragen sind dadurch nicht besser geworden. Was zeigen
sie uns? Sie zeigen uns, dass die Fraktion Die Linke einen gewissen Orientierungsmangel hat und nicht weiß,
worum es eigentlich geht, wenn sich Bürger und Bürgerinnen, das Petitionsrecht nutzend, an den Bundestag
wenden.
({0})
Meines Erachtens haben wir optimale Rahmenbedingungen, die wir nicht durch ein eigenes Petitionsgesetz verbessern müssen. Das ist eine alte Kritik, die wir kennen.
In der vorvergangenen Legislaturperiode waren es Ihre
Vorgänger, die ein solches Gesetz haben wollten. Die
Kritik ist damals falsch gewesen, der Vorschlag war
nicht richtig. Das Ergebnis, nämlich die Ablehnung eines solchen Gesetzes durch dieses Haus, war damals
richtig und ist es heute noch. Klar ist, dass der gesetzliche Rahmen, den wir haben, durch dieses Parlament gut
ausgefüllt werden kann. Wir tun das durch die Praxis im
Ausschuss. Wir erfüllen unsere Aufgabe mit Leben. Die
Vielzahl der Petitionen zeigt nicht nur, dass wir genug zu
tun haben, sondern sie ist auch Ausdruck des Vertrauens
von Petenten und Petentinnen darauf, dass sie sich nicht
umsonst an uns wenden und wir sehr ehrlich und sachlich mit ihren Bitten und Beschwerden umgehen. Ich
glaube, sie wollen eines nicht: Sie wollen nicht, dass ihre
Petitionen von einer Fraktion dieses Hauses missbraucht
werden, die meint, sie könne damit populistisch Politik
machen. Deshalb wäre es gut gewesen, Sie hätten vorher
einmal überlegt, ob das parlamentarische Instrument der
Großen Anfrage überhaupt richtig für Ihr Anliegen ist.
({1})
Es könnte nur dann sinnvoll sein, wenn Sie daraus einen
Erkenntnisgewinn hätten. Viele der 108 Fragen legen
nahe, dass es durchaus einen Informationsbedarf in Ihren
Reihen gab. Deshalb können wir zufrieden sein, dass
nun die Antworten vorliegen. Die Antworten zum
Thema Petitionen bringen Sie allerdings politisch nicht
voran, weil festgestellt wurde, dass das Recht gut ausgestaltet ist und wir es in diesem Parlament auf eine sehr
seriöse Art und Weise mit Leben ausfüllen.
({2})
Dazu passt auch, dass wir auf der Höhe der Zeit Modernisierungen vorgenommen haben, die dazu geführt
haben, dass mehr Menschen teilhaben und dieses Beschwerde- und Bittenrecht nutzen können. Hier sind wir
gut beraten, die Ergebnisse der Begleitforschung abzuwarten und aus diesen Erkenntnissen heraus dort zu modernisieren, wo es nottut. Eine erste Tendenz ist erkennbar - für Sie scheint dies aber nicht von Bedeutung zu
sein -: Wir haben gelernt, dass wir Menschen, die bildungsfernen Schichten angehören, zu schlecht erreichen
und dass wir bei jungen Leuten noch nachlegen können.
Das ist die Herausforderung. Dazu hören wir von Ihnen
gar nichts, was mich persönlich allerdings nicht überrascht.
({3})
Es ist allerdings auch leicht, wenn man Petitionen
missbrauchen will, sie als Stichwortgeber für eigene politische Vorhaben zu nutzen. Wir erleben dies im Petitionsausschuss immer wieder. Als erstes Beispiel nenne
ich die SED-Opfer-Regelung. Wir müssen uns einmal
vor Augen halten, wie Sie sich dazu verhalten haben.
Wir haben es in der Großen Koalition geschafft, mit großer Zustimmung eine Lösung auf den Weg zu bringen.
Wenn nun in einer Petition kritisiert wird, dies sei nicht
genug, dann stimmt ausgerechnet Ihre Fraktion dem zu.
Sie sagen dann, hier müsse man schärfer herangehen und
auf jeden Fall mehr geben. Mein Tipp wäre gewesen,
dass Sie die Menschen rechtzeitig an dem Vermögen hätten teilhaben lassen, das Sie als Partei in ihre eigene Tasche umgelenkt haben.
({4})
Mein Tipp: Es wäre auch heute noch möglich, aus diesem nicht unerheblichen Vermögen für jene zu sorgen,
die Opfer des Systems waren. Vielleicht wäre dies ja
glaubwürdiger.
({5})
Ich nenne ein zweites Beispiel: Am Mittwoch dieser
Woche wollten Sie innerhalb weniger Minuten Milliardenbeträge ausgegeben, die wir nicht haben. Das heißt,
Sie erliegen unentwegt der Verlockung des Populismus.
So etwas darf man bei der Bearbeitung von Petitionen
nicht machen.
({6})
Wir arbeiten im Ausschuss gut. Wir brauchen keine
weiteren Gesetze. Wenn aber die Vorsitzende des Ausschusses meint, feststellen zu müssen, es gebe eine Ignoranz der Bundesregierung gegenüber dem Petitionsausschuss, dann bitte ich darum, dass dies im Ausschuss
ausführlich erläutert wird. Ich kann nur sagen: Die Bundesregierung ist nicht immer unserer Meinung, wenn wir
sie kritisieren; das kann ich sogar nachvollziehen. Allerdings lassen wir als jene Vertreter, die die Mehrheit stellen, uns auch nicht das Recht nehmen, unsere Regierung
zu kritisieren. In vielen Fällen wird unsere Kritik aufgenommen, und es gibt Verbesserungen.
({7})
Aber von Ignoranz zu sprechen, bedarf einer seriösen
Begründung. Diese haben Sie heute nicht geliefert. Ich
bin schon gespannt, ob wir überhaupt eine bekommen.
Ich freue mich auf die zukünftige Arbeit im Ausschuss und bin sicher, dass wir aufgrund der Ergebnisse
der Begleitforschung noch besser werden, was Bürgernähe anbelangt. Das muss unser ständiges Streben sein.
Ich sehe dafür ein breites Bündnis im Ausschuss. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass wir ohne jedwede gesetzliche Änderung mit dem Petitionsrecht gut weiterarbeiten können.
Vielen Dank.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b so-
wie Zusatzpunkt 4 auf:
8 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bernd
Siebert, Ulrich Adam, Michael Brand, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Rainer Arnold, Dr. HansPeter Bartels, Petra Heß, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Konzept der Inneren Führung stärken und
weiterentwickeln
- Drucksache 16/8378 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({0})
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Nachtwei, Alexander Bonde, Marieluise Beck
({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bundeswehr - Innere Führung konsequent
umsetzen
- Drucksache 16/8370 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Elke Hoff, Dr. Rainer Stinner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Innere Führung stärken und weiterentwickeln
- Drucksache 16/8376 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Karl Lamers, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({3})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist mir eine Freude, dass wir heute erstmals hier im Plenum des Deutschen Bundestages und damit in aller
Öffentlichkeit die Ergebnisse der Arbeit des Unterausschusses „Weiterentwicklung der Inneren Führung“ vorstellen und beraten. In den letzten viereinhalb Jahren
haben wir uns in 32 Sitzungen als Rat- und Ideengeber
betätigt und unsere Arbeit im Herbst 2007 mit einem Bericht abgeschlossen - Ausgangspunkt für unsere heutige
Debatte.
Der Verteidigungsausschuss hat diesen Unterausschuss, dem vorzustehen ich seit Mai 2003 die Ehre
hatte, in der vergangenen 15. Wahlperiode eingesetzt.
Dies geschah, weil sich seit dem Erlass der bisher gültigen Fassung der Zentralen Dienstvorschrift 10/1 vom
16. Februar 1993 die sicherheitspolitische Situation in
Deutschland, Europa und der Welt allgemein und die
Lage der Bundeswehr sowie die innere Struktur der
Truppe stark verändert haben.
Uns allen ist sehr bewusst, dass die Bundeswehr, dass
unsere Soldatinnen und Soldaten heute vor grundsätzlich
anderen Herausforderungen stehen als vor unserer Zeit.
Aus einer Armee für den Einsatz ist eine Armee im Einsatz geworden. Vor allem die Zahl der Auslandseinsätze
ist enorm gestiegen. Heute stehen über 6 000 deutsche
Soldaten an militärischen Brennpunkten der Welt. Die
Umbruchsituation 1990/91 hat eine Transformation der
Bundeswehr mit grundlegenden strukturellen und personellen Veränderungen notwendig gemacht. Auch die
Öffnung nahezu aller Verwendungsbereiche für Frauen
hat unsere Bundeswehr neu geprägt.
Diese Veränderungen waren es, die zur Geburtsstunde
des Unterausschusses geführt haben. Unsere Aufgabe
war es, den neuen Anforderungen gerecht zu werden, ihnen Rechnung zu tragen und entsprechende Schlussfolgerungen zu ziehen.
Zu diesen gehört, erstens, die Feststellung, dass die
tragenden und unverrückbaren Prinzipien der Inneren
Führung, die mit der Aufstellung der Bundeswehr 1955
durch Wolf Graf von Baudissin und Ulrich de Maizière
entwickelt wurden, bis heute Bestand haben: Primat der
Politik, unbedingte Beachtung der Menschenwürde in
den Streitkräften, das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform und die Bindung der Streitkräfte an Recht und Gesetz. Dies prägt und bestimmt damals wie heute das
Selbstverständnis der Soldatinnen und Soldaten.
Zu unseren Schlussfolgerungen gehören, zweitens,
ganz konkrete Bereiche, die heute ein untrennbarer Bestandteil des Konzepts Innere Führung sind:
Erstens. Durch militärische und ethische Erziehung
der Soldatinnen und Soldaten wirkt die Innere Führung
darauf hin, dass ein sicheres, auf Recht und Gesetz ausgerichtetes Handeln sowohl im Inland als auch im Ausland umgesetzt wird.
Zweitens. Unseren Soldatinnen und Soldaten wird
vermittelt, welchen Sinn die Einsätze der Bundeswehr in
teils fernen Regionen der Welt haben und welche Ziele
erreicht werden sollen.
Drittens. Neben den klassischen militärischen Fähigkeiten gehört zur Handlungskompetenz unserer Soldatinnen und Soldaten auch immer, wie es der Bundesminister stets betont, Helfen, Schützen, Retten und
Vermitteln.
Viertens. Die interkulturelle Kompetenz als Zeichen
von Respekt vor fremden Kulturen gewinnt gerade bei
steigender Zahl von Auslandseinsätzen zunehmend an
Bedeutung.
Fünftens. Die politische Bildung - ein wesentlicher
Baustein der Konzeption Innere Führung - muss weiter
ausgebaut und gestärkt werden.
Sechstens. Die Integration von Frauen in die Streitkräfte muss gefördert und gestärkt werden.
Dr. Karl A. Lamers ({0})
Siebtens. Die politisch gewollte Vereinbarkeit von Familie und Dienst in den Streitkräften wird durch zeitgemäße Konzepte weiterentwickelt. Dazu gehört auch das
Angebot an Teilzeitarbeit.
Achtens. Die von der Bundeswehr geschaffenen Familienbetreuungszentren sowie gleichgerichtete Initiativen müssen vernetzt werden.
Innere Führung, das ist eine Erfolgsgeschichte und
gilt heute als Markenzeichen der Bundeswehr. Sie gehört
zu ihrem Selbstverständnis. Sie ist einzigartig in der ganzen Welt. Innere Führung lebt und wird von unseren Soldatinnen und Soldaten gelebt. Sie ist erlernbar. Sie ist
praktisches Handwerk und keine Ideologie.
Heute können wir feststellen, dass die Grundsätze und
Anwendungsbereiche der Inneren Führung von der ganz
überwältigenden Mehrheit unserer Soldatinnen und Soldaten bereits verinnerlicht sind und gelebt werden. Angesichts einer Zahl von über 250 000 Soldaten ist das bei
weitem nicht selbstverständlich.
Die Mitglieder des Unterausschusses haben dem Verteidigungsausschuss ihren Schlussbericht vorgelegt. Wir
sind uns einig, dass das Konzept „Innere Führung“ bereits in der Vergangenheit erfolgreich war, und wir sind
überzeugt, dass es dynamisch genug ist, um in der Zukunft als ethischer Kompass und modernes Führungsinstrument zu dienen.
({1})
Fazit: Innere Führung ist ein dynamischer Prozess,
der sich immer wieder auf aktuelle und absehbare Entwicklungen ausrichten muss. Wir sind gehalten, uns stets
mit neuen gesellschaftlichen, politischen, militärischen
und technologischen Entwicklungen auseinanderzusetzen. Wir sind aufgerufen, stets aufs Neue für eine zeitgemäße Form der Konzeption „Innere Führung“ zu sorgen,
denn genau davon lebt sie. Sir Winston Churchill hat
einmal gesagt: Konsequent ist, wer sich selber mit den
Umständen wandelt. - Ich fordere uns auf, in diesem
Sinne konsequent zu sein und zu bleiben.
Am Schluss meiner Ausführungen darf ich allen Kolleginnen und Kollegen im Unterausschuss „Weiterentwicklung der Inneren Führung“, insbesondere meinen
Stellvertretern Ulrike Merten - Stellvertreterin in der
ersten Zeit, heute Vorsitzende des Verteidigungsausschusses - sowie Gerd Höfer, für die geleistete großartige Arbeit danken, für vertrauensvolles Zusammenwirken über Fraktionsgrenzen hinweg und für Effizienz,
gerade in frühen Morgenstunden, in denen wir gearbeitet
haben.
({2})
Mein Dank gilt der Bundesregierung, Ihnen, Herr
Bundesminister Jung, Ihren Staatssekretären, dem Generalinspekteur und den Angehörigen der Führungsstäbe.
Sie, Herr Minister, haben vor wenigen Tagen eine neue,
überarbeitete Zentrale Dienstvorschrift herausgegeben,
in der wesentliche Ergebnisse unserer Arbeit Berücksichtigung finden. Das ist wirklich gut. Respekt dafür!
Wir alle wissen, dass jede Konzeption auch Menschen braucht, die sie umsetzen und mit Leben erfüllen.
Deshalb geht mein Dank an dieser Stelle vor allem an
die Menschen, die dieser Konzeption und ihren tragenden Prinzipien in der Bundeswehr seit mehr als einem
halben Jahrhundert zum Erfolg verhelfen. Mein Dank
gilt den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr. Sie
dienen unserem Land vorbildlich.
({3})
Der berühmte preußische Armeereformer General
Scharnhorst hat einmal gesagt: Tradition der Armee
muss es sein, an der Spitze des Fortschritts zu marschieren. - Heute, fast 200 Jahre danach, ist die Innere Führung das Instrument, mit dem es uns gelingt, diesem Anspruch gerecht zu werden. Innere Führung - diese
Konzeption verdient es, auch weiterhin gestärkt zu werden.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat nun Kollegin Birgit Homburger, FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Prinzipien der Inneren Führung und das Leitbild des
Staatsbürgers in Uniform haben sich bewährt, auch wenn
sie zum Zeitpunkt der Einführung sehr umstritten waren.
Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass die Innere
Führung ein Markenzeichen der Bundeswehr ist.
Ein solches - erfolgreiches - Markenzeichen bedarf
der Pflege, wenn es zeitgemäß bleiben soll. Es ist festzustellen, dass sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Wertvorstellungen verändert haben. Die
Bundeswehr unterliegt seit ihrer Aufstellung einem permanenten Wandel. Sie befindet sich weiterhin in einem
Transformationsprozess hin zu einer Armee im Einsatz
mit erweitertem Aufgabenspektrum. Damit sind enorme
Herausforderungen für die Soldatinnen und Soldaten,
ihre Familien, aber auch für den Dienstherrn verbunden.
Derart tiefgreifende Veränderungen gehen natürlich
nicht spurlos an der Bundeswehr und der Inneren Führung vorbei. Deshalb war es folgerichtig, dass der Verteidigungsausschuss einen Unterausschuss eingerichtet hat,
der sich mit der Weiterentwicklung der Inneren Führung
beschäftigt hat. Ich möchte mich den Dankesworten unseres Vorsitzenden anschließen und in den Dank auch
die Kolleginnen und Kollegen aus der FDP-Bundestagsfraktion einbeziehen, die in der letzten Legislaturperiode
in diesem Unterausschuss mitgearbeitet haben. Es waren
dies die Kollegin Helga Daub und der Kollege Günther
Nolting.
({0})
In der Arbeit dieses Unterausschusses wurde über die
Bestandsaufnahme und Sachstandsanalyse hinaus versucht, konkrete Verbesserungsmöglichkeiten in den
Bereichen aufzuzeigen, die für eine erfolgreiche Bewältigung der menschlichen Seite des Transformationsprozesses entscheidend sind. Wenn der Transformationsprozess erfolgreich sein soll, müssen die Menschen im
Mittelpunkt stehen.
Die Bundeswehr braucht zur Erfüllung ihres Auftrages weiterhin hoch motivierte, gut ausgebildete, ethischmoralisch gefestigte, aber auch berufszufriedene Streitkräfteangehörige. Es wurde im Unterausschuss sehr
deutlich, dass in den Bereichen Ausbildung und Versorgung, aber auch bei den Rahmenbedingungen des Soldatenberufs erheblicher Verbesserungsbedarf besteht.
Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels
zeichnet sich ab, dass die Bundeswehr bei der Nachwuchsgewinnung immer stärker einem verschärften
Wettbewerb um die besten Köpfe mit anderen Arbeitgebern ausgesetzt ist. Deshalb ist es wichtig, die Attraktivität des Dienstes zu steigern. Das hängt nicht nur mit der
Höhe der Vergütung zusammen, sondern eben auch mit
Weiterbildungsmöglichkeiten, der Versetzungshäufigkeit, der Beförderungssituation und den Möglichkeiten
zur Vereinbarkeit von Dienst und Familie. Die Bundeswehr muss daher zügig ein Attraktivitätsprogramm auflegen, damit sie als Arbeitgeber konkurrenzfähig wird.
({1})
Dabei gibt es einige Punkte, die aus unserer Sicht einer besonderen Beachtung bedürfen. Dazu gehört beispielsweise eine echte auftragsgerechte Personalstrukturreform. Sie ist ebenso dringend nötig wie ein neues
Laufbahnrecht, um den Beförderungsstau in den Streitkräften abzubauen. Wir brauchen bessere Teilzeitarbeitsmöglichkeiten. Die Wahrnehmung von Teilzeit sollte allen Soldatinnen und Soldaten ermöglicht werden, die
dies wünschen, sofern der Dienstbetrieb das erlaubt. Wir
brauchen aber auch - auch daran sieht man, dass sich die
Streitkräfte gewandelt haben - Angebote zur Kinderbetreuung, um den Dienst in der Bundeswehr familienfreundlicher zu gestalten, als er bisher ist.
Immer häufiger wird auch die Versetzungshäufigkeit
thematisiert; auch darüber haben wir im Unterausschuss
gesprochen. Sie muss auf das dienstlich absolut notwendige Maß reduziert werden. Auch ich bin der Überzeugung, dass es nicht angehen kann, dass ein Soldat von einer Versetzung erst wenige Tage zuvor erfährt,
insbesondere dann, wenn es sich um einen Auslandseinsatz handelt. Über solche Dinge wurde immer und immer wieder berichtet. Wir sind gemeinsam zu der Auffassung gelangt, dass Soldatinnen und Soldaten vor allen
Dingen Planungssicherheit für sich und ihre Angehörigen brauchen. Es kostet keinen einzigen Cent, Herr
Minister, diese Planungssicherheit zu erhöhen; es trägt
aber zur Zufriedenheit mit dem Dienst in den Streitkräften bei.
({2})
Ein drängendes Problem ist die geringe Einstiegsbesoldung, insbesondere für Mannschaften und Unteroffiziere; sie muss angehoben werden. Wir brauchen auch
ein eigenes Besoldungsrecht für Soldatinnen und Soldaten. In diesem Zusammenhang möchte ich gerne kurz
auf das Dienstrechtsneuordnungsgesetz hinweisen, das
im Moment zu Recht für massiven Unmut in der Truppe
sorgt. Im Referentenentwurf war ja sogar geplant, die im
Vergleich zur Polizei und zur Bundespolizei niedrige
Eingangsbesoldung für Soldaten noch weiter zu senken.
Dieses Vorhaben ist Gott sei Dank zwischenzeitlich vom
Tisch. Aber nach dem Willen der Bundesregierung sollen Soldaten nun länger auf Beförderungen warten als
andere Besoldungsempfänger, und Soldaten auf Zeit sollen Nachteile in der gesetzlichen Rentenversicherung
hinnehmen müssen, ohne die Möglichkeit zu haben,
diese auszugleichen. Hier appellieren wir an die Bundesregierung und auch an die Koalitionsfraktionen, den Gesetzentwurf an dieser Stelle noch einmal abzuändern und
diese geplanten Änderungen zurückzunehmen.
({3})
Wir haben in dem Abschlussbericht des Unterausschusses „Weiterentwicklung der Inneren Führung“, den
wir gemeinsam gefertigt haben, festgehalten, dass eine
Steigerung der Attraktivität der Bundeswehr dringend
geboten ist. Die FDP-Bundestagsfraktion erwartet, dass
diesen richtigen Worten jetzt auch richtige Taten folgen.
({4})
Deswegen würde ich angesichts der Anträge, die zur
heutigen Debatte hier vorliegen, vorschlagen, bis zur
Endabstimmung noch einmal den Versuch zu unternehmen, einen gemeinsamen Antrag zu basteln, um auf
diese Art und Weise dem Abschlussbericht, den wir gemeinsam gefertigt haben und der in weiten Teilen Übereinstimmung enthält, Nachdruck zu verleihen, und so die
Bundesregierung aufzufordern, die Anregungen des Parlaments umzusetzen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat Kollege Gerd Höfer, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich darf in aller Bescheidenheit daran erinnern:
Ehe die deutsche Wiederbewaffnung in die Tat umgesetzt und die Bundeswehr geschaffen worden ist, hat es
sehr dezidierte und heftige Auseinandersetzungen darüber gegeben, ob dieser Weg der Wiederbewaffnung
richtig ist. Nicht um irgendwelche Vorwürfe an irgendwelche Parteien zu richten, erwähne ich, dass es den beGerd Höfer
rühmten Satz gegeben hat: „Ehe ein deutscher Soldat
wieder ein Gewehr in die Hand nimmt, möge mir der
Arm verdorren.“
Ich weiß, dass damals die SPD sehr heftig dagegen
gestritten und polemisiert hat. Erst das Prinzip der Inneren Führung, das heißt ein Neubesinnen auf die Stellung
der - so muss man inzwischen sagen - Soldatinnen und
Soldaten in der Gesellschaft, hat die SPD dazu gebracht,
zuzustimmen.
Das Konzept der Inneren Führung ist schlagwortartig
mit dem Begriff des Staatsbürgers in Uniform verbunden. Der Staat sagt nämlich, dass ein Soldat auch bei
Hinnahme bestimmter Einschränkungen der Grundrechte, was seinen dienstlichen Auftrag anbelangt,
Staatsbürger ist und bleibt. Wenn man „Staatsbürger in
Uniform“ ernst nimmt, dann ist im Grunde genommen
schon damals und nicht erst heute die Parlamentsarmee
begründet worden, weil die unveräußerlichen Grundrechte, für den Soldaten auch geltend, praktisch schon
immer der parlamentarischen Überwachung unterlegen
haben, sei es auf der Seite der Regierungsparteien, sei es
auf der Seite der Opposition. Von daher war das Prinzip
der Inneren Führung, des Staatsbürgers in Uniform - ich
habe es selber erlebt, weil ich noch Ausbilder hatte, die
aus dem Zweiten Weltkrieg stammten - immer in der
Diskussion. Ich halte es auch für gut, dass dieses Prinzip
in der Diskussion ist und bleibt. Der Unterausschuss
- von Karl Lamers erwähnt - hat sich dieser Dinge angenommen und gesagt, bestimmte Vorstellungen müssen
weiterentwickelt werden.
Ich habe die ZDv 10/1 noch nicht in der offiziellen
Form, wie die Bundeswehr gewohnt ist, mit diesen Dingen umzugehen, vor mir. Es wird wahrscheinlich ein
grauer Schnellhefter sein.
({0})
- Ich habe zwar schon einmal einen Vorentwurf gesehen,
aber die endgültige Ausfertigung habe ich noch nicht bekommen. Wer sich diese ZDv 10/1 ansieht, der stellt
fest, dass sie sehr anspruchsvoll und bei weitem kein
Handlungskatalog ist, den man im Prinzip, quasi einen
Katechismus auswendig lernend, umsetzen kann. Der
entscheidende Satz steht in Kapitel 1 „Selbstverständnis
und Anspruch“ Nummer 106:
Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr erfüllen ihren Auftrag, wenn sie aus innerer Überzeugung für Menschenwürde, Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit, Gleichheit, Solidarität und Demokratie
als den leitenden Werten unseres Staates aktiv eintreten.
Das ist ein hoher Anspruch, der den Hinweis auf die
Bundeswehr als Parlamentsarmee wiedergibt. Daraus
kann man auch andere Dinge herleiten, die meine Kollegin Petra Heß nachher noch etwas deutlicher darstellen
wird.
Theoretisch - ich betone: theoretisch - kann man sagen: Diese ZDv 10/1 könnte auch einen Handlungsrahmen für die Kodizes des Deutschen Bundestages und der
Abgeordneten bilden. Allerdings kann natürlich eine
zentrale Dienstvorschrift der Bundeswehr, Herr Bundesminister und Herr Präsident, nicht geschäftsleitend für
den Deutschen Bundestag sein. Das ist völlig klar. Wenn
aber der Deutsche Bundestag und nachgeordnet die
Streitkräfte den Staatsbürger in Uniform postulieren und
gesagt wird, das Prinzip der Inneren Führung sei ein
Leitprinzip, einzigartig in der Welt, das sich bewährt hat,
dann kann man daraus zumindest aber die Fürsorgepflicht des Parlamentes für die Bundeswehr ableiten. Die
Fürsorgepflicht des Parlamentes für die Bundeswehr hat
ja ihre letzte Ausformung immer dann, wenn wir über
Einsätze der Bundeswehr entscheiden müssen. In diese
Fürsorgepflicht kann nicht nur eingebunden werden,
dass alles rechtsfähig und ordnungsgemäß abgewickelt
wird, wenn Soldaten ins Ausland geschickt werden, sondern davon kann und soll man auch ableiten - das ist ja
schon von meinen beiden Vorrednern gesagt worden -,
dass diese Fürsorgepflicht beinhaltet, dass man mit dem
Soldaten vernünftig umgeht. Das heißt, ihm muss nicht
nur die richtige Ausstattung für die Einsätze etwa im
Ausland gegeben werden, sondern er muss auch seine
staatsbürgerlichen Rechte übertragen bekommen, sodass
er teilhat an dem, was der Staat zu bieten hat.
Ein Beispiel ist genannt worden: Die Bundeswehr
steht demnächst, bedingt durch den demografischen
Wandel, in Konkurrenz zu anderen sicherheitsrelevanten
Berufen. Wenn dann die Eingangsbesoldung immer noch
bei A 3 liegt, während bei der Polizei in den Ländern die
Eingangsbesoldung zwischen A 5 und A 7 schwankt,
dann ist keine Teilhabe an dem, was der Staat anderen
Bürgerinnen und Bürgern bietet, möglich. Das heißt, all
das, was über das Prinzip der Inneren Führung, über das
Prinzip des Staatsbürgers in Uniform geleistet werden
soll, muss und soll den ganzen Bundestag ebenso beschäftigen, wie es den Bundestag beschäftigt, über den
Einsatz von Soldatinnen und Soldaten im Ausland zu
entscheiden.
({1})
Das ist meine Bitte an alle Damen und Herren dieses
Hauses, nicht nur an diejenigen, die hier sitzen. Es steht
mir nicht zu, diejenigen zu kritisieren, die nicht da sind.
Ich weiß ja selber, wie das ist. Auch ich bin oft nicht im
Parlament. Aber ich hoffe, dass diejenigen, die mich hören, diesen Appell aufnehmen und sagen: Nicht nur der
Parlamentsvorbehalt bei Auslandseinsätzen bietet eine
Möglichkeit, sich mit der Bundeswehr zu beschäftigen.
Vielmehr muss und soll auch im Rahmen der Inneren
Führung mehr für die Bundeswehr getan werden; Petra
Heß wird darauf noch im Einzelnen eingehen.
Ich freue mich, dass sowohl die FDP als auch die
Grünen eigene Anträge vorgelegt haben. Walter Kolbow
ist mein Zeuge: Bevor Sie, Frau Homburger, von einem
gemeinsamen Antrag gesprochen haben, stand dies
schon auf meinem Blatt und bei Petra Heß mit einem
Fragezeichen. Warum ist das so? Weil viele Dinge, die
Sie beide, die Grünen wie die FDP, in Ihren Anträgen
ausgeführt haben, deckungsgleich mit dem sind, was in
dem gemeinsamen Antrag von CDU/CSU und SPD
steht.
Ich möchte damit natürlich eine Bitte verknüpfen,
nämlich dass wir im Verteidigungsausschuss noch einmal genauer darüber sprechen. Über manches, was die
Grünen ausgeführt haben, kann ich locker hinweggehen;
Begründungen werden nicht beschlossen. Dass die Grünen natürlich die Gelegenheit genutzt haben, sich dezidiert zur Wehrpflicht zu äußern, nehme ich ihnen nicht
übel. Bei Ihnen von der FDP habe ich das im Prinzip
vermisst. Das ist nun einmal Alltag bei uns.
({2})
- Ich habe ihn vor mir liegen.
Die Grünen möchte ich bitten, mir im Verteidigungsausschuss den vorletzten Punkt der Forderungen in ihrem Antrag genauer zu erklären; denn da wird so etwas
Ähnliches wie eine Gruppenquotierung nach bestimmten
Kriterien gefordert. In dem Antrag steht nämlich:
… dafür zu sorgen, dass Struktur und Umfang der
Bundeswehr an den Erfordernissen der neuen Aufgaben ausgerichtet und
- jetzt kommt es durch Rekrutierung und Personalauswahl der gesellschaftliche Pluralismus in der Zusammensetzung der Streitkräfte in höherem Maße als bisher
abgebildet wird …
({3})
Es wäre schön, wenn wir im Verteidigungsausschuss
eine Erläuterung bekommen würden.
({4})
Dann halten wir ein soziologisches Seminar ab und kommen zu dem Ergebnis: Die Bundesrepublik Deutschland
setzt sich aus diesen und jenen Gruppen zusammen, und
von jeder Gruppe muss mindestens ein Repräsentant in
der Bundeswehr sein.
({5})
Wie das gehen soll, weiß ich nicht so genau. Trotzdem
haben wir im Verteidigungsausschuss die Chance, einen
gemeinsamen Antrag zu entwickeln.
Dass die FDP - wir haben es gerade gehört - in ihrem
Antrag die Ausarbeitung eines besonderen Personalentwicklungskonzeptes fordert und das mit weiteren Forderungen in Ziffer 6 unterlegt, ist bis auf die Frage, ob es
ein eigenständiges Besoldungsrecht für die Soldaten geben soll, mit all den Dingen, die auch in unserem Antrag
enthalten sind und mit denen wir uns im Unterausschuss
beschäftigt haben, ziemlich deckungsgleich, sodass die
Frage, ob es zu einem gemeinsamen Antrag kommen
wird, sehr positiv zu beurteilen ist. Denn wenn wir das in
der Art und Weise, wie wir im Unterausschuss zusammengearbeitet haben, im Verteidigungsausschuss weiterentwickeln, sehe ich dafür eine gute Chance.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Paul Schäfer, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Absicht der antragstellenden Fraktionen, die Ergebnisse des
Unterausschusses hier einzubringen, sie öffentlich zu
machen, über sie zu diskutieren und mit den Weihen des
Hohen Hauses zu versehen, ist löblich. Nur, wäre es
nicht besser gewesen, diese gemeinsamen Positionen mit
einem fraktionsübergreifenden Antrag einzubringen? Ich
finde, das wäre ein starkes Signal gewesen. Das hätte
Symbolkraft gehabt, weil man dadurch deutlich gemacht
hätte, dass man die zentrale Bedeutung der Inneren Führung für die Verfasstheit der Bundeswehr anerkennt.
({0})
Aber vielleicht sind ja noch nicht alle Messen gesungen.
Jetzt liegen uns drei verschiedene Anträge mit fragwürdiger Substanz vor. Warum bin ich dieser Meinung?
Zu viele Allgemeinplätze: Innere Führung als ethisches
Fundament, politische Bildung ist notwendig, interkulturelle Kompetenz. Die Anträge enthalten Vorschläge, die
nach meiner Ansicht mit der Inneren Führung nur sehr
entfernt zu tun haben: Vereinbarkeit von Familie und
Dienst, Teilzeitarbeit und Nachwuchswerbung. Die FDP
will sogar ein spezielles Besoldungsrecht schaffen. An
anderen Stellen habe ich den Eindruck, dass man das
Konzept der Inneren Führung als Instrument missversteht, um Soldaten für den Dienst - sprich: für die Auslandseinsätze - besser und effektiver zu konditionieren
und zu optimieren, zum Beispiel, indem man sagt, man
müsse den Auftrag besser vermitteln.
