Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir befinden uns heute in der glücklichen Lage, ohne
jede Vorankündigung in die Tagesordnung eintreten zu
können, die wir hoffentlich ähnlich zügig abwickeln.
Zunächst rufe ich die Tagesordnungspunkte 24 a bis
24 d sowie den Zusatzpunkt 8 auf:
24 a)Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Tourismuspolitischer Bericht der Bundesregierung - 16. Legislaturperiode - Drucksache 16/8000 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter
Friedrich ({2}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Annette Faße, Dr. Reinhold Hemker, Elvira
Drobinski-Weiß, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Zukunftstrends und Qualitätsanforderungen im internationalen Ferntourismus
- zu dem Antrag der Abgeordneten Undine
Kurth ({3}), Ute Koczy, Kai Gehring,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Tourismus zur Armutsbekämpfung und zur
sozialen und ökologischen Entwicklung in
den Partnerländern nutzen
- Drucksachen 16/4603, 16/4181, 16/8173 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Ernst Burgbacher
Bettina Herlitzius
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter
Friedrich ({5}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Annette Faße, Niels Annen, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Kreuzfahrttourismus und Fährtourismus in
Deutschland voranbringen
- Drucksachen 16/5957, 16/8172 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Ernst Burgbacher
Bettina Herlitzius
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Dr. Kirsten Tackmann, Katrin Kunert und
der Fraktion DIE LINKE
Landurlaub und Urlaub auf dem Bauernhof
als Chance für einen umweltfreundlichen Tourismus in Deutschland nutzen
- Drucksache 16/7614 Redetext
Ausschuss für Tourismus ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst
Burgbacher, Dr. Karl Addicks, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Potenziale der Tourismusbranche in der Entwicklungszusammenarbeit durch Aufgabenbündelung im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie ausschöpfen
- Drucksache 16/8176 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus
Zum Tourismuspolitischen Bericht der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als Erster erhält das Wort
der Kollege Ernst Hinsken. - Damit es dem Protokoll
nicht vorenthalten wird: Der Kollege Ernst Hinsken
spricht natürlich in seiner Eigenschaft als Tourismusbeauftragter der Bundesregierung, was ihm eine zusätzliche Aufmerksamkeit im Plenum sichert.
Bitte schön, Herr Kollege.
({1})
Ernst Hinsken, Beauftragter der Bundesregierung
für Tourismus:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Ich freue mich, dass heute
der gut 50 Seiten umfassende Tourismuspolitische Bericht der Bundesregierung vorgelegt werden kann.
({2})
Er wurde in den letzten Monaten unter Hochdruck erstellt, und er kann sich sehen lassen. Er enthält alles
- von A wie Auslandsmarketing bis Z wie Zukunftsmärkte -, was dem Tourismus zurzeit auf den Nägeln
brennt.
Wer beim Begriff Tourismus an den nächsten Urlaub,
an die vielleicht schönsten Wochen des Jahres, denkt,
liegt selbstverständlich immer richtig. Wer an eine weltweite und deutsche Boombranche mit einem 1-aWachstum denkt, wer an Deutschland als das Messeland
Nummer eins in der Welt denkt, wer an unseren enormen
Kulturreichtum denkt, der liegt goldrichtig, wenn er den
Tourismus dabei immer im Blick hat.
Die Fakten sind: 2006 erzielte Deutschland gut
351 Millionen Übernachtungen. Im vergangenen Jahr
konnte diese Zahl sogar auf über 360 Millionen Übernachtungen gesteigert werden. Dabei ist für uns besonders erfreulich, dass mehr und mehr ausländische Gäste
gekommen sind. Diese Branche meldet bei beiden Gästegruppen, ausländischen Touristen und Inlandstouristen, ein Plus bei den Übernachtungen von sage und
schreibe 3 Prozent. Das sind zum vierten Mal in Folge
Steigerungsraten. So einen enormen Zuwachs hat es
noch nie gegeben.
Ich meine, das ist vor allen Dingen darauf zurückzuführen, dass die Wirtschaft läuft, dass die Leute wieder
mehr Geld in der Tasche haben, dass sich die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung auch auf den Tourismussektor positiv auswirkt - stellvertretend sei unser
tüchtiger Wirtschaftsminister Michael Glos genannt und dass Geld in den Tourismus fließt. Der Tourismus ist
eine Wachstumsbranche der Zukunft.
({3})
2006 hat die Fußballweltmeisterschaft zweifellos
einen ganz großen Schub für uns alle gebracht.
({4})
Jetzt können wir von der Nachhaltigkeit leben. 1 Million
Ausländer wurde erwartet, über 2 Millionen sind gekommen. Summiert man die Zahl der Zuschauer, haben
30 Milliarden Menschen die verschiedensten Fernsehberichte weltweit gesehen. Sie haben Lust auf Deutschland
bekommen. Mehr und mehr lassen sich bei uns sehen.
Besonders herauszustellen ist, dass auch ohne Fußballweltmeisterschaft der Ball rollt; denn Deutschland ist
auch für Geschäftsreisen gefragt. Mit rund 260 überregionalen Messen sind wir weltweit Messestandort Nummer eins. Auch bei Tagungen und Kongressen in Europa
sind wir die Nummer eins. Geschäftsreisen bringen in
Deutschland einen jährlichen Umsatz von sage und
schreibe 63,3 Milliarden Euro. Geschäftsreisen schaffen
eine stabile Nachfrage nach Dienstleistungen. Der Geschäftsreisemarkt ist saisonunabhängig und weitgehend
krisenfest.
Wir müssen uns aber anstrengen, insbesondere gegenüber asiatischen Wettbewerbern, dass wir die angestrebte
Marktführerschaft nicht abgeben. Für die osteuropäischen Länder, insbesondere die in der EU, ist Deutschland in letzter Zeit ein zunehmend attraktiver Geschäftsund Messestandort geworden.
Der Tourismus zählt heute weltweit zu den größten
und am stärksten wachsenden Wirtschaftssektoren. Er
wird zu Recht als eine der Leitökonomien des
21. Jahrhunderts bezeichnet. Da gibt es natürlich Chancen, aber auch Herausforderungen, die bewältigt werden
müssen; denn die Welt ändert sich und mit ihr die Anforderungen an die Tourismuswirtschaft und die Tourismuspolitik.
Erstens. Der Tourismus boomt. Die UNWTO zählte
2007 fast 900 Millionen Touristenankünfte weltweit.
Dabei ist Europa Marktführer, und wir mischen kräftig
mit. Aber neue attraktive Reiseziele in Asien oder dem
mittleren Osten sind eine starke Konkurrenz. Auch die
EU-Beitrittsländer sind Wettbewerber auf dem ReiseBeauftragter der Bundesregierung Ernst Hinsken
markt. Deshalb besteht eine ganz große Herausforderung
für unser Land darin, im globalen Wettbewerb der Reiseziele vom wachsenden Kuchen des internationalen
Tourismus ein möglichst großes Stück zu erobern.
Zweitens. Es gilt daher, insbesondere bei Service und
Qualität in Deutschland weiter zuzulegen - gerade angesichts niedriger Personal- und Servicekosten in vielen
konkurrierenden Ländern. Deshalb hat die Bundesregierung ein Projekt in Auftrag gegeben, das die Qualitätssicherung vorantreiben soll.
Drittens. Wir müssen unsere Stärken, mit denen wir
reich gesegnet sind, noch intensiver herausstellen.
Deutschland hat weiterhin hervorragende Chancen im
Tourismus. Deutschland kann zu den touristischen Gewinnern der EU-Osterweiterung zählen. Deutschland
kann sehr wohl im globalen Wettbewerb mithalten.
Wir können mit Kultur- und Städtetourismus punkten. Sowohl in den alten wie in den neuen Ländern gibt
es eine ganze Reihe ausnehmend attraktiver Städte, die
im internationalen Wettbewerb mithalten können. Projekte wie die Konferenz zu den Städtepartnerschaften,
die wir im vergangenen Jahr durchgeführt haben, haben
sehr großen Zuspruch gefunden, was mich veranlasst, alles zu tun, dass wir in diesem Jahr einen Kongress zu internationalen Städtepartnerschaften veranstalten. Auf
diese Art und Weise können Märkte mit erschlossen
werden.
Deutschland hat kulturelle Traditionen, die ihresgleichen suchen. Wir haben zudem 32 Weltkulturerbestätten.
Damit können wir ein ausgeprägtes Kulturimage nachweisen.
Die Spuren des deutschen Papstes und die LutherDekade von 2008 bis 2017 locken in- und ausländische
Touristen an. Gerade in der heutigen Zeit sucht der Tourist vermehrt auch das Spirituelle. Ohne weissagen zu
wollen - aber ich spüre, was auf uns zukommt -, möchte
ich darauf verweisen, dass der Religionstourismus sich
weltweit größeren Zuspruchs erfreuen wird. Die Bundesrepublik muss dabei sein. Der Mensch versucht,
Ruhe zu finden, zu sich selbst zu finden. Das soll ihm
gerade im Urlaub in reichem Maße gelingen.
({5})
Es ist eine schöne Sache, über den Tourismus sprechen zu dürfen. Da möchte ich für die Freunde des eher
Handfesten sagen: Unser German Beer, unsere Weine
und unsere lokalen Spezialitäten sind weltberühmt. Es
gilt, mit diesen Pfunden zu wuchern und sie besonders
herauszustellen. Überhaupt muss gerade in Zeiten von
Globalisierung und tendenziell vereinheitlichten Urlaubsangeboten die Einzigartigkeit des Urlaubserlebnisses in
Deutschland herausgestellt werden.
Wie sagte einmal Goethe? Wer sein Vaterland nicht
kennt, hat keinen Maßstab für fremde Länder.
({6})
Also auch das eigene Land sollten wir uns verstärkt anschauen. Wir sollten seine vielfältigen Angebote annehmen und seine reichhaltigen Kulturschätze und seine
schönen Landschaften genießen. Nebenbei sollten wir
uns natürlich auch das Ausland ansehen, um Vergleiche
ziehen zu können.
({7})
Viertens. Deutschlands Stärken müssen aber auch
vermehrt an den Mann gebracht werden. „Tue Gutes und
rede darüber“, heißt ein altes Sprichwort. Die Bundesregierung hat gerade in den letzten Jahren vieles zur Unterstützung des Tourismus getan. Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland mit der Deutschen Zentrale für
Tourismus einen Marketingspezialisten an der Seite, der
die Bundesrepublik Deutschland weltweit vermarktet.
Ich möchte mich dafür bedanken, dass die Mittel für die
Deutsche Zentrale für Tourismus im letzten Haushalt um
500 000 Euro erhöht worden sind und in den kommenden Haushalten weiter erhöht werden sollen. Dafür haben sich alle Fraktionen eingesetzt. Ein herzliches Wort
des Dankes auch an die Haushälter.
({8})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einen
fünften Punkt noch ansprechen. Neben dem sich verschärfenden globalen Wettbewerb ist der Tourismus
auch von der Veränderung der Altersstruktur der Bevölkerung betroffen. Demografischer Wandel ist hier das
Schlagwort. Das touristische Marktsegment der älteren
Reisenden wird wachsen. Man spricht vom „Wachstum
50 plus x“. Wir stellen fest, dass die Altersgruppe der
49- bis 74-Jährigen in der Bundesrepublik Deutschland
momentan nur 29 Prozent ausmacht. Bezogen auf den
Tourismussektor aber macht diese Altersgruppe einen
Anteil von 48 Prozent aus. Deshalb müssen die Programme vermehrt auf diese Gruppe ausgerichtet werden.
Es gilt, diesen Markt zu erschließen. Ältere Reisende
möchten anders angesprochen werden und brauchen andere Angebote als junge Leute. Die Themen „Gesundheitstourismus“ und „barrierefreies Reisen“ werden an
Bedeutung gewinnen. Das Wirtschaftsministerium fördert beim barrierefreien Reisen Maßnahmen zur Qualitätssteigerung. Dies ist ein ganz wichtiger Baustein, um
die Hoffnungsträger der Tourismuswirtschaft, auch die
Senioren, zu gewinnen.
Transparenz und Qualität sind auch wichtige Handlungsfelder der Bundesregierung beim zunehmenden
Wettbewerb der Gesundheitssysteme in Europa. Wir
wollen die Gesundheits- und Wellnessurlauber schließlich in Deutschland haben.
Lassen Sie mich abschließend ein weiteres Thema ansprechen, eine Herausforderung, die es auf dem Tourismussektor zu bewältigen gilt, nämlich den Klimawandel. Der Klimawandel wird Touristenströme verlagern.
Für Deutschland wird davon ausgegangen, dass es insgesamt als Reiseland attraktiver wird. Aber wir brauchen
Strategien zur Anpassung an die veränderten Umweltbedingungen, und wir brauchen mehr nachhaltigen Tourismus. Deshalb unterstützen wir den Fahrrad- und Wandertourismus, um nur einige Handlungsfelder zu nennen.
Beauftragter der Bundesregierung Ernst Hinsken
Meine Damen und Herren, Deutschland ist ein wunderbares Land.
({9})
Deutschland misst dem Tourismus eine großartige Bedeutung bei. Der Tourismus ist eine ganz starke Wachstumsbranche. Wir müssen und werden die Chancen nutzen und vernünftige Rahmenbedingungen dafür
schaffen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es sollte nicht
vergessen werden: Die beste Außen- und Friedenspolitik, die es überhaupt gibt, ist die Tourismuspolitik. Hier
finden Menschen zusammen. Hier lernt man sich verstehen. Hier lernt man die Kultur des anderen kennen. Hier
lernt man sich zum Teil auch lieben und alles, was dazugehört.
({10})
Das ist mehr wert als Unterschriften noch so hoher
Staatsmänner und -frauen, die unter Verträge gesetzt
werden. In diesem Sinne meine ich, der Tourismus ist
auf einem guten Weg. Lasst uns hier weiter nach vorne
schreiten!
Herzlichen Dank.
({11})
Herr Kollege Hinsken, ich habe Ihren letzten Hinweis
so verstanden, dass das Amt des Außenministers in Zukunft zwar nicht durch das des Tourismusbeauftragten
ersetzt werden könnte,
({0})
hier aber eine ganz wesentliche Verbindung besteht.
Nun hat der Kollege Burgbacher für die FDP das
Wort.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Hinsken, wir kommen ja alle gut miteinander aus im Tourismusausschuss; zu lieben brauchen wir
uns aber nicht. Deshalb darf heute auch Kritik geübt
werden.
Ich möchte aber zunächst lobend sagen, dass ich es
gut finde, dass der Deutsche Bundestag heute in der
Kernzeit im Vorfeld der ITB eine Tourismusdebatte
führt. Das begrüße ich ausdrücklich.
({0})
Nun nennt der Tourismusbericht große Herausforderungen. Auch dem stimme ich zu. Globalisierung, Entwicklung neuer Märkte, Klimawandel, demografischer
Wandel, veränderte Kundenwünsche, das sind große Herausforderungen. Unser Tourismusbericht folgert daraus
die Notwendigkeit von mehr Offenheit und Flexibilität.
Da muss ich allerdings sagen: Die Tourismuswirtschaft
kommt dem in großen Teilen nach. Bei der Bundesregierung ist in puncto Offenheit und Flexibilität allerdings
leider zum größten Teil Fehlanzeige.
In den letzten Jahren sind große Anstrengungen unternommen worden, um den Service und die Freundlichkeit zu verbessern. Die Erfolge sind wirklich beeindruckend. Zur Ausbildung ist zu sagen, dass es allein im
Hotel- und Gaststättengewerbe über 100 000 Ausbildungsplätze gibt. Das ist eine tolle Leistung. Ich glaube,
es ist angemessen, all denen einmal zu danken, die hier
für Ausbildung sorgen.
({1})
Wir haben hervorragende Projekte in Deutschland in
der Tourismuswirtschaft, ob das im Hotel- und Gaststättengewerbe ist, im Bustourismus, bei den Freizeitparks,
bei Familienurlaub auf dem Lande oder im Gesundheitstourismus. Da brauchen wir uns hinter keinem Wettbewerber auf der Welt zu verstecken.
Besonders stark sind wir im Städtetourismus. Das betrifft nicht nur Heidelberg, das viele Amerikaner besuchen, sondern auch die großen Städte wie Berlin und andere. Nur sollten wir nicht übersehen, dass es im
ländlichen Bereich oft sehr viel schwieriger aussieht.
Das müssen wir sorgfältig hinterfragen.
Die Fußball-WM wurde angesprochen. Da waren
auch die Partner, mit denen wir es zu tun haben, Herr
Laeple, Herr Fischer und andere, sehr aktiv. Das war ein
einmaliger Glücksfall. Seit der Fußball-WM weiß die
ganze Welt: In Deutschland gibt es nur freundliche Menschen,
({2})
und es ist immer schönes Wetter. Das können Sie mit
keiner Marketingkampagne hinbekommen.
({3})
Meine Damen und Herren, die Federführung für den
Tourismus liegt beim BMWi. Dafür wurde das Amt des
Tourismusbeauftragten geschaffen. Ich sehe nur die
Schwierigkeit, dass der Tourismusbeauftragte keine großen Möglichkeiten hat. Schauen Sie in den Haushalt:
Das BMWi hat Tourismusmittel in Höhe von circa
27 Millionen Euro, die anderen Ministerien in Höhe von
circa 50 Millionen Euro. Deshalb ist unsere Forderung:
Wenn wir Tourismuspolitik schlagkräftiger machen wollen, dann müssen Kompetenzen im Wirtschaftsministerium gebündelt werden. Dazu legen wir heute einen
Antrag vor, der sich auf Tourismusprojekte in Entwicklungsländern bezieht. Ich bitte Sie herzlich, diesen Antrag wohlwollend zu prüfen und ihn im Ausschuss entsprechend zu behandeln.
({4})
Nun gibt es eine Menge Sachfragen. Bei manchem
ärgere ich mich; das will ich hier ganz offen sagen. Der
Tourismusbeauftragte und andere sagen bei allen mögliErnst Burgbacher
chen Veranstaltungen Dinge zu. Ich nenne ein Beispiel:
Es wird gesagt, man wolle sich für den reduzierten
Mehrwertsteuersatz einsetzen. Aber Sie haben nicht einmal in der eigenen Fraktion, geschweige denn beim Koalitionspartner dafür eine Mehrheit. Dasselbe gilt beim
Thema Jugendarbeitsschutzgesetz und beim Thema Bus.
Sie schreiben in dem Bericht, Sie würden sich für Ausnahmeregelungen einsetzen. Lieber Herr Hinsken, dann
stimmen Sie bitte unserem Antrag zu, den wir gestern
eingebracht haben! Nicht nur reden, sondern handeln!
Das ist das, was die Wirtschaft braucht.
({5})
Sie schaffen in den Ländern mit Ihrer Unterstützung
Nichtraucherschutzregelungen, die nichts mit Nichtraucherschutz zu tun haben, sondern ein Umerziehungsprogramm für die Bevölkerung sind und für die Branche
eine riesige Belastung darstellen.
({6})
Da müssen Sie sich endlich bewegen.
Herr Hinsken, Sie haben es - damit bin ich beim
Thema Gesundheit - bis heute nicht geschafft, dass die
Kurorte in Deutschland wenigstens ähnlich gute Wettbewerbsbedingungen im Vergleich mit Kurorten in den
Beitrittsländern vorfinden. Das ist doch das Mindeste,
was die Politik leisten muss.
({7})
Sie nehmen es hin, dass es im Jahr 2007 im Hotelund Gaststättengewerbe - man höre und staune - wieder
einen Umsatzrückgang von 3 Prozent gab. Im Beherbergungsgewerbe ist ein leichter Anstieg zu verzeichnen,
während es bei den Gaststätten und Restaurants einen
Rückgang um 4,9 Prozent gibt. Das hat etwas mit Rahmenbedingungen zu tun. Für diese sind Sie mitverantwortlich.
({8})
Der Tourismussektor ist weitgehend mittelständisch
geprägt. Wenn Sie diesem Sektor helfen wollen, dann
machen Sie endlich eine Mittelstandspolitik! Mit Ihrer
Umsatzsteuerreform und mit der beabsichtigten Erbschaftsteuerreform machen Sie exakt das Gegenteil von
dem, was Sie sagen. Sie fördern nicht den Mittelstand,
sondern Sie strangulieren ihn immer mehr.
({9})
Die FDP-Bundestagsfraktion legt heute einen Entschließungsantrag mit 31 Forderungen vor. Das ist konkrete Tourismuspolitik. Der Tourismusbeauftragte hat
Goethe zitiert. Ich will Wilhelm Busch zitieren: „Froh
schlägt das Herz im Reisekittel, vorausgesetzt man hat
die Mittel.“
({10})
Das ist das eigentliche Problem. Mit Ihrer Mehrwertsteuererhöhung und mit Ihrem Abkassieren tragen Sie
dazu bei, dass eben nicht genügend Geld zur Verfügung
steht und somit dem Tourismus Einnahmen entgehen.
Hören Sie deshalb auf, gegen den Mittelstand Politik zu
machen! Hören Sie endlich auf, die Branche mit immer
neuen Regelungen zu drangsalieren! Sorgen Sie dafür,
dass vom Brutto mehr Netto übrig bleibt! Dann können
wir tatsächlich weiterkommen.
Die FDP steht für eine Tourismuspolitik, die die Potenziale des Tourismus freilegt. Dadurch wird vielen
Menschen ein Arbeitsplatz ermöglicht. Die Menschen
können dafür schon am Sonntag die richtige Wahl treffen.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort erhält nun die Kollegin Annette Faße, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Deutschen sind Reiseweltmeister, und das soll
auch so bleiben. Der Tourismus boomt; der Muff ist
weg. So die Frankfurter Rundschau vom 9. Februar dieses Jahres.
Die Zahl der Übernachtungen in Deutschland kletterte auf ein Rekordhoch: 360 Millionen im letzten Jahr.
Die Welt war zu Gast bei Freunden, und sie soll auch
weiterhin Gast in Deutschland sein. Denn wir sind ein
weltoffenes Land. Unsere Produkte und unser Marketing
sind hervorragend. Aber ohne ausländische Gäste hätten
wir ein Minus zu verzeichnen. Auch das sollten wir an
dieser Stelle ganz klar und deutlich sagen.
Lieber Ernst Burgbacher, es wurde ausführlich dargestellt, wie stark die Tourismuswirtschaft von den Programmen zur Förderung des Mittelstandes profitiert. Ich
denke, es wäre es wert gewesen, sich mit dieser Passage
des Berichts ausführlich auseinanderzusetzen. Die Erfolge in der Tourismuspolitik bedeuten aber nicht, dass
wir aufhören zu denken und dass alles so bleiben soll.
Wir müssen diesen Bericht vielmehr als Ansporn zum
Handeln nehmen. Die Politik wie auch die Tourismuswirtschaft sind hier gefragt.
Wir wollen, dass sich alle Bürgerinnen und Bürger einen Urlaub leisten können: Jung und Alt, Ost und West,
Arm und Reich. Es geht darum, dafür Sorge zu tragen,
dass alle vom Wirtschaftsaufschwung profitieren können
und dass eine Vielzahl von unterschiedlichen Angeboten
zur Verfügung steht.
Der Tourismus ist ein starker Beschäftigungsmotor,
der entsprechende Möglichkeiten für den Arbeitsmarkt
bietet. Wir stehen für gute Arbeit.
({0})
Das heißt, wir wollen eine Arbeit, die gerecht entlohnt
wird, die volle Teilhabe an den sozialen Sicherungssystemen ermöglicht, die Anerkennung bietet und nicht
krank macht, die es ermöglicht, erworbene Qualifikationen zu nutzen und auszubauen, die demokratische Teil15418
habe garantiert und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie gewährleistet.
({1})
Dumpinglöhne und Schwarzarbeit können nicht verantwortet werden. Immer weniger Tarifverträge mit zum
Teil sehr niedrigen Löhnen gerade in der Tourismuswirtschaft müssen uns veranlassen, über die Einführung gesetzlicher Mindestlöhne auch in diesem Bereich ernsthaft miteinander zu sprechen.
({2})
2006 bestanden über 100 000 Ausbildungsverhältnisse in der Hotellerie und Gastronomie. Es gibt 13 Ausbildungsbereiche im Tourismussegment. Der neue Ausbildungsberuf Kaufmann/Kauffrau für Freizeit und
Tourismus hat sich seit seiner Einführung am 1. August
2005 sehr positiv entwickelt. Es besteht weiterer Bedarf
an qualifizierten Arbeitskräften. Aber am bestehenden
Jugendarbeitsschutzgesetz darf hierbei nicht gerüttelt
werden.
({3})
Wir wollen, dass auch die Fort- und Weiterbildung
weiterhin einen großen Stellenwert hat. Aufgabe der
Bundesregierung ist es, hier aktiv zu sein.
({4})
Jawohl, es gibt Komplexe, mit denen wir uns konsequent auseinanderzusetzen haben. Das ist zum Beispiel
der große Bereich des demografischen Wandels. Hier
wird es eine Zielgruppenveränderung geben. In dem Bericht, über den wir in dieser Woche im Ausschuss diskutiert haben, werden uns entsprechende Wege aufgezeigt.
Es wird eindeutig zu einer Schwerpunktverlagerung
kommen. Aber darauf sind noch nicht alle eingestellt.
Die Ausbildungsinhalte für den Servicebereich, die Bauplanung und die Entwicklung von Produkten müssen
sich ändern. Das gilt für Berufs-, für Fach- und Hochschulen auf Länderebene.
In diesem Zusammenhang ist die Barrierefreiheit ein
wichtiger Aspekt. Barrierefreiheit bedeutet zugleich
Komforttourismus für alle. Auf europäischer Ebene
spricht man von der Forderung nach einem Zugang für
alle. Es ist Zeit, dass Architekten, kommunale und regionale Entscheidungsträger sowie Tourismusverantwortliche dem demografischen Wandel in der Gesellschaft
Rechnung tragen und auf die damit verbundenen Anforderungen eingehen.
({5})
Eine barrierefreie Umgebung kommt allen, der Gesamtgesellschaft, zugute. Das muss für alle Verkehrsträger
gelten. Wir brauchen im Tourismusbereich eine Dienstleistungskette; ich nenne in diesem Zusammenhang den
Begriff „Tür-zu-Tür-Komfort“. Das ist ein Ziel, das wir
anstreben müssen.
({6})
Die Bereiche Gesundheitstourismus, Medical Wellness,
Kur- und Heilbäder, Kliniken und Sanatorien sind in den
Bereich der touristischen Nachfrage einzubeziehen.
Ein nächster großer Block, mit dem wir uns auseinanderzusetzen haben, ist der Klimawandel. Der Tourismus
ist Betroffener und Mitverursacher zugleich. Aber nur
eine gesunde Umwelt ist ein Garant für ein attraktives
Urlaubsziel. Soziale, ökonomische und ökologische
Nachhaltigkeit zu erreichen, ist der Auftrag. Die Tourismus- und Verkehrswirtschaft muss sich diesem Thema
ganz konsequent stellen. Es gilt, unsere Angebote im Bereich der Nationalparke und Naturparke zu erhalten und
auszubauen. Jawohl, wir wollen ein umweltfreundliches
Angebot machen. Dazu gehört auch der boomende Fahrradtourismus. Der ADFC ist ein guter Partner für uns.
Dazu gehört natürlich auch die Problematik der Mitnahme von Fahrrädern im ICE, was immer noch ein ungelöstes Problem ist.
({7})
Wir sollten uns aber auch besonders dem Landurlaub
und dem Urlaub auf dem Bauernhof widmen. Das wird
die Koalition in Form eines Antrages tun.
Der Vielfalt der Angebote und der Vielfalt der Themen, mit denen wir uns im Fachausschuss auseinandersetzen, möchte ich in Form einer Auflistung gerecht
werden: Camping- und Wohnmobiltourismus, Jugendherbergen, Familienerholungsstätten, Geschäftsreisen,
Freizeitparke, Märkte, Wassertourismus, Kreuzfahrten,
Bustourismus, Städtetourismus. Dies alles sind Bereiche, die nicht nur zum Bereich Wirtschaft gehören, sondern in verschiedenen Ministerien angesiedelt sind.
({8})
Zum Kreuzfahrttourismus haben wir einen Antrag
vorgelegt, den wir heute verabschieden werden.
Ein großer Bereich, der etwas mit naturnahen und
umweltfreundlichen Angeboten zu tun hat, ist der Wassertourismus in Deutschland. Wir haben uns mit diesem
Bereich ausführlich befasst. Ich freue mich unter anderem darüber, dass wir jetzt gemeinsam mit allen Verbänden eine freiwillige Sicherheitskampagne auf den Weg
bringen können.
Angebote sind das eine; die Qualität der Angebote
muss aber auch stimmen. Von daher müssen wir uns dafür starkmachen, dass die Qualität der Angebote in
Deutschland den Preisen, die wir in Deutschland erzielen müssen, gerecht wird. In diesem Zusammenhang
müssen wir uns kritisch mit den Siegeln, den Qualitätskennzeichen auseinandersetzen. Die SPD ist der Meinung, dass wir die Kennzeichnung mit Sternen stärken
sollten, anstatt mit einer Vielzahl unterschiedlicher Siegeln zu einer Unüberschaubarkeit beizutragen. „Sterne
stärken“ ist daher angesagt.
({9})
Ein gutes Programm muss auch ein gutes Marketing
haben. Wir haben dafür die Deutsche Zentrale für TouAnnette Faße
rismus, die im Ausland für Deutschland wirbt und arbeitet. Sie ist aber auch für das Inlandsmarketing zuständig.
Ein herzliches Dankeschön an die engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Einrichtung! Wir wissen,
dass die Zusammenarbeit im Ausland mit den GoetheInstituten und den Außenhandelskammern intensiviert
werden muss. Wir können zwar nicht in jedem Land tätig sein, ich freue mich aber darüber, dass es gelungen
ist, die Mittel für diese Arbeit in den Haushalten 2008
und folgende aufzustocken.
({10})
Der tourismuspolitische Bericht muss in Zukunft
mehr sein als ein Bericht über den aktuellen Stand. Er
muss die Perspektive einbeziehen.
({11})
Es ist richtig, dass wir ganz deutlich sagen: Der Tourismus ist ein Zukunftsfeld für die Welt und unser Land.
Ich sage ganz deutlich, dass die SPD ein Leitbild für den
Tourismus einfordert. Wir müssen uns mit den zukünftigen politischen Schwerpunkten auseinandersetzen und
versuchen, gemeinsam mit den Ländern, die in der Tourismuspolitik einen wichtigen Part spielen, Wege für den
Standort Deutschland aufzuzeigen.
({12})
Das geht nur gemeinsam mit den Ländern. Hier besteht Handlungsbedarf: Es geht um die Sommerferienregelung, die Rundfunk- und Fernsehgebühren und die
Nichtraucherschutzregelungen. Ich finde, der Nichtraucherschutz ist zu unübersichtlich geregelt. Ich hätte mir
eine bundesweite Lösung gewünscht.
({13})
Lassen Sie uns gemeinsam alles dafür tun, dass die
Deutschen reisen können, und zwar innerhalb Deutschlands - Deutschland ist das bevorzugte Reiseland der
Deutschen -, aber auch ins Ausland. Zu Reisen ins Ausland werden meine Kollegen später das Wort ergreifen.
Lassen Sie uns für einen attraktiven Tourismusstandort
Deutschland eintreten und dafür werben.
Danke schön.
({14})
Dr. Ilja Seifert ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren auf den Tribünen! Sehr
geehrter Herr Hinsken, wenn wir es erreichen würden,
dass Tourismuspolitik als die beste Außen- und Militärpolitik verstanden wird, hätten wir wirklich etwas erreicht. Dabei haben Sie uns, die Linke, auf Ihrer Seite.
({0})
Lasst uns Menschen zur Erholung ins Ausland schicken
und nicht Soldaten zum Schießen.
({1})
Der Tourismusbericht, der heute zur Diskussion steht,
stellt die Förderung der Steigerung der Leistungs- und
Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Tourismuswirtschaft in den Mittelpunkt. Ist das wirklich die richtige
Aufgabe? Wir, die Linken, meinen, im Mittelpunkt der
Tourismuspolitik muss stehen, dass die Menschen die
Möglichkeit haben, sich zu erholen, zu regenerieren und
sich zu bilden. Es ist etwas anderes, ob ich die Wirtschaft in den Mittelpunkt stelle oder die Menschen, die
sich innerhalb dieses Systems erholen wollen, sollen und
können müssen.
({2})
Aus diesem Grunde haben wir einen etwas anderen
Zugang zu dem Thema, wobei wir an manchen Stellen
durchaus zu ähnlichen Ergebnissen kommen wie Sie. Ich
möchte ausdrücklich sagen, dass der Bericht informativ
und umfangreich genug ist, sodass man daraus jede
Menge Schlussfolgerungen ziehen kann. Allerdings
finde ich es ziemlich bemerkenswert, dass der zuständige Minister in diesem Tourismuspolitischen Bericht
überhaupt nicht vorkommt.
({3})
Lieber Herr Glos, im Bericht steht - Sie können das
schon auf der ersten Seite lesen -, dass der Tourismusbeauftragte tolle Arbeit leistet. Das unterschreibe ich sofort. Aber entweder haben wir einen Minister, der dafür
zuständig ist, dann muss er auch irgendwann einmal etwas dafür tun, oder wir haben ein Beauftragtenwesen.
Die Behindertenbeauftragte dieser Regierung ersetzt
nicht den Arbeits- und Sozialminister, und die Drogenbeauftragte ersetzt auch nicht die Gesundheitsministerin.
Da müssen wir schon einmal Klartext reden. Vielleicht
sollten wir ein Tourismusministerium schaffen; das wäre
auch eine Variante.
Wenn wir Tourismuspolitik machen wollen, dann
müssen wir nicht die Trends, die ohnehin schon boomen,
stärken, sondern wir müssen dort, wo es Defizite gibt,
zum Beispiel bei den Menschen, die wenig Geld haben
- Annette Faße hat darauf hingewiesen -, dafür sorgen,
dass auch sie sich erholen können.
({4})
Das ist doch eine ganz andere Zielstellung. Ich finde, das
muss man einmal sagen dürfen.
Sie stellen „die reisefreudigen und finanziell gut situierten älteren Reisenden ab 50 Jahren“ als wichtigste
neue Zielgruppe in den Mittelpunkt Ihres Berichtes.
Muss ich das wirklich unterstützen? Das läuft doch
prima. Wir müssen vielmehr die alleinerziehende Hartz-IVEmpfängerin und ihre Kinder unterstützen, damit sie wenigstens einmal eine Woche Urlaub machen und sich erholen können.
({5})
Da müssen wir investieren und politisch aktiv sein und
nicht bei den Best-Agern, die reiseerfahren sind und wissen, wie sie sich durchsetzen können.
Insofern ist es durchaus erforderlich, ein paar kritische Anmerkungen zur DZT, zur Deutschen Zentrale
für Tourismus, zu machen. Wir alle wissen, dass die
Kolleginnen und Kollegen dort in vielerlei Hinsicht gute
Arbeit leisten. Aber ich nenne zwei Beispiele, wo wir
Kritik üben. In der aktuellen Broschüre der DZT werden
Städtereisen in Deutschland hervorgehoben. 50 Städte
werden genannt, darunter nur acht aus Ostdeutschland.
Wo besteht denn der Förderungsbedarf: im Osten oder
im Westen? Es fehlen Städte wie Görlitz, das fast Kulturhauptstadt Europas geworden wäre, Weimar, wo immerhin einmal der Geheimrat gelebt hat und das immer noch
Kulturstadt ist, oder Wismar und andere Städte. Das ist
alles andere als befriedigend.
({6})
Mich interessiert, wie viele Menschen in diesem
Lande touristische Angebote überhaupt wahrnehmen
können, wie viele nicht, warum nicht und wie wir das
ändern können. Wie viele Kinder hatten 2007 keine Reisemöglichkeiten, keine Urlaubserlebnisse, keine Ferienreisen, weil sich die Eltern das nicht leisten konnten oder
keinen Urlaubsanspruch hatten? Das sind problematische Fragen, die wir uns in erster Linie stellen müssen,
statt der Frage, wie man denen, die ohnehin Zeit und
Geld haben, noch bessere Fünf- oder Siebensternehotels
mit jeder Menge Service anbieten kann, so bequem das
auch sein mag.
Lassen Sie uns lieber die Städtepartnerschaften unterstützen und dort Jugendgruppen, Seniorengruppen, meinetwegen auch Gruppen von Menschen mit Behinderungen und deren Selbsthilfeorganisationen die Möglichkeit
geben, Austausch zu betreiben und sich kennenzulernen.
Ist es denn abwegig, zu verlangen, dass „Reisen für alle“
möglich sein muss, dass jedes Kind mindestens einmal
im Jahr für zwei Wochen im Rahmen einer Klassenfahrt
oder Ähnlichem unterwegs sein kann? Ist das eine unanständige Forderung? Ich glaube, nicht. Wir sind der Meinung, dass wir dort eingreifen und politisch aktiv werden
müssen.
Die Linke hat - das unterstützt meine Aussage, dass
wir einen anderen Zugang zur Aufgabe von Tourismuspolitik haben - fünf Leitbilder aufgestellt. Ein Leitbild
ist für uns das Recht jedes Menschen auf Reisen, selbstverständlich auch auf Fernreisen. Wir wollen ja, dass
sich die Menschen die Welt anschauen können, um ihre
Weltanschauung auszuprägen. Man muss dafür sorgen,
dass auch Menschen, die wenig Geld haben, das können.
Zum Thema „Barrierefreier Tourismus“. Jeder, der
hier bis jetzt geredet hat, hat darauf hingewiesen, dass
das ein wichtiger Punkt ist; ich vermute, das werden
auch noch weitere Redner sagen. Es geht aber nicht nur
darum, dass auch behinderte Menschen reisen können
- so steht es im Bericht -, sondern es geht auch und vor
allem darum, dass man, indem man Menschen mit Behinderungen die Chance bietet, überhaupt zu verreisen,
Bequemlichkeit für alle herbeiführt.
({7})
Dass es für alle besser wird, das ist das Ziel. Wir müssen das Nutzen-für-alle-Konzept verfolgen, sollten aber
keine Sonderregelungen für behinderte Menschen schaffen. Das ist eine ganz andere Herangehensweise, die wir,
wie ich finde, pflegen sollten. Wir brauchen keine Insellösungen. Schwierigkeiten treten ja auch schon früher
auf, nämlich dann, wenn es geht darum geht, ein barrierefreies Angebot überhaupt zu finden.
Insofern finde ich es nicht uninteressant, dass die
DZT 25 Millionen Euro bekommt, um den Tourismus in
Deutschland zu vermarkten; in ihren Broschüren wird
das Thema „Barrierefreiheit in Deutschland“ aber nicht
erwähnt. Die NatKo, die Nationale Koordinierungsstelle
Tourismus für Alle, die sich für den barrierefreien Tourismus einsetzt, erhält aber nur 120 000 Euro, allerdings
nicht etwa vom Tourismusministerium, sondern vom
Gesundheitsministerium. Was soll das denn? Wie verrückt sind wir eigentlich? Warum konzentrieren wir die
Gelder nicht dort, wo sie hingehören?
({8})
Insofern kann ich nur das unterstützen, was Herr
Burgbacher gesagt hat. Lasst uns ein starkes Tourismusministerium bzw. zumindest eine starke Abteilung innerhalb des Ministeriums schaffen, in der alle Vorgänge
vernünftig koordiniert werden.
Zum ländlichen Tourismus hat die Linke einen eigenen Antrag vorgelegt. Ich kann Ihnen nur empfehlen,
ihm zuzustimmen. Dann werden wir auf diesem Gebiet
wirklich vorankommen. Hier können wir etwas erreichen, sowohl für die Menschen, die in den ländlichen
Gebieten heimisch sind, als auch für die, die dort hinfahren. Lasst uns das gemeinsam angehen.
Zum Thema „Ökologisch verantwortbarer Tourismus“. Wir alle wissen, dass der Tourismus ein janusköpfiges Phänomen ist. Man fährt dorthin, wo es am Schönsten ist, und dort zerlatscht man alles und macht es kaputt.
({9})
- Das war jetzt etwas grob und holzschnittartig formuliert, Herr Kollege Burgbacher.
({10})
Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass der Tourismus Mitverursacher der Umweltverschmutzung und der
Zerstörung schöner Landschaften ist.
({11})
Wenn wir uns dieser Erkenntnis verweigern, weigern wir
uns, die Realität anzuerkennen.
Das gilt natürlich auch im Hinblick auf Fern- bzw.
