Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Ich begrüße Sie alle sehr herzlich zu unseren heutigen
Beratungen, die etwas länger dauern werden, als das an
einem Mittwoch üblicherweise der Fall ist.
Ich rufe zunächst den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des InVeKoS-Daten-Gesetzes und des
Direktzahlungen-Verpflichtungengesetzes
- Drucksache 16/8147 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Haushaltsausschuss
Eine Aussprache dazu ist nicht vorgesehen. Deshalb
kommen wir gleich zur Überweisung. Interfraktionell
wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/8147
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich
sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Gesetzentwurf zur Verbesserung der Ausbildungschancen förderungsbedürftiger
junger Menschen.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat der Bundesminister für Arbeit und Soziales, Olaf
Scholz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das
Bundeskabinett hat soeben dem Gesetzentwurf zum
Fünften Gesetz zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch zugestimmt. Das klingt ziemlich bürokratisch, dahinter verbirgt sich aber eine sehr wichtige Angelegenheit. Wir wollen dafür Sorge tragen, dass
hunderttausend Altbewerber eine Chance auf dem Ausbildungsmarkt haben und dass sie eine Ausbildungsstelle, die zusätzlich neu geschaffen wurde, bekommen.
Worum geht es bei der Erörterung dieses Gesetzentwurfs? Wir hatten im letzten Jahr eine sehr eigenartige
Situation auf dem Ausbildungsmarkt. Einerseits sind
zwar über 625 000 neue Ausbildungsverträge abgeschlossen worden - das ist eine sehr gute Nachricht,
zwar kein Rekord, aber fast. Nur 1999 sind wir seit der
Wiedervereinigung in der Bundesrepublik Deutschland,
was die Zahl der Ausbildungsverträge betrifft, besser gewesen. Andererseits mussten wir aber feststellen, dass
die Zahl der Altbewerber höher war als die Zahl der
neuen Bewerber.
Das ist für uns Anlass gewesen, uns Gedanken darüber zu machen, wie wir mit besonderen Anstrengungen dafür sorgen können, dass diese jungen Leute, die
schon lange auf einen Ausbildungsplatz warten, eine
Chance bekommen. Gerade jetzt, wo die Konjunktur seit
zwei Jahren besser läuft, wo die Zahl der Arbeitsplätze
zunimmt und die Arbeitslosenzahl sinkt, muss es uns gelingen, den jungen Leuten eine Chance zu geben.
Dazu dient der Ausbildungsbonus. Er ist ein wichtiger
Teil dieser Regelung. Er richtet sich an diejenigen, die
schon lange auf einen Ausbildungsplatz warten und keinen Schulabschluss, einen Sonderschulabschluss, einen
Hauptschulabschluss oder einen schlechten Realschulabschluss haben. Die Betriebe, die ihnen einen Ausbildungsplatz zur Verfügung stellen, haben einen Rechtsanspruch auf diesen Bonus. Bei Jugendlichen, die einen
besseren Abschluss haben, aber schon länger auf einen
Ausbildungsplatz warten, kann dieser Bonus auch gewährt werden. In dem Fall wollen wir ihn allerdings als
Ermessensleistung ausgestalten, um Mitnahmeeffekte
auszuschließen. Ich glaube, das ist ein gutes Beratungsergebnis.
Wichtig ist: Die jungen Leute, die eine solche Qualifikation mitbringen, erhalten eine Chance. Warum haben
wir das gemacht? Ein kurzer Hinweis: Jedes Jahr im
Herbst erfahren wir nicht nur aus den Illustrierten, sonRedetext
dern auch aus den Berichten der Menschen in unseren
Wahlkreisen, dass es ganze Hauptschulklassen gibt, in
denen niemand einen Ausbildungsplatz gefunden hat.
Dabei wäre es wichtig, dass gerade diese Jugendlichen
eine Chance auf einen dualen Ausbildungsplatz bekommen. Deshalb richtet sich der Ausbildungsplatzbonus
zielgenau an diese Jugendlichen und an Realschüler mit
einem schlechten Abschluss, die es auf dem Ausbildungsmarkt ebenfalls schwer haben. Wir sagen: Sie wollen wir mit einem Bonus unterstützen.
Dass es sich um Altbewerber handeln muss, habe ich
schon gesagt. Es müssen aber auch zusätzliche Ausbildungsplätze sein. Das ist wichtig, weil das Mitnahmeeffekte vermeidet. Ob es sich um zusätzliche Ausbildungsplätze handelt, kann man relativ unbürokratisch
feststellen. Wir wollen das folgendermaßen machen: Die
Kammern sollen bescheinigen, dass dieser Ausbildungsplatz in den letzten drei Jahren nicht vorhanden war. So
kann man sicherstellen, dass es sich um neue Ausbildungsplätze für diejenigen handelt, die lange suchen und
die es aufgrund ihrer Qualifikation besonders schwer haben.
Wenn es uns gelingt, zusätzlich hunderttausend junge
Leute auf diese Weise in eine duale Berufsausbildung zu
bringen, dann haben wir etwas geschafft, das diesen jungen Leuten nicht nur jetzt hilft, sondern ein ganzes Berufsleben lang. Deshalb, glaube ich, ist es diese Anstrengung wert. Ich bin sehr froh, dass wir das zustande
gebracht haben.
Wir haben das Ganze mit der Möglichkeit von Berufseinstiegsbegleitern kombiniert, die wir zunächst an
Tausend Schulen in Deutschland ausprobieren wollen.
Da greifen wir etwas auf, das ehrenamtlich schon ganz
gut funktioniert und weiter so funktionieren soll. Wir
wollen das Konzept um bei Trägern angesiedelte hauptamtliche Berufseinstiegsbegleiter ergänzen, die die jungen Leute, die Schwierigkeiten haben könnten, schon in
der Schule identifizieren und dafür sorgen, dass sie in einem zweiten Schritt bis in die duale Berufsausbildung
hinein begleitet werden. Ziel ist, dass diese jungen Leute
es schaffen; dass sie durchhalten. Wir alle wissen: Es
gibt viele, die kommen gar nicht an, die halten nicht
durch, die schaffen es nicht einmal durch die Probezeit.
Für diese Fälle ist es gut, dass wir das miteinander zustande gebracht haben. Es geht also um zwei große Projekte: den Ausbildungsbonus und die Berufseinstiegsbegleiter.
Zum Bonus ein Letztes: Wir haben ihn plakativ gestaltet. Man könnte bürokratisch sein und monatlich abrechnen. Aber weil jeder Betrieb, jeder Unternehmer, der
hier mitmacht, verstehen soll, wie die Leistung gemeint
ist, haben wir gesagt: Orientiert an der Höhe der Ausbildungsvergütung sollen es 4 000, 5 000 oder 6 000 Euro
sein. Deshalb hoffen wir, dass viele mitmachen. Die jungen Leute haben es verdient. Wir sollten uns alle Mühe
geben.
Schönen Dank.
Wir kommen nun zu den Fragen zu diesem Themenbereich.
Als Erste hat das Wort die Kollegin Hirsch.
Besten Dank. - Ich habe zuerst eine Nachfrage zur
Zielgruppe, die mir zu unklar gefasst und zu wenig eingeschränkt ist. Es gibt die Kritik, dass sogar die Unternehmen, die Realschüler mit einem guten Abschluss einstellen, Förderung erhalten können. Es gibt zudem die
Kritik, dass die verschiedenen Kriterien, die Sie aufstellen, eine Entweder-oder-Fassung darstellen. Hier setzt
meine Nachfrage an, warum das nicht einfach konkreter
gefasst wird, um eine sehr breite und unspezifische Förderung zu verhindern.
In diesem Zusammenhang würde mich zugleich interessieren: Wie soll das Kriterium „sozial benachteiligt“
definiert werden?
Schönen Dank für beide Fragen. Die zweite Frage beantwortet die erste. Das Kriterium „sozial benachteiligte
Jugendliche“ haben wir bei Berufsausbildungsförderungsmaßnahmen schon immer - auch in der Vergangenheit - angewandt. Das führt dazu, dass praktisch niemand identifizieren kann, um wen es sich eigentlich
handelt, außer natürlich diejenigen, die das als Sachbearbeiter zu begleiten haben. Die Unternehmen können mit
diesem Kriterium nichts anfangen.
Darum haben wir gesagt: Wir wollen jetzt nicht kleckern, sondern klotzen. Selbstverständlich sollen die sozial benachteiligten Jugendlichen, diejenigen, die es aufgrund verschiedenster Vermittlungshemmnisse schwer
haben, besonders gefördert werden. Bezogen auf alle anderen sagen wir: Sie sollen dann gefördert werden, wenn
sie schon lange nach einem Ausbildungsplatz suchen.
Wir haben die Förderung auch am Kriterium Hauptschulabschluss oder schlechter Realschulabschluss festgemacht, und zwar als eine Pflichtleistung.
Die Pflichtleistung ist für das Konzept des Ausbildungsplatzbonus ganz wichtig. Denn der Meister, der
Unternehmer, der Betrieb muss in der Lage sein, zu sagen: Ich bekomme den Bonus, und deshalb mache ich
das. Wenn er sich auf ein langes bürokratisches Verfahren einlassen muss, bei dem er nicht weiß, ob ihm der
Bonus wirklich zusteht, dann muss er es sich genau
überlegen: Wie wird es wohl sein? Gibt es einen Antrag?
Es darf nicht sein, dass ihm am Ende, kurz bevor der
Ausbildungsvertrag unterschrieben wird, gesagt wird:
Das klappt nicht.
Darum sind wir weitergegangen. Wir sind von dieser
großen Zielgruppe ausgegangen, weil wir feststellen
müssen, dass viele Voraussetzungen nicht mehr stimmen. Sie können jungen Leuten mit einem Hauptschulabschluss nicht erklären, warum sie den Ausbildungsplatz, den ihre Eltern vor 20 Jahren mit diesem
Abschluss bekommen haben, heute nicht mehr bekomBundesminister Olaf Scholz
men. Die Situation ist viel schwieriger geworden. Darum
haben wir an diesem Kriterium angesetzt und sind etwas
großzügiger.
Bezüglich der Mitnahmeeffekte haben wir in der Beratung eine Veränderung gegenüber den ursprünglichen
Ideen zustande gebracht. Wir haben gesagt: Die Zielgruppe sind hauptsächlich Hauptschüler und Realschüler
mit schlechten Abschlussnoten in Deutsch oder Mathe.
Die anderen bekommen den Bonus als Ermessensleistung. Das ermöglicht eine Steuerung, die Mitnahmeeffekte ausschließt.
Die nächste Frage hat Kollege Schneider. - Bitte.
Herr Minister, Sie haben die Berufseinstiegsbegleiter
angesprochen. Ich möchte vorwegschicken: Ich finde es
bemerkenswert, dass man auch hier festgestellt hat, dass
das ehrenamtliche Engagement, nämlich der Einsatz der
Ausbildungspaten, auf einer professionellen Ebene weitergeführt werden muss. Das ändert nichts an der Tatsache, dass auch das ehrenamtliche Engagement weiter bestehen bleiben muss. Auf diese beiden Punkte beziehen
sich meine Fragen.
Erstens. In der Qualifizierungsoffensive steht nur sehr
allgemein, man werde den weiteren Einsatz der Ausbildungspaten prüfen. Wie darf ich das verstehen? Wird
dieses Projekt fortgeführt? Was haben die Ausbildungspaten an diesem Punkt zu erwarten?
Zweitens. Von welchen Qualifikationen gehen Sie bei
den Berufseinstiegsbegleitern aus? Wo wird dies konkretisiert? Sind das Personen aus der Jugendhilfe? Was habe
ich mir hier vorzustellen?
Beide Fragen lassen sich leicht beantworten. Zunächst einmal sollen die ehrenamtlichen Strukturen, die
es gibt, weiterbestehen und am besten ausgebaut werden.
Was gibt es Besseres als viele engagierte Fachleute aus
den Betrieben, die sich als Paten ehrenamtlich um die
jungen Leute kümmern, sodass diese den Weg von der
Schule in den Beruf finden? Wir wissen, dass das gerade
in den großen Städten notwendig ist, weil die Erfahrungen, die aus der Schule mitgenommen werden, oft nicht
ausreichen, um sich in der Realität eines Betriebsalltages
zurechtzufinden. Deshalb helfen hier die Fachleute.
Dass wir „prüfen“ geschrieben haben, bedeutet, dass
wir die Möglichkeiten, die bisher existieren, weiter fördern wollen. Dadurch, dass wir eine professionelle
Struktur schaffen, wollen wir die ehrenamtlichen Mitarbeiter nicht verdrängen, sondern all unsere Möglichkeiten einsetzen. Jetzt aber geht es um die Schaffung der
gesetzlichen Grundlage dafür, dass wir befristet den Versuch starten, an Tausend Schulen solche Berufseinstiegsbegleiter zu etablieren. Wir stellen uns hier den Einsatz
von Trägern vor, die sich in diesem Bereich auskennen,
Personen mit guter Berufserfahrung, also mit Erfahrung
aus dem Leben in den Betrieben, Menschen, die den Jungen und Mädchen sagen können, wo es langgeht.
Dieses wichtige Ziel müssen wir erreichen. Aber wir
werden das nicht im Detail vorschreiben, sondern wir
wollen etwas ausprobieren, das funktionieren soll. Es
wird vor Ort sicherlich ganz unterschiedliche Praktiken
geben, die aber alle hilfreich sind.
Nächster Fragesteller ist der Herr Kollege Meinhardt.
Sehr geehrter Herr Minister, Sie haben mit den Veränderungen im Gesetzentwurf ein Stück weit auf die Kritik
von DGB, BDA und den Fraktionen des Hohen Hauses
reagiert. Ich habe aber trotzdem folgende Ergänzungsfragen.
Habe ich es richtig verstanden, dass die Zielgruppe
der Altbewerber in diesem Programm von Ihnen so definiert wird, dass dies diejenigen sind, die keinen Schulabschluss oder einen Sonderschulabschluss, einen Hauptschulabschluss oder einen Realschulabschluss, egal mit
welcher Abschlussnote, haben, wobei Deutsch oder Mathe mit der Note Vier abgeschlossen wurde? Die Frage
ist hier, ob die Fokussierung auf die beiden Fächer Mathematik oder Deutsch tatsächlich die Gesamtleistung
der Zielgruppe mit einem mittleren Bildungsabschluss
widerspiegelt.
Meine zweite Frage schließt sich daran an: Ist es richtig, dass Sie die letztendliche Ermessensfrage, wer in
diesem Zusammenhang als Altbewerber zählt, den Arbeitsagenturen vor Ort einräumen wollen und damit die
klare Fokussierung, was Altbewerber sind, aufgehoben
haben?
Wir haben zunächst einmal gefragt: Wen wollen wir
fördern? Wir haben diese Gruppe breiter gefasst, als das
in der Vergangenheit der Fall war. Das sind allemal auch
die sozial Benachteiligten. Es handelt sich hier aber um
ein sehr spezifisches Arbeitsmarktförderungskriterium,
das sich im Alltagsgebrauch nicht konkret in der Weise
anwenden lässt, dass man sagen kann: „Sie sind das“
oder „Du bist das“. Das geht nicht.
Wir haben daher entschieden, dass wir von den Bildungsabschlüssen ausgehen. Die Realität ist nämlich,
dass nur eine geringe Zahl von jungen Leuten mit einem
Hauptschulabschluss unmittelbar im Anschluss an ihren
Schulabschluss einen ungeförderten Ausbildungsplatz
bekommt. Darum müssen wir diese jetzt in den Blick
nehmen. Wir tun etwas, um ihnen einen „Schubs“ zu geben und die Betriebe zu überzeugen. Damit diese Förderung wirklich diejenigen erreicht, die sie benötigen, gibt
es das Kriterium, dass diese schon länger suchen müssen, nämlich mindestens ein Jahr. Außerdem muss es
sich in dem entsprechenden Betrieb um einen zusätzlichen Ausbildungsplatz handeln, den es vorher nicht gegeben hat.
Dies muss man prüfen. Wir haben versucht, das so
unbürokratisch wie möglich zu machen. Jemand hat vorgeschlagen, einfach dem Wort des Betriebes zu vertrauen. Das ist vielleicht doch ein bisschen wenig. Aber
auch das prüfen wir im Gesetzgebungsverfahren noch
einmal. Vielleicht ist es besser, zu sagen: Wir lassen uns
das von den Kammern bescheinigen. Darauf werden wir
uns dann verlassen und Stichproben durchführen, um zu
überprüfen, ob das gut funktioniert. Das ist in den nächsten drei Jahren ein Versuch. Diese drei Jahre sind sehr
wichtig. Denn gegenwärtig ist die Situation in der Wirtschaft gut, und die Zahl der Altbewerber, die diese Kriterien erfüllen, ist hoch. Diese Chance wollen wir nutzen,
um dafür zu sorgen, dass auch diese jungen Leute endlich einen Ausbildungsplatz bekommen.
Nun hat das Wort die Kollegin Dr. Enkelmann.
Herr Minister, von der IG Metall ist die Sorge geäußert worden, dass der Ausbildungsplatzbonus auch dann
gezahlt werden soll, wenn es im Jahr 2008 verglichen
mit 2007 zu einem Rückgang der Zahl der Ausbildungsplätze kommt. Trifft diese Information zu?
Auch ich habe diese Pressemitteilung gelesen. Ich
habe sie aber nicht verstanden. Wir stellen eine Berechnung über drei Jahre an. Das ist besonders gut, um im
Hinblick auf das Vorjahr Willkür auszuschließen.
({0})
Klugen Vorschlägen, wie Missbrauch vermieden werden
kann, stehen wir ganz offen gegenüber.
In unserem Gesetzesentwurf ist folgende Regelung
vorgesehen: Wenn man erkennen kann, dass mit Blick
auf die Förderung an der Zahl der Auszubildenden „gearbeitet“ wurde, dann kann sie verweigert werden. Hier
haben wir also eine Handhabe gegen Missbrauch.
Andererseits sage ich ausdrücklich: Wir dürfen uns
jetzt nicht die ganze Zeit vertieft mit den Missbrauchsfällen beschäftigen. Denn dann könnte es passieren, dass
wir eine Regelung treffen, die niemand mehr anwenden
kann. Das ist zwar eine beliebte Gesetzestechnik, wie ich
als Abgeordneter selbstkritisch sagen muss;
({1})
eigentlich geht es aber darum, ein Problem zu lösen. Das
Problem ist, dass die jungen Leute darauf warten, einen
Ausbildungsplatz zu bekommen, um einen Einstieg ins
Berufsleben zu schaffen.
Nächster Fragesteller ist der Herr Kollege Dr. Seifert.
Herr Minister, das, was Sie vortragen, klingt durchaus
beeindruckend. Wenn Sie das tatsächlich schaffen, dann
haben Sie mich bzw. uns mit Sicherheit auf Ihrer Seite.
Ich möchte eine Nachfrage zum Adressatenkreis stellen. Sie sprachen von einem Hauptschulabschluss und
von einem schlechten Realschulabschluss. Jeder, der es
wissen möchte, weiß, dass es unterhalb des sogenannten
gegliederten Schulsystems noch sieben Sonderschulformen gibt, und zwar für Menschen mit Behinderungen
und den verschiedensten anderen Schwierigkeiten. Sollen auch diese Menschen auf dem normalen dualen Ausbildungsmarkt eine Chance bekommen, und, wenn ja,
wie sieht es mit weiteren Hilfen, die durchaus nötig sind,
aus, zum Beispiel bei der Arbeitsassistenz, der Arbeitsplatzumgestaltung und dergleichen?
Zunächst einmal sind alle gemeint, diejenigen mit
schlechten Schulabschlüssen natürlich auf alle Fälle. Es
ist gut, dass Sie diese Nachfrage stellen; denn das gibt
mir die Möglichkeit, das klarzustellen.
Im Gesetzentwurf wurde extra formuliert: Um einen
Rechtsanspruch zu bekommen, braucht man einen Sonderschulabschluss, einen Hauptschulabschluss oder einen schlechten Realschulabschluss. Und natürlich gilt er
für diejenigen, die keinen Schulabschluss haben. Bei
denjenigen, die bessere Schulabschlüsse haben, aber
schon lange warten, weil sie erfolglos waren, beginnt die
Ermessensleistung. Das ist das Instrument, mit dem wir
Missbrauch verhindern wollen. Außerdem haben wir
eine besondere Förderung vorgesehen, wenn auch eine
Behinderung vorliegt.
Wir werden versuchen, sicherzustellen, dass kein
Sachverhalt doppelt gefördert wird. Das kann man, wie
ich glaube, einigermaßen gut organisieren. Die Förderungen müssen zueinander passen. Davon abgesehen
wird es auch die Möglichkeit geben, dass die notwendige Unterstützung, zum Beispiel im Hinblick auf die
Assistenz, sichergestellt wird.
Zur nächsten Frage Frau Kollegin Mast.
Herr Minister, inwiefern ist die Berufseinstiegsförderung, also die Förderung des Übergangs von Schule in
Ausbildung, eine Aufgabe der Zahlerinnen und Zahler
des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung? Das ist der
erste Teil meiner Frage.
Der zweite Teil meiner Frage ist: Wo ist das Ende der
Subventionierung der betrieblichen Ausbildung? Mit
dem Bonus für Ausbildung starten wir. Wo aber ist die
Verantwortung der Unternehmen?
Ich fange mit der Antwort auf Ihre zweite Frage an;
denn diese Frage ist sehr wichtig. Deutschland verfügt
über ein weltweit zu Recht gelobtes Ausbildungssystem.
Die duale Berufsausbildung beruht darauf, dass unzählige Unternehmen - es handelt sich um einige Hunderttausend Unternehmen - sagen: Wir bilden aus. Es sollte
jedes Jahr so sein, dass sich viele Unternehmer entscheiden, in dem Maße auszubilden, dass alle jungen Leute,
die nach der Schule einen Ausbildungsplatz suchen, unBundesminister Olaf Scholz
terkommen, und zwar unabhängig von der konjunkturellen Situation und der Größe des jeweiligen Altersjahrgangs. An den Zahlen erkennen wir aber, dass das nicht
abschließend funktioniert. Hier sind also noch zusätzliche Anstrengungen notwendig.
Ich bin sehr froh über die Leistungen, die wir mit dem
Ausbildungspakt erzielt haben, und danke für das große
Engagement der Wirtschaft, der Kammern und all der
anderen, die sich sehr bemüht haben und das auch weiter
tun. Es reicht aber nicht, und weil es nicht reicht, muss
man jetzt etwas tun. Darum haben wir gesagt, dass wir
jetzt beginnen müssen.
Deshalb legen wir ein auf drei Jahre befristetes Programm auf. Wir haben heute eine große Zahl arbeitsloser
Jugendlicher, und wir müssen jetzt dafür sorgen, dass sie
eine Chance haben. Es wäre natürlich schrecklich, wenn
irgendwann Arbeitskräftenot herrschen und man erst
dann damit beginnen würde, Arbeitslose im Alter von
Mitte 20 auszubilden, die man schon vor zehn Jahren
hätte ausbilden müssen. Wir versuchen jetzt, diese Aufgabe zu erfüllen. Weil wir in gewisser Weise verzweifelt
darüber sind, dass es trotz der gestiegenen Zahl nicht genügend Ausbildungsplätze gibt, legen wir noch einmal
nach und wagen mit dieser Förderung den Versuch.
Sie fragen, warum das eine Aufgabe der Arbeitsagentur ist. Das ist für mich ganz klar: All denjenigen, die wir
jetzt nicht gut ausgebildet auf ihr Berufsleben vorbereiten, werden wir immer wieder als Kunden der Arbeitsagentur begegnen. Auch hinsichtlich der Kassenlage der
Arbeitsagentur ist es deshalb eine erstklassige Investition, wenn wir rechtzeitig an der Qualifizierung der jungen Leute arbeiten.
Nächster Fragesteller ist der Kollege Schummer.
Herr Minister, mit dem Ausbildungsbonus folgen Sie
auch dem Grundsatz: So viel betriebliche Ausbildung
wie möglich, so viele außerbetriebliche Maßnahmen wie
unbedingt nötig. - Durch die betriebliche Komponente
bei den Einstiegsqualifizierungen funktioniert der Übergang in eine klassische, direkte Ausbildung sehr gut.
In zwölf Bundesländern gibt es schon Ausbildungsbonussysteme, beispielsweise auch in den FDP-regierten
Ländern Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und
Niedersachsen.
Gibt es ein FDP-regiertes Land?
Ich meinte die von der FDP mitregierten Länder. Um bei der Erfüllung des einheitlichen Kriteriums, dass
zusätzlich ausgebildet werden muss, Bürokratiekosten
zu vermeiden, wäre es sinnvoll, mit den jeweiligen Bundesländern, die auch solche Bonussysteme haben, eine
Absprache zu treffen. Ist das vorgesehen bzw. bereits geschehen?
Wir haben bedacht, was es in den Ländern gibt. Deshalb gibt es in dem Gesetzentwurf auch die Regelung,
dass das Gleiche nicht zweimal gefördert werden kann.
Das können wir gesetzgeberisch vorsehen.
Jetzt beginnt der Gesetzgebungsprozess. Damit haben
wir deshalb so früh begonnen, weil wir rechtzeitig fertig
sein wollen, damit diese Förderung für die kommende
Ausbildungssaison zur Verfügung steht. In dem Gesetzentwurf ist ja vorgesehen, dass der Bonus für Ausbildungsverträge gezahlt werden kann, die nach dem 1. Juli
dieses Jahres abgeschlossen werden. Deshalb müssen
wir uns beeilen.
Die Bundesregierung wird den Gesetzentwurf jetzt
also vorlegen. Der Bundesrat wird daran beteiligt sein.
All diese Fragen werden erörtert werden. Auf viele der
Fragen, die jetzt schon gestellt worden sind und noch gestellt werden, will ich im Übrigen sagen: Im weiteren
Verfahren werden wir natürlich ganz präzise schauen
müssen, dass wir eine Punktlandung schaffen und dann
der eine oder andere gute Vorschlag mit eingebaut werden kann. Es ist jeder willkommen, der eine intelligente
Idee hat. Wir müssen unser Vorhaben so gestalten, dass
es funktioniert und wir das Problem lösen, das ja ganz
offensichtlich vorhanden ist. Von selber ist es eben nicht
gut gegangen.
Nun hat der Kollege Rohde das Wort.
({0})
- Meine Kollegin, es geht wirklich nach der Reihenfolge
der Meldungen. - Herr Kollege Rohde, bitte sehr.
Ja, auch ich habe geduldig gewartet. Danke, Frau Präsidentin. - Herr Minister, es ist eine sehr knifflige Aufgabe. Wir sind uns in der Bewertung einig, dass diese
Problemgruppe, die Sie jetzt beschreiben - Jugendliche,
die einen Hauptschulabschluss haben und schon länger
auf eine Ausbildungsstelle warten -, einer besonderen
Betreuung bedarf. Das Problem ist natürlich, das so zielgerichtet zu tun, dass man den Punkt trifft.
Eine Frage ist daher: Welche Auswirkungen erwarten
Sie zum Beispiel für die Jugendlichen, die nicht unter
die Förderung fallen und ohne das Förderprojekt, das Sie
jetzt anschieben, eine Chance auf einen Ausbildungsplatz hätten, ihn aufgrund der Förderung aber nicht erhalten, weil jemand anderer vorgezogen wird, weshalb
sie allein aufgrund dieser Tatsache ein Jahr länger warten müssen? Im nächsten Jahr werden sie im Rahmen
dieses Förderprojektes dann vielleicht selber anspruchsberechtigt sein. Das wäre für den betroffenen Jugendlichen natürlich eher eine nicht so glückliche Aussicht.