Ich glaube, mit diesen Anträgen kommen wir nicht
wirklich weiter. Ich möchte einen bedeutungsschwangeren Satz aus dem Antrag der Grünen zitieren: Die Regierung muss dafür sorgen, „dass Struktur und Umfang der
Bundeswehr an den Erfordernissen der neuen Aufgaben
ausgerichtet“ werden. Das wird den Minister aber sehr
beeindrucken.
({1})
Dass Auslandseinsätze umstandslos mit Friedenseinsätzen gleichgesetzt werden, lieber Herr Kollege Nachtwei,
zeugt nicht gerade von Kritikfähigkeit. Aber das sei nur
am Rande bemerkt; ich komme gleich darauf zurück.
Ich finde, wir müssen das Ganze stärker auf den Kern
bringen. Der Kern ist: Streitkräfte in der Demokratie.
({2})
Deswegen sind meine Vorschläge:
Paul Schäfer ({3})
Erstens. Es wäre besser, sehr bald über den neuen Jahresbericht des Wehrbeauftragten zu diskutieren, der auf
zwei Seiten eine sehr genaue Beschreibung der Defizite
der Inneren Führung enthält.
Zweitens sollten wir den Abschlussbericht in seiner
gesamten Substanz wahrnehmen und uns an die Empfehlung dieses Berichts und die Einzelvoten der Fraktionen
halten: Wir sollten nach einiger Zeit überprüfen, was aus
diesen Vorschlägen geworden ist. Es ist nämlich wirklich verdienstvolle Arbeit geleistet worden. Das sollten
wir mitnehmen und nicht das, was Sie hier als Kondensat präsentieren; denn das ist nicht einmal eine FünfMinuten-Terrine.
Drittens. Ich finde den Hinweis auf die zentralen
Dienstvorschriften „Innere Führung“ und „Politische
Bildung“ wichtig; denn sie sind mir, wenn ich das als
Linker sagen darf, zehnmal wichtiger als die Anträge,
die uns vorliegen. Sie sind nämlich sehr viel umfassender und konkreter. Das Parlament muss überprüfen, wie
diese Vorschriften in der Praxis umgesetzt werden.
Noch einmal zum Kern der Sache: Innere Führung ist
das notwendige Gegengift gegen die Gefahr, dass die
hochorganisierte Vereinigung von Gewaltexperten, von
Soldaten, für ungesetzliche bzw. schändliche Zwecke
missbraucht wird. Das ist die Lehre aus der Geschichte
der deutschen Wehrmacht. Traditionelle und notwendige
militärische Prinzipien wie „Befehl und Gehorsam“ werden so unter das Primat der Menschenwürde und die
Völkerrechtsnormen gestellt. Das ist der Kern.
({4})
Wie es darum in den Streitkräften bestellt ist, wird an
bestimmten Auseinandersetzungen deutlich. Dürfen Soldaten zum Beispiel Befehle verweigern, wenn sie bestimmte Einsätze für völkerrechts- und grundgesetzwidrig halten?
({5})
Das ist der Punkt. Es gab den Fall „Major Pfaff“, der
sich gegen eine Verstrickung deutscher Soldaten in den
Angriffskrieg gegen den Irak gewandt hat. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich sehr bemerkenswert dazu
eingelassen, was ein Staatsbürger in Uniform in einer
solchen Situation machen darf und auch machen sollte.
Es war interessant, zu sehen, dass die Bundeswehr diesen Fall eher als lästigen Störfall betrachtet hat und versucht hat, ihn klammheimlich zu entsorgen, statt das
Problem in die politische Bildung einzubeziehen. Das
wäre mutig und konsequent gewesen.
({6})
Im Untersuchungsausschuss haben wir es jetzt mit
dem Kommando Spezialkräfte zu tun. Mit diesem
Thema werden wir uns sicherlich auch noch im Plenum
befassen. Auch dabei geht es um eine ähnliche Frage:
Dürfen deutsche Soldaten Gefangene bewachen, die
nicht einem Richter gegenübergestellt, sondern nach Guantánamo verschleppt werden? Es geht also um das
Thema, ob man die Erfordernisse eines militärischen
Bündnisses über Erwägungen zur Rechtswahrung stellen
kann. Wir werden es auch mit dem Fall Coesfeld zu tun
haben, bei dem es ebenfalls um Grenzüberschreitungen
geht. Wir werden uns mit der Frage beschäftigen müssen, ob es auch bei Führungskräften der Truppe ein ausreichendes Unrechtsbewusstsein gibt. Das zeigt sich
nämlich bei der Frage, wie man mit solchen Fällen umgeht.
Ich finde, an diesen kritischen Punkten wird es ernst. Da
geht es darum, wie es um die Innere Führung bestellt ist.
Hier sind vor allem wir als Parlament gefragt und müssen wachsam und aktiv bleiben. Das sollten wir nach
Möglichkeit gemeinsam tun.
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen, für
Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat nun Winfried Nachtwei, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
November letzten Jahres wurde der Abschlussbericht
des Unterausschusses „Weiterentwicklung der Inneren
Führung“ im Verteidigungsausschuss vorgelegt. Dieser
Bericht ist eine wahre Fundgrube an Informationen und
Anregungen. Dem Vorsitzenden Karl Lamers ist für die
gute Leitung dieses Unterausschusses ausdrücklich zu
danken.
({0})
Umso bedauerlicher ist allerdings, dass dieser Bericht
bisher nicht das Licht der Öffentlichkeit erreicht hat. Das
ist deshalb schade, weil sich die Öffentlichkeit im
Grunde erst dann für Innere Führung interessiert, wenn
ein Mängelbericht vorgelegt wird, das heißt, wenn gegen
Grundregeln der Inneren Führung verstoßen wird. Man
sollte den Bericht bitte schleunigst als Drucksache öffentlich machen. Der Bericht liegt nicht einmal im Internet vor. Das ist ein Hohn.
({1})
Innere Führung ist nicht weniger als der Versuch, elementare Lehren aus der Terrorgeschichte der Wehrmacht
zu ziehen, als deutsche Soldaten im Rahmen eines gigantischen Menschheitsverbrechens mit höchstem Einsatz funktionierten. Innere Führung ist schlichtweg der
Versuch, dieses zweifache Nein in die Kultur der neuen
deutschen Streitkräfte umzusetzen. Dies bedeutet eine
klare Bindung an den Friedensauftrag des Grundgesetzes, an die Menschwürde und an die Menschenrechte.
Die große und einhellige Zustimmung, die wir heutzutage im Bundestag zur Inneren Führung haben, ist
ausgesprochen erfreulich. Das war längst nicht immer
so. Ausdrücklich bewährt hat sich die Innere Führung ja
auch bei Stabilisierungseinsätzen, wo es - das haben wir
in den letzten Jahren gelernt - entscheidend auf die Legitimität, die Glaubwürdigkeit und die Vertrauenswürdigkeit der eingesetzten Soldaten ankommt. Aber wo so viel
Konsens besteht, ist das Risiko von gemeinsamen abgehobenen Sonntagsreden sehr nah. Das müssen wir zugleich feststellen.
Der Bericht des Wehrbeauftragten zeigt jedes Jahr:
Innere Führung ist in keiner Weise ein Selbstläufer. Es
geht um die gesellschaftliche Integration von Streitkräften, heutzutage unter den Bedingungen, dass sich die Erfahrungswelten von vielen Soldaten, ihren Angehörigen
und der normalen Zivilgesellschaft immer weiter auseinanderentwickeln. Es geht um ein extrem breites Anforderungsprofil an Soldaten im Einsatz, auch jüngere Soldaten, die verhandeln können müssen, die interkulturelle
Kompetenz haben müssen, aber gegebenenfalls auch
sehr schnell kämpfen können müssen. Es geht um eine
Auftragstaktik und um eigenständiges Handeln, wo man
bei Fehlverhalten schnell an den medialen Pranger gestellt wird. Bei so viel Gegenwind kann Innere Führung
nur realisiert werden, wenn sie wirklich aktiv betrieben
wird.
Innere Führung ist keine Privatangelegenheit der
Bundeswehr und der Soldaten und der Soldatinnen. Innere Führung verlangt Handeln aus Einsicht. Soldatisches Handeln soll sich im Rahmen des Völkerrechts
und der Menschenrechte bewegen. Aber - das müssen
wir ganz deutlich sagen - hier ist auch die Politik in der
Bringschuld. Aufträge müssen völkerrechtlich einwandfrei und durch den Friedensauftrag des Grundgesetzes
gedeckt sein. Sie müssen aussichtsreich, verantwortbar
und überzeugend sein. Die Einsatzregeln müssen klar
sein.
Dabei geht es um die Fragen - jetzt greife ich die Hinweise meines Vorredners auf -: Wie ist es mit der Übergabe von Gefangenen, wenn ihre rechtmäßige Behandlung nicht gewährleistet ist? Wie ist die Situation, wenn
man im Rahmen bzw. im Umfeld des sogenannten „war
against terrorism“ agiert? Hier, so meine ich, hat die
Bundesregierung ihre Hausaufgaben im Hinblick auf die
Innere Führung noch keineswegs erledigt. Als Stichwort
nenne ich nur die weitere Teilnahme an der Operation
Enduring Freedom.
({2})
Im jüngsten Jahresbericht des Wehrbeauftragten
wurde erneut thematisiert, dass es in der Bundeswehr erhebliche Führungsmängel gibt; das war übrigens auch
schon im letzten Jahr der Fall. Bei der Kommandeurtagung am kommenden Montag soll das Thema Führungskultur im Mittelpunkt stehen. Wenn die Bundeskanzlerin und der Bundesverteidigungsminister dort
sprechen, dann sollten sie das Problem der Führungskultur nicht nur als ein Problem der Uniformträger behandeln.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat nun Anita Schäfer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In über 50 Jahren hat sich das Konzept der Inneren
Führung in der Bundeswehr bewährt. Der Soldat als
mündiger Bürger in der demokratischen Gesellschaft
bleibt für die Streitkräfte das bestimmende Leitbild. Dieses Bild muss aber immer wieder an aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen angepasst werden. Im Antrag
der Koalitionsfraktionen mit dem Titel „Konzept der Inneren Führung stärken und weiterentwickeln“ wird darauf hingewiesen, dass mittlerweile neue Aspekte an Bedeutung gewonnen haben. Ich möchte auf zwei dieser
Aspekte näher eingehen, nämlich auf die Integration von
Frauen in die Bundeswehr und auf die Vereinbarkeit von
Familie und Dienst.
Mittlerweile sind mehr als 7 Prozent der Zeit- und Berufssoldaten weiblichen Geschlechts, im Sanitätsdienst
sogar über 36 Prozent. Sie tragen zur Auftragserfüllung
der Bundeswehr genauso wie ihre männlichen Kameraden bei. Die Frauen selbst wollen keine Sonderrolle,
sondern eine konsequente Gleichbehandlung. Wenn die
Frauen, die sich heute bei der Bundeswehr bewerben
und angenommen werden, das Beförderungssystem erst
einmal durchlaufen haben, wird jeder sechste Zeit- oder
Berufssoldat weiblich sein. Dafür muss allerdings gewährleistet sein, dass die Bundeswehr für Frauen attraktiv bleibt.
Dazu gehört, dass sie in der Truppe genauso anerkannt und behandelt werden wie ihre männlichen Kameraden; auch das ist eine Aufgabe der Inneren Führung.
Dazu gehört aber auch die Vereinbarkeit von Familie
und Dienst. Dies wiederum betrifft nicht nur die Soldatinnen, sondern auch die Soldaten.
Meine Damen und Herren, in unserem Antrag fordern
wir, zeitgemäße Konzepte zu entwickeln, damit sich soldatischer Dienst und Familie nicht gegenseitig ausschließen. Die Bundeswehr kann es sich nicht leisten, in dieser
Hinsicht hinter den Angeboten anderer Arbeitgeber zurückzubleiben, wenn sie auch künftig qualifizierte und
einsatzbereite Männer und Frauen gewinnen will. Dabei
sind wir uns vollkommen bewusst, dass der Soldatenberuf kein Job wie jeder andere ist.
Die Bundeswehr ist eine Armee im Einsatz. Gerade
Auslandseinsätze erfordern immer eine längere Trennung der Soldaten von ihren Familien. Aber bei Routineaufgaben am Heimatstandort gibt es die Möglichkeit zur
Anwendung von Modellen, die in anderen Bereichen erprobt wurden und sich bewährt haben, zum Beispiel
Teilzeit, Gleitzeit, Elternzeit und Telearbeit. Diese Maßnahmen sind bereits im Soldatinnen- und Soldatengleichstellungsgesetz geregelt.
Dadurch werden den Disziplinarvorgesetzten und der
Personalführung die notwendigen Instrumente an die
Hand gegeben, um den Dienst mit Rücksicht auf die familiären Belange der Soldatinnen und Soldaten zu geAnita Schäfer ({0})
stalten. Allerdings darf die Inanspruchnahme von Elternzeit nicht dazu führen, dass die Kameraden zum Beispiel
zusätzliche Arbeiten übernehmen müssen und dadurch
selbst Probleme im Hinblick auf die Vereinbarkeit von
Dienst und Familie bekommen. Ein zeitgemäßes Konzept muss an dieser Stelle Personalersatz vorsehen. Der
Vorgesetzte ist konkret gefordert, die verfügbaren Mittel
im Einzelfall umzusetzen, mit dem Wissen um die Situation der Menschen unter seinem Kommando und vor allem mit Einfallsreichtum - das waren schon immer Markenzeichen der Inneren Führung.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert zudem die
Frage der Kinderbetreuung. Mittlerweile gibt es Familien, in denen beide Elternteile in der Bundeswehr dienen, und es gibt alleinerziehende Soldatinnen und Soldaten. Die Schwierigkeiten für diese Familien liegen auf
der Hand. Einige Bundeswehreinrichtungen haben bereits in Eigeninitiative Möglichkeiten zur Kinderbetreuung realisiert. Hier müssen wir zu einem flächendeckenden Angebot kommen. Die Kindertagesstätte in der
Kaserne oder am Standort darf kein Wunschtraum bleiben.
In der neuen Zentralen Dienstvorschrift Innere Führung wird auf die Angebote der Familienbetreuung hingewiesen. Wo die Erfordernisse des Dienstes der Rücksicht auf familiäre Belange Grenzen setzen, besonders
im Einsatz, kann sie Unterstützung bei der Bewältigung
von Problemen bieten.
Ich verweise in diesem Zusammenhang mit großer
Dankbarkeit auf die Arbeit der Familienbetreuungszentren der Bundeswehr. Daneben gibt es eine zunehmende
Zahl privater und ehrenamtlicher Initiativen, die den Familien der Soldaten - im Einsatz, im Alltag, ohne den
Vater, ohne die Mutter - helfen. Oft haben sich die betroffenen Familien selbst organisiert. Diese beiden Ansätze stehen nicht in Konkurrenz zueinander, sie bilden
eine sinnvolle Ergänzung füreinander. Wir fordern daher
in unserem Antrag, die Arbeit der Betreuungszentren
und der ehrenamtlichen Projekte stärker zu vernetzen,
um Synergieeffekte zu nutzen. Ressourcen intelligent zu
nutzen und gesellschaftliche Entwicklungen einzubeziehen, auch das ist Teil der Inneren Führung.
Die Innere Führung ist ein lebendiges Konzept. Sie
muss sich immer wieder an gesellschaftliche Veränderungen anpassen. Dazu gehört, dass sie in verständlicher
Form und Sprache vermittelt wird. Das beginnt bei der
Zentralen Dienstvorschrift und endet bei den Erläuterungen des Vorgesetzten gegenüber seinen Untergebenen.
Nur so kann die Innere Führung die akzeptierte Richtschnur für unsere Soldaten bleiben. Nur so können wir
sicher sein, dass die Innere Führung auch in Zukunft die
Grundlage für ethisches und verantwortungsbewusstes
Handeln sowohl innerhalb der Truppe als auch im Einsatz bildet.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat nun Petra Heß für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Die Öffnung der Streitkräfte und das Gesetz zur Durchsetzung der Gleichstellung von Soldatinnen und Soldaten sind, so titelte unlängst die Bundeswehrzeitschrift aktuell, ein Gewinn für
die Truppe.
Das stimmt. Trotz mancher Vorbehalte und nach anfänglicher Verunsicherung über die neue Situation hat
die Integration der Frauen in den Streitkräften rasch gute
Fortschritte gemacht. Die Zahlen sprechen für sich: Aktuell dienen 13 000 Soldatinnen in den Streitkräften, davon 8 000 als Unteroffizier und 1 300 als Offizier. Der
Anteil der Frauen liegt bei den Berufs- und Zeitsoldaten
mittlerweile bei knapp 7 Prozent, Tendenz weiter steigend. Von der Zielgröße, die wir uns gesetzt haben, sind
wir allerdings noch weit entfernt.
Kommen wir also zu der Frage, wie sich die Öffnung
der Laufbahnen für Frauen auf die Innere Führung und
auf die damit im Zusammenhang stehenden Themen
ausgewirkt hat und was wir noch verbessern können, um
den Soldatenberuf für Frauen noch attraktiver zu machen. Ein wesentlicher Aspekt der Inneren Führung ist
und bleibt die Vorbildfunktion. Der Vorgesetzte muss
durch sein Vorbild wirken. Denn wie schon Dostojewski
sagte:
Bevor ihr den Menschen predigt, wie sie sein sollen, zeigt es ihnen an euch selbst.
Was aber, wenn eine Frau als Vorgesetzte von ihren
Soldaten eine bestimmte körperliche Leistungsfähigkeit
fordert, zu der sie aufgrund ihres Körperbaus selbst nicht
in der Lage ist? Gibt es hier womöglich Akzeptanzprobleme? Ich glaube, das ist ein eher theoretischer Fall.
Die vom Unterausschuss eingeladenen Soldatinnen haben durchweg bestätigt, dass die Integration gelungen
ist; dass sie von den Kameraden gut aufgenommen worden sind; dass die Zusammenarbeit mit den Kameraden
gut ist; dass der Umgang mit Vorgesetzten und Untergebenen unproblematisch ist.
Die Frauen selber - das hat bereits der frühere Wehrbeauftragte Dr. Penner festgestellt - wünschen, in erster
Linie als Soldat gesehen zu werden, lehnen jegliche Sonderrolle ab, fordern eine konsequente Gleichbehandlung
und empfehlen grundsätzlich einen offenen und ehrlichen Umgang mit Problemen. Die Soldatinnen widersprechen damit entschieden dem landläufigen Klischee,
gleichberechtigt zu sein, aber nicht die gleichen Pflichten zu haben. Mit ihrem Anspruch liegen unsere Frauen
in Uniform auch richtig. Denn nur auf der Basis der gleichen Verpflichtungen ist auch eine Gleichstellung möglich.
Allein im Bereich ihrer persönlichen Ausrüstung gibt
es weiterhin kleinere Mängel. Problematisch erscheint
dabei für manche Frauen die Bekleidungssituation. Besonders kleine Frauen finden häufig immer noch keine
passende Arbeits- und vor allem Schutzkleidung. Die
vorhandenen Splitterschutzwesten sind, was Größe und
Gewicht angeht, für viele Frauen ungeeignet. Insofern
müssen nachhaltige Lösungen gefunden werden, damit
die Kleidung nicht zu einem Einsatzhemmnis für Frauen
wird.
Grundsätzlich ist festzustellen, dass die Bundeswehr
die Integration von Frauen rasch und sehr gut bewältigt
hat. Auch in unseren Reihen sitzen einige Reserveoffizierinnen. Die Frauen selbst haben wesentlich zu ihrer
Integration beigetragen. Viele befürchten, dass es in Zukunft zu Akzeptanzproblemen kommen könnte, wenn
Frauen als Konkurrentinnen um Aufstiegs- bzw. Führungspositionen wahrgenommen werden.
Diesen Scheinproblemen sehe ich persönlich aber gelassen entgegen. Denn auch hier - davon bin ich überzeugt - werden die Frauen ihren Mann stehen. Schon
heute - nur sechs Jahre nach der Öffnung der Streitkräfte
für Frauen - gehören sie ganz selbstverständlich zum
Bild der Bundeswehr und sind ein Gewinn für die
Truppe.
Wie stellt sich die Betreuung der Soldatinnen und
Soldaten dar, und wie sieht es mit der Vereinbarkeit von
Familie und Beruf aus? Schwierig - wie auch im zivilen
Leben - ist die Situation, wenn ein Elternteil alleinerziehend ist. Regelungen wie im zivilen Berufsleben stehen
hier noch aus. Häufig bieten auch die Kommunen keine
bedarfsgerechte Kinderbetreuung für Kinder von Soldatinnen und Soldaten an. In einem solchen Fall muss die
Bundeswehr verstärkt mit eigenen Einrichtungen in die
Bresche springen, um wenigstens an den großen Standorten eine bedarfsgerechte Betreuung anbieten zu können. Bestehende Kindertagesstätten der Bundeswehr wie
die der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg
haben sich bestens bewährt.
Ein weiteres Problem stellen die zahlreichen zum Teil
kurzfristigen Versetzungen der Soldatinnen und Soldaten
dar. Familien werden aus ihrem gewohnten Umfeld gerissen. Die Kinder leiden unter dem häufigen Schulwechsel und dem Verlust der Freunde. Dem Ehepartner
droht der Verlust der Arbeitsstelle. Aber die Zeiten, in
denen die Soldatenfrauen in der Regel zu Hause blieben,
sind vorbei. Die Bundeswehr muss die Zeichen der Zeit
erkennen.
Die zunehmend selbstverständliche volle Berufstätigkeit von Frauen, aber auch der zunehmende Wunsch vieler Männer nach einer aktiven Vaterschaft müssen zukünftig bei der Personalgewinnung berücksichtigt
werden. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels wird es nämlich schon sehr bald zu einem verschärften Wettbewerb mit der freien Wirtschaft um die besten
Köpfe - ich betone: beider Geschlechter - kommen. Dabei werden künftig Faktoren wie bessere Kinderbetreuung, Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf unter Umständen den Ausschlag geben. In
diesem Zusammenhang gilt es, mit der Zentralen Dienstvorschrift erste anspruchsvolle neue Ansätze zu finden.
Das hat die Bundeswehr bereits getan.
Was unternimmt die Bundeswehr, um die Vereinbarkeit von Dienst und Familie zu verbessern? Sie unterstützt in den sogenannten Familienbetreuungszentren die
Familien bei Auslandseinsätzen. Sie steht aber auch den
Soldatinnen und Soldaten im Grundbetrieb zur Seite.
Die Betreuungszentren sollen dabei ein Netzwerk der
Hilfe darstellen.
Besonders die Feststellung, dass letztlich die Einsatzaufträge und die Fähigkeit zur Auftragserfüllung Priorität haben, ist im Zusammenhang mit der Bundeswehr
ebenso selbstverständlich wie irreführend. Keiner bezweifelt mehr, dass Väter und Mütter ihren Dienst genauso erfüllen müssen und dies auch wollen wie die
Männer und Frauen ohne Familie. Aber der Verweis auf
die Auftragspriorität darf nicht zu einer Ausrede verkommen. Auch unbequeme Verbesserungsvorschläge
dürfen nicht mit dem Hinweis auf die Anforderung des
Dienstes im Keim erstickt werden. Es gilt vielmehr, die
Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und
Beruf unter umgekehrten Vorzeichen und ohne Ansetzen
der Kostenschere zu betrachten. Denn wie schon der
Schweizer Theologe Alexandre Vinet formuliert hat:
„Das Schicksal des Staates hängt vom Zustand der Familie ab.“
Abschließend sei auch mir gestattet, noch einmal allen ganz herzlich Dank zu sagen, die im Unterausschuss
mitgearbeitet haben, auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und den Vertretern des Ministeriums. Die
Arbeit im Unterausschuss war stets kollegial und konstruktiv. Sie war einfach gut. Deshalb bin ich auch optimistisch, dass wir einen guten Antrag gemeinsam hinbekommen. Nochmals vielen Dank an alle.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/8378, 16/8370 und 16/8376 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Nicole Maisch, Cornelia Behm, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Aktionsplan Ernährung vorlegen
- Drucksache 16/8193 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken,
Nicole Maisch, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Verbraucherfreundliche Lebensmittelkennzeichnung einführen
- Drucksachen 16/6788, 16/7726 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Berichterstattung:
Abgeordnete Julia Klöckner
Volker Blumentritt
Karin Binder
Nicole Maisch
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Ulrike Höfken, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es geht jetzt um die Ampelkennzeichnung bei
Lebensmitteln. Sie sehen hier beispielsweise die Kennzeichnung für eine Pizza nach dem britischen Ampelsystem. Hier sehen Sie eine Kennzeichnung auf den Pommes frites. Es sieht keinesfalls so aus, dass man sagen
müsste: Dies ist des Teufels. Vielmehr handelt es sich
um ein System, für das wir jetzt einmal ordentlich Werbung machen wollen.
Es geht hierbei allerdings nicht - das muss man sagen um einen Schönheitswettbewerb, weder was die Menschen noch was die Verpackungen angeht; vielmehr geht
es beim Thema Ernährung um Leben oder Tod. Diabetes, Bluthochdruck, Herzinfarkt, Schlaganfall, Darmkrebs, Arthrose, Sterilität, Fehlgeburten - Adipositas
verkürzt das Leben und führt zu vorzeitigem Tod. So
sagt der Präsident der Deutschen Adipositas-Gesellschaft.
Niemand darf die 37 Millionen übergewichtigen Erwachsenen oder die 2 Millionen übergewichtigen Kinder
und Jugendlichen stigmatisieren oder gar in ihrer Person
lächerlich machen. Aber 16 Millionen Menschen sind an
dieser schweren Form der Übergewichtigkeit, an der
Adipositas, schwer erkrankt. 70 Milliarden Euro pro Jahr
geben wir für die ernährungsbedingten Folgekosten der
Krankheiten aus, Tendenz steigend. Es geht also nicht
um ein Problem einzelner Menschen und auch nicht um
die Schuld einzelner Menschen. Vielmehr wird den Betroffenen das Leben im wahrsten Sinne des Wortes
schwer gemacht.
Angesichts einer solchen Epidemie, wie die Weltgesundheitsorganisation die dramatische Zunahme der
Schwergewichtigkeit definiert, ist heute die Notwendigkeit politischen Handlungsbedarfs offenkundig. Die
Bundesregierung muss dringend - wie wir schon seit einiger Zeit fordern - den angekündigten Aktionsplan Ernährung vorlegen.
({0})
Doch politische Lösungen werden vom ehemaligen Gesundheitsminister Seehofer mit aller Kraft verhindert,
und Ernährung wird zur Privatsache deklariert.
({1})
Eine wichtige grüne Forderung ist die Einführung der
Ampel - ich habe sie gerade gezeigt - als verbindliches,
leicht verständliches, einfaches Lebensmittelkennzeichnungssystem, das natürlich keine Allheillösung für alle
Probleme der Welt ist, sondern in der jetzigen Situation
- das hat die Verzehrstudie gezeigt; die Leute wissen zu
wenig über Ernährung - für eine einfache Orientierung
sorgt.
({2})
Man erhält nämlich einen besseren Überblick darüber,
wie viel Salz, Fett und Zucker im Einkaufskorb landen.
Aber der Bundesverband der Lebensmittelindustrie
scheut die Ampel wie der Teufel das Weihwasser.
({3})
Dabei ist sie in Großbritannien bereits erprobt und wird
von den Supermarktketten Sainsbury’s, Waitrose oder
Marks & Spencer erfolgreich eingesetzt.
({4})
Erst ging es Minister Seehofer und der Wirtschaft darum, generell die Kennzeichnung der Nährwerte zu verhindern. Das duldet Gott sei Dank die EU nicht; Brüssel
ist da also treibende Kraft. Aber eine mächtige Allianz
von 21 Großkonzernen und Produzenten wie Kellogg’s,
Nestlé und Tesco boykottiert die Ampel und entwickelt
nun - auch mithilfe von Minister Seehofer und der
schwarz-roten Regierung - ihr Gegensystem. Dieses
vorgelegte Industriemodell hat seine Tücken. Es sieht
eine portionsbezogene Angabe des Anteils von Zucker,
Fett und Salz vor. Dadurch wird die Angabe sehr kompliziert. Durch die Zugrundelegung von Miniportionen
und die Annahme eines zu hohen Tagesbedarfs wird der
reale Wert schlichtweg verniedlicht. Auch die Interpretation ist schwierig.
Heute hat die Hamburger Verbraucherzentrale - das
passt zu unserem Thema - eine Untersuchung zu diesem
Modell veröffentlicht. Das Ergebnis ist: Mit ihrem
Kennzeichnungsmodell schummelt die Wirtschaft die
Lebensmittel schlichtweg gesund.
Ein Beispiel: Wer im Supermarkt auf der Suche nach
einem gesunden Kinderfrühstück vor den überfüllten
Regalen steht, kommt an den Frühstücksflocken von
Kellogg’s nicht vorbei. In Großbritannien würde man
aufgrund des hohen Zuckergehalts dieser Produkte viele
rote Punkte auf der Packung finden. Allein der Zuckergehalt einer normalen Portion beträgt 11 Gramm; das ist
fast ein Drittel der maximalen Zuckerzufuhr, die von der
Deutschen Gesellschaft für Ernährung für ein vier- bis
siebenjähriges Mädchen für akzeptabel gehalten wird.
({5})
Fazit: Das freiwillige Seehofer’sche System bzw. das
Industriesystem ist ein gezieltes Verwirrungssystem. Um
es beim Einkaufen entziffern zu können, braucht man
eine Lupe, ein Ernährungslexikon und einen Taschenrechner.
({6})
Es hilft den bildungsfernen und etwas sozialschwächeren Schichten bestimmt nicht, sich besser zurechtzufinden und beim Einkauf auf eine sinnvolle Ernährung zu
achten.
({7})
Wir geben dem britischen Gesundheitsminister recht,
der zu seinem Kennzeichnungssystem gesagt hat: Gegenwärtig basiert das von uns bevorzugte, von der britischen Lebensmittelbehörde entwickelte Modell auf dem
Ampelsystem, das die Verbraucher laut unabhängigen
Forschungsergebnissen leicht verständlich finden und
das dazu beiträgt, Verhaltensänderungen zu bewirken.
({8})
Dem wollen wir uns anschließen. Wir verlangen von
der Bundesregierung - wir nehmen da insbesondere die
Kollegen von der SPD in die Pflicht, die öffentlich gesagt haben, dass sie ihre Verantwortung wahrnehmen
möchten -, dafür zu sorgen, dass das Ampelsystem eingeführt wird.
({9})
Wenn Sie nichts tun und die Leute im Werbedschungel,
der mit Milliardenbeträgen gefördert wird, allein lassen,
ist das - ich zitiere den Geschäftsführer einer großen
Adipositasklinik - „Körperverletzung“.
Minister Seehofer sagt, die Ampelkennzeichnung sei
ein schlechter Ernährungsberater; die Ampelfarben würden dem Verbraucher die eigene Einschätzung nehmen.
Dazu sagen wir: Seehofer verweigert mit der Einführung
des von ihm vorgesehenen Systems den Menschen die
Orientierung und die Möglichkeit, mündig zu werden,
sich in Wahlfreiheit zu entscheiden und entscheidungskompetent zu werden. Das wollen wir nicht.
Frau Kollegin, Ihre Ampel steht auf Rot;
({0})
Ihre Redezeit ist zu Ende.
Deswegen fordern wir die unverzügliche Einführung
des Ampelsystems und den Start eines Bundesprogramms, das mit entsprechender Öffentlichkeitsarbeit
eingeführt wird. Wir fordern auch, Werbung für Kinderlebensmittel und den Verkauf von Süßigkeiten an Schulen zu verbieten.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär
Gerd Müller.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Keine Angst: Auch in Zukunft können Sie essen
und trinken, was Sie wollen; Sie entscheiden.
({0})
Wenn es nach der Kollegin von den Grünen geht - das
wollen wir auf keinen Fall -, käme es zu weiteren Verboten. Ja, wo kämen wir da hin? Ich glaube, dass die
Eigenverantwortung im Vordergrund stehen sollte.
Was geht es den Staat eigentlich an, was ich esse und
trinke?
({1})
Diese Frage kann man bewusst stellen. Viele antworten
darauf: Mein Körper gehört mir; ich persönlich entscheide.
({2})
Lieber Kollege Bleser und all die anderen Kollegen, die
jetzt Beifall geklatscht haben, es wird selbstverständlich
dabei bleiben.
Wir haben aber ein großes Problem: 66 Prozent der
Männer und 51 Prozent der Frauen sind übergewichtig.