Flugreisen. Selbstverständlich muss man in Rechnung
stellen, dass durch Flugreisen die Atmosphäre zerstört
wird. Daher sind Ausgleichsmaßnahmen erforderlich,
die tatsächlich wirkungsvoll sind, sodass die Umweltzerstörung, die wir anrichten, überkompensiert wird.
({12})
Diese Erkenntnis ist keine Meinung, die von linkssektiererischen Kreisen vertreten wird, sondern anerkannter
Stand der Wissenschaft. Das sollte man einmal sagen
dürfen.
Lassen Sie mich noch ein paar Worte über die Situation der im Tourismusgewerbe beschäftigten Menschen
sagen. Auch hier finden wir eine sehr schwierige Situation vor. Hunderttausende, wenn nicht gar Millionen
Menschen leben davon, andere zu bewirten, zu beherbergen, zu transportieren usw. Insofern gebe ich Herrn
Hinsken recht: Die Tourismuswirtschaft ist eine der Leitwirtschaften des 21. Jahrhunderts, weil sie sehr arbeitsintensiv ist.
Wenn in diesem Gewerbe aber kein existenzsichernder Lohn erzielt werden kann, wenn die Beschäftigten
nicht ganzjährig arbeiten können und wenn sie ununterbrochen mit einem Bein im Sozialamt stehen, dann kann
davon, dass die Menschen, die diese Arbeit leisten, zufrieden sind, keine Rede sein.
({13})
Auch die Menschen, die im Tourismusgewerbe tätig
sind, wollen einmal verreisen, nachdem sie sich anderen
gewidmet haben. Auch hier müssen wir investieren, und
zwar in Form eines Mindestlohnes, von dem sie gut leben können.
({14})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Tourismusausschuss - das weiß ich sehr zu schätzen - herrscht eine
ganz andere Atmosphäre als in vielen anderen Ausschüssen dieses Hauses. Lasst uns diese Atmosphäre bitte in
die anderen Ausschüsse verbreiten. Wir müssen die Unterschiede, die zwischen uns bestehen, nicht verkleistern. Was aber die Art und Weise, wie wir miteinander
umgehen, betrifft, können wir etwas voneinander lernen.
Ich kann allen Kolleginnen und Kollegen nur empfehlen:
Kommt einmal in den Tourismusausschuss und seht
euch an, dass man auch fair miteinander streiten kann.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({15})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Bettina Herlitzius,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Minister! Liebe
Kolleginnen und Kollegen!
Der Klimawandel wird die Natur nachteilig verändern. In Bergregionen werden die Besucherzahlen
aufgrund von Schneemangel … zurückgehen.
…
Ansteigende Meeresspiegel bedrohen u. a. die Malediven, Venedig und Manhattan und könnten im
schlimmsten Fall diese im Wasser versinken lassen.
…
Der Klimawandel wird … das Reiseverhalten langfristig weltweit spürbar verändern.
Auf der anderen Seite trägt der Tourismus selbst zum
Klimawandel bei: 5 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen gehen auf das Konto des Tourismus. - Das sind
keine Zitate aus einer Ökozeitung, das steht im Tourismuspolitischen Bericht der Bundesregierung.
Wunderbar, die Regierung hat das Problem erkannt,
verstanden und handelt, könnte man meinen. Dem ist
aber nicht so. Was Sie hier vorlegen, ist eine einfache
Materialsammlung mit reichlich Eigenlob.
({0})
Ihre einseitige Begeisterung über die Wachstumsrate
von 4 Prozent der Tourismusbranche erschreckt mich,
beweist sie doch Ihr mangelndes Problembewusstsein.
Offenbar haben Sie nicht verstanden, was die Stunde geschlagen hat. Wachstum als solcher ist kein Erfolg.
({1})
Wachstum kann stattfinden, ohne dass der Wohlstand
steigt. Wachstum kann stattfinden, ohne dass es den
Menschen besser geht. Wir müssen über die Richtung
sprechen, in die der Tourismus wächst.
({2})
Sonst kann es passieren, dass wir, obwohl wir immer
weiter reisen, immer weniger erleben, weil wir die Welt
immer mehr verbrauchen, die Menschen, zu denen wir
fahren, immer mehr verarmen und die Umwelt immer
monotoner und eintöniger wird. Die Vielfalt und Schönheit der Reiseziele geht langfristig verloren.
Über diese klimapolitische Richtungsentscheidung
steht, von einzelnen Aufzählungen abgesehen, leider
nichts im Tourismuspolitischen Bericht, Herr Minister.
Niemand braucht ein dickes Papier, in dem alle touristischen Themen irgendwie angesprochen werden. Die
Frage ist: Wie will die Bundesregierung erreichen, dass
die Tourismuswirtschaft in eine klimafreundliche Richtung umsteuert?
({3})
Viele Bürgerinnen und Bürger und Teile der Tourismusbranche sind längst weiter; sie wollen nicht, dass
durch ihren Urlaub die Umwelt geschädigt wird. Aber
wenn, wie das bei einem Projekt in Mecklenburg-Vorpommern der Fall ist, den Reisenden vorgegaukelt wird,
dass sie durch den Kauf eines Baumes im Tourismuswald einen CO2-neutralen Urlaub machen können, dann
ist das reine Geschäftemacherei. Wir brauchen dringend
einheitliche Standards für Nachhaltigkeitskriterien.
({4})
Es ist Ihre Aufgabe, Herr Minister, dafür zu sorgen,
dass die Bürger die notwendigen Informationen bekommen, damit sie auf dem Tourismusmarkt Wahlfreiheit
haben. Eigentlich ist es ganz einfach: Legen Sie doch
einfach fest, dass der Preis einer Pauschalreise die CO2Belastungen enthalten muss!
({5})
Tourismus kann Wohlstand schaffen. 2020 wird jeder
zehnte Arbeitsplatz in den ostdeutschen Ländern vom
Tourismus abhängen. Das ist ein wichtiger Baustein für
den Aufbau Ost. Damit daraus aber dauerhafter Wohlstand wird, muss die touristische Infrastruktur umweltund vor allem klimaschonend entwickelt werden. Der
Deutschlandtourismus wächst; das ist eine große
Chance. Wir sollten sehr viel mehr dafür tun und unsere
Naturschätze - vom Elbstromtal bis zum Wattenmeer entschiedener schützen.
({6})
In Hamburg haben die Bürgerinnen und Bürger jetzt die
Chance, dafür zu stimmen.
Der Anteil der Flugreisen nimmt zu: 38 Prozent der
Deutschen fliegen mittlerweile in den Urlaub. Das ist ein
wachsender Reisemarkt; aber das ist auch ein wachsendes Problem für unser Klima. Der CO2-Ausstoß durch
Flugzeuge hat sich seit 1990 verdoppelt. Die Flugzeugemissionen finden in großer Höhe statt und haben dadurch enorme negative Auswirkungen auf das Klima.
Ich finde, angesichts dieser Zahlen ist es trostlos, wenn
die Regierung im Tourismuspolitischen Bericht schreibt,
dass angestrebt wird, die CO2-Emissionen pro Flug um
bis zu 10 Prozent zu senken. Das ist ein Witz!
({7})
Der Flugverkehr wächst jährlich um 5 Prozent. Damit ist
der Effekt nach zwei Jahren schon bei null.
Wir wollen niemandem das Fliegen verbieten. Niemand, der hier im Saal sitzt, will das. Aber Fliegen ist
ein unerhörter Luxus, den sich nur ein kleiner Teil der
Menschheit leisten kann. Wenn wir unsere politische
Verantwortung ernst nehmen, müssen wir die Bürgerinnen und Bürger an dieser Stelle bitten, Maß zu halten.
Das gilt aber auch für uns.
Die Bundesregierung sieht das Problem offenbar ganz
anders. Sie verschweigt das Problem und spricht beim
Flugverkehr von einer positiven Entwicklung. Ich sehe
darin einen Schnellzug in die Klimakatastrophe. Aber
hier versteckt sich auch eine enorme Wettbewerbsverzerrung zulasten der inländischen Anbieter. Kollegen
von der FDP, hören Sie gut zu.
({8})
Die Bundesregierung subventioniert das Fliegen durch
unversteuertes Benzin. Sie verzichtet freiwillig darauf,
ihre rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, um diesen Missstand zu beseitigen. Das ist ein Skandal.
({9})
Denn diese Subventionen richten sich gegen solche Urlaubsgebiete, die klimafreundlich erreichbar sind. Sie
schaden damit unserer mittelständischen Tourismuswirtschaft.
({10})
Herr Minister Glos, es ist allerhöchste Zeit für einen fairen Wettbewerb in der Tourismusbranche. Führen Sie
endlich die Kerosinsteuer und die Ticket-Tax ein.
({11})
- Hier gibt es Möglichkeiten. Informieren Sie sich einmal.
({12})
Auch beim Thema Tourismus kann ich es nicht vermeiden, über das Lieblingsprojekt unseres Verkehrsministers, unsere Bahn, zu sprechen. Leider benutzen
nur 6 Prozent der Urlaubsreisenden die Bahn. Was
macht die Bahn? Anstatt attraktivere und zuverlässigere
Angebote für Urlaubsreisende zu entwickeln, streicht sie
weiter Nachtzugverbindungen und verhindert die Fahrradmitnahme im ICE. So wird das Reiseangebot nie attraktiv.
({13})
Leider verzichtet die Bahn noch immer darauf, Ökostrom zu beziehen. Wieder eine verpasste Chance, ihre
Umweltreisebilanz nachhaltig zu verbessern!
({14})
Liebe Vertreter der Regierung von den großen Parteien,
auch Sie haben Möglichkeiten. Noch gehört die Firma
uns. Warum sorgen Sie nicht konstruktiv dafür, dass die
Bahn nach vorne kommt? Stattdessen laufen Sie vor Ihrer Eigentümerverantwortung davon.
({15})
Der Kreuzfahrttourismus in Deutschland ist in den
letzten zehn Jahren um das Dreifache gewachsen. Seine
Umweltbilanz ist katastrophal. Wer denkt denn schon an
Umweltverschmutzung, wenn weiße Kreuzer über blaue
Weltmeere schippern? Abfälle, Abgase und Abwässer
passen nicht in diese heile Welt, vom Stromverbrauch
ganz zu schweigen. Mit dem Bedarf eines Kreuzfahrtschiffes kann eine Stadt mit 200 000 Einwohnern versorgt werden. Geht das wirklich nicht anders? Wo ist das
regenerative, klimaschonende, solarbetriebene Kreuzfahrtschiff aus einer deutschen Werft? Was hat die Bundesregierung bisher dafür unternommen? Nichts!
({16})
Lassen Sie mich zum Ende kurz etwas zu unserem eigenen Antrag sagen. Tourismuspolitik macht nicht an
unseren Grenzen halt. Ferntourismus, Tourismus in Entwicklungsländern, ist ein ökologisches Problem. Aber
Ferntourismus dient auch der Völkerverständigung, der
Entwicklung, der Demokratisierung und der Armutsbekämpfung. Es ist aber unsere Aufgabe, dafür zu sorgen,
dass ein Gleichgewicht zwischen klimaschonenden Reiseformen und armutsmindernden Auswirkungen des
Tourismus entsteht.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wie sieht
Tourismuspolitik im Zeitalter des Klimawandels aus?
Auf diese Frage müssen wir alle hier in diesem Haus
eine Antwort geben. Ich wünsche mir, dass dieses
Thema endlich an erster Stelle steht.
Danke schön.
({17})
Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Klimke,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Herlitzius, wir
haben heute schon mehrfach gehört, dass Tourismus primär etwas mit Freude, Freundschaft, Frieden, Freiheit,
Völkerverständigung, gegenseitigem Vertrauen und
wechselseitigem Kennenlernen, aber nichts mit einseitiger ökologischer Ideologie zu tun hat, wie Sie sie hier
gerade vorgetragen haben.
({0})
Tourismus ist ein Wirtschaftsfaktor bei uns und draußen in der Welt. Diesem wichtigen Thema geht der Bericht der Bundesregierung nach. Ich danke Ernst
Hinsken und seinen Mitarbeitern ausdrücklich dafür,
dass sie uns diese wichtigen Sachverhalte im Bereich des
Tourismus so detailliert dargestellt haben. Herzlichen
Dank!
({1})
Tourismus als Wirtschaftsfaktor ist auch Kernthema
unserer beiden Anträge zum Ferntourismus und zum
Kreuzfahrttourismus, die zusammen mit dem Bericht der
Bundesregierung heute behandelt werden.
Erstens. Mit dem Antrag zum Ferntourismus wollen
wir nicht nur die Aufklärung der Reisenden zu ökologischen Fragestellungen voranbringen, sondern wir wollen
sie primär mit anderen Kulturen konfrontieren und dazu
ermuntern, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Wir
wollen Maßnahmen gegen den Kindersextourismus, und
wir wollen mehr Land-und-Leute-Programme der Reiseveranstalter vor Ort, damit die Reisenden die Länder, die
sie besuchen, besser kennenlernen. Ganz wichtig ist uns,
dass der Tourismus zu einem Schwerpunkt der Entwicklungszusammenarbeit wird, wenn die Partnerländer es
wünschen.
({2})
Dies war bisher nicht möglich, weil die Entwicklungszusammenarbeit touristische Projekte nicht gefördert hat.
Wir sehen aber gerade in der Entwicklungszusammenarbeit die große Chance, Tourismus ohne negative Aspekte zu entwickeln: ökologisch nachhaltig, unter Beachtung sozialer Mindeststandards und, was ganz
wichtig ist, mit Erhaltung der Identität der Entwicklungsländer. Wir wollen keine Globalisierung im Sinne
der Schaffung von Mainstreamsituationen und keine
McDonaldisierung in den Entwicklungsländern, wie es
manchmal leider der Fall ist. Die Nachhaltigkeit ist uns
hier besonders wichtig, und wir sehen in der Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern große Chancen für
die deutsche Wirtschaft.
Zweitens. Der Kreuzfahrttourismus, so heißt es in
dem Bericht, ist ein besonders dynamisch wachsender
Bereich der deutschen Wirtschaft. Die Zahlen belegen
dies eindeutig: Der Umsatz bei Hochseekreuzfahrten ist
in den letzten zehn Jahren um 173 Prozent gestiegen, bei
Flusskreuzfahrten um 252 Prozent. Der Gesamtumsatz
bei Kreuzfahrten von Deutschen betrug im Jahr 2006
1,7 Milliarden Euro, und in diesem Jahr gab es erstmals
mehr als 1 Million deutsche Passagiere. Dies geht mit
der Indienststellung neuer Schiffe gerade auf den europäischen Routen einher. Neue Schiffe bedeuten Arbeitsplätze auch bei uns: bei der Meyer-Werft in Papenburg,
Nordniedersachsen, bei Reisebüros und bei den Terminals. Es ist uns wichtig, dass die Werften und ihre Zulieferer volle Auftragsbücher haben.
({3})
Meine Damen und Herren, Deutschland wird zudem
selbst zu einem attraktiven Reiseland für Kreuzfahrtund Fährtouristen. Gerade die Skandinavier kommen
nach Deutschland, bleiben einige Tage hier und geben
bei uns Geld aus. Fragen Sie doch einmal in Rostock,
Kiel, Hamburg, Cuxhaven, Lübeck, Bremerhaven und
Sassnitz nach, welch einen wichtigen Wirtschaftsfaktor
die Passagiere darstellen, die von den Schiffen kommen.
Ich habe bei uns in Hamburg nachgefragt: Im Durchschnitt lässt jeder Passagier eines Kreuzfahrtschiffes
200 Euro in Hamburg. Das sind jährlich 22 Millionen Euro. Hamburg ist eine reiche Stadt; aber wir freuen
uns über diese zusätzlichen 22 Millionen Euro und würden uns über weitere Ausgaben von Passagieren noch
mehr freuen.
Mit diesem Antrag wollen wir den Kreuzfahrttourismus weiter voranbringen und sicherstellen, dass mehr
Schiffe unter deutsche Flagge kommen. Bisher fährt nur
ein einziges Schiff unter deutscher Flagge. Bei der Tonnagesteuer im Frachtbereich ist es uns gelungen, den
deutschen Anteil zu erhöhen. Dies wollen wir auch bei
der Anzahl der Passagierschiffe erreichen, die unter
deutscher Flagge fahren.
({4})
Meine Damen und Herren, auch in weitere Bereiche
muss mehr investiert werden. Als Beispiel nenne ich
bessere Verkehrsanbindungen der Terminals an Bahnhöfe, damit die Passagiere zum Beispiel Tagesfahrten
nach Dresden oder Berlin machen und auch dort ihr Geld
ausgeben können.
Das von uns geforderte Auslandsmarketing der Deutschen Zentrale für Tourismus bringt, vor allem in Verbindung mit einer verstärkten Markenbildung, viele
Reisende nach Deutschland. Wir haben mit der wunderschönen Ostsee eine wunderbare Marke, international
als Baltic Sea bekannt. Warum kann der Ostseetourismus
nicht genauso intensiv forciert werden wie der Tourismus im Mittelmeerraum oder in der Karibik?
Wir haben einzigartige Attraktionen, zum Beispiel die
sogenannten weißen Nächte, die weltweit einzigartig
sind. Das ist gerade für Kreuzfahrten etwas Wunderbares.
Wir brauchen die Unterstützung der Politik. Unsere
beiden Anträge machen deutlich, welche Maßnahmen
möglich sind. Bitte unterstützen Sie uns weiter dabei.
Danke sehr.
({5})
Der Kollege Jens Ackermann hat nun das Wort für die
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Kennen Sie noch das Wort des Jahres
1989? Es lautet Reisefreiheit. Andere Länder und Kulturen kennenzulernen, ist eine Sehnsucht der Menschen.
Ich freue mich, dass dies möglich ist.
({0})
Ich möchte aber auch darauf hinweisen, dass es im
niedersächsischen Landtag eine Abgeordnete gibt, die
sich gegen die Reisefreiheit ausgesprochen hat, indem
sie die Berliner Mauer verherrlicht hat.
({1})
Die Partei Die Linke ist dafür verantwortlich, dass Gegner der Freiheit in Parlamente einziehen.
({2})
Die Welttourismusorganisation schätzt, dass weltweit
circa 800 Millionen Menschen reisen, davon eine halbe
Milliarde grenzüberschreitend. Die Zahl wird sich in den
nächsten zwei Jahren verdoppeln. Die Ursache hierfür
liegt in Asien. Gegenwärtig besitzen 2 Prozent der Chinesen einen Reisepass. Die Tendenz ist steigend. Die
Chinesen und andere Asiaten werden nach Europa und
auch nach Deutschland reisen, und sie werden mit Flugzeugen kommen.
Die Globalisierung ist eine Riesenchance für Europa
und auch für Deutschland, wenn wir weltoffen und gastfreundlich sind.
({3})
Eine Kerosinsteuer, wie sie vom Bündnis 90/Die Grünen
gefordert wird, würde nur dazu führen, dass Arbeitsplätze der boomenden Luftfahrtindustrie von Europa
nach Dubai verlagert würden. Das schwächt die Wirtschaft zulasten der Arbeitsplätze in Deutschland, und
dem Klima ist damit auch nicht geholfen. Das möchte
die FDP nicht.
({4})
Es gibt einen Menschen, der es schaffen kann, noch
mehr internationale Gäste nach Deutschland zu locken.
Sie kennen ihn alle: Es ist Martin Luther. 2017 wird der
500. Jahrestag der Reformation begangen. Herr
Hinsken, Sie sind zwar katholisch, aber ich hoffe, dass
Sie trotzdem dieses Fest mit uns feiern werden. Christen
aus der ganzen Welt werden die Wirkungsstätten Luthers
besuchen. Die anstehende Dekade bis zum Lutherjahr
wird Sachsen-Anhalt und Thüringen weiteren Rückenwind bringen, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.
Ich habe die Sorge, dass die Große Koalition den kleinen
Unternehmern in der Tourismuswirtschaft durch eine
ausufernde Bürokratie, ein verkrustetes Arbeitsrecht,
Maßnahmen wie die gerätebezogene Rundfunkgebühr
und ein Jugendarbeitsschutzgesetz, das die Jugendlichen
nicht schützt, sondern nur verhindert, dass 16- oder 17-Jährige eine Lehrstelle erhalten, die Luft nimmt.
({5})
Im Tourismuspolitischen Bericht der Bundesregierung
ist auf Seite 9 zu lesen, dass die Busbranche Beeinträchtigungen durch die Umsetzung der EU-Feinstaubrichtlinie befürchtet und dass sich der Tourismusbeauftragte der
Bundesregierung bei den Ländern und Kommunen für
Ausnahmegenehmigungen einsetzt. Ich frage mich, was
dabei herausgekommen ist. Herr Hinsken kämpft wie ein
bayerischer Löwe für die Branche. Es kommt aber nichts
dabei heraus, weil Sie sich bei Ihrem Koalitionspartner
nicht durchsetzen können.
({6})
Das belastet die in der Tourismuswirtschaft Tätigen.
Die Politik der Großen Koalition belastet aber auch
die Menschen, die Urlaub machen wollen. 1 600 Euro
haben die Menschen weniger in der Urlaubskasse durch
die Politik der Großen Koalition. Sie nehmen den Menschen durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer, durch die
Kürzung der Pendlerpauschale und durch steigende
Krankenkassenbeiträge das Geld aus der Tasche.
Ich fordere Sie auf: Lassen Sie den Menschen ihr
sauer verdientes Geld, damit sie weiter Lust am Reisen
haben!
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Brunhilde Irber,
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Manches fordert mich heraus, Frau Herlitzius.
Sie sollten sich vielleicht die Protokolle durchlesen. Es
war Ihre Kollegin Halo Saibold, die damals einen einstimmigen Beschluss des Deutschen Bundestages zur
Besteuerung des Flugbenzins herbeigeführt hat. Aber
das ist auf europäischer Ebene nicht durchsetzbar.
({0})
Nicht einmal Ihre Kollegen im Europäischen Parlament
haben es geschafft, diesen Beschluss umzusetzen. Ich
möchte auf dieses Thema nicht weiter eingehen.
Wurde die Tourismuswirtschaft früher noch belächelt,
gilt sie heute als einer der globalen Wachstums- und Beschäftigungsmotoren. Die UNWTO geht bis zum Jahr
2020 von einer Zunahme des weltweiten Reiseverkehrs
auf 1,6 Milliarden Touristenankünfte aus. Dies entspricht fast einer Verdoppelung der jetzigen Zahl. Das ist
die eine Seite der Medaille. Die andere Seite der Medaille ist ein verschärfter globaler Wettbewerb der Reiseziele um die Touristen. Für 2020 rechnet die UNWTO
daher mit einem Rückgang des europäischen Anteils an
den internationalen Ankünften von knapp 55 auf 45 Prozent. Unsere Marktanteile werden wir also an Reiseziele
in anderen Weltregionen wie Asien, den Mittleren Osten
und zunehmend an Afrika verlieren.
Globalisierung bedeutet für den Tourismus Chance
und Herausforderung zugleich. Für Deutschland ist sie
eine Chance, weil im Zuge der Erweiterung der Nachholbedarf unserer neuen EU-Nachbarn an Auslandsreisen große Wachstumschancen mit sich bringt. Besonders
als Geschäftsreisen- und als Messestandort ist Deutschland für Osteuropa sehr attraktiv. Deutschland profitiert
von der EU-Osterweiterung im Vergleich zu den alten
EU-Ländern in besonderem Maße. Globalisierung ist
aber auch Herausforderung, weil der europäische Osten
aufgrund seines niedrigen Preisniveaus einen knallharten
Wettbewerbsvorteil hat. Auf die Herausforderungen dieses weltweiten Wettbewerbs muss der Tourismus in
Deutschland klare Antworten geben.
Globalisierung und wachsende Tourismusströme stehen aber auch für Umweltschäden; das ist uns bewusst.
Der Tourismus trägt laut UNWTO 5 Prozent zum weltweiten CO2-Ausstoß bei. Seit 1990 hat sich der CO2-Ausstoß von Flugzeugen verdoppelt. Für den Tourismus ist
die Belastung der Umwelt besonders problematisch,
weil der Erhalt einer intakten Umwelt die Existenzgrundlage der Branche ist. Diesem Problem trägt jedoch
unser Bundesumweltminister Sigmar Gabriel bereits
Rechnung, indem die Mittel für den Klimaschutz von
700 Millionen Euro auf 2,6 Milliarden Euro jährlich aufgestockt wurden. Das sind rund 200 Prozent mehr als
2005.
({1})
- Da kann man schon klatschen.
Der Klimawandel wird in Zukunft das touristische
Angebot beeinflussen. Naturkatastrophen können den
Tourismus in traditionellen Zielgebieten gefährden und
Touristenströme verlagern. In Wintersportregionen werden die Besucherzahlen aufgrund von Schneemangel zurückgehen. Die andere Konsequenz dieser Entwicklung
ist, dass veränderte klimatische Bedingungen auch steigende Besucherzahlen in der Nebensaison oder Verlagerungen der Tourismusströme von südlichen in nördliche
Regionen bedeuten können. Tatsächlich geht das Potsdamer Institut für Klimaforschung davon aus, dass Deutschland mit 25 bis 30 Prozent mehr Touristenankünften zu
den Gewinnern gehören wird. Jedoch sind hierfür auch
entsprechende Tourismuskonzepte notwendig.
Deutschland ist ein attraktives Reiseziel. Das verdanken wir einer reizvollen, abwechslungsreichen Landschaft und einer erstklassigen touristischen Infrastruktur.
Damit nicht genug: Deutschland bietet auch ein vielfältiges Kulturangebot, komfortable Unterkünfte sowie ein
hohes Qualitätsniveau in den Bereichen Sicherheit, Hygiene und medizinische Versorgung. Wenn wir konkurrenzfähig bleiben wollen, müssen wir uns vor allem auf
dem Gebiet Produktqualität, Preis- und Servicequalität
ständig weiterentwickeln; denn Qualität setzt sich über
kurz oder lang immer durch.
Wir sind auf dem richtigen Weg. Das zeigt das Ergebnis der Umfrage von „Qualitätsmonitor DeutschlandTourismus“. Auf einer Skala von 1 bis 6 erhielten wir von
unseren Gästen die hervorragende Note 1,8. Die WM hat
uns einen Imageschub beschert, den wir weiter verstärken
müssen. Die gezielte Vermarktung des Urlaubslandes
Deutschland mit der Service- und Freundlichkeitskampagne der Deutschen Zentrale für Tourismus war und ist
eine Erfolgsstory. Der Tourismusausschuss - das freut
mich besonders - hat hierfür den Anstoß gegeben.
Die politischen Weichen für die Tourismusbranche
werden zunehmend auf der EU-Ebene gestellt. Wir arbeiten mit Nachdruck am Bürokratieabbau bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen und auch am Abbau
von Wettbewerbsverzerrungen.
({2})
Die Harmonisierung von Wettbewerbsbedingungen in
Europa ist eine vordringliche Aufgabe. Dass das der
richtige Weg ist, zeigt die Tatsache, dass Europa nach
wie vor mit großem Abstand weltweit die Reiseregion
Nummer eins ist. Auf internationaler Ebene ist Deutschland in der Welttourismusorganisation bis 2009 sogar im
Exekutivrat vertreten, aber auch in der OECD und den
Fachgremien der UN. Deutschland setzt sich hier mit
Nachdruck für die Einhaltung des Ethikkodex zum
Schutz vor sexueller Ausbeutung von Kindern ein.
({3})
Wir beraten heute aber auch den Entschließungsantrag der FDP zum tourismuspolitischen Bericht. Darin
ist von „übertriebenen und überflüssigen Sicherheitsvorkehrungen“ die Rede. Wenn das Thema Sicherheit nicht
so wichtig ist, warum machen dann 86 Prozent der deutschen Touristen ihre Reiseentscheidung von ihrer persönlichen Sicherheit am Urlaubsort abhängig? Wir sind
für die Sicherheit unserer Bürger und Gäste verantwortlich und müssen auch Vertrauen in diese Sicherheit vermitteln.
({4})
- Ja, dann muss man sich aber überlegen - ({5})
- Das hat aber nichts mit Deutschlandtourismus zu tun.
({6})
Jetzt muss ich mich beeilen, weil der Präsident schon
blinkt.
Das ist völlig richtig. Ich bitte im Übrigen den Kollegen Burgbacher, die Rednerin nicht weiter zu stören.
Ich möchte noch ein Thema, das mir sehr am Herzen
liegt, aufgreifen. Das Deutsche Seminar für Tourismus,
finanziert seit 1980 vom Bund und von Berlin, leistet einen wertvollen Beitrag zur Fort- und Weiterbildung
unserer Touristiker. Der Rechnungsprüfungsausschuss
fordert nun eine Neuausrichtung der Förderung des
Deutschen Seminars für Tourismus. Dazu wird das Bundesministerium bis Ende August einen Bericht vorlegen.
Ich appelliere an Herrn Minister Glos, sich vehement für
den Erhalt dieser einzigartigen Fortbildungseinrichtung
für den gesamten Deutschlandtourismus einzusetzen.
Eine Einstellung der Förderung wäre ein Rückschritt für
unsere Branche und widerspräche unseren Zielen der
Förderung des Qualitätstourismus.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Klaus Brähmig, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
diskutieren heute am Vorabend der Internationalen Tourismus-Börse den ersten Tourismuspolitischen Bericht
der Bundesregierung in dieser Legislaturperiode. Ich
möchte dies mit einem Dankeschön an unseren Tourismusminister Michael Glos und an Ernst Hinsken verbinden, der uns als Tourismusbeauftragter mit seiner kleinen, engagierten Miniabteilung im Ministerium diesen
kreativen Bericht vorgelegt hat.
Ich möchte im Übrigen darauf hinweisen, dass es seit
zwei Jahren zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik einen Tourismusbeauftragten gibt, der eine
wichtige Koordinierungsfunktion zwischen Bund, Ländern und Europa sowie der Branche einnimmt. Ernst
Hinsken, wo wir als Parlamentarier dich bei dieser Aufgabe unterstützen können, werden wir das natürlich auch
in der Zukunft gerne tun.
({0})
Ich freue mich, dass unsere Ausschussvorsitzende
Marlene Mortler uns immer unterstützt. Seit Übernahme
des Vorsitzes füllt sie diese Aufgabe sehr souverän aus.
({1})
Es gibt auch im Tourismus noch eine Menge zu tun
- es ist von meinen Vorrednern schon angesprochen
worden -: vor allem der Abbau von Wettbewerbsverzerrungen in Europa, Deutschland und der Welt. Wir
brauchen ein Umsteuern der Politik. Es geht nicht, dass
wir nur Politik gegen etwas betreiben; wir müssen auch
einmal eine Politik für etwas betreiben. Wir erleben es in
der aktuellen Diskussion: Wir in Deutschland sind gegen
Autobahnen, gegen den Bau von Brücken, gegen den
Bau von Kraftwerken, gegen den Bau von Flughäfen
und Landebahnen. Wenn das so weitergeht, werden wir
stehenden Fußes unsere Wettbewerbssituation vor allem
im Hinblick auf den arabischen Raum massiv verschlechtern. Da müssen wir unbedingt so schnell wie
möglich den Hebel umlegen.
({2})
Tourismus ist - das wurde schon angesprochen weltweit eine Wachstumsbranche; auch bei uns in
Deutschland gibt es ein Wachstum. Viele von uns hätten
nicht geglaubt, dass eine weitere Steigerung der Zahlen
des Jahres 2006, in dem die Fußballweltmeisterschaft
stattgefunden hat, möglich wäre. Mehr als 9 Millionen
zusätzliche Gäste haben die Hotels und Campingeinrichtungen in Deutschland genutzt; davon kommen
2 Millionen Gäste aus dem Ausland und 7 Millionen aus
Deutschland. Dies ist nur möglich gewesen, weil die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Verbände, aber
auch die Verbandsfunktionäre eine ausgezeichnete Arbeit geleistet haben, obwohl wir, die Politik, es ihnen
nicht immer leicht machen. Hierfür möchte ich mich im
Namen der CDU/CSU-Fraktion herzlich bedanken.
Natürlich hängt es auch mit dem exzellenten PreisLeistungs-Verhältnis in Deutschland zusammen, dass
diese Leistung erbracht werden konnte. Mein Appell
geht an den DEHOGA, dies herauszustellen. Wir können
mit unseren Leistungen jederzeit mit jedem Land in Europa und der Welt im Wettbewerb mithalten.
({3})
Der Tourismus gibt viele Impulse - das ist völlig klar -:
für den Einzelhandel, das Baugewerbe, das Handwerk,
die Dienstleistungsunternehmen und den Kulturbereich,
also für Museen, Theater und Konzertveranstalter, aber
auch für die Bereiche des Kunsthandwerks, die Glasbläser im Bayerischen Wald und die Schnitzer und Drechsler im Erzgebirge.
Herr Kollege Brähmig, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Burgbacher?
Gerne.
Herr Kollege Brähmig, Sie reden gerade von den
Chancen für die Hotels, die Gastronomie, den Einzelhandel und andere. Die Kollegin Faße hat in ihrem Beitrag die Forderung erhoben, einen Mindestlohn in der
Tourismuswirtschaft einzuführen.
({0})
Ich frage Sie: Sind Sie mit mir der Ansicht, dass die Tarifautonomie damit ausgehöhlt würde und dass dies tendenziell zum Abbau von Arbeitsplätzen führen würde?
Ist die CDU/CSU bereit, klipp und klar zu erklären, dass
sie so etwas nicht mitmachen würde?
Ja, Herr Burgbacher, ich schließe mich Ihrer Position
an.
Arbeitsplätze im Tourismus - das wird hin und wieder vergessen - sind nicht exportierbare Arbeitsplätze.
Das Tourismusbarometer des Ostdeutschen Sparkassenund Giroverbandes, das zur ITB wieder aufgelegt wird,
zeigt die enormen Wachstumspotenziale, die sich in den
letzten 18 Jahren in den neuen Bundesländern ergeben
haben. Ich spreche das an, weil im nächsten Jahr die Veranstaltung „20 Jahre Wiedervereinigung des deutschen
Vaterlandes“ stattfinden wird. Ich sage an dieser Stelle
ganz klar: Es gibt noch Potenziale, die auszuschöpfen
sind. Allein daran, dass 47 Prozent der westdeutschen
Landsleute in den vergangenen 18 Jahren noch nie in
den neuen Bundesländern waren - Emnid hat das vor
kurzem ermittelt -, sieht man, welch enorme Potenziale
im Bereich Tourismus bestehen.
Ich möchte wie die Kollegin Irber kurz auf die zwei
direkt vom Bund geförderten Institutionen eingehen.
Herr Schrader, der Geschäftsführer des Deutschen Seminars für Tourismus, hat es sich nicht nehmen lassen,
heute hier zu sein. Wir, die CDU/CSU-Fraktion, unterstützen die Neuausrichtung dieser Institution. Herr
Schrader, wenn Sie es möchten, werden wir Sie gerne
dabei unterstützen. Ich gehe davon aus, dass das hohe
Niveau von 750 000 Euro auch im Jahr 2009 ff. beibehalten wird; denn hier geht es um die Qualifizierung der
Mitarbeiter der Tourismuswirtschaft. Diese Qualifizierung ist mehr denn je notwendig und wichtig.
Ich möchte auf die Deutsche Zentrale für Tourismus zu sprechen kommen. Ich brauche an dieser Stelle
nicht zu sagen, dass Frau Hedorfer eine exzellente Arbeit leistet. Dennoch gibt es einen Wermutstropfen. Die
Bundeszuwendung liegt im Augenblick bei 25,5 Millionen Euro. Die Länder Österreich und Schweiz geben
trotz viel kleinerer Bevölkerungen und viel kleinerer
Haushalte das Doppelte aus: 50 Millionen Euro. Natürlich weiß auch ich, dass es nicht so einfach ist, mehr
Geld zur Verfügung zu stellen. Deswegen werbe ich hier
im Parlament dafür, für die Haushaltsberatungen 2009
ein System einzuführen, das vorsieht, dass der Bund eine
Summe X - vielleicht 5 Millionen Euro - zur Verfügung
stellt und dass die DZT animiert wird, aus der privaten
Wirtschaft und aus den Bundesländern weitere
5 Millionen Euro zu generieren. Mit der Summe von
35 Millionen Euro kann die Deutsche Zentrale für Tourismus noch intensiver auf den internationalen Märkten
tätig werden. Uns allen ist bewusst - ich kann hier letztendlich nur wenige Länder nennen -: Was China, Indien,
Osteuropa und insbesondere Russland angeht, ist das Potenzial riesig.
Wir brauchen auch neue Wege, neue Ideen für Kooperationen. Warum soll es nicht möglich sein, dass ein Autoverkäufer in Amerika, in Australien oder woanders,
der mit deutschen Autos - etwa Mercedes, BMW oder
Audi - handelt, Reiseprospekte in deutscher Sprache anbietet?
Ernst Hinsken, wir werden dich bei deiner schon ergriffenen Initiative unterstützen, einen touristischen
Masterplan für die Bundesrepublik Deutschland zu entwickeln. So kann ein einheitliches Tourismuskonzept
auf den Weg gebracht werden.
Ich will noch auf folgenden Punkt eingehen, der mich
ebenfalls umtreibt. Ernst Burgbacher, ich vertrete die
Auffassung, dass wir in der Politik nichts versprechen
sollten, was wir letztendlich nicht halten können. Das
gilt auch für die kommende Legislaturperiode, die 2009
beginnt. Hier ist schon vieles angesprochen worden. Ich
werbe dafür, dass wir in den nächsten Tourismuspolitischen Bericht der Bundesregierung im Jahr 2009, lieber
Ernst Hinsken, einen eigenen Klimareport Tourismus
aufnehmen. Darin könnte der Zusammenhang zwischen
Tourismus und Klima gesondert thematisiert werden.
({0})
Wir müssen einfach einmal zur Kenntnis nehmen,
dass wir die Welt nicht unbedingt neu erfinden können.
Wir brauchen einen Wettbewerb von klimaneutralen
Tourismusregionen. Das wäre ganz einfach. Es geht
nicht darum, alles von Berlin aus per Gesetz zu regeln;
vielmehr muss der Wettbewerb in den Regionen gestärkt
werden. Der Südtiroler Reinhold Messner hat kürzlich
dazu aufgefordert, der Globalisierung das Regionale entgegenzusetzen. Ich glaube, Reinhold Messner hat recht.
Warum muss ein Steak aus Argentinien kommen? Kann
es nicht vom Bauernhof neben der Gaststätte kommen?
Diese Aufgaben müssen wir in der nächsten Zeit noch
intensiver angehen.
({1})
Wir sind uns in diesem Hause einig, dass kein Land
so vielfältig, so abwechslungsreich, so kulturreich und,
was das Reisen angeht, so sicher wie Deutschland ist.
Gerade aus diesem Grund ist Deutschland für die Deutschen das Urlaubsland Nummer eins. Ich wünsche all
denen, die dieses Jahr eine Reise machen wollen - wenn
möglich, in Deutschland -, von ganzem Herzen gute
Reiseerfahrungen und Erlebnisse. Der Tourismusbranche und den Unternehmen wünsche ich gute Geschäfte
und zufriedene Kunden.
Wilhelm Busch ist heute schon einmal bemüht worden. Auch ich will das sehr gerne tun. Offensichtlich hat
er sich mit dem Thema Reisen sehr intensiv beschäftigt.
Er schrieb einmal:
Eins, zwei, drei im Sauseschritt,
läuft die Zeit, wir laufen mit.
Schaffen, schuften, werden älter,
träger, müder und auch kälter,
bis auf einmal man erkennt,
dass das Leben geht zu End'!
Viel zu spät begreifen viele
die versäumten Lebensziele:
Freude, Schönheit und Natur,
Gesundheit, Reisen und Kultur.
Drum, Mensch, sei zeitig weise!
Höchste Zeit ist’s: Reise, reise!
({2})
Herr Kollege Brähmig, Sie haben zu Recht kalkuliert,
dass ich mich als Kulturpolitiker scheuen würde, Sie
beim Vortragen eines Gedichts zu unterbrechen.
({0})
Dennoch wäre es noch schöner gewesen, wenn der Vortrag dieses Gedichts zu einem früheren Zeitpunkt begonnen hätte, um noch innerhalb der Redezeit in voller
Schönheit abgewickelt werden zu können.
Nun hat als Letzter in dieser Debatte das Wort der
Kollege Dr. Reinhold Hemker für die SPD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
Grunde haben wir heute mit dieser Aussprache bereits
einen Beitrag zu der Leitbilddiskussion geleistet, die im
Ansatz auch schon im Tourismuspolitischen Bericht der
Bundesregierung verankert ist. Es ist sicherlich wichtig,
die kritischen Anmerkungen aus den drei Oppositionsfraktionen sehr ernst zu nehmen.