Es stellt sich natürlich auch die Frage, ob dann, wenn
sich, aus welchen Gründen auch immer, nur Unternehmen aus einer ganz bestimmten Branche meldeten, die
sich vorstellen können, über Bedarf auszubilden - zur
Erläuterung: es gab beispielsweise bisher 50 durch die
Kammer bestätigte Ausbildungsplätze, nun werden
75 angeboten -, 25 zusätzliche Ausbildungsplätze in diesen Unternehmen gefördert werden und was passieren
wird, wenn die Jugendlichen nach zwei Jahren mit der
Ausbildung fertig sein werden, ihre Ausbildung definitiv
über Bedarf war und sie dann eine Ausbildung haben,
die sie nicht in einen Job führt. Auch solche Fragen muss
man berücksichtigen. Wie denkt die Bundesregierung
darüber?
Zunächst einmal denken wir, dass wir ein Problem
haben: zu wenige Ausbildungsplätze für die jungen
Leute. Dieses Problem kann man auch so beschreiben:
Es ist ganz schlecht, nicht mit einer Ausbildung zu beginnen. Es wird durchaus vorkommen, dass der eine
oder andere eine Ausbildung macht, die nachher für
seine Berufstätigkeit zwar als Ausbildung zählt, nicht
aber das, was er konkret gelernt hat. Aber auch dies ist
wichtig; denn wir sehen ja, wie schwierig es für viele
Leute ist, unterzukommen. Ich verbinde dies mit dem
Hinweis, dass die Auszubildenden früher 14, 15 oder
16 Jahre alt waren. Viele Leute, die selbst so angefangen
hatten, haben dies vergessen und stellen sich heute unter
einem Auszubildenden einen 18-jährigen Abiturienten
vor. Das hat sich in Deutschland nicht vernünftig entwickelt. Deshalb müssen wir etwas tun, damit sich die Zahl
der Ausbildungsverträge noch einmal vergrößert. Wir
hoffen, dass dadurch viele Leute eine bessere Berufsperspektive bekommen. Planen und steuern können wir dies
nicht. Es wird der FDP sicherlich gefallen, dass wir das
nicht wollen. Vielmehr wollen wir anregen, dass es viele
Ausbildungsverträge gibt.
Müssen wir befürchten, dass jetzt darauf geachtet
wird, wie man möglichst viele Benachteiligte in den Betrieb bekommt, während diejenigen, die eigentlich eingestellt würden, nicht eingestellt werden? Meine These
ist: Nein. Ob sich meine These erhärten wird, werden
wir durch Begleitforschung ermitteln. Allerdings
komme ich in vielen Betrieben herum und spreche mit
vielen, die ausbilden. Gerade unter den sehr engagierten
Ausbildungsbetrieben gibt es viele, die überhaupt niemanden nehmen, der länger gewartet hat: Sie nehmen
die Leute direkt von der Schule mit einem sehr guten
Hauptschulabschluss, mit Realschulabschluss oder Abitur und sind den anderen gegenüber skeptisch. Wir versuchen jetzt - nichts ist ideal; besser wäre es, wir hätten
damit gar nichts zu tun -, die Ausbildungsbetriebe, die
schon engagiert sind, dazu zu überreden, noch einen
Auszubildenden oder eine Auszubildende zusätzlich zu
nehmen, damit wir insgesamt genug Plätze für die jungen Leute bekommen.
Nun hat die Kollegin Sager das Wort.
Herr Minister, wie beurteilen Sie das Argument, dass
der Ausbildungsbonus zwar vielleicht einen Anreiz für
den Betrieb schafft, über seinen Schatten zu springen,
aber nichts im Hinblick auf die Ausbildungsreife der
jungen Leute bewirkt? Was will die Bundesregierung
über das hinaus tun, was bisher im nationalen Pakt für
Ausbildung vorgesehen ist, um effektiver dazu beizutragen, dass die Ausbildungsreife der jungen Altbewerber
verbessert werden kann?
Das halte ich für eine sehr gute Frage, weil sie zu dem
Problem führt, das wir haben. Die erste Antwort ist: Wir
müssen im Rahmen des Ausbildungspakts neue Anstrengungen organisieren, damit sich alle in der Wirtschaft
- die vielen Hunderttausend Unternehmerinnen und Unternehmer, über die ich schon gesprochen hatte - noch
einmal ins Zeug legen und anstrengen. Wir ermutigen
auch die Betriebe, die früher einmal ausgebildet haben
und vor zehn oder fünf Jahren damit aufgehört haben,
noch einmal neu damit zu beginnen. Diese gemeinsame
Anstrengung brauchen wir; hier darf niemand nachlassen.
Die zweite Antwort: Wir stoßen dies an und versuchen, wie Sie schon gesagt haben, ergänzend anzuregen,
dass Betriebe noch etwas oben drauf packen.
Die dritte Antwort: Über die Ausbildungsreife der
jungen Leute können wir als Bundesregierung natürlich
nicht verfügen, auch nicht der Bundesarbeitsminister.
Aber es ist etwas, über das wir reden müssen. Natürlich
müssen die Länder in ihrer Verantwortung dafür sorgen,
dass es eine gute Ausbildung in den Schulen gibt. Wenn
es uns zum Beispiel gelänge, dass nicht mehr wie heute
10 Prozent der jungen Leute die Schule ohne Abschluss
verlassen, wäre unsere Situation sehr viel besser. Sie
wäre auch dann besser, wenn diejenigen, die einen
Schulabschluss haben, das, was sie an Qualifikation benötigen, um im Berufsleben mitzukommen, ebenfalls in
der Schule vermittelt bekommen hätten. Dafür ist es
dringend erforderlich, dass wir mit einem Ausbau von
Kinderbetreuungsmöglichkeiten und Ganztagsschulen
früher ansetzen. Aus der Sicht eines Arbeitsministers
und auch der Wirtschaft kann man erwarten, dass dies alles zustande gebracht wird.
Umgekehrt bringe ich es aber nicht übers Herz, die
Klage über die fehlende Ausbildungsreife - sie hat etwas
Fatalistisches nach dem Motto „So ist es nun einmal“ einfach hinzunehmen. Wir müssen auch den jungen Leuten eine Chance bieten, von denen ein Unternehmer sagt,
dass er eigentlich lieber jemand anders einstellen würde,
wenn er jemanden fände. Das müssen wir jetzt zustande
bringen. Denn wenn wir es schaffen, dass sich die Schulpolitik, die Kindergartenpolitik und die Krippenpolitik
in den Ländern so verbessern, wie wir es uns wünschen,
dann werden wir in 15 Jahren gute Ergebnisse erzielen.
Dazwischen liegen aber 15 Jahre, in denen wir dafür sorgen müssen, dass diejenigen, die die Schule bereits verlassen haben oder demnächst verlassen werden, auch
eine Chance bekommen. Das versuchen wir unter anderem mit diesem Projekt und vielen anderen Maßnahmen.
Nächste Fragestellerin ist die Kollegin Brigitte
Pothmer.
Herr Minister, Sie haben mehrfach betont, dass es Ihnen darum geht, zusätzliche Ausbildungsplätze zu fördern. Sind Sie bereit, den Vorschlag der IG Metall aufzunehmen, das Förderkriterium nicht daran zu koppeln,
dass mehr Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt
werden als im Durchschnitt der letzten drei Jahre, sondern daran, dass es mehr sind als in jedem der letzten
drei Jahre? Denn sonst würden - das besagen die detaillierten Berechnungen der IG Metall - auch Betriebe gefördert, die im Vergleich zu 2007 im Jahr 2008 weniger
oder nur die gleiche Zahl von Ausbildungsplätzen zur
Verfügung stellen. Das hängt damit zusammen, dass im
Jahr 2005, das in die Durchschnittsberechnung mit einbezogen wird, sehr wenige Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt worden sind.
Wir werden alle Verbesserungsvorschläge in den vor
uns liegenden Gesetzesberatungen prüfen. Ich bitte Sie
alle, das zu tun. Denn wir wollen sicherstellen, dass zusätzliche Ausbildungsstellen geschaffen werden. Wenn
man ein Problem erkannt hat, dann reicht es nicht aus,
sozusagen jeden Tag ein neues Flugblatt mit der Aufschrift „Es gibt ein Problem“ zu verfassen; vielmehr
muss man in der Sache eine vernünftige Lösung im Detail erarbeiten. Ich bin etwas skeptisch, was das von Ihnen genannte Konzept betrifft, aber ich will nicht verbauen, dass die Kreativität des ganzen Hauses zur
Präzisierung unserer Lösung beiträgt, damit unser Geld
nur für zusätzliche Ausbildungsplätze ausgegeben wird,
die sonst nicht entstehen würden.
Sollte es zu Mitnahmeeffekten kommen, würde ich
sie in geringem Umfang hinnehmen, wenn dadurch vermieden würde, dass die Regelung so bürokratisch wird,
dass kein einziger zusätzlicher Ausbildungsplatz entsteht, weil jeder sofort vor Schreck aufgeben würde,
wenn er ein dreibändiges Manual über die Ausführungsbestimmungen sieht.
Wenn wir einen vernünftigen Weg finden und unsere
vereinte Intelligenz das zustande bringt, dann wäre das
großartig.
Nächster Fragesteller ist der Kollege Brase.
Herr Minister, wenn wir zusätzliche Ausbildungsplätze schaffen wollen, dann stellt sich für mich erstens
die Frage, ob wir auch die Verbundausbildung mit einbeziehen und ob nicht auch in dem einen oder anderen Fall
einzelne Anteile der außerbetrieblichen Ausbildung mit
einbezogen werden können. Denn dann würden wir vielleicht Unternehmen motivieren, zusätzliche Ausbildungsplätze zu schaffen, und damit möglicherweise jungen
Leute eine zusätzliche Chance bieten.
Damit komme ich zum zweiten Teil meiner Frage.
Man kann sehr gut und intensiv über Ausbildungsreife
diskutieren. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass immer dann festgestellt wird, dass die Jugendlichen en masse nicht ausbildungsreif sind, wenn die Wirtschaft zu wenig Ausbildungsplätze zur Verfügung stellt.
Es gibt aber für junge Leute, die nicht ganz so stark sind,
die Möglichkeit der dualen Ausbildung, und es gibt das
Instrument der ausbildungsbegleitenden Hilfen. Wie will
Ihr Ministerium gemeinsam mit der Bundesagentur für
Arbeit das Instrument der ausbildungsbegleitenden Hilfen noch stärker in den Fokus bringen? Wir erleben nämlich hin und wieder, dass junge Leute während der Ausbildung dieser Hilfe bedürfen, die aber nicht sehr
bekannt ist. Wie soll die sozialpädagogische Hilfe organisiert werden?
Was die Verbundausbildung betrifft, schließt das eine
das andere nicht aus. Wir müssen nur sicherstellen, dass
es keine Mehrfachförderung gibt, damit nicht der Staat
letzten Endes 150 Prozent bezahlt. Das hat, glaube ich,
keinen Sinn. Darüber sind wir uns sicherlich alle einig.
Wenn es aber eine vernünftige Gesamtstruktur gibt,
dann ist durch den Weg, den wir nun einschlagen, zumindest teilweise garantiert, dass jemand in den Bereichen weiterqualifiziert wird, in denen der eigene Lehrbetrieb es nicht zustande bringt. Das ist Teil des Konzeptes.
Wir sind aber dabei, alle Wege zu fördern. Das Konzept der Bundesregierung beinhaltet ein breites Programm, zu dem all die Elemente gehören, die Sie eben
geschildert haben. Es bedarf nicht nur unserer gesetzgeberischen, sondern auch unserer praktischen Anstrengung, genau in die Richtung zu arbeiten, die Sie mit Ihrer Frage aufgezeigt haben. Meine These ist: Es ist
notwendig. Die jungen Menschen bedürfen jetzt unserer
Anstrengungen. Es hilft ihnen nichts, wenn wir sie darauf vertrösten, dass wir in 15 Jahren das richtige Konzept haben werden. Wir dürfen auch Fehler machen.
Aber wir müssen etwas machen.
Frau Kollegin Hirsch.
Mich interessiert erstens, wie die Bundesregierung
ausschließen will, dass Unternehmen vorrangig zweijährige Ausbildungsgänge anbieten und diejenigen, die einen zweijährigen Ausbildungsgang absolvieren, später
auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt sind.
Zweitens: Warum soll die Prämie in zwei Schritten
- der eine Teil gleich beim Abschluss und der andere
nach der Hälfte der Zeit -, in jedem Fall aber bereits vor
einem erfolgreichen Abschluss, gezahlt werden? Welche
Logik verbirgt sich dahinter?
Wir haben sichergestellt, dass sich die Förderung an
der Ausbildungsvergütung orientiert. Wenn sie niedriger
ist, gibt es weniger Geld. Das ist unsere Lösung. Ansonsten steht es nicht in der Verfügungsmacht der Bundesregierung, Betriebe anzurufen und ihnen mitzuteilen,
wie viele Ausbildungsplätze sie zur Verfügung zu stellen
haben. Wir sind also auf ein Konzept angewiesen, mit
dem wir anregen und fördern. Wir wollen unsere Anstrengungen bei den Betrieben, die hinsichtlich der Ausbildung noch unentschlossen sind, intensivieren und sie
auffordern, mehr, Zusätzliches oder überhaupt etwas für
die Ausbildung zu tun. Alles, was in dieser Richtung geschieht, nutzt; denn mit der jetzigen Situation kommen
wir nicht gut zurecht.
Ihre zweite Frage, warum wir die Auszahlung so organisiert haben, ist leicht zu beantworten: Wir wollen
werben. Natürlich könnte man sich eine feine Bürokratenlösung ausdenken. Das meine ich nicht negativ. Es
gibt erstklassige Bürokratien; damit da kein Missverständnis entsteht. Natürlich könnten die Betriebe monatlich abrechnen und dementsprechend eine Überweisung
erhalten. Aber wir wollen regelrecht Werbung machen.
Wir sagen den Betrieben: Wenn ihr jetzt zusätzliche
Ausbildungsplätze schafft und junge Menschen einstellt,
die ihr sonst vielleicht nicht nehmen würdet, dann gibt es
etwas. Genau das wollen wir mit unserer Förderung erreichen. Damit das Ganze nicht so abstrakt klingt und
sich nicht jeder erst einen Taschenrechner oder einen Berater holen muss, um zu wissen, wie viel er bekommt,
haben wir plakative Beträge in Höhe von 4 000, 5 000
und 6 000 Euro genommen. Dabei orientieren wir uns an
der monatlichen Ausbildungsvergütung. Es gibt zudem
keine monatliche Auszahlung, sondern zwei Auszahlungszeitpunkte. Der gesamte Betrag wird nicht gleich
zu Beginn ausgezahlt, damit wir eine Kontrollmöglichkeit haben. Es geht also darum, zu werben, zu überzeugen und dafür zu sorgen, dass möglichst viele Betriebe
mitmachen, damit es möglichst viele Ausbildungsplätze
gibt.
Herr Meinhardt, bitte.
Herr Minister, Sie haben dargelegt, dass es eine Bezugsgruppe gibt, die im Gesetz klar definiert wird. Aber
die Frage, ob die Agenturen für Arbeit vor Ort die Freiheit haben, von den Kriterien, die Sie beschrieben haben,
abzuweichen, ist noch offen. Diese Frage halte ich für
sehr wichtig.
Da ich Abgeordneter aus einem von der FDP mitregierten Bundesland bin, dessen Wirtschaftsministerium
die Bundesratsinitiative auf den Weg gebracht hat, frage
ich konkret: Warum sind Sie nicht der mit großer Mehrheit im Bundesrat entschiedenen Variante eines Ausbildungsbonus gefolgt, die eine noch stärkere Konzentration
auf die Altbewerbergruppe vorsieht? Warum glauben Sie,
dass die jetzige Initiative im Vergleich zu der des Bundesrates vorteilhafter ist?
Ich gebe Ihnen auf beide Fragen die gleiche Antwort.
Wir wollten einen Rechtsanspruch; den gibt es nun. Hier
gibt es nichts zu interpretieren. Es gibt wie bei jedem anderen Gesetz die Möglichkeit, sich vor Missbrauch zu
schützen. Es gibt aber einen klaren Anspruch.
Das Konzept, das dahintersteht, ist folgendes: Der
Betrieb soll wissen, dass er dann, wenn er das macht, die
Förderung erhält. Er soll nicht hinterher, also nachdem
er alles vorbereitet hat, die Lage mit der Kammer besprochen und den jungen Mann bzw. die junge Frau ausgewählt hat, möglicherweise erfahren müssen, dass man
nach langer Prüfung zu dem Ergebnis kommt, dass er
den Bonus nicht bekommt. Somit bildet der Rechtsanspruch die Grundstruktur dieses Instruments. Außerdem
waren uns eine breite Zielgruppe und das Altbewerberkriterium, das wir definiert haben, wichtig. Wir haben
uns lange überlegt, wie man das am sinnvollsten gestalten kann, damit das auch nachvollziehbar wird. Das Ergebnis ist genau das, was wir jetzt vorgelegt haben. Wir
glauben, dass wir damit gut gelandet sind.
Für die letzte Frage zu diesem Komplex hat der Kollege Meckelburg das Wort.
Diese Frage eignet sich auch als letzte Frage; denn ich
finde, dass die Bundesregierung eine großartige Initiative aufgegriffen hat. Bei den Ausbildungsplätzen allgemein haben wir ein hohes Niveau. Hier geht es um die
Altbewerber, die es besonders schwer haben. Sie haben
den Versuch gemacht, durch eine relativ unbürokratische
Regelung Mitnahmeeffekte zu verhindern. Indirekt haben Sie die Antwort auf meine Frage schon gegeben.
Sind Sie nicht mit mir der Meinung, dass es hier nicht
darauf ankommt, bürokratisch bis ins Letzte alle Mitnahmeeffekte zu verhindern, sondern darauf, dass der Betreffende einen Arbeitsplatz bzw. Ausbildungsplatz bekommt, auch wenn es hier und da möglicherweise doch
zu Mitnahmeeffekten kommt? Denn wenn er einmal im
Betrieb ist, hat er größere Chancen, hinterher weiterzumachen. Meine Frage ist jetzt: Was unternehmen Sie, damit die Leute wirklich die zwei oder drei Jahre durchhalten?
Das, was wir tun, damit die jungen Leute zwei, drei
Jahre durchhalten, habe ich soeben schon bei der Beantwortung der Frage zu den ausbildungsbegleitenden Hilfen angesprochen. Außerhalb dieses Programms ist das
Teil der Tätigkeiten der Bundesagentur für Arbeit. Weiterhin nenne ich das Konzept der Berufseinstiegsbegleiter. Diese sollen die infrage kommenden Leute, bei deBundesminister Olaf Scholz
nen wir Schwierigkeiten vermuten, schon in der Schule
identifizieren und sie bis in den Betrieb hinein begleiten,
um Schwierigkeiten zu beseitigen, die manchmal auftreten, und die verhindern, dass jemand nicht durchhält. Es
gibt Betriebe, die jemanden ausbilden wollen, auch
wenn sie ihn immer wieder überzeugen müssen, dass es
gut ist, sich ausbilden zu lassen und am nächsten Tag
wiederzukommen. Vielleicht hätten diese Betriebe gern
die Telefonnummer eines Ansprechpartners, dem sie sagen können, dass es wieder Schwierigkeiten gibt, damit
sich jemand kümmert. Das ist das, was wir erreichen
wollen.
Damit sind wir am Ende der Regierungsbefragung.
Herr Minister, ich danke Ihnen für den Bericht und für
die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Fragestunde
- Drucksachen 16/8113, 16/8174, 16/7998 Bevor wir mit der Fragestunde beginnen, will ich darauf hinweisen, dass im Anschluss an die Fragestunde
eine vereinbarte Debatte zur Zukunft des Kosovo nach
der Unabhängigkeitserklärung vorgesehen ist. Deshalb
wird die Fragestunde schon um 15 Uhr beendet sein.
Zu Beginn der Fragestunde rufe ich gemäß Nr. 10
Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde die dringlichen Fragen auf Drucksache 16/8174 auf. Diese betreffen den Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Für
die Beantwortung der Fragen steht Herr Staatsminister
Gernot Erler zur Verfügung.
Ich rufe die dringliche Frage 1 der Kollegin Inge
Höger auf:
Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung anlässlich der Wellington Conference on Cluster Munitions vom
18. bis 22. Februar 2008 aus den Bitten von Nichtregierungsorganisationen wie dem Aktionsbündnis Landmine ({0}), „endlich ein deutliches Signal in Form eines Moratoriums zum Verbot von
Streumunition auszusenden und ihre Bremserrolle im OsloProzess aufzugeben“?
Meine Antwort lautet wie folgt: Die Bundesregierung
setzt sich international sowohl beim „Oslo-Prozess zu
Streumunition“ wie auch bei den laufenden Verhandlungen im Rahmen des VN-Waffenübereinkommens, des
CCW, für einen möglichst raschen weltweiten Verzicht
auf Streumunition ein. Ein solcher Verzicht muss aber
von einer breiten Gruppe von Ländern gestützt werden,
darunter möglichst auch den großen Besitzerstaaten von
Streumunition, die am Oslo-Prozess bislang nicht teilnehmen. Daher hat die Bundesregierung in beiden Verhandlungsprozessen einen Dreistufenplan zum Verzicht
auf Streumunition vorgestellt. Mit dem Dreistufenplan
soll der Staatengemeinschaft ein gangbarer Weg aufgezeigt werden, wie weltweit auf Streumunition verzichtet
und das humanitäre Völkerrecht gestärkt werden kann,
ohne dabei notwendige militärische Fähigkeiten zu vernachlässigen. Ein sofortiges übergangsloses Verbot unter
Ausblendung der militärischen Notwendigkeit hat im
globalen Rahmen keine Aussicht auf breite Unterstützung.
Die Bundesregierung hat im nationalen Rahmen bereits im Jahr 2006 eine sehr weitgehende Achtpunkteposition beschlossen. Mit dieser Position wird Deutschland voraussichtlich bis zum Jahr 2015 einseitig den
Verzicht auf Streumunition verwirklichen. Bis dahin
sieht die Bundeswehr keine Neubeschaffung von Streumunition vor. Sie hat bereits mit der Vernichtung solcher
Modelle begonnen, die eine Blindgängerrate von über
1 Prozent aufweisen. Der Deutsche Bundestag hat diese
Position durch die Entschließung vom 28. September
2006 unter dem Titel „Gefährliche Streumunition verbieten - Das humanitäre Völkerrecht weiterentwickeln“,
Bundestagsdrucksache 16/1995, begrüßt.
Frau Kollegin, Sie haben das Wort zu einer Nachfrage.
Die Bundesregierung könnte mit der eindeutigen Forderung nach einem sofortigen Verbot bezüglich Herstellung, Produktion und Lagerung von Streumunition vorangehen. Sind Sie mit mir der Ansicht, dass das ein
Signal in Richtung der im April stattfindenden Konferenz von Dublin wäre, auf der es um das Verbot von
Streumunition geht? Mit einer solchen Forderung würde
die Bundesregierung auch gegenüber anderen Staaten
ein Signal aussenden.
Frau Kollegin Höger, die Frage ist: Was ist das Ziel?
Ist das Ziel, dass es nachher eine Gruppe von Staaten
gibt, die sowieso über keine Streumunition oder über
sehr wenig verfügen, und dass man sich auf eine sehr radikale Position - Verzicht auf jegliche Streumunition verständigt? Es gäbe dann gleichzeitig die großen Staaten, die Besitzer, Produzenten und Anwender von Streumunition sind, dieses Verbot aber nicht beachten. Was
wäre daran ein Erfolg?
Die Bundesregierung hat sich dazu entschlossen, einen anderen Weg zu gehen: Wir machen einen vermittelnden Vorschlag. Wir glauben, dass ein solcher Vorschlag die Chance beinhaltet, dass sich die großen
Besitzer und Anwender von Streumunition mit ihm einverstanden erklären.
Haben Sie eine weitere Nachfrage? - Bitte.
Es ist bekannt, dass Streumunition in erster Linie ein
Kriegsgerät ist - man kann es nicht einmal Waffe
nennen -, das in der Regel die Zivilbevölkerung trifft.
Deshalb ist es aus kriegstechnischen Gründen sicherlich
nicht unbedingt notwendig, dieses Gerät bis 2015 zu haben. Sinnvoll ist vielmehr, dass es in diesem Bereich
ganz schnell ein Moratorium gibt. Geben Sie mir da
recht?
In der Zielorientierung unterscheiden wir uns nicht.
Das Ziel der Bundesregierung ist, wie ich gesagt habe,
ein völliger Verzicht, allerdings von allen Staaten, auf
Streumunition. Die Frage ist bloß: Wie kommen wir dahin? Dieses Problem wird im Augenblick auch auf der
Wellington-Konferenz debattiert. Wie Sie wissen, sind
dort die wichtigsten Besitzer und auch Anwender von
Streumunition gar nicht vertreten, Stichwort Oslo-Prozess.
Wir setzen auf zwei Stränge. Einer davon ist das
UN-Waffenübereinkommen. An dem in diesem Zusammenhang stattfindenden Prozess sind all diejenigen Staaten, die über große Besitzstände von Streumunition verfügen, automatisch beteiligt.
Wir kommen zur dringlichen Frage 2 der Kollegin
Höger:
Welche Bedeutung haben für die Bundesregierung die
vom Aktionsbündnis Landmine ({0}) zitierten Erwägungen des US-Verteidigungsministers Dr. Robert M. Gates, dass ein Verbot von Streumunition zukünftig gemeinsame NATO-Operationen mit
Beteiligung der USA ausschließen würde?
Um möglichst vielen Staaten, insbesondere den großen streumunitionbesitzenden, die Möglichkeit zu eröffnen, sich einem Übereinkommen zur Streumunition anzuschließen, setzt sich die Bundesregierung dafür ein,
dass die Erhaltung der Interoperabilität im Rahmen der
Bemühungen um ein Übereinkommen zu Streumunition
sowohl im Rahmen des Oslo-Prozesses wie auch im
Rahmen der Verhandlungen zum VN-Waffenübereinkommen gewahrt bleibt.
Ihre Nachfrage, Frau Kollegin.
Beabsichtigt die Bundesregierung, in diesem Zusammenhang wenigstens sicherzustellen, dass Deutschland
sich zukünftig nicht mehr an multinationalen Militäreinsätzen beteiligt, bei denen Streumunition zum Einsatz
kommt?
Vorab: Es ist sehr schwierig, diese Frage zu beantworten. Unser Ziel ist es gerade, die Staaten, die über Streumunition in größerer Zahl verfügen - auch solche, die
wir als besonders gefährlich einstufen, insbesondere
dann, wenn die Rate der Blindgänger über 1 Prozent
liegt und damit eine besondere Gefährdung der Bevölkerung angenommen werden kann -, dazu zu bringen, sich
an diesem Prozess zu beteiligen. Das ist unser politisches Ziel.
Eine weitere Nachfrage.
Sehen Sie die Bündnisfähigkeit der Bundesrepublik
gefährdet, wenn sie sich für ein sofortiges Verbot von
Streumunition aussprechen würde?
Nein, die Bündnisfähigkeit ist dadurch nicht gefährdet. Auch andere Staaten des Oslo-Prozesses haben sich
in dieser Weise erklärt, ohne dass dadurch ihre Bündnisfähigkeit gefährdet wäre.
Wir sehen das Problem bei der Erfolgsaussicht. Die
wichtigsten Länder mit Streumunition sind die Vereinigten Staaten, Russland, China, Indien, Pakistan, Israel
und Brasilien, um nur einmal die wichtigsten sieben aufzuzählen. Sie alle nehmen nicht am Oslo-Prozess teil, sie
alle wären aber einzubeziehen, weil man sonst mit dem
Versuch, einen Verzicht auf Streumunition zu erreichen,
die Welt nicht sicherer macht.