Wenn ich mir die Kolleginnen und Kollegen anschaue,
komme ich zu dem Ergebnis, dass der Anteil der übergewichtigen Kollegen eher über dem Durchschnitt liegt.
Ich würde sagen, gefühlte 80 Prozent der Kollegen sind
übergewichtig.
({3})
- Das hängt damit zusammen, Herr Goldmann, dass
viele der Kollegen Schwergewichte sind - politisch und
körperlich.
({4})
Aber Spaß beiseite. Ich war heute Morgen bei Misereor. Der eine Teil der Welt - das sind 800 Millionen
Menschen - hungert. Der andere Teil der Welt - das sind
die westlichen Wohlstandsstaaten mit 1 Milliarde Menschen - hat ein Problem mit dem Übergewicht. In
Deutschland ist das auch ein wichtiges Thema.
Was geht das aber den Staat an? Natürlich hat Übergewicht Auswirkungen auf die Gesundheit des Einzelnen, und es hat gesellschaftliche Folgen.
({5})
Wir gehen davon aus, dass 30 Prozent der Gesundheitskosten Folgekosten von ernährungsbedingten Krankheiten sind; das summiert sich immerhin auf 80 Milliarden
Euro im Jahr. Deshalb sind wir sehr besorgt und kümmern uns um dieses Thema.
({6})
Nicht eingeschlossen - das würde eine eigene Debatte
rechtfertigen - ist der Bereich der Alkoholsucht.
Gesunde Ernährung und Bewegung sind der Schlüssel zu Lebensqualität, Gesundheit und Fitness; beides
gehört dazu. Deshalb hat Bundesminister Seehofer Eckpunkte für den Nationalen Aktionsplan Ernährung vorgelegt. Wir haben bereits erste Einzelaktionen dazu vorgestellt. Das Gesundheitsministerium arbeitet mit den
Ländern und den Kommunen zusammen. Wir laden alle,
die sich des Themas der Ernährung annehmen wollen,
ein, in den nächsten Wochen und Monaten ihre Gedanken dazu einzubringen. Ernährung ist das wichtigste
Thema, wenn es um das Leben und die Gesundheit jedes
Einzelnen geht.
({7})
Durchschnittlich nimmt jeder Mensch in seinem Leben 80 000 bis 100 000 Mahlzeiten ein. Das ist jedes
Mal eine bewusste Entscheidung darüber, was man isst
und was nicht.
({8})
Häufig wäre ein einfaches Nein die richtige Antwort.
Diese 100 000 Mahlzeiten beruhen auf 100 000 individuellen Entscheidungen,
({9})
und diese Entscheidungen sind heutzutage nicht einfach.
Bei einem Angebot von rund 250 000 Artikeln im Lebensmittelgeschäft entscheidet der Einzelne, wo er zugreift, wo er nein sagt, und mit Produkten welcher Güte
und Menge er sich ernährt. Das sind bewusste Einzelentscheidungen. Deshalb stellen wir die Stärkung der
Ernährungsbildung ganz weit in den Vordergrund. Bei
Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen fehlt es an
grundlegendem Ernährungswissen. Deshalb ist Ernährungsbildung der zentrale Ansatz.
({10})
Wir müssen den Menschen entsprechendes Wissen
vermitteln, weil das in den Familien heutzutage leider
nicht mehr geschieht.
({11})
Deshalb sind wir der Meinung, dass wir mit den Bundesländern über die Einführung eines Pflichtschulfaches
„Ernährungs- und Verbraucherbildung“ diskutieren müssen. Ein fächerübergreifendes Prinzip allein genügt
nicht.
({12})
Wir werden außerdem einen neuen gesamtgesellschaftlichen Konsens, dass nämlich Esskultur Lebenssinn bedeutet, finden müssen.
({13})
Wir brauchen eine neue Ethik im Hinblick auf das Essen
und auf die Lebensmittel. Wir müssen uns auch fragen,
wie wir zu den Bauern, den Produzenten der Nahrungsmittel, stehen. Wir brauchen mehr Wertschätzung gegenüber hochwertigen Produkten, und wir müssen uns überlegen, wie wir Lebensmittel überhaupt bewerten. In
Bezug auf all das brauchen wir gesamtgesellschaftlich
einen vollkommen neuen Ansatz.
({14})
Die richtige Wahl der Lebensmittel - das ist ein Kernpunkt des Aktionsplanes, Frau Höfken ({15})
hängt mit Ernährungswissen, aber natürlich auch ein
Stück weit - da haben Sie recht - mit besseren Produktinformationen zusammen. Schauen Sie sich aber die
Produkte genau an! Die allermeisten Kennzeichnungen
sind für den Verbraucher absolut nicht nachvollziehbar,
unverständlich. Deshalb haben wir einen Vorschlag erarbeitet, der den Menschen einen Weg durch den Dschungel von 250 000 angebotenen Produkten aufzeigt, wie
man sich besser informieren kann. Wir wollen eine verbesserte, verbraucherorientierte Kennzeichnung. - Frau
Kollegin Höfken, Sie halten einen Chip hoch. Aber wir
sind längst über das hinaus, was Sie nach dem Vorbild
Großbritannien bei uns einführen wollen. Die rot-gelbgrüne Ampel in Großbritannien hat bei der Kennzeichnung von Lebensmitteln nicht funktioniert.
({16})
Deshalb haben wir ein Kennzeichnungssystem entwickelt, das meilenweit über Ihre veralteten Erfahrungen
hinausgeht.
({17})
Wir haben zusammen mit der Nahrungsmittelindustrie
ein System - in der ersten Stufe auf der Basis der Freiwilligkeit - entwickelt, das Auskunft gibt, wie viele Kalorien, wie viel Zucker, wie viel Fett, wie viele gesättigte
Fettsäuren und wie viel Kochsalz der Verbraucher pro
Portion, bezogen auf den Tagesbedarf, mit einem bestimmten Produkt zu sich nimmt.
({18})
Das sind konkrete Informationen, mit denen der Verbraucher etwas anfangen kann.
Zu Ihrer Überraschung werden wir - dazu haben wir
gestern eine Umfrage gestartet - eine Kennzeichnung
testen, in der Rot, Gelb und Grün eine Rolle spielen.
Aber das ist etwas komplett anderes als die englische
Ampel. Wir geben dem Verbraucher konkrete Informationen zur täglichen Nahrungsmittelaufnahme, mit denen er etwas anfangen kann und die ihm helfen.
({19})
Weil mir wenig Zeit zur Verfügung steht, nur noch ein
paar Stichworte. Wir werden darüber hinaus die Ernährungsforschung verstärken. Bundesminister Seehofer hat
den großen und schwierigen Bereich der Allergieforschung in den Mittelpunkt gestellt. Wir wollen und müssen uns mit durch Lebensmittel ausgelösten Allergien
befassen. Wir haben bereits Qualitätsstandards für
Schulverpflegung, Betriebskantinen und öffentliche Einrichtungen entwickelt. Hier muss die öffentliche Hand
ein Stück weit Vorbild sein. Wir müssen des Weiteren
das Thema „Kinder und Schule“ aufgreifen. Jedes dritte
Kind geht heute ohne Frühstück in die Schule. Das muss
und kann nicht die Zukunft sein. Die Bundesländer sind
aufgefordert, dieses Problem zu lösen. Kinder brauchen
Frühstück und Mittagsverpflegung in der Schule.
({20})
Wir haben zudem viele Maßnahmen in der Plattform
Ernährung und Bewegung, peb, gebündelt. Hier arbeiten
Vertreter des Sports, Eltern und Wissenschaftler zusammen. Es geht darum, wissenschaftliche Erkenntnisse in
die Praxis umzusetzen. 5 000 Schritte am Tag garantieren ein Minimum an Bewegung. Lassen Sie uns das anpacken! Mehr Bewegung und gesunde Ernährung bringen uns auf dem Weg zu einem gesunden Leben weiter.
Herzlichen Dank.
({21})
Das Wort hat der Kollege Hans-Michael Goldmann
für die FDP-Fraktion.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sage vorweg: Ich bin eigentlich auf einem anderen Trip gewesen. Herr Müller, Sie wollten uns überraschen. Das ist Ihnen voll geglückt. Ich weiß überhaupt
nicht mehr, was Sie wollen. Nun wollen Sie auf einmal
doch eine Ampel; denn nichts anderes bedeuten Rot,
Gelb und Grün. Wenn Sie glauben, dass der Verbraucher
anhand dieser Farben die Informationen besser versteht,
dann sind Sie auf dem Holzweg. Sie waren an sich auf
einem ganz vernünftigen Weg. Ihr Minister wollte auf
Freiwilligkeit setzen - dafür bin auch ich - und hat an
die Betriebe appelliert: Bringt eure Produkte mit guten
Inhalten auf den Markt, wenn ihr das für richtig haltet
und ein entsprechendes Verbraucherverhalten auslösen
wollt. Aber das, was Sie jetzt machen, ist im Grunde genommen nichts anderes als das, was die „schlimmen“
Grünen wollen.
({0})
Frau Höfken, Sie sind bei diesem Thema unbelehrbar.
Das habe ich oft genug im Ausschuss erlebt. Die Ampel
in England ist schon 2004 kläglich gescheitert. Sie meinen trotzdem, dass das die Heilsbotschaft ist. Sie lesen
offenbar keine Fachberichte, die eindeutig belegen: Ampel, nein danke, das klappt nicht.
({1})
- Nicht so laut, Herr Kelber, verausgaben Sie sich nicht!
Ich bringe noch andere Belege. Sie sollten nicht immer
so laut dazwischen schreien. Das ist ein bisschen unangenehm. - Jetzt will ich das an einem Beispiel deutlich
machen, das nicht von mir, sondern von der Verbraucherzentrale kommt. Der glauben Sie doch ein Stück
weit. Es gibt zum Beispiel Chipsletten Paprika. Was
würden Sie vermuten, wie viel rote und wie viel grüne
Punkte die Chipsletten bekommen?
({2})
Die bekommen einen roten Punkt, weil relativ viel Fett
darin ist, aber sie bekommen auch drei grüne Punkte.
Was macht nun der Verbraucher? Er schaut darauf und
fragt sich: Was ist denn das? Ist das rot oder grün? Dreimal grün, das scheint etwas Gutes zu sein. - Nehmen wir
zum Beispiel Pfirsichringe. Die sind in Ihren Augen etwas ganz Schlimmes: Schaumzucker, Gummibonbons.
Da wird es noch schlimmer. Dafür gibt es drei grüne
Punkte und noch einen gelben Punkt. Das ist also auch
etwas ganz Tolles. Die Beispiele zeigen eindeutig: Die
Regelung mit den Punkten haut nicht hin. Das muss man
schlicht und ergreifend zur Kenntnis nehmen.
({3})
Wir müssen, auch wenn es mühsam ist, den Verbraucher im Rahmen des Möglichen informieren und ihn bilden. In dieser Beziehung bin ich mit Ihnen, Herr Müller,
völlig einer Meinung. Verbraucherbildung und Verbraucherinformation sind sehr wichtig. Ich hätte mir aber
gewünscht, dass Sie dem Antrag, den die FDP im Ausschuss gestellt hat, nämlich mehr Geld für die Verbraucherbildung auszugeben, zugestimmt hätten. Dass Sie
das nicht gemacht haben, ist ein bisschen widersprüchlich.
({4})
- Herr Kelber, wenn Sie so laut schreien, dann können
Sie gar nicht zuhören. Dann sind Sie hinterher genauso
ungebildet wie vorher. Das ist ein Problem. Sie sollten in
diesem Fall die Politikerbildung nutzen und mir zuhören. Auch das ist ein Bestandteil der fachlichen Diskussion.
({5})
Nachher werden Sie, Herr Kelber, gefragt, wie Sie es
mit Olivenöl halten. Olivenöl erhält jede Menge rote
Punkte. Das kann doch wohl nicht sein. Sogar Herr Bode
sagt, dass es bei Olivenöl ein Problem gibt. Wie halten
Sie es denn mit Joghurtprodukten, die mit Sahne angereichert sind? Die bekommen einen roten Punkt.
Kollege Goldmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Höfken?
Die macht mir eine Freude.
({0})
- Sie bekommt jetzt erst einmal einen grünen Punkt,
weil sie eine Frage stellt.
({1})
- Ich hoffe, dass ich ihr einen roten verpassen kann.
Wie die Debatte zeigt, funktioniert die Vergabe der
Punkte ganz ausgezeichnet. Ihre Beispiele von Produkten zeigen doch, dass es nicht um böse oder gute Lebensmittel geht - das ist immer Ihre Befürchtung -, sondern
darum, deutlich zu machen, was in einem Warenkorb an
unterschiedlichen Nährwerten enthalten ist. Ich frage
Sie, wo doch im Bereich des Umweltschutzes zum Beispiel bei Lüftungssystemen und anderen Systemen die
Ampel gut funktioniert, warum Sie die Ampel bei Nahrungsmitteln ablehnen, obwohl Sie gerade gezeigt haben, dass sie funktioniert.
Jetzt habe ich ein Problem. Entweder haben Sie mich
nicht verstanden, oder ich habe Sie nicht verstanden. Es
war doch eigentlich relativ simpel. Sie kennzeichnen ein
Produkt nicht mit Informationen, sondern mit Punkten,
die eine Signalwirkung haben. Es gibt ein Symbol in unserer Gesellschaft, das etwas ganz Furchtbares signalisiert, nämlich die Farbe Rot. Die sehen Sie auf dem
Schild, das die Durchfahrt einer Einbahnstraße in einer
bestimmten Richtung verbietet. Ich habe anhand der
Beispiele deutlich gemacht, dass Sie auf ein und demselben Produkt einen roten Punkt, aber gleichzeitig auch
drei grüne Punkte haben. Der Verbraucher muss doch die
Inhaltsstoffe kennen und diese einer bestimmten Menge
zuordnen können. Sonst verhält er sich verkehrt. Olivenöl würde jede Menge rote Punkte bekommen. Das ist
aber verkehrt. Olivenöl in einer vernünftigen Dosierung
ist sehr gesund.
Deswegen ist Ihr Informationsweg falsch. Unser Informationsweg besagt, dass selbstverständlich eine
Kennzeichnung erforderlich ist, dass man dann aber
auch wirklich darauf schreibt, was drin ist, und es nicht
mit einem im Grunde genommen blinden Signalwert unterlegt, der aus meiner Sicht inhaltlich nichts bedeutet.
Diese Erfahrungen sind doch in England gesammelt
worden. Frau Höfken, Ihr Problem ist, dass Sie ein völlig
anderes Verbraucherleitbild als Liberale haben. Sie wollen verbieten und vorschreiben; wir wollen, dass der
Bürger informiert ist und die Möglichkeit hat, sich Dingen mit Genuss zuzuwenden und sich vernünftig zu ernähren.
({0})
- Frau Höfken, jetzt haben Sie leider keine weitere Frage
mehr.
In Ihrem ganzen Szenario wird dieser Unterschied
deutlich: Der eine von Ihnen will Plastiktüten verbieten,
der andere will im Grunde genommen Genuss verbieten,
der Nächste will Fernsehwerbung verbieten. Wissen Sie,
es erschüttert mich wirklich, dass Grüne ein solches Verständnis haben. Das ist das genaue Gegenteil vom Bild
eines mündigen und informierten Verbrauchers.
({1})
Dass auch einige andere wie Frau Drobinski-Weiß in
diese Richtung gehen und Ampelbefürworter sind, ist
ebenfalls erschütternd und ein echtes Problem dieser
Großen Koalition.
In dieser Frage sind wir - besser gesagt: wir waren es
bis vor kurzem - hundertprozentig auf der Seite von Minister Seehofer.
({2})
- Nur in dieser Frage sind wir hundertprozentig auf der
Seite von Minister Seehofer.
({3})
Minister Seehofer ist nach Brüssel gefahren und hat
sich dort für eine freiwillige, informative Kennzeichnung ausgesprochen. Es ist völlig falsch, wenn Sie, Frau
Höfken, sagen, dass dies von der Lebensmittelwirtschaft
bekämpft werde. Gerade kleine und mittelständische Betriebe, aber auch die großen Betriebe machen sich auf
den Weg, eine planvolle und kluge Information auf ihren
Produkten an die Verbraucher heranzubringen. Dieser
Weg ist viel erfolgversprechender als die Ernährungsdiktatur, die Sie vorschreiben wollen.
Nun will ich noch etwas sagen, was mir wehtut. Der
Grund für das Dickerwerden in Deutschland - das wissen Sie ganz genau, und ich finde es unehrlich, was Sie
hier transportieren - ist nicht die Ernährung, sondern der
Bewegungsmangel. Das weiß jeder, der bereit ist, sich
damit einmal ernsthaft zu beschäftigen. Deswegen sollten Sie Ihre Fehlinformationen zurücknehmen.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Marlies Volkmer für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der
Analyse sind wir uns einig: Die Deutschen sind zu dick.
Es ist auch schon gesagt worden, dass 66 Prozent der
Männer und mehr als 50 Prozent der Frauen Übergewicht haben. Dies hat die zweite Verzehrstudie mit aller
Deutlichkeit gezeigt. Beunruhigend ist, dass immer mehr
Kinder übergewichtig und adipös sind. Jedes zweite adipöse Kind leidet bereits an Erkrankungen, die eigentlich
Erkrankungen von älteren Menschen sind: Bluthochdruck, dem sogenannten Altersdiabetes Typ 2 oder Gelenkerkrankungen, die diese Kinder schon zum Orthopäden führen. Wir sind uns auch einig, dass wir etwas tun
müssen und es nicht so laufen lassen können.
Aber was tun? Eine gesunde Lebensweise mit ausgewogener Ernährung und genügend Bewegung kann dazu
beitragen, dieses Problem in den Griff zu bekommen.
Die Bundesregierung hat schon einiges getan; ich nenne
die Plattform Ernährung und Bewegung, die Kampagne
„Fünf am Tag“ - gemeint ist fünfmal Obst und Gemüse
am Tag - und die Aktionstage „Gesunde Ernährung und
Bewegung“ an Schulen. All diesen Kampagnen und Projekten ist gemeinsam, das Wissen zu fördern und, wenn
möglich, eine Umstellung der Lebensgewohnheiten zu
bewirken.
Nun ist es aber notwendig, dass wir über einen Aktionsplan dahin kommen, dass das, was punktuell im
Lande an Projekten läuft, flächendeckend gemacht wird.
Nur dann, wenn wir das flächendeckend im Lande tun,
werden wir auch die gewünschten Verhaltensänderungen
erreichen.
Ein wichtiger Aspekt ausgewogener Ernährung ist die
Auswahl beim Einkauf. Viele Konsumentinnen und
Konsumenten wollen ihren Einkauf an einer gesunden,
ausgewogenen Ernährung ausrichten. Die derzeitige
Kennzeichnung der Lebensmittel ist dafür nicht ausreichend. Nährwertangaben sind in der Regel freiwillig.
Wenn sie dennoch gemacht werden, sind sie oft schwer
zu finden. Sie sind klein gedruckt. Man braucht wirklich
eine Lupe, um sie zu lesen. Sie sind schwer zu verstehen
oder auch irreführend.
Wenn vorne auf einer Gummibärchenpackung „fettfrei“ steht, hinten auf dieser Packung aber noch nicht
einmal der hohe Zuckeranteil vermerkt ist, dann ist das
eine Irreführung.
({0})
Wenn auf der Packung einer Tiefkühlpizza, die zwei
Portionen enthält, nur der Nährwert für eine Portion angegeben wird, dann ist das ebenfalls irreführend. Ein
echter Missbrauch freiwilliger Kennzeichnung liegt vor,
wenn sich die Nährwertangabe auf einer Verpackung
von Chicken Nuggets auf 15 Gramm, also lediglich auf
einen Nugget, bezieht. Solche Schönrechnerei müssen
wir unterbinden.
({1})
Wir Verbraucherinnen und Verbraucher benötigen Informationen, die bei der Kaufentscheidung schnell, einfach und klar verständlich sind. Man muss in der Lage
sein, in einer Produktgruppe die gesündere Alternative
zu finden. Wenn mir der Sinn also zum Beispiel nach
Chipsletten steht, dann möchte ich feststellen können,
welches Produkt im Regal nach seiner Kennzeichnung
den günstigsten Nährwert hat.
Kollegin Volkmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Höfken?
Ja, bitte.
Ich versuche mein Glück noch einmal bei Ihnen, weil
sich Herr Goldmann um die Beantwortung der Frage
fröhlich herumgemogelt hat. Es geht um das Olivenöl.
Könnten Sie erläutern, worum es dabei geht, damit es
auch die Kolleginnen und Kollegen verstehen? Könnten
Sie deutlich machen, dass es nicht möglich ist, dass das
Olivenöl drei rote Punkte bekommt?
Frau Höfken, ich war noch nicht so weit. Ich wollte
erst einmal erläutern, welche Anforderungen wir eigentlich an eine Nährwertkennzeichnung stellen. Wir brauchen Wahlfreiheit durch Transparenz. Anders als von der
Lebensmittelindustrie und auch hier seitens des Ministeriums und der FDP behauptet wird, wollen wir nicht
die Bevormundung der Verbraucher, sondern - ich wiederhole - Transparenz.
({0})
Aus diesem Grunde fordern wir eine Nährwertkennzeichnung für alle zusammengesetzten Produkte. Zusammengesetzte Produkte sind eben nicht einzelne Produkte wie Öl oder Butter. Diese Produkte braucht man
nicht zu kennzeichnen; denn jeder weiß, dass sie zu fast
100 Prozent aus Fett bestehen. Die Kennzeichnung dieser Produkte wird überhaupt nicht bezweckt. Es geht um
die Kennzeichnung aller zusammengesetzten Produkte,
damit es echte Vergleichsmöglichkeiten gibt.
({1})
Auch aus diesem Grunde sagen wir: Wir brauchen
eine schnelle, übersichtliche Kennzeichnung, weil der
durchschnittliche Einkauf von Lebensmitteln - das hat
die Verbraucherzentrale ermittelt - sieben Minuten dauert. In dieser Zeit ist keiner in der Lage, umfangreiche
Tabellen zu lesen. Die Angaben müssen ohne Umrechnungsschritte unmittelbar vergleichbar sein; denn niemand - ich habe das vorhin schon einmal gesagt - will
mit einem Taschenrechner einkaufen gehen.
({2})
Die Angaben müssen auf anerkannten wissenschaftlichen Ernährungsempfehlungen beruhen, und sie müssen
vergleichbar sein. Sie müssen sich also auf 100 Gramm
oder auf 100 Milliliter beziehen.
Frau Kollegin Volkmer, gestatten Sie eine weitere
Zwischenfrage, und zwar der Kollegin Klöckner?
Gern.
({0})
Nein, Herr Goldmann. Das geht schon in Ordnung. Liebe Frau Kollegin, sind auch Sie der Meinung, dass
die Motivation aufrechterhalten bleiben muss, für Verbesserungen in den einzelnen Produktsparten zu sorgen?
Zum Beispiel soll im Bereich der Streichfette - man
kann natürlich sagen, am besten sei es, es ganz wegzulassen; aber viele wollen es nicht weglassen - ein optimiertes Produkt möglich sein. Allerdings erhielte selbst
ein Streichfett mit einem Fettanteil von nicht 8 Prozent,
sondern 2 Prozent einen roten Punkt, wenn die entsprechende Nährwertkennzeichnung eingeführt würde. Das
wäre keine Produktinnovationsmotivation.
Liebe Frau Klöckner, ich glaube, Sie haben das Modell der Ampel noch nicht verstanden.
({0})
Folgt man den wissenschaftlichen Empfehlungen, ist,
bezogen auf 100 Gramm oder 100 Milliliter, der Anteil
an Fett, Zucker, gesättigten Fettsäuren und Salz zu kennzeichnen. Es obliegt dann natürlich dem Verbraucher,
darauf zu achten. Wenn ich zum Beispiel einen Brotaufstrich haben will, dann schaue ich selbstverständlich, mit
welchen Punkten er versehen ist. Dann wähle ich eben
einen Brotaufstrich, der mehr grüne Punkte hat als rote.
Das ist eigentlich genau das, was Sie wollen, Frau
Klöckner.
({1})
Aus dem Grunde müssten Sie eigentlich unsere Kennzeichnung unterstützen, weil sie tatsächlich zu einer Optimierung der Produkte führt.
({2})
- Das ist aber schade.
Ich möchte auf die Ampelkennzeichnung zurückkommen. Es ist so, dass die Anforderungen, nämlich Transparenz, schnelle Durchschaubarkeit und Wissenschaftlichkeit, von der englischen Ampelkennzeichnung im
Wesentlichen erfüllt werden. Grün heißt „unbedenklich“, gelb bedeutet „nicht so häufig“ und rot „nur selten“. So wird der Gehalt an Fett, Fettsäuren, Zucker und
Salz gekennzeichnet.
Kollegin Volkmer, Sie sind heute sehr gefragt. Die
Kollegin Happach-Kasan hätte auch noch eine Frage.
Gern. Ich möchte nur noch den Gedanken zu Ende
bringen.
Alle bisherigen Untersuchungen in England zeigen,
dass die Menschen das Wesen der Ampelkennzeichnung
verstanden haben,
({0})
ganz im Gegensatz zu Ihnen, Herr Goldmann. Sie haben
es noch nicht verstanden.
({1})
Wenn wir alle uns ein bisschen näher damit befassen,
dann verstehen Sie es auch; da bin ich mir total sicher.
Eines möchte ich gerne noch sagen: Es geht eben
nicht um die Unterteilung in gute und schlechte Lebensmittel.
({2})
Diese Unterscheidung gibt es nicht.
({3})
Die Dosis ist ganz entscheidend, denn die Dosis macht
das Gift. Das hat schon Paracelsus gesagt.
Bitte.
Liebe Kollegin Volkmer, ich glaube, dass mein Kollege Goldmann dieses Konzept sehr gut verstanden hat.
Nein.
Doch! Das ist in seinem Beitrag und in verschiedenen
Ausschusssitzungen meines Erachtens sehr deutlich geworden.
Bitte erklären Sie uns doch einmal, warum Sie unbedingt für ein Konzept eintreten, das in Großbritannien
gescheitert ist und deswegen abgeschafft wurde!
({0})
Können Sie mir also sagen, warum Sie für dieses Konzept eintreten, obwohl Sie wissen, dass es in einem anderen Land in Mitteleuropa eindeutig gescheitert ist?
Ich kann das sehr kurz machen, indem ich sage: Auch
durch wiederholtes Behaupten wird das nicht richtiger.
Die Ampel ist in England nicht gescheitert.
({0})
Die Ampel hat sich sehr wohl bewährt.
({1})
Schauen wir doch einmal, welche Kennzeichnung zurzeit favorisiert wird! Das ist die von der Industrie angebotene freiwillige GDA-Kennzeichnung. Sie gewährleistet
genau das nicht, was wir wollen: schnelle Orientierung,
Transparenz, Vergleichbarkeit, Wissenschaftlichkeit. Diese
Kennzeichnung, die auch vonseiten des Ministeriums favorisiert wird, ist kompliziert. Es gibt viele Informationen, sogar zu viele Informationen. Ihre Bedeutung erschließt sich
dem Konsumenten nicht, wenn er das denn überhaupt liest.
Die Angabe des prozentualen Tagesbedarfs bezieht
sich auf 2 000 Kilokalorien. Sie ist gänzlich ungeeignet,
weil der Bedarf an Kilokalorien natürlich vom Lebensalter, vom Geschlecht und von der Art der Tätigkeit abhängt.
Außerdem fehlt es an einer wissenschaftlichen
Grundlage. Da darf ich Ihnen zur Weiterbildung die Lektüre der sehr deutlichen Stellungnahme der Deutschen
Gesellschaft für Ernährung hierzu empfehlen.
Der englischen Ampelkennzeichnung fehlt aus unserer Sicht die Angabe der Kalorien und der Ballaststoffe.
Ernährungswissenschaftler fordern ihre Nennung, da sie
wichtige Informationen für eine ausgewogene Ernährung darstellen. Das gilt auch für Proteine. Wir fordern
ihre Nennung im Rahmen der Big Eight auf der Packungsrückseite.
({2})
Es genügt uns also nicht, diese Ampel auch für Deutschland zu fordern, wie das im Antrag der Grünen geschieht. Wir brauchen mehr.
Um Ihnen gleich zu sagen, warum wir Ihren Antrag
ablehnen: Ihrem Antrag fehlt noch die europäische Perspektive. In der Europäischen Union ist die Reform der
Lebensmittelkennzeichnung in vollem Gange, und wir
freuen uns, dass die Kommission eine verpflichtende
Kennzeichnung vorgeschlagen hat, wenn wir auch die
Bezugnahme auf eine durchschnittliche Tageszufuhr ablehnen. Hier erwarten wir, dass sich die Bundesregierung dafür einsetzt, eine andere vernünftige Bezugsgröße zu finden.
Kollegin Volkmer, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Höfken?
Nein, ich möchte jetzt gern zum Ende kommen.
Keine denkbare Nährwertkennzeichnung ist für sich
genommen geeignet, eine ausgewogene Ernährung sicherzustellen. Deswegen ist eine Informationskampagne bei Einführung einer neuen Kennzeichnung unerlässlich. Wichtig ist es eben auch, um gleich auf diesen
Punkt einzugehen, darauf hinzuweisen, dass es sich immer nur um die Kennzeichnung eines Lebensmittels handelt. Das bringt es mit sich, dass sich der Verbraucher informieren muss. Wenn er viele Produkte mit grünen
Punkten gekauft hat, kann er am Abend des Tages durchaus ein Produkt mit rotem Punkt zu sich nehmen. Ganz
wichtig ist auch, immer die Ernährungspyramide im
Blick zu haben, auf die von der Deutschen Gesellschaft
für Ernährung immer wieder hingewiesen wird. Nur eine
Kombination verschiedener Informationen bringt einen
weiter; ein ganz wichtiger Punkt dabei ist eine transparente Kennzeichnung.
Ein Wort noch zu dem von den Grünen im Rahmen
des Aktionsplans geforderten Werbeverbot für sogenannte Dickmacher. Hier schießen Sie, wie ich denke,
über das Ziel hinaus; denn beinahe jedes Lebensmittel
kann, in großen Mengen genossen, zum Dickmacher
werden.
({0})
Ich denke nicht, dass Sie jegliche Werbung für Schokolade oder Pudding verbieten wollen. Das hielten wir
nicht für sinnvoll.
({1})
Wir werden den Antrag zum Aktionsplan Ernährung
noch ausführlich im Ausschuss diskutieren. Ich freue
mich schon auf die Diskussion.
({2})
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Karin
Binder das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren!
({0})
Ich habe hier ein Beispiel dafür, wie derzeit die freiwillige Kennzeichnung von Produkten der Lebensmittelindustrie aussieht. Ich lese einmal kurz vor, was hier steht,
auch wenn ich nur eine kurze Redezeit habe, aber das
müssen Sie sich einfach einmal vergegenwärtigen:
({1})
Nährwertkennzeichnung je 100 Milliliter: Brennwert
102 Kilojoule oder 24,0 Kilokalorien, Eiweiß 0,1 Gramm,
Kohlehydrate 5,8 Gramm, davon Zucker 5,6 Gramm, Fett
unter 0,1 Gramm, davon gesättigte Fettsäuren unter
0,1 Gramm, Ballaststoffe 0,1 Gramm, Natrium unter
0,02 Gramm.
({2})
Es geht mir jetzt einfach darum, dass Sie verstehen,
dass ich beim Einkaufen überfordert bin, wenn ich solch
einen Waschzettel lesen muss.
({3})
- Die Ampel, Herr Kollege.
({4})
Ich weiß nicht, was Sie von der FDP sich vorstellen,
aber das Prinzip der Ampel ist in England sehr wohl von
den Verbraucherinnen und Verbrauchern verstanden
worden. Wer in unserem Land trinkt bitte literweise Olivenöl?
({5})
Olivenöl wird löffelweise als Dressing zum Salat gegeben, den dann oftmals mehrere Menschen gemeinsam
als Familienmahlzeit zu sich nehmen.
({6})
Also nehme ich nur winzige Mengen Olivenöl zu mir;
und das ist dann gesund und nicht schädlich.
({7})
Herr Staatssekretär Müller, Sie haben gefragt, was es
den Staat angeht, was jemand isst und trinkt. Sie haben
Gott sei Dank selber auch eine Antwort gegeben.
Kollegin Binder, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Goldmann?
Aber gerne.
Frau Kollegin Binder, wenn ich es richtig in Erinnerung habe - auch ich lese ja manchmal solche Etiketten
und habe früher beruflich mit Ernährung zu tun gehabt -,
haben Sie eben zehn Inhaltsstoffe genannt, vielleicht
auch zwölf. Wie viele Punkte wollen Sie denn nun auf
solch eine Flasche kleben, und mit welcher Punktfarbe
wollen Sie die verschiedenen Inhaltsstoffe bewerten?