Ernst Burgbacher hat von falschen Rahmenbedingungen gesprochen. Die Aussage ist zunächst einmal richtig.
Aber wir sind dabei, die Rahmenbedingungen Schritt für
Schritt zu verändern und weiterzuentwickeln.
Auch in Richtung der Fraktion der Grünen sage ich:
Man muss berücksichtigen, dass in einer Gesellschaft,
die so organisiert ist wie die unsere, in Bereichen mit
Wachstumspotenzialen nicht von vornherein auch die
ökologischen Bedingungen berücksichtigt werden.
Aber es gibt - zumindest das haben wir in den letzten
Jahren erreicht, nicht erst in dieser Legislaturperiode, wo
wir einen Tourismusbeauftragten haben - Potenziale
beim Fahrradtourismus. Auch wenn da noch Mängel bestehen, so gibt es bereits eine Fülle von Touristen - nicht
nur deutschen, sondern auch ausländischen -, die mit der
Bahn anreisen. Entweder bringen sie ihre eigenen Räder
mit oder leihen Räder aus. Jemand, der so etwas macht,
steht übrigens hier; das wissen Sie, Frau Kollegin
Herlitzius.
Es gab das Jahr der Naturparke; auch das wurde im
Tourismuspolitischen Bericht aufgearbeitet. Wir wissen,
dass gerade der Wandertourismus in ländlichen Bereichen in Deutschland boomt. Den Wassertourismus mit
Kanufahrten will ich gar nicht gesondert aufführen.
Lieber Ilja Seifert, am Rande einer Sitzung haben wir
schon einmal über einen Aspekt gesprochen, den Ernst
Hinsken in dem Bericht schon ganz vorsichtig angedeutet hat, dass nämlich mit den Wachstumspotenzialen
- das ist ein grundsätzliches Problem in unserer Gesellschaft - natürlich nicht alle Menschen in Deutschland,
schon gar nicht weltweit angesprochen werden. Lieber
Ernst Hinsken, ich rege an, dass man in der Vorbereitung
der nächsten Diskussionen im Ausschuss im Zusammenhang mit der Leitbilddebatte schon jetzt Gespräche führt
mit den zuständigen Ministern bzw. Ministerinnen in
den Bereichen Arbeit und Soziales, Familie, Senioren,
Frauen und Jugend, aber auch mit Kolleginnen und Kollegen aus den Bundesländern, weil die für die Förderprogramme zuständig sind.
Dieser Aspekt macht auch mir Sorge. Ich komme ja
aus einer Jugendbewegung und weiß, dass es in den
50er- und auch noch in den 60er-Jahren ganz schwer
war, sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche in
unsere Zeltlager oder in die Jugendherbergen zu bekommen; dazu brauchten wir umfangreiche Programme. Das
gehört zur tourismuspolitischen Diskussion dazu, auch
wenn wir natürlich in erster Linie über wirtschaftspolitische Aufgaben und über die Wachstumspotenziale dieses wichtigen Dienstleistungsbereiches sprechen.
Ich bin sehr dankbar, dass zumindest drei Debattenredner heute auch auf das Thema eingegangen sind, das
wir nach der ITB vor zwei Jahren im Ausschuss schon
aufgegriffen hatten. Dabei geht es um Potenziale für die
Weiterentwicklung unterentwickelter Länder. Wir bezeichnen sie ja immer noch mit dem Begriff Entwicklungsländer. Der Kollege Klimke ist darauf dankenswerterweise schon eingegangen. Ich denke, dass wir die
Werte, die im Tourismuspolitischen Bericht beschrieben
sind, noch viel ernster nehmen müssen. Wenn Menschen
aus reichen Ländern in ein armes Land reisen und die
Menschen dort einander begegnen, dann kommt es zu
Aspekten des solidarischen Lernens, wie ich das vor einiger Zeit in einem Beitrag für eine Zeitschrift einmal
genannt habe. Interkultureller Austausch bedeutet immer, dass Menschen voneinander lernen. Darum ist es
wichtig, dass dieser Bereich ausgebaut wird.
Die Frage ist nur, Ernst Burgbacher, ob das, was Sie
in Ihrem Antrag unter Nr. 4 fordern - die Koordination
soll im Wirtschaftsministerium stattfinden -, richtig ist.
Wir müssen einmal eine Fachdebatte darüber führen, ob
es sinnvoll sein könnte, die Zuständigkeit vom BMZ in
das Wirtschaftsministerium zu verlagern. Ich halte viel
mehr davon, dass man dort eine interministerielle Runde
einrichtet, wie wir das von anderen Querschnittsaufgaben auch kennen. Entscheidend ist nur, dass ein Sektorschwerpunkt geschaffen wird. Das ist uns in einer Anhörung im Ausschuss, glaube ich, von den Autoren der
Studie mitgeteilt worden, die vor zwei Jahren auf der
ITB vorgestellt worden ist.
Gerade kleinere deutsche Anbieter, die sich in den
letzten Jahren selbstständig gemacht haben, setzen - das
zu sagen, ist mir ganz wichtig - auf den sogenannten
Community-based-Tourismus. Dabei geht es um die
Verankerung von Tourismusangeboten in den Townships
oder Barrios, also in den benachteiligten Wohngebieten
am Rande der Städte, aber auch im ländlichen Bereich in
den sogenannten Entwicklungsländern in Afrika, Asien
und Lateinamerika. Dort kommt es dann zu diesen
People-to-People-Programmen, zu den Begegnungen
von Menschen. Wichtig ist dabei, dass dies meistens mit
einem Prozess der Gründung von kleineren touristischen
Unternehmen verbunden ist. Ich will damit nichts gegen
die großen Player, wie TUI und andere, sagen, die mittlerweile auch interkulturelle oder Bildungsprogramme
anbieten und die Touristen - ich sage es einmal ein bisschen platt - nicht nur in den touristischen Erholungsburgen einsperren.
Entscheidend wird nur sein, lieber Ernst Hinsken,
dass wir genau diese Aspekte in die Leitbilddiskussion
einbeziehen und dabei auch den Aspekt friedensbildender Maßnahmen berücksichtigen, die Ilja Seifert vorhin
angesprochen hat. Wenn Menschen sich begegnen, finden friedensbildende Maßnahmen statt. Ich denke, das
ist in dem Kreis, der das diskutiert, und auch darüber hinaus unbestritten.
Eines hat mich besonders gefreut; das will ich hier
auch erwähnen, weil es in den letzten Jahren im wirtschaftspolitischen Bereich so nicht gesehen wurde. Das
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und der zuständige Fachausschuss beschäftigen sich seit
Jahren mit dem vulgären und schlimmen Sextourismus.
Es sind Aufklärungsprogramme durchgeführt worden.
Es hat in den letzten Jahren aber auch seitens der Bundesregierung in der Zuständigkeit des Innenministers Initiativen zur Bekämpfung des Sextourismus gegeben, die
zu ersten Erfolgen geführt haben. Das ist durch die Medien gegangen. Ich bin froh, dass das im Zusammenhang
mit einem verantwortlichen Tourismus so erwähnt worden ist und dass hier weitergemacht wird. Wer dann
letztendlich die Verantwortung dafür hat, ist mir egal. Ob
sie beim BMZ bleibt oder ob unter Einbeziehung des
Ministeriums dazu eine Arbeitsgruppe eingerichtet wird,
ist mir egal.
Im Tourismuspolitischen Bericht zu diesem internationalen Zusammenhang steht - das ist meine letzte Anmerkung -:
Die deutsche Entwicklungspolitik orientiert sich im
Handlungsfeld Tourismus am Leitbild der nachhaltigen Entwicklung. Ziel ist ein nachhaltiger Tourismus, der in sozialer, kultureller, ökologischer und
ethischer Hinsicht verträglich sowie wirtschaftlich
erfolgreich ist. Die Förderung eines nachhaltigen
Tourismus ist damit unmittelbar relevant für die Erreichung der Millenniums-Entwicklungsziele.
Dem ist nichts hinzuzufügen. Ich freue mich auf die
Leitbilddiskussion und die detaillierte Behandlung der
Anträge im Ausschuss.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Überweisungen. Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 16/8000,
16/7614 und 16/8176 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/8194
soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das
so vereinbart.
Wir kommen nun unter Tagesordnungspunkt 24 b zur
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Tourismus
auf Drucksache 16/8173.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/4603
mit dem Titel „Zukunftstrends und Qualitätsanforderungen im internationalen Ferntourismus“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Das Erste war die Mehrheit. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4181 mit dem Titel „Tourismus
zur Armutsbekämpfung und zur sozialen und ökologischen Entwicklung in den Partnerländern nutzen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
Präsident Dr. Norbert Lammert
dagegen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mit
Mehrheit angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 c, Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Tourismus zu dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU und SPD mit dem Titel „Kreuzfahrttourismus und Fährtourismus in Deutschland voranbringen“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8172, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/5957
anzunehmen. Wer stimmt dem zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Volker Beck ({0}), Ekin
Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Integrationspolitik der Bundesregierung Große Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit
- Drucksache 16/8183 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache wiederum eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so
vereinbart.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlich
war es ein Wunsch der Großen Koalition, heute hier über
Integration zu reden. Dann konnte sich die Große Koalition wieder einmal nicht auf eine gemeinsame Politik
und einen gemeinsamen Antrag einigen. Deshalb bedurfte es einer Initiative von Bündnis 90/Die Grünen,
({0})
damit wir heute hier darüber sprechen können. Sehen
Sie, Grüne machen vernünftige Träume wahr!
({1})
Die Große Koalition scheut zu Recht die Integrationsdebatte, insbesondere die Union, weil sie kurz vor der
Hamburg-Wahl befürchtet, Unionspolitiker können halt
nur Koch. In einer Weltstadt wie Hamburg kommen
platte Antworten wie von Roland Koch eben schlecht an.
Dort lebt man Integration jeden Tag, und dort braucht
man konkrete Integrationspolitik und keine polarisierenden Sprachhülsen.
Bei Anspruch und Wirklichkeit in der Integrationspolitik - darauf weist unser Antrag hin - hapert es auf
der ganzen Linie. Die Koalition tut so - mit Integrationsgipfel, Integrationsplan und sogar einer Integrationsstaatsministerin auf der Regierungsbank -, als ob ihr das
Thema sehr wichtig wäre. Schaut man sich aber einmal
die Hardware an, dann sieht man überall nur Defizite.
({2})
750 Millionen Euro für Integrationsförderung,
({3})
steht im Integrationsplan, wolle man ausgeben. Schaut
man genauer hin, stellt man fest, dass nichts anderes gemacht worden ist, als alle Titel, die irgendwie mit Ausländern zu tun haben, zu addieren, bis hin zum Deutschen Akademischen Austauschdienst, der, auch wenn
er wichtige Arbeit macht, mit Integrationspolitik überhaupt nichts zu tun hat. Das ist Blendwerk; das ist Verarschung der Öffentlichkeit,
({4})
und das muss man hier auch deutlich sagen.
({5})
Sie haben angekündigt, die Integrationsmittel jetzt um
14 Millionen Euro zu erhöhen. Wunderbar! Das gleicht
aber die Kürzung von 67 Millionen Euro im Haushalt
der letzten zwei Jahre nicht einmal aus.
({6})
Da sieht man, Sie machen in diesem Bereich zu wenig.
Sie reden viel, handeln nicht und nutzen das vonseiten
der CDU/CSU da, wo Sie meinen, damit Punkte sammeln zu können - anders als in Hamburg -, zur Polarisierung bei den Problemen, die wir haben. Wir müssen
die Probleme anpacken und lösen, statt hier nur Worte zu
schwingen.
({7})
So eine Integrationsbeauftragte wie diese Frau
- Mutter Beimer im Kanzleramt ({8})
hatten wir noch nie. Lieselotte Funcke, Cornelia
Schmalz-Jacobsen und Marieluise Beck hatten ein hohes
Ansehen in der Migrations-Community, weil sie in
schwierigen politischen Debatten immer gerade die Gesichtspunkte dieser Community eingebracht haben.
Volker Beck ({9})
({10})
Bei Frau Böhmer ist es so, dass sie im Wahlkampf Herrn
Koch sekundiert und danach, wenn die Wolken sich verzogen haben, das Ganze ein bisschen schönredet. Das
hat ihr erhebliche Kritik der Migranten eingebracht.
Ich zitiere nur einen Migrationsvertreter Ihres Integrationsgipfels:
Frau Böhmer ist Integrationsbeauftragte. Es ist ihre
Aufgabe, sich schützend vor die Migrantinnen und
Migranten zu stellen.
Dass sie das nicht getan hat, sondern noch Öl ins Feuer
dieses Wahlkampfs gegossen hat, das hat viele enttäuscht und entsetzt, und ich meine, zu Recht.
({11})
Meine Damen und Herren, wir haben eine heiße Debatte um die Rede von Herrn Erdogan gehabt. Da
wurde gleich wieder die EU-Beitrittsfrage gestellt, die
mit dieser Rede relativ wenig zu tun hat. Einen Punkt
sollten wir da ausdrücklich hervorheben. Herr Erdogan
hat seinen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern und den
Menschen, die aus seinem Land hier eingewandert sind
und mittlerweile den deutschen Pass haben, ins Stammbuch geschrieben: Schickt eure Kinder in die Kindergärten; lasst sie Deutsch lernen! Das ist die wichtige Frage,
an der sich entscheidet, welche Zukunftschancen die
Kinder in dieser Gesellschaft haben. Jeder, der Herrn
Erdogan in Köln zugejubelt hat, sollte diesen Worten
Folge leisten. Das sollten wir den Menschen zunächst
einmal sagen.
({12})
Der zweite Punkt, den er angesprochen hat, führt in
eine falsche Richtung, hat aber einen Impuls, den wir
ernst nehmen sollten. Er hat gesagt, er wolle hier türkische Schulen und türkische Universitäten gründen. Es
gibt bei uns schon französische und englische Schulen.
Aber bei der türkischen Minderheit in unserem Land haben wir eine andere soziale Situation. Deswegen würden
solche türkischen Schulen zu mehr Segregation und
nicht zu mehr Integration führen.
({13})
Das ist der falsche Weg. Aber zu Erdogans Vorschlag
kommt das Bedürfnis nach Wertschätzung der türkischen Sprache und Kultur zum Ausdruck. Warum sagen
wir nicht wie im Falle der französischen und englischen
Sprache, dass die Zweisprachigkeit deutsch/türkisch ein
gewichtiges Qualifikationsmerkmal ist?
({14})
Laden wir doch Herrn Erdogan ein, türkische Lehrer
nach Deutschland zu schicken, die die deutsche und türkische Sprache beherrschen, um die Zweisprachigkeit an
unseren Schulen auszubauen und vielleicht ein paar
deutschen Schülerinnen und Schülern zu ermöglichen,
türkisch als Fremdsprache an unseren Schulen zu erlernen.
({15})
Das wäre eine differenzierte Antwort auf Herrn Erdogan
gewesen. Damit wird Integration gefördert; denn sie hat
auch etwas mit Wertschätzung zu tun. Es steht nicht
Mehrheit gegen Minderheit. Integration fügt zwei Teile
zu einem neuen Ganzen zusammen. Das ist die Aufgabe
von Integrationspolitik.
Was die Bereitschaft, andere wertzuschätzen, angeht,
hapert es bei der Union grundsätzlich. Deswegen kriegen Sie Integrationspolitik schon vom Ansatz her nicht
hin.
({16})
Herr Kollege Beck, bei der Durchsicht Ihrer Rede im
Plenarprotokoll werden Sie auf eine Formulierung stoßen, die im parlamentarischen Sprachgebrauch nicht
üblich ist
({0})
und die ich für die Zukunft auch nicht zulassen möchte.
Ich bin ziemlich sicher, dass Sie das, was Sie gemeint
haben, auch auf andere Weise hätten zum Ausdruck bringen können,
({1})
die die Aufmerksamkeit stärker auf den Sachverhalt als
auf die Formulierung gerichtet hätte.
Nun erteile ich dem Kollegen Hartmut Koschyk für
die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, die Schrillheit und die Aufgeregtheit, die in der
Vortragsweise des Kollegen Beck zu bemerken war, machen deutlich, dass die Grünen ein Problem damit haben,
dass die Integrationspolitik bei dieser Bundesregierung
dort angesiedelt ist, wo sie hingehört, nämlich im Zentrum der Politik, vertreten durch die Staatsministerin für
Integration im Bundeskanzleramt.
({0})
Lieber Herr Beck, ich möchte mich schon differenziert mit Ihrem Antrag - soweit er es zulässt - auseinandersetzen. Aber eines muss ich Ihnen schon sagen: Diese
plumpe Weise, mit der Sie auf die Arbeit der Frau Kollegin Böhmer als Beauftrage der Bundesregierung für Integration in Ihrem Beitrag eingegangen sind, kann ich
mir nur so erklären, dass Sie noch heute darunter leiden,
welche Durchsetzungskraft und welchen Einfluss Ihre
Kollegin Beck im Spannungsfeld zu Otto Schily in sieben Jahren Rot-Grün gehabt hat.
({1})
Wir konnten nämlich erleben, wie Frau Beck gegen Otto
Schily Integrationspolitik der Grünen in sieben Jahren
Rot-Grün durchgesetzt hat. Aber das Thema ist zu wichtig, als dass wir uns mit derartigem Geplänkel weiter abgeben sollten.
Eines ist festzustellen: Die Grünen haben sich - man
muss sich einmal überlegen, woher sie, was die Integration angeht, kommen - integrationspolitisch bewegt. In
ihrem Antrag sagen die Grünen, dass die deutsche Sprache der Schlüssel zur Integration ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ich kann mich daran
erinnern, dass die Politik der Union noch vor Jahren von
Ihnen als Germanisierungspolitik verunglimpft wurde,
als wir diesen Satz nicht nur deklamatorisch, sondern
verpflichtend mit Blick auf die Zuwanderer gesagt haben.
Ich bin noch wegen eines anderen Punktes froh über
Ihre Rede, Herr Beck. In Ihrem Antrag ist der Satz enthalten:
Die Diskussion um die Rede des türkischen Ministerpräsidenten ... Erdogan führt ins Abseits.
Ich habe mich gefragt, was dieser Satz soll. Wollen Sie,
dass im Deutschen Bundestag und in der deutschen Öffentlichkeit über diese Rede nicht diskutiert wird? Dann
kann ich mich nur dafür bedanken, dass Sie mit Ihrem
Redebeitrag diese Diskussion begonnen haben. Es besteht überhaupt kein Zweifel daran: Wir wollen würdigen, dass der türkische Ministerpräsident in seiner
Rede in Köln die Deutschen türkischer Abstammung
und die Türken in Deutschland dazu aufgerufen hat,
deutsch zu lernen und sich der deutschen Sprache zuzuwenden. Wir wollen auch würdigen, welche bewegenden und beruhigenden Worte der türkische Ministerpräsident nach der schrecklichen Katastrophe von
Ludwigshafen gefunden hat.
({2})
Wir wollen uns aber auch mit den anderen Aspekten dieser Rede auseinandersetzen, weil sie diskussionswürdig
sind; ich komme darauf noch zurück.
In Ihrem Antrag erklären Sie, dass nicht nur das Lernen der deutschen Sprache für Sie selbstverständlich ist,
sondern auch die Anerkennung der Rechtsordnung und
die Vermittlung unserer Geschichte und kulturellen Traditionen. Wir freuen uns, dass die Grünen endlich auch
in einem Antrag im Deutschen Bundestag eine glasklare
Absage an ihre früheren Vorstellungen von Multikulti
deutlich zum Ausdruck bringen.
Eines ist aber in Ihrem Antrag klar ersichtlich: Die
Grünen halten ihre hehren Grundsätze, die sie in ihrem
Antrag in zwei, drei Überschriften formulieren, dann
nicht durch, wenn es vor allem im Sinne einer wirklich
gelingenden Integration konkret wird und auch konkreter werden muss. Wenn es stimmt, dass deutsche Sprachkenntnisse wichtig sind, dann war es richtig, die Teilnahme an Sprachkursen verbindlicher zu regeln, als dies
bislang der Fall war.
({3})
Wenn deutsche Sprachkenntnisse wichtig sind, dann
wäre es doch besser, sie schon vor der Einreise zu erwerben, um die Integration zu erleichtern. Das sind die
Grundgedanken der von der Großen Koalition beschlossenen Novelle zum Zuwanderungsrecht, gegen die Sie
sich in Ihrem Antrag wieder nachdrücklich wenden.
({4})
Sie haben in Ihrem Antrag zum Ausdruck gebracht,
dass die Diskussion über die Rede von Herrn Erdogan
ins Abseits führe.
({5})
Wir meinen, über diese Rede muss diskutiert werden.
Ich will mich dem Aspekt zuwenden, dass Herr Erdogan
in seiner Rede in Köln auf Deutschland Bezug genommen und Assimilierung verurteilt hat. Hierzu will ich in
aller Deutlichkeit sagen: Niemand erwartet von den
Menschen, die zu uns kommen, dass sie ihre Herkunft
verleugnen und ihre kulturellen Wurzeln zu ihrer angestammten Heimat kappen. Aber wir erwarten von allen,
die auf Dauer in Deutschland leben wollen, dass sie mit
uns leben wollen und nicht neben uns her in Parallelgesellschaften.
({6})
Die Rede von Herrn Erdogan hat viele Fragen, die für
das Zusammenleben der Migrantinnen und Migranten
und der Mehrheitsbevölkerung in Deutschland wichtig
sind, leider nur am Rande gestreift. Die Lebenssituation
von Mädchen und Frauen, Gleichberechtigung und
Integration - das kam in der Rede von Herrn Erdogan
mit keinem Wort vor. Einen großen Raum nahmen dagegen die Leistungen seiner Regierung für die Türkei ein.
Die Rede war ein Appell, als Türke in Deutschland der
Türkei die Treue zu halten. Das entspricht nicht unserem
Verständnis von Integration.
Da der türkische Ministerpräsident deutsche Staatsbürger mit türkischen Wurzeln wörtlich dazu aufgerufen
hat, in Deutschland politischen Lobbyismus für die Türkei zu betreiben, sage ich ganz klar: Diesem Anspruch
auf Instrumentalisierung deutscher Bürger treten wir entschieden entgegen.
({7})
Für alle in Deutschland gilt: Vereinnahmung für ein anderes Land ist in niemandes Interesse. Dies ist vor allem
auch nicht im Interesse der zugewanderten Menschen.
Ich freue mich, dass wir uns in der Großen Koalition
in der Bewertung dieses Teils der Rede von Herrn
Erdogan sehr einig sind. Unsere Kollegin Akgün hat zu
der Art der Kundgebung und der Werbung dafür zu
Recht gesagt:
Mit solchen Dingen werden unsere jahrzehntelangen Bemühungen um Integration fahrlässig kaputt
gemacht.
Wir stimmen der Kollegin Akgün in dieser Bewertung
ausdrücklich zu.
({8})
Wir stimmen auch dem Fraktionsvorsitzenden der SPD,
Herrn Kollegen Struck, zu, der gesagt hat, die Rede von
Herrn Erdogan habe den Eindruck vermittelt, dass Herr
Erdogan „eine Parallelgesellschaft in Deutschland will
oder zumindest bereit ist, eine solche Entwicklung zu
fördern“.
Ich möchte mich noch einem Aspekt zuwenden, den
die Grünen in ihrem Antrag auch angesprochen haben.
Frau Staatsministerin Böhmer wird dann auf die Integrationspolitik der Bundesregierung und auf die Umsetzung
des Nationalen Integrationsplans eingehen, und Kollege
Grindel wird sich mit den Erfolgen des legislativen Handelns in der Integrationspolitik befassen. Ich möchte darauf zu sprechen kommen, dass Sie sich für eine rechtliche Gleichstellung des Islams einsetzen. Ich glaube,
Sie müssen die Wirklichkeit ein bisschen differenzierter
wahrnehmen. Sie sollten würdigen, dass es eine deutsche
Islamkonferenz unter Vorsitz des Bundesinnenministers
gibt.
({9})
Der Bundesinnenminister führt wichtige Gespräche mit
den Muslimen in Deutschland. In Kürze wird eine ganze
Reihe von operativen Maßnahmen zu erwarten sein. Das
sollten Sie würdigen. Das tun Sie in Ihrem Antrag aber
mit keinem Wort.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck?
Gerne gestatte ich eine Zwischenfrage des Kollegen
Beck.
Bitte.
Vielleicht kennen Sie als Koalitionsmitglied ja Interna, die öffentlich nicht bekannt sind. Gibt es irgendein
Konzept oder einen Fahrplan für die religionsverfassungsrechtliche Integration des Islams? Sie wissen,
dass es derzeit keine anerkannten islamischen Religionsgemeinschaften gibt. Bei allen Themen der Integration
- Ausbildung von deutschsprachigen Imamen und Religionslehrern oder Durchführung von konfessionellem
Religionsunterricht - ist es ein Problem, dass der Staat
keinen Partner im religiösen Bereich hat. Daher lautet
meine Frage: Gibt es einen Fahrplan für die Islamkonferenz, und will man dort die Voraussetzungen schaffen,
damit alle integrationspolitischen Maßnahmen, die sich
daraus ableiten, endlich auf den Weg gebracht werden
können?
Lieber Kollege Beck, über all diese Maßnahmen wird
gesprochen. Ihre Frage insinuiert, dass Sie sich vorstellen, wir könnten von Regierungsseite aus die Muslime in
Deutschland zwangsverfassen, damit wir einen Ansprechpartner haben. Das muss doch von unten nach
oben kommen. Das Staatskirchenrecht in Deutschland
steht jeder Religionsgemeinschaft offen. Vielleicht unterhalten Sie sich einmal mit dem Zentralrat der Juden in
Deutschland oder den liberalen jüdischen Gemeinden.
Die können Ihnen etwas darüber sagen, wie das Staatskirchenrecht in Deutschland praktisch funktioniert.
({0})
Lieber Kollege Beck, liebe Freunde, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ich hätte mich gefreut, wenn Sie in Ihrem Antrag den Bemühungen der
christlichen Kirchen in Deutschland, mit den Muslimen
zu einem ehrlichen und offenen Dialog zu kommen, ein
Stück weit Rechnung getragen hätten. Sie sagen kein
Wort zur EKD-Handreichung „Klarheit und gute Nachbarschaft“.
({1})
Ich finde es sehr gut, dass der neue Vorsitzende der
Deutschen Bischofskonferenz, Robert Zollitsch, gesagt
hat, dass die Kirchen es begrüßen würden, wenn den
muslimischen Schülern in Deutschland islamischer Religionsunterricht - unter dem Dach der deutschen Schulaufsicht - erteilt würde, allerdings unter Beachtung des
Grundsatzes, dass ein solcher Religionsunterricht in
deutscher Sprache stattfindet.
({2})
Ich meine - damit will ich zum Schluss kommen -,
wir haben als Mehrheitsgesellschaft den politischen und
gesellschaftspolitischen Auftrag, bei der Integration das
Prinzip von Fördern und Fordern durchzuhalten. Die
Kritik, die Seyran Ates uns vor kurzem in Erinnerung
gerufen hat, sollte endlich etwas bewegen - ich darf mit
dem Zitat enden -: Die Mehrheitsgesellschaft schaut
weg, etwa, wenn türkische Mädchen von den Familien
aus dem Schwimmunterricht genommen werden oder
nicht mit auf Klassenfahrt dürfen. Dann sagen sich viele
Deutsche: Soll halt jeder nach seiner Fasson selig werden. Das klingt tolerant, aber diese Multikultiromantik
bewirkt genau das Gegenteil von Toleranz.
({3})
Unsere Devise lautet: Hinschauen, nicht wegschauen.
Nur mit Fördern und Fordern bringen wir die Integration
voran. Diesen Weg beschreibt der Nationale Integrationsplan. Diesen Weg gehen wir weiter.
Herzlichen Dank.
({4})
Sibylle Laurischk ist die nächste Rednerin für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Beck, ich muss Sie nun doch als Ersten ansprechen. Sie haben im Zusammenhang mit der Integrationspolitik gerade von realistischen Träumen gesprochen.
Ich denke, das ist ein Widerspruch in sich. Das ist ein
Widerspruch, den Sie mit dem Antrag „Integrationspolitik der Bundesregierung - große Kluft zwischen
Anspruch und Wirklichkeit“ unterstreichen. Ich möchte
betonen, dass die FDP eine realistische Integrationspolitik verfolgt und sich nicht in Träumen bewegt, wie
Sie es offenbar tun.
({0})
Die Integrationspolitik stand aufgrund des fürchterlichen Brandunglücks in Ludwigshafen und des Besuchs
des türkischen Ministerpräsidenten in Deutschland in
den jüngsten Tagen wieder sehr im Zentrum der Aufmerksamkeit. Um es klar zu sagen: Der FDP geht es
nicht um Assimilation - das würde unserem Verständnis
vom freien Menschen auch gar nicht entsprechen -, sondern um Integration und um das Miteinander aller Menschen in dieser Gesellschaft auf der Basis unseres
Grundgesetzes.
({1})
Der Auftritt von Herrn Erdogan in Köln und die begeisterte Reaktion seiner Zuhörer und Zuhörerinnen haben uns schlagartig deutlich gemacht, dass Integrationspläne und -gipfel Schritte auf einem Weg sind, der noch
lange nicht zu Ende ist.
({2})
In diesem Land leben Menschen aus unterschiedlichen
Herkunftsländern zusammen mit Deutschen, die ihrerseits Migrationserfahrungen haben. Ich meine damit die
Erfahrung in vielen deutschen Familien, dass nach
Flucht und Vertreibung eine neue Heimat gefunden werden musste. Wir haben in diesem Land viel Integrationserfahrung. Ich halte es für eine echte Zukunftsaufgabe,
Integration, also das friedliche Zusammenleben aller
Menschen, in Deutschland zu erreichen. Dazu gehört
auch, dass wir uns alle an die hier geltenden Gesetze halten. Ich hätte es sehr begrüßt, wenn Herr Erdogan deutlich gemacht hätte, dass zum Beispiel die Zwangsheirat
in der Türkei verboten ist,
({3})
genauso wie es gemäß Strafgesetzbuch in Deutschland
der Fall ist.
({4})
Gerade die Zwangsheirat ist ein Beispiel dafür, wie
Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen können.
Wir als FDP-Fraktion haben die Gesetzgebung, die zur
Verhinderung von Zwangsheirat den Spracherwerb im
Ausland für Zuwanderungswillige, insbesondere für
Ehefrauen aus der Türkei, notwendig macht, kritisiert
und halten sie für verfassungsrechtlich problematisch.
Wir werden sehen, wie es bewertet wird. Erste Urteile
dazu gibt es ja bereits.
({5})
Wir sind allerdings der Meinung, dass der Schlüssel
zur Integration der Erwerb der deutschen Sprache ist.
({6})
Wir haben dies in unserem sogenannten Sprachantrag
schon lange deutlich gemacht. Selbstverständlich sagen
wir auch, dass es gut ist, weitere Sprachen - durchaus
auch mehr als ein oder zwei Fremdsprachen - zu beherrschen. Wir leben in einem Land, das vom Export abhängig ist. Insofern ist es gerade im Hinblick auf unsere
wirtschaftliche Entwicklung wichtig, dass Sprachen erlernt werden und über die deutsche Sprache hinaus Sprachen beherrscht werden. Ich meine, dies ist ein Defizit in
der deutschen Integrationspolitik, das uns nicht klar ist.
Es muss für uns alle selbstverständlich werden, anzuerkennen, was Migranten mitbringen, nämlich die
Kenntnis einer anderen Sprache, in vielen Fällen eine
Berufsausbildung, die hier oftmals nicht anerkannt wird,
oder auch Sitten und Gebräuche, die eine Bereicherung
sein können. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der
Thematik, die frei vom nächsten Wahlerfolg, aber auch
frei von überzogenen Schlagzeilen ist, ist notwendig.
Die neueste Medienstudie belegt, dass Ausländer in
deutschen Medien überwiegend in negativen Zusammenhängen dargestellt werden. Dies ist ein Beleg dafür,
welche enormen Anstrengungen noch unternommen
werden müssen, um zu einem gesellschaftlichen Miteinander zu kommen, das den Begriff der Integration verdient.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Schlagzeile eines Artikels in der Zeit vom 14. Februar 2008
verweisen: „Die Mauer muss weg!“. Das ist ein sehr guter Artikel, den ich nur empfehlen kann. Darin wird unter anderem darauf hingewiesen, dass wir das Miteinander mit den Ausländern, die hier leben, immer noch zu
wenig als Wir verstehen und dass wir das Wir für alle
Menschen, die hier leben, beanspruchen sollten und daSibylle Laurischk
bei nicht innerlich nur uns als Deutsche verstehen sollten.
Schließlich lässt man die Probleme der Integration
mit einer inneren Abwendung eher verschwinden. Wer
sagt, die Ausländer seien so oder so, ändert nichts an den
Zuständen, sondern erklärt sich für nicht zuständig. Das
müssen wir ändern. Insofern fand ich es interessant,
kürzlich in einem Artikel in der Stuttgarter Zeitung zu
lesen, dass der Ausländeranteil in Deutschland sinkt. Er
sinkt nicht, weil die Menschen Deutschland verlassen,
sondern weil sie die Einbürgerung beantragen und Deutsche werden.
({7})
Sie nehmen ein Integrationsangebot an, das wir sehr
ernst nehmen sollten. Sie entscheiden sich für dieses
Land. Sie leben hier als Deutsche.
({8})
Damit ist das Wir, von dem ich gerade gesprochen habe,
erreicht. Das müssen wir weiterentwickeln.
Ich komme zum Schluss. Ein wechselseitiges Abschotten bringt uns im globalen Wettbewerb nicht weiter.
Nur die Länder, die integrationsfähig sind, werden eine
echte Entwicklungschance haben. Ich plädiere für die
Einrichtung einer Enquete-Kommission zum Thema Integration. So könnten wir alle lernen, und unsere Anstrengungen würden sich nicht in gelegentlichen Debatten oder Integrationsgipfeln erschöpfen.
({9})
Das Gelingen von Integration ohne Kluft zwischen
Anspruch und Wirklichkeit ist eine Zukunftsfrage für
dieses Land und für Europa.
({10})
Das Wort erhält nun der Kollege Fritz Rudolf Körper,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
dem Eröffnungsapplaus bin ich zufrieden.
Ich bin ein bisschen traurig und enttäuscht darüber,
wie der Kollege Volker Beck diese Debatte begonnen
hat.
({0})
Denn ich glaube, diese Debatte ist nicht dazu geeignet,
künstliche Konflikte hervorzuheben oder sogar persönliche Fehden auszutragen.
({1})
Das wird der großen Herausforderung, die die Integration in Deutschland darstellt, nicht gerecht.
({2})
Das sage ich in aller Ruhe, weil ich der Auffassung
bin, dass man dieses Thema umschreiben muss. Dann
kann man erkennen, um welche Dimension es dabei
geht. Wir waren eine Zeit lang heftig umstritten, als wir
gesagt haben: Deutschland ist ein Einwanderungsland.
Das wurde bestritten. Fakt ist aber: Deutschland ist ein
Einwanderungsland.
({3})
Tatsache ist, dass 15 Millionen Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund in unserem Land leben.
Ich weiß, dass der Begriff „Migrationshintergrund“ strittig ist; mir fällt im Moment aber kein besserer Begriff
ein.
({4})
Wenn man vor diesem Hintergrund über Integration
redet, dann müssen wir betonen, dass die Integration eines Teils dieses Personenkreises als gelungen betrachtet
werden kann. Dafür gibt es Beispiele. Man sollte für Integration werben, indem man diese Beispiele in den Mittelpunkt rückt.
({5})
Das sage ich nicht, um die Integrationsdefizite, die
bei vielen festzustellen sind, zu verniedlichen oder vergessen zu machen. Überhaupt keine Frage: Diese Integrationsdefizite haben auch einen Namen, beispielsweise mangelnde oder überhaupt keine Kenntnisse der
deutschen Sprache oder Mangel an Ausbildung und
schulischer Bildung. Die Zahlen, die im Rahmen der Integrationsgipfel zugrunde gelegt wurden, sind schon erschreckend. Ich bin der Auffassung, mit diesen Fragen
müssen wir uns fernab des üblichen parteipolitischen
Geplänkels beschäftigen. Bund, Länder, Gemeinden und
die gesamte Gesellschaft haben die Aufgabe, weiterhin
für eine gelingende Integration zu sorgen.
({6})
Integration ist sehr einfach zu definieren. Integration
heißt Teilhabe. Diese Teilhabe hat rechtliche, ökonomische, soziale und politische Gesichtspunkte. Meine Damen und Herren, Ziel einer guten Integrationspolitik ist,
allen dauerhaft und rechtmäßig in Deutschland lebenden
Menschen unabhängig von ihrer Herkunft und ihrer Religion gleiche Teilhabechancen zu ermöglichen. Das ist
der Auftrag.
({7})
Ich bin der Auffassung, nur so können wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt wahren und die Entwicklung
von Parallelgesellschaften verhindern.
({8})
Ich will auf das, was der türkische Ministerpräsident
gesagt hat, nicht im Einzelnen eingehen. Ich will mich
darauf beschränken, ihm zu sagen: Forderungen, die darin münden, Parallelstrukturen oder sogar Parallelgesellschaften in unserem Lande zu schaffen, lehnen
wir ab, und wir werden so etwas zu verhindern wissen.
Das muss man klar sagen.
({9})
Eine gelingende Integration setzt faire Chancen und
eine klare Rechtsordnung voraus. Die Grundlage ist relativ leicht zu beschreiben: die Anerkennung der Werte
und Normen unserer Verfassung. Konkret: Die Achtung der Menschenwürde, der Gleichberechtigung von
Mann und Frau, der Meinungsfreiheit, der Glaubensfreiheit und eine eindeutige Distanzierung von Gewalt, das
ist der Wertekanon, der Werterahmen, innerhalb dessen
Integration stattzufinden hat.
({10})
Natürlich gilt die Devise „Fördern und Fordern“; aber
es muss auch „Fordern und Fördern“ gelten. Man muss
die Chance auf eine faire Teilhabe schaffen. Ziel unserer
Integrationspolitik muss die volle gesellschaftliche Teilhabe sein. Diese wird meines Erachtens erst durch Einbürgerung erreicht. Das Ergebnis einer gelungenen Integration muss die Einbürgerung sein. Leider ist es so,
dass die Zahl der Einbürgerungsverfahren und Einbürgerungsentscheidungen in den letzten Jahren zurückgegangen ist.
({11})
Wir müssen deshalb dafür werben, dass von der Möglichkeit zur Einbürgerung verstärkt Gebrauch gemacht
wird. Ich will dabei nicht verhehlen, dass ich der Auffassung bin, dass wir im Sinne gelingender Integration eine
vernünftige Regelung für das Optionsmodell finden
müssen.
({12})
Lassen Sie mich deutlich machen: Integrationspolitik
ist keine Nischenpolitik. Integrationspolitik ist auch
nicht mit Minderheitenpolitik zu verwechseln. Integrationspolitik ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe;
das wird ja an der Anlage des Nationalen Integrationsplanes deutlich. Integrationspolitik setzt ein interkulturelles Politikverständnis voraus. Sie wird nur - davon
bin ich zutiefst überzeugt - in parteiübergreifendem
Konsens möglich sein. Es ist wichtig, dass wir diesen
Konsens herzustellen versuchen.
Ich will auch ein Wort zur aktuellen politischen Debatte verlieren. Ich finde es sehr schade, dass der hessische Ministerpräsident im Landtagswahlkampf durch
seine Aussagen zur Kriminalität von jugendlichen Ausländern das für eine gelingende Integrationspolitik erforderliche Klima heftig erschüttert hat.
({13})
Es ist schade, dass wir in der Debatte, die er ausgelöst
hat, einen Rückfall in alte Klischees, die einer gelingenden Integrationspolitik nicht das Wort reden, erleben
mussten.
({14})
Zu diesen Aussagen hätte ich mir von Ihnen, liebe Frau
Böhmer, insbesondere aber von der Bundeskanzlerin
mehr Differenzierendes, mehr Distanzierendes und weniger Relativierendes gewünscht.
({15})
Dadurch hätten Sie einen guten Beitrag zu einer gelingenden Integrationspolitik in Deutschland geleistet.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({16})
Das Wort hat nun Kollegin Sevim Dağdelen, Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist leider so: Vor mir kam eine Sonntagsrede,
und nach mir wird wahrscheinlich auch eine kommen.