Nicht das Problem der Bündnisfähigkeit, sondern das
Problem der Inklusivität derer, die beim Thema Streumunition anzusprechen sind, ist also das Entscheidende.
Eine weitere Frage dazu, der Herr Kollege Gehrcke.
Herr Staatsminister, kann die Bundesregierung meinen Eindruck teilen, dass in der Äußerung des US-Verteidigungsministers Gates zu gemeinsamen NATO-Manövern eine gewisse erpresserische Note liegt?
Nein, Herr Kollege. Ein solcher Begriff lässt sich
hierauf nicht anwenden. Es ist eine klare Äußerung. Daraus können Sie schließen, dass die amerikanische Seite
überhaupt noch nicht auf dem Weg zu einem schnellen
Verzicht auf Streumunition ist. Das macht die Sinnhaftigkeit unseres Stufenplans, den wir vorgelegt haben,
noch einmal sehr deutlich.
Damit sind die dringlichen Fragen beantwortet.
Herr Staatsminister, ich danke Ihnen.
Wir kommen jetzt gemäß Nr. 11 der Richtlinien für
die Fragestunde zu den Fragen 25 bis 27 aus der Fragestunde am 13. Februar 2008 auf Drucksache 16/7998.
Sie sind zum Geschäftsbereich des Bundesministers für
Wirtschaft, Technologie und Verkehr.
Für die Beantwortung steht der Parlamentarische
Staatssekretär Peter Hintze zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 25 der Kollegin Heidrun Bluhm
auf:
Bei welchen Weltausstellungen und vergleichbaren Veranstaltungen hat die Bundesregierung seit 1980 die Kölnmesse
mit der Organisation, dem Bau und der Gestaltung des deutschen Beitrags beauftragt?
Seit 1980 hat sich die Bundesrepublik an Weltausstellungen beteiligt - ich werde sie gleich im Einzelnen
vortragen - und mit der technisch-organisatorischen
Durchführung als Ergebnis einer Ausschreibung Messedurchführungsgesellschaften beauftragt. Bau und Gestaltung des jeweiligen deutschen Beitrags wurden im
Rahmen von Ausschreibungen an Architektur- und Gestaltungsbüros vergeben. Die Durchführungsgesellschaften, nach denen Sie gefragt haben, Frau Kollegin, haben
weder selbst gebaut noch selbst gestaltet. Ihnen oblag
die Organisation und Durchführung des EXPO-Projekts.
1982: Knoxville, Tennessee, USA; Durchführungsgesellschaft Ausstellungs-, Messe-, Kongress-GmbH,
Berlin.
1985: Tsukuba, Japan; Internationaler Messe- und
Ausstellungsdienst, München.
1986: Vancouver, Kanada; Kölnmesse GmbH.
1988: Brisbane, Australien; Kölnmesse GmbH.
1992: Sevilla, Spanien; Arbeitsgemeinschaft Messe
Düsseldorf GmbH, ESC Kölnmesse GmbH.
1992: Genua, Italien; Messe Berlin GmbH.
1993: Daejeon, Südkorea; Kölnmesse GmbH.
1998: Lissabon, Portugal; Kölnmesse GmbH.
2000: Hannover, Deutschland; Messe Düsseldorf
GmbH.
2005: Aichi, Japan, Kölnmesse GmbH.
2008: Saragossa, Spanien, Hamburg Messe und Congress GmbH.
Geplante Weltausstellung 2010: Schanghai, Volksrepublik China; Kölnmesse GmbH.
Haben Sie eine Nachfrage, Frau Bluhm? - Bitte sehr.
Herr Staatssekretär Hintze, wenn man Ihrer Aufzählung folgt, fällt auf, dass die Kölnmesse GmbH seit 1986
sehr oft den Zuschlag für die Durchführung bzw. Betreuung zur Durchführung bekommen hat. Deshalb hätte ich
gerne die weitere Frage beantwortet: Wann und in welcher Form hat die Bundesregierung die Organisation,
den Bau und die Gestaltung des deutschen Pavillons zur
EXPO 2010 in Schanghai öffentlich ausgeschrieben?
Frau Kollegin, die Frage beantworte ich wie folgt: Es
ist eine europaweite Ausschreibung erfolgt - das genaue
Datum kann ich Ihnen gerne schriftlich nachliefern -,
und dann ist im Ausschreibungsverfahren die Kölnmesse
wegen ihrer großen Erfahrung und ihrer qualifizierten
Leistungsfähigkeit für die Organisation und Durchführung bestimmt worden. Seit 2005 erfolgen diese Ausschreibungen prinzipiell europaweit.
Haben Sie eine weitere Nachfrage? - Das ist nicht der
Fall.
Dann kommen wir zur Frage 26 der Kollegin Bluhm.
Wer - Name und Berufsbezeichnung - gehört der „breit
aufgestellten Auswahlkommission“ an, die im September
2007 die eingereichten Grobkonzepte für den deutschen
EXPO-Beitrag bewertete, die Teilnehmer für die Ausarbeitung des Feinkonzepts auswählte und im März 2008 die endgültige Entscheidung über das Konzept für den deutschen Pavillon auf der EXPO 2010 in Schanghai treffen wird?
Die Auswahlkommission für das Gestalterteam des
temporären deutschen Pavillons auf der Weltausstellung
EXPO 2010 in Schanghai setzt sich zusammen aus
Institutionen, die nach Überzeugung des Bundeswirtschaftsministeriums, dessen Experten über viele Jahre
Erfahrungen mit erfolgreichen deutschen EXPO-Beteiligungen im Ausland verfügen, geeignet sind, über die angemessene Darstellung Deutschlands auf der Weltausstellung 2010 in China zu urteilen. Die Institutionen
wurden gebeten, geeignete Personen in die Auswahlkommission zu entsenden.
Im Einzelnen sind es folgende Institutionen: das Auswärtige Amt, das Bundesministerium für Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung, das Bundesumweltamt, der
Bund-Länder-Koordinator, der in diesem Fall vom Wirtschaftsministerium Schleswig-Holstein gestellt wird, der
Ausstellungs- und Messe-Ausschuss der deutschen Wirtschaft, der Bundesverband der Deutschen Industrie, der
Deutsche Industrie- und Handelskammertag, die Deutsche Zentrale für Tourismus, der Verband Deutscher
Freizeitparks und Freizeitunternehmen, die Kölnmesse
als Pavillondirektion, wie aus der Beantwortung der ersten Frage hervorging, das Ostasieninstitut der Fachhochschule Ludwigshafen für die Chinaexpertise sowie das
Bundeswirtschaftsministerium mit zwei Experten.
Sie haben das Wort zu einer Nachfrage, Frau Kollegin.
Herr Staatssekretär, bei Ihrer Aufzählung wird deutlich, dass zumindest in dieser Auswahlkommission außer der Expertin des Bundesministeriums für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung keine Architekten beteiligt
sind. Gehe ich recht in der Annahme, dass das so ist,
oder macht es nur den Eindruck, als wenn keine Architekten beteiligt waren?
Frau Kollegin, zutreffend ist, dass das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung eine Architektin in die Auswahlkommission entsandt hat. Weiter ist
ein Diplomingenieur in der Auswahlkommission. Im
Übrigen ist mir der fachliche Hintergrund der von den
entsendungsberechtigten Institutionen geschickten Personen im Hinblick auf Ihre Frage nicht bekannt.
Da keine weiteren Nachfragen vorliegen, kommen
wir zur Frage 27 des Kollegen Hans-Kurt Hill:
Durch welche konkreten Maßnahmen will die Bundesregierung sicherstellen, dass es bei einem stetig wachsenden
Anteil erneuerbarer Energien und einer zunehmenden Netzanschluss- und Nutzungskonkurrenz zwischen erneuerbaren
Energieanlagen und neuen fossil betriebenen Großkraftwerken bei gleichzeitig ungenügendem Ausbau der Stromnetze
nicht zu Versorgungslücken im deutschen Stromnetz kommt?
Ich beantworte die Frage wie folgt: Der weitere Ausbau der Windenergie - offshore und onshore -, der Anschluss neuer konventioneller Kraftwerke und der verstärkte grenzüberschreitende Stromhandel machen in
Deutschland den Bau von neuen Höchstspannungsleitungen notwendig. Gespräche mit Planungsbehörden
und mit den betroffenen Vorhabenträgern haben gezeigt,
dass trotz der Beschleunigungselemente im Infrastrukturplanungsbeschleunigungsgesetz von 2006 weiterhin
Verzögerungen bei den Planungsverfahren und bei der
Realisierung des Leitungsausbaus zu erwarten sind.
Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregierung im
Zuge des integrierten Energie- und Klimaprogramms
Eckpunkte zur Beschleunigung des Netzausbaus beschlossen. Zur Umsetzung erarbeitet das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie einen Gesetzentwurf. Ein Kabinettsbeschluss soll im Mai 2008 erfolgen.
Haben Sie eine Nachfrage, Herr Kollege Hill?
Vielen Dank für die Beantwortung, Herr Staatssekretär. - Ich möchte meine Frage konkretisieren.
Konkrete Vorhaben zum Bau von Steinkohlegroßkraftwerken in Wilhelmshaven, Brunsbüttel, Kiel, Hamburg und vor allem in Lubmin stehen faktisch in
Nutzungskonkurrenz zum geplanten Ausbau der Windenergie, vor allem im Offshorebereich. Allein diese fossilen Vorhaben lasten die vorhandenen und geplanten
Übertragungsnetze einschließlich der Vorgaben nach der
Dena-Netzstudie vollständig aus, da der Kraftwerksneubau in Norddeutschland deutlich über die Stilllegung alter Anlagen hinausgeht. Das belegen die Untersuchungen der Bundesnetzagentur.
Meine Frage: Werden dann zukünftig die großen
Offshorewindfelder in Nord- und Ostsee regelmäßig abgeschaltet oder sollen die für den Grundlastbetrieb
geplanten Steinkohleblöcke nur im Mittel- und Spitzenlastbereich laufen, wenn 10 000 bis 20 000 Megawatt
Windstrom vom Meer her, von der Küste kommen? Wie
genau werden Sie das regeln?
Herr Kollege Hill, die genauen Regelungen liegen logischerweise noch nicht vor. Ich habe Ihnen eben den
Zeitplan vorgetragen. Die Idee des Gesetzgebungsvorhabens, das wir hier angehen, besteht darin, einen gesetzlichen Bedarfsplan für große Stromübertragungsleitungen
aufzustellen sowie den Rechtsweg zu verkürzen und
Musterplanungsleitlinien zu entwickeln, um die Planungen zu beschleunigen. Insgesamt soll sichergestellt werden, dass die Übertragungskapazitäten der Höchstspannungsleitungen in Deutschland auch den Erfordernissen
entsprechen. Das wäre nicht der Fall, wenn wir nicht entsprechende Maßnahmen auf den Weg bringen.
Herr Kollege, haben Sie eine weitere Frage?
Ja, ich habe noch eine weitere Frage in diesem Zusammenhang.
Bitte sehr.
Wie hoch ist der betriebswirtschaftliche Schaden bei
den Betreibern von Anlagen zur Erzeugung erneuerbarer
Energien in den Jahren 2005, 2006 und 2007 durch
zwangsweise Netztrennung, und wie hoch ist der volkswirtschaftliche Schaden durch auf diese Weise nicht eingesparte Klimagasemissionen?
Ob ein solcher Schaden vorliegt, kann ich Ihnen hier
jetzt nicht beantworten. Ich werde Ihnen aber gerne
schriftlich antworten, falls dazu der Bundesregierung
entsprechende Daten vorliegen.
Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen für die Beantwortung der Fragen aus der letzten Woche.
Ich rufe nun die Fragen auf der Drucksache 16/8113
in der üblichen Reihenfolge auf.
Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Für die Beantwortung der Fragen steht Frau
Parlamentarische Staatssekretärin Astrid Klug zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 1 der Kollegin Bärbel Höhn auf:
Warum hat das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, BMU, erst im Sommer 2007
das zuständige Bundesministerium für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung über Untersuchungsergebnisse bei schadhaften Dieselrußfiltern informiert, obwohl die Ergebnisse seit
fast einem Jahr bekannt waren, und wer trägt die politische
Verantwortung dafür, dass in der Zwischenzeit mehrere
10 000 nicht funktionierende Rußfilter eingebaut wurden?
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich erlaube mir,
wenn Sie einverstanden sind, die Fragen 1 und 2 im Zusammenhang zu beantworten; denn sie behandeln das
gleiche Thema, das Thema Partikelfilter.
({0})
Dann rufe ich auch die Frage 2 der Kollegin Bärbel
Höhn auf:
Wann genau haben der Staatssekretär Matthias Machnig
im BMU und die Parlamentarischen Staatssekretäre Astrid
Klug und Michael Müller beim Bundesminister für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit und der Bundesminister
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Sigmar
Gabriel, Kenntnis von den Untersuchungsergebnissen der
Firma TTM Mayer erlangt, die im Spätsommer 2006 an das
Umweltbundesamt geschickt wurden, und wann ist aus der
Aktenlage nachweisbar, dass das BMU angewiesen hat, dass
die Rußfilter nach Anlage XXVI zur Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung zu prüfen sind?
Verehrte Frau Abgeordnete, Frau Kollegin Höhn, ich
erlaube mir auch, auf die Fragen etwas umfangreicher zu
antworten, als es hier normalerweise meine Art ist. Es
handelt sich ja um ein sehr komplexes Thema mit einem
sehr langen Vorlauf. Das Informationsbedürfnis ist zu
Recht sehr groß. Ich hoffe, dass ich Ihnen mit meinen
Antworten einige der aus Ihrer Sicht offenen Fragen
auch beantworten kann.
Sie fragen im ersten Teil der Frage 1 danach, warum
das Bundesumweltministerium erst im Sommer 2007
das zuständige Bundesverkehrsministerium über Untersuchungsergebnisse bei schadhaften Dieselrußfiltern informiert hat. Dazu meine Antwort: Es gab bis zum Sommer
2007 keinen Beleg, dass sich mangelhafte Partikelfilter
auf dem Markt befinden. Die ersten belastbaren Hinweise, dass bestimmte Partikelfilter möglicherweise die
gesetzlichen Vorgaben nicht einhalten, lagen erst Anfang
August 2007 vor. Daraufhin wurde das Bundesverkehrsministerium unmittelbar informiert. Das Kraftfahrt-Bundesamt veranlasste sofort eine Überprüfung der beanstandeten Partikelfilter. Dabei entstand der Verdacht,
dass sich zumindest ein Partikelfilterhersteller betrügerisch durch Manipulation die Allgemeinen Betriebserlaubnisse für seine Filter erschlichen hat. Das KBA
schaltete die Staatsanwaltschaft ein und löschte die Allgemeinen Betriebserlaubnisse der betroffenen Partikelfilter.
Auf Initiative des BMU und des BMVBS haben der
Handel und das Kraftfahrzeuggewerbe Ende November
2007 eine Kulanzvereinbarung für die damals bereits
verbauten circa 40 000 schadhaften Systeme getroffen,
um im Interesse der betroffenen Fahrzeughalter und der
Umwelt möglichst viele schadhafte Systeme schnell, unbürokratisch und ohne Kosten für den Fahrzeughalter
durch funktionierende Systeme zu ersetzen.
Zu den näheren Hintergründen und den Details noch
einige Informationen. Der Bundesminister für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung hat gemeinsam mit dem Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit im Februar 2006 die 29. Änderungsverordnung zur
Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung inklusive der sogenannten, mittlerweile berühmt-berüchtigten Anlage XXVI erlassen, die die gesetzlichen Prüfvorschriften
für offene und geschlossene Partikelminderungssysteme
zur Nachrüstung definiert. Nur Partikelminderungssysteme, die von einem zertifizierten Prüfinstitut getestet
sind und die gesetzlichen Prüfvorschriften erfüllen, erhalten demnach eine Zulassung durch das KraftfahrtBundesamt. Eine Mindestanforderung an die zugelassenen Partikelfilter ist eine Filterleistung von mindestens
30 Prozent.
Parallel zu der Finalisierung dieser Prüfvorschriften
und der Diskussion um ein gesetzliches Förderprogramm für die Filternachrüstung hat das Bundesumweltministerium das Umweltbundesamt gebeten, ein Forschungsvorhaben über die Wirkung der offenen
Partikelminderungssysteme durchzuführen. Ziel war, die
Wirkungsgrade unterschiedlich aufgebauter offener Partikelminderungssysteme sowohl bezüglich der Partikelmasse als auch der Partikelzahl zu ermitteln. Die Überprüfung sollte laut mehrfacher Weisung durch das
Bundesumweltministerium im Zeitraum Januar bis August 2006 ausdrücklich auch nach den Vorgaben der
Anlage XXVI der 29. Änderungsverordnung zur StVZO
stattfinden.
Auftragnehmer des UBA-Forschungsvorhabens war
die Schweizer Firma TTM Mayer. Im Oktober 2006
wurden erste Teilberichte der Untersuchung vorgelegt.
Die Ergebnisse waren allerdings nicht nur nicht nach den
Prüfvorschriften der Anlage XXVI gemessen und wären
daher bei negativen Ergebnissen, wenn es solche gegeben hätte, bezüglich einzelner Filteranbieter rechtlich
nicht verwertbar gewesen. Es wurde außerdem offenbar,
dass die Untersuchung gravierende methodische Mängel
aufwies.
Für die Untersuchung wurde vom Forschungsnehmer
TTM Mayer zum Beispiel ein Prüffahrzeug ausgewählt.
In das Prüffahrzeug wurden die einzelnen zu überprüfenden Partikelfilter - in der Zahl vier - nacheinander eingebaut, um ihre Filterleistung zu messen. Um die Filterleistung des Partikelfilters exakt bestimmen zu können,
ist es notwendig, dass jeweils vor und nach dem Einbau
des Partikelfilters die sogenannten Rohemissionen im
Grundzustand des Fahrzeuges gemessen werden. Diese
Messungen wurden nicht durchgeführt. Am Ende der
Untersuchung stellte sich allerdings heraus, dass sich das
Rohemissionsverhalten des Motors im Laufe der Untersuchung aufgrund eines Motorkomponentenschadens
stark verändert hatte. Ebenso wurde darauf verzichtet,
für die Messungen der einzelnen Partikelfilter eine einheitliche Konditionierung, also gleiche Messbedingungen, zu schaffen. Nur so wären aber vergleichbare und
repräsentative Ergebnisse möglich gewesen.
Die starken Messschwankungen in den Ergebnissen
deuten auf sehr instabile Messbedingungen hin. Die vom
Forschungsnehmer TTM Mayer durchgeführten Messungen und Berechnungen der partikelmassebezogenen
Wirkungsgrade hatten daher keine belastbare Grundlage
und keine verwertbare Aussagekraft.
Ein weiteres Ziel der Untersuchung war es, rechtlich
verwertbare Ergebnisse zu erzeugen für den Fall, dass
belastbare Hinweise auf unzureichende Systeme erkennbar geworden wären. Solche Hinweise wären natürlich
unmittelbar an die zuständige Zulassungsbehörde weitergeleitet worden. Bestandteil der Anlage XXVI der
StVZO, die die deutschen Prüfvorschriften definiert, ist
der sogenannte Neue Europäische Fahrzyklus. Auch
wenn die TTM-Untersuchung nicht nach den kompletten
gesetzlichen Prüfvorschriften der Anlage XXVI gemessen hat, so fanden doch Messungen in diesem Neuen
Europäischen Fahrzyklus statt. In diesem für Europa geltenden Testzyklus hatten in der TTM-Studie aber alle geprüften Systeme eine 30-prozentige Minderung und damit die Mindestanforderung nach den gesetzlichen
Prüfvorschriften erreicht bzw. deutlich überschritten.
Auch aus diesem Grund konnte aus den Ergebnissen damals kein Verdacht auf mangelhafte Systeme abgeleitet
werden.
Die methodischen Mängel und die unübersichtliche
Dokumentation und Darstellung der Ergebnisse aus der
TTM-Studie wurden am 1. Dezember 2006 in einer Besprechung von Umweltbundesamt, Bundesumweltministerium, Partikelfilterherstellern, einem Automobilunternehmen und dem Forschungsnehmer selbst erörtert und
von den Teilnehmern deutlich kritisiert. Es bestand Einvernehmen, dass Nachprüfungen notwendig sind, und
das Umweltbundesamt sagte Nachbesserungen der Untersuchung zu.
Das UBA wurde vom BMU am 15. Dezember 2006
erneut angewiesen, wie von Beginn an gefordert Untersuchungen nach Anlage XXVI durchzuführen. Es folgten von Januar bis Mai weitere Anweisungen und
Erlasse. Am 1. August 2007 wurden dem Bundesumweltministerium erstmals Untersuchungsergebnisse des
Forschungsnehmers zu einem Partikelminderungssystem
der Firma GAT vorgelegt, die den Anforderungen der
Anlage XXVI entsprechen sollten. Diese Ergebnisse
wurden an das Bundesverkehrsministerium weitergeleitet und am 3. August 2007, also zwei Tage später, in einer gemeinsamen Besprechung von BMU, BMVBS und
UBA erörtert. Es wurde festgestellt, dass auch diese
Messergebnisse nicht ausreichend belastbar waren, da
die Prüfvorschriften nicht vollständig eingehalten wurden.
Am 10. und 13. August erhielt das BMU Ergebnisse
von weiteren Untersuchungen von Partikelminderungssystemen des TÜV Süd und des TÜV Hessen, die durch
Dritte initiiert wurden. Diese wurden zwar ebenfalls
nicht nach Anlage XXVI durchgeführt, jedoch wurde im
Europäischen Fahrzyklus bei nachvollziehbaren Rahmenbedingungen ohne die vorhin erläuterten methodischen Mängel gemessen.
BMU hat BMVBS am 10. und 15. August, also unmittelbar danach, über diese Untersuchungen informiert,
die Mängel der einfacheren, preisgünstigeren Partikelminderungssysteme namentlich der Firmen GAT, Tenneco und Bosal aufzeigten. Es bestand Einigkeit zwischen den Ressorts, dass nur auf Basis von Messungen
nach Anlage XXVI eine rechtliche Handhabe gegen
mangelhafte Partikelminderungssysteme besteht. Um
die Tauglichkeit der Partikelminderungssysteme der genannten Firmen festzustellen, hat das KBA daraufhin
unverzüglich Nachprüfungen initiiert. Dabei entstand
der Verdacht des Betrugs, und die Ergebnisse führten zu
den anfangs beschriebenen Konsequenzen.
Ich komme jetzt zur Antwort auf die Frage 2. Staatssekretär Machnig hat am 20. Dezember 2006 ein Schreiben der Deutschen Umwelthilfe vom 8. Dezember 2006
auf Auskunft über die Ergebnisse der TTM-Studie beantwortet, dort auf das noch nicht abgeschlossene Messprogramm hingewiesen und empfohlen, sich wegen weiterer Informationen bezüglich der Prüfdaten bereits
zugelassener Partikelminderungssysteme an das Kraftfahrt-Bundesamt zu wenden. Das war die erste Befassung der Hausleitung mit Daten der TTM-Studie.
Bis dahin und darüber hinaus war die fachlich zuständige Abteilung IG mit dem UBA-Forschungsvorhaben
befasst und Staatssekretär Machnig über den schwelenden Konflikt zwischen Bundesumweltministerium und
Umweltbundesamt bezüglich der Ausgestaltung des
UBA-Forschungsvorhabens informiert.
In der Folge war die Frage, ob dem Auskunftsersuchen der DUH nach Umweltinformationsgesetz vom
5. Februar 2007 stattgegeben und die nach Ansicht des
Bundesumweltministeriums nicht abgeschlossene TTMStudie veröffentlicht wird, Thema bei diversen Abteilungsleiterbesprechungen und Rücksprachen von Staatssekretär Machnig. Der Informationsanspruch der DUH
war abzuwägen gegen die methodischen Mängel der
TTM-Studie und die daraus zwangsläufig abzuleitenden
Fehlinterpretationen der Ergebnisse mit entsprechenden
wirtschaftlichen Folgen für die Hersteller und möglichen
Regressansprüchen für den Fall der Veröffentlichung einer aus unserer Sicht nicht abgeschlossenen Studie.
Im Einvernehmen mit Bundesminister Gabriel wurde
entschieden, dass die Ergebnisse der TTM-Studie erst
veröffentlicht werden sollen, wenn die Vorgabe des
BMU, nach Anlage XXVI zu prüfen, durchgesetzt sei.
Am 3. Juli 2007 lehnte das Umweltbundesamt das Informationsbegehren der DUH ab. Am 23. November 2007
wurde diese Entscheidung vom Verwaltungsgericht Dessau aufgehoben.
Die zuständige Parlamentarische Staatssekretärin
Klug, also ich, hat im Juli 2007 in Telefonaten mit dem
Geschäftsführer der DUH, Jürgen Resch - Ihnen bestens
bekannt -, und am 7. August 2007 in einem persönlichen
Gespräch mit Herrn Resch und den zuständigen Experten des Bundesumweltministeriums die methodischen
Mängel der TTM-Studie ausführlich diskutiert.
Im August 2007 wurde Bundesminister Gabriel erstmals mit dem Konflikt zwischen dem BundesumweltmiParl. Staatssekretärin Astrid Klug
nisterium und dem Umweltbundesamt bezüglich der
Ausgestaltung des Forschungsvorhabens konfrontiert.
Nach Vorlage der ersten belastbaren Hinweise auf mangelhafte Systeme und den KBA-Untersuchungen, die ich
vorhin geschildert habe, hat Bundesminister Gabriel
mich um Verhandlungen bezüglich einer Lösung für die
bereits verbauten Systeme gebeten. Ergebnis war die bereits beschriebene Kulanzvereinbarung von Handel und
Kfz-Gewerbe. Der Parlamentarische Staatssekretär
Müller war zuständigkeitshalber nicht aktiv in den Vorgang eingebunden und hat Ihnen dazu schon eine entsprechende Auskunft im Umweltausschuss gegeben.
Zu der Frage, wann das BMU das UBA angewiesen
hat, im Rahmen des Forschungsvorhabens auch nach
Anlage XXVI der StVZO zu prüfen - das war der zweite
Teil Ihrer Frage -, gibt es eine umfangreiche Chronologie, die darüber Aufschluss gibt. Den Berichterstattern
des Umweltausschusses wurde gestern Akteneinsicht gewährt.
Das Bundesumweltministerium hatte sehr frühzeitig,
am 6. Oktober 2005, per E-Mail das UBA um „eine enge
Absprache vor und während des Projektes“ zur Überprüfung von Partikelminderungssystemen gebeten. Im Januar 2006, also kurz vor Inkrafttreten der gesetzlichen
Prüfvorschriften, ist dem UBA telefonisch vom zuständigen Mitarbeiter des BMU mitgeteilt worden, dass das
Messprogramm des Forschungsvorhabens auch nach
Anlage XXVI zu erfolgen habe. Der Vizepräsident des
UBA, Herr Dr. Thomas Holzmann, hat am 12. Dezember 2007 im Umweltausschuss bestätigt, dass dem Umweltbundesamt im Januar 2006 diese Vorgabe des Bundesumweltministeriums bekannt war.