({0})
Herr Kollege Goldmann, in dieser Flasche sind circa
56 Gramm Zucker.
({0})
- 5,6 Gramm auf 100 Milliliter. Es handelt sich um Apfelschorle. Ich trinke sie sehr gerne und werde sie auch
künftig trinken.
({1})
In dieser Flasche steckt praktisch mein Tagesbedarf an
Zucker, denn die WHO empfiehlt für eine Frau
60 Gramm Zucker am Tag. Mit einer Flasche Apfelschorle, die 56 Gramm Zucker enthält, habe ich also
meinen Tagesbedarf an Zucker gedeckt. Dann wäre für
den Zuckergehalt ein roter Punkt zu setzen. Das bedeutet, ich passe auf, ich trinke keinen Liter Apfelschorle
am Tag, sondern vielleicht ein oder zwei Gläser. Das
darf ich. Dann habe ich noch ein Restkontingent an Zucker, den ich durch Süßigkeiten und Ähnlichem zu mir
nehmen darf. Der rote Punkt würde also darauf hinweisen: Liebe Leute, seid vorsichtig, auch in Apfelschorle
ist Zucker, auch wenn es ansonsten ein gutes Getränk ist.
({2})
Die anderen Inhaltsstoffe werden durch einen grünen
Punkt gekennzeichnet, da in dem Getränk kein Salz und
kein Fett enthalten ist.
({3})
Lassen Sie eine zweite Zwischenfrage zu, Frau
Binder?
Ja.
Liebe Kollegin, wenn ich erschöpft bin und meine
Kohlehydrate verbraucht habe - Kohlehydrate sind ja
nicht schlecht; manchmal werde ich dadurch leistungsfähig -, dann müsste ich ja davon etwas trinken. Dann
trinke ich sozusagen „Rotes“ in mich hinein. Das, finde
ich, ist nicht sehr verbraucherinformativ.
({0})
Der rote Punkt signalisiert eigentlich, das Produkt ist
nicht sehr geeignet. Aber in diesem Fall ist das Produkt
besonders gut geeignet. Stimmen Sie hier mit mir überein?
Nein. Ich stimme mit Ihnen überein, dass das Produkt
sehr geeignet ist, jemandem einen kleinen Energieschub
zu verpassen. Wir wissen ja, dass Zucker für Energie
sorgt. Das ist okay. Deshalb dürfen Sie ja Zucker zu sich
nehmen.
({0})
Die Frage ist nur, wie viel. Zwischen ein oder zwei Gläsern Apfelschorle und einer Flasche Apfelschorle ist ein
großer Unterschied. Darum geht es. Der rote Punkt sagt
Ihnen: nicht so viel und nicht so oft davon trinken. Dann
ist alles im Lot.
({1})
Ich komme gerne zur FDP und gebe Nachhilfe in Verbraucherbildung, wenn es sein muss.
Ich hatte vorhin Herrn Staatssekretär Müller angesprochen, der gefragt hat, was es den Staat angeht, was
man isst und trinkt. Sie haben es selber beantwortet: Es
geht um gesunde Lebensmittel. Viele Menschen können
nicht das einkaufen, was gut und gesund ist, sondern
müssen das einkaufen, was sie sich leisten können.
({2})
Es ist leider so, dass viele Produkte, die billig angeboten werden, einen hohen Fett- und Zuckergehalt haben,
damit sie nach etwas schmecken. In Großbritannien ist
es aufgrund der Einführung der Ampelkennzeichnung
tatsächlich gelungen,
({3})
die Firmen dazu zu bringen, solch ungesunde Bestandteile in diesen Lebensmitteln zu reduzieren. Im Gegensatz zu der vielfach geäußerten Behauptung, in Großbritannien habe sich das System nicht etabliert, stellten
Familienminister und Gesundheitsminister gemeinsam
im Januar den Bericht der Regierung „Gesundes Gewicht, gesundes Leben“ vor. Sie stellen sich ganz bewusst hinter die Ampelkennzeichnung und erklären: Gegenwärtig basiert unser bevorzugtes, von der britischen
Lebensmittelbehörde FSA entwickeltes Modell auf einem Ampelsystem, das Verbraucherinnen und Verbraucher laut unabhängigen Forschungsergebnissen leicht
verständlich finden und das dazu beiträgt, Verhaltensänderungen zu bewirken.
({4})
Diese Ampelkennzeichnung zeigt je nach der Zusammensetzung der Produkte grünes, gelbes oder rotes Licht
für die vier Kategorien Fett - gesättigte Fettsäuren -, Zucker und Salz. - Damit haben Sie eine Kennzeichnung
für alle wichtigen Dickmacher. Die Leute können sich
schnell orientieren und haben beim Einkaufen in der kurzen zur Verfügung stehenden Zeit alles Notwendige auf
einen Blick. Damit können sie sich gesund ernähren. Die
Firmen reagieren darauf, nehmen diese ungesunden Artikel aus den Regalen heraus und bringen gesündere, mit
weniger Dickmachern belastete Lebensmittel in die Regale. Das ist in England nachgewiesen. Ich finde, dass
die Regierung durchaus einmal den Blick nach England
richten könnte, wenn es um das mit dem Bericht vorgestellte Maßnahmenpaket geht. Dort gibt es unter anderem auch Werbeverbote für Süßwaren und Ähnlichem in
Kindersendungen.
({5})
Leider ist meine Redezeit nun zu Ende.
({6})
Ich schließe mich der Forderung der Verbraucherzentrale
an: Vorfahrt für die Ampel. Herrn Minister Seehofer
empfehle ich: Schalten Sie auf Grün, biegen Sie links ab
und starten Sie dann durch!
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8193
mit dem Titel „Aktionsplan Ernährung vorlegen“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP gegen die Stimmen der
antragstellenden Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel
„Verbraucherfreundliche Lebensmittelkennzeichnung einführen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7726, den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/6788
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? Das ist nicht der Fall. Dann ist die Beschlussempfehlung
mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion
und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für freie und demokratische Parlamentswahlen im Iran
- Drucksache 16/8379 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Rolf Mützenich für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir knüpfen mit dem heute vorliegenden Antrag und
dieser Debatte an einen Antrag an, den wir bereits in der
letzten Legislaturperiode anlässlich von Wahlen im Iran
vorgelegt hatten. Am 12. Februar 2004 diskutierten wir
an gleicher Stelle über einen ähnlichen Anlass, nämlich
darüber, dass nicht alle Kandidatinnen und Kandidaten,
die sich bei der Wahl im Iran aufstellen lassen wollten,
zugelassen wurden. Ich glaube, es ist gut, dass wir heute
wieder einen Antrag zu diesem Thema vorlegen. Ich
würde mich freuen, wenn alle im Deutschen Bundestag
diesem Antrag zustimmen würden.
({0})
Mit unserer Initiative wollen wir keine Haltungsnoten
verteilen oder besserwisserisch sein. Es gibt aus meiner
Sicht leider zu häufig Anlass, Wahlen kritisch unter die
Lupe zu nehmen - manchmal auch bei uns im Westen.
Deshalb stellt dies keine Einmischung dar, sondern verdeutlicht das Interesse des Parlaments an Partizipation
und Offenheit politischer Systeme überall in der Welt.
({1})
Unsere Initiative nimmt etwas auf - deswegen ist sie
keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten des
Iran -, worüber in dem Lande selbst in den letzten Wochen immer wieder heftig diskutiert worden ist. Das
zeigt, dass der Iran im Gegensatz zu manch anderen
Ländern in dieser Region pluralistischer und kritischer
ist, als es der eine oder andere bei uns manchmal darstellt. Ahmadinedschad prägt eben nicht allein das Bild
des Iran, sondern es prägen viele andere kluge Menschen,
({2})
die versuchen, die Gesellschaft aufzubauen und die Politik zu gestalten.
({3})
- Herr Kollege, der Zuruf disqualifiziert Sie; denn Sie
wissen, dass dieses Parlament insgesamt die Vorwürfe
und das Leugnen des Holocaust durch Ahmadinedschad
kritisiert und zurückgewiesen hat.
({4})
Deswegen fällt diese Bemerkung auf Sie zurück.
({5})
- Sie können sich gerne zu einer Zwischenfrage melden,
sollten aber nicht ständig Zurufe machen. In der Debatte
zuvor haben Sie sich mehrmals darüber beschwert, dass
ständig dazwischengerufen worden ist. Also halten Sie
sich bitte an Ihre eigenen Maßstäbe!
Seit gestern ist in die Debatte im Iran etwas Bewegung gekommen: Von den 3 000 Kandidatinnen und
Kandidaten, die in der ersten Runde vom Innenministerium abgelehnt worden sind, sind gestern immerhin
1 000 wieder zugelassen worden. Das zeugt zwar von
Bewegung, aber das reicht nicht.
({6})
Wenn der Iran tatsächlich so stark ist, wie er immer behauptet, muss er in seinem Land Vielfalt, Partizipation
und Offenheit bei der Wahl zulassen. Das sollte die Botschaft Teherans sein.
({7})
Kollege Mützenich, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Goldmann?
Bitte schön.
Bitte.
Respektierter Kollege, ich hatte am Montag Gelegenheit, mit den Vertretern der jüdischen Gemeinden in
Deutschland zu sprechen. Ich würde denen gerne heute
Abend mitteilen, welcher iranische Spitzenpolitiker der
Feststellung, dass der Iran Israel im Grunde genommen
plattmachen will, widersprochen hat. Welcher iranische
Politiker hat erklärt, dass es ein Existenzrecht Israels
gibt? Welcher iranische Politiker oder welche iranische
Politikerin - das wäre noch schöner - hat erklärt, dass
die Raketenangriffe gegen Israel zu verurteilen sind?
Herr Kollege Goldmann, wenn Sie mit mir im Iran
gewesen wären, als dort die Holocaustkonferenz, die
Kommunalwahlen und die Nachwahlen zum iranischen
Nationalparlament stattgefunden haben, hätten Sie erleben können, dass viele wichtige Akteure, gerade aus
dem klerikalen Bereich, die Leugnung des Holocaust
durch Präsident Ahmadinedschad abgelehnt haben. Sie
müssen endlich zur Kenntnis nehmen, dass viele Menschen in diesem Land versuchen, mit den Mitteln, die
zugelassen sind, gegen Ahmadinedschad zu protestieren.
Währenddessen können wir ruhig in unseren Sesseln sitzen und protestieren. Wir sollten hier nicht wohlfeil sagen: Dieses Land ist nur Ahmadinedschad. Es ist vielfältiger und bunter, als Sie es hier beschrieben haben. Ich
glaube, dass das auch diejenigen wissen, die Sie eben angesprochen haben; denn auch in Israel wird sehr offen
und kritisch darüber debattiert, wie mit dem Iran umzugehen ist. Auch das sollten wir zur Kenntnis nehmen.
({0})
Interessant ist insbesondere, dass versucht wird, das
politische System des Iran neu aufzustellen. Nach meinem Dafürhalten werden drei politische Gruppen zu den
Wahlen antreten: Das ist zum einen der unverbesserliche
Flügel um Ahmadinedschad, den Sie eben angesprochen
haben. Zum anderen sind es die sogenannten Reformer
um Chatami, hinter die allerdings immer mal wieder das
eine oder andere Fragezeichen gesetzt werden muss. Daneben sind es die konservativen Kreise um den ehemaligen Atomunterhändler Laridschani und den Teheraner
Bürgermeister Ghalibaf. Die entscheidende Frage wird
sein, ob das Parlament nach dem 14. März rational und
unabhängig handeln wird und will. Wir sollten es unterstützen, indem wir genau das fordern. Wir sollten das
Parlament aber auch mit den Mitteln, die wir haben, unterstützen.
Wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass der Iran eben
doch etwas komplizierter, aber auch offener ist, als wir
manchmal glauben. Wir müssen den Dualismus im Iran
zur Kenntnis nehmen. Es ist nicht immer leicht, klar zwischen gut und böse zu unterscheiden. Es gibt den Dualismus von Islam und Republik, der nur schwer aufzulösen
sein wird. An diesen Widersprüchen leidet die islamische Republik. Es gibt verschiedene Machtzentren, die
versuchen, politische Initiativen auszuhandeln. Selbst
wenn sie sich verständigt haben, ist es schwer, auf die
einzelnen Machtzentren einzuwirken. Das erleben wir
gerade bei der militärischen Nutzung des Atomenergieprogramms. Dem Westen fällt es schwer, in der Politik mit Klerikern umzugehen. Es ist aber genauso
schwer, mit Menschen umzugehen, die in dem achtjährigen, verheerenden Krieg zwischen dem Irak und dem
Iran, der mehr als 1 Millionen Menschenleben gekostet
hat, sozialisiert wurden. Auch das wirkt sich letztlich auf
die Politik aus. Wir tun gut daran, diese unterschiedlichen Facetten wahrzunehmen. Wir sollten aber auch die
Tatsache zur Kenntnis nehmen, dass Wahlen zur Legitimation genutzt werden, was in einer islamischen Republik, wie sie sich selbst tituliert, keine Selbstverständlichkeit ist.
Ich glaube, wir sollten uns als Parlamentarier insbesondere der Zivilgesellschaft zuwenden. Sie versucht
nämlich, gegen Unterdrückung vorzugehen bzw. die Nischen zu finden, die Christiane Hoffmann in ihrem Buch
„Hinter den Schleiern Irans“ dargestellt hat. Sie hat gezeigt, wie schwierig es für die einzelnen Menschen ist.
Man sollte hier eben nicht so wohlfeil über ein ganzes
Land urteilen. Das am 14. März dieses Jahres gewählte
Parlament wird die soziale Frage aufnehmen müssen.
Dieses Parlament wird die innere Zerrissenheit und die
Probleme des Landes widerspiegeln.
Ich bin froh, dass es zu einer dritten Resolution im Sicherheitsrat gekommen ist und man nicht auf die Strategie von Ahmadinedschad und anderen eingegangen ist,
die versucht haben, den Sicherheitsrat zu spalten. Nur
ein Land hat sich der Stimme enthalten: Indonesien. Libyen zum Beispiel, das seine eigenen Erfahrungen hat,
hat zugestimmt. Im Zusammenhang mit der Bewertung
der Atompolitik des Iran ist vordringlich, dass die Staatengemeinschaft zusammenbleibt. Ich glaube, dass die Bundesregierung viel dafür getan hat, insbesondere mit ihrer
EU-Initiative. Wir sollten - auch innerhalb der IAEO immer versuchen, diese Staatengemeinschaft zusammenzuhalten und an der einen oder anderen Stelle nicht zu
überfordern.
Der andere Punkt ist - ich glaube, das ist richtig -, die
Angebote und Gegenleistungen, die wir vorgeschlagen
haben, aufrechtzuerhalten, also genau das Gegenteil zu
dem zu verfolgen, was Ahmadinedschad jetzt erklärt hat,
nämlich nicht mehr mit der Europäischen Union verhandeln zu wollen. Wir sollten die Tür offen lassen, insbesondere für die Kräfte im am 14. März neu gewählten
Parlament, die möglicherweise zu diesem Dialog bereit
sind. Zumindest sollten wir an dieser Stelle die Chance
nutzen und die Hoffnung nicht aufgeben.
({1})
Ich gebe zu: Der Iran hat es uns in den letzten Wochen
nicht leicht gemacht.
({2})
Insbesondere der neue Bericht der Internationalen Atomenergiebehörde gibt Anlass zu großen Bedenken. Es gibt
neue Erkenntnisse, und insbesondere die Tatsache, dass
dort ein Raketenprogramm entwickelt wird, das nicht
nur für Israel, sondern auch für Europa eine besondere
Herausforderung darstellt, provoziert natürlich zu den
Gegenmaßnahmen, über die wir so kritisch diskutieren.
Auch darüber sollten wir mit dem neu gewählten Parlament sprechen.
Ich muss sagen: Der einzige Hoffnungsschimmer, den
ich habe, dass sich Vernunft in der Region wieder breitmacht, ist das, was im Golfkooperationsrat vor kurzem
angeboten worden ist, nämlich eine nuklearwaffenfreie
Zone in der Region einzuführen. Herr Goldmann, Ihr Lachen und Ihre Zwischenrufe regen mich langsam auf.
Nehmen Sie doch einfach zur Kenntnis, dass dort Menschen sind, die versuchen, rational auf die Probleme einzugehen und den nuklearwaffenfreien Status in der Region zu sichern.
({3})
Denn es geht um ihr Leben. Das sollten wir unterstützen,
insbesondere vonseiten des Deutschen Bundestags.
Vielen Dank.
({4})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Harald
Leibrecht das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich durfte in diesem
Haus schon öfter Debatten über den Iran verfolgen. Leider beschäftigen wir uns jedes Mal - zu Recht - mit dem
Problem des dortigen Atomprogramms und natürlich
auch mit den Sanktionen gegen den Iran. Es ist gerade
drei Tage her, dass der UN-Sicherheitsrat seine dritte
Sanktionsresolution zum iranischen Atomprogramm
verabschiedet hat.
In wenigen Tagen sind wieder Wahlen im Iran. Daher
ist es zu begrüßen, dass wir uns heute hier im Haus mit
diesem interfraktionellen Antrag beschäftigten und dass
wir, auch wenn wir mit der iranischen Regierung nicht
einverstanden sind und schon gar nicht mit den Verbalattacken gegen Israel, an einem Dialog mit dem Iran und
an echten demokratischen Wahlen dort interessiert sind.
Trotz der vielen Probleme, die es mit dem Iran gibt, sei
es das Atomwaffenprogramm, seien es die undurchsichtigen Verhältnisse des Irans zu international agierenden
demokratiefeindlichen Gruppen, seien es die Hasstiraden gegen Israel und den Westen allgemein, müssen wir
versuchen, die diplomatischen Türen irgendwie offen zu
halten. Denn dies ist für uns die einzige Möglichkeit, den
politischen Reformkräften im Iran ein Signal zu geben,
eine Botschaft, die klar ausdrückt: Wir lassen die Menschen im Iran nicht allein, weder mit ihrem unberechenbaren Präsidenten noch mit der gesamten demokratiefeindlichen politischen Führung.
Meine Damen und Herren, wenn man die Atomproblematik einmal für einen Moment in den Hintergrund
stellt, dann erkennt man die wichtige, auch die geostrategisch wichtige Lage dieses Landes mit seinen immensen
natürlichen Ressourcen und seiner jungen, durchaus
westlich orientierten und gut ausgebildeten Bevölkerung. Ich glaube, uns allen ist bewusst, dass der Iran das
Potenzial hat, zu einer starken Regionalmacht zu werden, und dass er dies auch selbst erkennt. Leider wählt
die iranische Führung die falschen Mittel, um dieses Ziel
zu erreichen. Denken Sie nur an das iranische Raketenprogramm.
Hätten die Menschen dort eine echte Chance, ihr
Glück selbst in die Hand zu nehmen, würde sich das
Land sehr schnell sehr positiv entwickeln; davon bin ich
absolut überzeugt. Die Menschen im Iran streben nach
Freiheit. Diese wird ihnen von den Ayatollahs jedoch
weiterhin verwehrt.
Mit unserem gemeinsamen Antrag setzen wir uns dafür ein, mit den politischen Parteien, die im iranischen
Parlament vertreten sind, aber auch mit den Parteien, die
nicht im Parlament vertreten sind, einen intensiveren
Dialog zu führen. Auch der FDP ist daran gelegen, dass
der Deutsche Bundestag die politischen und die religiösen Führer im Iran auffordert, dort endlich freie und faire
Wahlen zu ermöglichen.
({0})
Dass die reformorientierten Kandidaten im Iran wieder einmal von der Wahl ausgeschlossen werden, erfüllt
uns mit großer Sorge. Die Menschen im Iran müssen ein
Recht darauf haben, ihrem Präsidenten und seinem immer stärker militärisch geprägten Staatsapparat ein Arbeitszeugnis auszustellen. In freien und fairen Wahlen
würde der iranische Präsident von seinen Bürgern bestimmt ein Armutszeugnis ausgestellt bekommen. Denn
er hat sich durch seine inakzeptablen Reden und wiederholten Hasstiraden nicht nur auf der internationalen politischen Bühne völlig blamiert, sondern er bekommt auch
im eigenen Land zunehmend Gegenwind, selbst aus den
eigenen Reihen, nicht zuletzt deshalb, weil er bisher
keine seiner hochtrabenden Wahlversprechungen eingelöst hat. Bis heute lässt der „Retter der verarmten Massen“, wie er sich selbst nennt, auf sich warten.
Meine Damen und Herren, im Hinblick auf die Parlamentswahlen im Iran ist einzig und allein entscheidend,
ob die Stimme des iranischen Volkes durch freie und faire
Wahlen zum Ausdruck kommt. Ayatollah Chamenei und
der iranische Parlamentspräsident haben einen sauberen
Wahlkampf und demokratische Wahlen angemahnt. Wir
sollten sie beim Wort nehmen und daran messen.
Ich danke Ihnen.
({1})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Ruprecht
Polenz das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir beschäftigen uns mit den Parlamentswahlen im Iran,
weil der Iran ein großes, ein wichtiges Land ist und weil
er reich an Bodenschätzen ist. Er hat eine gebildete, gut
ausgebildete Bevölkerung und eine reiche Kultur. Der
Iran kann auf eine jahrtausendealte Geschichte zurückblicken. Er könnte auch ein blühendes Land sein. Aber
er wird weit unter Wert regiert.
Dass wir unsere Auseinandersetzung mit dem Iran auf
sein Nuklearprogramm fokussieren, führt dazu, dass wir
uns zu wenig mit den inneren Entwicklungen im Iran beschäftigen und ihnen zu wenig Aufmerksamkeit widmen. Die heutige Debatte sollte auch dazu dienen, das zu
ändern.
Weil die Regierung im Iran unter normalen demokratischen Bedingungen ihre Abwahl fürchten müsste, setzt
sie im Vorfeld der Parlamentswahl in zunehmendem
Maße Repressionen und massive Manipulationen ein.
Das hat übrigens auch im Iran selbst scharfe Kritik zur
Folge. Beispielsweise kritisierten der frühere Präsident
Chatami und der frühere Vorsitzende des Auswärtigen
Ausschusses des iranischen Parlaments, Rohani, diese
Entwicklung sehr scharf.
Ich will an ein paar Beispielen aufzeigen, wie
schlecht und wie weit unter Wert der Iran regiert wird.
Fangen wir mit der Wirtschaft an: Der Iran ist reich an
Öl und Gas. Der Erdölpreis ist seit dem Amtsantritt von
Ahmadinedschad 2005 von etwa 62 US-Dollar pro Fass
auf über 100 US-Dollar pro Fass gestiegen. Die Erlöse,
die der Iran als großer Ölexporteur erzielt, haben sich
von 34 Milliarden US-Dollar auf 41,7 Milliarden USDollar gesteigert. Allerdings - das ist der erste Kritikpunkt, und das wird auch im Iran so gesehen - liegt die
Förderung mit 4,2 Millionen Fass am Tag auch fast
30 Jahre nach der Islamischen Revolution bei nur zwei
Dritteln dessen, was der Iran früher hat fördern können.
Man bleibt also weit unter seinen Möglichkeiten. So gibt
es trotz steigender Öl- und Gaspreise eine wachsende
Armut im Land, gerade bei den kleinen Leuten.
Das liegt auch daran, dass das Geld, das eingenommen wird, in Subventionsprogrammen verpulvert wird.
Ich will von den vielen sinnlosen Subventionen nur eine
erwähnen: Für Strom zahlen die Verbraucher im Iran nur
40 Prozent des Gestehungspreises. Das führt zu Energieverschwendung, mit der Folge, dass Investitionen erforderlich sind, die man vermeiden könnte. Dieses Geld
fehlt an anderer Stelle.
Diese Politik führt zu einer galoppierenden Inflation:
Sie betrug im Jahre 2005 12,1 Prozent. Heute liegt sie
bei 19 Prozent. Gerade die explodierenden Mieten treffen die einfachen Leute im Iran. Was macht der Präsident? Er ordnet an, dass die Bankzinsen von 17 auf
12 Prozent zu senken sind. Das festigt die Überzeugung
der Leute, dass allein Immobilien eine sichere Geldanlage sind. Das heizt die Inflation zusätzlich an.
Last, but not least steigt die schon jetzt außerordentlich hohe Arbeitslosigkeit im Iran. Die offizielle Arbeitslosenquote - diese Zahl ist sicherlich weit zu niedrig
angesetzt - liegt bei 11 Prozent. Für die Jugendarbeitslosigkeit werden 23 Prozent angegeben. Auch diese
Zahl dürfte wesentlich höher liegen. Das heißt, dass im
Iran eine Million junge Menschen, die ihre Ausbildungsstätten verlassen, in die Arbeitslosigkeit gehen.
Auch die immer wieder angemahnte Privatisierung
der Wirtschaft kommt nicht voran. Man muss wissen,
dass im Iran 65 bis 80 Prozent der Wirtschaft - das ist
vielleicht ein Hinweis an die Linkspartei - von den verschiedenen Armen des Staates kontrolliert werden, mit
dem bekannten Misserfolg. Vielleicht, Herr Gehrcke,
können Sie sich ähnliche Überlegungen für Deutschland
sparen.
Natürlich gibt es angesichts dieser Entwicklung Protest in der Bevölkerung, zum Beispiel von den Gewerkschaften. So gab es einen Busfahrerstreik in Teheran.
Der Staat hat sehr hart reagiert. Mansour Ossanlu, der
Vorsitzende der Gewerkschaft, ist seitdem mehrfach inhaftiert worden und sitzt seit 2007 erneut im Evin-Gefängnis. Man verweigert ihm die medizinische Betreuung. Ich finde, wir müssen in unserer Debatte auf solche
Schicksale hinweisen. Gewerkschaftsfreiheiten sind
Freiheiten, die wir ernst nehmen.
({0})
Es gibt Frauenrechtlerinnen, die für die rechtliche
Gleichstellung der Frau im Iran 1 Million Unterschriften
sammeln wollen. Sie haben sich eine ähnliche Bewegung in Marokko zum Vorbild genommen, wo es den
Frauen gelungen ist, den marokkanischen König,
Hassan II., durch eine solche Unterschriftenaktion zu
überzeugen. Im Iran läuft das anders: Mehrere hundert
Frauen sind ins Gefängnis gesteckt worden. Nasim
Sarabandi und Fatemeh Dehdashti sind, weil sie sich für
die rechtliche Gleichstellung der Frau im Iran eingesetzt
haben, wegen „Handlungen gegen die nationale Sicherheit mittels Propaganda gegen das Regime“ zu sechs
Monaten Haft - zurzeit zur Bewährung ausgesetzt - verurteilt worden.
Auch in dieser Parlamentsdebatte muss an das
Schicksal der Bahai erinnert werden. Gerade ist im iranischen Parlament ein Gesetzentwurf zur Novellierung des
Strafrechts vorgelegt worden, mit dem die Apostasie, der
Abfall vom „richtigen“ Glauben, in den Katalog der sogenannten Hadd-Strafen aufgenommen werden soll. Das
bedeutet die Todesstrafe für Konvertiten, und zwar
zwingend, ohne irgendeine Möglichkeit der Revision.
Wer weiß, dass die Bahai aus iranischer Sicht als
Apostaten angesehen werden, kann sich vorstellen, welcher Druck auf diese Religionsgemeinschaft ausgeübt
wird. Vor kurzem sind 53 junge Bahai festgenommen
worden - sie sind zum Teil immer noch in Haft -, weil
sie ein soziales Projekt zur Bildungsförderung ehrenamtlich betreut haben. Wenn das neue Gesetz in Kraft treten
sollte, müssten sie das Schlimmste befürchten.
Zu dem Bild einer Verschärfung der religiös begründeten Strafen bis hin zur Todesstrafe passt auch, dass
rund um Teheran zunehmend Koranschulen entstehen,
die es, anders als in Pakistan, im Iran bisher nicht gab.
Alles zusammengenommen ist die Sorge, die auch im
Iran geäußert wird, dass aus der Islamischen Republik
Iran ein islamisches Kalifat Iran werden soll, nur allzu
begründet. Auch das muss hier festgestellt werden.
Wenn es um den Iran geht, haben wir uns in der Regel
mit der Außenpolitik dieses Landes beschäftigt. Ich will
heute ausdrücklich darauf verzichten und nur darauf hinweisen, dass der außenpolitische Konfrontationskurs,
den das Land verfolgt, vom innenpolitischen Versagen
ablenken soll. Er soll die Verschärfung der Repressionen
rechtfertigen. Damit will man den Druck erhöhen, sich
hinter der Regierung gegen das Ausland zusammenzuscharen, das man nur konfrontativ wahrnehmen will.
Der Protest und der Reformbedarf werden bei Wahlen
unterdrückt. Ich kann den Optimismus meiner Vorredner
in diesem Punkt nicht ganz teilen; denn durch die Kandidatenauswahl ist das Ergebnis vorprogrammiert. Man
darf nicht nur die absoluten Zahlen - von 5 538 Kandidaten wurden 2 059 zur Wahl zugelassen - sehen. Selbst
wenn alle Reformkandidaten gewählt würden, könnten
sie maximal 60 der 270 Sitze gewinnen. Denn in Wahlkreisen, in denen man nur einen Kandidaten wählen
kann, werden viele Reformer als Kandidat zugelassen; in
Wahlkreisen dagegen, in denen man mehr Sitze erreichen kann, wird oft kein einziger zugelassen. Damit
kann man den Ausgang der Parlamentswahl vorprogrammieren, was auch geschehen ist. Das zeigt, dass es
in der Frage, wer kandidieren darf, eine zentrale Planung
gab und dass gegen die eigene Verfassung verstoßen
wurde.
Wir werden sicherlich auch die Kontakte zu dem
neuen iranischen Parlament weiter pflegen; dabei müssen wir aber noch stärker als bisher berücksichtigen,
dass es für das Land nicht repräsentativ ist. Das ist nicht
mehr möglich. Deshalb müssen wir sicherstellen, dass
wir bei den offiziellen Besuchsprogrammen breite Kontakte zur iranischen Zivilgesellschaft außerhalb des Parlaments bekommen. Der Iran könnte in der Tat ein blühendes Land sein, wenn er seiner Bevölkerung mehr
Freiheit geben, die Frauen rechtlich gleichstellen und in
der Außenpolitik seine Stärke aus der Zusammenarbeit
gewinnen würde, statt durch Isolierung und Konfrontation geschwächt zu werden.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Gehrcke für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Fraktion Die Linke wird dem von den vier anderen
Fraktionen vorgelegten Antrag zustimmen, weil wir denken, dass die Menschen im Iran wissen müssen, dass sie
ein Recht auf freie, gleiche und geheime Wahlen haben,
({0})
und weil sie wissen müssen, dass es Menschen gibt, die
mit ihnen solidarisch sind, wenn sie unter viel größeren
Opfern und unter Androhung von Gewalt für Demokratie kämpfen. Das sagt sich hier leichter, als man es im
Iran machen kann. Das sollten sie wissen.
({1})
Gleichzeitig möchte ich keinen Hehl daraus machen,
dass ich mich über die Kleinkariertheit gallig ärgere,
dass vier Fraktionen nicht bereit sind, eine fünfte Fraktion - die Linke -, die inhaltlich mit diesem Antrag übereinstimmt, an einer gemeinsamen Arbeit zu beteiligen.
({2})
Das ist unglaublich kleinkariert und passt nicht mehr in
die Welt. Man sollte das zum Anlass nehmen, sich zu
fragen, ob man wirklich an solchen antikommunistischen Ausgrenzungsritualen festhalten will, wenn man
im Parlament über Demokratie redet.
Ich gebe zu, dass ich schon aus Ärger darüber fünf
Minuten lang versucht war zu sagen: Wir stimmen deswegen nicht zu. - Es wäre aber genauso kleinkariert, einem Antrag, bei dem man in der Sache zustimmt, nur
deshalb nicht zuzustimmen, weil andere sich so blöd
verhalten.
({3})
Wir haben gelassen gesagt: Das machen wir nicht.
Wir urteilen und entscheiden nach Inhalten. Deswegen
werden wir zustimmen. - Ich habe das kurz begründet.
Ich möchte aber auch, dass wir darüber nachdenken,
ob man nicht auch in Deutschland und in Europa in der
Iran-Politik eine andere Grundlinie braucht. Nach meiner Analyse haben Sanktionen und Kriegsdrohungen
- die sind ja auch in der Welt - den Flügel der Hardliner
im Iran eigentlich nur stärker gemacht und gefestigt. Ich
komme immer mehr zu der Auffassung, dass man Luft
an die Mumien lassen muss. Dann zerfallen sie nämlich.
Wenn man sich abgrenzt und sie isoliert, dann macht
man sie stark.
({4})
- Ach, halt doch die Klappe.
({5})
- Entschuldigung, das ist mir so herausgerutscht; das
nehme ich zurück.
Deswegen würde ich darum bitten, dass man über
politische Veränderungen und auch darüber nachdenkt,
ob man mit einer anderen Iran-Politik mehr erreichen
kann.