({0})
Kommen wir zu dem vorliegenden Antrag der Grünen. In dem Titel des Antrags wird die große Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit beklagt. Ich aber
behaupte, diese gibt es gar nicht. Was ist die integrationspolitische Wirklichkeit in Deutschland? Die Wirklichkeit ist, dass Herkunft sowie soziale Lage über den
Lebensweg in Deutschland entscheiden. Migrantinnen
und Migranten sind dabei besonders betroffen. Sie gehören häufig den sozial benachteiligten Schichten an.
Die Wirklichkeit für sie ist, dass ihre Kinder wegen
der Gebühren oftmals nicht in die Kitas gehen können.
Zudem fehlt es an Angeboten frühkindlicher Sprachentwicklung im Rahmen einer institutionalisierten Tagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren. Der Mangel an
Kita-Plätzen ist in den westdeutschen Ballungsgebieten
extrem hoch, also genau da, wo Migrantinnen und Migranten meistens leben. In den alten Bundesländern beträgt die Versorgungsquote bei unter Dreijährigen lediglich 8 Prozent.
Die Wirklichkeit ist auch, dass Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund der Zugang zu weiterführenden Schulen, zu Ausbildungsplätzen und zu
Hochschulen weitgehend verwehrt bleibt. An den
Hauptschulen sind sie überrepräsentiert, an den Gymnasien hingegen unterrepräsentiert. 17,5 Prozent der ausländischen Jugendlichen beispielsweise verließen 2005
die Schule ohne Schulabschluss. Das ist weit mehr als
bei den deutschen Jugendlichen. Bei ihnen sind es lediglich 7,2 Prozent; auch das ist schlimm genug.
Die Wirklichkeit ist aber auch, dass es seit Mitte der
90er-Jahre einen ungebrochenen Negativtrend bei der
Ausbildungsbeteiligung ausländischer Jugendlicher gibt.
Ihr Anteil an allen Auszubildenden betrug im Jahr 2006
nur noch 4,2 Prozent. 1994 waren es noch 8 Prozent. Die
Ausbildungsquote betrug 2006 bei ihnen 23 Prozent gegenüber 57 Prozent bei deutschen Auszubildenden. Nur
jeder dritte ausländische Jugendliche konnte in eine betriebliche Ausbildungsstelle vermittelt werden. Bei deutschen Jugendlichen war es die Hälfte.
Nach dem im Dezember 2007 veröffentlichten Bericht zur Lage der ausländischen Mitbürgerinnen und
Mitbürger in Deutschland haben ausländische Jugendliche bei freien Berufen die größten Chancen. Dort beträgt
ihr Anteil 7,7 Prozent. Am geringsten sind die Ausbildungschancen mit 2,1 Prozent im öffentlichen Dienst. In
dem vorherigen Bericht aus dem Jahre 2005 betrug diese
Zahl - auch das ist noch jämmerlich, aber immerhin 2,6 Prozent, also deutlich mehr als heute.
Die Wirklichkeit in Deutschland ist auch, dass die Arbeitslosenquote von Migrantinnen und Migranten doppelt so hoch wie die der Gesamtbevölkerung ist. Außerdem befinden sie sich vorwiegend in sogenannten
prekären Arbeitsverhältnissen, zumeist im Niedriglohnbereich. Um die Chancengleichheit am Arbeitsmarkt
- Herr Körper hat in diesem Zusammenhang von Teilhabe gesprochen - herzustellen, müssten circa
700 000 Migrantinnen und Migranten eine Beschäftigung finden. Voraussetzung dafür ist eine identische Erwerbsquote.
Die Wirklichkeit ist auch, dass 38 Prozent der Hartz-IVEmpfängerinnen und -Empfänger in diesem Land einen
Migrationshintergrund haben. Jede fünfte Person mit
Migrationshintergrund muss Grundsicherungsleistungen
in Anspruch nehmen. Bei Personen ohne Migrationshintergrund ist es nur jede 14. Während die Armutsrisikoquote in der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund
bei fast 12 Prozent liegt, liegt sie bei Migrantinnen und
Migranten bei 28 Prozent.
Das ist die integrationspolitische Wirklichkeit in
Deutschland. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen.
Diese Wirklichkeit ist Ihnen aber seit Jahren und Jahrzehnten bekannt. All diese Informationen stammen aus
offiziellen Berichten, meist aus denen der Bundesregierung selbst. Sie predigen Gleichheit - Herr Körper hat
von Teilhabe gesprochen -, schaffen tatsächlich aber
Ungleichheit.
({1})
Sie predigen Integration und schaffen Ausgrenzung.
Das war und ist gewollt. Wie sonst lässt sich erklären,
dass Sie keinerlei Ursachenbekämpfung von all dem betreiben, was Sie hier beklagen? Sie rücken immer wieder
das Erlernen der deutschen Sprache in das Zentrum Ihres
Integrationsverständnisses.
({2})
Konkrete Lösungswege zeigen Sie nicht auf. Hier
herrscht Fehlanzeige! Außer Sanktionen und Sonntagsreden fällt Ihnen hierzu nichts ein.
({3})
Was tut die Bundesregierung im Hinblick auf diese
katastrophale bildungspolitische Bilanz? An keiner
Stelle des Berichts der Bundesregierung wird die frühe
Selektion der Schülerinnen und Schüler durch das dreigliedrige Schulsystem infrage gestellt. Die diskriminierende und benachteiligende Beurteilungspraxis bei der
Aufteilung auf die unterschiedlichen Schulformen spielt
in dem Bericht ebenfalls keine Rolle. Dass Kinder und
Jugendliche mit Migrationshintergrund bei gleicher
Leistung schlechtere Beurteilungen von den Lehrerinnen
und Lehrern bekommen, ist für diese Bundesregierung
offensichtlich überhaupt kein Problem. Die frühe Selektion nach der vierten Klasse im deutschen Bildungssystem ist von Ihnen gewollt; sie wird sogar noch vorangetrieben.
Dies alles passt gut zu der neoliberalen Politik, die Sie
auch sonst betreiben. Ihr Ziel ist nicht die Angleichung
der Lebensverhältnisse, Ihr Motor des Fortschritts ist die
Ungleichheit und die Zementierung der Kluft zwischen
Arm und Reich in unserer Gesellschaft. Sie haben bewusst über Jahrzehnte jede Integrationsförderung unterlassen - das betrifft nicht nur diese, sondern auch die vorangegangenen Bundesregierungen - und stattdessen
eine Politik der gezielten Verweigerung der Integration
und der Verweigerung von Rechten für Migrantinnen
und Migranten gemacht. Im Rahmen der Novellierung
des Zuwanderungsbegrenzungsgesetzes von Rot-Grün
sind im letzten Jahr folgerichtig noch weitere Verschärfungen festgeschrieben worden. Über all das kommt immer das Deckmäntelchen der Integration. Es hört sich
natürlich gut an.
({4})
Dabei handelt es sich aber um ein Flüchtlingsabwehrund Desintegrationsgesetz.
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
Diese Politik setzen Sie unbeirrt fort. Nicht umsonst
verweigern Sie den hier geborenen oder lange hier lebenden Menschen die Beteiligung am politischen Willensbildungsprozess. Ich hoffe, dass Frau Böhmer die
Güte haben wird, einmal zu erklären, warum sie, wenn
sie sagt, dass das kommunale Wahlrecht nicht ausreiche,
nicht das aktive und passive Wahlrecht insgesamt fordert, wie wir es zusammen mit den Grünen getan haben.
({5})
Meine Damen und Herren, bei dieser erfolgreichen
Integrationspolitik, nein, Desintegrationspolitik
({6})
- Ausnahmen bestätigen die Regel - ist es auch nicht
verwunderlich, dass laut einer Umfrage nur 14 Prozent
der Migrantinnen und Migranten aus der Türkei ihre Anliegen bei der Bundesregierung in guten Händen sehen.
Wie das Essener Zentrum für Türkeistudien gestern mitteilte, fühlt sich ein Viertel von Parteien gut vertreten,
29 Prozent von Gewerkschaften und 32 Prozent von Migrantenselbstorganisationen. Allerdings sehen 27 Prozent - das ist das Schlimmste an dieser Mitteilung - die
türkische Regierung als Vertreterin ihrer Interessen an.
Hier muss sich die Bundesregierung schon einmal fragen
lassen, warum das so ist. Der Grund liegt auf der Hand:
die Wirklichkeit der Lebensverhältnisse dieser Menschen in Deutschland.
Wenn Sie von Integration sprechen, Herr Körper und
wie Sie alle heißen mögen, und damit Teilhabe meinen,
dann will ich Ihnen deutlich machen, was Sie für die
Teilhabe dieser Menschen in Deutschland tun können.
Sie müssen das dreigliedrige Schulsystem abschaffen
und eine gemeinsame Schule für alle schaffen, damit
auch diese Kinder und Jugendlichen Teilhabechancen in
Deutschland wahrnehmen können.
({7})
Es bedarf zusätzlicher Mittel für Krippen, Kindergärten,
Schulen, Hochschulen, berufliche Bildung und Weiterbildung. Nur so kann die Teilhabe in unserer Gesellschaft gelingen. Wenn nicht der soziale Status über den
Bildungsweg entscheiden soll, bedarf es einer gebührenfreien Kinderbetreuung auch in Kindergärten. Studiengebühren lehnen wir ebenfalls ab, weil sie einen sozialen
Selektionsfaktor darstellen, der sich gerade bei jungen
Migrantinnen und Migranten bemerkbar macht.
({8})
Wenn Sie Jugendliche mit Migrationshintergrund besser integrieren wollen, dann müssen Sie die Unternehmen der Privatwirtschaft und den öffentlichen Dienst in
die Verantwortung nehmen. Deshalb ist eine gesetzliche
Ausbildungsplatzumlage erforderlich, nicht aber ein
Ausbildungsbonus, wie er von Ihnen beschlossen und
hier am Mittwoch von Ihrem Arbeitsminister erläutert
wurde. Wenn Sie nicht wollen, dass Migrantinnen und
Migranten im Niedriglohnbereich ausgebeutet werden,
müssen Sie einen gesetzlichen Mindestlohn einführen
und die Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse umwandeln.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Wenn Sie
von Fachkräftemangel schwadronieren, dann fordere ich
Sie auf, endlich die biografischen Lebensleistungen der
500 000 Menschen anzuerkennen, die einen im Ausland
erworbenen akademischen Abschluss haben, der in
Deutschland bis heute nicht anerkannt worden ist. Dann
haben Sie auch Fachkräfte, die Sie einsetzen können.
Es ging in den letzten Jahrzehnten nie um Teilhabe
und tatsächliche Integration von Migrantinnen und Migranten. Es ging vor allem im Interesse der kapitalistischen Wirtschaftsordnung immer nur darum, die bestehenden Ungleichheiten zu zementieren.
Ich fordere Sie auf: Wenn Sie Integration wollen,
dann schaffen Sie die notwendigen Rahmenbedingungen, damit die Migrantinnen und Migranten nicht mehr
bekämpft werden, sondern tatsächlich an unserer Gesellschaft teilhaben können.
({9})
Ich erteile Staatsministerin Maria Böhmer das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Auf Ihre heutige Rede, Herr Beck, muss ich
erwidern: Sie geben immer vor, sich schützend vor die
Migranten zu stellen. Das machen Sie aber nur scheinbar. Was Sie heute und in den letzten Tagen gemacht haben, ist Wahlkampf pur. Sie wollen spalten, statt zusammenzuführen. Das schadet der Integration.
({0})
Zugleich lenken Sie seit Wochen und Monaten von
den Defiziten Ihrer Integrationspolitik ab. Die Kollegin
Dağdelen hat seitenweise aus meinem Lagebericht zitiert, den ich im Dezember vorgelegt habe. Diesem Bericht liegen die Zahlen aus den Jahren 2005 und 2006
zugrunde. Das ist in der Tat eine bittere Abschlussbilanz
der grünen Integrationspolitik. Die Defizite sind erheblich.
({1})
Ich will nur zwei Daten anführen. Bei Migranten ist
das Risiko der Arbeitslosigkeit doppelt so hoch wie bei
Deutschen. Ursache dafür sind fehlende oder unzureichende Abschlüsse. Rund 40 Prozent der Erwerbstätigen
mit Migrationshintergrund in Deutschland haben keinen
beruflichen Abschluss. Das belegen die Zahlen des Jahres 2005.
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
({2})
Besonders dramatisch ist, dass die Ausbildungsbeteiligung der jugendlichen Ausländer bis 2006 auf 23 Prozent gesunken ist. Auch das ist ein Ergebnis Ihrer mangelnden Bemühungen.
({3})
Sie hätten die Chance gehabt, gegenzusteuern. Sie hätten
Betroffene ins Bundeskanzleramt einladen und Integrationsgipfel durchführen können. Warum haben Sie das
nicht getan?
({4})
Ein Blick in Ihren Antrag zeigt, dass Sie sich mittlerweile nicht mehr nur auf das Ausländerrecht konzentrieren. Ihr Antrag liest sich wie die Kurzfassung des Nationalen Integrationsplans. Schön, dass Sie dazugelernt
haben; es ist gut, dass Sie sich auf diesen Weg machen.
({5})
Sie sind herzlich dazu eingeladen. Sie fordern eine umfassende Sprachförderung, den Ausbau der verpflichtenden Deutschkurse, die interkulturelle Öffnung der Kommunen und die Gleichberechtigung von Mann und Frau.
Nur: Was Sie fordern, haben wir schon längst auf den
Weg gebracht.
({6})
Das ist der entscheidende Unterschied. Wir haben in
der Integrationspolitik umgesteuert. In diesem Zusammenhang danke ich den beiden Koalitionsfraktionen, die
mit großer Vehemenz und großem Engagement dieses
Umsteuern mit voranbringen.
Herr Körper, ich darf noch einen Schritt weitergehen
als Sie. Sie haben gesagt, Deutschland sei ein Einwanderungsland. Ich meine, wir sind inzwischen mehr als ein
Einwanderungsland: Wir sind ein Integrationsland.
({7})
Denn uns verbindet das Anliegen, den 15 Millionen
Menschen mit Migrationshintergrund in unserem Land
eine Heimat zu geben und sie zu integrieren.
({8})
Wir haben Integration als Querschnittsaufgabe definiert und sie in den Mittelpunkt unserer Politik gerückt.
Integration heißt - das wird von beiden Koalitionsfraktionen und von der FDP vertreten - gleichberechtigte
Teilhabe. Das ist der Kern unserer Politik, und das heißt
auch, zu Deutschland und zu unseren Werten Ja zu sagen. Darauf werden wir uns stützen.
({9})
Die Regierung und die Große Koalition haben die
zentralen Handlungsfelder der Integration konkret aufgegriffen. Dazu gehören gute Deutschkenntnisse - das
ist das A und O - als Grundlage der Integration. Dafür
unternehmen wir große Anstrengungen. Wir geben für
die Integrationskurse inzwischen 155 Millionen Euro
aus.
({10})
Damit ermöglichen wir Verbesserungen im Bereich der
Integration. Das war das erste große Thema im Nationalen Integrationsplan.
Die Bundesregierung weiß, dass sie hier in einer besonderen Verantwortung steht. Wir haben eine Vorreiterfunktion im Zusammenhang mit dem Nationalen Integrationsplan wahrzunehmen. Ich bin sehr dankbar, dass
es hier im Parlament und durch das Vorangehen des Innenministeriums gelungen ist, die Integrationskursverordnung pünktlich zum neuen Haushaltsjahr in Kraft treten zu lassen. Das schafft die Möglichkeit, dass mehr
Menschen, die zu uns gekommen sind, die deutsche
Sprache - wie gesagt, das A und O - lernen können.
({11})
Wir sehen heute, dass die Sprachförderung in jedem
Kindergarten dazugehört. Sprachförderung von Anfang
an ist die wichtigste Investition in die Zukunft unserer
Kinder.
({12})
Wir setzen aber nicht nur auf die nachholende und die
begleitende Integration. Vielmehr fördern wir auch die
vorbereitende Integration. Das wird von beiden Koalitionsfraktionen mitgetragen. Es bedeutet einen Paradigmenwechsel in der Integrationspolitik, wenn wir jetzt
von denjenigen, die im Rahmen des Ehegattennachzugs
nach Deutschland kommen, nicht nur erste Deutschkenntnisse verlangen, sondern ihnen auch konkrete Hilfestellung beim Erwerb dieser Kenntnisse durch
Deutschkurse an den Goethe-Instituten in der Türkei geben.
({13})
Das ist keine Zumutung, sondern eine Erleichterung bei
der Integration in unserem Land.
({14})
Lassen Sie uns die Menschen ermutigen und nicht
entmutigen! Das ist ein wesentliches Element der Integration. Wir beschreiten mit dem Nationalen Integra15440
tionsplan neue Wege und eröffnen neue Chancen. Aber
dazu gehört auch, dass auch die andere Seite die neuen
Wege gerne geht.
({15})
Frau Böhmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Dağdelen?
Nein, das gestatte ich nicht; denn die Kollegin
Dağdelen hat ausreichend aus dem Lagebericht zitiert.
Sie braucht das jetzt nicht fortzusetzen.
Es ist aber auch klar: Sprachkenntnisse allein genügen nicht. Wir müssen alles daran setzen, die Perspektivlosigkeit gerade der jungen Menschen zu überwinden.
Deshalb sind wir uns einig - daran werden wir mit aller
Kraft weiterarbeiten -: Bildung und Ausbildung sind
die Schwerpunkte der Integrationspolitik; denn 40 Prozent der Jugendlichen aus Zuwandererfamilien verfügen
über keinerlei berufliche Qualifikation. Das müssen wir
überwinden.
({0})
Wir tun etwas dagegen. Wir haben am Mittwoch im
Bundeskabinett eine Qualifizierungsinitiative beschlossen. Diese Qualifizierungsinitiative und insbesondere
der Ausbildungsbonus, mit dem wir 100 000 zusätzliche
Ausbildungsplätze gerade für die Altbewerber schaffen
wollen, werden den Jugendlichen aus Migrantenfamilien
zugutekommen. Dafür werden wir uns einsetzen.
({1})
Weil Sie immer über Geld reden: Wir geben rund
750 Millionen Euro aus. Hinzu kommen nun die Beträge
aus der Qualifizierungsinitiative. Allein für den Ausbildungsbonus ist ein Volumen von 450 Millionen Euro
und für die Bildungsbegleiter ein Volumen von
240 Millionen Euro vorgesehen. Damit wollen wir den
Jugendlichen die Möglichkeit geben, einen besseren
Schulabschluss zu erreichen und ein Ausbildungsverhältnis einzugehen. Wir werden im Rahmen des Ausbildungspaktes alles daransetzen, den Negativtrend zu
stoppen. Wir brauchen die Wirtschaft an unserer Seite.
Politik allein kann es nicht richten. Wir werden den
Schwerpunkt bei den Migranten setzen. Ich selbst werde
im April den Startschuss für ein bundesweites Netzwerk
„Bildungs- und Ausbildungspaten“ geben. Damit ist
klar: Wir reden nicht nur über Integration, sondern wir
handeln. Ich sage in aller Deutlichkeit: Das Jahr 2008
wird das Jahr der Integration in Deutschland sein.
({2})
Ich möchte noch etwas anfügen, was den Nationalen
Integrationsplan und die Zusammenarbeit mit den Migrantinnen und Migranten betrifft. Wir haben Ernst gemacht: Wir reden nicht übereinander, sondern miteinander.
({3})
Die Migranten und Migrantinnen - nicht nur diejenigen,
die organisiert sind, sondern auch die vielen anderen sind Partner und Handelnde. Sie übernehmen Verantwortung.
({4})
Integration bedeutet auch, bereit zu sein, Verantwortung zu übernehmen. Wir unterstützen die Eigeninitiative und eine aktive Bürgergesellschaft im Bereich der
Integration; denn der Staat allein wird es nicht schaffen.
Wir brauchen eine Bewegung in unserem Land für Integration. Alle müssen das mittragen. Die Integrationspolitik der Bundesregierung zeichnet aus, dass die Migrantinnen und Migranten als Aktive einbezogen sind.
Sie sind nicht mehr das Objekt der Integration, sondern sie sind diejenigen, die Integration verantwortlich
mitgestalten. Das ist eine entscheidende Wendung. Ich
will Ihnen einen Satz zitieren, den ein türkischstämmiger
Student beim Migrantentreffen am 30. Januar im Bundeskanzleramt sagte: Wir sind hier, und wir gehören
dazu. - Ich finde es eindrucksvoll, dass ein junger
Mensch so deutlich zum Ausdruck bringt, dass er in
Deutschland zu Hause ist. Wir wollen alles dafür tun,
dass er nicht nur willkommen ist, sondern dass wir ihm
auch deutlich machen, dass wir ihn brauchen. Vielfalt ist
eine Chance. Das bedeutet auch, dass das Thema Integration überall zu verankern ist. Ich bin sehr froh, dass
die deutsche Wirtschaft den Weg über die Charta der
Vielfalt gewählt hat. 250 Unternehmen haben sich diesem Projekt angeschlossen. Sie beschäftigen mehr als
2 Millionen Migrantinnen und Migranten. Wir haben das
ehrgeizige Ziel, im Jahr 2008 die Zahl zu verdoppeln.
Denn wir betrachten diejenigen, die zu uns gekommen
sind, als eine Bereicherung. Wir wollen das Potenzial
nutzen, und wir wollen gemeinsam nach vorne gehen.
Deshalb lassen Sie mich zum Abschluss sagen: Es
gibt ein altes afrikanisches Sprichwort. Es lautet: Wenn
du schnell gehen willst, gehe alleine, wenn du weit gehen willst, gehe gemeinsam! - Wir wollen weit gehen,
und wir wollen gemeinsam gehen. Ich lade alle hier in
diesem Haus ein, diesen Weg gemeinsam zu gehen; denn
es geht um die Zukunft unseres Landes.
({5})
Das Wort hat nun Josef Winkler, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das war schon ein Hammer, was die Frau
Staatsministerin hier vorgetragen hat, nämlich zu behaupten, sie habe die Integration nach Deutschland getragen wie die Heiligen Drei Könige Weihrauch, Myrrhe
und Gold zum Jesuskindlein. Das ist vielleicht in der
Märchenstunde angebracht. Unsere Fraktion hat bereits
vor drei oder vier Wahlperioden ein Einwanderungsgesetz vorgelegt. Damals haben Sie noch mantraartig behauptet, dass Deutschland kein Einwanderungsland ist.
In der letzten Debatte zu diesem Thema hat das auch ein
Mitglied Ihrer Fraktion hier vorgetragen. Also tun Sie
nicht so, als wären Sie die Erfinderin der Integration.
({0})
Warum ist es denn so, dass viele Migrantinnen und
Migranten in Deutschland sich eben nicht von der Bundeskanzlerin und von der Staatsministerin Böhmer vertreten fühlen? Von Ihnen wird immer mehr Misstrauen in
diesen Communities gesät. Was haben Sie denn hier vorgetragen? Die grüne Fraktion hat einen Integrationsvertrag beschlossen. Ein Vertrag hat zwei Partner mit
Pflichten,
({1})
nämlich auf der einen Seite die aufnehmende Gesellschaft und auf der anderen Seite die Migrantinnen und
Migranten. Ihr Integrationsplan besteht aber zu 75 Prozent aus Verpflichtungen, die die Migrantenverbände zu
erfüllen haben.
({2})
Die Verpflichtungen, die die staatliche Seite eingeht, betreffen überwiegend die Kommunen und die Länder. Ihr
Beitrag zu dieser Debatte fehlt.
({3})
Wo waren Sie bei der Debatte über Roland Koch? Nach
seinen Äußerungen gab es den Brief der mutigen
17 Integrationspolitiker. Den hat zum Beispiel der Kollege Staatssekretär Altmaier, obwohl er im Innenministerium sitzt, wo normalerweise die integrationsunwilligsten Politikerinnen und Politiker untergebracht
werden, mit unterschrieben. Wo war denn Frau Staatsministerin Böhmer bei dieser Debatte?
({4})
Auf der falschen Seite waren Sie. Sie haben zu Herrn
Koch gehalten. Sie als Integrationsbeauftragte sollten
sich dafür wirklich schämen.
({5})
Wenn jemand wie Frau Kelek, eine Schriftstellerin,
deren Arbeiten ich nicht als wissenschaftlich ansehe,
über eine angeblich religiös bedingte Integrationsunwilligkeit bei muslimischen und insbesondere türkischen
Jugendlichen und Knaben in Deutschland fabuliert, dann
wird diesen Thesen von der Union und Frau Böhmer
breiter Raum eingeräumt. Frau Kelek behauptet zum
Beispiel, dass die türkischen und muslimischen Jugendlichen deshalb zu Gewalttätigkeiten neigen würden, weil
sie zwei blutigen Ritualen ausgesetzt seien, erstens weil
sie beschnitten würden und zweitens weil Tiere geschächtet würden. So jemand ist bei Frau Böhmer gerne
als Kronzeugin für die Integration gesehen. Das ist ein
Grund, warum sich Türkinnen und Türken und türkischstämmige Deutsche nicht mehr von der Bundesregierung
vertreten fühlen. Sie brauchen keine Krokodilstränen zu
vergießen, wenn die lieber Herrn Erdogan Beifall klatschen. Das ist wirklich traurig.
({6})
Sie haben hier etwas zu den Deutschkenntnissen gesagt. Wir haben unter der rot-grünen Bundesregierung
die Aufnahme der Sprachkurse ins Zuwanderungsgesetz
gegen den erbitterten Widerstand der Unionsländer
durchgesetzt. Wir haben durchgesetzt, dass der Bund dafür viele Millionen Euro in die Hand nimmt. Die meisten
Bundesländer, insbesondere die unionsgeführten, nehmen dafür bis heute wenig Geld in die Hand.
({7})
Sie behaupten, Sie redeten mit den Migranten und
nicht über sie. Ein Gespräch hat aber zwei Richtungen:
Sie reden vielleicht beim Integrationsgipfel im Kanzleramt zumindest mit den Verbänden der Migrantinnen und
Migranten; Sie hören ihnen aber nicht zu. Keine einzige
Anregung der Migrantinnen- und Migrantenverbände
wurde ins Zuwanderungsgesetz aufgenommen.
Sie heben immer den Zeigefinger. Mein Kollege Cem
Özdemir aus dem Europaparlament hat deshalb gesagt,
Sie erinnerten ihn eher an das Fräulein Rottenmeier aus
dem Kinderroman Heidi, das den Migranten ständig mit
erhobenem Zeigefinger sagt, was man nicht tun darf.
({8})
So zutreffend hatte es vorher noch keiner formuliert.
Sie sollten die große Reihe der Integrationsbeauftragten aus den Reihen der FDP, der SPD und der Grünen,
aber auch der CDU - vor Jahren gab es auch in der CDU
Integrationspolitiker - nicht so unwürdig fortsetzen, wie
Sie es jetzt tun. Sie müssen sich nicht nur in Sonntagsreden für Integration aussprechen, sondern eine konkrete
Politik betreiben. Integration hört nicht mit dem Erlernen der deutschen Sprache auf. Sprachkenntnisse mögen
der Schlüssel zur Integration sein; aber die Tür muss irgendwann auch einmal geöffnet werden. Sie, Frau
Staatsministerin für Integration, und erst recht die
Unionsfraktion haben dafür bisher wenig getan.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat nun Michael Bürsch für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Als unaufgeregter Norddeutscher werde ich versuchen,
das Thema aus der Polemik und den persönlichen Anwürfen herauszuholen. Allerdings hat Frau Böhmer mit
der Art und Weise, wie sie die Jahre nach 1998 geschildert hat, eine Replik provoziert. Ich möchte einen entspannten Beitrag zur Wahrheitsfindung vortragen.
Frau Böhmer, in der Zeit nach 1998 wurde ein neues
Staatsangehörigkeitsrecht eingeführt, auf dem Sie jetzt
aufbauen. Es hat das alte, von 1913 stammende Abstammungsprinzip durch ein neues, modernes Recht ersetzt,
das an den Geburtsort anknüpft.
({0})
Wir alle erinnern uns, wie das neue Staatsbürgerrecht
1999 von einer bestimmten Partei eines dann gewählten
Regierungschefs aus Hessen nachhaltig bekämpft worden ist. Das war kein hilfreicher Beitrag der CDU zum
neuen Staatsangehörigkeitsrecht.
Ich erinnere an das neue Zuwanderungsgesetz von
2004, das einen enormen Schritt nach vorn bedeutet hat.
Auch darauf bauen Sie jetzt auf. In diesem Gesetz ist
zum ersten Mal überhaupt in einem Gesetz von Integration die Rede; es enthält eine eigene Abteilung über den
Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von
Ausländern. Damit ist die Sprachförderung überhaupt
erst eingeführt worden, und zwar in einer Größenordnung, über die wir jetzt relativ selbstverständlich hinweggehen.
Es gibt einiges aus den letzten zehn Jahren, das wir
um der historischen Wahrheit willen in Erinnerung rufen
können.
({1})
Werte Frau Böhmer, die Integrationspolitik baut insofern
auf den Errungenschaften mindestens des letzten Jahrzehnts auf; ich würde sogar wie Frau Laurischk sagen:
auf den Errungenschaften der letzten 50 Jahre. Als wir
die Integrationspolitik 1998 übernommen haben, erinnerte mich das an den alten Studentenspruch: Unter den
Unionstalaren lag der Muff von 100 Jahren. Den Muff
haben wir in den Jahren nach 1998 beseitigt. Insofern
können wir, wenn wir den Weg gemeinsam gehen wollen, Frau Böhmer, mit einem gewissen Stolz zurückblicken.
({2})
An die Adresse der Grünen sage ich: Rot-Grün war in
Sachen Integration eine Erfolgsgeschichte. Wir haben
den Stab gerne an Sie, Frau Böhmer, weitergegeben.
({3})
Jetzt kommen wir zu dem Antrag der Grünen. Ich
teile die Einschätzung von Frau Böhmer, dass sich vieles
von dem, was Sie aufgeschrieben haben, sehr wohl im
Nationalen Integrationsplan wiederfindet. Ihre Frage
nach Anspruch und Wirklichkeit ist berechtigt; ich
würde sie umformulieren: Ziele und Umsetzung. Der
Nationale Integrationsplan mit seinen 400 Selbstverpflichtungen ist durchaus ein sinnvolles, weiterführendes und zukunftsträchtiges Programm. Was die SPD und
mich jetzt interessiert: Was wird aus diesem formulierten
Anspruch? Was wird aus den Zielen, die man sich gesetzt hat?
({4})
Werte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ich
bitte, ein bisschen mehr Zeit zu geben. Das heißt: Da das
erst im letzten Herbst verkündet worden ist, sollten wir
ein Jahr warten. Diese Zeit sollten wir jeder Regierung
und jedem, der einen solchen Plan auf den Tisch legt, geben. Warten wir ab! Schon in der letzten Debatte darüber
im Herbst habe ich den Wunsch geäußert - ich äußere
ihn erneut -, dass wir hier in diesem Parlament gemeinsam, vielleicht partei- und fraktionsübergreifend, evaluieren, was bei diesen - von Ihnen schon jetzt kritisch bewerteten - 400 Selbstverpflichtungen herausgekommen
ist. Das interessiert die SPD und mich brennend, und das
müsste jeden hier interessieren. Wenn wir diese Evaluierung vorgenommen haben, können wir feststellen, ob der
Anspruch insgesamt, zu 50 Prozent, zu 25 Prozent oder
überhaupt nicht erfüllt worden ist, ob man dem Ganzen
eine „vier minus“ oder eine andere Note gibt.
Kollege Bürsch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Andres?
Ja, gerne.
Herr Kollege Bürsch, ich wollte Sie eigentlich schon
viel früher nach einem Bild fragen, das Sie benutzt haben; es hat ein bisschen gedauert, bis ich meine Frage
stellen kann. Sie haben - für meine Begriffe völlig zu
Recht - gesagt, dass die jetzige Regierung mit ihrer erfolgreichen Integrationspolitik auf dem aufbaut, was
Rot-Grün geleistet hat.
Ja.
Sie haben dann formuliert, Rot-Grün habe den Stab
an Frau Böhmer weitergegeben. Da habe ich etwas gestutzt; denn ich finde, dass dieses Bild so nicht zutreffend ist.
Korrigieren Sie mich!
Ich finde, dass die Große Koalition in diesem Zusammenhang eine erfolgreiche Politik macht. Ich selbst habe
am Integrationsgipfel im Kanzleramt teilgenommen. Ich
finde, dass das, was da gemacht wird, gut ist. Aber das
ist erst dadurch möglich geworden, dass die Union ihre
ausländer- und integrationspolitische Haltung in der
Großen Koalition heftig revidiert hat.
({0})
Das ist nur möglich geworden, weil in dieser Großen
Koalition Integrationspolitik kein Konfliktpunkt mehr
ist, sondern gemeinsam betrieben wird. Insofern haben
wir den Stab nicht an Frau Böhmer weitergegeben, sondern arbeiten ganz erfolgreich zusammen.
Jetzt kommen wir zu Ihrer Frage.
({0})
Ich bedanke mich für den Hinweis.
Ich möchte Sie fragen, ob Sie diese Einschätzung
nicht für zutreffender halten als die Formulierung, man
habe nur den Stab an Frau Böhmer weitergereicht.
Ich schließe mich Ihrer Kritik an meinem Bild hundertprozentig an. Ich suche noch nach dem richtigen
Bild.
Wir haben auf der Grundlage der wunderbaren Vorarbeit der Jahre seit 1998 ein gemeinsames Haus errichtet,
das wir jetzt gemeinsam bewohnen und bewohnen wollen. Wir sollten uns gegenseitig fragen: Habt ihr im Erdgeschoss wirklich das umgesetzt, was wir im Obergeschoss vorgegeben haben?
({0})
Ich revidiere also das Bild mit der Weitergabe des
Stabes und sage: Aus einer Übung der Jahre seit 1998 ist
eine größere gemeinsame Übung geworden. Ich wünsche mir, dass Frau Böhmer, die die Arbeit mittlerweile
übernommen hat, sie im Sinne dessen, was 1998 begonnen worden ist, weiterführt und nicht - entsprechend ihrer heutigen Rede - desintegrativ handelt. Wenn die
Hamburg-Wahl hinter uns liegt, kann sie das besser machen.
({1})
- Das war im Rahmen meiner norddeutschen Möglichkeiten relativ sachlich, Herr Kollege.
Herr Kollege Bürsch, auch die Kollegin Dağdelen
möchte Ihre Redezeit verlängern.
Herr Präsident, jetzt sage ich das, was ich schon zuvor
in Zwischenrufen geäußert habe: Das ğ in Dağdelenspricht man nicht aus. Das habe ich vor zwei Jahren, als
sie in den Bundestag gekommen ist, gelernt.
({0})
- Wir haben doch heute eine Fortbildungsveranstaltung;
insofern können wir das auch noch lernen.
Kollegin Dağdelen, gerne beantworte ich eine Frage,
die Sie stellen wollen.
Lieber Kollege Bürsch, erstens möchte ich mich herzlich dafür bedanken, dass Sie hier festgestellt haben, wie
mein Nachname ausgesprochen wird.
Zweitens. Sie haben, wie Ihr Kollege Andres, darüber
gesprochen, dass die SPD nicht erst mit der Regierungsübernahme von Rot-Grün, sondern schon vor Jahrzehnten angefangen hat, eine migrantenfreundliche Politik zu
betreiben und dass man jetzt gemeinsam vorgeht. Auch
diese von den Grünen angeregte Debatte hat für mich ein
bisschen den Beigeschmack von Wahlkampf. Korrigieren Sie mich, wenn es nicht so ist! Sie meinen, eine migrantenfreundliche Politik betrieben zu haben. Können
Sie mir dann darin zustimmen - das sind relativ
offenkundige Fakten -, dass mit Inkrafttreten des Staatsangehörigkeitsgesetzes zum 1. Januar 2000 die Einbürgerungszahlen radikal gesunken sind, weil Voraussetzungen aufgenommen worden sind, die es vorher nicht
gab, zum Beispiel die Sicherung des eigenen Lebensunterhalts, und zwar in Zeiten von struktureller Massenarbeitslosigkeit, von der Migrantinnen und Migranten am
meisten betroffen sind?
Erinnere ich mich richtig, dass die SPD im Sommer
letzten Jahres ein Gesetz zur Umsetzung von elf EURichtlinien mit beschlossen hat, das letztlich dazu geführt hat, dass bei der Erteilung der Visa für den Ehegattennachzug vom dritten auf das vierte Quartal 2007 eine
Reduzierung um 40 Prozent, im Falle der Türkei um
67,5 Prozent festzustellen ist,
({0})
sodass Menschen erst gar nicht hierherkommen können,
um sich in dieser Gesellschaft irgendwie zu integrieren?
Hat die SPD das nicht mit beschlossen? Wie kann das
mit Ihrer Aussage, dass Sie in den letzten Jahren und
Jahrzehnten eine so migrantenfreundliche Politik betrieben haben, in Einklang gebracht werden?
({1})
Ich freue mich darüber, dass Sie schon in Ihrer Rede
vorhin, aber auch jetzt in Ihrer Zwischenfrage so viele
Zahlen und Fakten vorgetragen haben.
({0})
Ich antworte Ihnen Folgendes:
Ihre Fragen verlangen aus meiner Sicht eine differenzierte Debatte über das Staatsangehörigkeitsrecht, was
eine Debatte über die Frage einschließt, die der Kollege
schon angesprochen hat: Was machen wir mit dem Optionsmodell, das ganz offensichtlich - dabei geht es um
die Größenordnung von mehreren Hunderttausend Menschen - nicht unbedingt funktioniert - so will ich einmal
vorsichtig formulieren -, das uns in eine schwierige
Lage bringen wird?
({1})
Wir sollten wirklich sehr seriös gemeinsam versuchen,
dieses Problem zu lösen. Ihre Frage erfordert, wie gesagt, eine differenziertere Antwort als die, die ich jetzt
hier geben kann.
Meine Position ist die: Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts - sie war dringend nötig -, mit der wir das
alte Recht von 1913, das an die Abstammung angeknüpft hat, ersetzt haben - nun wird an den Geburtsort
angeknüpft -, ist ein gewaltiger Fortschritt
({2})
und hat die Türen wirklich geöffnet. Die Ursachen für
das, was Sie benennen, sind differenzierter und liegen an
anderen Stellen. Dem gehe ich gerne nach. Das können
wir auch im Innenausschuss zum Thema machen. Das
entzieht sich wirklich einer einfachen Antwort. Neues
Staatsangehörigkeitsrecht, neues Paradigma, nämlich
Anknüpfung an den Geburtsort, ist nicht in eine einfache
Gleichung mit Einbürgerungszahlen zu bringen. Darauf
gehe ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen, die zu
dem Thema auch sachkundig sind, gern noch einmal ein.
Ich wollte die Gelegenheit heute nutzen, nicht nur zu
sagen: „Lassen Sie uns in einem Jahr im Parlament - es
geht nicht darum, dass die Regierungsseite schöne Hochglanzbroschüren verbreitet - prüfen, was dabei herausgekommen ist!“, sondern auch fünf Punkte einer „Sozialdemokratischen Agenda Integration“ vorzutragen. Die
Große Koalition ist gut, hat uns auch weitergebracht, aber
es gibt da noch immer eine große Volkspartei SPD, die
ihre eigenen Vorstellungen hat.
Punkt eins: Sprache. Sie ist - das wurde heute schon
oft erwähnt - der Schlüssel zu einer erfolgreichen Integration.
({3})
Das werden wir verfolgen. Der Spracherwerb muss konsequent auf jeder Altersstufe gefördert werden: durch
frühkindliche Sprachförderung in den Kindertagesstätten,
({4})
Ausbau der Förderangebote in allen Schularten, Nutzung
des Ganztagsschulprogramms für spezielle Sprach- und
Bildungsangebote für Kinder und Jugendliche,
({5})
Ausweitung und Verbesserung im Bereich der Erwachsenenbildung und Elternarbeit.
Insbesondere gilt es, die frühkindliche Sprachförderung durch den Einsatz von zweisprachigen Erziehern
mit Migrationshintergrund,
({6})
entsprechenden Broschüren und Fortbildung zu stärken.
Zusätzlich sollte die Feststellung des Sprachstandes
frühzeitig, das heißt vor Schulbeginn, einsetzen und mit
gezielten Förderangeboten verknüpft werden.
({7})
- Bayern ist federführend. Wir schauen uns das gern an.