Im Februar 2006 hatte dementsprechend auch ein Mitarbeiter des Umweltbundesamtes den Forschungsnehmer
TTM darauf hingewiesen, dass das Forschungsvorhaben
„die in der Praxis vorhandenen Rahmenbedingungen
bezgl. Zulassung und Einbau zu berücksichtigen“ habe,
„den Vorgaben aus der 29. Verordnung entsprechen“
müsse, und damit die Notwendigkeit der Prüfung auf
Grundlage der gesetzlichen Bestimmungen nach Anlage XXVI deutlich gemacht. Den Aktenbeleg finden Sie
in den Unterlagen.
Der zuständige Mitarbeiter im Bundesumweltministerium hatte dies ebenfalls schriftlich per E-Mail dem Auftragnehmer und nachrichtlich dem Umweltbundesamt
am 15. März 2006 übermittelt. Darin wurde auf die Prüfvorschriften nach Anlage XXVI Bezug genommen und
die Notwendigkeit betont, die Arbeiten so auszugestalten, „dass sie voll nutzbar sind“. Eine enge Kooperation
wurde angemahnt.
Am 29. März 2006 wurde vom gleichen Mitarbeiter
nochmals darauf hingewiesen, „dass das Messprogramm
- bevor es endgültig beschlossen wird - nochmals mit
dem BMU besprochen wird“ und „dass die Tests im Wesentlichen Aussage darüber geben müssen, inwieweit
Partikelminderungssysteme, die zur Nachrüstung auf
den Markt kommen, den Anforderungen der 29. Verordnung zur Änderung der StVZO gerecht werden.“ Am
24. April 2006 wurde der zuständige Mitarbeiter des
UBA per E-Mail darauf hingewiesen, „dass die Messungen … nicht ausreichend an die 29. Verordnung angelehnt“ sind.
Die Überprüfung der Dauerhaltbarkeitsfunktion
nach dem Schema der 29. Verordnung bleibt unberücksichtigt.
Gleiches teilte der zuständige Abteilungsleiter des
BMU dem zuständigen Fachbereichsleiter des UBA am
17. Mai 2006 mit:
Das jetzt vorgesehene Messprogramm muss auf der
Basis der Prüfvorschrift für die Nachrüstung von
Diesel-Pkw … Fragen der Wirkung, der Dauerhaltbarkeit, der Partikelzahl und der Einflüsse auf die
NO2-Emissionen von Nachrüstsystemen beantworten.
Auch dort wurde noch einmal die 29. Änderungsverordnung erwähnt.
In einer Videotelefonkonferenz zwischen BMU und
UBA vom 18. Mai 2006, also unmittelbar am Tag danach, wurde ebenfalls ausdrücklich festgestellt, dass
„mit den vom UBA beschlossenen Untersuchungen …
eine objektive Beantwortung der BMU-Fragen auf Basis
geltender nationaler und europäischer Prüfvorschriften
ausgeschlossen“ ist. Am 24. Mai 2006 hat der zuständige Abteilungsleiter im BMU infolge der Videokonferenz den zuständigen Fachbereichsleiter im UBA darauf
hingewiesen,
dass die Mittel für das Projekt speziell für die Beantwortung der BMU-Fragen im Zusammenhang
mit den Nachrüstvorschriften für Diesel-Pkw
({0}) bereitgestellt wurden. … Ich bitte Sie
daher nochmals eine entsprechende Nachjustierung
des Programms zu veranlassen.
In einer Videokonferenz vom 27. Juni 2006 zwischen
BMU und UBA wurde laut Protokoll ebenfalls festgestellt:
Erste Priorität hat die Vermessung der verfügbaren
PMS
- dann werden die entsprechenden Firmen aufgelistet … entsprechend der 29. Änderungsverordnung
StZVO einschließlich der Prüfung der Dauerhaltbarkeit. Das derzeit laufende Messprogramm wird
kurzfristig entsprechend umgestellt.
Mit E-Mail vom 19. August 2006 weist der zuständige Abteilungsleiter des BMU den Fachbereichsleiter
des UBA darauf hin, dass „der Auftrag, das Messprogramm zu den Partikelfilter-Nachrüstungssystemen abzuändern, nicht umgesetzt“ ist. - So viel zu der umfangreichen Kommunikation zwischen BMU und UBA über
E-Mail, Telefon und Videokonferenz.
Seit Oktober 2006 lagen dann dem BMU erste Teilberichte der TTM-Mayer-Studie vor. Dazu fand auf Einladung des UBA am 1. Dezember 2006 eine Besprechung
zwischen UBA, BMU, Partikelfilterherstellern und Vertretern der Automobilindustrie und des Auftragnehmers
statt. Darin wurde von BMU und Herstellern auf eine
Vielzahl von Widersprüchen und Fehlern im laufenden
Programm hingewiesen. Ich habe das vorhin ausgeführt.
Dies geht auch aus einem Besprechungsvermerk der
Firma Emitec hervor. Daraufhin wurde vom zuständigen
Abteilungsleiter des Bundesumweltministeriums am
15. Dezember 2006 gegenüber dem UBA Folgendes
schriftlich festgestellt:
Wie vom BMU von Beginn an gefordert, sind im
Rahmen dieses Vorhabens Messungen nach Anlage XXVI der 29. Änderungsverordnung zur StVZO
ergänzend durchzuführen.
Am 1. August 2007 erhielt das BMU vom UBA erstmals Vermessungen eines Filters nach Anlage XXVI.
Wie sich allerdings herausstellte, waren auch diese Ergebnisse nicht wirklich verwertbar, da sich die Rohemission des Prüffahrzeugs während der Messung verändert
hatte. Am 3. August 2007, also zwei Tage später, fand
eine Besprechung zwischen BMU, UBA, TTM und
BMVBS statt. Es bestand Einigkeit, dass die Ergebnisse,
auch die nach Anlage XXVI, nicht ausreichend belastbar
sind.
Frau Kollegin Höhn, diese Chronologie zeigt deutlich, dass die Vorgabe des BMU an das UBA, nach
Anlage XXVI zu messen, an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Trotzdem wurden die Vorgaben zuerst
nicht und später nur unzureichend umgesetzt. Damit hatten die Messergebnisse keine Aussagekraft und waren
nicht verwertbar.
Das Fazit daraus lautet: Die Entwicklung der Nachrüstung der Diesel-Pkw mit Partikelfiltern ist auch und
insbesondere aus Sicht des Bundesumweltministeriums
mehr als bedauerlich. Wir haben uns monatelang intensiv um dieses Thema gekümmert. Die verkehrsbedingte
Feinstaubbelastung in den Großstädten lässt sich nur
durch technologische Verbesserungen bei den Fahrzeugen wirksam bekämpfen. Dafür ist auch eine Nachrüstung der Altfahrzeuge mit Partikelfiltern notwendig.
Der jetzige Schaden ist durch betrügerisches Verhalten einzelner Filterhersteller entstanden, das in dieser
Form zu einem früheren Zeitpunkt niemals von irgendwem geahnt werden konnte. Das Bundesumweltministerium hat gemeinsam mit dem BMVBS und dem KBA
sofort nach Vorliegen belastbarer Hinweise auf schadhafte Systeme gehandelt, die Allgemeinen Betriebserlaubnisse gelöscht und die beschriebene Kulanzvereinbarung von ZDK und GVA erwirkt, damit möglichst
viele schadhafte Systeme schnell, unbürokratisch und
für den Fahrzeughalter kostenlos durch funktionierende
Filter ersetzt werden.
Eine seriöse Bewertung der vor dem Sommer 2007
vorliegenden Untersuchungsergebnisse aus der jetzt viel
diskutierten TTM-Studie ist nicht im Lichte der heutigen
Erkenntnisse, sondern nur im Lichte der damals vorliegenden unzureichenden und mit methodischen Mängeln
behafteten Messergebnisse möglich. Auch das Umweltbundesamt hat in seiner abschließenden Stellungnahme
zur TTM-Untersuchung im Dezember 2007 festgestellt:
Die in der Teilstudie dargestellten Ergebnisse zu
Partikelmassenminderung sind jedoch nur sehr eingeschränkt verwertbar, weil das Prüffahrzeug eine
schwankende Rohemission aufwies. Außerdem
wurde die erforderliche Grundvermessung ohne
Partikelminderungssysteme vor dem Einbau eines
neuen PMS nicht durchgeführt. Die erhaltenen Partikelzählungen sind vom Grundsatz her verwertbar da sie immer vor und nach dem PMS ermittelt wurden. Insgesamt konnte aus den Untersuchungen
aber nicht abgeleitet werden, ob ein System den
Anforderungen der Anlage XXVI zur StVZO entspricht. Daher hat das BMU das UBA beauftragt,
Messungen nach Anlage XXVI zu ergänzen.
Frau Staatssekretärin, ich hoffe, dass eine so ausführliche und lange Beantwortung der Fragen hier nicht
Schule macht.
({0})
Sie wissen, dass die Fragestunden zeitlich begrenzt sind
- heute ist sie sogar zusätzlich begrenzt - und viele Kolleginnen und Kollegen Fragen haben. Gleichwohl wollte
ich Sie in Ihrem Redefluss nicht unterbrechen, auch aus
Rücksicht auf die Fragestellerin.
Frau Kollegin Höhn, haben Sie zu diesem ausführlichen Bericht noch Nachfragen? - Bitte.
Liebe Frau Staatssekretärin Klug, ich schätze Sie sehr.
Trotzdem muss ich ehrlich sagen: Ich habe im Ausschuss zwei ganz kurze, klare Fragen gestellt. Es geht
um einen schwerwiegenden Vorgang. Es geht darum,
dass in Deutschland 40 000 Pkws herumfahren, die, obwohl ihr Filter nicht funktioniert, eine grüne Plakette
bekommen haben und behalten können. Sie dürfen in
Umweltzonen hineinfahren, obwohl ihr Filter nicht
funktioniert. Wenn man die Filter austauschen würde,
entstünde ein Schaden in Höhe von ungefähr 40 Millionen Euro. Es geht außerdem um die Frage, ob der Staatssekretär Machnig das Parlament in diesem Zusammenhang belogen hat. Das sind ganz entscheidende Punkte.
Auf die Frage, ob er das Parlament belogen hat, hat der
Staatssekretär im Ausschuss geantwortet, man habe immer darauf hingewiesen, und zwar von Anfang an, dass
nach Anlage XXVI geprüft werden müsse - das ist eine
ganz entscheidende Frage -, und das sei im Januar 2006
in einer E-Mail an das UBA weitergegeben worden. Ich
habe nichts anderes gemacht, als darum zu bitten, diese
E-Mail zu bekommen. Sie haben mir nun gestern Nacht
ein dickes Paket von 45 Anlagen geschickt, Sie haben
mir heute einen Vortrag von über einer halben Stunde
gehalten, aber bis heute habe ich diese E-Mail von Januar 2006 nicht bekommen.
Wann bekomme ich diese E-Mail? Was steht in dieser
E-Mail? Ich möchte Sie bitten, dass Sie mir endlich auf
diese einfachen Fragen eine Auskunft geben und nicht
eine halbe Stunde lang Sachen erzählen, die wir eigentlich schon alle wissen.
({0})
Zuerst. Es ist nicht meine Absicht, in Zukunft auf Fragen so ausführlich zu antworten. Ich hoffe, dass uns allen das in Zukunft erspart bleibt.
({0})
Da hier aber so viele Fragen aufgetaucht sind, über
die auch in der Öffentlichkeit diskutiert wurde, glaube
ich, dass es notwendig war, dieses Thema an dieser
Stelle einmal im Zusammenhang darzustellen. Der Zusammenhang ist wichtig, um zu wissen, wer wann auf
was wie reagiert hat.
Sie haben gestern Akten aus der Kommunikation zwischen dem BMU und dem UBA bekommen. Aus diesen
Akten geht unmissverständlich hervor, dass es keinen
Zweifel daran gab - auch hinsichtlich des von Ihnen genannten Zeitraums; die einzelnen E-Mails sind ja dort
ganz genau aufgelistet -, dass das Bundesumweltministerium zu jedem Zeitpunkt seit Inkrafttreten der Prüfvorschriften darauf beharrt hat, dass nach diesen Prüfvorschriften gemessen wird, damit mit den Daten aus dieser
Studie zum Beispiel auch zur Weiterentwicklung dieser
Prüfvorschriften gearbeitet werden kann. Das ergibt sich
zweifelsfrei aus den Ihnen zur Verfügung gestellten Akten. Einige Beispiele daraus habe ich eben aufgelistet.
Weitere Nachfrage?
Ich bitte darum, dass meine Frage beantwortet wird.
Ich habe jetzt drei Versuche unternommen, diese E-Mail
zu bekommen. Ich bitte einfach darum, dass die Staatssekretärin mir die Fragen beantwortet, wo diese E-Mail
ist und was darin steht. Ganz einfach.
Frau Staatssekretärin.
Wir haben Ihnen alle E-Mails aus dieser Kommunikation zur Verfügung gestellt, die es in diesem Zeitraum
gab. Es gab in diesem Zeitraum Telefonate und E-Mails.
Sie haben alle E-Mails, und sie betreffen den von Ihnen
genannten Zeitraum. Ich kann sie Ihnen gerne alle noch
einmal vorlesen.
({0})
Es ist unerheblich, ob die E-Mail, die Sie meinen, im Januar oder Februar 2006 geschrieben wurde. Alles, was
die Aktenlage hergibt, haben wir Ihnen zur Verfügung
gestellt. Die entscheidende Frage ist, ob dem Umweltbundesamt zu diesem Zeitpunkt klar war, dass nach Anlage XXVI gemessen werden soll und ob das Forschungsvorhaben so ausgestaltet sein soll oder nicht.
Aus der Aktenlage ergibt sich dies eindeutig. Das ist die
einzig entscheidende Frage.
Haben Sie eine weitere Frage?
Ja, ich habe ja auch insgesamt vier.
Ja, ich weiß.
Frau Staatssekretärin, ich stelle also fest, dass der
Staatssekretär die Unwahrheit gesagt hat, als er behauptet hat, es gebe eine E-Mail aus Januar 2006, die belegt,
dass nach Anlage XXVI zu prüfen ist.
({0})
Es gibt einen Unterschied zwischen Unwahrheit und
der Darstellung von Fakten. Er hat ganz sicher nicht gelogen. Er hat das gesagt, was er damals wusste. Wir haben für Sie jetzt noch einmal die gesamte Aktenlage aufbereitet. Daraus ergibt sich zweifelsfrei, dass dem
Umweltbundesamt zu diesem Zeitpunkt, den der Staatssekretär im Umweltausschuss genannt hat, die Vorgabe
des Bundesumweltministeriums klar war. Das war die
Frage, die Sie gestellt haben. Das ergibt sich aus der Aktenlage, die wir Ihnen zur Verfügung gestellt haben.
Sie haben die Möglichkeit, noch eine weitere Frage
zu stellen.
Frau Staatssekretärin, ich habe mir gestern die Nacht
um die Ohren gehauen und habe diese Unterlagen durchgesehen. Es ergibt sich keineswegs zweifelsfrei: Weder
im Januar noch im Februar noch im März gab es eine
schriftliche Vorlage vom Bundesumweltministerium an
das UBA, dass nach Anlage XXVI zu prüfen ist. Das
gibt es in den Unterlagen, die Sie mir zur Verfügung gestellt haben, nicht. Erst in Papieren aus April und Mai
2006 wird die Anlage XXVI explizit erwähnt.
Bitte nennen Sie mir jetzt das Dokument von Januar
oder Februar, das ganz klar die Anweisung enthält, dass
nach Anlage XXVI zu prüfen ist. Bitte sagen Sie mir das
jetzt genau. Nach den Unterlagen, die Sie mir geschickt
haben, gibt es das nicht. Es muss offensichtlich etwas
fehlen. Ich bitte jetzt um Auskunft, welche Unterlage genau darlegt, dass entweder im Januar oder im Februar
eine schriftliche Weisung an das UBA gegangen ist,
exakt nach Anlage XXVI zu prüfen.
Es gibt in den Unterlagen einen umfangreichen Vermerk bezüglich der Kommunikation, die in dem genannten Zeitraum zwischen dem Bundesumweltministerium
und dem Umweltbundesamt stattgefunden hat. Zu diesem Zeitpunkt war der Vertrag mit dem Forschungsnehmer noch gar nicht abgeschlossen. Gegenüber dem Umweltbundesamt war vom Bundesumweltministerium
immer wieder ganz klar die Vorgabe gemacht worden,
dass dieser Vertrag vor seinem Abschluss mit dem Bundesumweltministerium abzustimmen ist. Das hat nicht
stattgefunden.
Der erste Hinweis darauf, dass hier die Vorgabe des
Bundesumweltministeriums nicht umgesetzt wurde, ergab sich erst später, im April 2007 - ich muss das genaue Datum heraussuchen; ich habe nicht alle Daten im
Kopf -, als dem Bundesumweltministerium auf mehrfache Nachfrage der Vertrag vorgelegt wurde. Von da an
gab es ganz konkrete Anweisungen an das Umweltbundesamt, dass dieser Forschungsauftrag nachgebessert
und ergänzt werden muss.
({0})
Entschuldigung, Sie haben vier Fragen gestellt. Jetzt
hat der Kollege Hermann das Wort zu einer Zusatzfrage.
({0})
Herr Kollege Hermann.
Sehr geehrte Frau Staatssekretärin, liebe Astrid, es tut
mir außerordentlich leid, dass ausgerechnet du für
Nichtstun bzw. Fehlhandlungen im Ministerium selbst
herhalten musst und dass du jetzt versuchen musst, etwas zu erklären, was eigentlich jemand anders erklären
müsste, nämlich Staatssekretär Machnig.
Ich will an dieser Stelle nachhaken. Es gibt in der Tat
höchst unterschiedliche und widersprüchliche Aussagen.
So hat Staatssekretär Machnig beispielsweise im Umweltausschuss gesagt, dass die Leitungsebene, und zwar
alle zuständigen Staatssekretäre und der Minister, von
Anfang an in das Problem einbezogen war. Er hat auch
deutlich gemacht, dass er bestimmte Entscheidungen getroffen hat. So hat er beispielsweise Ende 2006 entschieden, dass die Untersuchungsergebnisse nicht veröffentlicht werden. Er hat aber unter anderem bei der
Mitarbeiterversammlung des UBA gesagt, dass er davon
erst im August 2007 erfahren hat.
Herr Kollege, gestatten Sie, dass ich Sie unterbreche.
Könnten Sie sich bitte auf Ihre Frage konzentrieren?
Meine Frage ist: Wie war das Abstimmungsverhalten
im Ministerium? Wann hat Staatssekretär Machnig zum
ersten Mal erfahren, dass hier der Hase im Pfeffer liegt
und dass etwas zu tun ist?
Darauf habe ich in meiner Antwort auf die Fragen
vorhin ausführlich geantwortet. Ich habe ganz genau
aufgelistet, wer wann eingebunden war. Dabei muss man
unterscheiden zwischen der Ausgestaltung des Forschungsvorhabens - damit war in erster Linie die Fachebene betraut; da war Staatssekretär Machnig eingebunden - und der Frage, die sich daraus ergeben hat, wann
diese Studie öffentlich zugänglich gemacht wird und wie
auf das Informationsbegehren der Deutschen Umwelthilfe reagiert wird. Darin war der Minister eingebunden.
In meinen Antworten auf die beiden Fragen habe ich
den entsprechenden Zeitraum ganz genau aufgelistet, der
sich sowohl aus der Erinnerung als auch aus der Aktenlage ergibt. Ich denke, damit ist keine Frage offengeblieben. Die Hausleitung - Staatssekretär Machnig ist Teil
der Hausleitung - war in diese Fragen eingebunden, als
sich der Konflikt mit dem Umweltbundesamt abgezeichnet hat, und hat sich dann auch intensiver damit befasst,
als das Informationsbegehren der Deutschen Umwelthilfe an uns herangetragen wurde.
Eine weitere Frage?
Sie haben sehr wortreich und detailgenau geantwortet. Es gibt schließlich verschiedene Methoden, wie man
nichts sagen kann: Entweder man sagt nichts, oder man
sagt sehr viel.
Trotz dieser vielen Informationen ist eines nicht klar
geworden: Wie kann es sein, dass ein so hochkompetentes Ministerium, von so hochkompetenten Menschen geführt, zwei Bundesämter, nämlich das Kraftfahrt-Bundesamt und das Umweltbundesamt, sowie ein weiteres
Ministerium zwei volle Jahre brauchen, um eine Studie
in Angriff zu nehmen, den Auftrag genau zu beschreiben, die Ergebnisse auszuwerten und sie entsprechend
umzusetzen? Es ist nach alledem überhaupt nicht nachvollziehbar, dass man zwei Jahre braucht, um dem ganz
eindeutigen Hinweis nachzugehen, dass die Filter nicht
richtig funktionieren und dass es vielleicht sogar die
Möglichkeit gibt, genau das kriminell zu nutzen, weil die
Vorgaben der Anlage XXVI StVZO nicht präzise sind.
Es gab genügend Indizien aus Ihrem Hause, aus der Öffentlichkeit und von Umweltorganisationen. Sie haben
ganze zwei Jahre gebraucht, bis daraus konkrete Politik
geworden ist. Das ist trotz all Ihrer wortreichen Erklärungen letztendlich nicht nachvollziehbar. Ist verzögert
worden? Ist geschlampt worden? Wer war nicht kompetent? All das ist nicht nachvollziehbar. Sie haben nur beschrieben, wie die Vorgänge sind. Aber warum gelingt es
einem Ministerium nicht, einen Untersuchungsauftrag
präzise zu formulieren? Warum gelingt es einem Ministerium nicht, einer nachgeordneten Behörde zu sagen,
was zu tun ist? Das sind doch die Fragen, die letztendlich beantwortet werden müssen.
Das ist auch eine sehr gute Frage. Da ich eben aber
eine andere Frage nicht beantwortet habe, möchte ich
das nachholen, damit hier kein Missverständnis entsteht.
Ich weise den Vorwurf, dass nichts unternommen
wurde, um schnell ein Forschungsvorhaben auf den Weg
zu bringen, das uns belastbare Ergebnisse zur Nachrüstung liefert, ausdrücklich zurück. Wenn Sie ehrlich sind
und sich die umfassenden Akten, die wir Ihnen zur Verfügung gestellt haben, unvoreingenommen ansehen,
dann werden auch Sie bestätigen können, dass der Vorwurf, hier sei nichts unternommen worden, völlig unbegründet ist. Das Bundesumweltministerium hat sich intensiv darum bemüht, das Umweltbundesamt dazu zu
bewegen, das Forschungsvorhaben nach unseren Vorgaben auszugestalten.
Der Konflikt, um den es geht - Sie wissen das, Herr
Kollege Hermann -, ist inhaltlicher Natur: Was ist bei
der Nachrüstung sinnvoll und was nicht? In der letzten
Legislaturperiode haben wir darüber sehr intensiv diskutiert. Damals haben wir uns gemeinsam für ein Förderprogramm zur Nachrüstung eingesetzt. Dabei ging es
auch um die Frage: Fördern wir nur geschlossene oder
auch offene Systeme? Geschlossene Systeme sind sehr
komplex; sie werden jetzt in Neufahrzeuge eingebaut.
Offene Systeme sind etwas einfacher und deshalb auch
kostengünstiger. Außerdem eignen sie sich für die Nachrüstung, weil sie nicht an die Motorsteuerung eines Fahrzeugs angepasst werden müssen. In der letzten Legislaturperiode haben wir uns gemeinsam für ein
Förderprogramm starkgemacht, mit dem insbesondere
die Nachrüstung mit offenen Systemen gefördert wird.
Damals war nicht ganz klar - das ist bis heute noch so -,
ob sich geschlossene Systeme tatsächlich für die Nachrüstung eignen oder ob die Fahrzeuge dann irgendwann
stehenbleiben. Wir wollten offene Systeme attraktiver
machen und sie finanziell fördern, um einen großen Anreiz zu schaffen, dass nachgerüstet wird.
Wie Sie wissen, gibt es Experten, die der Meinung
sind, dass man nur das Beste vom Besten - in ihren Augen die geschlossenen Systeme - fördern darf. Dieser inhaltliche Konflikt kommt auch in der Ausgestaltung dieses Forschungsvorhabens zum Ausdruck. Entweder
erbringt man diesen Beweis im Rahmen eines entsprechenden Forschungsvorhabens, oder man tut das, was
wir wollten. Wir wollten zu Beginn der anlaufenden
Nachrüstung mit einer neuen Technologie Erfahrungen
sammeln und Messergebnisse erhalten, die Rückschlüsse
darauf zulassen, wie die Nachrüstung und die Prüfvorschriften weiterentwickelt werden müssen. Das ist der
inhaltliche Konflikt, der sich hinter dieser Frage verbirgt.
Die Vorgaben des Bundesumweltministeriums an das
Umweltbundesamt waren ganz klar, aber - das wiederhole ich - sie wurden nicht umgesetzt. Wie Sie wissen,
hat das am Ende des Verfahrens, das sicherlich viel zu
lange gedauert hat, auch zu einer personellen Konsequenz im Umweltbundesamt geführt.
Zu einer weiteren Nachfrage erteile ich dem Kollegen
Dr. Hofreiter das Wort.
Sehr geehrte Frau Staatssekretärin, das, was Sie gerade ausgeführt haben, passt ja wunderbar. In einer E-Mail
des Abteilungsleiters im Bundesumweltministerium an
das Büro von Staatssekretär Machnig heißt es wortwörtlich:
Wie Sie beiliegendem Sachstandsvermerk entnehmen können, hat das UBA entgegen unseren expliziten mehrfachen Bitten, Aufträgen und Erlassen
ein Forschungsvorhaben so umgewandelt, dass es
Munition gegen unsere Nachrüstungskonzeption ...
generieren kann.
Wenn man sich die gesamte Korrespondenz anschaut,
wird einem schlagartig klar, woher das kommt. Sie wollten nämlich von vornherein verhindern, dass ein vernünftiges Ergebnis herauskommt. Es wurde allgemein
befürchtet, dass die offenen Filtersysteme teilweise nicht
vernünftig funktionieren. Staatssekretär Machnig war
damals, am 23. August letzten Jahres, schon darüber informiert.
Meine Frage: Wie bewerten Sie diese E-Mail vom
23. August an den Herrn Staatssekretär, der ja offensichtlich zu entnehmen ist, dass versucht wurde, das
UBA daran zu hindern, einen Test durchzuführen, durch
den deutlich würde, dass manche der offenen Filtersysteme nicht funktionieren? Ein solches Ergebnis stünde
nämlich dem politischen Konzept entgegen; die Auswirkungen wären angeblich zu teuer.
Diesen Vorwurf weise ich eindeutig zurück; das ist
dieser E-Mail auch nicht zu entnehmen. Diese E-Mail ist
ein Beleg dafür, wann die Hausleitung des Bundesumweltministeriums über diesen Konflikt informiert wurde.
Diese Information hat auch zu einer Reaktion geführt:
Der Fachbereichsleiter im Umweltbundesamt und der
Präsident des Umweltbundesamtes sind einbezogen worden, um diesen Konflikt zu lösen. Am Ende gab es auch
eine Weisung des Präsidenten des Umweltbundesamtes
an den zuständigen Abteilungsleiter, so zu verfahren,
wie es das Bundesumweltministerium vorgegeben hat.