Sehen Sie, wir haben in diesen Tagen den fünften Jahrestag des Irak-Krieges. Für mich sind einzelne Dinge,
die ich höre, ein furchtbares Déjà-vu-Erlebnis: Massenvernichtungswaffen, Terrorregime. Das waren die gleichen Argumente. Ich denke darüber nach, ob nicht auch
dieses Parlament der USA-Politik - diese ist schon im
Irak gescheitert und hat dort Zehntausende von Opfern
zu verantworten -, auch gegenüber dem Iran auf
Regime-Change zu setzen, widersprechen muss. Auf
Regimewechsel als Ziel einer staatlichen Politik zu setzen - und dies nicht in der Solidarität mit den Menschen
zu tun -, macht gerade diese Regime stark.
({6})
Ich würde gerne eine Politik des offenen Dialogs dagegensetzen, bei der man immer sehr hart die eigene
Position abgrenzen muss. Ich denke, dass man darüber
nachdenken muss, dem Iran Sicherheitsgarantien zu geben. Wenn man sich ansieht, wie er auch von Stützpunkten der USA umkreist ist, dann wird klar, dass das zu
solchem Fehlverhalten führt. Ich denke auch, dass dieses
Parlament den Gedanken eines entmilitarisierten Nahen
und Mittleren Ostens sehr viel stärker einbringen muss,
({7})
um Aufweichungen, auch was Demokratiedebatten im
Iran angeht, zu erreichen.
Schönen Dank. - Ich bitte nochmals um Entschuldigung dafür, dass ich so reagiert habe. Das wollte ich eigentlich nicht; es passiert manchmal. Herzlichen Dank.
({8})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Kerstin Müller das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege
Gehrcke, ich will gleich zu Anfang sagen: Ich teile zwar
Kerstin Müller ({0})
vieles von dem, was Sie vertreten, nicht, vor allem in der
Außenpolitik. Aber auch ich finde es falsch, wenn man
in Situationen, in denen sich die fünf Parteien einig sind,
aus Prinzip mit Ihnen keine Anträge macht. Meine Fraktion unterstützt diese Vorgehensweise ausdrücklich
nicht. Ich bin der Meinung, dass wir zu einer normalen
parlamentarischen Tagesordnung übergehen und anhand
der Inhalte entscheiden sollten, ob wir hier gemeinsame
Anträge machen oder nicht.
({1})
Herr Polenz, in der Tat ist es sehr gut, dass wir uns
heute einmal mit der inneren Lage des Iran befassen und
nicht immer nur über das bedrohliche Nuklearprogramm
sprechen. Es ist in der Tat außerordentlich besorgniserregend, was dort im Vorfeld der Parlamentswahlen geschieht. Es muss ganz klar auch in den Kontext der Menschenrechtslage insgesamt gestellt werden, die sich unter
der Regierung Ahmadinedschad dramatisch verschlechtert hat. Todesurteile und öffentliche Hinrichtungen - nach
Angaben von Amnesty waren es allein im Januar 27; im
letzten Jahr waren es fast 300 Hinrichtungen, die meisten davon öffentlich -, vor allem gegen Homosexuelle,
gegen Angehörige ethnischer Minderheiten - Sie haben
Beispiele genannt - und Andersgläubige, haben massenhaft zugenommen. Im Vorfeld der Parlamentswahlen ist
der Druck auf Kritiker der Regierung, auf Journalistinnen und Journalisten, auf Aktivistinnen für Menschenrechte und aus der Frauenbewegung noch einmal enorm
erhöht worden. Sie erhalten Ausreiseverbote; viele sitzen im Evin-Gefängnis.
Die Kampagne für Gleichberechtigung wurde schon
erwähnt. Seit einer Demonstration im Jahre 2006 sitzen
viele Aktivistinnen im Gefängnis. Heute sollte eine Mitbegründerin dieser Initiative, die iranische Feministin
Parvin Ardalan, in Schweden den Olof-Palme-Preis erhalten. Ihr wurde am Flughafen der Pass abgenommen.
Damit wurde sie an der Ausreise gehindert; sie kann den
Preis heute nicht entgegennehmen. All das ist verheerend.
Ich möchte der iranischen Regierung klar sagen: Lassen Sie Frau Ardalan ausreisen! Der Einsatz für Bürgerrechte, für gleiche Rechte für Frauen und die freie Meinungsäußerung dürfen nicht mit Gefängnis und auch
nicht mit einem Ausreiseverbot bestraft werden.
({2})
Einschränkungen der Wahlfreiheit sind in der Islamischen Republik gang und gäbe; sie haben einen bisher
ungekannten Höhepunkt erreicht: Über 2 000 Kandidatinnen und Kandidaten - vor allem aus dem Reformspektrum, aber nicht nur aus diesem - wurden nicht zur
Wahl zugelassen. Auch Kandidaten aus dem konservativen Spektrum waren betroffen, etwa der Enkel
Khomeinis. Auch sie sprechen von katastrophalen Verhältnissen, etwa Ahmad Tavakoli, ein profilierter Konservativer. Möglicherweise stellen diese Verbote einen
Versuch dar, den Kurs des Präsidenten zu retten und Kritiker auszuschalten. Dabei bleibt unklar, wie groß die Unterstützung Chameneis für Präsident Ahmadinedschad
letztlich ist.
Ich halte es für sehr wichtig, dass wir mit dem vorliegenden Antrag gemeinsam - ich finde es gut, dass Sie
von der Linken zustimmen wollen - ein klares Zeichen
setzen, dass die Einschränkungen bei den Wahlen absolut inakzeptabel sind. Das ist ein deutliches Signal an die
Hardliner. Wir senden damit aber auch ein Signal der
Unterstützung an all jene in der politischen Opposition,
die ihr Recht auf ein aktives und passives Wahlrecht einfordern.
Ich möchte klar sagen - Herr Polenz, ich teile Ihre
Auffassung -: Wir müssen immer wieder die schwierige
Menschenrechtslage im Iran kritisieren, auch das, was
im Vorfeld der Wahlen passiert. Wir müssen aber auch
den Dialog mit der Zivilgesellschaft, mit den Menschen
im Land auf jeden Fall aufrechterhalten.
({3})
Und zum Schluss möchte ich das berühmte Kulturfestival erwähnen, das in Teheran stattgefunden hat. Das
Berliner Ensemble hat dort Mutter Courage aufgeführt;
die Vorstellung war völlig ausverkauft, also ein riesiger
Erfolg. Kulturelle Begegnungen sind oft die letzte Brücke, das letzte Fenster zur Welt für die iranischen Menschen. Hier in Deutschland hat es Demonstrationen gegen die Aufführung gegeben. Das halte ich für völlig
falsch. Ich möchte klar sagen: Es ist kontraproduktiv, an
dieser Stelle eine Politik der Ausgrenzung und der Isolation zu verfolgen; wir müssen diese Brücken bauen, um
der Zivilgesellschaft, den Menschen im Iran, die Demokratie wollen, eine Chance zu geben.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8379
mit dem Titel „Für freie und demokratische Parlamentswahlen im Iran“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Das ist nicht
der Fall. Damit ist der Antrag einstimmig angenommen.
({0})
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Birgit
Homburger, Martin Zeil, Rainer Brüderle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Einsetzung eines
Nationalen Normenkontrollrates
- Drucksache 16/7855 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Vizepräsidentin Petra Pau
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Dr. Barbara Höll,
Werner Dreibus, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Bürokratieabbau in Europa - Kein Freibrief
zum Abbau von Arbeits- und Umweltschutz
- Drucksachen 16/4204, 16/5196 Berichterstattung:
Abgeordnete Kerstin Andreae
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Der Kollege Martin Zeil
hat für die FDP-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Nationale Normenkontrollrat hat im Herbst 2006
seine Arbeit aufgenommen und er hat trotz der Manschetten, die man ihm gegen unseren Rat angelegt hat,
bisher gute Arbeit geleistet. Aber der Normenkontrollrat
ist gezwungenermaßen auf einem Auge blind. Den Fraktionen dieses Hauses steht ein gesetzliches Anrufungsrecht nicht zur Verfügung. Damit werden aber gerade die
Gesetzesinitiativen aus der Mitte des Deutschen Bundestags in der Regel nicht geprüft, obwohl nach Ihrem Koalitionsvertrag zumindest die Initiativen der Koalitionsfraktionen überprüft werden sollten.
Wir legen Ihnen deshalb heute einen Gesetzentwurf
vor, der den bestehenden Defiziten Rechnung trägt und
ein Anrufungsrecht aller Fraktionen in Bezug auf Gesetzentwürfe aus der Mitte des Parlaments begründet. Im
Übrigen gibt es keine generelle Prüfungspflicht. So wird
gewährleistet, dass die Bewertung effizient erfolgt und
dass gleichzeitig Gesetze hinsichtlich ihrer Effekte durch
den Gesetzgeber besser beurteilt werden können.
({0})
Ein zweiter Punkt unserer Initiative betrifft die verbindliche Festlegung von Nettozielen. Vor einem Jahr
hat das Kabinett zwar eine Reduktion der Bürokratie um
25 Prozent beschlossen. Leider haben Sie aber darauf
verzichtet, das 25-Prozent-Abbauziel eindeutig als Nettoziel zu definieren. Aufgrund dieses Verzichts mangelt
es der Aussage, die Bürokratie um 25 Prozent abbauen
zu wollen, an Verbindlichkeit, Aussagekraft und letztlich
an Glaubwürdigkeit.
Ohne verbindliches Nettoziel besteht die Gefahr, dass
wir aus dem Teufelskreis ständig wachsender Bürokratielasten nie herauskommen. Auch der Normenkontrollrat empfiehlt in seinem Jahresbericht, das 25-ProzentAbbauziel als Nettoziel zu definieren.
({1})
Dazu gehören auch die von uns vorgeschlagenen Zwischenziele. Dies erhöht die Transparenz und erleichtert
die Steuerung des Gesamtprozesses.
Ich nehme an, dass die Kollegen von der SPD vielleicht noch ein paar Worte zu dem Antrag ihres künftigen Koalitionspartners in Hessen sagen werden. Aus
meiner Sicht atmet der Antrag der Linken,
({2})
der heute auch zur Debatte steht, zu sehr den Geist des
demokratischen Sozialismus und ist meilenweit von den
Grundgedanken der sozialen Marktwirtschaft entfernt.
({3})
Die schwarz-rote Koalition hat im Hinblick auf den
Bürokratieabbau beim Mittelstand und bei den Bürgern
Erwartungen geweckt, die sie nicht einmal im Ansatz erfüllt hat.
({4})
Statt ein großes, gesamtwirtschaftlich angelegtes Bürokratieabbauprogramm zu starten, kommen Sie mit vielen
kleinen - durchaus gut gemeinten, Herr Kollege
Koschyk - Gesetzen, die aber keine spürbare Entlastungswirkung haben.
({5})
Im Gegenzug schaffen Sie weitere, neue Bürokratie, angefangen beim AGG bis hin zur Erbschaftsteuerreform.
({6})
Die Erbschaftsteuerreform sollte ursprünglich auf leisen Sohlen am Normenkontrollrat vorbei über die Regierungsfraktionen in den Bundestag eingebracht werden.
Nach der begrüßenswerten Weigerung der Fraktionen
hat der Normenkontrollrat nun doch Stellung genommen. Die Bundesregierung muss geahnt haben, dass es
besser sein könnte, diesen Weg zu umgehen. Denn das
Urteil der Prüfer des Normenkontrollrats war eindeutig.
Sie kommen zu dem Ergebnis, dass das federführende
Bundesfinanzministerium den bürokratischen Aufwand
für vererbte Unternehmen mit nur knapp 5 Millionen
Euro jährlich um das Vier- bis Sechsfache zu niedrig angesetzt hat.
Der Kollege Michelbach von der CSU nennt diese
Stellungnahme zu Recht eine Ohrfeige für die Bundesregierung und warnt vor einem neuen Bürokratiemonster. Um das zu verhindern, sollten Sie, meine Damen und
Herren von der Koalition, sich ein Beispiel an der rotschwarzen Koalition in Österreich nehmen und die Regelungen zur Erbschaftsteuer einfach auslaufen lassen.
({7})
Wir reden immer nur über einen kleinen Teil der Bürokratiekosten. Aber Bürokratie, so wie sie von den Betroffenen erfahren und empfunden wird, geht deutlich
darüber hinaus. Bürokratiekosten resultieren eben nicht
nur aus Informationspflichten. Das hat uns soeben der
oberste Entbürokratisierer der EU, der beste Mann, den
wir aus Bayern dorthin geschickt haben, der ehemalige
Ministerpräsident, bestätigt.
Ich möchte aus Ihrem Koalitionsvertrag zitieren, in
dem Sie richtig erkannt haben:
Die Entlastung von Bürgern, Wirtschaft und Behörden von einem Übermaß an Vorschriften und der
damit einhergehenden Belastung durch bürokratische Pflichten und Kosten ist ein wichtiges Anliegen der Koalition.
Aber wo sind denn Ihre Vorschläge und vor allem Ihre
nachweisbaren Erfolge auf diesem Gebiet? Die Bürger
spüren davon viel zu wenig. Die Betroffenen haben
durch den Hauptgeschäftsführer des DIHK an die Staatsministerin und den Wirtschaftsminister schreiben lassen:
„Von einem nachhaltigen Rückgang der Bürokratie ist
bislang kaum etwas zu spüren.“
({8})
Wir können mit unserem heute vorgelegten Gesetzentwurf wenigstens den Normenkontrollrat institutionell
stärken und im parlamentarischen Prozess besser verankern. Ich lade alle Fraktionen ein, hier mitzumachen.
({9})
Wenn Deutschland beim Bürokratieabbau auf europäischer Ebene vom Zuschauer zum respektierten Mitspieler werden soll, müssen wir die Kompetenzen des Nationalen Normenkontrollrats erweitern und endlich ein
verbindliches Nettoabbauziel vorgeben.
({10})
Es wäre schön, wenn es hier zu einer interfraktionellen
Initiative käme.
Ich danke Ihnen.
({11})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Andreas
Lämmel das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Ich beginne - das tue ich sicherlich
nicht oft - mit einem Zitat eines angestaubten Vordenkers der Linken, nämlich von Marx. Er sagte einmal:
„Die Bürokratie gilt sich selbst als der letzte Endzweck
des Staates.“ Schon damals war Marx mit seinen Gedanken zum Bürokratieabbau weiter, als Sie es heute sind,
meine Damen und Herren von der Linken.
({0})
Sie vermuten hinter jedem Vorschlag zum Bürokratieabbau den Abbau von sozialen und ökologischen Standards.
Die Initiative der Europäischen Kommission zur besseren Rechtsetzung, wonach die Zahl der EU-Vorschriften um 25 Prozent gesenkt werden soll, ist aus meiner
Sicht eine der wichtigsten Initiativen der letzten Jahre
überhaupt. Es wird höchste Zeit, dass das neue Denken
in Brüssel einzieht. Der Nationale Normenkontrollrat
schätzt, dass über 40 bis 50 Prozent der nationalen Informationspflichten unmittelbar oder mittelbar auf Regelungen der Europäischen Union zurückgehen und dass
dies ein Belastungsvolumen von bis zu 600 Milliarden
Euro für die Wirtschaft und die Bürger bedeutet. Das
während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft unter
Führung von Bundeskanzlerin Angela Merkel beschlossene Abbauziel für die Europäische Union ist ein riesiger
Erfolg.
({1})
Einen solch großen Schritt hat es jahrzehntelang nicht
gegeben.
({2})
Die Stigmatisierung des Bürokratieabbaus, die Sie betreiben - Frau Zimmermann wird gleich versuchen, das
darzulegen -, ist daher völlig fehl am Platz. Ich will Ihnen an einem Beispiel die Regelungswut Brüssels aufzeigen. Ein so bergiges Land wie Mecklenburg-Vorpommern
- die Helpter Berge mit 179 Meter über Normalnull sind
die höchsten Berge - musste nach allen Regeln der parlamentarischen Kunst ein Seilbahngesetz verabschieden,
weil sonst eine Vertragsstrafe aus Brüssel in Höhe von
800 000 Euro gedroht hätte. Das versteht doch kein normaler Mensch mehr.
Gestatten Sie mir noch einen Vergleich. Von Herrn
Alwin Münchmeyer, Kaufmann seines Zeichens, stammt
folgender Spruch: Das Vaterunser hat 56 Wörter, die
Zehn Gebote haben 297 Wörter, und eine Verordnung
der Europäischen Kommission über den Import von Karamellen und Karamellprodukten zieht sich immerhin
über 26 911 Wörter hin. - Man sieht, was sich da mittlerweile aufgebaut hat.
({3})
Der Antrag der Linken entspricht in keiner Weise unserer Wirklichkeit; denn es geht doch beim Bürokratieabbau um Vereinfachung und eine bessere Verständlichkeit des europäischen Rechts. Wir sind dringend auf
diese Anstrengungen angewiesen und wir setzen auf die
Zähigkeit des ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten und seiner Kommission, in Brüssel die Dinge voranzubringen.
({4})
Aus diesem Grunde haben alle Fraktionen Ihren Antrag,
Frau Zimmermann, am 28. März letzten Jahres abgelehnt. Wir haben unsere Meinung darüber nicht geändert.
({5})
Wir beraten heute zusätzlich einen Gesetzentwurf der
FDP-Fraktion zur Erweiterung der Kompetenzen des
Normenkontrollrates. Zunächst einmal möchte ich saAndreas G. Lämmel
gen, dass wir die Arbeit des Nationalen Normenkontrollrates ausdrücklich begrüßen; denn er ist zu einem echten
Bürokratie-TÜV in Deutschland geworden. Allein im
vergangenen Jahr hat der Rat 420 Regelungsvorhaben
der Bundesministerien geprüft und seine Empfehlungen
ausgesprochen. Damit konnten die Unternehmen um
netto 777 Millionen Euro entlastet werden. Das ist nun
kein Pappenstiel. Sie, Herr Zeil, sagen immer, dass das
zu schleppend oder zu langsam geht.
({6})
Sie müssen aber sehen, dass es den NKR erst etwas länger als ein Jahr gibt. In dieser Zeit hat er 420 Regelungsvorhaben geprüft. Das ist ein ehrenamtliches Gremium. In Holland hat man sieben Jahre gebraucht, in
Großbritannien drei Jahre, und wir in Deutschland haben
ein Jahr gebraucht, bis der Normenkontrollrat voll wirksam gearbeitet hat.
({7})
Das ist eine hervorragende Leistung für ein solches Gremium. Unser Dank geht an die Herren dieses Gremiums.
({8})
Mittlerweile wurde die Bestandsmessung des geltenden Bundesrechts vorgenommen. Das Ergebnis ist: Die
Verwaltungskosten, die der deutschen Wirtschaft durch
gesetzliche Regelungen in Deutschland entstehen - es
handelt sich um 2 100 Informationspflichten -, betragen
insgesamt 27 Milliarden Euro im Jahr. Es muss uns doch
der Mühe wert sein, dafür zu kämpfen, diesen Betrag zu
senken.
({9})
Der Regierungsbeschluss vom Februar 2007, bis zum
Jahr 2011 die Bürokratie um ein Viertel zu reduzieren,
ist ganz gut, aber wir sind der Meinung, dass die Bundesregierung die Schlagzahl durchaus erhöhen könnte.
({10})
Auch sind wir auf das erste Paket von konkreten Abbaumaßnahmen, das in diesem Frühjahr von der Regierung
verabschiedet werden soll, sehr gespannt. Wir unterstützen Sie dabei. Man hört immer wieder aus verschiedenen Ressorts, dass etwas gebremst wird. Wir können Sie
nur deutlich ermuntern, Nägel mit Köpfen zu machen.
Wir teilen daher die Meinung der FDP-Fraktion, dass
dieses Abbauziel natürlich netto gelten muss.
({11})
Das ist sonst völlig witzlos. Auch die Einführung eines
Rechts der Fraktionen, bei Gesetzentwürfen den Normenkontrollrat anzurufen, halten wir für sinnvoll. Ich
möchte aber hinzufügen, dass das keine Idee der FDP ist,
sondern die vorderste Forderung der Union zum Bürokratieabbau überhaupt war.
({12})
Herr Zeil, das ist auch aus folgendem Grund interessant:
Wenn die Linke ihre Gesetzentwürfe zur Prüfung an den
Normenkontrollrat schickt, dann wird für alle transparent, wie die Linken die Wirtschaft und die Bürger belasten wollen. Dann wird transparent, welchen „Bürokratieabbau“ sie planen. Insofern ist das ein wirksames
Instrument.
Wir werden den Gesetzentwurf in den Ausschüssen
diskutieren. Wir werden mit unserem Koalitionspartner
über die vorgelegten Vorschläge sprechen. Ich habe im
Januar diesen Jahres eine Pressemitteilung unseres Kollegen Herrn Dr. Wend gelesen, in der er seine Zustimmung zu den Forderungen signalisierte. Insofern bin ich
hoffnungsvoll, dass das auch für das Nettoabbauziel gilt.
In rein formaler Hinsicht, Herr Zeil, muss man sagen,
dass Ihr Antrag noch optimierungsfähig ist. In ihm sind
ein paar Verwechslungen und Fehler, die man aber noch
korrigieren kann. Sie sind nicht kriegsentscheidend; wir
wollen Sie hier gerne unterstützen.
Meine Damen und Herren, wir müssen mit dem Bürokratieabbau weiter vorankommen. Unser Versprechen an
die Bürger und an die Wirtschaft, alles dafür zu tun, gilt
weiterhin. Die Kugel ist ins Rollen gekommen und nicht
mehr aufzuhalten. Jetzt müssen wir nur sehen, dass wir
mit dieser Kugel auch alle Neune erwischen. Dafür sollten wir gemeinsam streiten.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Sabine Zimmermann das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Zeil, ich schätze Sie wirklich sehr, aber ich
muss Ihnen eines sagen: Sie haben erklärt, Sie hätten den
besten Mann aus Bayern nach Europa geschickt. Andere
sprechen davon, dass sie ihn zum Glück los seien. Möglicherweise sind wir hier sehr unterschiedlicher Meinung.
Vor etwa anderthalb Jahren hat die Bundesregierung
den Normenkontrollrat ins Leben gerufen. Als eine Art
Bürokratie-TÜV soll er der Bundesregierung zur Seite
stehen und ihr helfen, überflüssige Bürokratie abzubauen. Die Linke hat immer davor gewarnt: Diese Initiative ist einseitig an den Interessen der Wirtschaft ausgerichtet und geht auf Kosten der Allgemeinheit. Das hat
sich leider bewahrheitet.
({0})
- Sie bekommen noch die Beispiele.
Meine Damen und Herren von der Großen Koalition,
an dieser Stelle wäre es eigentlich angebracht gewesen,
Bilanz darüber zu ziehen, was die bisherige Politik gebracht hat. Der Normenkontrollrat hat einen Zwischenbericht vorgelegt; der Bericht der Bundesregierung steht
leider noch aus. Bisher hat sie sich geweigert, die Frage
zu beantworten, welchen konkreten Nutzen der bisherige
Bürokratieabbau überhaupt gebracht hat. Ich fürchte,
heute werden wir wieder vergeblich auf eine Antwort
warten.
Antworten erhalten wir auch nicht von der FDP, die
fordert, die Befugnisse des Normenkontrollrats auszuweiten. Lieber Herr Zeil, ich muss Sie noch einmal ansprechen: Aus Ihrem Antrag schaut wieder der neoliberale Geist heraus.
({1})
Liebe Kollegen der SPD, Sie haben bei der Gründung
des Normenkontrollrats zugesichert, der Bürokratieabbau der Großen Koalition werde kein Abbau gesellschaftlich sinnvoller und notwendiger Regelungen sein.
Sind Sie ehrlich, müssen Sie einräumen, dass dieses Versprechen nicht gehalten worden ist.
({2})
Mit dem ersten Bürokratieabbaugesetz hat die Bundesregierung die amtliche Statistik ausgedünnt. Unternehmen mit weniger als 50 Mitarbeitern fallen nun aus
der monatlichen Statistik zu Umsatz und Beschäftigung
heraus. Folgerichtig beklagen heute Wissenschaftler,
dass Unternehmen im Zuge des Bürokratieabbaus weniger Daten an das Statistische Bundesamt lieferten und
die vorhandenen Statistiken nicht mehr ausreichten, um
verlässliche ökonomische Analysen und Prognosen zu
erstellen.
({3})
Des Weiteren hat die Bundesregierung für Kleinbetriebe
den betrieblichen Datenschutzbeauftragten einfach abgeschafft. Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz äußerte, damit werde der Datenschutz eingeschränkt, dies
verstoße gegen europäisches Recht.
Meine Damen und Herren, ist Ihnen auch bekannt,
dass die Regierung über sogenannte Modellregionen
- Sie wollen ja immer Beispiele haben - den Bürokratieabbau in den Bundesländern unterstützt und dass in einer
dieser Modellregionen, in Ostwestfalen-Lippe, Umweltverbände und Gewerkschaften aus diesem Projekt ausgestiegen sind? Ihr Vorwurf lautet: Unter dem Deckmantel
des Bürokratieabbaus wird der Naturschutz demontiert
und einseitig Politik für die Wirtschaft gemacht, nämlich
auf Kosten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
und ihrer Rechte.
Frau Zimmermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage
von Frau Müller?
Ja, gerne.
Frau Kollegin, ist Ihnen die Drucksache 16/6428 des
Deutschen Bundestages bekannt? Sie scheinen sie nicht
zu kennen; anderenfalls hätten Sie Ihre Rede so nicht
halten können. Sie enthält einen Bericht der Bundesregierung zum Bürokratieabbau, der genau die Frage beantwortet, die Sie hier stellen. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass das Mittelstandsentlastungsgesetz
für die Unternehmen eine enorme Freiheit gebracht hat,
was zu Mehreinstellungen geführt hat?
({0})
Sie reden immer von Freiheit für die Unternehmen.
Aber Sie müssten auch darüber reden, dass dadurch Arbeitnehmerrechte sowie Rechte in den Bereichen Naturschutz und Umweltschutz abgebaut werden.
({0})
Darauf sollten Sie achten.
Ich habe das Beispiel Ostwestfalen-Lippe angeführt.
Dort sind solche Rechte abgebaut worden. Das nehmen
wir zur Kenntnis. Ich denke, Sie müssen hier umdenken.
({1})
Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage der Kollegin
Müller?
Ja, bitte.
Frau Kollegin, ich darf Sie noch einmal fragen, ob Ihnen diese Bundestagsdrucksache bekannt ist. Sie haben
gesagt, die Bundesregierung habe keinen Bericht vorgelegt. Ich verweise Sie auf die Bundestagsdrucksache, die
genau den Bericht enthält, den Sie hier nicht zur Kenntnis nehmen wollen.
Wir haben im Wirtschaftsausschuss zur Kenntnis genommen - ich weiß jetzt nicht, ob Sie Mitglied des Wirtschaftsausschusses sind -, dass der Normenkontrollrat
seinen Bericht dort abgegeben hat. Natürlich ist mir
diese Bundestagsdrucksache bekannt.
({0})
- Natürlich. Der Normenkontrollrat war bei uns im Ausschuss. Da müssten Sie sich vielleicht einmal sachkundig machen.
Ich möchte nun zum Schluss kommen. In der Praxis
ist das Vorhaben der Bundesregierung, angeblich überflüssige Informationspflichten der Wirtschaft abzubauen, zu einem Abbau von gesellschaftlich wichtigen
Standards geworden. Das müssen Sie einfach zur Kenntnis nehmen, auch die Kollegen der CDU/CSU. Dafür
gibt es genug Beispiele.
({1})
Die Verbände in Ostwestfalen-Lippe und anderswo sind
nicht umsonst ausgestiegen. Angeblich ist die Wirtschaft
durch die Arbeit des Kontrollrates um 790 Millionen
Euro entlastet worden. Das sind zumindest die offiziellen Zahlen. Bezogen auf etwa 3,4 Millionen Unternehmen, sind das 230 Euro im Jahr.
({2})
Das bedeutet im Monat 19 Euro. Ich bitte Sie, klarzustellen, inwiefern Bürokratieabbau da eine Entlastung bedeutet?
Danke für die Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat der Kollege Garrelt Duin für die SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Über viele Jahrzehnte war Bürokratieabbau ein
Thema in vielen Reden - Herr Zeil, insbesondere in den
Zeiten, in denen die FDP in Bonn noch regiert hat -;
({0})
aber passiert ist nicht viel. Es wurde darüber nur gestritten und debattiert. Die Große Koalition hat dieses
Thema in dieser Legislaturperiode zum ersten Mal konkret angepackt.
Herr Zeil, wir konzentrieren uns auf das, was wirklich
Bürokratie ist. Ihr Verständnis von Bürokratieabbau, das
gern Arbeitnehmerrechte und andere Dinge einbezieht,
teilen wir ausdrücklich nicht. Wir konzentrieren uns hier
mit der Arbeit des Normenkontrollrates auf das, was Bürokratie im engeren Sinne ist. Darum muss es uns gehen.
({1})
Ohne den Versuch, das Rad jedes Mal neu zu erfinden, machen wir durch die Arbeit des Normenkontrollrats und durch andere Maßnahmen Schritte; die Bundeskanzlerin würde von einer Politik der kleinen Schritte
sprechen. Ich glaube, das ist der richtige Weg. Es nützt
nämlich nichts, mit der Axt durch den Wald zu gehen,
sondern man muss sich sehr genau anschauen, was man
vor sich hat und wo man etwas beschneiden muss.
Wir haben im Jahre 2006 mit dem Gesetz zur Einsetzung eines Nationalen Kontrollrates einen wichtigen
Schritt getan. Es wurden in den letzten Jahren über
10 000 Informations- und Statistikpflichten im Auftrag
des Normenkontrollrates geprüft, um so zu einer Entlastung der Unternehmen von Bürokratiekosten zu kommen.
Insgesamt haben wir bisher einen Abbau von bürokratischen Belastungen in Höhe von immerhin 2,6 Milliarden
Euro erreicht. Ich finde, dass man sich dahinter nicht
verstecken muss.
({2})
Gleichwohl ist das nur der Anfang. Wir haben ein Etappenziel erreicht und müssen auf diesem Weg weitergehen.
Wir werden genau überprüfen - da schließen wir uns
einer Empfehlung des Normenkontrollrates ausdrücklich
an -, welche Gruppen von Unternehmen und welche
Gruppen bei den Bürgerinnen und Bürgern durch welche
Vorschriften belastet sind, und wir werden versuchen,
passgenaue Ansätze zu entwickeln.
Ich glaube, dass es unheimlich wichtig ist - das hat
auch das Gespräch mit Herrn Ludewig im Ausschuss gezeigt -, uns nicht allein auf das zu beschränken, was der
Normenkontrollrat machen kann. Wir müssen nach unseren Möglichkeiten dafür sorgen, dass ähnliche Initiativen und die Arbeit am Thema Bürokratieaufbau auch auf
anderen Ebenen stattfinden, dass wir in den Bundesländern entsprechende Initiativen starten und dass wir die
Kommunen einbeziehen. Bürokratie entsteht nicht nur
durch Gesetze, die der Deutsche Bundestag verabschiedet.
({3})
Bürokratie entsteht in gleicher Weise durch Verwaltung und auch auf anderen Ebenen. Deswegen müssen
wir das in Übereinstimmung mit dem, was Herr
Ludewig im Ausschuss gesagt hat, in Angriff nehmen.
({4})
Natürlich darf man Europa nicht außer Acht lassen.
Das ist in den Vorreden schon angeklungen. Wir setzen
uns auch auf europäischer Ebene dafür ein, dass die Informationspflichten minimiert und dass neue Informationspflichten - wenn möglich - gar nicht erst geschaffen werden, sollten sie nicht zwingend erforderlich sein.
Wir schauen auch auf andere europäische Länder wie die
Niederlande, Großbritannien, Dänemark und Österreich, um zu erfahren, wie dort mit dem Standardkostenmodell umgegangen wird, und um die positiven Erfahrungen aus diesen Ländern in unsere Entscheidungen
einzubeziehen.
Jetzt haben wir die Debatte darüber, inwieweit man
die bisherigen gesetzlichen Regelungen erweitern kann.
Die FDP stellt den Antrag mit Blick auf das Anrufungsrecht der Fraktionen. Das Copyright liegt nicht allein bei
Ihnen; auch der Normenkontrollrat hat das gesagt.
({5})
Er hat gesagt: Wir wollen in diese Richtung gehen. Wir als SPD-Fraktion schließen uns dem grundsätzlich
an.
({6})
Wir sollten das erfolgreiche Instrument, das wir in der
Hand haben - nämlich die Prüfung durch den Normenkontrollrat -, erweitern, auch auf die Gesetzgebung aus
der Mitte des Parlaments.
({7})
Ich glaube, dass das dritte Mittelstandsentlastungsgesetz
geeignet sein wird, die Arbeit des Normenkontrollrats
auf weitere Felder der Gesetzgebung auszudehnen. Wir
werden das prüfen und diskutieren; aber es soll schon
klar sein, in welche Richtung wir da gehen wollen.