Schleswig-Holstein hat auch etwas zu bieten. Die große
Vielfalt in den 16 Ländern ist da gefragt.
Zweites Thema - das wurde auch schon erwähnt -:
Bildung/Ausbildung. Menschen mit Migrationshintergrund - mir kam bei der Debatte übrigens der Gedanke,
Kollege Körper, ob man nicht vielleicht „Integrationshintergrund“ sagen sollte, weil das Wort „Migrationshintergrund“ offenbar manche Missverständnisse auslöst haben in Deutschland unbestritten nach wie vor schlechtere Berufschancen. Gerade Jugendliche müssen beim
Übergang zur beruflichen Bildung verstärkt durch spezifische Ausbildungsplatz- oder Berufsvorbereitungsprogramme gefördert werden. Frau Dağdelen, hier sind
nicht nur Staat und Politik gefordert; hier ist auch die
Wirtschaft gefordert, durch zusätzliche Praktika und zusätzliche Ausbildungsplätze den Zugang zu erleichtern.
({8})
Die Bundesregierung macht hier durchaus einen wichtigen Schritt, indem sie im Rahmen ihrer Qualifizierungsinitiative - übrigens auf Betreiben der SPD - einen Ausbildungsbonus für Betriebe einführt, die zusätzliche
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
Ausbildungsplätze schaffen und diese mit besonders förderbedürftigen Altbewerbern besetzen.
Drittes Stichwort: Teilhabe. Das ist von den Kolleginnen und Kollegen angesprochen worden. Ich setze
mich mit der SPD für ein kommunales Wahlrecht für
Ausländer ein. Ich weiß, dass das durchaus umstritten
ist. Es gibt gerade eine Stellungnahme des Landkreistages, in der das kritisch beleuchtet wird. Aber immerhin
wird - wenn ich den Landkreistag zitieren darf - darin
ausgeführt:
Wenn es stimmt, dass Beteiligungsrechte eine wichtige Voraussetzung für die Integration der Ausländer
in Deutschland sind, dann gilt es, dort anzusetzen,
wo es um Entscheidungen geht, die sich unmittelbar
auf die Lebenssituation der Ausländerinnen und
Ausländer auswirken.
Das ist völlig richtig, Landkreistag. An der Stelle sehe
ich auch Handlungsbedarf. Er besteht nicht nur beim
Wahlrecht, sondern auch im Hinblick darauf, in vielfältiger Form Beteiligungsmöglichkeiten auf kommunaler
Ebene zu schaffen.
Viertes Stichwort: Bürgergesellschaft. Netzwerke
für bürgerschaftliches Engagement sollten sich stärker
als bisher für Migrantinnen und Migranten öffnen. Ich
nenne das Beispiel Feuerwehr. Es gibt 1,2 Millionen
Feuerwehrleute. Die Feuerwehr hat vor zehn Jahren eine
Kampagne zur Integration von Frauen in die Feuerwehr
gestartet.
({9})
Wir haben mit dem Feuerwehrverband gesprochen. Jetzt
gibt es eine Kampagne, deren Ziel es ist, dass auch Menschen, die keinen deutschen Pass haben, in diese große
Organisation Feuerwehr hineinkommen.
({10})
Das ist auch für die Feuerwehr durchaus hilfreich; denn
dort gibt es durchaus Nachwuchsprobleme. Es ist aber
auch ein enormes Integrationsprogramm, um in all den
Organisationen - Bürgerinitiativen auf lokaler Ebene,
Katastrophenschutz, Feuerwehr, Sport - die Möglichkeiten zu Teilhabe und Mitgestaltung zu verbessern.
Letztes Stichwort: Kultur. Es geht nicht um die Alternative: entweder Assimilation - was Erdogan vorgetragen hat - oder Parallelgesellschaft. Ich meine, es gibt
einen dritten Weg, nämlich dass zwei Kulturen zusammenkommen und etwas besseres, etwas attraktiveres
Drittes schaffen. Im Rahmen des Integrationsprozesses
in Deutschland bilden sich neue Kulturen heraus, nicht
nur durch die Zunahme der Zahl binationaler Familien,
sondern durch die wachsende Zahl von Jugendlichen der
zweiten und dritten Generation. Der Bereich Interkultur,
Migrantenkultur muss auf Gebieten wie Künstlerförderung, Bildung, Erziehung und Medienpolitik stärker als
bisher berücksichtigt werden.
Ich schließe mit einem Hinweis auf das, was uns alle
hier immer bewegt: Politik ist ein ständiges Ringen um
den richtigen Weg und ist voller Unvollkommenheiten. Das gilt natürlich auch für diese Bundesregierung und
alle Fraktionen hier im Haus. Trost finden wir in der Erkenntnis von Abraham Lincoln:
Staatsmännische Kunst ist der weise Einsatz individueller Unzulänglichkeit für das Gemeinwohl.
In diesem Sinne: frohen Freitag!
({11})
Das Wort hat nun Hartfrid Wolff, FPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist
schon nett, feststellen zu können, dass die Einbringung
dieses Antrages innerhalb der SPD einen Diskussionsprozess darüber ausgelöst hat, welche Bilder man bewirkt und welche nicht. Es ist übrigens sehr schön, dass
man sich jetzt über die Erfolge der Integrationspolitik
streitet und dass Integrationspolitik dadurch überhaupt
erst eine solche Bedeutung erhält. Es gibt aber Punkte in
dem Antrag der Grünen, die sehr unterstützenswert sind.
Daher möchte ich jetzt konkret auf den Antrag eingehen.
Die große Bedeutung der frühkindlichen Bildung
für den Erfolg von Integration, die Verbesserung der
Sprach- und Integrationskurse und ihre Öffnung gerade auch für die nachholende Integration sind Gebiete,
auf denen FDP und Grüne weitgehend übereinstimmen.
Etwas differenzierter sieht die Sache allerdings bei
anderen im vorliegenden Antrag angesprochenen Themen aus, nämlich beim Aufenthaltsrecht und der Einbürgerung und überhaupt bei den integrationspolitischen Grundanforderungen an Migranten. Die Grünen
behaupten in ihrem Antrag, Forderungen nach Erlernen
der deutschen Sprache, nach Anerkennung der Rechtsordnung, nach Vermittlung unserer Geschichte und kulturellen Traditionen seien selbstverständlich. Ich glaube,
hier in diesem Hause können wir dem uneingeschränkt
zustimmen.
Aber gilt das auch für die Zugewanderten und ihre
Nachkommen hier in Deutschland? Ist für sie das Beherrschen der deutschen Sprache wirklich selbstverständlich?
({0})
Glauben die Grünen, dass die Migranten selbstverständlich unsere Rechts- und Werteordnung achten,
({1})
oder haben nicht auch sie Fragen, etwa bezüglich der
Gleichberechtigung der Frau? Herr Beck, da brauchen
Sie gar nicht dazwischenzurufen.
({2})
Hartfrid Wolff ({3})
Wie lange werden diese Forderungen eigentlich in
dieser Klarheit in der deutschen Politik schon erhoben?
Erst der Neuansatz mit dem Zuwanderungsgesetz, bei
dem auch die FDP sich sehr positiv eingebracht hat, hat
es Deutschland ermöglicht, sich als Einwanderungsland
zu verstehen und entsprechende Anforderungen an Migranten zu formulieren. Das ist noch kein Jahrzehnt her.
Insofern scheint es mir nicht nur berechtigt, sondern
auch notwendig, die Erwartungen und Perspektiven seitens der Mehrheitsgesellschaft an die Zuwanderer beständig zu wiederholen: Das Beherrschen der deutschen
Sprache, die uneingeschränkte Akzeptanz unserer
Rechtsordnung und der ihr zugrunde liegenden Wertvorstellungen sowie die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte und Kultur sind Voraussetzungen dafür, hierzulande als Inländer angesehen zu werden.
Diese Akzeptanz, dieses Dazugehören wird nicht
durch staatliche Gesetze und Akte bewirkt, sondern im
alltäglichen Umgang der Menschen miteinander.
({4})
Wer meint, diese Erwartungen nicht mehr darstellen zu
müssen, trägt deshalb leider zum Misserfolg von Integrationsbemühungen bei.
Das hat die Nichtintegration der Generationen von
Zuwanderern bewiesen, die nur als Gastarbeiter gedacht
waren: Deutschland hat seine Ansprüche an Zuwanderer
zu lange Zeit zu wenig artikuliert; das gilt beidseitig.
Dass jetzt offener über Integrationsanforderungen gesprochen wird, schafft eine Perspektive für bessere Integration, und das ist Verdienst aller hier im Haus vertretenen Parteien.
Die Forderung nach Gleichstellung des Islam wird
von der FDP grundsätzlich unterstützt. Anders als die
Grünen meinen wir jedoch, dass es notwendig ist, sich
über die Grundbedingungen dafür zu verständigen. Hier
bleibt der Grünen-Antrag leider sehr vage.
({5})
Eine rechtliche Gleichstellung zu den Kirchen erfordert, dass der Islam unzweifelhaft die Grundwerte unserer Gesellschaft ohne Vorbehalte akzeptiert und mitträgt.
({6})
Dazu gehören die unbedingte Gewaltfreiheit und auch
die Anerkennung der Trennung von Religion und Staat.
({7})
Eine stabile, transparente und beständige Organisationsform des Islam, die in der Lage ist, diese Grundlagen
auch von den örtlichen Einzelgemeinden einzufordern,
ist unerlässlich. Schließlich darf auch nicht andeutungsweise der Anschein erweckt werden, Religion diene als
Vehikel, um Abschottungstendenzen bestimmter Migrantengruppen zu verstärken und Integration zu verhindern.
({8})
Es ist noch sehr viel zu tun. Wer das bei der Forderung nach Gleichstellung übersieht, übersieht berechtigte Ansprüche der Mehrheitsgesellschaft und betreibt
leider manchmal deren Spaltung. Forderungen an Moscheevereine nach Öffnung nach außen, was jetzt vielfach durchaus passiert, nach Kommunikation von Zielen
und Veranstaltungen in deutscher Sprache, nach Achtung der rechtlichen Vorschriften, nach in Deutschland
ausgebildeten Imamen oder nach Transparenz bei Willensbildung wie Finanzierung sind keine Schikane, sondern notwendiger Anspruch einer Gesellschaft, die zu
Recht ein hohes Maß an Religionsfreiheit gewährt.
({9})
Die pauschale Forderung nach Vereinfachung der
Einbürgerung kann missverstanden werden. Wir sollten
die Einbürgerung nicht entwerten, indem wir unsere Erwartungen an Zuwanderer auf ein Maß reduzieren, das
diesen Menschen nichts zutraut. Letztendlich ist festzustellen, dass die Staatsangehörigkeit erst am Ende eines
Integrationsprozesses stehen kann.
({10})
Ich meine, wir sollten die Zuwanderer als freie und
kluge Köpfe achten, die große Anstrengungen unternehmen, sich in unserer Gesellschaft einzubringen. Sie haben unsere Gesellschaft in vielerlei Hinsicht bereichert:
wirtschaftlich, kulturell und menschlich, als Arbeiter
und Angestellte, als Unternehmer und Freiberufler, als
Nachbarn und Freunde. Sie haben - das sage ich ganz
bewusst - unsere Achtung verdient.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Kollege Reinhard Grindel, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ludwigshafen hat uns in bedrückender Weise gezeigt,
dass wir bei der Integration, beim Miteinander statt vorurteilsbehaftetem Gegeneinander noch nicht so weit
sind, wie wir das gehofft haben.
({0})
Ich hoffe, Herr Beck und Herr Winkler, dass die Menschen, die uns zuschauen, jetzt nicht Schuldzuweisungen
persönlicher Art erwarten, wie Sie sie hier betrieben haben.
({1})
Aber ich glaube, die Menschen erwarten auch nicht
ein solches Beispiel von Selbstgerechtigkeit, wie das die
Kollegen Bürsch und Andres hier eben vorgeführt haben. Ich glaube, dass die Menschen ein Gespür dafür haben, dass wir in der Integration noch nicht so weit sind
und dass wir uns nicht in dieser selbstgerechten Art und
Weise gegenseitig Erfolgsgeschichten vorhalten können.
({2})
- Lieber Kollege Bürsch, ich sagen Ihnen, was die Wahrheit ist.
({3})
Die Wahrheit ist, dass es noch nie so viele Jugendliche
ausländischer Nationalität oder mit Migrationshintergrund gab, die ohne Abschluss die Schule verlassen haben, wie am Ende der Regierungszeit von Rot-Grün.
({4})
Es gab noch nie so viele,
(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Äpfel und Birnen,
Herr Kollege!
die keinen Ausbildungsplatz gefunden haben.
({5})
Es gab noch nie so wenige, die sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren, und so viele, die Hartz IV
hatten. Es gibt immer noch Familien, für die Deutsch
keine Rolle spielt, obwohl sie schon seit 20 Jahren bei
uns leben. Da kann man doch nicht von Erfolgsgeschichten sprechen. Da muss man doch anfangen, den Nationalen Integrationsplan Stück für Stück umzusetzen.
({6})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Reichenbach?
Ja, selbstverständlich.
Bitte schön.
Herr Kollege Grindel, da Sie schon bei der Wahrheit
sind, würden Sie auch zugestehen, dass die Verantwortung für das, was Sie zu Recht kritisiert haben, nämlich
die mangelnden Bildungserfolge von Migrantenkindern,
bei den Ländern liegt, deren Kultusminister mehrheitlich
von der Union gestellt werden?
({0})
Herr Reichenbach, es sollte in der Tat zum neuen Stil
der Integrationspolitik gehören - er drückt sich beispielsweise im Nationalen Integrationsplan aus -, dass
alle staatlichen Ebenen zugeben, dass wir auf dem Gebiet der Integration nicht die Fortschritte gemacht haben,
die man hätte machen müssen. Es gibt sicherlich auch
Defizite in der Zeit der unionsgeführten Bundesregierung. Viele von uns haben vielleicht gedacht, es würden
mehr in ihre Heimat zurückkehren, und haben deswegen
falsche Weichenstellungen vorgenommen. In den Ländern - auch in den unionsgeführten Ländern - hätte man
in den letzten 10 bis 20 Jahren bei der frühkindlichen
Förderung und bei der Unterstützung ausländischer Kinder in den Schulen mehr machen können.
Ich sage in aller Deutlichkeit: Der Nationale Integrationsplan ist doch gerade das Fundament für eine neue
Dynamik in der Integrationspolitik. Da brauchen wir uns
doch nicht gegenseitig Erfolgsgeschichten vorzuhalten.
Wir alle haben unsere Defizite. Deswegen müssen wir
alle gemeinsam darangehen, diese aufzuarbeiten.
({0})
Herr Kollege Grindel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?
Ja, selbstverständlich.
Kollege Grindel, da ich diesen Disput mit Interesse
verfolgt habe, darf ich Sie zu der Haltung Ihres Koalitionspartners in Schleswig-Holstein fragen: Wie bewerten Sie die Tatsache, dass die Kultusministerin ErdsiekRave vor etwas mehr als einer Woche türkische Schulen
in Deutschland gefordert hat?
Herr Kollege Koppelin, ich kenne dieses Zitat von
Frau Erdsiek-Rave nicht. Aber ich sage in aller Deutlichkeit, dass ich das nicht für richtig halte. Denn wir brauchen bei der Integration gerade das Miteinander von
deutschen und ausländischen Kindern und nicht ein Nebeneinander, das sich in einer Trennung ausdrückt. Wir
brauchen die frühkindliche Förderung. Auch die Forderung, Türkisch als zweite Fremdsprache in den Schulen
einzuführen, ist in Ordnung. Aber wir brauchen ein gemeinsames Fundament in der Integration. Das heißt, wir
brauchen eine gemeinsame Sprache, gemeinsame Werte
und die Verständigung darauf, dass unsere Gesetze und
Verfassungsprinzipien gelten. Darauf kommt es an. Daher ist die Forderung von Frau Erdsiek-Rave nicht zielführend.
({0})
Lieber Kollege Beck, ich verstehe deswegen überhaupt nicht, dass Sie hier kritisieren, dass der Bund nur
ein Viertel der Selbstverpflichtungen im Nationalen Integrationsplan übernommen hat. Integration kann man
doch nicht zentralistisch nur mit Aufenthaltsrecht und
Staatsbürgerschaftsrecht gestalten. Integration findet vor
Ort, also eher in den Ländern und in den Kommunen,
statt. Zur Integration gehören engagierte Kindergärtnerinnen, Lehrer und Ausländerbehörden, die sich auch als
Integrationsbehörden verstehen.
Wir brauchen Arbeitsvermittler, die den Migranten
helfen. Wir brauchen den Migrationslotsen und den engagierten Außendienstler vom Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge. Wir brauchen in den Sportvereinen
Übungsleiter mit Migrationshintergrund
({1})
und Arbeitgeber, die gerade den Migranten eine neue
Chance geben. Wir brauchen zum Beispiel auch die Mitwirkung von türkischen Tageszeitungen, die mehr Seiten
in Deutsch drucken könnten. All das gehört zusammen.
Integration ist nicht zentralistisch zu machen, sondern ist
nur möglich, wenn alle staatlichen Ebenen beteiligt sind.
({2})
Wir brauchen das Engagement der Kommunen, der
Länder und der Zivilgesellschaft. Lieber Kollege Beck
und lieber Kollege Winkler, ich finde, Sie sollten Ihre
persönlichen Angriffe gegenüber Maria Böhmer vielleicht noch einmal überprüfen.
({3})
Zur Integrationspolitik gehört auch, dass man richtige
Symbole und ein Stück Emotionalität aussendet, um
Menschen zu zeigen, dass sie willkommen sind.
({4})
Ich habe sehr aufmerksam verfolgt, was Maria Böhmer
nach dieser schrecklichen Brandkatastrophe in Ludwigshafen - das ist ja ihr Wahlkreis - getan hat. Ich kann nur
sagen: In dieser emotionalisierten, aufgeheizten Stimmung hat Maria Böhmer die richtigen Worte und die
richtigen Gesten gefunden, gerade bei ihrem beeindruckenden Besuch der betroffenen Familie und der Trauernden in dem Café schräg gegenüber von dem Haus in
Ludwigshafen, in dem diese Katastrophe geschehen ist.
Dafür hat unsere Integrationsministerin Dank und Anerkennung verdient.
({5})
Zur Frage des Familiennachzugs. Man mag das - ich
will das vermittelnd ausdrücken - unterschiedlich bewerten. Da die Grünen in ihrem Antrag flächendeckende
Beratungsstrukturen und niedrigschwellige Schutzprogramme fordern, um Mädchen und Frauen zu helfen und
Zwangsehen zu verhindern, kann ich nur die Frage stellen: Wie sollen diese Frauen und Mädchen mit Migrationshintergrund denn diese Angebote wahrnehmen,
wenn sie noch nicht einmal der deutschen Sprache
mächtig sind?
({6})
- Das ist ein ganz toller Zuruf, Kollege Winkler: „Sie
müssen doch in die Integrationskurse!“ Wir wissen aus
der Evaluation der Integrationskurse, dass sie nicht
kommen. Sie sagen doch immer, man dürfe keinen
Druck ausüben, damit diese Menschen an Integrationskursen teilnehmen. Wir können die Familien und die
zwangsverheirateten Frauen doch nicht mit der Polizei
dazu bewegen, in die Integrationskurse zu kommen.
({7})
Deshalb sehen wir das zu einem Zeitpunkt vor, an
dem wir noch Einfluss nehmen können, nämlich zu einem Zeitpunkt, bevor sie nach Deutschland kommen.
Damit stärken wir diese Frauen. Es ist wirklich bedauerlich, dass eine Partei wie die Grünen, die sehr auf die
Emanzipation der Frauen setzt, die Möglichkeit, ein
Stück weit mehr Selbstbestimmung zu haben, beschneiden will. Dafür habe ich kein Verständnis, lieber Kollege
Winkler.
({8})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Beck?
Ja.
Ich halte es für sehr mustergültig, wenn man auf Integrationskurse auch für die Frauen so sehr Wert legt. Ich
kenne aus meinem Wahlkreis ein wunderbares Projekt
von muslimischen Frauen für muslimische Frauen, bei
dem ein Teil der Frauen mit Kopftuch unterrichtet und
ein Teil mit Kopftuch lernt, andere ohne. Das ist so vielfältig, wie die Welt eben ist.
Das große Problem dabei ist, dass die Integrationskurse, die wir gegenwärtig anbieten, das heißt die Zahl
der Stunden, die wir bezahlen, nicht ausreichen, um diesen häufig bildungsfernen Frauen, die zum Teil schon
seit Jahrzehnten hier in Deutschland sind und Deutsch
lernen wollen, weil sie sehen, dass sie nur dadurch eine
Chance in dieser Gesellschaft haben, gerecht zu werden.
Wenn Sie es so ernst meinen: Wann tun Sie endlich etwas dafür, dass auch bildungsfernen Menschen über die
jetzige Kursstundenzahl hinaus Kursangebote gemacht
und diese auch finanziert werden? Dabei ist auch wichtig, dass es nicht vom Geldbeutel und Willen des Ehemannes abhängt, ob eine Frau am Ende wirklich richtig
Deutsch sprechen kann, wenn sie es lernen will. Ich
finde, wir sollten beginnen, intensiv mit denjenigen zusammenzuarbeiten, die das wollen. Wir sollten sie ermutigen, sie bestärken, ihre Vorbildfunktion in der Migranten-Community herausstellen und sie belohnen, statt
ihnen das Leben mit restriktiven Regelungen weiter
schwer zu machen.
({0})
Herr Kollege Beck, Sie sind nicht auf der Höhe der
Zeit. Seit 1. Januar 2008 - Maria Böhmer hat es vorhin
erwähnt - gibt es eine neue Integrationskursverordnung.
({0})
Für bildungsferne Muslima, möglicherweise also Muslima, die alphabetisiert werden müssen, haben wir die
Zahl der Stunden der Alphabetisierungskurse von 100
auf 300 erhöht.
({1})
Wir haben die Zahl der Stunden der Integrationskurse
von 600 auf 900 Stunden erhöht und in besonderen Ausnahmefällen - dies betrifft den Personenkreis, den Sie
gerade angesprochen haben - eine weitere Erhöhung der
Zahl der Kursstunden möglich gemacht.
({2})
Das heißt, anstatt 600 plus 100 Stunden für Alphabetisierungskurse, also 700 Stunden, haben diese Frauen
jetzt die Möglichkeit, 1 500 Stunden wahrzunehmen. Ich
halte das für einen erheblichen Fortschritt, den Sie, als
Sie Ihre Frage gestellt haben, entweder nicht kannten
oder bezüglich dessen Sie auf die Unwissenheit der Zuschauer gesetzt haben.
({3})
Das ist nicht in Ordnung, Herr Beck. Wir haben sehr viel
gemacht.
({4})
- Wenn Sie bitte stehen bleiben würden, Herr Beck,
dann bekommen Sie darauf eine weitere Antwort.
Bei den Kursen für Muslima geht es nicht so sehr um
das Geld. Die Kurse werden bezahlt, wenn die Familien
dazu nicht in der Lage sind. Ein ganz zentrales Problem
ist, dass diese Frauen Kinder zu Hause haben, die betreut
werden müssen. Rot-Grün hat keine Frauenkurse mit
Kinderbetreuung vorgesehen, die gesondert finanziert
werden.
({5})
Wir haben zum 1. Januar 2008 die Grundlage dafür
geschaffen, dass während der Integrationskurse eine
ordentliche Kinderbetreuung stattfinden kann, nach dem
Motto: Unten gibt es Integration im Kindergarten, und
oben lernt Mama Deutsch. Das ist der richtige Weg; ihn
beschreiten wir mit unserer Integrationspolitik. Es wäre
schön, wenn Sie diese Fakten zur Kenntnis nehmen würden, Herr Kollege Beck.
({6})
Herr Präsident, es ist ein bisschen unfair, dass Sie die
Uhr schon weiterlaufen lassen.
({7})
Gestatten Sie mir bitte einen kurzen Schlussgedanken. Ich meine, dass wir aufpassen müssen, in welcher Weise
wir solche Diskussionen führen, die öffentlich, unter Beteiligung von Fernsehzuschauern, stattfinden.
({8})
- Selbstverständlich. Aber ich habe doch, wie ich finde,
ganz sachlich mitdiskutiert. Ich habe niemanden persönlich angegriffen und versucht, anhand von Fakten deutlich zu machen, welche Herausforderungen wir zu bestehen haben.
Noch vor 14 Tagen stand das Thema Integration in allen Medien sehr hoch. Ich bin nicht sicher, wie viele
große Artikel morgen über diese Debatte erscheinen
werden. Mein Eindruck ist: 14 Tage nach der Brandkatastrophe in Ludwigshafen gibt es wieder andere Themen.
({9})
Heute ist es Liechtenstein und übermorgen die Wahl in
Hamburg. Integrationspolitik erfordert einen langen
Atem und kein Themenhopping. Ich bin zutiefst davon
überzeugt, dass die Frage, ob die Integration gelingt oder
nicht, eine der Schicksalsfragen unseres Landes ist.
Dementsprechend kann es natürlich ein Wahlkampfthema sein;
({10})
es darf aber nicht nur in Wahlkämpfen ein Thema sein.
Wir haben mit dem Nationalen Integrationsplan eine
gute Grundlage geschaffen. Jetzt müssen wir aber dafür
sorgen, dass dieser Plan durch unsere politische Alltagsarbeit umgesetzt wird. Das liegt im Interesse unserer
Mitbürger, ob sie Migranten sind oder Einheimische.
Herzlichen Dank.
({11})
Nun hat Kollegin Lale Akgün für die SPD-Fraktion
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Rede von Ministerpräsident Erdogan hat hohe Wellen
geschlagen. Ich war am vorletzten Sonntag in der Kölnarena und habe ihm gelauscht. Aus eigener Anschauung
kann ich Ihnen sagen: Er hat die Menschen mit seiner
Rede für sich eingenommen, indem er ihnen sinngemäß
zurief: Wir nehmen uns eurer Sorgen und Probleme an,
wir sind immer für euch da, und wir sind glücklich,
wenn ihr glücklich seid.
Bei den meisten seiner türkischstämmigen Zuhörer
hat er damit ins Schwarze getroffen. Er hat die Seelen
derer massiert, die sich hierzulande offensichtlich nicht
heimisch fühlen. Der Berater des türkischen Ministerpräsidenten, Herr Zapsu, hat noch eins draufgelegt und
erklärt, mit der Rede in Köln habe Erdogan der Integration in Deutschland einen größeren Dienst erwiesen als
alle deutschen Politiker zusammen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diesen Schuh müssen wir uns nun wirklich nicht anziehen.
({0})
Die deutsche Politik und die deutsche Gesellschaft haben in den vergangenen Jahrzehnten viel für die Integration der Zugewanderten getan.
({1})
Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. Der Kardinalfehler allerdings lag darin, dass Teile unserer Gesellschaft noch bis ins Jahr 2000 behauptet haben, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Ich möchte an dieser
Stelle daran erinnern, dass Johannes Rau viel Prügel einstecken musste, als er 1999 in seiner Antrittsrede sagte:
Ich will der Bundespräsident aller Deutschen sein
und der Ansprechpartner aller Menschen, die ohne
einen deutschen Pass bei uns leben und arbeiten.
({2})
Viele, gerade in der Politik, haben den visionären Charakter seiner Aussagen damals sträflich verkannt. Für die
Zugewanderten war er „ihr Bundespräsident“.
Nun, die Welt hat sich weitergedreht: Wir haben das
Staatsbürgerschaftsrecht reformiert, wir haben das Jus
Soli eingeführt und mit dem Zuwanderungsgesetz im
Jahr 2005 einen Paradigmenwechsel eingeläutet. Seitdem ist allen klar, auch wenn ich manche mit den Zähnen knirschen höre: Wir sind ein Einwanderungsland.
Dass Integration an vielen Stellen gelungen ist, zeigt
übrigens auch eine Umfrage von Forsa für den Stern.
Deutsche und Türken stimmen in vielen Punkten überein. Eine große Mehrheit lehnt zum Beispiel eine Parallelgesellschaft ab. Auch beim demokratischen Rechtsstaat sind sich Deutsche und Türken mehrheitlich einig.
Die Umfrage zeigt zudem: 76 Prozent der befragten
Deutschen und 81 Prozent der befragten Türken finden
es wichtig und richtig, dass sich die Türken als Teil
Deutschlands fühlen sollen.
Hier sind wir beim Knackpunkt: Genau das ist die
Leerstelle der Integration, auf die Erdogan eingegangen
ist. Diesen Schuh müssen wir uns doch anziehen. Warum
fühlen sich die Zugewanderten so fremd, dass sie
Erdogan als - ich sage das in Anführungsstrichen - ihrem Regierungschef zujubeln? Diese Frage hat für mich
eine Schlüsselbedeutung. Deshalb finde ich es richtig,
dass wir hier heute über Integrationspolitik diskutieren
und uns im Deutschen Bundestag durchaus selbstkritisch
fragen, wohin die Reise eigentlich geht.
Auch im Antrag der Grünen-Fraktion sind viele wichtige Forderungen enthalten: von der Sprachförderung im
Kindergarten über Antidiskriminierungspolitik bis zur
rechtlichen Gleichstellung des Islam. Aber - jetzt
komme ich zum großen Aber, das ich ausdrücklich an
alle Fraktionen dieses Hauses und an die Bundesregierung richte - Integrationsgipfel, Nationaler Integrationsplan und Islamkonferenz - das alles sind integrationspolitische Damen ohne Unterbleib und schlichtweg
überflüssig, wenn wir es nicht schaffen, allen Menschen
in diesem Land das Gefühl von Zugehörigkeit zu vermitteln.
({3})
Wir müssen das große Ganze in den Blick nehmen,
statt uns immer wieder in Detailfragen zu verstricken.
Wie bekommen wir es hin, dass sich jeder Mensch, der
hier dauerhaft lebt und arbeitet, der Gesellschaft zugehörig fühlt? Die Antwort ist einprägsam: Wir benötigen ein
Wir-Gefühl, das Einheimische und Zugewanderte gleichermaßen einschließt. Dieses Wir-Gefühl werden wir
nur bekommen, wenn wir aufhören, ständig das Fremde
zu betonen: die vermeintlich andere Kultur, Sprache und
Religion. Das alles bringt uns nicht weiter. Es vertieft
die ethnischen Gäben, statt sie zuzuschütten.
Wir müssen umkehren und zum Teil genau das Gegenteil dessen versuchen, was wir bisher gemacht haben.
Statt immer nur nach den Unterschieden zu fragen, sollten wir das Gemeinsame betonen und deutlich machen,
was die Menschen in diesem Land eint, egal ob sie in der
Türkei, in Vietnam oder in Russland geboren sind, ob sie
Katholiken, Sunniten, Aleviten oder Atheisten sind, ob
sie zu Hause Deutsch, Arabisch oder Kroatisch sprechen. Darauf gibt es für mich nur eine Antwort: Wir
brauchen einen tragfähigen und lebendigen Verfassungspatriotismus. Er ist die Grundlage für das WirGefühl und der Kern von Integration. Deswegen, Frau
Böhmer, sollten Sie auch nicht sagen: Wir müssen
15 Millionen Menschen integrieren, weil diese einen Migrationshintergrund haben. Die meisten dieser 15 Millionen Menschen sind deutsche Staatsbürger und schon
längst in der Gesellschaft angekommen.
({4})
Deswegen fordere ich: Schluss mit den ethnischen
Abgrenzungen und Unterteilungen, Schluss mit dem
ewigen Ihr und Wir! Schaffen wir einen Verfassungspatriotismus! Kreieren wir ein Wir-Gefühl auf der Grundlage unserer gemeinsamen Werte! Was kann Politik tun,
damit dieses Wir-Gefühl entsteht und sich ausbreitet?
Drei Punkte sind für mich dabei wichtig.
Erstens. Schaffen wir das Optionsmodell ab! Wir
brauchen ein echtes Jus Soli.
({5})
Jedes Kind, das in Deutschland geboren wird, soll die
Staatsbürgerschaft erhalten und sich nicht mit 18 für
oder gegen die deutsche Staatsbürgerschaft entscheiden
müssen.
({6})
Zweitens. Wir brauchen das kommunale Wahlrecht
für Ausländer. Jeder, der in Deutschland dauerhaft rechtmäßig lebt, soll auf lokaler Ebene am politischen Willensbildungsprozess teilnehmen können.
({7})
Ich stehe zu beiden Forderungen, wohl wissend, dass wir
sie in dieser Legislaturperiode mit diesen politischen
Mehrheiten nicht mehr werden umsetzen können.
Drittens. Wir können schon jetzt - das ist für mich die
wichtigste der drei Forderungen - die Zahl der Einbürgerungen erhöhen. Denn nur als deutsche Staatsbürger
können sich Migranten vollständig zugehörig fühlen.
({8})
Mein Appell richtet sich aber nicht nur an die Mehrheitsgesellschaft, sondern auch an die Zugewanderten.
Auch sie müssen etwas für das Wir-Gefühl tun. Ich sage
es einmal etwas provokativ: Sie müssen Deutsche werden. Ich meine nicht Deutsche im ethnischen Sinn, nicht
Deutsche in dem Sinn, dass sie ihre Muttersprache nicht
mehr lernen und pflegen oder ihre Kultur ablegen - nein,
Deutsche im ursprünglichen Sinn des Wortes. „Deutsch“
bedeutet nichts anderes als dem Volke zugehörig.
Mein Appell ist also eine Absage an eine ethnisch
zerklüftete Gesellschaft. Er ist eine Absage an Ideen eines Staatsvertrages für die türkische Gemeinde und an
Minderheitenrechte für die zugewanderten Minderheiten. Solche Ideen, auch die Idee einer Türkenpartei, helfen uns nicht weiter. Wir können das Zusammenleben in
unserem gemeinsamen Haus Deutschland nicht auf Minderheitenrechte gründen. Wir wollen, dass alle Menschen, die ja gleich sind, gleich behandelt werden.
Angesichts der aufgeregten Stimmung unter den türkischstämmigen Menschen nach den Vorfällen der letzten Wochen möchte ich ihnen von hier aus zurufen: Lassen Sie uns zur Rationalität und zu einem unbefangenen
Umgang miteinander zurückkehren! Haben Sie Vertrauen in die demokratischen Institutionen unseres gemeinsamen Landes! Seien Sie versichert: Dort, wo es
Ausländerfeindlichkeit gibt, benennen und verfolgen wir
sie entschieden. Aber da, wo es keine gibt, sagen wir
auch das ganz deutlich.
Meine Damen und Herren, wir hätten uns viel Ärger
erspart und ein Erdogan hätte keine Chancen gehabt,
hätten wir schon im Jahre 1999 den wegweisenden Worten Johannes Raus mehr Geltung verschafft. Jetzt müssen wir nach vorne blicken. Ich glaube, wir sind auf
einem guten Weg, wenn wir die gegenseitigen Anschuldigungen und Nickeligkeiten beiseitelassen, um endlich
den Blick für unsere Gesellschaft, die nur gemeinsam,
als eine Gesellschaft, bestehen kann, freizubekommen.
Ich fordere Sie alle auf: Lassen Sie uns aufeinander zugehen!
({9})
Zu einer nachträglichen Kurzintervention erteile ich
das Wort Kollegen Gerd Andres.
Kolleginnen und Kollegen! Ich will mich zunächst
bei der Kollegin Akgün entschuldigen, insbesondere angesichts ihrer hervorragenden Rede. Es gab ein bisschen
Verwirrung. Denn ich hatte mich zu einer Kurzintervention zum Beitrag von Herrn Grindel gemeldet, die aber
nicht zum Zuge kam.
In seiner Rede hat Herr Grindel mir und dem Kollegen Bürsch vorgeworfen, wir hätten uns selbstgerecht
verhalten. Deswegen will ich ausdrücklich wiederholen,
was ich in meiner Zwischenfrage gesagt habe.
({0})
- Ja. Das, was Herr Bürsch gesagt hat, möchte ich auch
noch einmal unterstreichen.
Erstens. In der Integrationspolitik hätten wir während
der rot-grünen Regierungszeit gerne mehr gemacht; das
sage ich ausdrücklich. Viele Dinge konnten wir aber deshalb nicht machen, weil wir auf Ihren erbitterten Widerstand gestoßen sind, auch im Bundesrat.
({1})
Er begann unmittelbar nach Übernahme der Regierung
durch die rot-grüne Koalition, und zwar durch Herrn
Koch. Er fand seine Wiederholung durch Herrn Koch im
Landtagswahlkampf in Hessen. Dafür hat er aber - Gott
sei Dank! - die Quittung bekommen.
({2})
Zweitens - hier stimmen wir wieder überein -: Ich
finde, die Große Koalition kann auf dem, was Rot-Grün
geleistet hat, aufbauen. Das ärgert Sie - das weiß ich -,
aber das müssen Sie schon so akzeptieren. Die Große
Koalition hat das gut begonnen, und sie macht es gut.
Das beginnt mit Frau Böhmer und der Aufwertung ihres
Amtes durch Ansiedlung im Bundeskanzleramt, und das
setzt sich mit den Bemühungen um Integration und mit
den Integrationsgipfeln fort.
Ich teile ausdrücklich das, was Sie zum Auftreten von
Frau Böhmer in Ludwigshafen gesagt haben. Mein Respekt, Frau Dr. Böhmer; hier bin ich völlig Ihrer Mei15452
nung. Sie haben recht: Wir haben auch das Angebot an
Integrationskursen ausgebaut. Allerdings hätte ich Sie
von der Union gerne einmal erlebt, wenn wir das während der rot-grünen Regierungszeit gemacht hätten. Besonders Sie, Herr Grindel, hätte ich da gerne einmal erlebt.
({3})
Das, was ich gesagt habe, hat nichts mit Selbstgerechtigkeit zu tun. Das hat etwas damit zu tun,
({4})
dass sich die Haltung der CDU in dieser Angelegenheit
verändert hat. Das ist eine der Grundlagen dafür, dass
die Große Koalition eine so erfolgreiche Integrationspolitik machen kann, die man natürlich, Herr Kollege
Grindel, ohne Weiteres noch verbessern kann. Das hat
aber nichts mit Selbstgerechtigkeit zu tun.
({5})
Kollege Grindel.
({0})
Herr Kollege Andres, die Kollegin Akgün hat gesagt,
wir sollten auf Gemeinsamkeiten setzen. Ich schlage vor,
dass wir das, was Sie jetzt versuchen, sein lassen und
uns gemeinsam ans Werk machen, den Nationalen Integrationsplan, den wir auch unter Beteiligung von Abgeordneten der Opposition vereinbart haben, Stück für
Stück abzuarbeiten.
({0})
Denn im Endeffekt kommt es nicht darauf an, ob Sie
recht haben oder ob ich recht habe, sondern es kommt
darauf an, dass wir im Sinne der in Deutschland geborenen Kinder handeln, die zu 50 Prozent einen Migrationshintergrund haben. Wenn diese Kinder keine gute Zukunft haben, hat unser Land keine gute Zukunft. Ihnen
müssen wir eine Perspektive geben. Diese Aufgabe sollten wir jetzt in Angriff nehmen. Wir dürfen nicht nach
hinten schauen, sondern wir sollten nach vorne schauen.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/8183 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a und 26 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Waffengesetzes und weiterer Vorschriften
- Drucksache 16/7717 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 16/8224 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Hartfrid Wolff ({1})
Silke Stokar von Neuforn
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({2}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Silke Stokar von
Neuforn, Volker Beck ({3}), Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für ein schärferes Waffengesetz
- Drucksachen 16/6961, 16/8224 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Hartfrid Wolff ({4})
Silke Stokar von Neuforn
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile schon wieder
dem Kollegen Reinhard Grindel für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für
die Regie und die Tagesordnung kann ich nichts.
Mit der Änderung des Waffengesetzes sorgen wir für
mehr Sicherheit in unserem Land, und wir wirken Bedrohungssituationen im öffentlichen Raum entgegen.
Wir schaffen damit rechtliche Rahmenbedingungen, um
die wachsende Gewaltkriminalität einzudämmen, bei der
mit steigender Tendenz Waffen benutzt werden.
Niemand von der Koalition behauptet, dass wir damit
die Kriminalität mit Messern oder Waffenimitaten vollständig beseitigen werden, und natürlich wissen wir um
die große Zahl von illegalen Waffen, die bei Straftaten
eingesetzt werden. Aber es ist die Pflicht der Politik, Regelungen zu treffen, die, wo dies unter Beachtung des
Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes möglich ist, den WafReinhard Grindel
fengebrauch einschränken, und vor allem, Rechtsgrundlagen zu schaffen, damit die Polizei einschreiten kann,
wo immer dies nötig ist.