Es gab mitnichten den Versuch, wie Sie hier unterstellen, irgendwelche Ergebnisse zu verschleiern. Es gab
sehr wohl den Versuch, über eine sachgerechte Ausge15184
staltung des Forschungsvorhabens zu vermeiden, dass
ganz gezielt nur in eine Richtung gemessen und dann gesagt wird, dass bestimmte Filtersysteme - es ging gar
nicht um bestimmte Filter bestimmter Hersteller - für
die Nachrüstung untauglich sind. Wir wollten also vermeiden, dass nur Extremzustände gemessen werden, was
dazu führen würde, dass selbst geschlossene Systeme
dem nicht standhalten würden, um einen Beleg für die
Hypothese zu erhalten, dass nur das Beste vom Besten
gefördert werden darf. Das sollte durch die klare Vorgabe vermieden werden. Für die Markteinführung von
Filtersystemen ist allein entscheidend, ob die Systeme
eine Minderung der Emissionen von mindestens
30 Prozent gemäß den gesetzlichen Prüfvorschriften erbringen. Darauf hatte man sich technisch und politisch
verständigt. Diese Frage sollte im Rahmen des Forschungsvorhabens beantwortet werden. Man hat sich
darauf konzentriert, diese Vorgabe umzusetzen, weil nur
durch die Umsetzung dieser Vorgabe die Ergebnisse politisch verwertbar gewesen wären.
Keine weiteren Fragen?
({0})
- Dann sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. Frau
Staatssekretärin, ich danke Ihnen.
Ich rufe nun den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Forschung auf. Für die Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Andreas Storm zur Verfügung.
Wir kommen zu Frage 3 der Kollegin Cornelia
Hirsch:
Wie bewertet die Bundesregierung die konstituierende Sitzung der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz am 18. Februar 2008, und was sind die wesentlichen Ergebnisse?
Ich beantworte die Frage der Abgeordneten Hirsch
wie folgt: Die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz,
GWK, ist der Ort, an dem Bund und Länder die sie gemeinsam berührenden Fragen der Forschungsförderung,
der wissenschafts- und forschungspolitischen Strategien
und des Wissenschaftssystems behandeln. Wichtige
Weichenstellungen zur Struktur und Weiterentwicklung
des Wissenschaftssystems werden in der GWK vorgenommen.
Folgende Ergebnisse der konstituierenden Sitzung der
GWK am 18. Februar 2008 sind besonders hervorzuheben:
Erstens. Die GWK hat sich auf das Konzept einer Nationalen Akademie verständigt. Die Leopoldina wird
künftig die Aufgaben einer Nationalen Akademie auf
dem Gebiet der Politikberatung übernehmen und die
deutschen Akademien in internationalen Gremien repräsentieren. Dabei wird sie mit der Deutschen Akademie
für Technikwissenschaften und mit Vertretern der Länderakademien zusammenarbeiten, insbesondere mit der
Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
Zweitens. Die GWK hat inhaltliche Eckpunkte als
Grundlage für weitere Gespräche zu einer beabsichtigten
Fortschreibung des Paktes für Forschung und Innovation
verabschiedet.
Drittens. Zur Vorsitzenden der GWK für das Jahr
2008 ist Frau Bundesministerin Dr. Annette Schavan gewählt worden. Stellvertretender Vorsitzender ist Herr Senator Professor Zöllner.
Frau Kollegin, haben Sie eine Nachfrage? - Bitte.
Danke schön erst einmal. - Zu meiner ersten Nachfrage. NRW hat in dieser Sitzung einen Antrag zur Einrichtung einer Arbeitsgruppe zur Erarbeitung eines nationalen Stipendiensystems vorgelegt. Warum wurde die
Behandlung dieses Antrages vertagt? Was war die Position der Bundesregierung? Wie bewerten Sie jetzt aktuell die Vertagung der Einsetzung der Arbeitsgruppe?
Frau Abgeordnete Hirsch, in der Tat hat sich die
GWK mit dem Vorschlag von Minister Pinkwart aus
Nordrhein-Westfalen befasst. Die GWK hat ihr Büro gebeten, zunächst einen Bericht zum aktuellen Sachstand
des Stipendiensystems in den Ländern bis zur nächsten
Sitzung der GWK am 19. Mai 2008 vorzulegen. Auf der
Grundlage des Ergebnisses dieses Berichts wird die
GWK dann entscheiden, wie weiter verfahren werden
soll.
Eine weitere Nachfrage.
Dies zeigt, dass uns dieses Thema weiter beschäftigen
wird. Deshalb meine zweite Nachfrage: Kann die Bundesregierung definitiv ausschließen, dass sie einem Stipendienmodell zustimmen wird, bei dem es öffentliche
Zuschüsse zu privatwirtschaftlichen Stipendien geben
wird?
Frau Abgeordnete Hirsch, die Bundesregierung begrüßt grundsätzlich Bemühungen, die zu einer Ausweitung von Stipendiensystemen führen. Ich nenne hier insbesondere den Eigenbeitrag des Bundes mit unserem
Ziel, bis zum Ende dieser Wahlperiode 1 Prozent aller
Studierenden in die öffentlichen Stipendiensysteme zu
bringen. Hier befinden wir uns auf einem sehr guten
Weg, was die besonders begabten Studierenden angeht.
Alle darüber hinausgehenden Festlegungen machen zu
diesem Zeitpunkt noch keinen Sinn. Wir sollten erst einmal die Ergebnisse des von mir angesprochenen Berichts
für die GWK am 19. Mai abwarten.
Ich rufe die Frage 4 der Kollegin Cornelia Hirsch auf:
Sind der Bundesregierung aktuelle Einschätzungen aus
dem Hauptausschuss des Bundesinstituts für Berufsbildung,
BIBB, bekannt, wonach die Zahl der sogenannten Altbewerberinnen und Altbewerber 2007 bei mindestens 385 000 Personen lag, und wie bewertet sie vor diesem Hintergrund die
Berufsbildungspolitik der letzten Jahre?
Ich beantworte die Frage wie folgt: Die vom Bundesinstitut für Berufsbildung veröffentlichten Zahlen zu den
Altbewerberinnen und Altbewerbern sind der Bundesregierung bekannt. Die Personengruppe ist allerdings sehr
heterogen. Zusätzlicher öffentlicher Fördermaßnahmen
bedürfen dabei insbesondere jene Altbewerbergruppen,
die sich nicht bereits in vollqualifizierenden Maßnahmen
befinden.
Die Ausbildungsmarktlage im Ausbildungsjahr 2006/
2007 hat sich deutlich verbessert. Die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge ist um 49 800 bzw.
8,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr auf knapp 626 000
angestiegen. Das ist der zweithöchste Wert seit der Wiedervereinigung. Damit greifen die von der Bundesregierung mit der Wirtschaft eingeleiteten Maßnahmen zur
Steigerung des Ausbildungsangebots. Der von der Bundesregierung Anfang 2008 beschlossene Beitrag zu einer
Qualifizierungsinitiative für Deutschland enthält zudem
weitere Maßnahmen zur Verbesserung der Situation von
Altbewerberinnen und Altbewerbern, insbesondere einen Ausbildungsbonus für Betriebe, die zusätzliche Ausbildungsplätze schaffen und mit förderungswürdigen
Altbewerberinnen und Altbewerbern besetzen.
Im Übrigen, Frau Präsidentin, war dies ausführlich
Gegenstand der vorherigen Regierungsbefragung.
Haben Sie eine Nachfrage, Frau Kollegin?
Ja, ich habe noch eine Nachfrage dazu. - Es ist mir etwas schleierhaft, wie die Bundesregierung zu einer derart positiven Einschätzung der aktuellen Ausbildungslage kommen kann, wenn es doch Realität ist, worauf ich
bereits in meiner Frage hingewiesen habe, dass im letzten Jahr fast 400 000 Jugendliche schon mindestens ein
Jahr lang auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz
waren. Dazu möchte ich eine Stellungnahme der Bundesregierung hören.
Frau Abgeordnete Hirsch, ich erläutere es Ihnen gern.
Wir haben die Altbewerberproblematik insbesondere
deshalb, weil zu Zeiten der konjunkturellen Schwäche in
der ersten Hälfte dieses Jahrzehnts die Arbeitmarktkrise
in vollem Umfang auf den Ausbildungsmarkt durchgeschlagen war, sodass in diesem Zeitraum nicht in ausreichender Zahl Ausbildungsverträge abgeschlossen werden konnten. In den letzten beiden Jahren war eine
deutliche Aufwärtsentwicklung zu verzeichnen. Mit der
jetzt erreichten Größenordnung von 626 000 Ausbildungsverträgen wird weitestgehend dem aktuellen Bedarf entsprochen.
Die Bundesregierung hat mit der Qualifizierungsinitiative das angesprochene Programm für Altbewerberinnen und Altbewerber deshalb aufgelegt, weil wir den
entstandenen Rückstau abbauen wollen. Mit dem Programm, das Bundesminister Scholz vorhin erläutert hat,
wollen wir allein in den nächsten drei Jahren zusätzlich zu
den ohnehin entstehenden Ausbildungsplätzen weitere
Ausbildungsplätze für etwa 100 000 Altbewerberinnen
und Altbewerber bereitstellen, sodass wir, wenn dieses
Programm erfolgreich verläuft, im nächsten Jahrzehnt
hoffentlich keine generelle Altbewerberproblematik mehr
haben werden.
Haben Sie eine weitere Frage?
Ja. - Meine zweite Nachfrage: Kann ich Ihre Antwort
so verstehen, dass es nur in Zeiten guter konjunktureller
Entwicklungen wirklich sichergestellt ist, dass Jugendliche einen Ausbildungsplatz bekommen, während in Zeiten, in denen die Konjunktur schlechter läuft, Jugendliche einfach auf der Straße stehen bleiben? Oder ist die
Bundesregierung der Auffassung, dass das Recht auf
Ausbildung generell gesichert sein muss und Ausbildung
in diesem Sinne einfach als Pflicht der Unternehmen gesehen werden muss?
Frau Abgeordnete Hirsch, die Bundesregierung ist der
Auffassung, dass den Jugendlichen, die sich nicht für einen anderen Ausbildungsweg - zum Beispiel im akademischen System - entscheiden, als erfolgreicher Start in
das Arbeitsleben ein Ausbildungsplatz zur Verfügung
gestellt werden sollte. Das ist kein formaler Rechtsanspruch, sondern es geht um Startchancen junger Menschen. Um dies zu erreichen, haben wir mit der Qualifizierungsinitiative eine Fülle von weiteren Maßnahmen
ergriffen, um auch den jungen Menschen, die ohne einen
Abschluss schon längere Zeit im Arbeitsleben stehen,
eine zweite Chance dazu zu geben.
Im Übrigen ist festzustellen, dass es in der ersten
Hälfte dieses Jahrzehnts eine besondere Schwächesituation auf dem Arbeitsmarkt gegeben hat, die dazu geführt
hat, dass die Zahl der Ausbildungsplätze deutlich niedriger war als in einer normalen konjunkturellen Situation.
Wir gehen davon aus, dass wir in den kommenden Jahren wieder eine ausreichende Zahl von Ausbildungsplätzen haben werden, um mindestens den aktuellen Bedarf
decken zu können.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs.
Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen für die Beantwortung der Fragen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Finanzen. Die Frage 5 der Kollegin
Dr. Gesine Lötzsch und die Frage 6 des Kollegen
Manfred Kolbe werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Ulrich Kasparick zur Verfügung.
Die Frage 7 der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch wird
schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 8 des Kollegen Dr. Anton Hofreiter
auf:
Inwiefern ist es zutreffend, dass das Bundesministerium
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung eine Bewertung der
von der Regierung von Niederbayern raumgeordneten Variante für den Donauausbau zwischen Straubing und Vilshofen
vorgenommen hat, und wie sieht diese Bewertung aus?
Herr Dr. Hofreiter, ich habe die Beantwortung Ihrer
Frage für meine Kollegin Roth übernommen. Die Antwort lautet wie folgt: Dem Raumordnungsverfahren lagen nicht eine, sondern drei Varianten zugrunde, nämlich
die Varianten A, C/C 280 und D 2. Die Varianten A, C
und D 2 wurden im Rahmen der sogenannten vertieften
Untersuchungen im Jahr 2001 vom Bund und von Bayern gemeinsam bewertet. Die Ergebnisse sind öffentlich
im Internet unter www.wsv.de nachzulesen. Die Variante
C 280 wurde von Bayern ohne Beteiligung des Bundes
aus der Variante C weiterentwickelt.
Haben Sie eine Nachfrage?
Da meine nächste Frage mit dieser Frage im Zusammenhang steht, bitte ich darum, dass der Herr Staatssekretär diese Frage auch erst beantwortet.
Dann rufe ich die Frage 9 des Kollegen Dr. Anton
Hofreiter auf:
Was sind die nächsten Schritte im Verfahren zum Ausbau
der Donau zwischen Straubing und Vilshofen, und wie sind
diese Schritte auf den bestehenden Bundestagsbeschluss zum
Ausbau der Donau zwischen Straubing und Vilshofen abgestimmt?
Diese Frage beantworte ich wie folgt: Gemäß der in
der Sitzung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung des Deutschen Bundestages vom 4. Juli 2007
im Einklang mit dem Beschluss des Deutschen Bundestages bekannt gegebenen Entscheidung von Herrn Minister Tiefensee wurde variantenunabhängig ein Förderantrag bei der Europäischen Kommission eingereicht.
Haben Sie eine Nachfrage?
Sehr geehrter Herr Staatssekretär, der Verlauf des bisherigen Raumordnungsverfahrens und die einzelnen
Verfahren sind mir sehr wohl bekannt. Es ging bei der
Frage nicht darum, ob in Bayern ein Raumordnungsverfahren stattgefunden hat oder wie dieses Verfahren verläuft; es ging vielmehr darum, dass - wie es aus Quellen
Ihres Hauses heißt - das Bundesverkehrsministerium
nach Abschluss des Raumordnungsverfahrens eine Bewertung der Variante C 280 vorgenommen hat. Deshalb
frage ich Sie nach dem Inhalt dieser Bewertung. Denn,
wie gesagt, wir wissen, dass sie in Ihrem Hause vorliegt.
Ich kann Ihnen noch einmal die offizielle Meinung
der Leitung des Hauses mitteilen: Die Varianten A, C
und D 2 wurden im Rahmen der vertieften Untersuchungen im Jahr 2001
({0})
vom Bund und von Bayern gemeinsam bewertet. Diese
Bewertungen sind im Internet öffentlich zugänglich. Alles andere hat, glaube ich, in diesem Zusammenhang
keine Relevanz.
Haben Sie noch eine weitere Frage?
Doch, es hat Relevanz. Ich frage Sie: Gibt es eine interne Bewertung des Ministeriums der Variante C 280, ja
oder nein?
Diese Bewertung ist mir nicht bekannt.
Gibt es weitere Fragen Ihrerseits, Herr Dr. Hofreiter?
Herr Staatssekretär, wir haben gerade eine Verhandlung erlebt, bei der es darum ging, dass Herr Staatssekretär Machnig mit sehr eindeutigen Aussagen in gewisse
Schwierigkeiten gekommen ist. Deswegen: Sind Sie sich
ganz sicher, dass Ihrem Haus eine solche Bewertung
nicht vorliegt?
Ich kann nur wiederholen, was ich eben gesagt habe:
Diese Bewertung ist mir nicht bekannt.
({0})
Frau Kollegin Blank, bitte sehr.
Herr Staatssekretär, es ist Ihnen doch bekannt, dass
der Verkehrsausschuss damals - ich glaube, es war 2002 die Variante A mit Mehrheit beschlossen hat und dass es
auch Gegenstimmen gab. Die entscheidende Frage betrifft die variantenunabhängige Anmeldung bei der EU.
Herr Staatssekretär, im Antrag ist auch von der Variante
C 280 die Rede. Ist Ihnen das bekannt, vielleicht nicht
persönlich, wohl aber Ihrem Haus?
Ich kann an dieser Stelle nur noch einmal sagen - das
war mein einleitender Satz -: Ich habe diesen Vorgang
von der Kollegin Roth vor fünf Minuten übernommen.
Ich sage Ihnen gerne zu, dass wir alle weiteren konkreten Fragen schriftlich beantworten.
Eine Frage hat der Kollege Winkler.
Danke, Frau Präsidentin. - Ich möchte an die Frage
von Herrn Dr. Hofreiter anschließen. Wenn Ihnen eine
solche Bewertung nicht bekannt ist, wäre es Ihnen möglich, einen solchen Vorgang, wenn er Ihrem Haus bekannt ist bzw. stattgefunden hat, in schriftlicher Form
mitzuteilen, ja oder nein?
Wie Sie wissen, haben wir im Ministerium einen Geschäftsverteilungsplan, aus dem die inhaltliche Zuständigkeit der Parlamentarischen Staatssekretäre resultiert.
Ich werde der Frage von Herrn Dr. Hofreiter im Ressort
nachgehen. Sie bekommen dann eine entsprechende
Antwort.
Die Frage 10 des Kollegen Rainder Steenblock wird
schriftlich beantwortet.
Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereichs des
Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen für die Beantwortung.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich der Bundeskanzlerin und des Bundeskanzleramtes. Für die Beantwortung der Fragen steht Frau Staatsministerin Professor
Dr. Maria Böhmer zur Verfügung.
Die Fragen 11 und 12 des Kollegen Christoph Waitz
werden schriftlich beantwortet, ebenso die Frage 13 des
Kollegen Rainder Steenblock.
Damit rufe ich nun die Frage 14 des Kollegen Josef
Philip Winkler auf:
Ist es dem in der FAZ vom 14. Februar 2008 geäußerten
Anspruch der Staatsministerin und Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration,
Dr. Maria Böhmer, deutsche Integrationspolitik beruhe auf
der „gleichberechtigten Teilhabe“ der hier lebenden Migrantinnen und Migranten, dienlich, wenn die Bundesregierung im
Rahmen des Nationalen Integrationsplans keine einzige
Selbstverpflichtung übernommen hat, um zum Beispiel die
Einbürgerungsmöglichkeiten für hier lebende Migrantinnen
und Migranten zu verbessern, wenn Dr. Maria Böhmer die
Einführung des kommunalen Wahlrechts für langjährig hier
lebende Drittstaatsangehörige als „halbe Sache“ ablehnt
({0}) bzw. wenn türkische Staatsangehörige durch das von
der Großen Koalition verschärfte Zuwanderungsgesetz - im
Vergleich zu zum Beispiel Staatsangehörigen aus den USA,
aus Japan oder Honduras - im Hinblick auf den Ehegattennachzug benachteiligt werden ({1})?
Frau Staatsministerin, bitte.
Ich darf die Frage 14 wie folgt beantworten: Ziel der
Integrationspolitik der Bundesregierung ist die gleichberechtigte Teilhabe der Migrantinnen und Migranten am
sozialen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen
Leben. Dieses Ziel verfolgt die Bundesregierung nicht
zuletzt mit dem Nationalen Integrationsplan. Er dient
mit vielen seiner Selbstverpflichtungen der Verbesserung der Integration und damit unmittelbar dem Ziel,
eine spätere Einbürgerung zu erleichtern. Den Zielzusammenhang von Integration und Einbürgerung bestätigt
§ 10 Abs. 3 des Staatsangehörigkeitsgesetzes.
Eine gelungene Integration drückt sich am stärksten
in der Beantragung der deutschen Staatsangehörigkeit
aus. Sie verleiht nicht nur das kommunale, sondern das
allgemeine Wahlrecht auf allen staatlichen Ebenen. Die
Bundesregierung wirbt dafür, dass die in Deutschland lebenden ausländischen Staatsangehörigen sich verstärkt
um ihre Einbürgerung bemühen. Die Beauftragte wird in
Kürze mit einer Einbürgerungsbroschüre über die novellierte Gesetzeslage aufklären und Migrantinnen und Migranten zur Einbürgerung ermutigen.
Von Zuwanderern, die im Rahmen des Ehegattennachzugs nach Deutschland kommen, sollte grundsätzlich erwartet werden können, dass sie sich bereits vor der
Einreise auf die anstehende Integration angemessen vorbereiten. Dazu gehört der Erwerb deutscher Sprachkenntnisse. Eine Befreiung vom Nachweis einfacher
deutscher Sprachkenntnisse vor der Einreise gilt unter
anderem für Ehegatten von Ausländern, die auch für längere Aufenthalte visumfrei einreisen können und einen
Aufenthaltstitel erst im Bundesgebiet beantragen müssen. Die Befreiung knüpft damit an die bereits vor der
Änderung des Ehegattennachzugs durch das RichtlinienUmsetzungsgesetz bestehende Vergünstigung im Visumverfahren für Angehörige bestimmter Staaten nach der
sogenannten Staatenliste nach § 41 der Aufenthaltsverordnung an. Bei den Staaten dieser Staatenliste handelt
es sich um solche, zu denen Deutschland enge wirtschaftliche Beziehungen pflegt.
Herr Kollege, haben Sie eine Nachfrage? - Bitte sehr.
Danke, Frau Präsidentin. - Danke, Frau Staatsministerin, für die Antwort. Habe ich Sie jetzt richtig verstanden, dass Sie von Ihrem in dem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung geäußerten Satz, dass
deutsche Integrationspolitik auf der gleichberechtigten
Teilhabe der hier lebenden Migrantinnen und Migranten
beruhe, Abstand nehmen? Denn Sie haben gerade gesagt, dass das am Ende des Integrationsprozesses für einige von den Migranten infrage kommt und Sie das unterstützen wollen. Gleichzeitig scheidet dann die
gleichberechtigte Teilhabe für die anderen ebenfalls hier
zu integrierenden Ausländer aus. Das ist ein logischer
Widerspruch.
Herr Kollege Winkler, ich sage zu der Frage, ob ich
Abstand nehme, ganz klar: Nein. Die gesamte Integrationspolitik der Bundesregierung ist auf gleichberechtigte Teilhabe ausgerichtet. Ich habe am Anfang in meinem ersten Satz, den Sie mit Sicherheit verfolgt haben,
von der gleichberechtigten Teilhabe der Migrantinnen
und Migranten am sozialen, am gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben gesprochen. Das ist ein
sehr umfassender Begriff der gleichberechtigten Teilhabe. Deshalb haben wir auch einen sehr umfassenden
Nationalen Integrationsplan aufgelegt, der sich an alle
der circa 15 Millionen Menschen aus Zuwandererfamilien in unserem Land richtet. Da wird keiner ausgeschlossen. Im Gegenteil: Wir wenden uns an alle und beziehen alle ein.
Eine weitere Nachfrage? - Bitte.
Danke, Frau Präsidentin. - Frau Staatsministerin, wie
bewerten Sie denn vor dem Hintergrund dessen, was Sie
gerade gesagt haben, die Kritik einer Vielzahl von Verbänden und Organisationen an den Maßnahmen zur Erschwerung der Einbürgerung im letzten Jahr, die Sie befürwortet haben und die Gesetz wurden, und an Ihrer
Äußerung, dass das kommunale Wahlrecht für langjährig
hier lebende Drittstaatenangehörige eine halbe Sache
sei, die Sie nicht befürworteten? Wie bewerten Sie, dass
viele Verbände bei dieser Regelung in dem Gesetz - Sie
haben sie selbst genannt -, nämlich dem Deutscherwerb
vor der Einreise, von einer Antitürkeiklausel gesprochen
haben, weil jemand, der zum Beispiel aus Honduras
kommt, überhaupt keine Probleme mit dem Ehegattennachzug hat, aber jemand, der aus der Türkei kommt, inzwischen sehr große Probleme hat, sehr viel Geld aufwenden und sehr lange reisen muss?
Lieber Kollege Winkler, bei der gleichberechtigten
Teilhabe, wenn es um die politischen und die staatsbürgerschaftlichen Möglichkeiten und speziell um Wahlen
geht, habe ich sehr bewusst gesagt, dass man nicht bei
halben Sachen stehen bleiben soll; denn eine Reduzierung dieser gleichberechtigten politischen Teilhabe nur
auf die Kommunalwahl wäre mir zu wenig. Ich bin deshalb dafür, für die Einbürgerung zu werben, weil mit der
Einbürgerung alle Rechte und Pflichten als Staatsbürger
verbunden sind. Das heißt, dass die Bürger nicht nur das
aktive, sondern auch das passive Wahlrecht haben und
dieses nicht auf den kommunalen Bereich beschränkt ist.
Deshalb, so glaube ich, ist meine Sichtweise sehr viel
umfassender, als Sie es dargestellt haben.
Ich sehe nicht, dass wir mit den Regelungen zum ersten Spracherwerb im Herkunftsland die Integration erschweren. Im Gegenteil: Wir erleichtern sie; denn alle
Informationen - ich war selbst in der Türkei - belegen,
dass die Möglichkeiten für den ersten Spracherwerb in
der Türkei sehr freudig aufgenommen werden. Ich war
bei einem Sprachkurs im Goethe-Institut in Ankara, und
ich habe dort Teilnehmerinnen und Teilnehmer erlebt,
die mit großer Freude die deutsche Sprache erlernt haben. Sie waren sicher, dass sie relativ schnell nach
Deutschland kommen. Der Sprachkurs dauert circa drei
Monate. Das heißt, es wird niemand gehindert, zum Ehegatten zu ziehen. Im Gegenteil: Es ist eine gesetzliche
Regelung, die die Integrationschancen in Deutschland
deutlich verbessert und nicht erschwert.
Zu einer Nachfrage erteile ich nun noch das Wort dem
Kollegen Dr. Keskin.
Frau Ministerin, Sie haben zu Recht von der Bedeutung der Einbürgerung, also des Erwerbs der deutschen
Staatsbürgerschaft, gesprochen. Dieser Schritt ist wichtig, damit sich die betreffenden Menschen nicht mehr als
Nichtdeutsche, als Ausländer in diesem Land aufhalten,
sondern gleichberechtigt hier leben. Von 1999, als das
neue Einbürgerungsrecht in Kraft getreten ist, bis 2007
hat sich die Zahl der Einbürgerungen - ich könnte Ihnen
die genauen Zahlen nennen; sie sind Ihnen sicherlich bekannt - aber mehr als halbiert. Weshalb? Weil mit dem
neuen Einbürgerungsrecht erhebliche Erschwernisse bei
der Einbürgerung in Kraft getreten sind. Sie vertreten
Ihre Meinung aufrichtig. Meinen Sie nicht, dass in diesem Bereich Handlungsbedarf besteht? Müsste man
nicht nachprüfen, was diese Erschwernisse sind und was
man hier machen könnte und müsste?
Herr Kollege, ich habe schon einmal gesagt, dass ich
mich mit einer Einbürgerungsbroschüre im Sinne der Ermutigung zur Einbürgerung an die vielen Migrantinnen
und Migranten in unserem Land wende.
Ich glaube, es ist noch ein Wort zu den Zahlen notwendig. Ich will Ihnen deshalb einige der Zahlen nennen. Die Einbürgerungszahlen haben sich seit 2000 nach
anfänglichem Rückgang auf hohem Niveau stabilisiert.
Im Jahr 2006 sind sie im Vergleich zum Vorjahr sogar
um 6,2 Prozent gestiegen. Wir haben hier also einen Anstieg. Die Einbürgerungszahlen der vergangenen Jahre
liegen deutlich über denen, die Mitte der 90er-Jahre verzeichnet werden konnten.
Ließen sich zwischen 1995 und 1999 im Durchschnitt
nur 98 261 Ausländer in Deutschland einbürgern, so lag
diese Zahl in dem Fünfjahreszeitraum zwischen 2002
und 2006 bei 132 848 Ausländern. Das ist unbestritten
höher als zuvor. Durch die Staatsangehörigkeitsreform
1999 und 2000 sind die Voraussetzungen zur Erleichterung der Staatsangehörigkeit zudem in einigen wichtigen
Bereichen erleichtert worden. Die besonders hohen Einbürgerungszahlen aus den Jahren 2000 und 2001 sind
auch auf reformbedingte Sondereffekte, das heißt den
Abbau von Altfällen, zurückzuführen. Insofern haben
wir einen Anstieg zu verzeichnen. Ich bitte, das endlich
einmal zur Kenntnis zu nehmen.
({0})
Nein. Wir haben den zeitlichen Rahmen der Fragestunde ohnehin schon etwas überzogen, Herr Kollege.