Ein Anrufungsrecht der Fraktionen würde sicherstellen, dass die Überprüfung zum Regelfall wird. Wir erleben schon bei dem, was auf den Weg gebracht worden
ist, dass eine Selbstdisziplinierung stattfindet, dass man
bei dem, was beschlossen wird, vorsichtig ist und auf die
entstehenden Bürokratiekosten achtet. Weitere Bürokratiekosteneinsparungen für kleinere und mittlere Unternehmen würden damit gewährleistet. Deswegen wollen
wir so verfahren.
Vor kurzem stand in der Zeit: Wer in Nordrhein-Westfalen aus einer Produktionshalle ein Lager machen will,
braucht dafür keine Genehmigung mehr. Wer im Saarland ein Haus baut, muss das nicht mehr beantragen.
Wer in Baden-Württemberg Taxi fährt, kann sich die
Farbe seines Autos aussuchen. - Es war eine ganze
Reihe von Beispielen. Jedes Beispiel ist für sich genommen lächerlich - die Wahlmöglichkeit bei der Farbe von
Taxis ist natürlich nicht das Symbol für Bürokratieabbau -, aber in der Summe ist das wirklich nicht zu verachten. Da sind wir mit den kleinen Schritten auf dem
richtigen Weg.
Ich bin davon überzeugt, dass wir nicht irgendeine
Milliardensumme festschreiben sollten, so wie Sie das
verlangen, Herr Zeil.
({8})
- Oder einen Prozentsatz. ({9})
Wir müssen vielmehr darauf achten, ob die Reduktion
wirklich bei denjenigen ankommt, bei denen die Bürokratie am meisten zugeschlagen hat. Ich glaube nicht,
dass man das am Ende an formalen Kriterien wird festmachen können.
Ich habe heute einfach einmal bei der einen oder anderen Firma in meinem Wahlkreis angerufen. Weil bei
der Vorrednerin immer nach Beispielen verlangt wurde,
will ich ein Beispiel nennen. Ein großer Windenergieanlagenhersteller, der in den letzten Jahren am Markt
wirklich sehr erfolgreich war und inzwischen mehrere
Tausend Beschäftigte hat, hat auf die Frage, ob der Bürokratieabbau dort angekommen sei, geantwortet, dass
man das spürt, und zwar dadurch, dass bestimmte Probleme schnell elektronisch gelöst werden können
({10})
- nein, das ist er ganz sicher nicht; davon können Sie fest
ausgehen; das würde Ihnen jeder in der Region bestätigen -, und dadurch, dass Dinge eingescannt werden können, um sie elektronisch zu versenden. Es hieß, dadurch
sei die tägliche Arbeit bei bestimmten Dingen in der
letzten Zeit schon erheblich erleichtert worden. Wir wurden von ihm darin bestärkt, diesen Weg weiterzugehen.
Die Prozesse sind jetzt - so lautete die Aussage - sehr
viel stringenter und effizienter geworden.
Auch die Testregion Ostwestfalen-Lippe ist hier
schon das eine oder andere Mal angesprochen worden.
Ich teile nicht Ihre Klage, Frau Zimmermann, dass man
in Ostwestfalen-Lippe Arbeitnehmerrechte oder Umweltschutzvorschriften abgebaut hätte. Im Gegenteil, ich
glaube, dass man in dieser Testregion sehen kann, wie
vieles gemacht werden könnte. Jürgen Heinrich, der Projektleiter, hat das folgende Bild gebracht - das will ich
zum Abschluss zitieren -, nämlich
… dass Bürokratieabbau weniger der Arbeit des
Architekten gleicht, der ein Gebäude errichtet, und
das steht dann für die nächsten 30 Jahre da und
funktioniert, sondern eher mit der Arbeit eines
Gärtners zu vergleichen ist, der alltäglich in seinen
Garten hinausgeht, dort etwas jätet und etwas zurückschneidet, regelmäßig den Rasen kürzt und gelegentlich auch zum Spaten greift, um kräftig umzugraben und Brachland zu schaffen, auf dem dann
Neues sprießt und gedeiht.
Ich glaube, dass Herr Heinrich mit diesem wunderbaren
Bild recht hat.
Kollege Duin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Zimmermann?
Da ich eh nur noch elf Sekunden gehabt hätte,
können Sie meine Redezeit gerne verlängern, Frau
Zimmermann.
Danke schön. - Sind Sie mit mir der Meinung, dass
die Gewerkschaften und die Umweltschutzverbände aus
dem Testlauf in Ostwestfalen-Lippe ausgestiegen sind,
und zwar mit der offiziellen Begründung, dass dort
Rechte angetastet worden sind? Oder kennen Sie eine
andere Begründung dafür, warum sie ausgestiegen sind?
Ich will Ihnen dazu sagen, dass ich in engem Kontakt
mit dem dortigen DGB-Regionsvorsitzenden stehe und
deshalb den entsprechenden Schriftverkehr kenne. Ich
frage Sie also: Warum sind Ihrer Meinung nach die genannten Verbände ausgestiegen?
Ich kann die Frage im Detail so nicht beantworten, da
ich persönlich mit den dortigen Funktionären im Gewerkschaftsbund nicht bekannt bin. Ich glaube aber
grundsätzlich - das Projekt in Ostwestfalen-Lippe kenne
ich gut genug, um das sagen zu können -, dass nicht jede
Meinung eines Verbandsvertreters - sei es auch die eines
Gewerkschaftschefs - für das tatsächliche Empfinden
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer relevant ist.
Meines Erachtens gibt es keine Belege dafür, dass in diesem Projekt in Ostwestfalen-Lippe Arbeitnehmerrechte
wirklich nachhaltig infrage gestellt worden sind.
Ich habe zu Beginn meiner Ausführungen deutlich
gemacht, dass wir gerade darauf setzen, dass es nur um
Bürokratieabbau gehen darf und nicht um das Beschneiden der Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bzw. von Umweltschutzstandards. Das ist mit uns
nicht zu machen.
({0})
Ich kann Ihnen nicht im Detail beantworten, welche
persönlichen Verwerfungen es zwischen den in Ostwestfalen-Lippe Agierenden gibt, sodass es zu diesem Ausstieg gekommen ist. Glauben Sie mir aber, dass ein viel
größerer Aufschrei durch das Land gegangen wäre,
wenn ausgerechnet in einer Region wie OstwestfalenLippe Arbeitnehmerrechte anders behandelt würden als
im Rest der Republik.
Kollege Duin, auch der Kollege Dobrindt möchte Ihnen Gelegenheit geben, noch länger zu sprechen; das
heißt, er möchte Ihnen eine Frage stellen. Lassen Sie
diese auch noch zu?
Auch die Zwischenfrage des Kollegen Dobrindt lasse
ich gerne zu.
Herr Kollege Duin, sind Sie mit mir der Meinung,
dass die Linke hier zwei Dinge unrechtmäßigerweise
vermischt,
({0})
nämlich die Arbeit des Normenkontrollrates und den
Testlauf in der Modellregion Ostwestfalen-Lippe? Der
Normenkontrollrat, der hier von der Linken kritisiert
wird, soll nämlich auf oberster Ebene kontrollieren, ob
Gesetze mehr Bürokratie nach sich ziehen. In der Modellregion Ostwestfalen-Lippe soll auf unterster Ebene
getestet werden, wie viel Bürokratieabbau in einem
Landkreis direkt vor Ort bei den Bürgern möglich ist.
Herr Kollege Dobrindt, ich bin absolut Ihrer Meinung. Der Normenkontrollrat ist - das ist immer wieder
betont und auch von den Beteiligten, zum Beispiel von
Herrn Ludewig, bestätigt worden - keine Kontrollinstanz für die Gesetzgebung dieses Hauses, sondern er
kümmert sich um die Bürokratiekosten. Das macht er,
wie ich finde, in wegweisender Art und Weise. Insofern
gebe ich Ihnen vollkommen recht: Es gibt hier einen Unterschied in der Wahrnehmung zwischen uns und den
Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei.
({0})
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Kerstin Andreae das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unterstützt
den Antrag der FDP.
({0})
Ich kann nicht nachvollziehen, warum Sie, Frau
Zimmermann, sagen, der Antrag sei neoliberal. Bei Anträgen von der FDP muss ich auch immer aufpassen, ob
diese aus unserer Sicht nicht über das Ziel hinausschießen. Hier geschieht Folgendes: Sie sagen, der Normenkontrollrat sei ein gutes Gremium. Aber wir haben ein
Manko: Wir müssen die Befugnisse des Normenkontrollrats ausweiten. - Was für ein Parlament sind wir
denn, wenn wir nicht in der Lage sind, unsere eigenen
Gesetze durch den Normenkontrollrat prüfen zu lassen?
Natürlich müssen die Befugnisse des Normenkontrollrats ausgeweitet werden.
({1})
Bezüglich des Nettoreduktionsziels kommt der Normenkontrollrat zum gleichen Ergebnis. Wir haben 500
neue Informationspflichten geschaffen, und Sie haben
136 Informationspflichten abgeschafft. Sie feiern die
Abschaffung dieser Informationspflichten. Aber netto
haben wir doch eine Ausweitung der Bürokratie.
({2})
Wenn man sich das Ziel setzt, Bürokratie abzubauen,
dann muss man ehrlicherweise den Saldo betrachten.
Wir müssen uns genau angucken, wo wir Informationspflichten geschaffen und wo wir diese abgebaut haben,
und prüfen, ob es sich am Ende tatsächlich um einen Abbau oder um einen Aufbau von Bürokratie handelt. Von
daher ist es richtig, ein Nettoreduktionsziel festzulegen.
({3})
Ich möchte nun den Antrag der Linken kommentieren. Ich sehe durchaus, dass es schwierig ist, die Balance
zu halten. Arbeitsschutz- und Umweltschutzauflagen
sind absolut notwendig, manchmal muss man der Wirtschaft sagen, dass es nicht immer nach ihrer Pfeife läuft.
Wir müssen natürlich Umweltschutzrichtlinien festsetzen, auch wenn diese Bürokratie bedeuten.
Im ersten Punkt Ihres Antrags schreiben Sie:
Die Europäische Union erleben derzeit viele Menschen als bürgerfern.
D’accord! Das ist tatsächlich ein Problem, das über alle
Ebenen hinweg gelöst werden muss. Im zweiten Punkt
gehen Sie jedoch ausgerechnet auf die EU-Arbeitsschutzrichtlinie zur optischen Strahlung ein. Was war
das denn für eine Arbeitsschutzrichtlinie? - Sie schreiben selber:
Diese sollte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
unter anderem vor Sonneneinstrahlung und damit
möglichen Hautkrebserkrankungen schützen.
Ich bin ja dafür, dass man die Leute in irgendeiner Form
auf den Zusammenhang zwischen Sonneneinstrahlung
und Hautkrebsrisiko hinweist. Aber dafür brauchen wir
keine bürokratische EU-Richtlinie.
({4})
Dieses Problem betrifft doch die Menschen in den Biergärten genauso wie die Bademeister in den Freibädern
und das Baugewerbe. Natürlich ist es richtig, auf Hautkrebsrisiken aufmerksam zu machen.
({5})
Aber dafür braucht man keine Richtlinie.
Ihr Vorschlag basiert ja auf der Überlegung, dies als
Arbeitsschutzmaßnahme zu proklamieren, um dann zu
argumentieren, durch den Bürokratieabbau sei dieser Arbeitsschutz nicht gewährleistet. Das entspricht nicht der
Position der Grünen. Wir sagen: Ja, wir brauchen sowohl, was den Umweltschutz angeht, als auch, was den
Arbeitsschutz angeht, Richtlinien und Regelungen.
Diese können manchmal auch Bürokratie bedeuten. Das
darf aber nicht so ausufern, wie es bei dieser Richtlinie
der Fall gewesen wäre. Schon alleine deswegen können
wir dem Antrag der Linken nicht zustimmen.
({6})
Ich möchte mich jetzt noch an die Koalitionsfraktionen richten, da beide angedeutet haben - so habe ich zumindest Sie, Herr Duin, und Sie, Herr Lämmel, verstanden -, wir könnten über eine Ausweitung der Befugnisse
des Normenkontrollrates reden; das finde ich gut. Ich
möchte einen Kronzeugen zitieren. Die BertelsmannStiftung schreibt nämlich:
Obwohl es positiv zu bewerten ist, dass der NKR
im Gesetzgebungsprozess verankert ist, bleibt die
Frage, warum er nur Hilfestellung leisten darf,
wenn die Gesetzesinitiative von der Bundesregierung ausgeht und warum er nicht bis zum Schluss
des Legislativverfahrens eingebunden ist.
Wir wissen doch alle, wo das Problem liegt: Das Gesetz
wird eingebracht, und dann kommen die Änderungsvorschläge der Koalitionsfraktionen und der Opposition.
Von jeder Seite werden Änderungsvorschläge vorgelegt,
die die Gesetze komplizierter und bürokratischer machen. Ich finde, es hat etwas mit unserem Selbstverständnis als Parlament zu tun, wenn wir sagen: Der Normenkontrollrat ist in alle Initiativen während des
gesamten Prozesses eingebunden, um auf die bürokratischen Wirkungen, die eine Änderung nach sich ziehen
würde, hinweisen zu können. Die Entscheidung ist immer noch Sache des Parlaments.
Das Parlament ist Gesetzgeber und sollte das für diese
Entscheidung notwendige Selbstbewusstsein haben. Wir
unterstützen den Antrag der FDP.
Vielen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/7855 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen damit zur Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem An-
trag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Bürokratieab-
bau in Europa - Kein Freibrief zum Abbau von Arbeits-
und Umweltschutz“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5196, den An-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/4204 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfrak-
tion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a bis 12 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Schummer, Ilse Aigner, Marcus Weinberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter
Rossmann, Ulla Burchardt, Willi Brase, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Rahmenbedingungen für Lebenslanges Lernen verbessern - Weiterbildung und Qualifizierung ausbauen und stärken
- Drucksache 16/8380 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kornelia
Möller, Volker Schneider ({1}),
Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Der beruflichen Weiterbildung den notwendigen Stellenwert einräumen
- Drucksache 16/7527
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Volker
Schneider ({2}), Cornelia Hirsch,
Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Zukunftsaufgabe Weiterbildung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Patrick
Meinhardt, Cornelia Pieper, Uwe Barth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Offensive Weiterbildung - Weiterbildung als
4. Säule des Bildungswesens ernst nehmen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz
({3}), Kai Gehring, Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Lebenslanges Lernen fördern
- Drucksachen 16/785, 16/2702, 16/4748, 16/8352 Berichterstattung:
Abgeordnete Uwe Schummer
Patrick Meinhardt
Volker Schneider ({4})
Priska Hinz ({5})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Uwe Schummer für die Unionsfraktion.
({6})
Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren!
Bildung schafft Beteiligungschancen, nutzt Potenziale
für unser Land. Wir haben in Deutschland die meisten
Patentanmeldungen weltweit. Die meisten Patente werden von den Beschäftigten der Unternehmen angemeldet.
Die Wirtschaft selbst errechnet einen jährlichen Verlust von 18,5 Milliarden Euro, der sich daraus ergibt,
dass Aufträge nicht angenommen werden können, weil
Stellen nicht mit qualifizierten Mitarbeitern besetzt werden können. 3,5 Millionen Arbeitslose kosten insgesamt
75 Milliarden Euro. Diese Summe ergibt sich aus nichtgezahlten Steuern und Sozialbeiträgen sowie den Leistungsausgaben.
Es ist undenkbar, dass die arabischen Länder ihre
Erdölvorräte im Wüstensand versickern lassen oder die
Südafrikaner die Goldnuggets in den Flussläufen nicht
voll ausschöpfen. Wir hingegen haben 1,3 Millionen
junge Menschen - Schulabgänger bis 29 Jahre - ohne
berufliche Qualifizierung. Diese Situation ist nicht vom
Himmel gefallen. Sie hat sich im Verlauf von mehr als
einer Dekade, über 15 Jahre hinweg entwickelt. Das
lässt keinen Platz für Selbstgerechtigkeit, egal auf welcher Seite.
Wir korrigieren das, was in den letzten 15 Jahren
falschgelaufen ist. Die Große Koalition hat gehandelt,
zum Beispiel mit dem Beschluss „Neue Dynamik für
den Ausbildungspakt“. Entscheidend für Weiterbildung
ist die Weiterbildungsfähigkeit. Wir müssen Aus- und
Weiterbildung miteinander vernetzen. Es ist gut, dass es
konkrete Vereinbarungen zwischen Politik und Wirtschaft gibt, eine bessere Berufsorientierung stattfindet
und mit dem EQJ-Programm, den Einstiegspraktika,
eine Brücke zur dualen Ausbildung gebaut wurde. Die
Weitervermittlungsquote bei diesem Programm beträgt
immerhin 75 Prozent. Mit 630 000 betrieblichen Ausbildungsplätzen haben wir den Höchststand seit 1992 in
Deutschland erreicht. Die Erosion der dualen Bildung,
die über ein Jahrzehnt hinweg anhielt, ist endlich gestoppt.
({0})
Zum Thema „Motivation zur Weiterbildung“ gehört
auch die grenzüberschreitende Anerkennung und Verwertbarkeit der dualen Ausbildung im europäischen Bildungsraum. Unser Antrag, der auf einen europäischen
Qualifizierungsrahmen abzielt, ist von großer Bedeutung, damit die duale Ausbildung bei den Bewertungskriterien eins bis acht hoch angesiedelt wird. Ein erster
Erfolg ist, dass der Meisterbrief europaweit einem Hochschulabschluss gleichgestellt worden ist.
Das dritte parlamentarische Werkstück: die Vermittlung der Altbewerber in eine berufliche Qualifizierung.
Diesem Thema hat sich der Antrag „Junge Menschen
fördern - Ausbildung schaffen und Qualifizierung sichern“ gewidmet. Neu ist der Ausbildungsbonus. Er
wird dafür sorgen, dass nicht irgendwann, sondern zeitnah, jeder, der will und kann, eine Berufsausbildung findet.
({1})
Es ist besser, betriebliche Strukturen für die Ausbildung
zu nutzen als teure Parallelstrukturen aufzubauen oder
zu warten, bis die Konjunktur das Thema von selber löst.
({2})
Nun kommt der vierte Baustein: die Förderung des
lebenslangen Lernens. Eine der Grundlagen ist der
Unionsantrag „Rahmenbedingungen für Lebenslanges
Lernen verbessern - Weiterbildung und Qualifizierung
ausbauen und stärken“ aus der letzten Legislaturperiode.
Aufgrund des vorzeitigen Abtretens der rot-grünen Bundesregierung - Sie hatten sich gegenseitig das Misstrauen erklärt - konnte dieser Unionsantrag nicht zu
Ende beraten werden. Das haben wir nun mit dem Koalitionsantrag nachgeholt. Wir haben die zweite Chance genutzt, und nun ist die Zeit der Entscheidung.
({3})
Wir brauchen einen Paradigmenwechsel in der Wirtschaft: Schluss mit der Dequalifizierung durch Frühverrentungen, Entlassungen und Billigstlöhnen.
({4})
Arbeitnehmer sind nicht nur Kosten, sie sind Aktivposten. Eine bundesweite Onlinebefragung der IHK-Organisationen zeigt, dass neun von zehn Unternehmen in die
Weiterbildung ihrer Mitarbeiter investieren wollen. Unser im Antrag vorgegebenes Ziel ist, bis 2015 bei der
formalisierten Weiterbildung der Erwerbstätigen eine
Weiterbildungsquote von mindestens 50 Prozent und
beim informellen Lernen von mindestens 80 Prozent zu
erreichen.
Der Antrag zum lebenslangen Lernen will einen
Finanzierungsmix und eine Bildungsprämie als Direktzuschuss in Höhe von 154 Euro für Arbeitnehmer mit
geringem Einkommen. Höhere Einkommen können
Weiterbildungskosten über den Pauschbetrag im Steuerrecht bis 920 Euro absetzen. Vorbild ist auch ein Bildungsscheck in Nordrhein-Westfalen aus der Werkstatt
von Karl-Josef Laumann. In zwei Jahren wurde er
200 000 Mal abgerufen; 150 000 Arbeitnehmer haben
ihn eingelöst. Ziel sind Unternehmen mit bis zu 250 Beschäftigten. Auch hier werden 50 Prozent der Kursgebühren übernommen. Kammern und Volkshochschulen
beraten über die richtige Qualifizierung. In einer Weiterbildungsallianz sollten Programme von Bund, Ländern
und Sozialpartnern aufeinander abgestimmt und weiterentwickelt werden.
Die größte Hebelwirkung hat die Erweiterung des
Vermögensbildungsgesetzes durch Prämie, Zinsen, Eigenanteil und Arbeitgeberanteil. Derzeit werden
6,7 Millionen Arbeitnehmer durch die Sparzulage gefördert. Sie sollen Guthaben vorzeitig für Bildungsmaßnahmen abrufen können. Die Kombination von Bausparen
und Bildungssparen, aber auch mit dem Produktivsparen
kann dazu führen, dass wir insgesamt 12 Millionen Arbeitnehmer, die die Möglichkeit dazu haben, erreichen.
Weiterbildungsdarlehen und Zeitkonten, die zeitverzinst
für Familienphasen, aber auch für Qualifizierungszeiten
genutzt werden, sind weitere Elemente unseres Antrages
zum lebenslangen Lernen.
Wir ermuntern die Tarif- und Betriebsparteien nachdrücklich, diesen Weg zu gehen. Ein offenes Thema,
über das wir auch politisch mit den Sozialpartnern sprechen müssen, ist der Insolvenzschutz. Ein unbürokratischer Weg wäre eine Regelung analog der Pensionssicherung, die der Pensionssicherungsverein seit über
30 Jahren organisiert. Auch dies ist meines Erachtens ein
Thema für eine Weiterbildungsallianz, die wir mit der
Bundesregierung, den Sozialpartnern und den Ländern
schmieden wollen.
({5})
Arbeitsförderung und Berufsbildungsgesetz sind Kinder der Großen Koalition von 1967/68. Hans Katzer, der
damalige Arbeitsminister, hat sie federführend entwickelt. Damals ging es darum, dass 120 000 Arbeitslose
durch Qualifizierung in eine Beschäftigung gebracht
werden sollten. Heute geht es darum, dass im globalen
Wettbewerb der Wissensgesellschaften 40 Millionen Erwerbstätige permanent - durch Training on the Job qualifziert werden müssen. Dies geht nicht mehr über
die Arbeitslosenversicherung. Da müssen wir die Selbstfinanzierungsanreize stärken und insgesamt versuchen,
diesen Finanzierungsmix auszubauen.
Mit dem Antrag erfüllen wir jetzt nicht alle Wünsche
und Hoffnungen in der Weiterbildung. Aber er öffnet
Türen in neue Räume, die wir politisch weiter ausgestalten werden. Ich zitiere jetzt:
Notwendig ist ein aufeinander abgestimmtes System von gründlicher Elementarbildung, berufsbezogener Grundschulung und berufsbegleitender Weiterbildung. Nicht Privilegien, sondern persönliche
Leistungen legitimieren den beruflichen Aufstieg in
der Sozialen Marktwirtschaft.
So Ludwig Erhard in seinem Manifest 1972 und so auch
die Leitlinien unserer Politik.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Patrick Meinhardt
für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Über Weiterbildung und lebenslanges Lernen
wird in der Politik momentan wirklich viel gesprochen.
In aller Bescheidenheit darf ich darauf hinweisen, dass
auch der Antrag der FDP mit dem Titel „Offensive Weiterbildung“ einen Impuls für eine umfassende Weiterbildungsdebatte gesetzt hat. Spätestens seit es die sogenannte Qualifizierungsinitiative gibt, ist dieses Thema in
aller Munde. Dafür ist es allerdings auch höchste Zeit.
({0})
Leider muss bilanziert werden: Im Großen und Ganzen bleibt es bei Lippenbekenntnissen und Absichtserklärungen, die Substanz fehlt, und ein roter Faden ist
überhaupt nicht erkennbar. Das können wir uns bei diesem Thema beim besten Willen nicht mehr leisten.
({1})
Für die FDP-Fraktion ist in dieser Debatte, die eigentlich eine Weiterbildungsdebatte ist, wichtig, darauf hinzuweisen, dass schnellstmöglich ein in sich stimmiges
Konzept erarbeitet werden muss, das auf vier Grundlagen fußt: auf dem Bildungssparen, auf Lernzeitkonten,
auf attraktiven Bildungsdarlehen und auf Bildungsgutscheinen auch für die Weiterbildung. Die Basis des Ganzen muss aber sein, dass wir ein breites gesellschaftliches Bewusstsein für das lebenslange Lernen schaffen
müssen.
Wichtig ist, dass wir mit den Zielgruppen richtig umgehen, vor allem mit den jungen Erwachsenen. In einem
ersten Schritt müssen wir insbesondere bei den
1,3 Millionen Menschen in Deutschland ansetzen, die
jünger als 30 Jahre sind und keinen Schulabschluss haben. Das ist auch eine große integrationspolitische Herausforderung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, schauen wir uns
einmal an, was die Bundesregierung unter anderem vorschlägt: die Einführung eines Freiwilligen Technischen
Jahres. „Freiwillig“ und „Technisch“ - das hört sich erst
einmal gut an.
({2})
Aber was steckt dahinter? Dieses Freiwillige Technische
Jahr soll junge Menschen, die in der Schule keinen Zugang zu Mathematik und Naturwissenschaften gefunden
haben, nun plötzlich für die Naturwissenschaften begeistern. Meine Damen und Herren, Sie können sich bestimmt vorstellen, mit welcher Begeisterung sich Exschüler in die Warteschleife auf dem Weg in Ausbildung
oder Studium begeben werden! Begeisterung und Leidenschaft für Mathematik, Naturwissenschaften und
Technik muss von Kindesbeinen an in der Schule vermittelt und dann am Leben gehalten werden. Deswegen
brauchen wir konkrete Vorschläge, wie bei den jungen
Menschen schon im Kindergarten die Begeisterung für
Naturwissenschaften und Mathematik entfacht werden
kann.
({3})
Wenn es um das Thema Weiterbildung geht, muss
man auch die älteren Arbeitnehmer in den Blick nehmen. Den älteren Arbeitnehmern hat die Bundesregierung bedauerlicherweise ebenfalls nur wenig zu bieten.
55 Prozent aller über 55-Jährigen arbeiten nicht mehr.
Gleichzeitig haben wir in Deutschland einen massiven
Fachkräftemangel zu beklagen. Wir müssen den Menschen durch attraktive Weiterbildungskredite die Möglichkeit geben, länger im Arbeitsprozess zu bleiben.
Denn ältere Arbeitnehmer haben wichtige Kenntnisse
und verfügen über das Wissen, das im Arbeitsprozess
gebraucht wird. Eine Weiterbildungsinitiative, die an
den älteren Menschen vorbeigeht, ist und bleibt Stückwerk.
({4})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Tauss?
Es hätte mich auch gewundert, Herr Kollege Tauss,
wenn Sie keine Zwischenfrage hätten stellen wollen.
({0})
Lieber Kollege Fischer, es freut mich, dass Sie wieder
einmal hier sind. Herzlich willkommen!
({0})
Kollege Meinhardt, ich war von Ihrer Begeisterung
für Kindergärten usw., die ich übrigens uneingeschränkt
teile, wirklich ergriffen,
({1})
und das unabhängig davon, dass Sie im Gegensatz zu
mir ein regelrechter Extremföderalist sind.
Ich möchte Sie fragen: Haben Sie zur Kenntnis genommen, dass durch unsere Initiativen in genau diesem
Bereich etwas geschehen ist? Ich möchte Sie in diesem
Zusammenhang nur auf das entsprechende Projekt der
Helmholtz-Gemeinschaft hinweisen und das Stichwort
„Kleine Forscherinnen und Forscher“ nennen. Das, was
der Bund in diesem Bereich zu leisten hatte, hat er getan.
Haben Sie diese Initiativen zur Kenntnis genommen,
und wollen Sie sie nicht genauso positiv würdigen, wie
ich es gerade getan habe?
({2})
Herr Kollege Tauss, ich sage Ihnen ganz offen und
ehrlich: Wenn es um Weiterbildung geht, ist für mich
entscheidend, was man unter dem Strich für die Menschen erreicht.
({0})
Deswegen würdige auch ich die Initiativen, die gemeinsam mit der Helmholtz-Gemeinschaft und mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft durchgeführt werden.
({1})
Aber Sie sollten auch eingestehen, dass es eine ganze
Reihe von Initiativen gibt, die während der Regierungszeit der FDP-CDU/CSU-Koalition auf den Weg gebracht
wurden, von Ihnen fortgesetzt oder ergänzt wurden und
dann ihre sinnvollen Wirkungen entfalten konnten, weil
die Kindergärten in diese Arbeit von Anfang an integriert worden sind. Nur, mein grundsätzlicher Vorwurf
wird dadurch nicht ausgehebelt.
({2})
- Nein, wird er nicht, Herr Kollege Tauss. Ein stimmiges
Weiterbildungskonzept braucht einen roten Faden. Einen
solchen kann ich in dem vorgelegten Weiterbildungskonzept beim besten Willen nicht erkennen. Es ist gut,
wenn Einzelmaßnahmen, die in der Vergangenheit gewirkt haben, fortgesetzt werden. Zu einer neuen Weiterbildungsinitiative gehören jedoch neue Impulse. Die
Weiterbildungsbeteiligung liegt im OECD-Durchschnitt
bei 18 Prozent. Bei uns liegt sie bei gerade einmal
12 Prozent. Wir brauchen eine Weiterbildungsinitiative,
die in sich stimmig ist. Es fehlt dieser Weiterbildungsinitiative darüber hinaus an Dynamik.
({3})
Der Kollege Schummer hat auf die Weiterbildungsprämie, auf den staatlichen Zuschuss von 154 Euro, verwiesen. Wenn das im Zentrum Ihrer Weiterbildungsinitiative stehen soll, muss ich Ihnen sagen: Das geht an
dem, was wir in der Bundesrepublik Deutschland an
Weiterbildung brauchen, vorbei. Was kann man sich für
154 Euro - bzw. 308 Euro; es wird ja komplementär finanziert - an beruflicher Weiterbildung schon leisten?
Mehr als ein Wochenendkurs in buddhistischer Schwangerschaftsgymnastik, in ostsibirischer Glasbläserei oder
in maoistischem Makramee mit dem AStA der lokalen
Uni wird da nicht drin sein. Schlicht und ergreifend: Mit
154 Euro schafft man keine Weiterbildungsoffensive.
Der Kollege Schummer hat die Weiterbildungsschecks angesprochen, die Nordrhein-Westfalen eingeführt hat - ein tolles Projekt der FDP/CDU-Regierung in
Nordrhein-Westfalen. Warum wird ein solcher Weiterbildungsscheck nicht zum Kern dieser Weiterbildungsinitiative gemacht? In Nordrhein-Westfalen sind Weiterbildungsschecks für die Mitarbeiter von kleinen und
mittleren Unternehmen eingeführt worden. Das ist die
Zielrichtung, die wir brauchen. Denn so hat man es geschafft, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Die
Mitarbeiter erneuern ihr Können und Wissen und sichern
sich so die aktive Teilhabe auf dem Arbeitsmarkt, die
Unternehmen profitieren davon, weil sie sich so Innovation und Wettbewerbsfähigkeit sichern. Ein Weiterbildungsscheck wäre der Einstieg in eine Weiterbildungsoffensive, die diesen Namen verdient.
Das Rad der Weiterbildung muss nicht neu erfunden
werden. Ideen und gute Lösungsansätze wie den Weiterbildungsscheck in Nordrhein-Westfalen gibt es genug.
Diese Koalition muss das Rad der Weiterbildung lediglich drehen.
Vielen Dank.
({4})
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Ernst Dieter
Rossmann für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In einer großen Koalition ist es so, dass man über die
Parteigrenzen hinaus in der Bewertung der Bedeutung
von Weiterbildung viel Übereinstimmung hat, weshalb
ich der Analyse der Kollegen Schummer und Meinhardt
nichts hinzufügen möchte.
Ich will darauf hinweisen, dass jede Zeit die Förderung der Weiterbildung um neue Elemente ergänzt hat.
Unter der ersten Großen Koalition war das der gesetzliche Anspruch im Sozialgesetzbuch. Dann kam das
Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz. Unter Rot-Grün
ist das Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz mit Substanz versehen worden. 70 000 Beschäftigte zusätzlich
haben davon Gebrauch machen können. Es gab den Ansatz der lernenden Region, um die Akteure vor Ort zusammenzubringen. Dies wird jetzt weitergeführt. Die
Benachteiligtenförderung wird jetzt in Richtung Alphabetisierung ausgebaut. Um auf Ihre Kritik zurückzukommen: Es gibt sehr wohl einen roten Faden. Vielleicht ist
es, damit man das nicht einer Partei zuschreibt, besser,
von einem starken Faden zu sprechen.