Natürlich ist die Bekämpfung der Gewaltkriminalität
eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Aber die
Politik muss ihrer Pflicht, die Bürger zu schützen, gerecht werden, wo immer sie es kann. Das tun wir mit
dem neuen Waffenrecht.
({0})
Beispiel Anscheinswaffen. Immer wieder werden mit
diesen originalgetreuen Nachbildungen von Feuerwaffen
Straftaten begangen, vor allem Raubdelikte. Anscheinswaffen sind geeignet, Situationen herbeizuführen, in denen sich Polizeibeamte bedroht fühlen und vermeintlich
in Notwehr von der Dienstwaffe Gebrauch machen.
Diese Waffen sind auch aus Gründen des Jugendschutzes zu ächten. Das ist kein Spielzeug, das sind gefährliche Gegenstände. Deshalb wollen wir, dass sie aus der
Öffentlichkeit verschwinden.
({1})
Wir haben deshalb ein strenges Verbot des Führens solcher Waffen vorgesehen, das nach dem Recht über Ordnungswidrigkeiten bußgeldbewehrt ist. Der Transport
solcher Waffen soll nur noch in verschlossenen Behältnissen möglich sein. Wir gehen davon aus, dass sich die
Zahl der Anscheinswaffen oder Softair-Waffen erheblich
reduzieren wird, dass sie allenfalls noch im heimischen
Garten zum Einsatz kommen.
Hier bin ich bei der Abteilung „gesellschaftliche Herausforderung“. Ich lade die Eltern dazu ein, mit ihren
Kindern Gespräche zu führen und ihnen klarzumachen,
dass es sinnvollere Freizeitgestaltungen gibt, als mit Anscheinswaffen herumzuschießen. Auch das gehört dazu,
wenn wir heute über Waffen reden.
({2})
Wie an vielen anderen Stellen des Gesetzes vermeiden wir eine übermäßige Beeinträchtigung der berechtigten Interessen von Jägern, Schützen und Waffensammlern. Mit Blick auf die vielen hundert Mails, die
viele Kollegen, wie ich weiß, bekommen haben, sage
ich: Die Situation der Schützen und Jäger wird erleichtert, sie wird nicht erschwert. Wir haben es hier mit fachkundigen, geschulten, geprüften Personen zu tun, die um
ihre Sorgfaltspflichten wissen. Deswegen haben wir uns
dazu entschlossen, die Waffen, die von Jägern und
Schützen verwandt werden, aus dem Geltungsbereich
des Anscheinsparagrafen herauszunehmen. Das heißt
mit Blick auf die vielen Briefe, die wir bekommen haben: Der Anscheinsparagraf gilt nicht für die von Schützen und Jägern benutzten Waffen.
Mehr Sicherheit schaffen wir auch durch die Kennzeichnungspflicht bei Waffen und wesentlichen Bestandteilen von Waffen, die gesondert gehandelt werden.
Die Einführung von Blockiersystemen für Erbwaffen
ist sinnvoll, damit entwendete Erbwaffen nicht bei Straftaten eingesetzt werden können. Auch hier haben wir
eine Ausnahme für Jäger und Schützen vorgesehen, weil
sie sichere Aufbewahrungsmöglichkeiten besitzen. Das
bedeutet: Wenn sie kein eigenes Bedürfnis zum Besitz
der Waffe haben, dürfen sie diese zwar nicht benutzen;
aber sie dürfen sie ohne Blockierung behalten.
Um eine Beschädigung historisch wertvoller Waffen
zu vermeiden, haben wir eine Ausnahmevorschrift für
Sammler vorgesehen, sowohl was das Blockiersystem
als auch was die Kennzeichnungspflicht anbelangt.
Intensiv haben wir uns in der Koalition und auch im
Ausschuss mit dem Verbot des Führens von Messern beschäftigt. Zunächst will ich ausdrücklich hervorheben,
dass wir es begrüßen, dass Hamburg mit dem allgemeinen Messerverbot auf der Reeperbahn als einem regionalen Kriminalitätsschwerpunkt von den schon bestehenden Instrumenten des Waffenrechts Gebrauch gemacht
hat. Aber es ist nicht zu bestreiten, dass es gerade in
Großstädten an vielen Stellen zum Einsatz von Messern
bei Straftaten kommt; das wurde uns in der Sachverständigenanhörung eindrucksvoll vorgeführt.
Für das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung im öffentlichen Raum ist mindestens ebenso bedeutsam, dass bestimmte Messertypen, die nicht verboten sind, wie Einhandmesser oder Messer mit einer feststehenden Klinge,
gerade von Jugendlichen mitgeführt werden, um vermeintliche Stärke zu zeigen, damit zu drohen und sie im
Ernstfall auch zu benutzen. Vor allem Einhandmesser
haben den Kultstatus der seit 2003 verbotenen Butterflymesser übernommen. Auf der anderen Seite - das ist
wahr - werden Messer natürlich auch zu einer Vielzahl
von sinnvollen und allgemein anerkannten Zwecken eingesetzt. Die große Mehrheit der Bevölkerung geht verantwortungsvoll mit dem Werkzeug Messer um.
Wir mussten also - das war eine große Herausforderung, die uns viel Zeit gekostet hat - eine sinnvolle Abwägungsentscheidung treffen. Wir sind im Ergebnis für
ein Verbot des Führens von Einhandmessern und Messern mit einer Klingenlänge ab 12 Zentimetern in der
Öffentlichkeit. Wir wollen dies dem Recht über Ordnungswidrigkeiten zuordnen, um der Polizei vor Ort
noch mehr Beurteilungsspielraum zu geben, in welchen
Fallkonstellationen einzuschreiten ist und wann nicht.
Wir sind davon überzeugt, dass diese Regelung dazu
führen wird, den Einsatz von Messern, die bisher zugriffsbereit geführt werden durften, erheblich zu reduzieren. Das ist im Interesse des Schutzes der Menschen, die
abends in Ruhe Bus oder Straßenbahn fahren und auf der
Straße unterwegs sein wollen, dringend geboten.
({3})
Gleichzeitig erlauben wir das Führen dieser Messer,
wenn ein berechtigtes Interesse vorliegt. Einhandmesser
werden auf dem Bau, von Bergsteigern oder Rettungstauchern verwandt. Eindringlich haben manche Kolle15454
gen auf die Bedeutung des Hirschfängers bei der bayerischen Tracht hingewiesen.
({4})
Deshalb haben wir umfassende Ausnahmevorschriften
aufgenommen. Das gilt insbesondere für die Berufsausübung, bei der Brauchtumspflege, dem Sport oder einem
sonstigen anerkannten Zweck, also wenn zum Beispiel
Hobbywinzer mit dem Weinrebenschneider im Dorf
oder Jäger zum Revier unterwegs sind.
Nun kann man gegen unsere Regelung einwenden: Es
kann zu Ausweichverhalten kommen. Was ist mit Klingen von 11 Zentimetern? - Ein totales Verbot, Messer zu
tragen, hätte bedeutet, dass jeder Bürger ein berechtigtes
Interesse für das Mitführen sogar eines Schweizer Messers hätte haben müssen. Das ist nicht von dieser Welt.
Auf der anderen Seite sage ich mit Blick auf die Kritik
der FDP im Ausschuss: Ich finde, Politik muss handeln,
wo sie - wenn auch unvollkommen; das räume ich ein handeln kann.
({5})
Hinsichtlich Einhandmessern und Messern mit feststehender langer Klinge sage ich bei aller Liebe zur Freiheit: Wenn ein Jugendlicher in der U-Bahn mit einem
Einhandmesser vor den Augen einer älteren Dame oder
eines körperlich unterlegenen anderen Jugendlichen herumfuchtelt, dann heißt es für mich nicht „im Zweifel für
die Freiheit“, sondern „im Zweifel für die Sicherheit“.
Die Polizei muss ein solches Verhalten unterbinden können.
({6})
Lassen Sie mich zu einem anderen Diskussionspunkt
kommen: die Absenkung der Altersgrenze für das Schießen mit Druckluftwaffen von zwölf auf zehn Jahre. Wir
alle wissen, dass dies ein Thema mit erheblichem Verunglimpfungspotenzial ist. Ich will hier aber durchaus auf
das verweisen, was uns gleich mehrere Sachverständige
in der Anhörung gesagt haben: Wissenschaftliche Langzeitstudien haben ergeben, dass nicht die Frage der Altersgrenze das Entscheidende ist, sondern die Qualifikation - in fachlicher und psychologischer Hinsicht - der
Jugendschießsportwarte und Trainer, die die talentierten
Jungschützen ausbilden.
({7})
Deshalb sind wir gemeinsam dafür, dass von den Ausnahmen für besonders talentierte Jungschützen ab zehn
Jahren, die das Waffengesetz schon zulässt, stärker Gebrauch gemacht wird. Wir haben das Innenministerium
gebeten, in den Ländern eine einheitliche Verwaltungspraxis einzufordern.
Grundsätzlich will ich wiederholen, was ich in der
ersten Lesung bereits gesagt habe: Die Schützenvereine
vor Ort leisten nicht nur einen Beitrag zum kulturellen
Leben in der Gemeinde; in vielen Vereinen wird auch
eine hervorragende Jugendarbeit geleistet.
({8})
Schützenvereine haben es nicht verdient, unter Generalverdacht gestellt zu werden. Vielmehr sollten wir ihnen
für ihren ehrenamtlichen Einsatz vor Ort sehr dankbar
sein.
({9})
Herr Präsident, ich komme zum Schluss, indem ich
mich für die sehr gute Unterstützung durch die Mitarbeiter des Bundesinnenministeriums bedanke. Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich wäre Ihnen dankbar,
wenn Sie diesen Dank weitergäben. Ich danke der Kollegin Gabriele Fograscher von der SPD für die gute Zusammenarbeit. Die Koalition hat auf einem wichtigen
Feld der inneren Sicherheit - insofern sind wir wieder
bei Gemeinsamkeiten; damit wollen wir dann auch ins
Wochenende gehen ({10})
Handlungsfähigkeit bewiesen. Wir haben jetzt in gemeinsamer Arbeit einen guten Gesetzentwurf hinbekommen. Dafür bitte ich um Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Hartfrid Wolff, FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die neuerliche Waffenrechtsreform ist wie ihre Vorgängerin von
2002 nicht geeignet, die Sicherheit für die Menschen in
Deutschland zu erhöhen.
({0})
Das ist das eindeutige Ergebnis der Expertenanhörung.
({1})
Auch die von den Koalitionsfraktionen nominierten Experten befanden nur wenige der von SPD und CDU/CSU
vorgenommenen Änderungen als für die innere Sicherheit nützlich. Es sind deutliche Verschärfungen aufgenommen worden, ohne dass überhaupt evaluiert wurde,
ob die damaligen Änderungen zu einem tatsächlichen Sicherheitsgewinn geführt haben. Hier habe ich erhebliche
Zweifel.
Mit Ausnahme der Vorgaben zu den Anscheinswaffen, die auch wir ausdrücklich begrüßen, lehnen wir die
Regelungen dieses Gesetzentwurfs ab. Tatsache ist: Legal erworbene und angemeldete Waffen spielen in der
Kriminalstatistik keine Rolle.
Hartfrid Wolff ({2})
({3})
Die illegalen Waffen werden aber vom Waffengesetz
nicht erreicht. Das Herumdoktern am Waffengesetz ist
purer Aktionismus,
({4})
reine Augenwischerei.
({5})
Vor der Hamburg-Wahl will Rot-Schwarz noch schnell
suggerieren, für Sicherheit zu sorgen. Das ist durchsichtig.
Dass die Koalition selbst nicht daran geglaubt hat, in
einer sachlichen Debatte mit Argumenten bestehen zu
können, zeigt sich am hanebüchenen Gesetzgebungsverfahren: Erst macht Innenminister Schäuble Vorschläge,
die er kurz danach wieder zurückzieht, und dann will die
Koalition in kürzester Zeit das Waffenrecht ändern und
peitscht die Vorlagen durch den Ausschuss und das Parlament.
Problemlösungen im Bereich der Kriminalität müssen
nicht primär das Waffenrecht, sondern den Zusammenhang von Straftat und Strafe und das vernachlässigte
Feld der Kriminalprävention in den Blick nehmen.
({6})
Nicht der Gegenstand, Herr Wieland, ist das Problem,
sondern derjenige, der ihn einsetzt.
Die über Nacht in den Gesetzentwurf eingebauten
Messerregelungen zeichnen sich vor allem durch eines
aus: Schwammigkeit. Die Koalition lässt Polizei und
Justiz mit dem Vollzug des Gesetzes völlig allein. Jeder
Polizist muss nun in der konkreten Situation entscheiden, ob Brauchtum vorliegt oder der Zweck zum Führen
des Messers „allgemein anerkannt“ ist. Das ist in der
konkreten Situation schwer möglich.
({7})
Die Sachverständigen haben diesen von Ihnen gewählten
Ansatz in der Anhörung fast einhellig abgelehnt.
({8})
Stattdessen forderten sie die Möglichkeit, das Tragen
von Waffen an bestimmten Orten, zum Beispiel in Diskotheken, zu verbieten. Diese Initiative Hamburgs hat
die FDP unterstützt, und sie ist auch vernünftig. Innensenator Körting dagegen, der Urheber dieser grotesken
Messerregelung,
({9})
hat selbst längst nicht alle bestehenden Möglichkeiten
ausgeschöpft. Er hätte über das Hausrecht das Mitführen
von Messern in der U-Bahn und anderswo verbieten lassen können.
({10})
Doch das hat er nicht getan. Fazit: Die SPD macht Propaganda, aber sie handelt nicht.
({11})
Vor allem wird mit der Neuregelung der ohnehin
schon bürokratische Wust, mit dem Waffenbesitzer überzogen werden, noch weiter aufgebläht. So ist es nicht
einsichtig, warum die vorhandenen Kontrollen bei der
Verbringung von Schusswaffen ins Ausland nun verdoppelt werden. Die diesbezüglich vorgesehenen neuen Vorschriften bringen überhaupt keinen Sicherheitsgewinn,
konterkarieren aber jede Absichtserklärung zum Bürokratieabbau.
Das Gleiche gilt für die neuen Informations- und
Buchführungspflichten. Im Gesetzentwurf werden die
Kosten klein gerechnet. Tatsächlich gibt es eine insgesamt große Belastung für die mittelständischen Unternehmen. Angesichts der einfachen Prognose, dass diese
Informations- und Buchführungspflichten keinen Sicherheitsgewinn bringen, demonstriert diese Regelung die
abgehobene Ignoranz gegenüber wirtschaftlichen Zusammenhängen. Darüber hinaus ist die Erweiterung der
Kennzeichnungs- und Buchführungspflichten eindeutig
gegen die berechtigten Interessen der legalen Waffenbesitzer, insbesondere der Jäger, Sportschützen und Sammler antiquarischer Waffen, gerichtet. Dies verursacht nur
Kosten, ohne dass der Nutzen ersichtlich ist.
Wie übertrieben im Waffenrecht argumentiert wird,
sieht man auch daran, dass selbst die sinnvolle Jugendarbeit im Sport zurückgedrängt wird. Es werden nicht
nur Belastungen aus der damaligen Reform aufrechterhalten; die SPD will auch vernünftige Überlegungen
zur Stärkung des Nachwuchses nicht angehen; ich nenne
in diesem Zusammenhang ganz bewusst die Sozialdemokraten. Jetzt ist es schon so weit, dass auf Rummelplätzen Kinder unter 12 Jahren mit einem Luftgewehr
schießen dürfen, im Sportverein - unter fachkundiger
Aufsicht - aber nicht. Den Wettbewerb „Jugend trainiert
für Olympia“ scheint die Bundesregierung auf den Jahrmarkt verlegen zu wollen.
({12})
Die Neuregelung in § 15 a des Gesetzentwurfs, dass
Sportordnungen nur noch dann genehmigt werden können, wenn sie im besonderen öffentlichen Interesse liegen, halte ich für falsch und dirigistisch. Insgesamt besteht die Gefahr, dass der Breitensport behindert werden
soll.
Auch das grundgesetzlich geschützte Erbrecht wird
meiner Meinung nach zu stark eingeschränkt.
({13})
Hartfrid Wolff ({14})
Waffenbesitzer von geerbten Waffen, denen keinerlei
Unzuverlässigkeit nachgewiesen werden kann, sollen
nun pauschal verpflichtet werden, Blockiersysteme in
ihre Waffen einzubauen.
({15})
- Beruhigen Sie sich doch, Herr Wieland! - Es ist absurd, dass dies auch für Waffen gilt, die bereits lange vor
der Entstehung dieses Gesetzentwurfs vererbt worden
sind.
({16})
Zwar sind kulturhistorische Sammlungen als ganze
- Herr Grindel hat zu Recht darauf hingewiesen -, nicht
aber einzelne obsolete Waffensysteme ausgenommen.
Die Abgrenzungen hierzu sind allerdings schwierig.
Mit immer neuen bürokratischen Pflichten für legale
Waffenbesitzer und einem Generalverdacht gegen Sportschützen, Jäger und Waffensammler wird keine Untat zu
verhindern sein. Was die Bundesregierung hier vorgelegt
hat, ist kein richtiger Gesetzentwurf, sondern eine Ansammlung schwammiger Begriffe, die lediglich auf die
öffentliche Wirkung zielt, reale Sicherheitsfragen aber
nicht berührt. So kommt es zu einem reinen Alibigesetz,
das kaum Nutzen, aber viel Schaden stiften wird.
Vielen Dank.
({17})
Das Wort hat nun der Innenminister des Landes Sachsen-Anhalt, Holger Hövelmann.
({0})
Holger Hövelmann, Minister ({1}):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst bedanke ich mich sehr herzlich für die
Gelegenheit, vor diesem Hohen Hause reden zu dürfen.
Das ist, glaube ich, auch für einen Landesminister keine
alltägliche Erfahrung.
Das Gesetzgebungsverfahren zum Waffenrecht zeigt,
wie das Zusammenwirken zwischen den unterschiedlichen Verfassungsorganen Bundesrat und Bundestag
funktionieren kann. Ich bin ein wenig stolz darauf, dass
das kleine und bescheidene Bundesland Sachsen-Anhalt
im Frühjahr vor fast einem Jahr auf der Innenministerkonferenz in Berlin die Anregung geben konnte - sie ist
dann auch aufgegriffen worden -, entsprechende Änderungen im Waffenrecht der Bundesrepublik Deutschland
vorzunehmen.
Verehrter Herr Kollege Wolff, das wurde nicht im
Hinblick auf die Hamburger Bürgerschaftswahlen initiiert, sondern aufgrund der Erfahrungen der Länderpolizeien mit der Realität, nämlich mit den Gefährdungen
von Polizistinnen und Polizisten durch das polizeiliche
Gegenüber, wenn derjenige mit Anscheinswaffen agiert.
({2})
Eine Auswertung des Meldedienstes ergab für Sachsen-Anhalt allein im Jahr 2007 38 Vorfälle, bei denen
insbesondere Kinder, Jugendliche und Heranwachsende
mit Softair-Waffen hantierten. Eine Vielzahl von Ereignissen mit Waffenimitaten zeigt deren Gefährlichkeit. Es
ist sogar schon zum Einsatz von Schusswaffen durch
Polizeibeamte gekommen. So ist der Fall eines Mannes
bekannt, der auf einem Schulhof mit einer Pistole herumfuchtelte. Sofort rückten Beamte aus, die Bilder von
Erfurt vor Augen. Als das Team eintraf, richtete der
potenzielle Amokläufer seine Waffe auf eine 24-jährige
Polizistin. Die junge Frau feuerte zwei Warnschüsse ab
und schoss dem 52-Jährigen dann gezielt in den Oberschenkel. Als sie dem Außer-Gefecht-Gesetzten die
Waffe entriss, wunderte sie sich sofort über das Gewicht
der Waffe. Die Pistole war viel zu leicht. Der psychisch
gestörte Mann hatte mit einer sogenannten SoftairPistole hantiert, einer Spielzeugwaffe.
Wenn Gegenstände aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes den Anschein erwecken, es handele sich um
Schusswaffen, dann ist ein Polizeieinsatz mit großen Risiken verbunden. Hier sind wesentliche Rechtsgüter in
Gefahr, sowohl für den Betroffenen als auch für die Polizisten. Hier muss - ich betone: muss - der Gesetzgeber
präventive Regelungen schaffen, und zwar bevor im
schlimmsten Fall Menschenleben zu beklagen sind.
({3})
Mit dem neuen Waffengesetz wird nun das Führen von
Anscheinswaffen in der Öffentlichkeit verboten und als
Ordnungswidrigkeit geahndet. Gleiches gilt für das Führen von gefährlichen Messern, insbesondere von Einhandmessern. Verehrter Herr Wolff, Polizisten können
schon unterscheiden, ob eine ältere Dame mit einem
Messer Pilze im Wald sammelt oder ob ein angetrunkener Jugendlicher mit einem Messer in der U-Bahn hantiert.
({4})
- Genau darum geht es. - Das kann die Polizei, und das
können wir von der Polizei auch erwarten.
({5})
Ich möchte aber auch die Gefährlichkeit von Gas- und
Schreckschusspistolen in Erinnerung rufen. Diese Waffen können schwerste bis tödliche Verletzungen verursachen. Deshalb wird der sogenannte Kleine Waffenschein
auch nur zuverlässigen und geeigneten Personen erteilt.
Generell sehe ich - das sage ich ganz bewusst vor dieMinister Holger Hövelmann ({6})
sem Hohen Hause - überhaupt keinen Bedarf für Gegenstände, die aussehen wie echte Waffen.
({7})
Wir sollten gemeinsam die weiteren Entwicklungen genau beobachten und erforderlichenfalls das Gesetz in
Zukunft weiter verschärfen. Dabei dürfen Erwerbs- und
Handelsverbote - ich weiß, dass ich mich hier auf Glatteis begebe - kein Tabuthema sein.
({8})
Wir alle können auf das Ergebnis, den Gesetzentwurf,
der nun im Deutschen Bundestag zur Verabschiedung
ansteht, stolz sein. Ich will ausdrücklich all denjenigen
danken, die zu diesem Ergebnis beigetragen haben. Wir
werden das neue Waffengesetz konsequent umsetzen. So
stärken wir die innere Sicherheit in unserem Lande. Das
Gesetz ist fachlich und politisch richtig. Das Gesetz ist
Prävention und Repression zugleich. Ich hoffe, dass Sie
den Gesetzentwurf verabschieden.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat nun Bodo Ramelow, Fraktion Die
Linke.
({0})
Werte Kolleginnen und Kollegen! Als Abgeordneter
aus Thüringen und als Bewohner der Stadt Erfurt habe
ich ein ganz besonderes Verhältnis zu dem Thema, über
das heute diskutiert wird. Wir haben in Thüringen das
Leistungszentrum für Schießsport in Suhl und in Oberhof unsere Biathleten, die ausgebildete Schützen sind.
Als Erfurter habe ich das Massaker am Gutenberg-Gymnasium erleben und den Angehörigen beistehen müssen.
Alle in Erfurt waren durch diese Tat sehr traumatisiert.
Deswegen bewegt mich das Thema Waffenrecht sehr.
Ich gebe zu, dass ich mich über bestimmte E-Mails
und Faxe, die mir danach zugeschickt wurden, sehr ärgere. Man wird häufig in die Ecke gestellt und als ein
Gegner der Benutzung von Waffen dargestellt, nur weil
man sich kritisch zu den Grauzonen äußert, in denen
Waffen nicht richtig angewendet werden. Das ist doch
keine Beleidigung für den Jäger, der seiner Jagd ordentlich nachgeht. Das ist doch keine Beleidigung für den
Sportschützen, der seinen Sport ordentlich ausübt. Es
muss aber erlaubt sein, darüber zu reden, dass es Fehlentwicklungen gibt. Deswegen habe ich Fragen. Ich
gebe Herrn Grindel völlig recht: Spielzeugwaffen, die
wie ein Original aussehen, haben aus unserer Sicht überhaupt keine Daseinsberechtigung. Warum müssen solche
Waffen durch die Gegend getragen werden?
({0})
Die Anhörung hat mir sehr viel Vergnügen bereitet,
weil dort eine intellektuelle Schärfung der Argumente
stattgefunden hat. Es wurden von den Kollegen aus
Sachsen-Anhalt Waffen vorgelegt, die man mit eigenem
Auge nicht als echt oder falsch erkennen konnte. Dem
Opfer ist es völlig egal, ob die Waffe echt oder nicht echt
ist. Ein Überfall auf einen XY-Markt oder eine Tankstelle mit einer solchen Waffe führt immer zu einer Traumatisierung und hinterlässt immer Opfer. Deswegen
finde ich es völlig richtig, dass diese Art von Spielzeugwaffen schlicht aus dem Verkehr gezogen werden müssen,
({1})
oder, wie es mit dem vorliegenden Entwurf umgesetzt
wird, dass sie 50 Prozent kleiner oder größer ausfallen
müssen oder mit einer bestimmten Farbe versehen werden, damit man erkennt, dass es sich um ein Spielzeug
handelt. Im Kern waren wir uns aber darüber einig, dass
solche Spielzeuge an sich völlig überflüssig sind.
({2})
Ich gebe zu, dass wir mit den Regelungen über die
Erbwaffen nicht zufrieden sind. Im Gegensatz zu Herrn
Kollegen Wolff, der hier eine waffenlobbyistische Rede
gehalten hat
({3})
- ich hätte gern einen Hinweis darauf, für wen er die
Rede gehalten hat; für die Freiheit jedenfalls nicht -, bin
ich der Meinung, dass man Erbwaffen mit Blockiersystemen optimal sichern kann, ohne sie zu zerstören. Man
kann eine Erbwaffe, mit der jemand hantiert, der dazu
keine Erlaubnis hat, entweder mit einem Blockiersystem
oder mit einem Abzugsschloss sichern. Beides sind Optionen. Ich glaube, wir gehen da in die richtige Richtung,
wenn auch noch nicht weit genug. Ich will sagen, dass
mich das nicht daran hindert, meiner Fraktion zu empfehlen, alle Vorschläge anzunehmen.
({4})
Ein zweites Thema, auf das Herr Grindel hingewiesen
hat, betrifft Messer und das damit verbundene Drohpotenzial. Ich glaube, dass wir da noch nicht die optimale
Lösung haben. Das hat Herr Grindel auch nicht behauptet.
({5})
- Ich finde, dass man bei vernünftigen Regelungen entspannt sein müsste. - Das Hantieren mit einem Einhandmesser in einer Straßenbahn muss von uns unterbunden
werden. Das hat nichts mit der Oma zu tun, die beim Pilzesammeln ein Messer bei sich trägt. Es geht um die Bedrohung durch Waffen, die offen von Menschen getragen werden.
({6})
Ich glaube, dass weder die Hamburger noch die Berliner Lösung die richtige ist. Eigentlich müssten wir dieses Bedrohungspotenzial aus der Öffentlichkeit entfernen. Das hat nichts mit den Pfadfindern oder Mitgliedern
von Trachtengruppen, die einen Hirschfänger tragen, zu
tun. Das hat auch nichts mit dem Jäger und dem Angler
zu tun, die ein solches Messer für die Ausübung ihres
Sports brauchen. Es gibt aber keinen Grund, sich in der
Straßenbahn mit einem Einhandmesser die Fingernägel
sauber zu machen und zu behaupten, man bedrohe doch
niemanden.
({7})
Durch eine solche Handlung und das Vorzeigen von
Waffen an öffentlichen Orten fühle ich mich bedroht.
Diese Bedrohung muss durch die Politik zurückgedrängt
werden.
({8})
Damit werden wir nicht jedes Messermassaker in Familien oder jeden Ehekrach, der mit Messern ausgetragen
wird, verhindern können. Aber wir müssen dies thematisieren. Es geht um Einhandmesser; es geht um diese
Form der Bedrohung. Deswegen bin ich eigentlich auch
mit der 12-Zentimeter-Regelung nicht einverstanden.
({9})
Ich glaube, dass man damit das Problem am falschen
Ende anpackt. Trotzdem sind wir insgesamt auf einem
guten Weg.
Abschließend möchte ich sagen, was aus unserer
Sicht völlig fehlt und was ich uns allen ins Stammbuch
schreibe: Es geht um das elektronische Waffenzentralregister und fälschungssichere Dokumente für alle, die berechtigt sind, mit Waffen umzugehen, und für alles, was
mit der Handhabung von Waffen zusammenhängt. Da
haben wir nach den Ereignissen von Erfurt noch nachzuarbeiten. Wir haben immer noch keine fälschungssicheren Dokumente. Außerdem brauchen wir die Einführung
eines Zentralregisters. Wir dürfen diese Aufgabe nicht
auf 257 Ordnungsämter verlagern, die noch Karteikarten
verwenden und sich nicht untereinander abstimmen. In
einer Zeit, in der wir für alles und jedes elektronische
Register einführen und jeder unter Generalverdacht
steht, sollte es möglich sein, jede legale Waffe zu erfassen, damit sie von der illegalen unterschieden werden
kann. Dem Polizisten soll, bevor er zu einem Haus
kommt, ermöglicht werden, zu überprüfen, ob dort Waffen lagern oder nicht. Diesen Schritt müssen wir gemeinsam tun. Deswegen möchte ich uns auffordern, nach der
heutigen Verabschiedung gemeinsam an der Einführung
eines Waffenzentralregisters zu arbeiten.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat nun Kollegin Silke Stokar von Neuforn,
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Wiefelspütz, ich greife Ihre Bitte gerne auf: Die
Große Koalition musste bei der Verschärfung des Waffengesetzes zum Jagen getragen werden. Die Blockiersysteme im BMI funktionierten reibungslos: Der erste
Gesetzentwurf, der vorgelegt wurde, war weichgespült.
Sie müssen selber zugeben, dass erst die Berücksichtigung von etwa 50 Änderungsanträgen, die nach der ausgezeichneten Anhörung, die von den Oppositionsfraktionen durchgesetzt wurde,
({0})
eingebracht wurden, dazu geführt hat, dass aus dem Gesetzentwurf des BMI das scharfe Waffengesetz geworden ist - wir haben den Entwurf zum Teil erst einen
Abend vor der Innenausschusssitzung erhalten -, das wir
zuvor in unserem Antrag gefordert hatten.
Lassen Sie mich an dieser Stelle sagen: Auch wir
werden dem Waffengesetz zustimmen. Die wesentlichen
Forderungen unseres Entschließungsantrags sind mit den
Änderungsanträgen aus dem Parlament - nicht aus dem
BMI - in den Entwurf aufgenommen worden. Ich finde,
das ist ein besonderes Erlebnis: Das Innenministerium,
das sonst bei der Verschärfung von Gesetzen überhaupt
keine Grenzen und Schranken kennt, ist in der Frage des
Waffengesetzes seit Jahren handlungsunfähig. Deswegen müssen wir gemeinsam die Verantwortung übernehmen.
({1})
Ich finde es richtig, dass die in unserem Antrag enthaltenen Vorschläge übernommen worden sind. Wir haben gefordert, die Berliner Initiative zum Verbot der gefährlichen Einhandkampfmesser zu übernehmen; die
Fachanhörung hat deutlich gezeigt, dass dies erforderlich ist. Die CDU/FDP-Regierungen, die sich sonst so
für scharfe Gesetze einsetzen, haben dies im Bundesrat
zum Kippen gebracht. Ich finde es gut, dass wir das
heute im Bundestag reparieren und dafür sorgen, dass
der Bedrohung durch diese Einhandkampfmesser im öfSilke Stokar von Neuforn
fentlichen Raum ein Riegel vorgeschoben wird. Wie
konnten Sie eigentlich in der Vergangenheit erklären,
dass jeder im öffentlichen Raum, in der Fußgängerzone
mit einer täuschend echt aussehenden Pistole herumlaufen und damit Leute bedrohen konnte, ohne dass die Polizei eingreifen durfte! Es war erforderlich, hier zu reagieren.
({2})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Wolff?
Mit dem größten Vergnügen.
Frau Kollegin, Sie haben gerade gesagt, dass diese
Regelung in der Sachverständigenanhörung eindeutig
befürwortet worden sei. Stimmen Sie mir zu, dass der
Sachverständige des BKA, Erich Bartsch, und die Sachverständigen Professor Heubrock und Professor Csaszar
nicht der Meinung waren, dass der Ansatz eines Messerverbotes sinnvoll ist?
Butterflymesser wurden bereits verboten; die Zahl der
Verbrechen, bei denen diese Messer eingesetzt werden,
ist nicht deutlich gesunken. Jetzt wollen Sie ein anderes
Messer verbieten. Stimmen Sie mir zu, dass es besser ist,
Initiativen zur Verbesserung der Jugendarbeit zum Beispiel in Vereinen, der Kriminalprävention und der Erziehungsmethoden zu starten, anstatt immer am Waffengesetz herumzubasteln?
({0})
Herr Kollege Wolff, ich stimme Ihnen in beiden
Punkten nicht zu. Ich verstehe nicht, wie man sich angesichts der Presseberichte, die wir täglich in unseren heimatlichen Zeitungen lesen - täglich lese ich in Hannover
von Messerattacken, von schweren Körperverletzungen
und von Tötungen mit dem Messer -, den richtigen Ansätzen entgegenstellen kann.
Wir haben einen umfangreichen Antrag zum Thema
Jugendgewalt in den Bundestag eingebracht. Selbstverständlich benötigen wir bei der Auseinandersetzung mit
den Themen Jugendgewalt und Jugendkriminalität umfassende Konzepte. Dennoch ist es nicht angemessen,
das, was wir nun tun, als einen Widerspruch zu bezeichnen. Mit der Änderung des Waffengesetzes müssen wir
auf eine gesellschaftliche Fehlentwicklung reagieren.
Es ist doch so: Genau die Waffenproduzenten, die Sie
in Ihrer Rede hier verteidigt haben, haben auf das Verbot
der gefährlichen Butterfly-Messer reagiert. Diese Einhandkampfmesser wurden entwickelt, um das Waffengesetz zu unterlaufen und um einen bestimmte Zielgruppe
- über sie reden wir hier - zu bedienen: Es sind Jugendliche, die bestimmten Gangs angehören. Diese Jugendlichen bedrohen in den Straßenbahnen Menschen. Vor
Diskotheken stechen sie andere Jugendliche ab - anders
kann man es nicht mehr ausdrücken -, weil ihre Freundinnen schief angeschaut worden sind. Ich finde es total
richtig, dass wir jetzt darauf reagieren; denn das ist nicht
hinnehmbar.
({0})
Herr Kollege Wolff, ich wollte sowieso jetzt zu Ihren
Anträgen kommen. Einen Antrag, den Sie noch im Innenausschuss gestellt haben, haben Sie hier gar nicht
eingebracht. Die FDP hat in dieser Auseinandersetzung
doch tatsächlich beantragt, dass bei der Zuverlässigkeitsüberprüfung zwischen guten und schlechten Straftätern
unterschieden wird.
({1})
Sie haben im Innenausschuss beantragt, den Ladendieben die Waffenbesitzkarte wegzunehmen. Die Steuerhinterzieher sollen diese Karte nach Ihren Vorstellungen
aber behalten dürfen.
({2})
Sie sind die Top-Freiheitspartei der Woche. Sie haben
in Hamburg gefordert, den Leinenzwang für Kampfhunde abzuschaffen. Sie setzen sich für freies Rauchen
in verqualmten Kneipen ein. Sie fordern mehr Datenschutz für Steuerhinterzieher. Jetzt wollen Sie auch noch
freie Waffen für freie Bürger.
({3})
Der Top-Freiheitskämpfer dieser Woche ist Guido
Westerwelle. Angesichts des Skandals um die massenhafte Steuerhinterziehung ruft er öffentlich zur Steuerrebellion auf. Das heißt doch nichts anderes als: Steuerhinterziehung ist eine erlaubte Rebellion.
({4})
Sie verklären hier Steuerhinterziehung zum Freiheitskampf. Sie vertreten hier eine freie Bürgergesellschaft in
folgendem Sinne: Freiheit für Kampfhunde, Freiheit für
Raucher, Freiheit für Waffenbesitzer, Freiheit für Steuerhinterzieher. Wir sind eine andere Bürgerrechtspartei.
({5})
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Die Novelle zum
Waffengesetz steht an. Wir werden diese Gelegenheit
nutzen, um dafür einzutreten, dass ein nationales Waf15460
fenregister eingerichtet wird. Ich habe dies im Innenausschuss gefordert. Wir sollten diese von der EU veranlasste Novelle nutzen, um hier Bürokratie abzubauen. Es
ist richtig: Es gibt in den Ländern Hemmnisse, die nicht
erforderlich sind.
Kollegin Stokar, der Kollege Wolff hat Ihnen schon
drei Minuten mehr Redezeit beschert. Aber jetzt sind Sie
wirklich deutlich über die Zeit.
Ich komme zum Schluss: Ich danke für die gute Zusammenarbeit. Wir werden dem Gesetzentwurf der Regierung in diesem Fall zustimmen.
Danke schön.
({0})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Stephan
Mayer das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Ich glaube, man
kann unumwunden feststellen: Mit dem Gesetzentwurf,
der heute zur Abstimmung vorliegt, trifft die Große
Koalition ins Schwarze. In dieser schwierigen Gemengelage - es geht um die Umsetzung eines Schusswaffenprotokolls der Vereinten Nationen, um die Beachtung
des europäischen Rechts und um das auslaufende Privileg der Erben - ist dieser Gesetzentwurf ein angemessener und ausgewogener Kompromiss.
Es ist erfreulich, dass es uns gelungen ist, dass das Erbenprivileg auch nach dem 1. April dieses Jahres gilt.
Diejenigen, die einen Sach- und Fachkundenachweis haben, diejenigen, die Inhaber eines Waffenscheins oder
eines Jagdscheins sind, dürfen Waffen, die ihnen vererbt
werden, in Besitz nehmen. Außerdem müssen sie diese
Waffen nicht mit einem Blockiersystem unbrauchbar
machen. Das ist ein erfreulicher Schritt.
Darüber hinaus ist es gelungen, dass für diejenigen
Waffen, für die noch keine Blockiersysteme vorhanden
sind, zunächst einmal eine Übergangsregelung gilt. Das
heißt, auch diese Waffen dürfen geerbt und in Besitz genommen werden. Diese Waffen müssen erst dann unbrauchbar gemacht werden, wenn die entsprechenden
Blockiersysteme vorhanden sind. Darüber hinaus können historisch bedeutsame Waffen auch so aufbewahrt
werden, dass sie nicht mit einem Blockiersystem verbunden werden müssen.
Sehr erfreulich ist, dass das Führen von Anscheinswaffen im öffentlichen Raum in Zukunft verboten ist.
Von Anscheinswaffen geht in vielen Fällen - darauf
wurde bereits hingewiesen - wegen der Verwechslungsgefahr das gleiche Bedrohungspotenzial aus wie von
scharfen Schusswaffen.
Insbesondere ist es gelungen, die Anliegen des Jagdverbandes, aber auch der vielen Schützenvereine in diesem Gesetzentwurf ordentlich aufzunehmen. Wir konnten allerdings nicht allen Anliegen gerecht werden.
Einem Anliegen, das von anderer Seite immer wieder
vorgebracht wurde, dass der Handel mit Waffen unterbunden wird oder in Zukunft möglicherweise verboten
wird, kann aufgrund des europäischen Rechts nicht
Rechnung getragen werden. Wir sind als Mitglied des
Binnenmarkts an europäisches Handelsrecht gebunden
und können als nationaler Gesetzgeber den Handel mit
Schusswaffen nicht allein unterbinden.
Insbesondere Schützenvereine stellen in vielen
Gemeinden und Städten in Deutschland einen ganz
wichtigen gesellschaftlichen Faktor dar. Sie leisten hervorragende Nachwuchsarbeit. In vielen Städten und Gemeinden, insbesondere in kleineren Dörfern, ist der
Schützenverein ein Hort gemeinschaftlichen ehrenamtlichen Engagements. Dort trifft sich die Dorfgemeinschaft. Vor diesem Hintergrund wäre es meines Erachtens sehr erfreulich gewesen, wenn ein Anliegen des
Deutschen Schützenbundes umzusetzen gewesen wäre,
nämlich das Alter, ab dem Jugendliche in den Verein gehen können,
({0})
um dort - wohlgemerkt - unter fach- und sachkundiger
Anweisung und Aufsicht durch hervorragend ausgebildete Übungsleiter den Schießsport zu betreiben, von
zwölf auf zehn Jahre zu senken. Es gibt wissenschaftliche Erkenntnisse darüber, dass gerade das Schießen sowohl die Disziplin als auch die Konzentrationsfähigkeit
steigert.