Deshalb bitte ich um Verständnis dafür, dass ich hier
jetzt Schluss mache.
({0})
Die restlichen Fragen, also die Fragen 15 bis 43, werden schriftlich beantwortet. Frau Staatsministerin, ich
danke Ihnen herzlich für die Beantwortung der Fragen.
Wir sind am Ende der Fragestunde, wie vereinbart.
Die Fraktionen sind übereingekommen, heute eine
vereinbarte Debatte zur Zukunft des Kosovos nach der
Unabhängigkeitserklärung - Zusatzpunkt 1 - durchzuführen. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann
verfahren wir so.
Ich rufe den soeben aufgesetzten Zusatzpunkt 1 auf:
Vereinbarte Debatte
Zukunft des Kosovos nach der Unabhängigkeitserklärung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
sehe dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren.
Als erstem Redner in der Aussprache erteile ich das
Wort für die Bundesregierung Herrn Bundesminister
Frank-Walter Steinmeier.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit Freudenfesten haben die Kosovo-Albaner in
diesen Tagen die Geburt ihres Landes als unabhängiger
Staat gefeiert. Ich denke, wir müssen die Freude der
Menschen nach den Jahrzehnten der Gängelung, der
Missachtung und der Unterdrückung verstehen.
({0})
Ich sage auch: Die Menschen im Kosovo müssen ihrerseits verstehen, dass wir Europäer mit gemischten Gefühlen, auch mit Sorge auf ihr neues Land blicken. Wir
haben die brennenden albanischen Fahnen in Mitrovica
gesehen. Wir haben gewaltsame Demonstrationen und
Tränengas in Belgrad gesehen. Unsere gemischten Gefühle müssen die Menschen im Kosovo deshalb verstehen, weil aus unserer Perspektive Grenzen in Europa
ihre trennende Wirkung eigentlich verlieren sollten.
({1})
Ich habe in einem der vielen Leitartikel aus den vergangenen Tagen gelesen: Vielleicht war ein neuer Kleinstaat auf dem westlichen Balkan im Ursprung nicht das
Wunschkind der Weltgemeinschaft. - All diejenigen, die
das sagen, haben recht. Aber ich erinnere daran: Neun
Jahre insgesamt haben wir uns um eine einvernehmliche
Lösung bemüht. Eine einvernehmliche Lösung hätten
alle lieber gesehen als das Prozedere, das wir jetzt vor
uns haben. Sie war aber nicht möglich.
Darum ist jetzt unsere Verantwortung gefordert, in einer Situation, in der wir uns nicht in Enthaltung flüchten
können, selbst wenn einige das möchten. Jetzt müssen
wir mit aller Kraft gemeinsam versuchen, den Kosovo
und seine Menschen zu unterstützen und - das sage ich,
obwohl ich weiß, aus welcher Situation wir dort kommen - das Beste daraus zu machen. Das Beste heißt: einen demokratischen Rechtsstaat zu schaffen, europäische Werte im Kosovo, aber nicht nur dort, sondern auf
dem gesamten westlichen Balkan, durchzusetzen. Ich
sage noch einmal: Nur das ist am Ende das Fundament
für Stabilität und fairen Ausgleich in der gesamten Region und nicht nur im Kosovo.
({2})
Das ist der Grund, dass sich die Bundesregierung
heute in ihrer Kabinettssitzung entschlossen hat, den Kosovo als unabhängigen Staat anzukennen. Ich sehe darin
- das habe ich auch am Montag in Brüssel gesagt - den
Schlusspunkt aus dem - teilweise gewaltsamen - Zerfall
des ehemaligen Jugoslawiens und nicht einen Sonderfall. Das sollte für uns alle der Ausgangspunkt europäischer Politik sein. Wir Europäer müssen beweisen, dass
wir in der Lage sind, die Konflikte auf unserem Kontinent wirklich dauerhaft und vor allen Dingen wirksam
zu lösen.
({3})
Wir sind dabei in den letzten 15 Jahren weiter gekommen, als manche meinen. Es gab damals nur wenige, die
gesagt haben: Was sich auf dem Balkan ereignet, ist eigentlich keine Angelegenheit von Außenpolitik, sondern
ist europäische Innenpolitik. - Das war eine Position, die
vor 15 Jahren noch allerhöchstes Erstaunen ausgelöst
hat, heute aber - ich finde, darüber sollte man nicht unglücklich sein - sehr viel selbstverständlicher geworden
ist.
Seit 13 Jahren - daran ist zu erinnern - leisten deutsche Soldaten in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo
jeden Tag Dienst am Frieden. Das heißt auch: Seit neun
Jahren schweigen dort die Waffen. Ich vergesse nicht
- viele von Ihnen auch nicht - die Gräueltaten, die Menschen dort einander angetan haben. Ich bin froh darüber,
dass auch auf dem westlichen Balkan - das haben meine
vielen Gespräche in der Region in den vergangenen Jahren gezeigt - immer mehr Menschen nach vorn schauen,
darauf hoffen, irgendwann als gleichberechtigte Mitglieder am Tisch der europäischen Nationen zu sitzen und
damit eine konkrete Perspektive für Frieden, Prosperität
und vor allen Dingen besseres Leben zu haben.
Sie haben die Bemühungen der europäischen Außenminister am vergangenen Montag und insbesondere die
Berichterstattung darüber zur Kenntnis genommen. Es
ist gelungen, eine gemeinsame europäische Plattform zu
finden, trotz der sehr unterschiedlichen Ausgangspunkte
der 27 Mitgliedstaaten. Es ist gelungen, in dieser gemeinsamen Plattform die gemeinsame europäische Verantwortung auf dem westlichen Balkan zum Ausdruck
zu bringen.
Mit Blick darauf, dass viele geschrieben haben: „Das
ist der kleinste gemeinsame Nenner“, sage ich: Ja, das ist
der kleinste gemeinsame Nenner. Nur bestand leider
nicht die Auswahl zwischen dem größten und dem
kleinsten gemeinsamen Nenner, sondern nur die Auswahl zwischen dem kleinsten gemeinsamen Nenner und
nichts, und was das für die europäische Außenpolitik
und ihre Zukunft bedeutet hätte, meine Damen und Herren, muss ich Ihnen nicht sagen. Deshalb bitte ich wertzuschätzen, dass sich die 27 Mitgliedstaaten zu einer gemeinsamen Position zusammengefunden haben, die
natürlich nicht das bilaterale Anerkennungsverfahren ersetzen kann, das aber auch nie wollte.
Besonnenheit und Vernunft sind jetzt das Gebot der
Stunde. Ich habe der Führung der Kosovo-Albaner ausgerichtet und ich sage auch den Verantwortlichen in Serbien: Lassen Sie uns in diesen Tagen und in der kommenden Zeit die Gespenster der Vergangenheit ruhen!
Gehen Sie mit uns den friedlichen Weg nach Europa!
Arbeiten Sie mit uns gemeinsam an einer Region der
Kooperation und der Zusammenarbeit, in der nicht mehr
wie in der Vergangenheit das Blutvergießen das Leben
der Kinder und zukünftiger Generationen bestimmt! Ich
glaube, das ist die Hauptsache.
({4})
Ich richte mich hier in diesem Hause auch an die
Adresse Russlands. Obwohl wir am Ende trotz vieler gemeinsamer Bemühungen die Meinungsverschiedenheiten nicht haben ausräumen können, appelliere ich an die
Führung in Russland, in dieser Situation besonnen zu
bleiben. Wir alle hätten - lassen Sie mich das noch einmal sagen - uns lieber eine Lösung gewünscht, in die die
Positionen Russlands stärker einbezogen gewesen wären. Am Ende waren wir aber in einer Situation, in der
eine Güterabwägung zwischen Frieden und Stabilität in
der jetzigen Situation vorzunehmen war. Es ging um
Frieden und Stabilität jetzt und nicht irgendwann in ferner Zukunft. Nach dieser Güterabwägung durften wir
den Lauf der Geschichte jetzt nicht länger aufhalten;
denn die Risiken sind Ihnen allen, meine Damen und
Herren, bekannt.
Ich erinnere hier und auch gegenüber Russland an die
vorangegangenen mehrjährigen Beratungen über den zukünftigen Status des Kosovos innerhalb der internationalen Kontaktgruppe. Gemeinsam mit Russland wurde
Ahtisaari als Chefverhandler für die Vereinten Nationen
ausgewählt. Ich erinnere an unseren Vorschlag, nachdem
die Verhandlungen nicht zu einem glücklichen Ende geführt werden konnten, direkte Verhandlungen zwischen
Serbien und dem Kosovo ein weiteres Mal zu ermöglichen. Wir haben für 120 Tage intensiver Verhandlungen
zwischen Serbien und dem Kosovo geworben und sie ermöglicht, und zwar mit Vorschlägen, die wir teilweise
unserer eigenen Geschichte entnommen haben, mit Verweis auf einen Grundlagenvertrag, der nach unserer Ansicht die Grundlage für eine Partnerschaft in der Region
hätte bieten können. Alle diese Vorschläge haben wir
engagiert über Botschafter Ischinger in die Verhandlungen eingebracht. Sie kennen das Ergebnis: Es ist uns am
Ende nicht gelungen.
Jetzt müssen wir ehrlich sein. Es gibt Situationen, in
denen man anerkennen muss: Es geht nicht weiter. Ich
sage all denjenigen, die immer noch die Vorstellung haben, durch noch längeres Verhandeln wäre man zu einem
Ergebnis gekommen: Leider ist das nicht der Fall.
Der Präsident des Kosovo hat uns in jenem Schreiben,
in dem er uns zur Anerkennung seines Landes auffordert, ausdrücklich zugesichert, dass der neue Staat sich
an die Klauseln des Plans der Vereinten Nationen halten
wird, also an demokratische Prinzipien, an die Einhaltung der Menschenrechte und an den Schutz der Minderheitenrechte für die Serben. Er hat zugesichert, dass das
Kosovo einer internationalen Supervision, einer breit angelegten EU-Mission zur Förderung des demokratischen
Rechtsstaats nach europäischen Werten, zustimmt. In
beiden Punkten werden wir - das versichere ich Ihnen den neuen Staat und seine Führung beim Wort nehmen.
Das bedeutet aber auch, dass wir Europäer uns jetzt
an unsere eigene Verantwortung gegenüber Kosovo-Albanern und Serben erinnern und sie ernst nehmen. Dabei
sehe ich auch Deutschland neben den anderen europäischen Staaten in der Pflicht. Wir werden uns deshalb in
Zukunft nicht nur mit Tausenden von Bundeswehrsoldaten im Kosovo engagieren, sondern uns mit Polizisten,
Richtern, Staatsanwälten und Regierungsberatern auch
zu einem beträchtlichen Teil an der zivilen EU-Mission
beteiligen müssen.
Dies alles, meine Damen und Herren, halte ich für unsere Verpflichtung, damit Frieden auf dem westlichen
Balkan wirklich gelingt. Es liegt darüber hinaus auch in
unserem ureigensten Interesse an Frieden in Deutschland
und in ganz Europa. Deshalb hoffe ich auf breite Unterstützung hier im Hause. Ich bin fest davon überzeugt:
Wir dürfen uns jetzt nicht in die Büsche schlagen, sondern wir müssen wie die 17 anderen europäischen Staaten, die unmittelbar nach den Beschlüssen vom vergangenen Montag das Anerkennungsverfahren eingeleitet
haben, Unterstützung in einer schwierigen Situation leisten. Diese müssen wir wirklich leisten.
Herzlichen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Werner Hoyer für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bundesregierung hat heute Morgen eine außerordentlich schwerwiegende, eine außerordentlich
schwierige Frage beantwortet und eine entsprechende
Entscheidung getroffen. Ich bin sicher, dass die niemandem am Kabinettstisch leichtgefallen ist. Auch keinem
von uns, die wir heute hier darüber debattieren, fällt die
Bewertung leicht. Wir als Liberale sind bei dem, was wir
heute zu kommentieren haben, außerordentlich problembewusst. Unter dem Strich kommen wir aber zu dem Ergebnis, dass die Bundesregierung bei allen Details, über
die wir noch streiten mögen, eine wahrscheinlich unvermeidbare Entscheidung getroffen hat, eine Entscheidung, die möglicherweise die am wenigsten schlechte
unter vielen unbefriedigenden Lösungen darstellt.
Es treten jetzt sehr viele auf den Plan, die uns sagen,
warum das alles schwierig und vielleicht sogar falsch ist.
Es treten viele exzellente Analytiker und Beobachter
auf, es treten aber auch Besserwisser auf, deren Argumentation bei allen Stärken im Detail insgesamt eine
große Schwäche hat, nämlich: Sie zeigt keine Alternativen auf, die wirklich tragen würden.
({0})
Wir alle wissen zum Beispiel um die Problematik, die
sich an großalbanische Träume anknüpft. Wir alle wissen auch um die Problematik, die die gigantische organisierte Kriminalität, die vom Kosovo ausgeht, betrifft.
Die gibt es übrigens mit und ohne Anerkennung des
Kosovos als selbstständiger Staat.
Wir wissen, dass wir die europäische Friedensordnung nach dem Kalten Krieg auf Kurs halten müssen
und dass das, was in der Schlussakte von Helsinki steht,
nicht falsch ist, bloß weil wir wie schon früher bei der
Aufarbeitung der Vergangenheit des früheren Jugoslawien hier eine Entscheidung treffen müssen, die auf den
ersten Blick nicht zu dem passt, was in Helsinki vereinbart worden ist. Darin steckt ja überhaupt eine der wesentlichen Schwierigkeiten: Es geht nicht nur um das
Kosovo selber.
Wenn wir heute zurückblicken und auflisten, was in
der letzten Zeit alles falsch gelaufen ist und was nicht erreicht worden ist, dann müssen wir doch bis auf das Friedensabkommen von Dayton zurückgehen und uns in diesem Hause auch eine ganz wesentliche Entscheidung in
Erinnerung rufen, die wir in einer einzigartigen Übergangszeit im Deutschen Bundestag 1998 getroffen haben: Als meine Kollegen und ich noch auf der Regierungsbank saßen, obgleich die Wahlen schon eine neue
Mehrheit gebracht hatten, da haben wir gemeinsam eine
verantwortliche Entscheidung zum Thema Kosovo herbeigeführt. Bis in diese Zeiten zurück gehen die Folgen,
mit denen wir uns jetzt herumschlagen müssen. Ich
glaube, für Besserwisserei ist in dieser Situation wenig
Platz.
Es ist schon klar, dass all die Probleme, die wir in
Bosnien-Herzegowina hatten und haben, die wir möglicherweise auch noch einmal mit Mazedonien bekommen
werden - wer weiß - und die wir jetzt im Kosovo haben,
mit dem Abschmelzen der Eisdecke zu tun haben, die
ein halbes Jahrhundert lang über dem Balkan und insbesondere über Jugoslawien gelegen hat. Sämtliche Konflikte, die es schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts
und davor gegeben hat, werden jetzt nach dem Abschmelzen dieser Eisdecke plötzlich sichtbar. Wundern
wir uns doch nicht darüber, dass es jetzt nicht gelingt,
nachdem alle Lösungsversuche in den letzten 150 Jahren
nicht funktioniert haben, etwas Perfektes auf den Tisch
zu legen.
In die Aufarbeitung der Vergangenheit, der wir uns
selbstkritisch stellen müssen, gehört auch die Forderung
an unsere Partner auf dem Balkan und speziell in Serbien, die eigene Vergangenheit kritisch zu reflektieren.
Es ist doch, auch wenn es darum geht, welche möglichen
Lösungen für die Kosovo-Albaner zumutbar wären, eine
der Schwierigkeiten, dass von Belgrad eigentlich wenig
Bereitschaft zu erkennen gewesen ist, über die eigene
Vergangenheit Rechenschaft abzulegen und das eine
oder andere vielleicht zu bedauern.
({1})
Das, was der australische Premierminister Rudd nach
Jahrzehnten des Aufkochens von Missverständnissen
und Unmut in Australien auf den Weg gebracht hat,
nämlich die Entschuldigung gegenüber den Ureinwohnern, könnte für manchen in Europa vielleicht Vorbild
sein.
Wenn wir schon die Historie bemühen, dann kommen
wir an ein paar historischen Wahrheiten nicht vorbei, denen wir uns stellen müssen. Erstens haben wir ganz
offensichtlich das hehre Ziel der Schaffung einer multiethnischen Gesellschaft im Kosovo nicht erreicht. Im
Kosovo gilt ebenso bitter wie für Bosnien-Herzegowina:
Wir haben damals gigantische Anstrengungen unternehmen müssen und unseren Soldaten, Polizisten, Beamten,
NGOs, Zivilorganisationen aufgeben müssen, weil wir
die ethnischen Säuberungen und das Morden nicht akzeptieren konnten, wollten und durften. Jetzt da wir dort
sind - auch militärisch, mit anderem Personal und mit
Politik -, hat man den Eindruck, das Ergebnis einer ethnischen Säuberung wird, nur mit umgekehrten Vorzeichen, militärisch abgesichert. Das kann es nicht sein. So
haben wir uns unser Engagement auf dem Balkan nicht
vorgestellt.
Wir hängen jetzt unsere Hoffnungen an einen Strohhalm, an eine Selbstverständlichkeit, nämlich die des
Schutzes der serbischen Minderheit. Wir werden genauestens darauf achten müssen, dass dieser Teil des
Ahtisaari-Plans im Bewusstsein aller Handelnden hängen bleibt, und müssen unsere kosovarischen Partner,
die dort jetzt eine Regierung bilden, auch daran messen,
ob sie diesen Verpflichtungen gerecht werden.
({2})
Wir müssen uns vielleicht auch fragen, ob wir insofern
unsere Möglichkeiten überschätzt haben, das zu verhindern, was in den letzten zehn Jahren passiert ist.
Vor dem Hintergrund wird auch die Einzigartigkeit
des Falles Kosovo klar. Denn so schwierig die Situation
von einigen Volksgruppen, die auf ihr Selbstbestimmungsrecht rekurrieren, auch sein mag: Das, was den
Kosovo-Albanern in den letzten Jahrzehnten zugefügt
worden ist, können sie nicht für sich reklamieren und
brauchen es Gott sei Dank auch nicht. Insofern möchte
ich jenseits der sogenannten Sui-generis-Debatte sagen:
Machen wir uns nicht verrückt; der Kern der Schlussakte
von Helsinki steht für uns Liberale, die wir kräftig daran
mitgearbeitet haben, nicht zur Disposition.
Zweitens müssen wir selbstkritisch feststellen, dass
das Konzept „Standards vor Status“ für das Kosovo diesen nicht auf jenen Level von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und wirtschaftlicher Überlebensfähigkeit aus
eigener Kraft gebracht hat, den wir uns vorgestellt hatten. Das Kosovo wird noch lange am Tropf der UNO,
der NATO und insbesondere der Europäischen Union
hängen, mit allen Problemen und Verantwortlichkeiten,
die damit verbunden sind. Ich habe, offen gesagt, auch
Zweifel daran, ob die Einschätzung wirklich richtig war,
dass die ungelöste Statusfrage die Entwicklung der Standards endgültig behindert hat. Aber das werden die Historiker eines Tages zu bewerten haben.
Drittens. Wir haben in der europäischen und übereuropäischen Verhandlungsstrategie darauf gesetzt, dass
Russland am Ende doch mitgehen würde und dass die
Europäische Union am Ende eine gemeinsame Haltung
zustande bringen würde. Beide Annahmen haben sich
nicht erfüllt. Ich denke, wir müssen noch einmal prüfen,
wie es kommen konnte, dass die handelnden Regierungen das offenbar so falsch eingeschätzt haben.
In diesem Zusammenhang ist es aus deutscher Sicht
in der Tat ein Lichtblick, Herr Minister, dass wir aufbauend auf der Kreativität, die Wolfgang Ischinger in diesen
Prozess eingebracht hat, zumindest einen Weg gewiesen
haben, der nach meiner Auffassung mehr Chancen geboten hätte als das, was jetzt als einzige Möglichkeit übrig
geblieben ist. Deswegen geht unser Dank an Wolfgang
Ischinger.
({3})
Viertens. Was Russland angeht, möchte ich sagen,
dass ich niemandem auf den Leim gehe. Aber man kann
nicht alle Argumente, die aus Moskau kommen, von
vornherein vom Tisch wischen. Was die rechtliche
Dimension angeht, kann man vielleicht noch ein paar
Brücken bauen; das habe ich eben dargestellt. Wir haben
versucht, an der völkerrechtlichen Beratung teilhaben zu
können, nachdem die Bundesregierung entschieden hat,
ihr Rechtsgutachten dem Bundestag und den zuständigen Ausschüssen nicht zur Verfügung zu stellen. Ich bedaure das sehr. Denn es kann nicht sein, dass wir uns vor
dem Verfassungsgericht sehen, weil die Kommunisten
klagen, um erst dann zu erfahren, welche Rechtsgrundlage die Bundesregierung zur Basis ihres Handelns gemacht hat.
({4})
Wir müssen die Besorgnis der Russen ernst nehmen,
dass wir hier der Erosion der Schlussakte von Helsinki
das Wort reden und dass das Russland eines Tages selber
treffen könnte - und nicht nur deswegen, weil wir den
Russen keinen Vorwand liefern wollen, möglicherweise
irgendwo anders zu zündeln, sondern auch deswegen,
weil Russland in der Tat ein paar ernste Sorgen auf diesem Gebiet hat.
Die völkerrechtliche Dimension wird uns in den
nächsten Wochen noch stark beschäftigen. Wir sind nach
sorgfältigen Überlegungen zu dem Ergebnis gekommen,
dass die Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrates tragen
kann, wenngleich man sich ganz schön anstrengen muss,
um das hinzubekommen.
({5})
Aber ich komme zu dem Ergebnis, dass man die Resolution 1244 als ein geschlossenes Konstrukt betrachten
muss. Man muss eine stabile Brücke bauen und klarstellen, dass das, was in der Resolution 1244 des UNSicherheitsrates auch niedergelegt ist, nämlich das Recht
Serbiens auf Sicherheitspräsenz im Norden des Kosovo
bei den eigenen Volksgruppen, tatsächlich gilt. Die
Frage, wie man das erreichen will, erfordert noch Antworten, die wir von der Bundesregierung und denen, die
jetzt Verantwortung tragen, insgesamt erwarten.
Sie merken, wir Liberale tun uns schwer, die Unabhängigkeit im Rahmen einer einfachen Entscheidung absegnen zu wollen. Wir würden uns aber vor der Entscheidung drücken, wenn wir sagen würden: Wir sehen
Schwierigkeiten; deswegen schrecken wir vor einer Antwort, die jetzt gegeben werden muss, zurück. Wir sollten
vielmehr den Blick in die Zukunft richten und die Erwartungen äußern, die wir an die Kosovaren haben. Einige
wie zum Beispiel den Schutz der Minderheiten und die
Bekämpfung der Kriminalität habe ich schon genannt.
Wir haben natürlich auch die Erwartung an die Serben,
dass sie besonnen reagieren. Ich unterstütze das, was der
Minister diesbezüglich gesagt hat.
Ich habe auch Erwartungen an die Europäer, nämlich
dass sie jetzt auf Russland zugehen und sich ernsthaft
darum bemühen, Russland klarzumachen, dass wir kein
Interesse an einer Desintegration Russlands und einer
Verwischung dessen, was in der Schlussakte von Helsinki steht, haben.
Ich erwarte auch, dass wir Europäer auf die Serben
- und nicht nur auf die Kosovaren - zugehen und ihnen
klarmachen, dass sie jetzt nicht auch noch die europäische Perspektive verlieren dürfen, nachdem sie nicht zuletzt durch das eigene Verhalten das Kosovo verloren haben. Um in diesem Punkt glaubhaft zu sein, müssen wir
uns um die jungen Menschen in Serbien bemühen, die
noch jetzt von den Entwicklungen in der Europäischen
Union abgeschnitten sind und die in den letzten zehn
Jahren einen großen Rückstand haben hinnehmen müssen. Laden wir sie nach Europa ein, aber nicht, indem
wir die Europäische Union für Serbien ohne Beachtung
der Kopenhagener Beitrittskriterien öffnen, sondern indem wir Serbien ein Angebot machen: Seht euch diese
Europäische Union an! Wir bieten auch euch dieses Erfolgsmodell für eure Zukunft an! - Wir hoffen, dass eine
gemeinsame Zukunft von Kosovaren und Albanern in
der Europäischen Union eines Tages Wirklichkeit wird.
Herzlichen Dank.
({6})
Der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff ist der
nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt nachdrücklich die heutige Entscheidung der Bundesregierung, das
Kosovo diplomatisch anzuerkennen. Auch wir hätten
uns eine Lösung auf dem Verhandlungswege gewünscht.
Aber dafür hat der Wille gefehlt. Wir sind überzeugt,
dass eine rasche Anerkennung durch möglichst viele
Staaten geeignet ist, dauerhafte Stabilität für die gesamte
Region zu schaffen.
Die Unabhängigkeitserklärung des kosovarischen
Parlaments und die Anerkennung der eingeschränkten
Unabhängigkeit sind ein notwendiger Schritt und ohne
Alternative. Dafür gibt es aus unserer Sicht drei Gründe:
Erstens. Alle Verhandlungsmöglichkeiten sind ausgeschöpft worden; der Bundesaußenminister hat das dargelegt. Durch die Verhandlungen des VN-Unterhändlers
Ahtisaari sind für die Kosovaren ganz wesentliche Auflagen, beispielsweise der Schutz der serbischen Minderheit, festgelegt worden, zu deren Einhaltung sich das
Kosovo jetzt verpflichtet hat.
Um den von serbischer und russischer Seite geäußerten Zweifeln, dass auch wirklich alles versucht worden
ist, um zu einer einvernehmlichen Lösung zu kommen,
Rechnung zu tragen, haben die Troika-Verhandlungen
unter Beteiligung der USA, Russlands und der Europäischen Union - sie wurde durch Botschafter Ischinger
vertreten - stattgefunden. Dabei wurde über alle denkbaren Modelle diskutiert, und zwar neben dem von Ihnen,
Herr Steinmeier, erwähnten deutsch-deutschen Grundlagenvertrag über die Zypern-Regelung und die Hongkong-Lösung, ohne dass es zu einem Ergebnis kam.
Heute müssen wir feststellen: Alle Möglichkeiten sind
ausgeschöpft worden, und es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass weitere Verhandlungen noch irgendwelche
Erfolgsaussichten geboten hätten. Das hat übrigens auch
der russische Vertreter der Troika festgestellt.
Wer in dieser Situation weitere Verhandlungen fordert, will in Wirklichkeit keine Lösung, sondern die Statusfrage in einem Schwebezustand halten.
({0})
Das aber liegt nicht in unserem Sicherheitsinteresse;
denn ein weiteres Offenhalten der Statusfrage - das ist
der zweite Grund - würde nur zu neuen Unruhen im Kosovo und vielleicht darüber hinaus in der Region führen
und die auf dem westlichen Balkan erzielten Stabilisierungserfolge infrage stellen. Das aber wäre völlig unverantwortlich. Dies kann in niemandes Sicherheitsinteresse liegen - auch nicht im Interesse Serbiens.
Drittens. Es sollte sich keiner von uns Illusionen darüber machen, wie schwierig es angesichts einer
Massenarbeitslosigkeit von 80 Prozent und einem
Durchschnittsalter von 25 Jahren ist, einen sich selbst
tragenden wirtschaftlichen Aufbauprozess in Gang zu
setzen. Um aber überhaupt ausländische Investitionen,
die zur wirtschaftlichen Entwicklung Kosovos beitragen
sollen, zu gewinnen, war eine Klärung der Statusfrage
unverzichtbar.