In dieser Kontinuität steht das neue Programm. Unterstützt wird es durch den Antrag mit dem Ziel eines Bildungsgipfels, um nachhaltig die Unterstützung von Weiterbildung zu verabreden. Wir treten damit in eine neue
Phase ein. Dabei werden auch Elemente, wie sie der
Kollege Schummer genannt hat, aufgenommen. Die Benachteiligtenförderung wird durch die Bündelung der
Elemente nochmals verstärkt. Verstärkt wird auch die
Frühförderung, die Beratung und die Vorbereitung von
Weiterbildung. Damit sind natürlich neue Rechtstatbestände verbunden. Denn Weiterbildung - das zeigte sich
jedes Mal - wurde immer dann am effektivsten wahrgenommen, wenn es eine gute finanzielle Ausstattung, gute
Qualität und klare Rechte gegeben hat, und dieses klare
Recht ist in der Großen Koalition vereinbart worden.
Hinzugekommen ist die Bildungsprämie. Dazu muss
ich eine sachliche Anmerkung an Ihre Adresse richten.
Wenn 80 Prozent der beruflichen Weiterbildungsmaßnahmen durch die Prämienförderung abgedeckt werden,
dann ist das wirklich eine substanzielle Leistung.
({0})
Man kann zwar über die übrigen 20 Prozent streiten - wir
haben dabei den roten Faden durchaus im Blick -, aber
wir sollten nicht die 80 Prozent der Maßnahmen verschweigen, die wir mit der Prämie fördern.
Wir fragen uns mit Sorge - man kann ruhig offenlegen, dass wir in der Großen Koalition gerne weitergegangen wären -, ob ein Rechtsanspruch auf die Prämie
vorgesehen ist oder ob sie sich nach dem jeweiligen Finanzvolumen richten soll, das über den Europäischen
Sozialfonds zur Verfügung gestellt wird.
Insofern werden wir diesen Schritt gerne mitgehen,
aber die Sozialdemokratie streitet dafür, dass ein Rechtsanspruch auf die Bildungsprämie mit in ein Erwachsenenbildungsförderungsgesetz aufgenommen wird, weil
das eine positive Wirkung hat.
({1})
Wir begrüßen auch, dass ein Aufstiegsstipendium
vorgesehen ist, mit dem Menschen mit beruflicher Qualifikation eine Hochschule besuchen können. Wir möchten aber einen Rechtsanspruch auf diese Förderung für
diejenigen schaffen, die sich auf den beschwerlichen
Weg machen, an ihre berufliche Qualifikation noch eine
akademische Ausbildung anzuschließen. Ich füge hinzu,
dass auch die sogenannte Zweite Chance zu einem
Rechtsanspruch werden muss. Aber auch in diesem
Punkt ist es nicht ganz richtig, Herr Meinhardt, der Großen Koalition bzw. dem Arbeitsministerium zu unterstellen, keine besonderen Fördersachverhalte zuzulassen.
Denn es gibt das Programm „WeGebAU“, das exzellent
ist in Bezug auf die Förderung von älteren Menschen in
Beschäftigung oder von Arbeitslosen in Qualifizierung.
({2})
Wir beobachten aber, dass eine gewisse Zeit und auch
Werbung notwendig sind, um das Programm in Gang zu
bringen.
Insofern bitte ich Sie, auf manche verbale Akrobatik
zu verzichten. Auch ein FDP-Rhetorikkurs wie der, mit
dem Sie sozusagen eine Makramee-Diffamierung versucht haben, würde nicht durch die Prämie gefördert
werden. Er war im Übrigen auch keine Prämie wert.
({3})
Wir müssen weiter an dem Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz, dem Meister-BAföG, arbeiten. Dabei beobachten wir, dass unser Koalitionspartner in diesem
Punkt durchaus zur Einsicht kommt. Ich darf für die Sozialdemokratie feststellen, dass wir dieses Gesetz als
eine sehr wichtige Komponente ausbauen wollen, damit
es nicht bei den 70 000 Menschen bleibt, die wir schon
durch die damalige rot-grüne Reform gewonnen haben,
sondern dass sich noch andere auf den Weg machen, hervorragende Fachwirte, Techniker und Meister zu werden.
Insofern lässt sich folgendes Resümee ziehen: Der
rote Faden besteht darin, dass alle Lust auf Weiterbildung haben sollen und indirekt in der Pflicht stehen, für
sich selbst und für die Allgemeinheit etwas aus sich zu
machen. Das können sie aber am besten dann tun, wenn
sie ein Recht auf ein angemessenes Auskommen, Unterstützung, Qualität, Gleichwertigkeit und gleiche Chancen im Recht auf Weiterbildung haben. Dafür steht die
SPD. Wir sind sicher - ganz im Sinne von Hans Katzer -,
dass wir das auch als gemeinsame Leistung schaffen: sozialdemokratisch begonnen, mit konservativer Unterstützung fortgesetzt zur breiten Förderung aller Menschen in Deutschland, die sich weiterbilden wollen.
Danke schön.
({4})
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege
Volker Schneider das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bei so viel schwungvoll vorgetragener Begeisterung
({0})
frage ich mich, ob wir über dasselbe Weiterbildungssystem diskutieren. Geht es hier um das Weiterbildungssystem, das nach Daten der OECD international eindeutig
hinterherhinkt? Reden wir über das Weiterbildungssystem, bei dem die soziale Herkunft in hohem Maße für
die Inanspruchnahme von Weiterbildungsmaßnahmen
und den Umfang, in dem die Teilnehmer von dieser Weiterbildung profitieren können, entscheidend ist? Reden
wir über das Weiterbildungssystem, das ausweislich des
Bildungsberichtes mit sinkenden Teilnahmequoten rechnen muss und bei dem der Durchschnittswert der aufgewendeten Zeit für die berufliche Weiterbildung deutlich
sinkt? Wir reden anscheinend über zwei unterschiedliche
Systeme.
Sie sind vor zweieinhalb Jahren als Große Koalition
mit folgendem Anspruch angetreten - ich zitiere aus
dem Koalitionsvertrag -:
Wir wollen mittelfristig die Weiterbildung zur vierten Säule des Bildungssystems machen und mit
bundeseinheitlichen Rahmenbedingungen eine
Weiterbildung mit System etablieren.
Was ist in der Zwischenzeit passiert? Es hat eine
ganze Reihe von Anträgen von der FDP, von den Grünen
und von der Linken gegeben. Nur von der Bundesregierung bzw. von der Großen Koalition haben wir außer
Ankündigungen bis jetzt wenig gesehen und gehört. Es
gab einmal einen Innovationskreis Weiterbildung, der
zwischenzeitlich auch einen Bericht vorgelegt hat. Der
ist eigentlich nicht so schlecht. Aber es steht nichts wesentlich Neues darin, jedenfalls nichts, was die Oppositionsfraktionen nicht vorher auch schon vorgelegt hätten.
Jetzt legen Sie endlich einen eigenen Antrag vor. Erstaunlicherweise ringen Sie sich im Feststellungsteil immerhin dazu durch, einige kritische Aspekte zur Situation in der Weiterbildung aufzugreifen und die
Notwendigkeit von weitreichenden Veränderungen zur
Stärkung der Teilnahme an Weiterbildung gerade für Ältere und Geringqualifizierte zu betonen. Aber auch darin
steht bis auf eine für mich bemerkenswerte Sache nichts
Neues. Das Bemerkenswerte ist für mich als rentenpolitischer Sprecher, dass Sie jetzt sogar die Weiterbildung
zum Instrument der Alterssicherung machen wollen. Ich
will nicht näher darauf eingehen. Aber es ist schon ein
bemerkenswerter Hinweis darauf, in welch bedauernswertem Zustand sich offensichtlich Ihre private Altersvorsorge befindet, dass Sie jetzt die Weiterbildung ergänzend in diesem Bereich heranziehen müssen.
({1})
Wenn Sie das schon machen, dann wäre es ganz gut,
Sie würden sich ein bisschen informieren. Es gibt nämlich ganz aktuell eine Untersuchung der Universität
Essen, der Freien Universität Berlin und der Business
School in Kiel. Diese besagt, man könne im Bereich der
Riesterrente keinen einzigen Euro an zusätzlicher Sparleistung mobilisieren, sondern die Leute schichteten nur
auf die geförderten Sparmaßnahmen um. Genau dasselbe wird Ihnen in der Weiterbildung auch passieren.
Genau aus diesem Grund hat das Weiterbildungssparen
bei weitem nicht den Effekt, den Sie sich davon versprechen.
({2})
In sechs Punkten erfahren wir, was die Große Koalition begrüßt. Die Große Koalition begrüßt zum Beispiel
die Vorlage der Empfehlung des Innovationskreises Weiterbildung - fantastisch. Ich könnte noch eine Reihe von
Punkten anführen, was man noch so alles begrüßen
kann. Dass die KMK die Initiative der Bundesministerin
zur Halbierung der Anzahl von Schulabgängern ohne
Schulabschluss aufgreift, ist auch sehr begrüßenswert.
Volker Schneider ({3})
Nett wäre es, wenn es mit ein paar Maßnahmen unterfüttert wäre. Davon steht nichts in diesem Antrag.
Eines aber muss ich doch lobend hervorheben - da
sind wir Linken mit Ihnen einer Meinung -: Sie schreiben unter Punkt 6, dass die Bundesagentur für Arbeit die
Effektivität ihrer Maßnahmen zur beruflichen Weiterbildung verbessert hat, indem die Vorgabe einer Verbleibsprognose von 70 Prozent als Voraussetzung für die Ausgabe von Bildungsgutscheinen für die BA seit 2005
nicht mehr besteht und dass vor allen Dingen bei der
Vergabepraxis der BA die Qualität wieder eine größere
Rolle spielt. Wir sind mit Ihnen einer Meinung, dass das
ein wichtiger und dringend notwendiger Schritt war.
({4})
Dann kommt allerdings ein Teil mit 20 Forderungen
an die Bundesregierung, die ich wirklich nur als einen
Kessel Buntes bezeichnen kann. In dem Potpourri steht,
man soll die Weiterbildung als tragenden Teil des Bildungssystems etablieren und prüfen. Entschuldigung,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, dafür haben Sie zweieinhalb Jahre Zeit gehabt. Jetzt
ist es wirklich höchste Zeit, dass Sie einmal etwas Ordentliches tun. Es geht nicht nur um Prüfen, um Projekte, Forschungsvorhaben, Initiativen und Aktionsprogramme. Das ist wahrhaftig zu wenig. Entweder Sie
wollen nicht oder Sie können nicht. Das ist auf jeden
Fall nicht das, was die Weiterbildung braucht, um
Deutschland nach vorne zu bringen.
Danke schön.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Kai Gehring für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch wir haben uns verdutzt gefragt, warum die Koalitionsfraktionen überhaupt solch einen Antrag zur Weiterbildung einbringen.
({0})
Es wäre doch für Union und SPD angenehmer gewesen,
zu den Anträgen der Opposition zu sprechen, als dieses
inhaltliche Armutszeugnis vorzulegen.
({1})
Sie haben in Ihrem Weichspülerantrag nichts Konkretes zu bieten, nicht einen Vorschlag, der dieses Jahr noch
umgesetzt werden könnte. Da kann ich nur an den Kollegen Schneider anschließen: Sie ermuntern, Sie wirken
darauf hin, Sie begrüßen, Sie prüfen. Das ist ein Dokument der Unverbindlichkeit. Wie lange wollen Sie noch
so vorgehen? Schließlich sind Sie an der Regierung. Machen Sie zur Abwechslung endlich einmal etwas!
Schließlich ist mehr als die Hälfte der Regierungszeit
vorbei.
({2})
Hätten Sie doch wenigstens aus Ihrem eigenen Koalitionsvertrag abgeschrieben! Aber nein, Sie gehen noch
weit dahinter zurück.
Erstes Beispiel. Im Koalitionsvertrag haben Union
und SPD auf Seite 43 noch bundeseinheitliche Rahmenbedingungen für die Weiterbildung vereinbart. Jetzt
heißt es in Ihrem Antrag, es solle erst einmal geprüft
werden, ob die Weiterbildung „mit bundeseinheitlichen
Rahmenbedingungen systematischer gefördert werden
kann.“
Zweites Beispiel. Sie verlangen im Koalitionsvertrag
auf Seite 44 eine „Insolvenzsicherung“ von Lernzeitkonten durch den Staat. Nun heißt es im Antrag lapidar, dass
„dem Insolvenzschutz dieser Lernzeitkonten Rechnung
getragen werden“ solle.
Wird Ihnen bei so vielen Rückwärtsrollen nicht langsam schwindelig? Ich finde, das Ganze ist eindeutig zu
wenig. Das gilt auch für die Bildungsprämie. Sie tun gerade so, als sei alles schon beschlossene Sache. Dabei
haben wir fast zwei Jahre auf einen Vorschlag gewartet;
die Prämie steht aber immer noch nicht im Gesetzblatt.
({3})
Doch anstatt der Regierung hier einmal Dampf zu machen und sie aufzufordern, endlich die letzten Details zu
klären, liest man in Ihrem Antrag nur, dass Sie den Prämienvorschlag begrüßen.
({4})
- Ja. - Trotz der Anhörung, die der Bildungsausschuss
zum Bericht der Kommission „Finanzierung Lebenslangen Lernens“ veranstaltet hat, ist Ihr Antrag leider kümmerlich.
Wenn ich mir die schönen Beschlüsse der SPD-Bundestagsfraktion zur Weiterbildung anschaue, finde ich es
schade, dass Sie davon so wenig in Koalitionsanträgen
durchsetzen können. Ich hoffe, dass Sie da künftig mehr
Erfolg haben.
({5})
Was Sie von der Großen Koalition in dieser Legislaturperiode in puncto Weiterbildung abliefern, gleicht einem Armutszeugnis. Sie können sich gar nicht um die
Umsetzung einer Weiterbildungsstrategie bemühen, weil
Sie schlichtweg keine haben.
({6})
Gestern hat der Innovationskreis Weiterbildung seine
Ergebnisse vorgelegt. Es sind durchaus ein paar gute
Vorschläge dabei, die jetzt umgesetzt werden müssen. Es
bringt nichts, nur etwas auf Papier zu schreiben. Die
Bundesregierung muss sich jetzt um die Umsetzung
kümmern; denn sonst werden ihre eigenen Ziele hinsichtlich der Teilnahmequoten eindeutig verfehlt. Sie
müssen das beim Bildungsgipfel im Herbst hinbekommen; sonst wird das nichts.
({7})
Das heißt auch, dass man in diesem Bereich Vereinbarungen mit der Kultusministerkonferenz treffen muss.
Das scheint mir - ich denke an die Sitzung des Bildungsausschusses - nötiger denn je zu sein. Laut KMK rangiert das Thema Weiterbildung unter „ferner liefen“.
Nehmen Sie sich ruhig noch einmal unseren Antrag
vom Januar 2007 vor. Er beinhaltet etliche gute Projekte,
die Sie direkt in Angriff nehmen könnten. Ich möchte
nur ein paar Beispiele nennen: Machen Sie einen Pilotversuch für Bildungsberatung an Verbraucherzentralen;
die Bereitschaft dazu ist, wie wir aus Gesprächen wissen, vorhanden. Erweitern Sie das Meister-BAföG. Sie
müssen ja nicht gleich, wie wir das fordern, ein Erwachsenen-BAföG durchsetzen, wenn die Union zuviel Angst
davor hat, könnten aber einen ersten Schritt in diese
Richtung unternehmen.
({8})
Sorgen Sie dafür, dass Geringqualifizierte besser von
der Bundesagentur für Arbeit gefördert werden! Reservieren Sie für diese Gruppe über eine Quote die Hälfte
der Angebote für berufliche Weiterbildung. Starten Sie
ein Pilotprojekt, insbesondere für die kleinen und mittleren Betriebe, um Weiterbildungsstrategien zu erarbeiten! Hier könnte der britische Small Firm Development
Account Vorbild sein. Nehmen Sie sich das doch einmal
vor!
Ich wollte nur ein paar Beispiele für konkrete grüne
Vorschläge für eine systematische Weiterbildungsstrategie nennen. Werden Sie endlich Ihren hehren Worten
vom lebenslangen Lernen gerecht! Legen Sie parlamentarische Initiativen vor, die diesen Namen wirklich verdient haben!
Vielen Dank.
({9})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun für die SPDFraktion der Kollege Dieter Grasedieck.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Meine Damen und Herren von der Opposition,
es wird nicht nur geprüft und ermuntert. Wir haben in
den unterschiedlichsten Bereichen konkrete Maßnahmen
ergriffen. Ich möchte nur einige Beispiele aus der letzten
Zeit aufführen. Wir haben zum Beispiel das E-LearningVerfahren mit 1,2 Milliarden unterstützt.
({0})
Das betraf sowohl die Förderung von Facharbeitern als
auch von Akademikern. Das ist sicher ein entscheidender Punkt gewesen.
({1})
Außerdem will ich die geplante Förderung der Weiterbildung von Erzieherinnen nennen. Auch das ist ein wichtiger Punkt, der noch in diesem Jahr umgesetzt werden
wird.
Die Weiterbildungsquote steigt.
({2})
Wir haben die Herausforderung in zwei Bereichen - dem
der Ausbildung und dem des lebenslangen Lernens - angenommen. Im Hinblick darauf haben wir Qualifizierungsmaßnahmen vorangetrieben. Weiterbildung ist
wichtig, weil es viele Patente, so viel neue Technik in
den Werkstätten, aber auch so viele Veränderungen in
den Büros gibt. Schauen Sie sich in einer Werkstatt doch
nur einmal eine CNC-Maschine von heute im Vergleich
zu einer von vor zehn Jahren an. Dann sehen Sie, dass
wir da Weiterbildung benötigen, und genau dafür setzt
die Bundesregierung sich ein.
({3})
Ich will Ihnen einmal ein paar Zahlen nennen. Das Arbeitsministerium hat Integrationsarbeit im Bereich der
Weiterbildung geleistet. Im Jahre 2005 wurden insgesamt 130 000 Bürgerinnen und Bürger weitergebildet.
Im Jahre 2007 waren es fast dreimal so viele;
({4})
insgesamt sind 340 000 Bürgerinnen und Bürger weitergebildet worden. Es sind Schulabschlüsse und Berufsabschlüsse nachgeholt worden. Das war eine wichtige Integrationsarbeit, die wir in den kommenden Jahren
weiterhin leisten wollen. Das haben wir innerhalb des
Arbeitsministeriums festgeschrieben.
Herr Kollege, darf ich Ihren Redefluss unterbrechen?
Es gibt eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen
Schneider. Gestatten Sie diese?
Bitte schön, Herr Schneider.
Danke, Herr Kollege Grasedieck - Sie haben eben die
Zahl der Teilnehmer an Qualifizierungsmaßnahmen der
Bundesagentur für Arbeit angesprochen. Aus meiner
Sicht sind Sie logischerweise auf gerade diesen von Ihnen gewählten Zeitraum eingegangen. Würden Sie zustimmen, dass die Teilnehmerzahlen von 2001 bis 2003
von 350 000 auf die von Ihnen angesprochenen
130 000 abgesunken sind und dass Sie mit den von Ihnen erwähnten - wie ich eben schon einmal betont habe durchaus erfreulichen Entwicklungen bis heute nicht
wieder das Niveau von 2001 erreicht haben, sodass man
Volker Schneider ({0})
das, was Sie eben gesagt haben, auch ein bisschen kritischer sehen kann?
({1})
Ich bin natürlich auch der Meinung, dass man bestimmte Maßnahmen kritisch hinterfragen muss.
({0})
Das ist unter anderem durch bestimmte Maßnahmen aus
unterschiedlichen Ländern ergänzt worden. In der damaligen Phase war das wichtig. Da haben wir uns auch um
andere Weiterbildungsmaßnahmen bemüht.
Aber es ist doch erfreulich, dass Sie erkennen, dass
der erwähnte Anstieg vorhanden ist, dass wir eine Verdreifachung der Teilnehmerzahlen haben und dass es
eine Verbesserung der Weiterbildung für Facharbeiter
gibt. Es ist wichtig, dass wir das in der nächsten Zeit
fortsetzen, und das wollen wir in der Großen Koalition
auch fortsetzen. Aber, Herr Schneider, wir sagen auch,
dass wir diesbezüglich nicht nur vonseiten des Staates
eingreifen müssen. Wir müssen auch der Industrie sagen,
dass sie bei der Förderung der Weiterbildungsmaßnahmen mithelfen muss. Es ist entscheidend, dass wir in den
nächsten Jahren eine Kombination der Anstrengungen
von Staat und Industrie haben.
({1})
Darum haben wir uns seit etlichen Jahren bemüht, und
auch dabei waren wir erfolgreich, Herr Schneider. Das
war eine wichtige Zielsetzung im Hinblick auf die Facharbeiter.
({2})
Das ist ein wichtiger Sektor gewesen. Wir meinen
aber auch, dass wir das lebenslange Lernen im Rahmen
der Akademikerausbildung fördern und unterstützen
müssen. Man muss sich nur einmal die Zahlen anschauen: Zum Beispiel werden auf der einen Seite
50 000 Ingenieure gesucht und auf der anderen Seite gibt
es 20 000 arbeitslose Ingenieure. Daran sehen Sie, dass
wir lebenslanges Lernen brauchen. Wir müssen das unterstützen. Das tun wir mit unserem Antrag. Es gibt dort
Bewegung, vor allem weil die Große Koalition erkannt
hat, dass 330 000 Akademiker bis 2013 in den Ruhestand entlassen werden, darunter 85 000 Ingenieure. Die
Hochschulen, die Universitäten und die Forschungsinstitute sind gefordert, hier eine Verbesserung zu erreichen.
Wir sprechen das in unserem Antrag an und werden
es demnächst konkretisieren. Nur durch Maßnahmen,
die dazu dienen, auf der einen Seite die Facharbeiter
weiterzubilden und auf der anderen Seite das lebenslange Lernen der Akademiker zu unterstützen, können
wir die Ideenschmiede Nummer eins in Europa bleiben.
Genau das werden wir versuchen mit unserem Antrag zu
erreichen.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Bei den Tagesordnungspunkten 12 a und 12 b wird
interfraktionell die Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 16/8380 und 16/7527 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die
Vorlage auf Drucksache 16/7527 zu Tagesordnungspunkt 12 b soll federführend beim Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung beraten
werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 12 c: Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
auf Drucksache 16/8352. Der Ausschuss empfiehlt unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/785
mit dem Titel „Zukunftsaufgabe Weiterbildung“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei
Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen
aller übrigen Fraktionen angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/
2702 mit dem Titel „Offensive Weiterbildung - Weiterbildung als 4. Säule des Bildungswesens ernst nehmen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP mit den
Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen.
Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8352 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4748 mit dem Titel „Lebenslanges Lernen fördern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beratung der Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu einem Antrag auf Genehmigung zur
Durchführung eines Strafverfahrens zu erweitern und
diese jetzt sofort als Zusatzpunkt 7 ohne Aussprache
aufzurufen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe,
das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe daher den Zusatzpunkt 7 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({0}) zu einem Antrag
auf
Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens
- Drucksache 16/8433 Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8433,
die Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens zu erteilen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Spieth, Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Aktuelle Finanznot der Krankenhäuser beenden
- Drucksache 16/8375 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner für die Fraktion Die Linke dem Kollegen Frank
Spieth das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es geht um akute Finanzprobleme der Krankenhäuser. Wir alle werden seit Wochen
und Monaten von den unterschiedlichsten Verbänden,
von Betriebs- und Personalräten und von den Gewerkschaften mit der Tatsache konfrontiert, dass in den Krankenhäusern infolge der finanziellen Situation erhebliche
Probleme entstanden sind. Ich muss sagen: Für einen
großen Teil dieser Probleme tragen auch wir durch die
Gesetzgebung der zurückliegenden Jahre die Verantwortung. Ich will mich dabei nicht ausschließen. Als Mitglied der Selbstverwaltung einer gesetzlichen Krankenkasse habe ich in den zurückliegenden Jahren sehr wohl
die Auffassung vertreten - ich finde, die konnte man
vertreten -, dass in den Krankhäusern Wirtschaftlichkeitsreserven gehoben werden und wir alles unternehmen müssen, um die Mittel im Interesse der Patienten,
aber auch im Interesse der Beitragszahler so effizient
wie möglich einzusetzen. Ich bin allerdings der Auffassung, dass wir im letzten Jahr mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz ein ganzes Stück über das Ziel hinausgeschossen sind. Deshalb ist der Antrag, den wir als
Linke stellen, die richtige Antwort auf die Probleme.
({0})
Wir müssen nach unserer Auffassung in der Tat die
Fesseln der Krankenhäuser lösen, wenn wir nicht wesentliche Teile des Gesundheitswesens, die stationäre Versorgung, insbesondere in den strukturschwachen Räumen gefährden wollen. Ich habe mir in den letzten Wochen,
ähnlich wie Sie das getan haben, die Verhältnisse in Krankenhäusern und Universitätskliniken sehr genau angeschaut. Ich bin beispielsweise in Erlangen gewesen und
habe dort die Situation mit den Beschäftigten, Vertretern
der Gewerkschaft Verdi und des Personalrats diskutiert.
Die Kolleginnen und Kollegen haben mir eindrucksvoll
geschildert, dass in dem dortigen Universitätsklinikum
insgesamt 4 500 Menschen beschäftigt sind, aber von diesen 4 500 Beschäftigten mittlerweile 2 000 in einem befristeten Beschäftigungsverhältnis sind. Ich frage mich,
wie so etwas möglich und ob das vertretbar ist.
({1})
Der Personalrat hat die Beschäftigten dieses Krankenhauses zu ihrer Situation befragt. 75 Prozent der Beschäftigten haben darauf hingewiesen, dass sie mittlerweile an gesundheitlichen Beschwerden leiden. 48 Prozent haben
Rückenbeschwerden, 31 Prozent der Beschäftigten leiden
an Schlafstörungen und 26 Prozent an schweren Erschöpfungszuständen. Vor einigen Wochen wurde bekannt, dass
in der Universitätsklinik Essen Schwestern und Pfleger
entlassen wurden, um dann von einer Zeitarbeitsfirma, die
von der Klinik gegründet wurde, wieder für denselben Arbeitsplatz eingestellt zu werden, wobei sie allerdings nur
60 Prozent des Tariflohnes erhielten. Auch das ist mittlerweile zu einem riesengroßen Problem in den Krankenhäusern geworden.
Die Folge ist, dass der Druck, der auf die Beschäftigten ausgeübt wird, auch bei den Patienten ankommt. Der
Pflegerat und andere, die sich mit der Patientensicherheit
beschäftigen, stellen fest, dass dieser Druck mehr und
mehr in eine rationalisierte Versorgung, quasi in eine
Fließbandversorgung in Krankenhausfabriken mündet.
Diese Art der Versorgung wird von den Pflegekräften
nicht gewollt, aber sie müssen die schnellstmögliche
Versorgung der Patienten gewährleisten, ungeachtet der
massiven Pflegeprobleme, die damit verbunden sind.
({2})
Patienten schildern dies als riesiges Problem und fühlen
sich außerordentlich unwohl. Der Druck, der dort auch
aufgrund der neuen Finanzierungsgrundsätze herrscht,
führt am Ende dazu, dass sich die Krankenhäuser gegenseitig massiven Konkurrenzdruck schaffen, der in der
letzten Konsequenz dann wiederum die Beschäftigten
trifft.
Die Beschäftigten im Gesundheitswesen fordern derzeit über Verdi eine Tariferhöhung von 8 Prozent, die mit
den jetzigen gesetzlichen Gegebenheiten nicht zu finanzieren ist. Deshalb sagen wir wie die bei Verdi organisierten Beschäftigten: Der Deckel muss weg, zumindest
bei der Personalkostenentwicklung.
({3})
Nach meiner Auffassung ist es an der Zeit, den Beschäftigten in diesem Jahr einen Schluck aus der Pulle zuzugestehen, nachdem sie jahrelang über Lohnverzicht und
Notlagentarifverträge ihren Beitrag zur Sanierung der
Krankenhäuser geleistet haben. Dies geht aber nur, wenn
wir hier im Haus dazu beitragen und die Deckelung, die
insbesondere im personellen Sektor vorgesehen ist, zurücknehmen.
Herr Kollege, ich muss Sie auf die Redezeit hinweisen.
Ich komme zum Ende. - Ich bitte Sie daher, unserem
Antrag zuzustimmen.
Danke.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans Georg
Faust für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn die Fraktion Die Linke und insbesondere mein Kollege Frank Spieth nicht so hektisch auf das im Februar erschienene Gutachten des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung reagiert und sich für die
Recherche und die Formulierung des Antrags, der heute
zur Debatte steht, mehr Zeit genommen hätten, wäre etwas Positives herausgekommen. Aber so stehen Dichtung
und Wahrheit eng nebeneinander. Dennoch lohnt es sich,
auf die Aussagen, Argumente und Lösungsansätze des
Antrags einzugehen.
In der Begründung wird ein Bild von einem Drama in
den Krankenhäusern mit wenig Zuwendung für Patienten, schnellen Entlassungen ohne gute nachstationäre
Versorgung, besorgniserregenden baulichen Zuständen
und steigenden Infektionsraten gezeichnet. Das, was
Herr Spieth eben dargelegt hat, ging in die gleiche Richtung.
Am letzten Dienstag und am letzten Donnerstag habe
ich wieder einmal in meinem alten Krankenhaus als Anästhesist im Operationssaal gearbeitet. Ich weiß, wie sich
die Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern verändert haben: leider nicht immer zum Besten. Es ist auch
wahr, dass manche Probleme und Defizite durch die aufopferungsvolle Arbeit der Schwestern und Pfleger, der
Ärztinnen und Ärzte sowie des sonstigen Personals kompensiert werden. Ich halte es aber für unverantwortlich,
ein Horrorszenario über die Zustände in deutschen Krankenhäusern zu beschwören. Es wäre aber ebenso unverantwortlich, zu verschweigen, dass es infolge von Konvergenzphase, Bettenabbau und steigenden Fallzahlen
zur Arbeitsverdichtung gekommen ist. Der bauliche Zustand vieler Krankenhäuser - interessanterweise jetzt besonders in den alten Bundesländern - lässt zu wünschen
übrig, und langsam zeichnet sich eine Entwicklung ab,
die wir in Bund und Ländern korrigieren müssen.
Zurück zum Antrag: Es wäre kein Antrag der Linken,
wenn er nicht finanzielle Forderungen enthielte, für die
keine Deckungsvorschläge gemacht werden. Die Aufhebung des Sanierungsbeitrags macht 0,3 Milliarden Euro
aus, wobei dem Antrag nicht zu entnehmen ist, ob auch
die Halbierung des Mindererlösausgleichs eingerechnet
wurde, die Gegenfinanzierung der Lohn- und Gehaltsabschlüsse 2008 je nach Tarifabschluss um die 1,7 Milliarden Euro und die Anhebung der aktuellen Grundlohnsummenrate 0,4 Milliarden Euro. Zusammen macht das
2,4 Milliarden Euro. Dies allein würde den durchschnittlichen Beitrag der gesetzlichen Krankenversicherung auf
über 15 Prozent anheben. Zu finanzieren wäre dies, ohne
dass damit eine einzige Leistungsverbesserung für Patienten verbunden wäre, von den Mitgliedern der gesetzlichen Krankenversicherung und den Arbeitgebern.
Eine weitere Forderung betrifft die Behebung des Investitionsstaus in den Krankenhäusern. Hierdurch kämen weitere 3 bis 5 Milliarden Euro an Beitrags- oder
Steuermitteln im Jahr hinzu, wenn man dies auf zehn
Jahre ausdehnte. Dies sind also die Größenordnungen,
über die wir bei Ihrem Antrag, meine Damen und Herren
von den Linken, reden müssen. Sie bestellen krankenhauspolitische Traumreisen und wissen genau, dass Sie
sie nicht bezahlen können.
({0})
Was die in der Begründung aufgeführten Mehrbelastungen für die Krankenhäuser betrifft, muss sehr genau hingeschaut werden. Die Zahlen der DKG allein geben ein
unscharfes Bild. Stichwort „Arbeitszeitgesetz“: § 4 Abs. 13
Krankenhausentgeltgesetz regelt, dass von 2003 bis
2009 ein jährlich um 100 Millionen Euro ansteigender
Betrag zur Umsetzung des Arbeitszeitgesetzes zur Verfügung steht. Dieser Betrag wurde bisher nicht voll abgerufen. Stichwort „Arzt im Praktikum“: § 4 Abs. 14
Krankenhausentgeltgesetz regelt die Gegenfinanzierung
durch Zuschläge und Zusatzentgelte. Stichwort „Mehrwertsteuererhöhung“: Das ist ein Kostenfaktor des Gesetzgebers - in Ordnung. Aber dann gebietet es die
Ehrlichkeit, die Reduzierung des Arbeitslosenversicherungsbeitrags in vergleichbaren Millionengrößen gegenzurechnen. Das wurde schlichtweg vergessen oder unterlassen.