({1})
Es wäre schön gewesen, wenn wir als nationaler Gesetzgeber in Deutschland insoweit für eine Anpassung an andere Länder gesorgt hätten. In Frankreich beispielsweise
ist es erlaubt, dass schon Kinder ab acht Jahren den
Schießsport unter fach- und sachkundiger Aufsicht ausüben.
Gott sei Dank haben wir erreicht, dass Pauschalgenehmigungen erteilt werden können. In Zukunft kann
also für einen Tag der offenen Tür oder für ein Schützenfest vom Landratsamt oder von der kreisfreien Stadt eine
Pauschalgenehmigung erteilt werden, nach der Jugendliche unter zwölf Jahren das Schießen ausprobieren können. Es besteht die Gefahr, dass viele Kinder und Jugendliche im Alter zwischen acht und zwölf Jahren den
Schützenvereinen sozusagen verloren gehen, weil sie
sich anderen Sportarten zuwenden, etwa der Leichtathletik, dem Basketball, dem Fußball, und so einfach zu spät
den Weg in den Schießsport finden und dann natürlich,
gerade was den Leistungssport anbelangt, sehr stark ins
Hintertreffen geraten.
({2})
Stephan Mayer ({3})
Ich bitte die Länder dann aber auch darum, von der
Möglichkeit, sowohl Pauschalgenehmigungen als auch
Einzelfallgenehmigungen zu erteilen, in Zukunft in unbürokratischer Weise Gebrauch zu machen.
({4})
Natürlich ist es nie so, dass das Messer oder die
Schusswaffe allein verletzt oder tötet.
({5})
Die Zahl von Schusswaffen und Messern ist aber dafür
ausschlaggebend - das ist genauso richtig -, dass in
Deutschland immer noch zu viele Straftaten mit Schusswaffen und Messern verübt werden. Beispielsweise gab
es allein im Jahr 2007 nach Auskunft des Bundeskriminalamts insgesamt 7 314 gemeldete Fälle von Straftaten
im Zusammenhang mit Waffen. Allein im letzten Jahr
sind insgesamt 16 464 Schusswaffen sichergestellt worden.
Deswegen ist es richtig, dass in Zukunft das Führen
von Messern im öffentlichen Raum stärker reglementiert
ist, dass Einhandmesser und auch Messer mit einer feststehenden Klinge ab einer Länge von 12 Zentimetern
verboten sind.
Zum Abschluss möchte ich darauf hinweisen, dass es
uns als Union Gott sei Dank gelungen ist, den Ausnahmekatalog sehr weit zu fassen. Für die professionelle
Ausübung ist das Führen von Messern im öffentlichen
Raum erlaubt. Was den Freizeitbereich angeht, so wurden für diejenigen sehr weitreichende Ausnahmen vorgesehen,
({6})
die als Angler, Bergsteiger, Segler oder Taucher auf den
Gebrauch von Messern nun einmal angewiesen sind.
Das Führen des Hirschfängers in der bayerischen Lederhose - Kollege Grindel hat dankenswerterweise
schon darauf hingewiesen - wird auch in Zukunft erlaubt
sein; das war mir ein großes Anliegen.
({7})
Kollege Mayer, können Sie bitte zum Schluss kommen?
In dem Sinne kann ich nur alle auffordern, insbesondere die FDP, diesem sehr ausgewogenen und sinnvollen
Gesetzentwurf zuzustimmen.
Herzlichen Dank.
({0})
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Gabriele
Fograscher das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir als Abgeordnete haben von unserem Recht Gebrauch gemacht, den ursprünglichen Entwurf der Bundesregierung zum Waffengesetz zu ergänzen, zu ändern
und in Teilen auch zu verschärfen.
({0})
Dabei haben wir auch die alltäglichen Erfahrungen der
Polizei und den Sachverstand von Experten aufgegriffen.
Aber, Herr Wolff, wir haben uns nicht zum Lobbyisten
gemacht und deren Wünsche eins zu eins übernommen.
({1})
Die Regelungen, die wir getroffen haben und die wir
heute beschließen, sind Regelungen mit Augenmaß. Die
Zustimmung aus anderen Fraktionen zum Entwurf der
Koalitionsfraktionen zeigt, dass es vernünftige Regelungen sind.
Uns als SPD-Bundestagsfraktion war es besonders
wichtig, das Verbot des Führens von Waffenimitaten,
den sogenannten Anscheinswaffen, und das Verbot des
Führens von gefährlichen Messern in den Gesetzentwurf
aufzunehmen.
Die Anhörung des Innenausschusses war für uns aufschlussreich. Es wurden uns verschiedene Schusswaffen
gezeigt. Das waren einmal eine echte Waffe, wie sie die
Polizei in NRW benutzt, dann eine Schreckschusswaffe,
eine Gaswaffe und eine Softair-Waffe, die unter das
europäische Spielzeugrecht fällt. Selbst Fachleute können diese Waffen nicht voneinander unterscheiden. Das
Bedrohungspotenzial - Herr Minister Hövelmann hat
hierfür ein anschauliches Beispiel geschildert - ist
enorm. Deshalb wollen wir, dass diese Waffen aus dem
öffentlichen Raum verschwinden.
({2})
In Zukunft ist das Führen dieser Waffenimitate verboten.
Ein Verstoß gegen das Führungsverbot kann mit einem
Bußgeld von bis zu 10 000 Euro geahndet werden.
Ein weiteres Problem, auf das wir mit dieser Novellierung reagieren, ist die Zunahme von Delikten, bei
denen Messer eine Rolle spielen. Hierzu hat uns der
Sachverständige des Landes Berlin in der Anhörung eindeutige Zahlen genannt. Im Jahre 2006 gab es allein in
Berlin 1 135 Straftaten, bei denen Messer eingesetzt
wurden. 2007 waren es bereits 1 566 Delikte. Das ist
eine Steigerung von fast 38 Prozent binnen Jahresfrist,
und das allein in Berlin. Diese Zahlen waren und sind für
uns Grund genug, zu handeln.
Die Hamburger Regelung, um die das Waffenrecht
schon im letzten Jahr ergänzt worden ist,
({3})
oder das Hausrecht allein, Herr Wolff, lösen das Problem
eben nicht.
({4})
Ich möchte mich an dieser Stelle bei der Senatsinnenbehörde des Landes Berlin für ihre Initiative und für die
konstruktive Unterstützung, die sie bei der Erarbeitung
dieses Gesetzes für ein Messerführungsverbot gezeigt
hat, bedanken.
({5})
Der ursprüngliche Gesetzentwurf von Berlin mit einer
Beschreibung von verbotenen Klingenformen war sehr
kompliziert und so nicht umsetzbar.
({6})
Aber in vielen Gesprächen mit Vertretern der Senatsinnenbehörde und Polizisten aus Berlin haben wir eine
Lösung gefunden, die praktikabel ist und der Polizei zusätzliche Handlungsmöglichkeiten gibt. Spring-, Fallund Faustmesser sind bereits verboten. Wir verbieten
jetzt das Führen sogenannter Einhandmesser sowie das
Führen von Messern mit einer feststehenden Klinge; darauf ist schon hingewiesen worden.
Die Einhandmesser sind die Nachfolgemesser - so
muss man das wohl darstellen - der 2003 im Waffengesetz verbotenen Butterflymesser. Die Szene reagiert auf
solche Dinge.
({7})
Es gibt auch Messer, die eindeutig aus dem militärischen
Bereich stammen und zu keinem anderen Zweck dienen,
als zu verletzen oder gar zu töten. Diese haben in einer
bestimmten Jugendszene und bei jungen Männern Kultstatus. Wir geben der Polizei jetzt die Möglichkeit, einzugreifen, bevor etwas passiert. Es gibt keinen Grund,
mit einem Messer offen und zugriffsbereit im Park, auf
der Straße oder in der U-Bahn zu hantieren.
Wir stellen aber im vorgesehenen § 42 a Abs. 3 des
Waffengesetzes klar, dass Messer im Zusammenhang
mit der Berufsausübung, zum Sport, zur Brauchtumspflege oder bei Vorliegen eines berechtigten Interesses
geführt werden dürfen. Dies gilt für den Jäger, den Angler, den Camper, den Bergsteiger und den Metzger am
Marktstand sowie für den Rebschneider im Weinberg
und natürlich auch für den Trachtler beim Oktoberfestumzug.
Durch die Aufnahme des Verbots des Führens sowohl
von Anscheinswaffen als auch von gefährlichen Messern
in das Ordnungswidrigkeitsrecht geben wir der Polizei
einen Ermessens- und Handlungsspielraum und schaffen
im Interesse der Öffentlichkeit ein Mehr an Sicherheit
im Alltag. Herr Wolff, die Polizei wird - da bin ich mir
sicher - verantwortlich mit diesen Spielräumen umgehen.
({8})
Die Gespräche zur Novellierung des Waffenrechts
waren konstruktiv und haben zu einem, wie ich meine,
sehr guten Ergebnis geführt. Mein Dank gilt dem Mitberichterstatter Herrn Grindel, aber auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des BMI und des BMJ sowie der
Polizei.
Leider hat sich die FDP mit falsch verstandener Liberalität zum Sprecher von Bedenkenträgern und Lobbyisten gemacht. Wir lehnen die von der FDP vorgeschlagene Beschränkung der Zuverlässigkeitsregelung nach
§ 5 des Waffengesetzes ab. Wer mit einer Waffe umgehen will, muss sich insgesamt rechtstreu verhalten. Der
Entzug der Erlaubnis ab einer Verurteilung von mehr als
60 Tagessätzen hat für uns generalpräventive Wirkung,
und deshalb halten wir daran fest.
({9})
Der Gesetzentwurf in seiner geänderten Fassung ist
ein Beitrag zu mehr innerer Sicherheit. Den berechtigten
Interessen legaler Waffenbesitzer wie Jäger, Sportschützen und Sammler haben wir mit zahlreichen Ausnahmeregelungen Rechnung getragen. Ich will hier für meine
Fraktion sagen: Wir erkennen die Arbeit in den Schützenvereinen an. Ich komme aus einem Bezirk, in dem
viele aktive Schützen in den Städten und Gemeinden
gute Jugendarbeit leisten. Aber wir konnten dem Anliegen der Schützenvereine nicht folgen. Doch ich denke,
wir haben jetzt mit den Ausnahmeregelungen und einer
einheitlicheren Verwaltungspraxis in den Ländern einen
Kompromiss gefunden, mit dem wir dem Anliegen gerecht werden. Wir wissen, dass wir mit dem Waffenrecht
allein nicht Kriminalität bekämpfen. Aber wir können
mit den gefundenen Regelungen im jetzigen Gesetzentwurf einen wichtigen Beitrag leisten. Deshalb bitte ich
um Zustimmung.
Danke sehr.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Waffengesetzes und weiterer Vorschriften. Der
Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8224, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/7717 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall.
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der
Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der GesetzVizepräsidentin Petra Pau
entwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der
SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FDPFraktion angenommen.
Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen mit dem Titel „Für ein schärferes Waffengesetz“. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8224, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/6961 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Volker Wissing, Frank Schäffler, Dr. Hermann
Otto Solms, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes
- Drucksache 16/7519 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Es ist vereinbart, dass die Reden der folgenden Kolle-
ginnen und Kollegen zu Protokoll gegeben werden:
Manfred Kolbe für die Unionsfraktion, Martin Gerster
für die SPD-Fraktion, Dr. Volker Wissing für die FDP-
Fraktion, Dr. Barbara Höll für die Fraktion Die Linke
und Christine Scheel für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/7519 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Lötzer, Katrin Kunert, Dr. Barbara Höll, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Fördergelder nur als Unternehmensbeteiligung
- Drucksache 16/8177 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Ulla Lötzer für die Fraktion Die Linke.
1) Anlage 2
({2})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr
Zumwinkel und der finnische Konzernchef Kallasvuo
haben eines gemeinsam: In ihrer unendlichen Gier nach
Rendite kennen sie keinerlei Grenzen, egal wie viele
Menschen auf der Strecke bleiben oder welche zerstörerische Wirkung dies auf die Gesellschaft hat.
Alle wissen, das Nokia-Werk in Bochum arbeitet
hochrentabel. Aber Gewinne zu erzielen, reicht nicht
aus. Im Zeitalter grenzenloser Flexibilität und Liberalisierung der Kapitalmärkte ist Gewinn nicht genug. Es
muss der höchstmögliche Profit für einige wenige sein.
Nokia hat sich zum Ziel gesetzt, das Vermögen seiner
Anleger alle fünf Jahre zu verdoppeln. Heute zahlen den
Preis die Beschäftigten in Deutschland, morgen in Rumänien oder in Finnland.
Nokia ist kein Einzelfall, und diese Entwicklung ist
nicht nur das Resultat des Verhaltens einiger besonders
zynischer Konzernchefs, die den Hals nicht voll genug
kriegen können. Es ist auch das Ergebnis einer Wirtschaftspolitik, die zwar einen grenzenlos freien europäischen Binnenmarkt schafft, aber keine Harmonisierung
von Standards - weder sozialer noch ökologischer Art oder von Unternehmensbesteuerung damit verbindet.
Damit werden Konzernchefs nicht auf ihre soziale Verantwortung verpflichtet. Darüber müssen wir allerdings
reden und die Konsequenzen daraus ziehen.
({0})
Vor fast zwei Jahren hatte ich die Bundesregierung
gefragt, was sie unternehmen wolle, um Massenentlassungen parallel zu hohen Gewinnen zu verhindern. In ihrer Antwort lehnte sie eine Ausweitung von Mitbestimmungsrechten ausdrücklich ab und ebenfalls den
besseren Schutz vor Kündigungen. Die Bundesregierung
schrieb in der Antwort, dass mit dem derzeit gültigen
Kündigungsschutzgesetz die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer vor willkürlichem und sozial ungerechtfertigtem Verlust des Arbeitsplatzes ausreichend geschützt seien. Das erzählen Sie heute einmal vor den
Werkstoren von Nokia!
Das Ruhrgebiet steht für Solidarität. Das war in der
Vergangenheit so und ist auch jetzt so. Allen diesen
Menschen, die in Schauspielhäusern, Symphonieorchestern, Schulen, Kindergärten und Betrieben arbeiten,
müssen Sie heute eine Antwort darauf geben, wie Sie ihnen helfen wollen und welche politischen Konsequenzen
zu ziehen sind.
({1})
Diese Menschen setzen ein Zeichen gegen ShareholderValue-Politik der Global Player. Ihre Zeichen fehlen.
Brandreden vor dem Werkstor, wie Herr Rüttgers sie inszeniert, sind verlogen, wenn keinerlei politische Konsequenzen daraus folgen.
Eine Möglichkeit haben wir Ihnen heute in unserem
Antrag vorgeschlagen: Öffentliche Subventionen für
strukturschwache Regionen sind ein unverzichtbares
wirtschaftspolitisches Instrument. Es darf aber in Zukunft
nicht mehr sein, dass der Staat die knappen öffentlichen
Steuergelder in Millionenhöhe an private Unternehmen
verschenkt. Die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler werden zweimal zur Kasse gebeten: zum einen für die Fördergelder und zum anderen für die Kosten der Werksschließungen. Es reicht nicht aus, 41 Millionen Euro
zurückzufordern, weil die Arbeitsplatzzusagen nicht eingehalten wurden.
({2})
Wir fordern, direkte Subventionen mit beträchtlicher
regionalwirtschaftlicher Bedeutung durch staatliche Beteiligung zu ersetzen. Dies würde die öffentliche Hand
zu Miteigentümern machen und eine Mitsprache bei wesentlichen Entscheidungen ermöglichen.
({3})
Ein Aufsichtsratsbeschluss zur Schließung des Werkes,
wie er nächste Woche getroffen werden soll, wäre dann
nicht möglich.
Jeder und jede bei Nokia Beschäftigte hat allein im
letzten Jahr einen Gewinn von 90 000 Euro erzielt. Statt
einer staatlichen Beteiligung könnten Subventionen auch
alternativ in Form von Belegschaftsanteilen gewährt
werden.
({4})
Damit würden sie unmittelbar an die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geknüpft. Entsprechend
müssten deren Einfluss und Entscheidungsmöglichkeiten auch im Aufsichtsrat weiterentwickelt werden.
Zudem sollten Sie endlich einmal Stellung zu den
Forderungen der Gewerkschaften beziehen, beispielsweise im Aufsichtsrat nur mit einer Zweidrittelmehrheit
über Standortverlagerungen entschließen zu können.
Warum gilt das nur bei VW? Warum gilt das nicht generell? Die Mitbestimmungsrechte sind in die Debatte einzubringen.
({5})
Das Grundgesetz sieht die Sozialbindung des Eigentums vor. Die Bundesregierung - die Koalitionsfraktionen entsprechend - ist in ihrem Handeln dieser Sozialbindung verpflichtet - und nicht dem Shareholder-Value
des Nokia-Konzerns. Nehmen Sie diese Verantwortung
endlich wahr! Verhalten Sie sich verfassungsgemäß!
Danke.
({6})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Andreas
Lämmel das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Trübes Wetter, trüber Antrag, könnte man sagen.
({0})
Das, was Sie, Frau Lötzer, dazu gesagt haben, ist - es tut
mir leid - noch trüber gewesen. Ich kann nur feststellen:
Ich habe die volkseigene Wirtschaft erlebt. Sie haben
diese Erfahrung leider noch nicht machen können. Dorthin wollen wir nicht zurück.
({1})
„Subventionsheuschrecke“, in diesem Wort drückt
sich der Unmut der Bevölkerung und der Politik über die
Entscheidung von Nokia zur Einstellung der Handyproduktion und Schließung des Werkes in Bochum aus.
Nachdem bekannt wurde, dass Nokia von 1988 bis 1999
Investitionsbeihilfen von rund 60 Millionen Euro aus der
Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen
Wirtschaftsstruktur“ und von 1998 bis 2007 rund 10 Millionen Euro vom Bundesforschungsministerium im Rahmen der Forschungsförderung erhalten hat, dauerte es
natürlich nicht lange, bis einige Professoren reflexartig
ein generelles Ende der Regionalförderung in Deutschland forderten. Natürlich ärgere auch ich mich - das
gebe ich hier offen zu - über die Vorgehensweise von
Nokia und halte das Verhalten der Konzernspitze für inakzeptabel. Aber das Verhalten der Konzernmanager
von Nokia kann man nicht mit dem Verhalten der deutschen Wirtschaft insgesamt gleichsetzen.
({2})
Das sind angestellte Manager. Sie haben keinen Bezug
zum Standort. Sie haben keinen Bezug zu ihren Werken,
die sie weltweit betreiben. Das unterscheidet sie ganz
grundsätzlich von mittelständischen Unternehmern, die
selbst in der Verantwortung stehen und an Standorte gebunden sind, Frau Lötzer. Das ist der große Unterschied.
Das Verhalten von Nokia aber können wir überhaupt
nicht akzeptieren.
({3})
Sie fordern nun in Ihrem Antrag, Fördergelder nur als
Unternehmensbeteiligung zu gewähren und unter diesem
Eindruck die Förderregelungen der Gemeinschaftsaufgabe sofort zu ändern. Künftig soll die betriebliche Einzelförderung mit beachtlicher regionalwirtschaftlicher
Bedeutung nur in Form von öffentlichen Kapitalbeteiligungen gewährt werden,
({4})
damit die öffentliche Hand darüber Einfluss auf unternehmerische Entscheidungen im Sinne des Gemeinwohlinteresses ausüben kann; so Ihr Antrag.
({5})
Alternativ dazu sollen Subventionen in Form von Belegschaftsanteilen gewährt werden; das hatten Sie gerade
erwähnt.
Als ich mir Ihren Antrag zum ersten Mal durchgelesen habe, sind mir sofort ein paar Fragen eingefallen:
Erstens. Was heißt eigentlich „beachtliche regionalwirtschaftliche Bedeutung“? Wer beurteilt das denn?
({6})
Zweitens. Woran soll sich denn, Frau Lötzer, der Staat
beteiligen? Soll sich der Staat an Nokia beteiligen oder
soll sich der Staat an der Tochter beteiligen, in die investiert wird? Es ist völlig offen, woran sich der Staat beteiligen soll.
({7})
- Am besten nirgendwo; völlig richtig.
Drittens. Wer soll denn diese Beteiligung verwalten?
Wer soll die geforderten umfangreichen Informationsund Berichterstattungspflichten bearbeiten?
Viertens. Hätte die staatliche Beteiligung denn etwas
an der Entscheidung von Nokia zum Umzug nach Rumänien geändert?
Um es vorwegzunehmen: Wir halten von Ihrem Antrag genauso wenig wie von dem generellen Infragestellen der Regionalförderung in Deutschland.
({8})
Staatliche Beteiligungen an privaten Unternehmen in
großem Stil hatten wir schon einmal. Ich sage Ihnen nur
eines dazu: Die Große Koalition, meine Fraktion und ich
wollen nicht wieder dahin zurück.
({9})
Wie absurd Ihr Vorschlag ist, zeigt der Blick auf die
Förderbilanz, Frau Lötzer. Nehmen Sie beispielsweise
den Zeitraum zwischen 2000 und 2006: In diesen sechs
Jahren wurde im Bereich der gewerblichen Wirtschaft in
Deutschland in 22 886 Fällen gefördert. Um die Einheit
zu verkleinern, nehme ich das Beispiel Sachsen: In diesen sechs Jahren gab es allein in Sachsen 6 636 Förderfälle. Jetzt wollen wir einmal großzügig rechnen und
sagen, dass 50 Prozent davon regionalwirtschaftlich bedeutsam sind. Sie können selbst ausrechnen, dass die
Bundesländer bzw. der Bund etwa 11 500 staatliche Beteiligungen verwalten müssten, wenn Ihr Antrag umgesetzt würde. Die Gedanken, die Sie sich machen, sind
völlig absurd. Sie sind bar jeglicher Vernunft.
({10})
Eines bleibt aber festzuhalten, Frau Lötzer: Die Regionalförderung insgesamt ist sinnvoll. Sie hat sich als ein
wirksames Instrument zur Bewältigung des Strukturwandels in Deutschland und den anderen EU-Mitgliedstaaten bewährt. In den neuen Bundesländern können
wir die Segnungen der deutschen Regionalförderung besonders deutlich spüren.
Fakt ist aber auch, dass es keine Massenabwanderung
ehemals geförderter Unternehmen aus Deutschland gibt.
Das, was Sie hier dargestellt haben, ist falsch. Nokia gehört zu den ganz wenigen Einzelfällen, die man an einer
Hand abzählen kann. Es ist kein Fördertourismus in
Gang gesetzt worden, was oft von Ihnen behauptet wird.
({11})
Natürlich muss man sich immer wieder Gedanken
darüber machen, wie man fördert und welche Instrumente man dazu braucht.
({12})
Es ist auch wichtig, der Frage nachzugehen, ob verlorene
Zuschüsse immer das geeignete Mittel sind. Vielleicht
sind vor allem zur Förderung des Mittelstandes andere
Förderungsformen geeigneter. Darüber kann man diskutieren. Ich frage mich nur, warum Sie in den dafür zuständigen Gremien, zum Beispiel im Unterausschuss
„Regionale Wirtschaftspolitik“, noch nicht ein einziges
Mal einen solchen Vorschlag eingebracht haben. Im Gegenteil: In diesem Unterausschuss hat die Vertreterin Ihrer Fraktion die Segnungen der Regionalförderung eigentlich immer sehr positiv dargestellt.
({13})
Zusammenfassend möchte ich sagen: Dieser Antrag
ist ein populistischer Schnellschuss der Linken. Die erfolgreiche Strategie der Regionalförderung ändert man
nicht aufgrund eines Antrages. Deswegen werden wir
diesen Antrag ablehnen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Das Wort hat die Kollegin Gudrun Kopp für die FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und
Damen! Ich bin nicht überrascht, diesen Antrag vorliegen zu haben; denn er passt genau in die Linie der Fraktion Die Linke, die 18 Jahre nach der Wiedervereinigung
immer noch auf Plan- und Staatswirtschaft setzt. Die
Linke ist in der sozialen Marktwirtschaft immer noch
nicht angekommen und akzeptiert ihre Regeln nicht.
({0})
Von daher kann ich nur sagen: Man sollte sich mit diesem Antrag gar nicht lange aufhalten. Das ist völlige Illusion. Der Weg, den Sie beschreiten wollen, ist ein Irrweg.
Der Staat ist nicht der bessere Unternehmer.
({1})
Das hat sich zigmal bewahrheitet. Das ist einfach nicht
der Fall. Ich will aber ausdrücklich darauf hinweisen,
dass meine Fraktion das Verhalten der Nokia-Manager
kritisiert.
Ich wage einen Blick auf die Förderung insgesamt.
Frau Lötzer, in Ihrem Antrag sprechen Sie davon, dass
die regionale Wirtschaftsförderung ein unverzichtbares
Element ist. Schauen wir einmal genauer hin. Ich verweise auf den letzten Bericht des Bundesrechnungshofes, der gerade an der regionalen Förderung einiges zu
kritisieren hatte. Ich zitiere zwei Hauptkritikpunkte. Im
Bericht steht, diese Förderungen seien unzureichend
kontrolliert
({2})
und das Parlament sei unvollständig informiert, und es
gebe nicht genügend Angaben über gescheiterte Vorhaben und über Arbeitsplätze, die dauerhaft geschaffen
wurden. Damit müssen wir uns auseinandersetzen.
Ich halte es für besonders problematisch, dass bei der
regionalen Strukturförderung die Bedürftigkeit des Fördermittelempfängers nicht geprüft wird. Im Gegenteil:
Wir haben im Unterausschuss gehört, dass das Geld eben
nicht an finanzschwache, sondern ganz gezielt an finanzstarke Unternehmen gehen soll. Außerdem sei das einzige Ziel dieser Förderung, die Standortansiedlung
strukturpolitisch zu beeinflussen.
Ich möchte, dass wir im Parlament und in den Ausschüssen über diese Zielsetzung noch einmal nachdenken und darüber, wie sinnvoll diese Förderung sein
kann, wenn wir in Einzelfällen fördern. Ich sehe durchaus, dass es bei der Evaluierung Verbesserungen gibt.
Wir haben gehört: Es gibt jetzt eine Ist-Soll-Gegenüberstellung bei den Förderungen. Ich finde, das ist ein Fortschritt. Das muss man ausdrücklich so sagen. Aber bei
anderen Wirtschaftsförderungsprogrammen - auch das
haben wir gehört - gibt es so gut wie keine Evaluierung.
Ich muss Ihnen sagen: Wenn wir die Wirtschaftsunternehmen insgesamt sehen, die kleinen, mittelständischen bis hin zu den größeren und großen, dann besteht
natürlich die Gefahr, dass durch eine staatliche, eine öffentliche Förderung ein Ungleichgewicht entsteht. Wenn
nach dem Gießkannenprinzip gefördert wird, schafft
diese Förderung mehr Ungerechtigkeit im Wirtschaftsgefüge. Davor möchte ich warnen. Ich sage: Wir müssen
uns die Förderungen genauer anschauen, und zwar auch
mit Blick auf die Transparenz. Auch das war ein Punkt
im Unterausschuss „Regionale Wirtschaftsförderung“.
Hierzu haben wir gesagt, dass die Transparenzrichtlinie
der EU umgesetzt werden muss; wir haben gehört, dass
diese Umsetzung derzeit erfolgen soll. Denn es muss
doch für Mitbewerber und für uns, für alle am Markt
Teilnehmenden, feststellbar und nachvollziehbar sein,
welche Unternehmen in welchem Umfang öffentliche
Fördermittel bekommen haben.
({3})
Da hinken wir hinterher. Ich finde, auf diesen Punkt
müssen wir unbedingt achten.
Unter dem Strich: Die soziale Marktwirtschaft hat
sich ohne Zweifel bewährt. Wir brauchen keine Staatswirtschaft. Wir brauchen nicht den Staat als Miteigentümer von Unternehmen.
({4})
Im Gegenteil: Das ist eher schädlich, als dass es nutzt.
Wir sollten uns zur Auflage machen, bei der staatlichen
Förderung noch genauer hinzuschauen und zielgenauer
vorzugehen, damit wir die Wirtschaft insgesamt nicht
mit Störfeuer versehen und nicht aus dem Gleichgewicht
bringen, sondern sie gezielt unterstützen.
Herzlichen Dank.
({5})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Garrelt
Duin das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es bei diesem Tagesordnungspunkt mit
zweierlei zu tun: zum einen mit einer erneuten Bewertung der Vorgänge um die Werksschließung bei Nokia in
Bochum und zum anderen mit der grundsätzlichen
Frage, wie wir mit Beihilfen von unserer Seite aus umgehen wollen. Eines ist klar: Hektische Standortschließungen wie die in Bochum weisen vor allen Dingen auf
eines hin, nämlich auf schwerwiegende Managementfehler. Ein leistungsstarkes Management stellt sich
rechtzeitig auf Veränderungen ein, bringt Umstrukturierungen voran und wartet nicht bis zur letzten Minute, um
eine Werksschließung bekanntzugeben.
Der in Europa zuständige Industriekommissar, Günter
Verheugen, sagte - ich darf das kurz zitieren -:
Das Verhalten von Nokia ist Ausfluss einer neuen
Religion, die den Shareholder-Value vergöttert. Das
ist der falsche Weg. Wenn, wie im Fall Nokia, unternehmerische Verantwortung gegenüber den Arbeitnehmern und dem Standort von reiner Profitmaximierung abgelöst wird, so wird das Vertrauen in
die Zuverlässigkeit und Gerechtigkeit der sozialen
Marktwirtschaft gefährdet.
Ich möchte mich diesen Worten von Günter
Verheugen ausdrücklich anschließen. Ich glaube - deswegen habe ich ihn zitiert -, dass wir auf europäischer
Ebene solche Partner brauchen, wenn es um die Frage
geht, wie wir unsere Fördermechanismen nach der EUOsterweiterung an europäische Entwicklungen, aber
auch an die Globalisierung anpassen können.
Ich komme zu den Vorgängen in Bochum zurück.
Eine Werksschließung zu verkünden, ohne gemeinsam
mit den Beschäftigten auch nur den Versuch zu unternehmen, den Standort fortzuentwickeln und nach Restrukturierungswegen zu suchen, das ist eines international so erfolgreichen Unternehmens unwürdig.
({0})
Verbunden mit dem Wissen um das Unternehmensergebnis des letzten Jahres - ein Rekordgewinn von
7,2 Milliarden Euro und eine Rendite von über
20 Prozent - ist das Verhalten der Konzernleitung gegenüber den Beschäftigten und der gesamten Region
vollkommen unverantwortlich.
({1})
Denn diesen Gewinn, den das Unternehmen gemacht
hat, haben die Beschäftigten erarbeitet. Das ist der erste
wichtige Faktor.
Der zweite wichtige Faktor ist: Diesen Gewinn haben
die Verbraucherinnen und Verbraucher bezahlt. Es gab
gutes Geld für gute Produkte mit einem guten Image.
Dieses gute Image ist - das füge ich hinzu - hoffentlich
nachhaltig beschädigt.
Werksschließungen können durch Beihilfen nicht verhindert werden. Allerdings können die Standortnachteile
strukturschwacher Regionen durch Subventionen oder
Beihilfen verbessert werden; damit hat Deutschland in
der Wirtschaftsförderung gute Erfahrungen gemacht.
Dort, wo sie angebracht sind, haben sie maßgeblich zum
Aufbau wirtschaftlicher Strukturen beigetragen. Wir
können mit unseren Beihilfen dafür sorgen, dass regionale Ungleichgewichte in Deutschland, aber auch in Gesamteuropa - das, was bei Nokia geschehen ist, ist
schließlich ein europäisches Problem - ausgeglichen
werden.
Das heißt nicht, dass wir dadurch die Region Bayerischer Wald oder meine Heimatregion Ostfriesland sozusagen auf die gleiche Höhe heben, auf der andere, besonders erfolgreiche Wirtschaftsregionen sind. Wir können
aber dafür sorgen, dass ein Ausgleich stattfindet, dass es
zu einer Angleichung der Lebensverhältnisse kommt
und dass wir für die Unternehmen und die Unternehmer
die Voraussetzungen schaffen, die notwendig sind, damit
sie sich in diesen Gebieten ansiedeln. Dafür sind eine
solche Wirtschaftspolitik und eine solche Förderpolitik
da.
Die Erfolge der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ sind messbar
und sehr beeindruckend; darauf hat Kollege Lämmel
schon hingewiesen. Seit 1991 konnten wir im Rahmen
der GA-Förderung Investitionen in Höhe von rund
200 Milliarden Euro anstoßen. Dadurch konnten in
Deutschland fast 1 Million zusätzlicher Dauerarbeitsplätze geschaffen und 1,5 Millionen Arbeitsplätze gesichert werden.
Ich sage noch einmal: Werksschließungen können wir
auch durch eine Reform der Wirtschaftsförderung nicht
vollkommen verhindern. Hierzu sind auf europäischer
Ebene weitere Elemente notwendig, die wir mit anstoßen müssen. Das möchte ich an einem Beispiel verdeutlichen: Wir brauchen mehr denn je eine europaweite
Steuerpolitik. Wenn wir nicht auf europäischer Ebene im
Hinblick auf die Unternehmensbesteuerung in Europa
Mindeststeuersätze vereinbaren, dann werden uns solche
Fälle wie der von Nokia in Bochum immer wieder begegnen. Deswegen besteht hier dringender Handlungsbedarf.
({2})
Gleichwohl, Frau Lötzer, ist es nicht so - auch das hat
Herr Lämmel schon deutlich gemacht -, dass es zu einer
Riesenwelle der Verlagerung von Jobs ins Ausland gekommen ist.
({3})
In diesem Zusammenhang möchte ich eine Studie erwähnen, die wahrscheinlich auch Sie in Ihren Büros haben.
({4})
Diese Studie wurde übrigens vom DGB veröffentlicht;
daher dürfte sie auch aus Ihrer Sicht unverdächtig sein.
({5})
Das Ergebnis ist, dass es seit dem Jahre 2005 bei
8 Prozent der Betriebe zu Verlagerungen gekommen ist,
dass allerdings in nur 20 Prozent der Fälle auch die Jobs
ins Ausland verlagert worden sind. Viele Jobs konnten in
Deutschland gehalten werden. Ein Fünftel der angekündigten Verlagerungen wurde nicht vorgenommen. In fast
15 Prozent der Fälle ist es sogar zu einer Rückverlagerung nach Deutschland gekommen. Das hat viel mit Zugeständnissen der Belegschaften zu tun, aber auch mit
der Intervention von Gewerkschaften und mit öffentlichem Druck.
Solche Zahlen nützen den Menschen, die in Bochum
betroffen sind, nichts. Es geht jetzt darum, genau zu
überprüfen, welche konkreten Vorgänge es bei den Beihilfen in Bochum gegeben hat. Wir wissen: Viele Millionen Euro aus der GA sind dorthin geflossen. Das Land
Nordrhein-Westfalen prüft jetzt, inwieweit die gesetzlich
vorgeschriebenen Strukturen geschaffen wurden. Ich
hoffe, dass das Land in dieser Auseinandersetzung erfolgreich sein wird.
Ich will zum Schluss zu dem Antrag der Linken kommen. Sie fordern - ich zitiere -,
Lehren aus dem Fall Nokia zu ziehen und mit sofortiger Wirkung die Förderregeln insbesondere der
Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ so zu ändern, dass betriebliche Einzelförderungen mit beträchtlicher regionalwirtschaftlicher Bedeutung in Form von öffentlichen
Kapitalbeteiligungen oder Belegschaftsanteilen in
entsprechender Höhe gewährt werden.
Ich habe lange überlegt, welchen VEB man für Handys gegründet hätte - wahrscheinlich einen „VEB Kabelloses Ferngespräch“. Ich will damit sagen: Ihre Forderung ist absolut falsch. Wir wollen keinen Staat, der
Anteile von bzw. Beteiligungen an einer Vielzahl von
Unternehmen erwirbt.
({6})
Herr Lämmel hat darauf ausdrücklich hingewiesen. Diese
Forderung macht deutlich, dass Sie sich mit den Grundgedanken der Marktwirtschaft nach wie vor nicht ausreichend auseinandergesetzt haben. Würde man Ihrem Vorschlag folgen, gäbe es keine Abgrenzung mehr zwischen
Aufgaben des Staates und Aufgaben der Privatwirtschaft.
Ich bin davon überzeugt, dass eine Beteiligung an Verlusten von Unternehmen - man lese die Begründung Ihres
Antrages! - die Möglichkeiten des Staates bei weitem
überschreiten würde.
Im Übrigen haben Sie in Ihrem Antrag den Grundsatz
der zeitlichen Befristung einer Förderung der regionalen
Wirtschaft außer Acht gelassen. Wie soll das denn funktionieren, wenn sich der Staat an einem Unternehmen
beteiligt? Wenn wir bei der Befristung von fünf Jahren
blieben, müssten die Anteile dann, egal welche wirtschaftliche Situation wir haben, nach fünf Jahren wieder
veräußert werden? Oder sollte der Staat die Anteile auf
Dauer, auf ewig und drei Tage, halten? Beide Varianten
hielte ich für falsch.
Sie erheben ferner die Forderung,
dass damit in den Aufsichtsräten und entsprechenden Unternehmensgremien … Entscheidungsmöglichkeiten für die öffentliche Hand … verbunden
sind.
Das ist ebenfalls Unsinn. Sie erwecken den Eindruck,
als ob staatliche Stellen ein Unternehmen per se besser
führen könnten als die Privatwirtschaft.
({7})
So allgemein kann man das wohl nicht unterschreiben;
deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen
Wir müssen gleichwohl darüber nachdenken, wie wir
die Fördermöglichkeiten des Bundes im Konzert mit der
Europäischen Union und mit den Bundesländern optimieren können. Es ist ja nicht so, dass man sagen
könnte: Das ist alles perfekt. Wir müssen sicherlich
Überlegungen anstellen, aber Ihr Vorschlag führt nicht
zum Ziel. Deswegen werden wir ihn ablehnen.
Herzlichen Dank.
({8})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Dr. Thea Dückert das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Natürlich müssen wir über die nationale und internationale Subventionspraxis diskutieren, und natürlich müssen wir über Mitarbeiterbeteiligungen als eine neue
Form der Unternehmenskultur diskutieren. Wir Grüne
haben hierzu schon wichtige Vorschläge in das Parlament eingebracht.
Frau Lötzer, Sie haben im Zusammenhang mit Nokia
von Verlogenheit der Politik gesprochen. Dann ist Ihr
Antrag die Spitze der Verlogenheit.
({0})
Ich will Ihnen auch sagen, warum. Sie suggerieren, dass
beispielsweise im Fall Nokia eine öffentliche Beteiligung in Höhe der dort getätigten Subventionen die skandalöse Praxis der Arbeitsplatzverlagerung nach Rumänien verhindert hätte. Sie wissen sehr gut, dass dies
gegenüber den Beschäftigten ein ganz billiger Populismus ist.
({1})
Sie gehen sogar noch weiter. Sie tun so, als ob die
Praxis der Umwandlung von Subventionen in öffentliche
Beteiligungen bei anderen Fällen in Deutschland, die es
durchaus gibt, diese Form der Unternehmenspolitik verhindert hätte.
({2})
Sie thematisieren in keiner Weise, wie hoch die Beteiligungen des Staates für welche Unternehmen sein müssten, um damit Einfluss auf das Unternehmen zu nehmen.
Sie betreiben nicht nur Volksverdummung, sondern Sie
schwelgen auch noch in der Nostalgie einer ziemlich
rückwärtsgewandten Stamokap-Vorstellung, die wir längst
überwunden haben.
({3})
Wir lehnen Ihren Antrag ab, weil er eine zu Recht kritisierte unpräzise Subventionspraxis in eine schleichende
pauschale Verstaatlichung überführen will. Für die ökonomischen Probleme in Deutschland gibt es in dieser
Form keine Lösung.
({4})
Natürlich ist es richtig und notwendig, zu kritisieren,
dass der Gang nach Rumänien von Nokia auch dazu genutzt wird, die Kosten dieser Arbeitsplatzverlagerung in
Deutschland von der Steuer abzusetzen. So etwas ist
überhaupt nicht akzeptabel. Hier muss man ansetzen.
Aber der Ruf nach mehr Staat in den Unternehmen ist
nach unserer Auffassung der völlig falsche Weg.