Herr Hoyer, Sie haben die Rechtsgrundlage angesprochen. Es wird in Zweifel gezogen, ob die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo oder die Anerkennung des Landes legal seien. Diese widersprächen der
Kosovo-Resolution 1244. Ich sage für die CDU/CSU:
Wir halten diese Auffassung in der Sache und politisch
für falsch.
({1})
- Nein, sie ist nicht überzeugend, Herr Kollege Gehrcke.
Erstens ist doch unstreitig, dass die Resolution 1244
fortbesteht, bis sie durch eine andere Resolution des Sicherheitsrates abgelöst wird. Das ist im Übrigen auch für
das KFOR-Mandat wichtig. Für unsere Soldaten, die
dort einen schwierigen, aber erfolgreichen Dienst leisten, ist ganz entscheidend, dass die KosovoResolution 1244 fortbesteht und sie ihren Dienst auf einer sicheren Rechtsgrundlage erfüllen.
({2})
Zweitens wird in der Resolution 1244 eine einseitige
Unabhängigkeitserklärung nicht verboten. Sie sagt
nichts zum endgültigen Status aus. Das wäre auch absurd; denn dann könnte im Umkehrschluss eine Seite
jede Lösung blockieren und mit einer solchen Blockade
die Kosovo-Frage zu einem permanenten Frozen Conflict machen. Das kann niemand wollen, weder der Sicherheitsrat noch Russland und China.
Drittens ist die einseitige Unabhängigkeitserklärung
des Kosovo kein Präzedenzfall, auf den sich andere berufen können. Angesichts des Konflikts, der ethnischen
Säuberungen und der humanitären Katastrophe in den
90er-Jahren sowie der langen Phase unter internationaler
Verwaltung - neun Jahre - ist dies ein einzigartiger Fall,
der keine Präzedenzen schafft. Weder die Situation in
Abchasien noch in Südossetien noch in Nagornij Karabach noch in Transnistrien ist mit diesem Fall vergleichbar oder hat in irgendeiner Weise eine vergleichbare Berufungsgrundlage.
Dies gilt noch viel weniger für die ungarische Minderheit in Rumänien. Wenn jetzt deren politischer Vertreter entsprechende Äußerungen macht, dann widerspricht das im Übrigen dem Stabilitätspakt, der in den
90er-Jahren mit Ungarn, Rumänien und der Slowakei
zur Vorbereitung ihrer EU-Mitgliedschaft geschlossen
wurde. Die ungarische Minderheit in Rumänien, zu deren Schutz und zur Gewährleistung ihrer Rechte dieser
Stabilitätspakt geschlossen wurde - es geht um den
Schutz ihrer Rechte -, muss wissen: Wenn in verantwortungsloser Weise gezündelt wird, dann schadet das ihren
eigenen Interessen, und das wird auf den massiven Widerstand der gesamten EU stoßen.
Das Kosovo hat keine vollständige Souveränität, sondern eine eingeschränkte Unabhängigkeit erlangt. Es hat
sich zur vollständigen Umsetzung des Ahtisaari-Plans
verpflichtet. Das betrifft insbesondere den Schutz der
serbischen Minderheit und ihrer Kulturgüter. Wir werden sehr genau darauf achten, dass das Kosovo diesen
Verpflichtungen uneingeschränkt Folge leistet. Eine weitere, ebenso wichtige Voraussetzung für die Anerkennung der Unabhängigkeit ist, dass sich das Kosovo zur
engen Zusammenarbeit mit der Internationalen Verwaltungsbehörde, der europäischen Rechtsstaatsmission, der
NATO und nicht zuletzt mit dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag verpflichtet hat.
Wir gehen davon aus, dass Regierung und Parlament
des Kosovo diesen Verpflichtungen vollständig nachkommen werden. Wir erwarten ferner, dass die internationale Gemeinschaft nicht von ihrem Recht Gebrauch
machen muss, zum Schutz der serbischen Minderheit,
zur Verfolgung von Kriegsverbrechen, zur Bekämpfung
der organisierten Kriminalität oder gegebenenfalls zur
Annullierung von Gesetzen direkt exekutiv einzugreifen.
Wir werden uns auf eine sehr lange Mission und einen
schwierigen Prozess im Kosovo einstellen müssen; ich
habe die Wirtschaftsprobleme erwähnt. Wir haben aber
keine Alternative, als uns mit aller Kraft zu engagieren;
denn es liegt im Sicherheitsinteresse Europas, dass im
Kosovo mithilfe der EU zumindest ein einigermaßen
funktionierender Rechtsstaat entsteht. Ein Kosovo mit
organisierter Kriminalität, mit Menschenhandel, das
Durchgangsgebiet für Drogen- und Waffenhandel ist,
würde negativ auf ganz Europa ausstrahlen. Wir erinnern
uns alle an den Beginn der 90er-Jahre, als wir unseren
Kommunen Kontingente von Bürgerkriegsflüchtlingen
zur Unterbringung zuweisen mussten. Ohne mehr
Rechtsstaatlichkeit werden auch die für die wirtschaftliche Entwicklung dringend notwendigen Investitionen
nicht kommen. Deswegen begrüßen wir es, dass die EU
ihre Rechtsstaatsmission sehr schnell in das Kosovo
schickt.
Ich sage es ganz offen: Ich habe nicht den Eindruck,
dass die Politiker im Kosovo wirklich wissen, was jetzt
getan werden muss, um das Land in eine bessere Zukunft zu führen. Wir sollten realistisch sein und uns darauf einstellen, dass die Hoffnung auf eine schnelle Besserung im Kosovo eine Illusion ist und sehr schnell in
Frustration umschlagen kann, die auch gegen die EU gerichtet sein könnte.
Wir müssen heute auch ein Wort zu Serbien sagen.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion kann die Empfindungen der serbischen Bevölkerung sehr gut nachvollziehen. Die Politiker in Serbien haben nichts getan, um
ihre Bevölkerung auf diese Situation vorzubereiten. Gewalt und Aufruhr sind für Serbien aber nutzlos. Das hat
der serbische Ministerpräsident Koštunica angesichts der
Ausschreitungen im Norden des Kosovo gesagt. Wir begrüßen es sehr, dass er zu Ruhe und Ordnung aufgerufen
hat. Aber auch andere Maßnahmen nutzen Serbien nicht.
Sie werden nichts an der Tatsache ändern können, dass
das Kosovo seine eingeschränkte Unabhängigkeit behalten und diese von immer mehr Ländern anerkannt wird.
Wirtschaftssanktionen oder diplomatische Maßnahmen
schaden nur den Serben selbst und liegen weder im serbischen noch im europäischen Interesse.
({3})
Die Zukunft Serbiens liegt ganz klar in der Europäischen Union. Serbien sollte den Prozess der Annäherung
an die EU deshalb jetzt nicht unterbrechen oder verlangsamen. In dem Moment, in dem die EU bereit ist, beispielsweise durch Visaerleichterungen für die serbischen
Bürger, die Tür nach Europa weiter zu öffnen,
({4})
sollte die serbische Regierung diese Tür nicht zuschlagen und ihre Bürger einsperren.
Die Anerkennung der eingeschränkten Unabhängigkeit des Kosovo löst die Probleme nicht, aber sie ist notwendig und ohne Alternative.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Norman Paech
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Eine Bemerkung zuvor: Wir
machen uns natürlich keine Illusionen. Wir wissen, dass
wir das Rad der Entwicklung nicht zurückdrehen können
und dass wir die Abspaltung des Kosovo nicht rückgängig machen können. Aber wir lehnen die Art ab, wie Sie
dieses Rad drehen: mit einer Verachtung des Völkerrechts, wie wir sie jetzt schon zum zweiten Mal erleben.
({0})
Es ist nicht lange her: Im März 1999 haben Sie die
Zerstörung Ex-Jugoslawiens mit der völkerrechtswidrigen Bombardierung begonnen. Neun Jahre später zerlegen Sie nun das verbliebene Serbien in zwei Teile, Sie
spalten den Kosovo ohne Grundlage des Völkerrechts
ab.
({1})
Das mag, Herr Minister, dem Wunsch der Kosovaren
entsprechen. Aber wenn es danach ginge, dann hätten
die Kurden, die Basken, die Katalanen, die Korsen, die
Abchasen und die Osseten schon lange ihren eigenen
Staat. Danach geht es allerdings nicht.
({2})
Erlauben Sie mir, den ehemaligen kanadischen Botschafter James Bissett, der in den 90er-Jahren in Jugoslawien gewesen ist, zu zitieren. Er sagt:
Die Unabhängigkeit des Kosovo bricht das Völkerrecht. Die Charta der Vereinten Nationen und die
Schlussakte von Helsinki werden verletzt. Die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unverletzbarkeit der Grenzen sind elementare Gesetzmäßigkeiten, die nicht nach Lust und Laune der NATOLänder beiseite gewischt werden können.
({3})
Diese Prinzipien zu ignorieren, bedeutet, die wesentlichen Grundsätze über die Beziehungen zwischen Staaten seit Ende des Zweiten Weltkriegs zu
verletzen.
Mit der Anerkennung des Kosovo verletzen Sie nicht
nur die Souveränität und die territoriale Integrität Serbiens, sondern Sie verstoßen auch gegen die UN-Resolution 1244, die in ihrem Wortlaut die Souveränität und
territoriale Integrität Serbiens garantiert. Sie legen Hand
an die gesamte Völkerrechtsordnung. Nach Gutsherrenart bedienen Sie sich der Teile der UNO-Charta, die Ihnen passen. Die, die Ihnen nicht passen, ignorieren Sie.
({4})
Sie zerstören damit das grundlegende Prinzip der Völkerrechtsordnung, das Prinzip der Universalität, das besagt, dass das Völkerrecht für alle Staaten gleich verbindlich ist, für große und kleine, für starke wie
schwache. Das Schlimme ist: Sie wissen das und machen es trotzdem vorsätzlich. Das dulden wir nicht.
({5})
Die Frage ist: Was gewinnen Sie eigentlich dadurch?
Auch hier noch einmal Botschafter James Bissett. Er
sagt:
Die Führung des Kosovo und die UCK sind in meinen Augen Kriegsverbrecher. Sie haben unter der
NATO-Besatzung fast die gesamte nicht-albanische
Bevölkerung vertrieben, über 150 christliche Kirchen und Klöster zerstört. Die Unabhängigkeit des
Kosovo wird den Traum eines „Groß-Albanien“ anheizen und den Balkan weiter destabilisieren.
Diese Leute gehören vor Gericht und nicht auf eine
Regierungsbank. Diese Regierung ist von der gleichen
zweifelhaften Vasallennatur, wie wir sie schon in Afghanistan und auch im Irak haben.
({6})
Das Kosovo - wenn Sie sich das genau überlegen ist die erste moderne Kolonie der EU. Ihr fehlt eine effektive Staatsgewalt, eine der drei unabdingbaren Voraussetzungen dafür, dass es sich überhaupt um einen
Staat handelt.
({7})
Stattdessen muss die EU dieses lebensunfähige Gebilde
auf Jahre hinaus durchfüttern. Die wesentlichen Entwicklungen werden sowieso in Washington und Brüssel
entschieden und nicht in Priština.
EULEX heißt nun die neue Mission des Rates der Europäischen Union, die neben UNMIK errichtet worden
ist. Sie ist in der Resolution 1244 gar nicht erwähnt worden, soll aber die Rechtsstaatlichkeit im Kosovo aufbauen. Das ist schon ein kurioser Vorgang.
({8})
Wie kann ich Rechtsstaatlichkeit unter Verletzung des
Völkerrechts aufbauen?
({9})
UNMIK und KFOR sollen weiter im Kosovo bestehen
bleiben; beide ohne völkerrechtliche Grundlage.
Denn Resolution 1244 ist zwar formal nicht aufgehoben worden, aber mit der Beendigung der Übergangsverwaltung, die sie organisieren sollte, ist sie hinfällig geworden. Sie ist ohne weitere Gültigkeit und ohne weitere
legitimatorische Kraft. Sie müsste für die neuen Aufgaben, die sich jetzt stellen, durch eine neue Resolution ersetzt werden. Aber Sie wissen selber: Die Russen und
auch die Chinesen werden einen Völkerrechtsverstoß
nicht nachträglich legitimieren. Was machen Sie? Wie
schon die NATO 1999 und die USA 2003 lassen Sie die
UNO einfach links liegen und fahren dann mit dem Völkerrecht Schlitten. Das können und wollen wir so nicht
durchgehen lassen.
({10})
Ein Letztes. Es fehlt damit ein auch über die Beendigung der Übergangsverwaltung hinaus gültiges Bundestagsmandat. Sie können nicht einfach ohne Mandat den
Einsatz deutscher Truppen beliebig verlängern.
({11})
Das ist eine Verletzung der Rechte des Bundestages, was
Ihnen offensichtlich noch gar nicht aufgegangen ist. Die
Übergangsverwaltung auf der Grundlage der Resolution 1244 - das wiederhole ich - ist mit der einseitigen
Abspaltung und ihrer Anerkennung beendet worden. Ab
jetzt agieren UNMIK und KFOR ohne UNO-Mandat
und ohne Bundestagsmandat. Das lassen wir uns nicht
bieten. Wir werden unser Recht vor dem Bundesverfassungsgericht einklagen.
Danke schön.
({12})
Jürgen Trittin ist der nächste Redner für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege
Paech, man kann sicherlich eine ganze Reihe von Ursachen benennen, warum Jugoslawien zerbrochen ist. Das
hat etwas mit der Geschichte, auf die Herr Hoyer hingewiesen hat, mit dem dortigen System und mit ökonomischen Gründen zu tun.
({0})
Aber wenn wir uns über wirkliche Ursachen unterhalten wollen, dann kann man sich hier nicht hinstellen und
einen der ganz zentralen Gründe für den Zerfall Jugoslawiens verschweigen: Das ist der brutale, menschenverachtende serbische Nationalismus gewesen.
({1})
Mich wundert immer wieder, dass eine Partei, die sich
selber links nennt und so etwas wie Internationalismus
hochhält, zu dem schweigt,
({2})
was dort im Schoß der föderativen Republik Jugoslawien
entstanden ist. Ein menschenverachtender Nationalismus
unter dem Deckmantel linker und sozialistischer Politik
muss jedem Linken und jedem Sozialisten die Schamesröte ins Gesicht treiben.
({3})
Ich finde, dazu hätten Sie ein Wort sagen können.
({4})
Ich will mit Ihnen gar nicht darüber streiten, ob es
richtig oder falsch ist, dass sich die Kosovaren für unabhängig erklärt haben. Darum geht es überhaupt nicht.
({5})
Jeder, der die Geschichte kennt, weiß, dass es gar nicht
um die Frage geht, ob, sondern nur, wann sie es getan
haben.
({6})
Es ist auch kein Privileg der UÇK gewesen, sich für die
Unabhängigkeit des Kosovo stark gemacht zu haben.
Das war auch und gerade das Programm des Schattenstaates, den Rugova unter dem Druck einer brutalen Diktatur gewaltfrei organisiert hat. Es muss im Gegenteil
eher gesagt werden, dass die Kosovaren in den letzten
Jahren ein erhebliches Maß an Geduld bewiesen haben.
Die Frage, vor der die Europäische Union und damit
auch Deutschland heute steht, ist: Wollen wir den Prozess, dass sich das Kosovo für unabhängig erklärt hat,
weiterhin politisch mitgestalten, oder wollen wir diesen
Prozess ungesteuert laufen lassen? Vor dieser Frage steht
die Europäische Union.
Ich verstehe an dieser Stelle die Spanier. Aber mit
Verlaub: Die Basken brauchten keine Kosovaren, um ihren Wunsch nach Unabhängigkeit zu formulieren; so
viel zum Thema Präzedenzwirkung.
Man muss doch zur Kenntnis nehmen, dass die EU
bei aller unterschiedlichen Auffassung, ob man diese
Nation bilateral anerkennen soll, eines geschafft hat: Sie
hat sich in dieser Frage nicht auseinanderdividieren lassen, weder von den Spekulationen aus Russland noch
von den klammheimlichen Überlegungen aus Washington. Das halte ich für eine richtige Entscheidung.
Deswegen tragen wir es ausdrücklich mit, dass hier
der Versuch gemacht wird, das, was Ahtisaari ausverhandeln wollte, nämlich eine beschränkte Souveränität - es
sind nämlich zwei Dinge: die Unabhängigkeitserklärung
und eine beschränkte Souveränität des Kosovo -, mit einer starken und großen zivilen Sicherheits- und Rechtsstaatsmission durch die Europäische Union zu begleiten.
Mit Verlaub, gerade das ist im Interesse der dort lebenden
Serbinnen und Serben.
({7})
Das ist der einzige Weg, um sicherzustellen, dass serbische Kulturgüter dort nicht wieder zerstört werden und
dass es nicht erneut zu Übergriffen kommt. Nur eine internationale Präsenz und der Aufbau rechtsstaatlicher
Verhältnisse können die Antwort auf das sein, was Sie zu
Recht erwähnt haben: dass es dort auch von kosovarischer Seite zu ethnischen Säuberungen, zu Übergriffen
etc. gekommen ist. Das beklagen Sie. Wenn es aber darum geht, zu verhindern, dass sich das wiederholt, dann
sagen Sie: Die Welt ist ein Amtsgericht, und meine
Rechtsauffassung lässt das nicht zu.
({8})
Ich habe ja immer großen Respekt vor dem Völkerrechtler Paech. Vielleicht sollten Sie aber noch einmal
über Ihre Rechtsauffassung nachdenken, dass die UNResolution 1244 nicht mehr gelten würde. Da sind die
Russen und die Chinesen ganz anderer Auffassung.
({9})
Denn sie sagen: Weil sie gilt, hätte man nicht anerkennen dürfen. Eben hat jemand dazwischengerufen, Sie
seien der Sprecher des russischen Außenministeriums.
Darüber sollten Sie noch einmal nachdenken.
({10})
Der Umstand, dass es in einzelnen Bereichen aufgrund der Unabhängigkeitserklärung zu anderen Regelungen kam, darf nicht automatisch dazu führen, dass
eine Resolution des Weltsicherheitsrates für ungültig erklärt wird. Wenn man über die Resolution redet, dann
muss man sich darüber im Klaren sein, dass von Russland der Antrag gestellt wurde, zu sagen, die Unabhängigkeitserklärung sei unzulässig. Das hat der Sicherheitsrat aber nicht bestätigt. Sie stellen sich hier hin und
sagen, das sei völkerrechtswidrig. Das hat der Sicherheitsrat so aber nicht beschlossen.
({11})
Das soll keine juristische Spitzfindigkeit sein. Ich
gebe zu, dass das eine schwierige und auch völkerrechtlich nicht einfache Situation ist, und zwar auch mit Blick
auf die dort stationierten Soldaten. Darüber schaut niemand hinweg. Aber die Frage ist, wie man sich in einer
solch schwierigen Situation verhält. Beschränkt man
sich auf das Filibustern, oder versucht man, diese Situation ausgehend von den Prinzipien des internationalen
Rechts, des Schutzes der Menschenrechte, der Herstellung rechtsstaatlicher Verhältnisse und der Sicherung
auch und gerade von Minderheitenrechten zu gestalten?
Ich habe mich über die Unabhängigkeitserklärung
nicht gefreut. Ich hätte mir sogar etwas anderes gewünscht; das sehe ich vielleicht anders als manch andere
in meiner Partei. Diese Unabhängigkeitserklärung war
absehbar und unabweisbar, insbesondere vor dem Hintergrund der Geschichte. Das Kosovo war nie eine Republik der Föderation. Es war eine autonome Region. Die
Menschen dort haben erlebt, was Autonomie für sie
hieß. Sie hieß Vertreibung, Schattenstaat, Vergewaltigung und Mord. Die Geschichte war der Grund, aus dem
die Kosovaren das Angebot der Autonomie nicht haben
annehmen können.
Ich würde mir sehr wünschen, dass all das, was zu
Recht zu diesem Thema gesagt worden ist, berücksichtigt wird. Man darf Serbien in dieser Situation nicht ins
Abseits stellen. Man darf nicht zulassen, dass Herr
Koštunica die serbische Jugend als Geisel nimmt und sie
nicht mehr nach Europa reisen lässt.
({12})
Wir müssen all dies sehr ernst nehmen und Serbien gegenüber offen sein. Serbien gehört zu Europa.
({13})
Nun spricht der Kollege Walter Kolbow, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
SPD-Bundestagsfraktion stimmt der völkerrechtlichen
Anerkennung der Republik Kosovo durch die Bundesrepublik Deutschland sowie der Aufnahme diplomatischer
Beziehungen zu. Herr Kollege Hoyer und andere haben
recht: Das war eine der schwierigeren außenpolitischen
Entscheidungen, die unser Kabinett heute zu treffen
hatte.
Auch nach dieser Entscheidung, die wir unterstützen,
müssen wir die Kritik, die am Gesamtprozess geübt
wird, aufgreifen: im Parlament, in den Fraktionen, aber
natürlich auch im Land. Die Defizite im Kosovo, die die
Bürgerinnen und Bürger den dort Verantwortlichen auch
heute vorhalten - die große Arbeitslosigkeit, die Korruption und die Kriminalität -, sind auch von uns im Rahmen der Partnerschaft, die die Europäische Union den
Kosovaren jetzt zugesagt hat, anzusprechen.
Der Bevölkerung vom Kosovo ist zur erlangten
Selbstbestimmung zu gratulieren und alles Gute zu wünschen. Wir begrüßen die Republik Kosovo als Mitglied
der Gemeinschaft der freien und unabhängigen Staaten
der Welt. Auch im Zusammenhang mit dem, was ich zu
Beginn kritisch gesagt habe, bin ich mir sicher, dass man
sich bei aller Euphorie in Pristina bewusst ist, dass mit
dieser Unabhängigkeitserklärung und der Anerkennung
durch wichtige Staaten erst ein Anfang gemacht ist. Es
wird ein schwerer Weg folgen, auf dem harte Arbeit und
viel politische Umsicht gefragt sind.
Ziel aller Kosovaren ist es letztlich, in nicht allzu ferner Zeit ein vollwertiges Mitglied der europäischen Völkerfamilie zu werden. Aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion gilt auch für diesen Staat die Zusage der
Europäischen Union von Thessaloniki, bei Vorliegen der
Voraussetzungen eine klare Perspektive zum Beitritt zur
EU zu erhalten. Alle Anstrengungen der Kosovaren und
auch der verschiedenen internationalen Missionen in
Kosovo werden diesem Ziel von nun an verpflichtet
sein.
Die Europäische Union ist mit ihrer nun beginnenden
und im Europäischen Rat einstimmig beschlossenen
Rechtsstaatsmission EULEX dazu gut aufgestellt. Zusammen mit KFOR wird sie diesen Prozess auf der Basis
der von Ministerpräsident Hashim Thaçi ausgesprochenen Einladungen und der fortgeltenden UN-Resolution
1244, die im Übrigen auch der Generalsekretär der Vereinten Nationen am Wochenende aufgenommen und bestätigt hat, konstruktiv begleiten. Es ist auch gut, dass
der Verteidigungsminister heute ins Kosovo gereist ist
und dort unsere Soldaten besucht und politische Gespräche führt. Das ist ein richtiger Umgang mit der getroffenen politischen Entscheidung.
({0})
Ich danke auch dem Herrn Außenminister, dass er unser Gewicht bei den Verhandlungslösungen immer wieder mit Umsicht in die Waagschale geworfen hat. Der
Ahtisaari-Prozess und auch das, was Wolfgang Ischinger
geleistet hat - das wurde vom Haus zu Recht mit Beifall
bedacht -, sind immer auch im Zusammenhang mit den
Wirkungsmöglichkeiten und den Anstrengungen von Ihnen, Herr Steinmeier, zu sehen. Deshalb gebührt Ihnen
auch der Dank unserer Fraktion für Ihre Arbeit.
({1})
Ich glaube, dass sich daraus auch schlüssig ableiten
lässt, dass die Europäische Union Kosovo bei den weiteren Reformen und Prozessen des institutionellen Aufbaus und bei der Vermittlung eines besseren Verständnisses der EU-Politiken und EU-Standards unterstützen
wird, um so die Abkopplung von den Entwicklungen in
der Region zu vermeiden. Ich glaube - ich kenne ihn
persönlich -, dass der EU-Sondergesandte Pieter Feith
bei seiner Arbeit wirkliche Unterstützung von allen verdient und dass er mit seiner Person auch eine Voraussetzung dafür bietet, dass erfolgreich für diese Ziele gearbeitet wird.
({2})
Ich bekenne an dieser Stelle, dass ich in dieser Angelegenheit der Kosovaren nicht frei von Emotionen und
Befangenheit bin. Als Parlamentarischer Staatssekretär
beim Bundesminister der Verteidigung habe ich im Jahr
1999 im Auftrag der damaligen Bundesregierung und
der Europäischen Union die humanitäre Hilfe für die kosovarischen Flüchtlinge und Vertriebenen in Mazedonien, im Kosovo und in Albanien koordiniert. Damals
habe ich, wie wohl kein anderer in diesem Hohen Haus,
das Leid der Kosovo-Albaner tagtäglich mit eigenen Augen angesehen. Die Bilder des Unrechts und menschlichen Elends werde ich mein ganzes Leben nicht vergessen.
Bei den damaligen Erlebnissen und vielen Begegnungen mit Opfern der serbischen Gewalt ist mir eines klar
geworden: Nach Jahrzehnten repressiver Unterdrückung
durch Milošević wird keine zukünftige Statuslösung Bestand haben, bei der das Volk der Kosovo-Albaner nicht
völlig selbstständig wird. Keinem Kosovaren war und ist
zu vermitteln, dass der Westen einen mehrmonatigen
Krieg gegen ein gewalttätiges Apartheidregime führte,
um das Kosovo danach wieder unter serbische Oberhoheit zu stellen. Der 16. Oktober 1998 hat sich bei denen
tief eingebrannt, die diese Entscheidung der Intervention
treffen mussten und mit dem internationalen Nothilferecht begründeten. Wer mit der an diesem Tag getroffenen Entscheidung belastet ist, ist auch verpflichtet, die
Kosovaren auf ihrem Weg über die jetzt ausgesprochene
Unabhängigkeit in die Europäische Union zu begleiten.
({3})
Was zu den Wünschen, über Verhandlungen zu einem
anderen Ergebnis zu kommen, gesagt worden ist, unterstreiche ich an dieser Stelle. Ich weiß, dass die zu Verhandlungslösungen ausgestreckten Hände von den Serben und den Russen immer zurückgewiesen wurden;
Herr Trittin, Herr Hoyer und Herr Schockenhoff haben
dazu das Notwendige gesagt. Ich meine auch - um es etwas volkstümlich zu formulieren -: Wann denn, wenn
nicht jetzt die Unabhängigkeit des Kosovo, nicht zuletzt
im Interesse einer dauerhaften Stabilität in der gesamten
Region?
Herr Kollege Trittin, ich will Ihre Rechtsargumentation nicht so aufnehmen, wie Sie es gesagt haben, um
nicht ein Amtsgericht zu diskreditieren. Aber ich stimme
Ihnen völlig zu, dass ein Amtsgericht dafür nicht zuständig ist und man sich einer anderen Herangehensweise
befleißigen sollte. Ich weiß auch, dass uns die Debatte
darüber, wie wir die rechtliche Dimension bewältigen
müssen, weiterhin beschäftigen wird, weil Irritationen
darüber, wie wir uns rechtlich positioniert haben, möglicherweise auch im westlichen Balkan eine Rolle spielen
werden. Wir haben uns mit dem Beschluss, den die Bundesregierung heute gefasst hat, rechtlich einwandfrei
positioniert.