({1})
Mit meinen Anmerkungen will ich die Situation der
Krankenhäuser wirklich nicht schönreden. Natürlich ist
es so, dass sich der finanzielle Druck erhöht hat. Die
Krankenhauslandschaften verändern sich. Wir müssen
aufpassen, dass in einzelnen Bereichen Deutschlands
keine dürren Krankenhaussteppen oder gar krankenhausentleerte Wüsten entstehen. Aber es ist eben nicht so,
wie es in der Begründung des Antrags heißt, dass die
Bundesregierung es dem Wettbewerb, also dem freien
Spiel der Kräfte überlässt, wer am Markt weiter existieren kann. Hier sind die Länder mit ihrer Krankenhausplanung mit Blick auf die Daseinsvorsorge gefragt. Es
müssen Kriterien für eine sich an den Bedürfnissen der
Patienten orientierende Planung erarbeitet werden, die
Erreichbarkeit, Zugang zu Leistungen und die Art des
Angebots umfassen.
Dann müssen natürlich, wie es in § 5 Abs. 2 Krankenhausentgeltgesetz geregelt ist, für die Vorhaltung von
Leistungen, die aufgrund des geringen Versorgungsbedarfs nicht kostendeckend finanzierbar und zur SicherDr. Hans Georg Faust
stellung der Versorgung der Bevölkerung notwendig
sind, Sicherstellungszuschläge vereinbart werden. Sicherstellungszuschläge können ein Weg sein, der Gefahr
von Unterversorgung zu begegnen.
Der kurzatmige Antrag wird zu einer Zeit gestellt, in
der wir uns Gedanken um den ordnungspolitischen Rahmen für die Krankenhäuser ab 2009 machen. Da werden
uns zwei Fragen wieder begegnen, die auch in diesem
Antrag eine Rolle spielen. Frage eins: Ist die Anbindung
an die Grundlohnsumme die richtige Größe zur Entwicklung der Krankenhausfinanzen?
({2})
Frage zwei: Wie ist die Investitionsfinanzierung in den
deutschen Krankenhäusern dauerhaft zu sichern?
Was die Anbindung an die Grundlohnsummenentwicklung betrifft, haben wir diese in einem vergleichbaren Bereich, dem Bereich der niedergelassenen Ärzte,
mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz gelöst. Jetzt
werden andere Parameter wie Morbiditätsveränderungen
oder die Entwicklung der für Arztpraxen relevanten Investitions- und Betriebskosten als Steigerungsfaktoren
berücksichtigt. Damit haben wir uns im Bereich der niedergelassenen Ärzte von der bisherigen Budgetierung
verabschiedet.
({3})
Gleiches erscheint mir aus Gründen eines fairen Wettbewerbs zwischen ambulant und stationär auch für den
Krankenhaussektor nötig. Auf die Frage, wie man mit
Tarifsteigerungen in diesem Sektor umgeht, die im
Krankenhaus eher als im niedergelassenen Bereich zulasten Dritter von den Tarifpartnern vereinbart werden
können, kann man intelligente Antworten finden.
Zur Beantwortung der Frage zwei brauchen wir die
Länder. Bei Zugrundelegung einer für den Krankenhausbereich angemessenen Investitionsquote von 9 Prozent
- sie ist ebenfalls nicht luxuriös - zeigt die tatsächliche
Investitionsquote von 5,3 Prozent auf, wie groß das Problem ist. Dafür sind jährlich 5 Milliarden Euro notwendig, den Abbau des Investitionsstaus nicht eingerechnet.
Das erfordert dann noch zusätzliche Mittel. Hier haben
die Antragsteller recht: Die Lösung des Problems ist nur
mit den Ländern gemeinsam zu finden. Eine reine Umstellung der dualen Finanzierung auf ein monistisches
System ohne zusätzliche Finanzmittel kann das Problem
nicht lösen.
Sie sehen also: Auch eine technisch schwierige Rückzahlung des - auch aus meiner Sicht unglücklichen - Sanierungsbeitrags an die einzelnen Krankenhäuser ist
nicht zielführend; denn die Krankenhäuser brauchen am
Ende der Konvergenzphase mittel- und langfristige Perspektiven, die sich auf Sicherung der Betriebskosten,
planbare Mittelzuflüsse bei den Investitionen und Standortsicherheit erstrecken.
({4})
Hier werden sich der Bund und die Länder an den Entscheidungen zum ordnungspolitischen Rahmen 2009
messen lassen müssen. Dauerhafte Verbesserungen sind
allemal besser als eine Notreparatur am laufenden Krankenhausmotor, auch wenn ein Stottern droht.
({5})
Ihre Sorge um die Krankenhäuser in allen Ehren, Herr
Spieth: Die Lösungsansätze scheitern kurzfristig am Geld.
Ihnen fehlt die langfristige Perspektive, und Ihre Argumente in der Begründung helfen da auch nicht weiter.
Wir werden also leider Ihren Antrag folgerichtig ablehnen müssen.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Daniel Bahr für
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Spieth hat davon gesprochen, dass er, bevor
er dem Deutschen Bundestag angehörte, die Auffassung
vertrat, man könne Wirtschaftlichkeitsreserven in den
Krankenhäusern noch heben und Einsparungen vornehmen, man sei aber mit dem GKV-WSG über das Ziel hinausgeschossen.
Das Problem ist, Herr Kollege Spieth, dass wir den
Krankenhäusern gerade keinen wettbewerblichen Rahmen bzw. keinen Ordnungsrahmen geben, in dem Wirtschaftlichkeitsreserven gehoben werden können. Wir bieten den Krankenhäusern nicht den notwendigen Rahmen,
damit sie im gegenseitigen Wettbewerb um bessere Versorgung, um innovative Konzepte und um Einsparungen
dafür sorgen können, dass diese Wirtschaftlichkeitsreserven gehoben werden. Wir geben den Krankenhäusern einen starren, reglementierten Rahmen von Budgets, Einheitspreisen und immer mehr Vorgaben. Wir ermöglichen
ihnen letztlich nicht, Kostensteigerungen an diejenigen
weiterzuleiten, die all das finanzieren. Deswegen können
wir in diesem Rahmen keine Wirtschaftlichkeitsreserven
heben.
Dazu hat die schwarz-rote Koalition meines Erachtens erheblich beitragen. Im Jahre 2007 - die Zahlen liegen jetzt vor - sind die Budgets statistisch um 0,56 Prozent gestiegen. Netto war das eine Steigerung um
0,28 Prozent. Gleichzeitig haben wir aber Kostensteigerungen um 4 Prozent, die dem gegenüberstehen. Man
braucht kein großer Mathematiker zu sein, um zu sehen,
dass diese Defizite, die die Krankenhäuser auszugleichen haben, insgesamt 1,3 Milliarden Euro betragen.
Rationalisierungsreserven bei den Krankenhäusern sind
nur insofern vorhanden, als Personal abgebaut werden
kann oder sonst beim Personal eingespart werden kann;
denn bei den Krankenhäusern sind 60 bis 70 Prozent der
Daniel Bahr ({0})
Kosten Personalkosten. Das heißt, die Rationalisierung,
die die Krankenhäuser im Moment durchführen, geht zulasten der Versorgung, zulasten der Patienten.
({1})
Zu erwähnen ist eine weitere Entscheidung, die die
schwarz-rote Koalition zu verantworten hat. Dabei geht
es um die Kostensteigerungen, die die Krankenhäuser zu
schultern haben. Bei den Krankenhäusern höre ich, dass
die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen vor Ort viel
Verständnis für ihre Sorgen haben, hier im Bundestag
aber keine Konsequenzen daraus ziehen.
({2})
Auch Herr Kollege Faust hat gesagt, er sehe die Probleme der Krankenhäuser durchaus.
Ich will noch einmal aufzählen, was die Krankenhäuser erlebt haben: Sie haben eine Mehrwertsteuererhöhung erlebt; 500 Millionen Euro Kostensteigerung. Sie
haben Tarifsteigerungen erlebt; 1,5 Milliarden Euro Kostensteigerung. Sie haben Energiekostensteigerungen erlebt. Sie haben ein Arbeitszeitgesetz umzusetzen - auch
das verlangt die Koalition ihnen ab -, was bedeutet, dass
sie mehr Personal einstellen müssen, weil Bereitschaftszeit auch Arbeitszeit wird; ebenfalls eine Kostensteigerung. Den Krankenhäusern werden unter dem Stichwort
„integrierte Versorgung“ 500 Millionen Euro von den
Rechnungen abgezogen. Die ersten Erkenntnisse zeigen,
dass die Krankenhäuser nicht die Möglichkeit haben,
dieses Geld, das ihnen von den Rechnungen abgezogen
wird, über Verträge zur integrierten Versorgung wieder
hereinzuholen.
({3})
Es war übrigens auch Ihre Entscheidung, den Krankenhäusern für die vergangenen Jahre die Möglichkeit zu
nehmen, wieder an das Geld zu kommen. Sie haben die
Naturalrabatte für die Krankenhäuser gestrichen.
({4})
Auch das ist eine Kostensteigerung.
Vor diesem Hintergrund kommt die schwarz-rote
Koalition nicht etwa auf den Gedanken, zu fragen: Wie
unterstützen wir die Krankenhäuser dabei, mit diesen
Kostensteigerungen umzugehen? Nein, sie streicht den
Krankenhäusern auch noch 0,5 Prozent von jeder Rechnung. Das macht Summa summarum 300 Millionen
Euro. Das ist der sogenannte Sanierungsbeitrag.
Ich war gespannt, Herr Kollege Faust, was Sie zum
Sanierungsbeitrag sagen würden. Es ist Ihnen bis heute
nicht gelungen, zu begründen, warum eigentlich ein solcher Sanierungsbeitrag von den Krankenhäusern getragen werden muss.
({5})
Mit dem Sanierungsbeitrag - 300 Millionen Euro - soll
doch nur eine schlecht gemachte Gesundheitsreform kaschiert werden. Sie brauchten Geld, um die Leistungsverbesserungen, die Sie versprochen haben, zu ermöglichen
und um das schlechte Finanztableau nach einer verkorksten Gesundheitsreform einigermaßen zu kaschieren.
({6})
Der Sanierungsbeitrag ist von Ihnen inhaltlich überhaupt
nicht begründet worden. Das wird auch noch Gerichte
beschäftigen. Zu Recht klagen einige und wollen vor
Gericht begründet sehen, warum dieser Sanierungsbeitrag erhoben wird.
({7})
Mein Hauptkritikpunkt ist: Der Sanierungsbeitrag ist
nicht begründet und trifft in der schwierigen Situation
der Krankenhäuser pauschal alle Krankenhäuser.
Ich bin dafür, dass wir über wettbewerbliche Modelle
Wirtschaftlichkeitsreserven heben. Wir wollen einen
wirklichen Wettbewerb der Krankenhäuser untereinander.
({8})
Es gibt gut geführte Krankenhäuser. Es gibt Krankenhäuser, die noch Potenzial haben, Einsparungen vorzunehmen. Aber das Wichtige dabei ist, dass wir Verlässlichkeit haben.
Herr Faust, Sie haben die Anpassung an die Entwicklung der Grundlohnsumme angesprochen. Dazu möchte
ich Ihnen sagen: Sie haben diese Anpassung immer so
vorgenommen, wie es gerade passte, und dabei die Bemessungsgrundlage so gewählt - mal je Mitglied, mal je
Versicherten -, dass am Ende dabei immer die geringere
Anpassung für die Krankenhäuser herauskam.
({9})
Ich sage: Man kann harte Einschnitte vornehmen.
Man kann ein wettbewerbliches System in Form von
DRGs einführen, das Krankenhäuser vor Herausforderungen stellt. Aber dabei ist ein ganz wichtiger Punkt zu
beachten: Es muss Verlässlichkeit gegeben sein, damit
sich die Krankenhäuser über einen Zeitraum von mehreren Jahren darauf einstellen können. Es geht nicht an,
dass jedes Jahr etwas Neues gemacht wird. Der Sanierungsbeitrag ist hierfür ein ganz schlechtes Beispiel;
denn Sie nehmen, um einen kurzfristigen Effekt zu erzielen, den Krankenhäusern pauschal Geld weg.
({10})
Das werden die Patienten und Versicherten bei der Versorgung vor Ort spüren.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Eike Hovermann für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Als Mitglied einer der Koalitionsfraktionen trage ich natürlich das eine oder andere gerne mit, was Herr
Dr. Faust in seinem Redebeitrag ausgeführt hat. Ich will
nur an einem Punkt Kritik äußern: Er sagte, man müsse
den vorliegenden Antrag leider ablehnen. Wir dagegen
sagen: Wir lehnen ihn in vollem Bewusstsein ab. Es gibt
eine ganze Reihe von Argumenten, über die noch gar
nicht diskutiert worden ist. Ich will auf das eine oder andere dieser Argumente eingehen, aber auch auf das, was
Herr Bahr gesagt hat.
({0})
Natürlich haben wir viel Verständnis für die Krankenhäuser vor Ort, die sich in einer Notsituation befinden.
Aber wir sollten uns der intellektuellen Redlichkeit halber sehr darum bemühen, nicht von „den Krankenhäusern“ zu sprechen. Vielmehr sollten wir uns der Frage
zuwenden, wie viele Krankenhäuser wir in der Bundesrepublik Deutschland eigentlich noch benötigen. Eine
Antwort auf diese Frage zu finden, ist sehr schmerzhaft.
Aber wir müssen sie gemeinsam angehen und uns auch
darüber verständigen, in welchen Entfernungsabständen
wir Krankenhäuser benötigen.
({1})
- Herr Dr. Schily, jetzt einmal ganz langsam. Es gibt ja
nicht „die Krankenhäuser“. - Auch Herr Bahr hat sich
nicht der Frage zugewandt, wie viele Betten leistungsfähige Krankenhäuser haben sollten. Es gibt also einen
ganzen Strauß an Überlegungen, mit dem wir uns in Zukunft intensiver und straffer beschäftigen müssen. Das
tun wir aber nicht, weil wir Angst davor haben, in den
jeweiligen Wahlkreisen die Schließung von „Bürgermeisterkrankenhäusern“ oder „Landratskrankenhäusern“
zu befördern, die, gemessen an den Qualitätskriterien,
die wir selbst aufgestellt haben, nicht leistungsfähig
sind.
Sie merken vielleicht, dass ich im Moment noch nicht
auf den Antrag der Linken eingehe; aber ich bin sehr gespannt, ob die FDP dem Antrag zustimmen wird. Wir
müssen einmal schauen, was daraus wird.
Herr Bahr, Sie haben dann von den Belastungen gesprochen, mit denen die Krankenhäuser zu kämpfen haben, und sind auf das Arbeitszeitgesetz eingegangen, das
noch umgesetzt werden muss. Sie haben die von
Montgomery bzw. seinem Nachfolger Henke und von
Verdi geforderten Tarife angesprochen. Richtig, auch das
bringt Belastungen mit sich. Sie haben weiterhin die
steigenden Energiepreise erwähnt.
Es verwundert mich allerdings, dass Sie ausgerechnet
die Belastung durch den Wegfall der Naturalrabatte ansprechen. Im Zusammenhang mit der integrierten Versorgung haben Sie selbst noch davon gesprochen, dass
die Spieße gleich lang sein müssten und die sektorale
Versorgung im Grunde verhindert hat, einen finanziellen
Ausgleich zu ermöglichen. In diesem Zusammenhang
sprachen Sie auch von der Abschaffung der Naturalrabatte. Ich will das nur in Erinnerung rufen, weil man
auch nicht immer das jeweilige - ({2})
- Frau Präsidentin, der verwirrt mich. Ich kann nicht
weitersprechen.
({3})
Ich möchte nur darauf hinweisen, dass man Argumente nicht je nach Sachlage austauschen darf. Umgekehrt haben Sie uns ja diesen Vorwurf gemacht, als Sie
davon sprachen, wir würden bei der Anbindung an die
Grundlohnsumme je nach Sachlage mal so oder so verfahren, gerade so, wie es uns gerade gefiele. Eine integrierte Versorgung, also gleich lange Spieße und gute
Medikamentierung durch den gesamten Behandlungspfad, ist nicht möglich, wenn Naturalrabatte gewährt
werden. Insofern ist Ihre Kritik daran ein schlechtes Argument.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Spieth?
Herr Spieth, lassen Sie mich erst auf Ihre vier Punkte
eingehen. Dann können Sie in cumulo Ihre Fragen stellen, und ich kann sie in cumulo beantworten oder auch
nicht. Dass nicht alles gut ist, Herr Spieth, das wissen
wir ja.
Ich darf noch einmal mit aller Zurückhaltung daran
erinnern, dass sich in den Töpfen der GKV insgesamt
145 Milliarden Euro befinden und wir jährlich 50 Milliarden Euro für die stationäre Versorgung ausgeben mit steigender Tendenz. In fast keinem Land der Welt
steht dafür so viel Geld zur Verfügung. Die Engländer,
Italiener und Amerikaner würden sich freuen, wenn sie
den Qualitätsstandard und Versorgungsstandard hätten,
den wir haben. Damit sagen wir nicht, dass dies nicht
verbessert werden kann. Aber Ihre vier Punkte - jetzt
kann ich mich fast nur dem anschließen, was Herr
Dr. Faust gesagt hat - versprechen Wohltaten, ein Wohlgefühl, und Sie werden auf Zustimmung stoßen. Aber
bezüglich eines Punktes haben Sie nichts geliefert: Wie
soll das Ganze finanziert werden? Ich habe eben gehört,
das sei ein langweiliges Argument.
({0})
Dann will ich eben weiterhin langweilig sein. In keinem
der vier Punkte haben Sie auch nur ansatzweise einen
nachhaltigen Finanzierungsvorschlag gemacht.
({1})
- Darauf hätte man in einigen Wendungen eingehen können. - Der Titel des Antrages ist irreführend. Denn so zu
tun, als könne man mit den dort aufgeführten vier Punkten die aktuelle Finanznot der Krankenhäuser beenden,
ist unseriös. Wenn Sie nicht die gesamten Versorgungssegmente in Ihre finanziellen Überlegungen mit einbeziehen, dann können isolierte Maßnahmen, wie Sie sie in
diesen vier Punkten vorschlagen, nur in die Irre führen.
({2})
- Ich bin doch noch gar nicht bei dem vierten Punkt.
Was bleibt Ihnen, Herr Spieth, übrig, wenn Sie so
weitermachen? Sie werden dann zu den Hausärzten gehen und sagen: Sie haben noch zu wenig in ihrem Topf.
Sie werden zu den Fachärzten gehen und sagen: Sie haben noch zu wenig in ihrem Topf. Das alles summiert
sich zu den Beitragsanhebungen, von denen Herr Faust
eben gesprochen hat.
Zur dualen Finanzierung ist bereits das Notwendige
gesagt worden. Ich darf aber daran erinnern, dass die
duale Finanzierung auch in den Ländern, in denen Sie
Regierungsverantwortung mitgetragen haben und noch
mittragen, nicht infrage gestellt wird. Diese Länder sagen vielmehr: Unsere Aufgabe der Sicherstellung - das
war ehemals Mecklenburg-Vorpommern, jetzt ist es Berlin - wollen wir wahrnehmen. Ohne uns gibt es keine Sicherstellung.
Das Problem, Herr Spieth, ist nur, dass kein Geld vorhanden ist. Daher rührt der Investitionsstau von 15 bis
20 Milliarden Euro in den Krankenhäusern, je nachdem,
wie man rechnet. Für all dies liefern Sie nicht einmal ansatzweise einen seriösen und nachhaltigen Finanzierungsvorschlag. Deshalb lehnen wir von der SPD, Herr
Dr. Faust, diesen Antrag nicht leider ab, sondern energisch und grundsätzlich.
Herzlichen Dank fürs Zuhören. Die restlichen Argumente hat Herr Dr. Faust schon genannt.
({3})
- Herr Spieth, ich bitte um Entschuldigung, dass ich
schon weglaufen wollte. Ich habe richtig Angst.
Sie gestatten die Zwischenfrage des Kollegen Spieth?
Aber gerne. Ich hoffe, ich kann die Frage beantworten.
Im Hinblick auf Anträge an die Bundesregierung gibt
es die Systematik, dass man formuliert, was man will,
und dass man dann beauftragt wird, einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen.
({0})
Dann wird auch konkretisiert, was das kostet und wie
man das finanziert. Das ist so. Das müssten Sie als alter
Hase eigentlich sehr genau wissen.
Ich möchte nun auf einen konkreten Punkt eingehen.
Die Bundesregierung hat bei der Festlegung der Steigerungsrate der Grundlohnsumme, also der Einkommensentwicklung der Krankenversicherten, einen Betrag von
0,64 Prozent festgelegt. Dies beruht auf der Grundlage
einer Schätzung im zweiten Quartal 2006 und ersten
Quartal 2007.
Herr Kollege, bitte konzentrieren Sie sich auf Ihre
Frage.
Ich komme sofort zu meiner Frage. Ohne Vorbemerkungen wird sie nicht verständlich. Entschuldigung!
Das heißt also, diese 0,64 Prozent sind der Betrag, um
den die Krankenhausbudgets steigen dürfen. Tatsächlich
hat der Schätzerkreis - da ist das Bundesgesundheitsministerium genauso beteiligt - festgestellt, dass die
Grundlohnsumme im Jahre 2008 um 1,4 Prozent steigen
wird. Das heißt, wir haben, wenn dieser Betrag angesetzt
würde, mehr als 600 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung. Ist das ein Deckungsvorschlag oder nicht?
({0})
Herr Spieth, ich möchte auf die Grundlohnsumme
und die Schere, die aufgrund der ursprünglich angenommenen 0,64 Prozent, der durch den Schätzerkreis ermittelten 1,4 Prozent und der realen Zuwächse bei den Ausgabevolumina in Höhe von 3 Prozent entstanden ist,
eingehen. Sie vertrauen auf den Schätzerkreis, der zukünftige Belastungen gar nicht eingerechnet hat und
sagt: Eine Steigerung der Krankenhausbudgets um
1,4 Prozent reicht. - Ich sage: Dies reicht hinten und
vorne nicht. Das ist ein halbgares Angebot.
({0})
Eigentlich hätten Sie, wie dies im ambulanten Sektor
der Fall ist, die Loslösung der Budgetsteigerungen von
der Grundlohnsummenentwicklung - Herr Dr. Faust ist
bereits darauf eingegangen - fordern müssen. Nur, dann
fehlt - alter Hase hin, alter Hase her - zumindest ansatzweise der Hinweis, wie Sie diesen Aufwuchs überhaupt
berechnen wollen. Das ist auch im Zusammenhang mit
den Haushaltsberatungen nicht gesagt worden.
({1})
Frau Präsidentin, was machen wir denn jetzt?
Wenn Sie dem Kollegen Spieth noch einmal die Gelegenheit zu einer Zwischenfrage geben möchten, dann
können Sie das gerne tun.
Ja, natürlich.
Ich bitte aber, zu berücksichtigen, dass wir den Dialog
nicht ins Unendliche führen können. - Bitte.
Herr Hovermann, der entscheidende Punkt ist, dass
hier eine Differenz besteht, da von der Bundesregierung
eine Grundlohnsummensteigerung von 0,64 Prozent angenommen wurde, sie laut Schätzerkreis im Jahr 2008
aber 1,4 Prozent betragen wird. Das sind reale Mehreinnahmen für die gesetzliche Krankenversicherung und
entspricht rund 600 Millionen Euro. Daneben ist in der
gesetzlichen Krankenversicherung ein Mitgliederzuwachs zu verzeichnen, was auch berücksichtigt werden
muss. Wenn ich das hinzurechne, ist der Betrag, den wir
fordern, schon fast zur Hälfte finanziert.
Ich bin der Auffassung, dass die Versichertengemeinschaft bereit wäre, eine qualifizierte, flächendeckende
Versorgung im Krankenhaussektor über eine Beitragserhöhung von 0,1 Prozent zu finanzieren. Darüber könnte
die restliche 1 Milliarde Euro finanziert werden, die wir
bräuchten. So könnte im Übrigen das Personal in den
Krankenhäusern zu humanen Bedingungen beschäftigt
und vernünftig bezahlt werden.
({0})
Die Antwort hat Herr Bahr gegeben: Das haben Sie
nicht beantragt.
Ich bleibe dabei: Der Aufwuchs, der sich durch die
Steigerung der Grundlohnsumme um 1,4 Prozent ergibt,
ist nicht einmal die Hälfte dessen, was benötigt wird. Sie
dürfen nicht nur die Veröffentlichungen des RWI lesen,
sondern sollten auch die Zahlen des Verbandes der Krankenhausdirektoren oder die Ausführungen der DKG zur
Kenntnis nehmen. Sie hätten fordern müssen - das hätte
in Ihrem Antrag stehen müssen -: Aufhebung der Anbindung an die Grundlohnsummenentwicklung wie im ambulanten Bereich. Das steht aber mit keinem Wort in diesem Antrag, und mit nur einem Halbsatz erklären Sie,
wie Sie das machen wollen.
Ich bleibe bei meiner aus Ihrer Sicht falschen Meinung: Wir lehnen den Antrag energisch ab.
({0})
Nächster Redner ist nun der Kollege Dr. Harald Terpe
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der auf
den letzten Drücker vorgelegte Antrag der Linken ist sicherlich nicht der Weisheit letzter Schluss. Das werden
inzwischen wohl auch die Kolleginnen und Kollegen der
Linken ahnen.
Die Situation ist aber in vielen Krankenhäusern in der
Tat schwierig; das haben meine Vorrednerinnen und Vorredner ja auch nicht bestritten. Das Krankenhaus droht
zum kranken Mann des Gesundheitswesens zu werden:
Pflegepersonal wird abgebaut. Der Betreuungsschlüssel
wird verringert. Medizinisches und nichtmedizinisches
Personal wird oftmals volkswirtschaftlich unsinnig ausgegliedert und anschließend deutlich schlechter bezahlt.
Die Ärzteschaft hat oftmals keine Zeit für ihre Patientinnen und Patienten, weil sie mit bürokratischen Dingen
belastet wird, oder verliert den Kontakt zu den Patienten
im Schichtdienstgewirr.
An dieser Situation hat die Koalition einen erheblichen Anteil. Unserer Meinung nach hat sie mit ihren
politischen Entscheidungen die Rahmenbedingungen für
die Krankenhäuser verschlechtert. Eine Reihe von Beispielen ist genannt worden: Mehrwertsteuererhöhung,
Sanierungsbeitrag, die Umsetzung der Arbeitszeitrichtlinien. Diese Liste ließe sich fortführen. Über den Gesundheitsfonds und dessen fatale Auswirkungen brauche
ich eigentlich gar nicht mehr zu reden.
({0})
Dazu hat der Kollege Lauterbach von der SPD in den
vergangenen Tagen alles Nötige gesagt.
({1})
Alles in allem ist das ein politisch organisiertes Finanzierungsdefizit in Milliardenhöhe.
Ich will an dieser Stelle aber auch auf die aktuellen
Vorschläge aus dem Bundesgesundheitsministerium zum
künftigen ordnungspolitischen Rahmen im Krankenhausbereich eingehen. Da findet man zum Beispiel die
bei einer großen Krankenkasse geborgte Idee, Rabattverträge zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen für
bestimmte, angeblich planbare Leistungen - das sind die
sogenannten Selektivleistungen - zu ermöglichen. Die
Folge dieser Regelung wäre keineswegs ein Wettbewerb
um die beste Qualität, sondern ein zerstörerischer Preiswettbewerb, der zulasten der Versorgungsqualität gehen
und den Erhalt der flächendeckenden Notversorgung infrage stellen würde. Es ist erstaunlich, dass mit Ulla
Schmidt ausgerechnet eine Sozialdemokratin die Tür für
eine weitere Kommerzialisierung des Gesundheitswesens öffnen möchte.
({2})
Zu den Problemen, die es bei der Investitionsfinanzierung gibt: Aus dem Gesundheitsministerium ist kein
Vorschlag zu vernehmen, wie die Kassen und die Länder
gleichermaßen in die Verantwortung genommen werden
können und so zumindest ein Hauch einer Realisierungschance gegeben wäre.
Noch ein paar Worte zu den Vorschlägen der Linksfraktion. Niemand kann die Rückkehr zur bedingungslosen Selbstkostendeckung ernsthaft wollen.
({3})
Wir wissen aber auch, dass die Anbindung der Budgetveränderungen an die Grundlohnrate weder die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung noch die Entwicklung der Kosten für Personal, Energie und Sachmittel im
Krankenhaus ausreichend berücksichtigt. Wir müssen
uns deshalb die Frage stellen, ob es nicht bessere Instrumente zur Kostensteuerung im Krankenhausbereich gibt,
die die gestiegenen Preise stärker berücksichtigen, das
Morbiditätsrisiko nicht allein den Krankenhäusern aufbürden und keine Anreize zur Mengenausweitung bieten. Ich würde mir wünschen, dass wir das in den anstehenden Beratungen betrachten und zu pragmatischen
Lösungen kommen.
Lassen Sie mich am Schluss noch etwas Grundsätzliches sagen. Man kann natürlich nicht bestreiten, dass es
in manchen Krankenhäusern Wirtschaftlichkeitsreserven
gibt. Privatisierungen sind aber kein Allheilmittel, insbesondere dann nicht, wenn sie aus der Finanznot öffentlicher Träger resultieren, zumal dann in der Bilanz immer
Geld zulasten der öffentlichen Hand verloren geht. Wir
dürfen nicht vergessen, dass Krankenhäuser keine Gesundheitsfabriken sind, dass es also nicht nur um Wirtschaftlichkeit, sondern vor allem um Qualität und Humanität der Behandlung geht.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Guten Abend!
({4})
Ich schließe nun die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/8375 an den Ausschuss für Gesundheit
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich
sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Verordnung ({0}) Nr. 1907/2006
({1})
- Drucksache 16/8307 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Es wurde vereinbart, dass die Reden der folgenden
Kolleginnen und Kollegen zu Protokoll gegeben werden:
Ingbert Liebing, Heinz Schmitt ({3}), Michael
Kauch, Eva Bulling-Schröter, Sylvia Kotting-Uhl und
Parlamentarische Staatssekretärin Astrid Klug.1)
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/8307 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Auch das ist der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia
Roth ({4}), Winfried Nachtwei, Marieluise
Beck ({5}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
20 Jahre nach Halabja - Unterstützung für die
Opfer der Giftgasangriffe
- Drucksache 16/8197 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({6})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Es ist vereinbart, dass die Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen zu Protokoll gegeben werden:
Holger Haibach, Uta Zapf, Harald Leibrecht,
Dr. Norman Paech und Claudia Roth ({7}).2)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/8197 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Auch das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 17:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Cornelia Hirsch, Ulla Jelpke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für eine erleichterte Anerkennung von im
Ausland erworbenen Schul-, Bildungs- und
Berufsabschlüssen
- Drucksache 16/7109 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({8})
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Es wurde vereinbart, dass die Reden der folgenden
Kolleginnen und Kollegen zu Protokoll gegeben werden:
Marcus Weinberg, Gesine Multhaupt, Patrick Meinhardt,
Cornelia Hirsch und Priska Hinz.3)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7109 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es sonstige Vor-
schläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
1) Anlage 3
2) Anlage 4
3) Anlage 5
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 18:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Marieluise Beck ({9}), Volker Beck ({10}),
Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zusammenarbeit der EU mit Russland stärken
- Drucksache 16/8420 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({11})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Hier haben folgende Kolleginnen und Kollegen ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Manfred Grund, Gert
Weisskirchen ({12}), Harald Leibrecht, Alexander
Ulrich und Marieluise Beck ({13}).1)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/8420 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe dazu
keine andere Meinung. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika
Lazar, Ute Koczy, Britta Haßelmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Verbot des Neonazi-Schulungszentrums und
Vereins „Collegium Humanum“ prüfen
- Drucksache 16/8214 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({14})
Rechtsausschuss
Hier haben folgende Kolleginnen und Kollegen ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Kristina Köhler ({15}), Wolfgang Spanier, Christian Ahrendt, Ulla Jelpke
und Monika Lazar.2)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/8214 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
1) Anlage 6
2) Anlage 7
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 21:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({16}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Hans-Christian
Ströbele, Volker Beck ({17}), Marieluise Beck
({18}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine wirksamere Kontrolle der Geheimdienste
- Drucksachen 16/843, 16/4720 Berichterstattung:
Abgeordnete Clemens Binninger
Michael Hartmann ({19})
Dr. Max Stadler
Wolfgang Wieland
Hier haben folgende Kolleginnen und Kollegen ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Dr. Norbert Röttgen,
Michael Hartmann ({20}), Dr. Max Stadler,
Wolfgang Nešković und Hans-Christian Ströbele.3)
Damit kommen wir zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen mit dem Titel „Für eine wirksamere Kontrolle der Geheimdienste“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4720,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/843 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und bei Enthaltung der
Fraktion der FDP und der Fraktion Die Linke angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit sind wir am
Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 7. März 2008, 9 Uhr,
ein.
Ich schließe die Sitzung und wünsche Ihnen noch einen angenehmen Abend.