Wir müssen bei der Wirtschaftsförderung über die
Rahmenbedingungen diskutieren. Hier ist der Staat gefordert. Eine solche Förderung muss klug und die Subventionspraxis so angelegt sein, dass nicht immer nur die
großen Unternehmen bedacht werden. Vielmehr muss
die Infrastruktur gefördert werden. Das Problem zum
Beispiel bei Nokia ist, dass nach fünf Jahren, nachdem
das Geld einkassiert war und sich Nokia vom Acker
machte, nichts mehr verbleibt. Die Förderung von Infrastruktur, zum Beispiel in Form einer Schienenanbindung
in strukturschwachen Regionen oder einer Breitbandanbindung und Vernetzung, ist allemal wichtiger als eine
Subventionspraxis, die sich in Europa und in Deutschland auf große Unternehmen konzentriert.
({5})
Die Gelder, die für Subventionen bereitgestellt werden, landen in Deutschland und Europa nur zu 11 Prozent bei kleinen und mittleren Unternehmen. Das ist ein
Skandal. Aber dazu sagen Sie von der Linken nichts,
weil auch Sie nur an Großbetriebe denken. Sie setzen
eben nicht da an, wo der Motor für Beschäftigung und
ökonomische Entwicklung ist, nämlich bei kleinen und
mittleren Betrieben.
Kollegin Dückert, bitte kommen Sie zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. - Natürlich brauchen wir als
Starthilfe für Existenzgründungen, Innovationen und
strukturschwache Regionen den Einsatz von öffentlichen
Mitteln. Natürlich müssen wir darüber diskutieren. Aber
das, was Sie vorschlagen, ist der Wolf im Schafspelz. Da
machen wir nicht mit.
Danke schön.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 16/8177 zur federführenden Beratung an
den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie und zur
Mitberatung an den Finanzausschuss und an den Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union zu
überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 29 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Miriam
Gruß, Gisela Piltz, Sabine LeutheusserSchnarrenberger, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Konkretes und tragfähiges Konzept zur Bekämpfung von Extremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus vorlegen und
zeitnah umsetzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke,
Diana Golze, Petra Pau, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Fortführung und Verstetigung der Programme gegen Rechtsextremismus
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke,
Petra Pau, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Beratungsprojekte gegen Rechtsextremismus dauerhaft verankern und Ergebnisse
der wissenschaftlichen Begleitforschung berücksichtigen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Monika Lazar,
Irmingard Schewe-Gerigk, Kerstin Andreae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rechtsextremismus ernst nehmen - Bundesprogramme Civitas und entimon erhalten,
Initiativen und Maßnahmen gegen Fremdenfeindlichkeit langfristig absichern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Monika
Lazar, Britta Haßelmann, Irmingard ScheweGerigk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bundesmittel nicht verschwenden - Beratungsnetzwerke gegen Rechtsextremismus
nachhaltig fördern
- Drucksachen 16/2779, 16/1542, 16/4807,
16/1498, 16/4408, 16/5816 Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Dörflinger
Miriam Gruß
Diana Golze
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die
Unionsfraktion die Kollegin Katharina Landgraf.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt
wohl kaum ein Thema, das so sehr zum Aktionismus anregt wie das Thema Rechtsextremismus. Alle werden
aktiv und schreiben sich auf die Fahne, ihn aus Deutschland verbannen zu wollen. Nur um es gleich zu Beginn
festzustellen: Dieses Ziel verfolgen wir alle, allerdings
jeder auf seine eigene Art und Weise. Wir, die CDU/
CSU-Fraktion, und unser Koalitionspartner, die SPDFraktion, haben daher beschlossen, keinen eigenen Antrag vorzulegen. Wir handeln lieber gleich, und zwar so,
dass die Anträge der Opposition längst von den Aktivitäten der Bundesregierung überholt werden.
({0})
Mittlerweile gibt es das neue Programm „Jugend für
Vielfalt, Toleranz und Demokratie - gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“ oder
kurz „Vielfalt tut gut“. Darin werden 90 lokale Aktionspläne und 93 Modellprojekte gefördert. Hierfür sind im
Haushalt 2007 Mittel in Höhe von 19 Millionen Euro bereitgestellt worden. Im Übrigen entspricht dies genau der
Summe, die im Antrag der Linken gefordert wird. - Erstaunlich, dass Sie sich in diesem Punkt der Regierungskoalition anschließen wollen!
Zusätzlich zu diesem präventiv ausgerichteten Programm sind weitere 5 Millionen Euro für das ergänzende
Programm „Förderung von Beratungsnetzwerken - Mobile Intervention gegen Rechtsextremismus“ verfügbar.
Hier wird der Schwerpunkt auf anlassbezogene Interventionen gegen Rechtsextremismus gesetzt.
Sie sehen also, die Programme werden nicht nur erfolgreich weitergeführt, sondern die Mittel dafür wurden
sogar erhöht. Auch ist sichergestellt, sehr geehrte Damen
und Herren von der FDP, dass, wie in Ihrem Antrag gefordert, keine Lücken bei der Fortführung und Finanzierung der Maßnahmen gegen Rechtsextremismus entstehen.
Ihre Forderung nach Kampagnen im Bereich des
Sports ist ebenfalls bereits erfüllt. So gab es zum Beispiel in Leipzig im Sommer 2007 ein Projekt mit dem
Namen „Cool down, kick off! - Straßenfußball für Toleranz“. Ziel ist es, dass Kinder und Jugendliche lernen,
auf friedliche Weise Konflikte zu lösen und Schwächere
ins Team einzubinden. Sie werden für Respekt und
Teamgeist begeistert und stärken ihre Sozialkompetenzen. Außerdem gibt es das stetig fortlaufende Projekt
„Footpower“, auf Deutsch „Kraft der Füße“, ebenfalls in
Leipzig. Es soll Kindern und Jugendlichen beim Fußballspielen Regeln und Respekt vermitteln, ihren Ehrgeiz wecken und ihnen helfen, an sich selbst zu glauben.
Ihr Toleranzverständnis wird gefördert, und es wird mit
rassistischen Vorstellungen aufgeräumt. Das entspricht
dem, was schon der Friedensnobelpreisträger Nelson
Mandela sagte: Fußball ist eine der wichtigsten Aktivitäten, die Menschen zusammenbringt.
({1})
Dies sind nur zwei beispielhaft herausgegriffene Projekte, von denen es in ähnlicher Form über Deutschland
verteilt unzählige gibt. Alle sind durch das Bundesprogramm „Vielfalt tut gut“ gefördert, und alle sind kleine
Mosaiksteine im großen Bild einer toleranten Gesellschaft.
Das jetzt aufgestellte Programm berücksichtigt zudem die Evaluierung bestehender bisheriger Programme,
({2})
die der Frage nachging, welche Strukturen sich bewährt
haben und welche nicht. Alles einfach nur weiterzuführen, verehrte Kollegin Lazar, was sich bisher entwickelt
hat, ist nicht nur sachlich falsch, sondern auch im Hinblick auf den Einsatz öffentlicher Mittel nicht zu verantworten.
Das Programm „Vielfalt tut gut“ setzt gerade im jugendpolitischen Bereich stark auf Prävention. Ich kann
dies in meinem Wahlkreis im Muldental verfolgen. Man
muss bereits bei den Kindern beginnen, damit sich extremistisches Gedankengut gar nicht erst in ihren Köpfen
festsetzen kann. Dies gilt in erster Linie für die besonders anfälligen männlichen Jugendlichen.
Kollegin Landgraf, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Lazar?
Ja, bitte.
Da Sie gerade Ihren Wahlkreis ansprechen, komme
ich auf etwas zurück, worüber wir uns bereits in einer
der letzten Debatten unterhalten haben. Gerade im Muldentalkreis gab es mit dem neuen Programm „Vielfalt tut
gut“ Schwierigkeiten, weil in dem lokalen Aktionsplan
bis zuletzt von der Verwaltung versucht wurde, eine sehr
erfahrene Initiative, das „Netzwerk für Demokratische
Kultur“ in Wurzen, auszugrenzen. Es bedurfte erst der
Intervention von vielen Seiten, damit diese Initiative in
den lokalen Aktionsplan einbezogen werden konnte.
Jetzt klappt das zwar alles, aber stimmen Sie mir zu,
dass es auch bei dem neuen Programm Schwierigkeiten
gab, insbesondere wenn es in der lokalen Verwaltung angesiedelt ist?
Ich sehe nicht, dass es dort Schwierigkeiten gibt. Ich
glaube, dass sich die Akteure erst finden müssen. In diesem Prozess der Findung hat der Kreistag sogar noch eigene Mittel bereitgestellt,
({0})
damit weitere Programme und Initiativen gefördert werden konnten.
({1})
Ich finde es gut, Frau Lazar, wenn wir nicht von der
reinen Bundeszuständigkeit ausgehen, sondern das
Thema auch als Sache der Länder und insbesondere der
Kommunen ansehen. Daran müssen sie sich erst einmal
gewöhnen. Dabei gibt es leichte Einarbeitungsprobleme
und Kompetenzgerangel, wie es überall der Fall ist. Ich
möchte aber betonen, dass der Prozess erfolgreich verlaufen ist. Wir haben jetzt im Muldentalkreis ein Superprogramm, dessen Fördervolumen über die 100 000 Euro hinausgeht, die der Bund jährlich bereitstellt.
({2})
Die Kommunen und Landkreise waren zunächst nicht
informiert, an welchen Orten welche Projekte umgesetzt
werden sollten. Jetzt erhalten sie die Bundesmittel direkt. Damit wird sichergestellt, dass alle demokratischen
Kräfte zusammenarbeiten.
Diese Meldungen zeigen mir, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Eine sinnvolle Ergänzung des Programms
„Vielfalt tut gut.“ ist das zusätzliche 5-Millionen-EuroProgramm zur Förderung von Beratungsnetzwerken
- das entspricht Ihrer Forderung nach zusätzlichen Mitteln, die ich immer unterstützt habe -, bei dem es im
Wesentlichen darum geht, bei Vorfällen mit rechtsextremistischem Hintergrund mobile Interventionsteams einzusetzen. Auch das hat sich bewährt. Die Beratungskompetenz der mobilen Beratungsteams, die seinerzeit im
Programm „Civitas“ entwickelt wurden, wird ausdrücklich mit einbezogen. Die Behauptung, dass die bisher geförderten Initiativen leer ausgingen, ist also falsch.
Bei aller Notwendigkeit, gegen Rechtsextremismus
vorzugehen, betone ich, dass es sich dabei nicht allein
um eine Aufgabe des Bundes handelt.
({3})
Es sollen viele Akteure vor Ort mitwirken. Das ist so gewollt. Denn schließlich geht es um die Menschen vor Ort
und darum, die gesamte Gesellschaft einzubinden. Ziel
muss es sein, eine breite Bewegung für Vielfalt und Toleranz und damit gegen Extremismus ins Leben zu rufen
und zum Hinsehen aufzufordern. Dass sich Linksextremisten zur Bekämpfung von Rechtsextremisten beauftragt sehen, ist ein denkbar ungeeigneter Weg.
({4})
Die Demokratie verträgt keinerlei Extremismus.
Wir müssen uns fragen, wie bei jungen Menschen extremes Gedankengut entsteht. Dazu trägt ein großes
Bündel von Faktoren bei, angefangen mit Perspektivlosigkeit - egal ob tatsächlich oder nur eingebildet über das Fehlen eines gefestigten Wertekanons und der
Suche nach Orientierung oder Heimatgefühl bis hin zu
fehlendem Selbstwertgefühl und der Beeinflussung
durch das persönliche Umfeld.
Man muss also bei der Stärkung des Selbstwertgefühls,
beispielsweise durch Anerkennung, und der politischen
Bildung durch Angebote zur Teilhabe am politischen und
gesellschaftlichen Leben ansetzen. Persönliche Misserfolge dürfen nicht reflexartig der Demokratie in die
Schuhe geschoben werden.
({5})
Um die genannten Ziele zu erreichen, gibt es eine
Reihe von Aktivitäten. Allen voran ist die Arbeit der
Bundeszentrale für politische Bildung zu nennen. Sie
gibt Publikationen heraus, die zum großen Teil kostenlos
an Schüler und Lehrer abgegeben werden. Des Weiteren
organisiert sie zum Beispiel Veranstaltungen mit Zeitzeugen, präsentiert Filme und gestaltet Ausstellungen.
Aber auch andere Organisationen sind mit immer
neuen Ideen am Start. Das Anne-Frank-Zentrum testet
gerade im Rahmen eines Pilotprojekts in den siebten bis
zehnten Klassen an Berliner Schulen einen Comic, der
an die Lebensgeschichte von Anne Frank angelehnt ist.
Geschichtslehrer haben beobachtet, dass sie ihre Schüler
nicht mehr erreichen, wenn es um die NS-Zeit geht.
Häufig schalten Schüler bei einer zu intensiven Beschäftigung mit dem Thema im Unterricht auf Durchzug,
wenn sie nur das Wort Auschwitz hören.
Ein gelungener Unterricht muss sich aber nicht nur
mit historischen Ereignissen, sondern auch mit einzelnen
Lebensgeschichten beschäftigen. An dieser Stelle setzt
der Comic an.
Das sind gute Beispiele dafür, wie mit niedrigschwelligen Angeboten das Interesse der Kinder und Jugendlichen geweckt und auch erhalten werden kann. Das kann
auch zu großer Eigeninitiative führen.
In meinem Wahlkreis in Grimma haben Schüler der
achten und neunten Klasse ein Theaterstück selbst entwickelt. Der Titel lautet „No Navigation. Ohne Peilung“.
Das zentrale Thema ist: Wie geraten Jugendliche in den
Sog rechtsextremer Gruppen? Das Stück wurde im Sommer 2007 am Grimmaer Johann-Gottfried-Seume-Gymnasium aufgeführt. Danach wurde es ausgewertet und
darüber mit Schulklassen diskutiert. Das ist ein extrem
lohnendes und Denkanstöße gebendes Stück.
({6})
Die Medien tragen aber auch zum Kampf gegen das
Vergessen bei. Letzten Montag lief im Fernsehen beispielsweise der Film „Sophie Scholl“ zum Gedenken an
den Tag der Ermordung der studentischen Widerstandskämpferin und ihrer Mitstreiter. Die Aufarbeitung der
Herrschaft der Nationalsozialisten erfolgt in unserer Zeit
also glücklicherweise mehr denn je.
Mein Fazit: Wir sollten die laufenden Projekte weiter
unterstützen und viele Menschen mitnehmen. Die Medien bitte ich eindringlich, nicht nur über rechts- und
linksextreme Übergriffe zu berichten. Sie sollten auch
dabei sein, wenn sich Menschen einmischen und Courage zeigen.
({7})
Abschließend möchte ich darum werben, unser aller
Arbeit und die Programme unter die neue Überschrift
Engagement für Bildung und Demokratie zu stellen. Das
schließt Kampf gegen jegliche Form von Extremismus
ein.
Vielen Dank.
({8})
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege
Christian Ahrendt.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Frau Landgraf, Sie haben zu Recht bemerkt,
dass es bei der Bekämpfung von Extremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus nicht auf Aktionismus ankommt. Aber die Anträge liegen seit 2006 vor.
Die Regierung hat sehr lange gebraucht, um überhaupt
etwas auf den Weg zu bringen.
Das eigentliche Thema ist die Frage, wie man Extremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus bekämpfen will. Setzt man auf kurzfristige, anlassbezogene Konzepte, oder setzt man lieber auf langfristige
Strategien? Diese Frage gilt es zu beantworten. Wenn
man auf kurzfristige Konzepte setzt, hat man sicherlich
die Chance, schnell Ergebnisse zu erzielen. Das Problem
kurzfristiger Konzepte ist aber, dass sie nicht das Verhalten ändern. Man braucht sehr lange, um Verhalten zu ändern. Wir alle kennen das von den Diäten, die man im
Frühjahr macht, wenn man sich über die Pfunde ärgert,
die man sich im Winter zugelegt hat. Man hungert ein,
zwei Wochen. Dann fallen die Pfunde. Aber anschließend setzt der Jo-Jo-Effekt ein, weil man sein Verhalten
nicht geändert hat. Auch bei den Konzepten kommt es
darauf an, langfristig zu handeln. Gerade hier steuern Sie
in die falsche Richtung, weil Sie nur den kurzfristigen
Erfolg im Auge haben.
({0})
Wenn Sie langfristige Konzepte verfolgen wollen,
müssen Sie entsprechende Strukturen aufbauen. Diese
wirken wesentlich früher und präventiv. Sie können auch
nicht ausschließlich auf die Schüler abstellen. Es gibt
viele Strukturen, die verhindern, dass man an sie herankommt. Zum Beispiel gehen viele gar nicht mehr zur
Schule. Man muss dorthin gehen, wo die Menschen sind,
um sie zu erreichen. Ich denke zum Beispiel an die dörflichen Strukturen in Mecklenburg-Vorpommern. Wir
brauchen dort örtliche Beratungsstellen und Präventivteams. Diese dürfen nicht - das gilt auch für die zu treffenden Personalentscheidungen - auf kurzfristiges, sondern müssen auf langfristiges Agieren ausgerichtet sein.
Das ist die Hauptkritik, die wir an den Konzepten üben,
die die Bundesregierung vorgelegt hat.
({1})
- Es ist doch schön, dass Sie nach der Rede von Frau
Stokar nun etwas Positives von Herrn Wieland hören.
({2})
Es wäre besser gewesen, wenn Sie die vorhandenen
Konzepte intensiver fortgeführt hätten. Hätte man Programme wie Civitas nicht nur mit 5 Millionen Euro ausgestattet, wie Sie es tun, sondern intensiver fortgeführt,
hätte man eine langfristige Orientierung erreicht. Dann
erzielte man bessere Ergebnisse. Deswegen bleibt es bei
der Kritik, die wir in unserem Antrag geübt haben, und
deswegen sind unsere Anträge nach wie vor aktuell.
Ich danke Ihnen.
({3})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Sönke Rix
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ging nun schneller als geplant. Vielen Dank. Vielleicht kriege ich noch zwei Minuten ab. Ich glaube aber,
ich kann es relativ schnell machen.
Es ist schön, zu beobachten, wie gut hier schon die
Zusammenarbeit zwischen der FDP und den Grünen
funktioniert. Das können wir für Hessen ganz gut gebrauchen. Sagen Sie doch Ihren Kollegen im Hessischen
Landtag, dass es eine punktuelle Zusammenarbeit gibt.
({0})
Vielleicht kann man darauf aufbauen.
Nun zum Thema. Es ist vor allem angesprochen worden, dass die Programme zu bürokratisch seien. Man befürchtet, dass wir in einigen Bereichen nicht zu dem Ziel
kommen, das wir eigentlich alle gemeinsam verfolgen.
Ich glaube, dass wir im laufenden Programm tatsächlich
zu viele bürokratische Hürden haben, aber ich finde es
gut, dass das Ministerium und auch die zuständigen Abteilungen so flexibel sind, wie es gerade in dem Beispiel
aus Ihrer Heimat, Frau Landgraf
({1})
- Ihrer gemeinsamen Heimat -, zum Ausdruck kam. Das
Ministerium ist flexibel, und solche guten Projekte werden unterstützt. Das Ministerium ist deshalb eines Lobes
wert. Es ist schön, dass wir an einem gemeinsamen
Strang ziehen.
({2})
Die vielen Anträge, die uns heute vorliegen, sind teilweise schon veraltet. Frau Landgraf hat schon erwähnt,
dass wir handeln. Wir haben keinen gemeinsamen Antrag formuliert, aber wir handeln. Ich nenne das mit
19 Millionen Euro ausgestattete Programm „Vielfalt tut
gut.“ und das Programm „kompetent. für Demokratie“,
das neu und mit 5 Millionen Euro ausgestattet ist. Dieses
Programm läuft, und deshalb brauchen wir es nicht mit
einem Antrag zu unterstützen. Ich bin dem Ministerium
und dem Koalitionspartner dankbar, dass es unserem
sanften Druck nachgegeben hat und das Programm fortführt. Ich hoffe, dass wir zu einer Verstetigung kommen,
um die guten Projekte vor Ort zu unterstützen.
Dass wir alle gemeinsam handeln, macht deutlich,
dass es ein Anliegen aller im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen ist, etwas gegen Rechtsextremismus
zu tun, und zwar auf verschiedenen Ebenen. Ich finde,
das ist sehr gut so. Gerade mit dem Programm „Vielfalt
tut gut.“ arbeiten wir sehr stark präventiv. Wir haben einige Anregungen aus den Anhörungen aufgenommen.
Wir haben zum Beispiel aufgenommen, dass wir uns
nicht nur um Jugendliche bemühen, sondern auch um
Kinder. Auch das ist sehr wichtig; denn die Bekämpfung
von Rechtsextremismus und die Förderung von Demokratie fangen nicht erst bei Jugendlichen an, sondern
schon bei Kindern.
({3})
Da bin ich bei einem Punkt, den auch Sie, Frau
Landgraf, angesprochen haben. Sie haben die politische
Bildung und die dafür zuständigen Institutionen genannt.
Diese Institutionen leisten gute Arbeit.
({4})
Es ist aber auch ganz wichtig, dass Demokratie erfahrbar
und erlebbar ist. Es darf nicht nur einfach und platt dargestellt werden, wie der Bundespräsident und die Abgeordneten gewählt werden und wie Demokratie funktioniert. Demokratie muss vielmehr erfahrbar sein. Ich
glaube, dass auch die Länder in der Bildungspolitik ein
Stück weit umdenken müssen. Sie müssen sich fragen,
wie man nicht nur in den Schulen eine größere Beteiligung von Kindern und Jugendlichen erreichen kann.
({5})
In dieser Hinsicht sind wir in der Großen Koalition
und in der Bundesregierung auf einem guten Wege. Politik gegen Rechtsextremismus und für Demokratie besteht nicht nur aus diesen beiden Programmen. Dazu gehören auch das bürgerschaftliche Engagement und die
Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Wir sind auf
einem guten Wege, Prävention zu betreiben.
Das Programm mit den mobilen Beratungsstellen und
der Opferberatung - dafür sind 5 Millionen Euro extra
im Haushalt bereitgestellt worden - ist ein sehr gutes
Programm. An dieser Stelle muss man alle Initiativen
und Projekte vor Ort - es sind über 90 lokale Aktionsbündnisse - und deren Arbeit würdigen und ihnen Dank
aussprechen.
({6})
Insbesondere vor dem Hintergrund, dass wir diese Programme neu organisiert haben, wird vor Ort eine gute
Arbeit geleistet.
Wir sind uns alle darüber einig, dass wir nicht nur bei
uns im Familienausschuss und im Familienministerium
gegen rechts kämpfen - das habe ich bereits gesagt -;
vielmehr ist das auch in allen anderen Häusern eine ganz
wichtige Aufgabe. Für Demokratie zu werben und gegen
Rechtsextremismus zu kämpfen, fängt damit an, genügend Betreuungsplätze für Kinder zu schaffen und etwas
für die frühkindliche Bildung zu tun. Man sollte auch etwas für ein längeres gemeinsames Lernen tun und vor allen Dingen Perspektiven für junge Menschen schaffen.
Das ist der beste Weg, um gegen Extremismus von
rechts zu kämpfen.
Danke schön.
({7})
Für die Fraktion Die Linke spricht nun die Kollegin
Ulla Jelpke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auf den
ersten Blick scheinen die hier abschließend zur Beratung
stehenden Anträge zu den Bundesprogrammen gegen
Rechtsextremismus in der Tat überholt zu sein, weil bereits im letzten Jahr zwei neue Bundesprogramme angelaufen sind. Wir meinen aber, dass die Erfahrungen der
Praktiker und Praktikerinnen einen dringenden Anlass
geben, heute diese Debatte zu führen. Frau Landgraf, die
Grünen und wir von der Linken haben in den vergangenen Wochen Anhörungen mit Fachleuten und Praktikern
durchgeführt. Ich meine, dass diese Debatte dazu genutzt
werden muss, über eine bessere Ausgestaltung der Programme zu diskutieren.
In diesem Zusammenhang möchte ich aus dem Abschlussbericht zum Civitas-Programm zitieren: Eine
sinnvolle Förderpolitik müsse Projekte fördern, die von
Akteurinnen und Akteuren der Zivilgesellschaft verantwortet werden und
… auf die lokalen Kontextbedingungen abgestimmt
sind … An die Stelle permanenter Förderung von
immer neuen Modellen sollte eine Förderpolitik treten, die sicherstellt, dass Bewährtes erhalten bleibt
und verstetigt werden kann.
Genau das ist bei der Einsetzung des neuen Bundesprogramms nicht beachtet worden. Aus der zutreffenden
Analyse, dass die Kommunen beim Kampf gegen den
Rechtsextremismus unbedingt mitgenommen und einbezogen werden müssen, haben Sie die Folgerung gezogen, dafür zu sorgen, dass jetzt einzig die Kommunen
über die Beantragung von Mitteln entscheiden können.
Allein die Kommune entscheidet, wer die Arbeit machen
kann und soll.
Vor allen Dingen gibt es einen grundlegenden Konstruktionsfehler, der dazu führt, dass das Bundesprogramm gerade dort keine Wirkung entfaltet, wo es am
nötigsten wäre. Nehmen wir zum Beispiel die Kommunen der Regionen, in denen die Neonaziszene sehr stark
ist. Gerade in diesen Kommunen und Regionen wird das
Problem oft bagatellisiert und heruntergespielt. Natürlich möchte keine Kommune an der Spitze stehen, wenn
es darum geht, wo die Neonaziszene besonders stark ist.
Wir wollen die Kommunen nicht unter Generalverdacht
stellen; der uns allen bekannte Fall in Mügeln ist aber
kein Einzelfall. Gerade deswegen muss über entsprechende Erfahrungen diskutiert werden.
({0})
Aus unserer Sicht handelt es sich bei dem Konstruktionsfehler der Programme nicht um ein Versehen - Herr
Rix, Sie haben ein wenig versucht, es so darzustellen -,
sondern um das Ergebnis einer politischen Entscheidung. Die alten Bundesprogramme waren zumindest der
Unionsfraktion schon immer ein Dorn im Auge. Meine
Damen und Herren von der Union, es geht Ihnen offensichtlich darum, die staatliche Definitionsmacht und die
Kontrolle über alle Aktivitäten im Bereich der Programme zur Bekämpfung von Rechtsextremismus zurückzuerlangen.
({1})
- Frau Landgraf, ich erinnere Sie daran, dass die Projekte in der Tat unabhängig waren und dass auch unbequeme Tatsachen zur Sprache gebracht wurden. Das hat
Sie offensichtlich gestört.
({2})
Wenn man dem ungeliebten Thema Rechtsextremismus schon nicht ausweichen kann - das war lange Zeit
Ihr Ziel; oft genug wurde das Thema verharmlost und
bagatellisiert -, dann wollen Sie im Moment wenigstens
die Kontrolle darüber haben, was von den Projekten thematisiert wird. Ich möchte deutlich sagen: Es ist falsch
- Sie haben das versucht -, den aktiven Antifaschismus
als Extremismus abzutun. Wir lehnen das konsequent ab.
({3})
Auch im Zusammenhang mit der Etablierung von Beratungszentren erkennen wir diesen Ansatz: eine Form
der staatlichen An- und Einbindung, die die Arbeit gegen die extreme Rechte eher behindern wird.
Kollegin Jelpke, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Glauben Sie im Ernst, dass Polizei in Jugendklubs die
einzige Möglichkeit ist, Jugendliche vor Nazis zu schützen?
Am Ende möchte ich noch einmal sehr deutlich sagen, dass Geld für den Kampf gegen den Rechtsextremismus gebraucht wird. Es braucht vor allem unabhängige und unbequeme Initiativen, die nicht am staatlichen
Gängelband hängen. Dieses Ziel wird in der Mehrzahl
der vorgelegten Anträge verfolgt, und deswegen werden
wir sie unterstützen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Monika Lazar das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wie wir in den vorherigen Redebeiträgen schon gehört
haben, sind - darin sind wir uns wahrscheinlich einig der Kampf gegen Rechtsextremismus und das Engagement
für Demokratie zwei Seiten einer Medaille. So müssen
wir mit diesem Thema umgehen.
Allerdings lässt die Umsetzung der beiden Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus einige demokratische Prinzipien vermissen. Das wurde auch in der Anhörung der grünen Bundestagsfraktion vor einigen Tagen
deutlich. Engagierte Leute aus der Praxis, aus Initiativen
und Verwaltungen berichteten dort von ihren Erfahrungen und zeigten wichtige Veränderungen auf. Natürlich
kann noch kein abschließendes Urteil gefällt werden. Jedoch wurden einige Probleme benannt. Neonazis agieren
im eigenen Umfeld. Genauso kleinteilig müssen auch
wir agieren. Am besten ist es, wenn dies in unabhängigen, flexiblen Projekten vor Ort geschieht.
({0})
Diese haben aber als Modellprojekte im Programm
„Vielfalt tut gut“ fast keine Chance auf Förderung. Dort
wird nämlich kein Antrag bearbeitet, der nicht schon
50 Prozent Kofinanzierung beinhaltet. Das bedeutet, nur
wer politisch genehm ist, kann auf Kofinanzierung hoffen. Außerdem konkurrieren viele Projekte um dieselben
Geldtöpfe. Manche kleinen Träger, insbesondere ehrenamtlich arbeitende, mussten ihre Arbeit schon einstellen
oder haben sich angepasst - auf Kosten der Inhalte. Wer
es trotz der Hürden schafft, sich ins Spiel zu bringen,
schlägt sich zunächst mit einer ausufernden Antragsbürokratie herum. Projektinhalte bleiben meist wochenlang auf der Strecke. Statt sie zu bearbeiten, wächst der
Aktenstapel.
Im Bereich des anderen Bundesprogramms, im Bereich der mobilen Beratung und Opferberatung, wird der
Fokus neuerdings auf kurzfristige Krisenintervention gelegt. Langfristige Förderung ist nicht mehr möglich, obwohl gerade das wichtig wäre. Das hat schwerwiegende
Folgen für Opfer rechter Gewalt; denn Ansprechpartner
und Sachverstand gehen verloren. In Sachsen gab es
zum Beispiel bis Anfang dieses Jahres die Opferberatungsstelle AMAL, eine regional vernetzte Anlaufstelle
mit Büros in den Brennpunkten Wurzen und Görlitz.
Jetzt werden diese Büros abgewickelt, weil sie keine
Förderung mehr erhalten. Beratungssuchende müssen
nun in die großen Städte Dresden, Leipzig und Chemnitz
fahren, um dort Hilfe zu bekommen.
Praktiker berichten auch, dass beim Interventionsprogramm die staatlichen und zivilgesellschaftlichen Stellen
schwer kompatibel sind. Wenn das der Fall ist, erfahren
die Beratungsstellen von den aktuellen Fällen aus der
Zeitung und gehen der Sache nach. Aber es läuft doch
etwas falsch, wenn die Berater erst in die Zeitung
schauen und dann beim Ministerium anrufen müssen,
um zu fragen, ob sie aktiv werden können.
Was wir brauchen, ist eine fundierte, abgestimmte
Strategie von Bund und Ländern für eine Demokratisierung des Alltags.
({1})
Die Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus müssen weiterentwickelt werden, das heißt mehr Beteiligungsrechte, mehr strukturelle Gleichberechtigung und
mehr Chancen, insbesondere für kleine, unabhängige
Träger. Denn nur auf Augenhöhe können Zivilgesellschaft und Verwaltung gemeinsam etwas erreichen. Darauf muss es uns allen ankommen.
Schönen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Gert Winkelmeier.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Das Land Norwegen hat Anzeige gegen die Modemarke
Thor Steinar erstattet, weil man verhindern will, dass die
norwegische Flagge weiterhin Kleidung ziert, die besonders gerne von Rechtsextremisten getragen wird. Über
diese Anzeige muss jetzt die deutsche Justiz entscheiden. Sie hat aber schon in der Vergangenheit merkwürdige Entscheidungen auf diesem Gebiet getroffen. Ich
erinnere nur daran, dass Anstecker mit einem durchgestrichenen Hakenkreuz als verfassungsfeindlich eingestuft wurden. Erst der Bundesgerichtshof hat vorherige
Entscheidungen korrigiert.
({0})
- Ich habe es ja gerade erwähnt.
Einen Zickzackkurs gibt es auch bei der Forderung
nach dem NPD-Verbot. Mal heißt es „ja“, mal heißt es
„nein“, mal heißt es „vielleicht“. Das ist alles andere als
zielführend. Es ist mangelnde Konsequenz im Umgang
mit Faschisten, die man Verantwortlichen, ob in der Politik oder in der Justiz, vorwerfen muss. Es fehlen auch
Analysen und langfristige Strategien zur politischen
Auseinandersetzung.
Nun zu den vorliegenden Anträgen. Die Akteure müssen in einer Demokratieoffensive vernetzt sein, damit
das Zusammenwirken aller Demokraten zivilgesellschaftliche Wirkung entfaltet; denn nur dann, wenn alle
an einem Strang ziehen, besteht Aussicht auf Erfolg, darauf, dass den Rassisten wirksam das Handwerk gelegt
wird.
Dann muss die Regierung aber auch konsequent handeln. Auf der einen Seite stockt sie die Gelder für den
Kampf gegen den Rechtsextremismus um 5 Millionen
Euro auf 24 Millionen Euro auf - das ist in Ordnung; das
ist sehr gut -; auf der anderen Seite aber lässt sie nicht
zu, dass unabhängige Initiativen, die seit Jahren eine erfolgreiche Arbeit gegen den Rechtsextremismus leisten,
diese Gelder beantragen können. Die Bundesregierung
ruft also zum zivilgesellschaftlichen Engagement auf,
um es durch ihre eigenen Vorgaben indirekt wieder zu
verhindern. Das ist absurd. Damit wird letztendlich die
antifaschistische Arbeit verbürokratisiert.
Warum sind denn nach dem Willen der Bundesregierung nur Kommunen berechtigt, Anträge auf Förderung
von Projekten gegen rechts zu stellen, warum nicht auch
freie Träger? Wollen Sie die Kontrolle behalten, indem
Sie die Abläufe verstaatlichen?
({1})
Auch das ist absurd. Um in Ihrer Sprache zu bleiben: Sie
fordern, aber Sie fördern nicht.
Das Bündnis für Demokratie und Toleranz hat noch
im Jahr 2006 darauf beharrt - ich zitiere -:
Im 2007 neu anlaufenden Bundesprogramm „Maßnahmen zur Stärkung von Vielfalt, Toleranz und
Demokratie“ ist in Säule 1 ({2}) ein gleichberechtigtes Antragsrecht für die sog. Gebietskörperschaften und
die freien Träger zu verankern.
Warum hören Sie nicht auf Ihre eigenen Experten? Die
haben doch gute Gründe für ihre Einschätzungen.
Es muss darum gehen, wie die Arbeit, besonders die
Arbeit der mobilen Opferberatungen und Netzwerkstellen, kontinuierlich und langfristig gesichert werden
kann.
Kollege Winkelmeier, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss.
Modellprojekte sind wichtig, aber langjährige antifaschistische Erfahrung und Kontinuität sind es ebenfalls.
Danke schön.
({0})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Niels
Annen das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte gern noch etwas zu der Grundphilosophie unserer Programme sagen. In diesem Hause ist häufig und zu
Recht davon die Rede, dass der Staat dafür verantwortlich ist, seinen Bürgerinnen und Bürgern Sicherheit zu
garantieren und auch ein Sicherheitsgefühl zu vermitteln. Wenn der Rechts- und Linksextremismus in einen
Topf geworfen werden, wie das hier geschehen ist
- wenn auch nur in Nebensätzen -, dann darf man einmal auf Folgendes hinweisen: Es gibt in Reiseführern
über Deutschland keine Warnungen für Menschen mit
dunkler Hautfarbe oder ausländischem Hintergrund, bestimmte Regionen in unserem Land zu besuchen. Was
wir gemeinsam in den letzten Jahren erfolgreich geleistet
haben und was wir jetzt in der Großen Koalition mit unserem Koalitionspartner erfolgreich fortsetzen, ist ein
Beitrag zur Sicherheit und auch zu dem, was die Väter
des Grundgesetzes konstruiert haben. Es ist ein Beitrag
zur wehrhaften Demokratie.
({0})
Unsere Philosophie, diejenigen zu unterstützen, die
sich aus der Zivilgesellschaft heraus engagieren, aber
auch die Betroffenen zu stärken, die sich organisiert haben, die sich zu Initiativen und lokalen Bündnissen zusammengetan haben, ist richtig. Dabei geht es um finanzielle Unterstützung. Dabei geht es aber auch um
Unterstützung, was das Know-how anbelangt. Die meisten, die sich in diesem Land politisch engagieren, die
sich für ihre Gemeinschaft einsetzen, tun dies ehrenamtlich, in ihrer Freizeit. Deswegen ist es wichtig, auch
Know-how bereitzustellen. Es ist aber auch ein politisches Zeichen, das ausgesandt wird: Wir lassen euch in
eurem Engagement, in eurem Kampf gegen Rechtsextremismus nicht allein.
({1})
Ich glaube, es ist wichtig, auch darauf hinzuweisen,
dass wir die Projekte, die der Kollege Rix und andere
Redner hier beschrieben haben, erfolgreich auf den Weg
gebracht haben und sie fortsetzen, dass wir uns aber
nicht auf Engagement vor Ort, auf mobile Beratungsteams, auf Unterstützung und Strukturen, die wir
aufgebaut haben, beschränken. Wir haben in den letzten
Jahren mehr als 250 Projekte im Rahmen des Programms Xenos gefördert. Dies betrifft junge Menschen,
die aus der schulischen und beruflichen Ausbildung
kommen und sich an der Schnittstelle zum Einstieg in
das Berufsleben befinden. Auch sie brauchen natürlich
Unterstützung und müssen angesprochen werden. Das
ist eine erfolgreiche Arbeit. 400 000 Jugendliche sind in
diesem Bereich gefördert worden. Ich finde, es ist wichtig, auch dieses Engagement als einen Teil unseres
Kampfes gegen den Rechtsextremismus zu begreifen,
weshalb es an dieser Stelle noch einmal genannt werden
soll.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir von wehrhafter Demokratie sprechen - ich beziehe mich da beispielsweise auf den Innenminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern, der das öffentlich immer gesagt
hat -, dann muss man deutlich machen, wo die Zusammenhänge bestehen zwischen den gewaltbereiten Schlägerbanden, die sich in sogenannten freien Kameradschaften organisieren, die mit Gewalt drohen und
bewiesen haben, dass sie bereit sind, Gewalt anzuwenden, und denjenigen, die versuchen, auf der parlamentarischen Bühne für ihre rechtsradikalen Ideen zu werben.
Ich sage hier ganz deutlich: Solange sich Herr Voigt,
Herr Pasteurs, Herr Apfel - wie auch immer sie heißen nicht von diesen Schlägerbanden distanzieren, so lange
sie diese Schlägerbanden als Saalordner nutzen, solange
sie sie als organisatorischen Unterbau für ihre Wahlkämpfe nutzen und solange sie diesen Menschen einen
Platz auf ihren Wahllisten anbieten, solange werden wir
in diesem Hause darauf hinweisen, dass sie die politische Verantwortung für die Gewalttaten tragen, die da
geschehen.
Wir werden vonseiten der Bundesregierung mit dem
Programm auch materielle Unterstützung leisten. Wir
zeigen, dass wir uns nicht in die Ecke drängen lassen
und dass wir das praktizieren, was die Väter und die
Mütter des Grundgesetzes zu Recht deutlich gemacht haben: Wir praktizieren eine wehrhafte Demokratie.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf
Drucksache 16/5816.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/2779 mit dem Titel
„Konkretes und tragfähiges Konzept zur Bekämpfung
von Extremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus vorlegen und zeitnah umsetzen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/1542 mit dem Titel „Fortführung und Verstetigung der Programme gegen Rechtsextremismus“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der antragstellenden
Fraktion Die Linke bei Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/4807 mit dem Titel „Beratungsprojekte gegen Rechtsextremismus dauerhaft verankern und Ergebnisse der wissenschaftlichen
Begleitforschung berücksichtigen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der
FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5816 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/1498 mit dem Titel „Rechtsextremismus ernst
nehmen - Bundesprogramme Civitas und entimon erhalten, Initiativen und Maßnahmen gegen Fremdenfeindlichkeit langfristig absichern“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
Vizepräsidentin Petra Pau
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der FDPFraktion angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 5 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4408
mit dem Titel „Bundesmittel nicht verschwenden - Beratungsnetzwerke gegen Rechtsextremismus nachhaltig fördern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und
der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion,
der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 5. März 2008, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.