Ich möchte aber auch darauf hinweisen, dass so, wie
sich die Dinge gerade in dem konkreten Fall vor und
nach dem Kosovo-Krieg entwickelt haben, der Rechtsgedanke einer „clausula rebus sic stantibus“ einbezogen
werden kann und meines Erachtens im Hinblick auf die
dortige Rechtsentwicklung auch einbezogen werden
muss. Es ist eben auf dem westlichen Balkan zwischen
dem Kosovo und Serbien eine neue Lage entstanden, die
auch rechtlich neu zu bewerten ist. Aus diesem Rechtsverständnis, aus dieser Argumentation ist eine Causasui-generis-Linie der Anerkennung des Kosovo gerechtfertigt und kein Präzedenzfall abzuleiten, wie es auch die
EU unterstrichen hat.
Meine Damen und Herren, wir müssen insbesondere
die ökonomische Entwicklung des Kosovo im Visier haben. Es ist wichtig, dass auch in der Erklärung des
Staatspräsidenten der Schutz der Minderheit, die Menschenrechte und die partnerschaftliche Standardentwicklung in der Europäischen Union als Voraussetzungen des
Mitwirkens zugesagt und nicht nur als Programm dargestellt worden sind. Ich weiß auch, wie wichtig es ist, dass
wir den Kosovaren unsere Unterstützungsleistung weiterhin geben. Die SPD-Fraktion wird sich dafür einsetzen, dass Deutschland auch weiterhin gewichtige Entwicklungshilfe leistet. Seit 1999 haben wir immerhin
240 Millionen Euro zur Verfügung gestellt; wir werden
dies auch in Zukunft tun.
Die neue Staatsflagge der Republik Kosovo mit ihren
sechs Sternen, die für sechs verschiedene Ethnien stehen, belegt, dass sich Kosovo auf den Weg nach Europa
gemacht hat. Hier finden sich - nicht nur in dieser neuen
Flagge - Zeichen einer vielversprechenden Symbolik.
Es ist zu hoffen, dass diese Symbolik nun auch in der
Lebenswirklichkeit umgesetzt wird und dass wir alle
miteinander - auch die Betroffenen vor Ort einschließlich der Serben - dem westlichen Balkan eine friedliche
Zukunft in Europa geben, zusammen mit der jungen,
nachfolgenden Generation, aber auch mit den Generationen, die in der jüngeren Vergangenheit oder auch jetzt
direkt davon betroffen gewesen sind.
Das Händegeben ist unser aller Auftrag für die Versöhnung in der Gegenwart. Denn sie bedeutet Frieden
für die Zukunft.
({4})
Das Wort erhält nun der Kollege Gunther Krichbaum
für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
frühere baden-württembergische Ministerpräsident
({0})
- Erwin Teufel ({1})
hat einmal formuliert: Politik beginnt beim Betrachten
der Realitäten. Ich denke, das zeigt auch die Ausgangslage, in der wir uns heute befinden.
Ich habe mich gewundert, Herr Kollege Paech, mit
welcher eindimensionalen Geschichtsvergessenheit Sie
in Ihrem Beitrag an die Probleme herangegangen sind.
({2})
Es ist nahezu 20 Jahre her, dass der damalige Wortführer
der serbischen Kosovaren, der Serbe Milošević, am
600. Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld feststellte, es werde künftige Schlachten geben. Er hat das
Blutvergießen gewissermaßen angekündigt. Auf diese
Ankündigung hin fanden Pogrome, verbunden mit
Flucht, Elend, Vertreibung und vielen Tausenden von
Toten, statt. Das hat dann die NATO zum Handeln bewegt, sodass - aber erst am 24. März 1999 - diesem
Blutvergießen Einhalt geboten wurde.
Auch danach hat es weiterhin massenhafte Vertreibungen gegeben. Wie Sie wissen, setzte erst nach den
gescheiterten Verhandlungen von Rambouillet im Juni
1999 der Abzug der Serben ein. Ich denke, diese Vorgeschichte muss immer wieder - auch bei der Beurteilung
der heute zur Diskussion stehenden Fragen - in Erinnerung gerufen werden.
Ohne das Eingreifen der USA hätte es noch mehr
Blutvergießen und Tote gegeben, und es wäre kein Ende
absehbar gewesen. Deswegen muss man heute feststellen, dass das Kosovo aus serbischer Sicht nicht im Jahr
2008, sondern 1999 verloren wurde. Das scheinen Sie
vergessen zu haben. Es ist ohne Frage eine fast bittere
Ironie, dass das heute ausgerechnet den demokratischen
Kräften in Serbien vor die Füße fällt und sie sozusagen
die Suppe auslöffeln müssen.
Ich sehe dennoch den Prozess in mancherlei Hinsicht
kritisch; das möchte ich nicht verschweigen. Denn wir
verselbstständigen auch Strukturen, mit denen ein Staat
auf lange Zeit nicht überlebensfähig ist. Wir haben kein
Interesse an einer weiteren Fragmentisierung der Landkarte. Im Kosovo liegt die Arbeitslosigkeit bei über
40 Prozent. Es gibt dort keine die Wirtschaft tragenden
Strukturen; es gibt nur rudimentäre Verwaltungsstrukturen und ein hohes Maß an organisierter Kriminalität.
All das zeigt, dass die Europäische Union über Jahre
hinweg in der Pflicht sein wird, wenn wir im Kosovo die
Dinge verändern wollen. Auch an einem Tag wie heute
darf es, glaube ich, nicht unerwähnt bleiben, dass durch
die frühzeitige Ankündigung der Selbstständigkeit des
Kosovo, durch die damalige Clinton-Regierung, die
Spielräume für die nachfolgenden Verhandlungen nicht
gerade erweitert worden sind.
Aber es gilt, wie gesagt, den Blick nach vorne zu richten. Was können und müssen wir seitens der Europäischen Union tun? Lassen Sie mich kurz darauf zu sprechen kommen, wo wir im Kosovo ansetzen können. Wir
können zunächst beim Aufbau von Sicherheitsstrukturen
beginnen. Nur Menschen, die in Sicherheit leben können, gewinnen für sich Perspektiven. Das beschränke ich
keineswegs auf die Kosovo-Albaner, sondern beziehe es
erst recht auch auf die serbischen Minderheiten, die jetzt
unseren besonderen Schutz verdienen.
Wir müssen die Verwaltungsstrukturen aufbauen und
damit die organisierte Kriminalität bekämpfen. Wir müssen für den Aufbau funktionsfähiger und tragfähiger
wirtschaftlicher Strukturen sorgen; denn nur das wird
wiederum dafür sorgen, dass die Menschen von ihrer
Arbeit leben können und dass missliebige Erscheinungen wie Kriminalität und Korruption bekämpft werden
können.
Last, but not least: Wir müssen in dieser Region wesentlich mehr für den Aufbau funktionierender Schulen
und Universitäten tun. Das sind die Investitionen für
morgen. Im Kleinen können wir, der Deutsche Bundestag, dazu beitragen. Herr Präsident, ich denke dabei an
unser Internationales Parlamentsstipendiumprogramm.
Ich würde mich freuen, wenn wir das alsbald auf den
Kosovo ausdehnten.
All die genannten Maßnahmen dienen letztendlich
dazu, dass die Kosovo-Mission zu einer Kosovo-Vision
werden kann und dass die Region langfristig an Stabilität
gewinnt.
Was erwarten wir von Serbien bzw. was können wir
für Serbien tun? Es wurde bereits zu Recht die alsbaldige
Unterzeichnung des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens erwähnt. Dieses Abkommen bedeutet, dass
wir Serbien in den Vorhof der Europäischen Union führen. Ich appelliere: Wir sollten mutige Visionen haben.
Warum sollte es nicht möglich sein, dass Serbien im
Jahre 2014, exakt 100 Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, Mitglied der Europäischen Union wird?
Es ist eine mutige Vision, ohne jeden Zweifel. Wenn
aber alle Beteiligten zusammenwirken und wenn insbesondere Serbien seine Hausaufgaben macht, kann sich
hier einiges bewegen.
Stichwort Visaerleichterungen: Es ist geradezu ein
Witz, dass wir zu Zeiten des Ost-West-Konflikts, zu Zeiten der historischen Teilung Europas den Bürgern des
damaligen Jugoslawiens Reisefreiheit gewährten, während wir es heute nicht mehr tun. Das passt nicht zu einem Europa, in dem der Ost-West-Konflikt nicht mehr
gelten soll.
({3})
Stichwort Zivilgesellschaften: Wir haben gerade einmal drei Städtepartnerschaften zwischen Orten der Bundesrepublik Deutschland und Serbiens. Drei! Das ist viel
zu wenig. Auch hier kann sehr viel mehr passieren. Europa ist immer nur so gut wie die Begegnungen zwischen
den Menschen.
Von Serbien erwarten wir ganz klar, dass Übergriffe
wie gestern Nacht auf die Grenzstationen nicht gutgeheißen werden, wie es Einzelne getan haben. Ich erwarte
von den Verantwortungsträgern in Serbien mehr Verantwortung gerade im Hinblick auf die junge Generation.
Das sind alle politisch Verantwortlichen in Serbien der
jungen Generation schuldig; denn diese junge Generation hat bei der letzten Präsidentenwahl dafür gesorgt,
dass der europafreundliche Präsident Tadić eine Mehrheit bekam. Einen Rückzug der serbischen Botschafter
aus den Ländern, die das Kosovo anerkannt haben, betrachte ich deshalb als eine vorübergehende Erscheinung.
Ich wünsche mir - genauso wie alle anderen - mehr
Normalität, und das sehr bald; denn nur mit einem integrierten Serbien und einem selbstständigen Kosovo mit
europäischen Anbindungsperspektiven gewinnen wir
mehr Stabilität in dieser Region.
Vielen Dank.
({4})
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Monika Knoche das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen! Für die
Fraktion Die Linke sage ich hier klipp und klar: Was mit
einem völkerrechtswidrigen Krieg begann, soll mit einer
völkerrechtswidrigen Anerkennung fortgesetzt werden.
Das werden wir nicht akzeptieren.
({0})
Herr Trittin, ich war damals Mitglied der Fraktion der
Grünen, als die Herren Fischer und Schröder bei Herrn
Bill Clinton zum Rapport gebeten wurden und klar war:
Diese Regierung wird Krieg führen; die Verhandlungen
in Rambouillet werden so geführt, dass als Ergebnis
nichts anderes herauskommt, als den Vorratsbeschluss
des alten Bundestages umzusetzen und einen Angriffskrieg gegen Jugoslawien zu führen, der völkerrechtswidrig ist. Ich erinnere mich noch sehr gut.
({1})
Kommen Sie mir also nicht mit der Verantwortung der
Linken! Sie haben Ihre Verantwortung damals nicht
wahrgenommen.
({2})
Es ist nicht richtig, der Linken zu unterstellen, sie erkenne nicht an und bedauere nicht, welche Verbrechen
an den Menschen im serbischen und im kosovarischen
Namen begangen wurden.
({3})
Jetzt gibt es also ein Kosovo, das schon 1999 versprochen wurde. Aber was ist Kosovo für ein Staat? Es ist
gar kein eigener Staat, es ist ein Protektorat, so wie Bosnien-Herzegowina eines ist, das keine eigene Staatsgewalt ausübt. Nein, Herr Premier Thaçi wird es nicht vermögen, seine Bevölkerung von der Tatsache abzulenken,
dass es die EU, die EULEX ist, die alles bestimmen und
Gesetze erlassen kann. Verwaltung, Polizei und Gerichtsbarkeit, alles, was Staatsgewalt ausmacht, wird
nicht durch das Kosovo bestimmt werden. Wenn die Bevölkerung das einmal merkt, dann wird sich der bisherige Nationalismus als nicht befriedigend erweisen.
Aber Serbien und Serben werden eines nicht fühlen:
Sicherheit. Vielleicht wird es nationalistisch motivierte
Anschläge geben. Eines ist gewiss: In Europa wird es
wieder eine geteilte Stadt geben, nämlich die Stadt Mitrovica. Das ist ein Ergebnis dieser Unabhängigkeitserklärung. Ich kann aus europapolitischen Gründen schon
gar nicht akzeptieren,
({4})
auch aus menschenrechtlichen Gründen nicht, was den
Menschen und Familien angetan wird, die jetzt getrennt
sind. Auch dazu möchte ich von Ihnen einmal etwas hören.
({5})
Wir wissen: Obwohl Serbien aufs Schärfste verurteilt,
was dort geschehen ist, wird es keine Gewalt anwenden.
Das ist erklärt worden. Wir wissen aber genauso gut:
Serbien wird alles unternehmen - es wird nicht nur vor
den Internationalen Gerichtshof ziehen -, um die Lebensumstände der Menschen, die in diesem neuen Gebilde leben, so stark wie nur irgend möglich zu erschweren. Die Hoffnungen auf wirtschaftliche Prosperität, die
die Menschen dort haben, werden sich nicht erfüllen
können. Es werden ihnen die Augen aufgehen, was ihnen diese Unabhängigkeit gebracht hat. Wahrscheinlich
gar nichts, was die Verbesserung ihrer Lebenssituation
betrifft. Wenn hier noch nicht einmal der Zweck die Mittel rechtfertigt, wie wollen Sie dann die Entscheidung
zur Anerkennung überhaupt noch mit Ihren eigenen Kategorien rechtfertigen?
({6})
Es gibt keine Begründung, die Sie für den einseitigen
Schritt der Unabhängigkeit anführen können. Wir Linke
haben immer klar darauf hingewiesen, dass das Völkerrecht keine Möglichkeit bietet, eine einseitige Sezession
für rechtens zu erklären.
({7})
Wir stellen noch einmal fest: Die kriegsbeendende
UN-Resolution 1244 hat das Kosovo als autonome Provinz Serbiens ausgewiesen. Alle Kraft hätte darauf verwendet werden müssen, eine weitestgehende Autonomie
zu ermöglichen und zu einer friedlichen Übereinkunft zu
kommen, die grassierende Korruption, Kriminalität und
Arbeitslosigkeit zu beenden und dem Kosovo innerhalb
Serbiens eine EU-Perspektive zu geben.
({8})
Das ist die Alternative, und diese Alternative haben Sie
ausgeschlagen.
Sie haben sie ausgeschlagen - geben Sie es doch ehrlich zu -, weil bei der Entscheidung über den künftigen
Status des Kosovo die USA handlungsleitend waren.
({9})
Wir erinnern uns doch sehr gut, dass der deutscher Botschafter Ischinger letztlich auf die Position einschwenken musste, die die US-Amerikaner haben.
({10})
- Umso schlimmer ist es, wenn das die eigene deutsche
ist. - Was wollen die US-Amerikaner? Sie wollen mit
dem Kosovo einen neuen NATO-Staat haben.
({11})
Es gibt ein strategisches Interesse, das zu realisieren.
Das ist den Preis aber nicht wert.
({12})
- Ich bitte Sie. Sie sollten sich in Erinnerung rufen, wie
freundschaftlich Sie mit dem ehemaligen UÇK-Führer
umgehen, der heute Premierminister ist, mit Herrn
Thaçi.
({13})
- Ich bitte Sie sehr, bleiben Sie korrekt! Erkennen Sie
an, dass Verbrecher auf beiden Seiten existieren und dass
man nicht mit Sympathie und Antipathie kommen kann.
Wir müssen eine eminent wichtige, europapolitische
Frage klären. Was jetzt im Kosovo geschehen ist, hat mit
einem multiethnischen Europa, das Sie im EU-Reformvertrag beschwören, nichts zu tun. Spanien, Griechenland, Zypern, Bulgarien, Rumänien, alle diese Länder
sind OSZE-Mitgliedstaaten, alle sind EU-Staaten, und
alle diese Staaten sagen, dass sie das Kosovo nicht anerkennen werden, weil sie Probleme mit den eigenen nationalen Minderheiten bekommen werden.
Kollegin Knoche, kommen Sie bitte zum Schluss.
Das kann doch keine europapolitische Perspektive
sein, die Sie dem Kosovo eröffnen wollen. Sie haben
dem Prozess der europäischen Integration viel mehr geschadet als genutzt. Probleme haben Sie keine gelöst.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Marieluise Beck für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es verschlägt mir fast die Sprache, Frau Knoche,
({0})
dass Sie seit 1992, seit dem Überfall der jugoslawischen
Armee auf die kroatische Stadt Vukovar, dem keine Aggression von kroatischer Seite vorausgegangen war, anscheinend blind durch die Welt gegangen sind und nicht
gesehen haben, wie sich in diesem zerfallenden Jugoslawien ein Verbrechen nach dem anderen abgespielt hat.
({1})
Europa war demgegenüber hilflos. Die UNO hatte keine
völkerrechtlichen Mittel zur Verfügung, um wirklich adäquat zu reagieren.
Was passierte denn in Bosnien? Mit einem friedensbewahrenden Mandat wurden Blauhelme in dieses Land
geschickt, in dem kein Frieden mehr zu bewahren war,
in dem die Paramilitärs, die Arkan-Truppen unter Beihilfe der „jugoserbischen“ Armee innerhalb von wenigen Wochen einen Feldzug durch Bosnien-Herzegowina
mit unendlich vielen Toten geführt haben. Bevor Europa
verstanden hat, was dort passiert war, kam es zu den
Massakern in Srebrenica und in vielen anderen Orten,
zum Beispiel in Prijedor, in Bijeljina. Wir konnten wissen: Überall dort, wo es den Tschetniks gelungen war, in
die Dörfer und Städte einzudringen, hat es Mord, Totschlag und Vergewaltigung gegeben. Die friedensbewahrenden UN-Soldaten schauten zu, statt einzugreifen, wie
es, wie ich meine, ihre völkerrechtliche Verpflichtung
gewesen wäre.
({2})
Das Völkerrecht der Vereinten Nationen, niedergelegt
in der Charta der Vereinten Nationen, die auf dem Hintergrund des deutschen Faschismus und der verheerenden Verbrechen, die in seinem Namen begangen worden
sind, verabschiedet worden ist, hat zur Aufgabe, Genozid zu verhindern. Was passiert denn, wenn der Sicherheitsrat dieser Aufgabe nicht nachkommt, sich dieser
Aufgabe also völkerrechtswidrig verwehrt? Was soll die
Staatengemeinschaft denn da machen? Soll sie wegschauen? Genau das war die Situation, in der die Intervention im Kosovo stattfand, die - jawohl! - eine prekäre völkerrechtswidrige Grundlage hatte. Man hat aus
Srebenica Lehren gezogen, man hat überlegt und nachgedacht: Wollen wir jetzt so lange zuschauen, bis es im
Kosovo ein zweites Srebenica gibt? Gibt es erst dann das
Recht zur Intervention, oder besteht nicht vielmehr die
Pflicht zur Intervention? Besteht nicht die Pflicht, ein
zweites Srebenica zu verhindern? Über diese völkerrechtlichen Fragen haben wir zu reden.
({3})
Frau Knoche, so einfach, wie Sie sich das hier machen,
geht es nicht.
Wir haben es jetzt mit einer schwierigen Situation zu
tun. Niemand bejubelt es, dass wir hier letztlich einen
Schritt tun, der eine Realität, die nicht mehr zurückzudrehen ist, gestalten muss. Da kann man sich nicht wegducken und sagen: Damit wollen wir jetzt nichts zu tun
haben, wir machen die Augen zu. Dann hat man vielmehr die Verantwortung, das, was durch geschichtliches
Wirken, durch viele Verbrechen, durch viele Morde und
viel Niedertracht, denen EU und Vereinte Nationen hilflos zugeschaut haben, entstanden ist, zu gestalten und, so
gut wir es können, in Bahnen zu lenken, die es ermöglichen, dass die Menschen wieder leben können.
Dazu gehört auch, dass wir den Menschen in Serbien
die Türen aufmachen. Damit meine ich nicht die Nationalisten, die heute noch „heizen“. Gerade erst haben wir
die Nachricht bekommen, dass die aufrechten Demokraten dort sagen: Wir, Serbien, müssen auch in die
Milošević-Zeit schauen und die historische Verantwortung, die da entstanden ist, annehmen und aufarbeiten.
Diese Menschen werden derzeit mit Morddrohungen belegt. Ihre Fenster werden mit Steinen eingeworfen. Die
Nationalisten in Serbien sind nicht unsere Partner.
({4})
Unsere Partner und Partnerinnen sind die Bürgerinnen
und Bürger, die diese Zeit überwinden wollen, die auch
Freiheit und Demokratie wollen, die zu einem westlichen demokratischen Europa gehören wollen. Ihnen
sollten wir die Tür öffnen. Die heutige Entscheidung ist
dafür eine der Voraussetzungen.
Kollegin Beck, lassen Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Knoche zu?
Es geht nicht darum: das Kosovo gegen Serbien. Vielmehr sollte die Europäische Union, die hoffentlich aus
dem gelernt hat, was die 90er-Jahre des vergangenen
Jahrhunderts in fürchterlicher Weise gekennzeichnet hat,
ihre Tür sowohl für das Kosovo als auch für Serbien öffnen.
({0})
Bitte, Frau Knoche.
Das war sehr geschickt für die Verlängerung der Redezeit.
({0})
- Die Frage hatte ich vorher schon gestellt.
Wenn ich auch erkennen muss, Frau Kollegin Beck,
dass Sie sich in Ihrer Rede sehr stark auf die Vergangenheit von 1999 beziehen
({0})
und nicht auf die jetzt zu regelnde Frage eingehen, die ja
eine völkerrechtsrelevante ist, möchte ich Sie fragen:
Können Sie dem Argument etwas abgewinnen, dass aufgrund des völkerrechtswidrigen Vorgehens - Sie wissen
selber, auf welch tönernen Füßen die rechtliche Regierungsargumentation steht; wir haben das Recht auf territoriale Integrität bei der OSZE, beim Völkerrecht usw. -,
({1})
aufgrund dessen, was den Kosovo-Albanern auf ihr Begehren hin von westlicher Seite seit Jahren versprochen
worden ist, auf beiden Seiten Nationalismen aufgewachsen sind, die sich heute gefährlich entladen können, und
dass die demokratischen Kräfte, die es in Serbien gibt
und die ich sehr schätze,
({2})
geschwächt werden, indem man einseitig dem Nationalismus das Prä gibt? Teilen Sie die Auffassung, dass Extremismus wächst, wenn man sich außerhalb des Völkerrechts zu solchen Entscheidungen zusammenfindet?
({3})
Extremismus wächst in der Tat, wenn Recht nicht beachtet wird.
({0})
Nur, es gibt nicht immer ganz klare völkerrechtliche
Auflösungen. Das ist das Dilemma, mit dem wir zu tun
haben. Das Vermächtnis von Kofi Annan ist: Entwickelt
das Völkerrecht endlich weiter!
({1})
Nehmen Sie folgendes Beispiel: Die Sozialistische
Republik Vietnam ist im Jahr 1978 über die Grenze nach
Kambodscha gegangen
({2})
und hat dort dem Mordregime Pol Pots, das innerhalb
weniger Jahre 1,8 Millionen Menschen umgebracht
hatte, ein Ende bereitet. Es gab keine klare völkerrechtliche Grundlage für die Entscheidung, die die Sozialistische Republik Vietnam in jenem Jahr gefällt hat. Trotzdem würde ich sagen: Sie war richtig; denn sie hat
Verbrechen beendet.
({3})
Wir haben als Vorgabe der UNO zwei Grundsätze.
Wir haben einmal den Grundsatz, dass es eine Integrität
der Grenzen geben soll.
({4})
Wir haben aber auch den Grundsatz, dass Genozid zu
verhindern ist. Das Verhältnis dieser beiden Grundsätze
ist im Völkerrecht bisher nicht eindeutig geklärt.
({5})
Was Kofi Annan uns als Vermächtnis gegeben hat,
nämlich: Responsibility to protect, ist die Aufgabe, Völkerrecht so weiterzuentwickeln,
({6})
dass wir zukünftig eine sicherere und festere Grundlage
haben, auf der wir uns bei solchen Konflikten bewegen
können.
Schönen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Gert Weisskirchen für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ivo Andrić hat in seinem Buch „Die Brücke über die
Drina“ lakonisch knapp daran erinnert, was das Problem
Serbiens und der gesamten Region ist. Die aneinandergeketteten Schicksale der Völker des Balkans leiden daran, so heißt es: Von West nach Ost ist in jedem Punkte
Teilung.
Das ist das, was die Menschen in dieser Region miteinander verbindet - an Leid, an Angst, an Schrecken
und an geschichtlicher Last, unter der sie manchmal fast
zusammenbrechen.
Heute, jetzt gerade erleben wir die schwere Geburt
des schwierigsten staatlichen Gebildes der jüngsten europäischen Geschichte. Immer schon war Kosova, das
Amselfeld, historischer Kampfplatz für Identitätspolitik.
Zu selten vereinigten sich unterschiedliche politische
Ansprüche auf gemeinsame Ziele. Häufig richteten sie
sich gegeneinander. Und das Schlimmste: Gewalt explodierte viel zu oft.
Verheerend waren die Folgen ebenjener Gewaltausbrüche. Zuletzt zwang - liebe Kollegin Knoche, das dürfen Sie nicht vergessen - Milošević den Kosovo-Albanern seine nationalistische Diktatur auf. Wir erinnern
uns doch alle noch an Ibrahim Rugova, diesen freundlichen, offenen, liberalen Kosovaren, der mit seiner inne15204
Gert Weisskirchen ({0})
ren Leidenschaft zum Pazifismus versucht hat, friedlich
zu helfen, damit das Kosovo anders leben kann, als es
unter der Diktatur hat leben müssen. In einem Schattenreich, wie es der Kollege Trittin richtig gesagt hat, in einem inneren Exil mussten die Kosovo-Albaner leben.
Sie waren gewaltsam unterdrückt.
Man darf auch die furchtbare Zeit der ethnischen Vertreibung nicht vergessen, wenn hier über das Kosovo geredet wird, Frau Knoche.
({1})
- Nun reden Sie das nicht ab. Warum sagen Sie hier
dann nicht, dass Milošević genau an diesem Punkt die
Zukunft des Kosovo innerhalb Serbiens verspielt hat? Er
war es, der durch den Einsatz dieser ungeheuren Gewalt
gegenüber den Kosovaren genau die Chance verspielt
hat, die bei einem anderen Zusammenschluss Serbiens
und des Kosovo hätte möglich werden können. Er hat es
verspielt!
({2})
Wissen Sie, was meine wirkliche Sorge ist? Wir werden es morgen auf den Straßen Belgrads sehen. Meine
wirkliche Sorge gilt denjenigen, die daraus einen
Schluss gezogen haben, den serbischen Demokraten, die
den Schluss gezogen haben, ihn loszuwerden, sich
durchzukämpfen gegen Milošević. Wo waren Sie denn
da? Ich erinnere mich gut: Gregor Gysi hat bis zuletzt
versucht, mit Herrn Milošević zu reden.
({3})
Haben Sie das vielleicht vergessen? Ich habe es nicht
vergessen.
({4})
Ich möchte noch hinzufügen, dass zu jenem Zeitpunkt
- auch das gehört zur historischen Wahrheit - die USA
versucht haben, Zoran Djindjic, der nachher der Wichtigste war, an die Seite zu drücken und auf Vuk
Drašković zu setzen.
Herr Weisskirchen, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Gehrcke?
Bitte schön.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin, und auch herzlichen Dank dafür, dass ich die Zwischenfrage stellen
kann.
Mir liegt sehr viel an historischer Wahrheit.
({0})
- Man muss das ertragen können. Das sollten Sie zumindest unterstellen, und davon sollten Sie ausgehen.
({1})
- Das sind unglaublich dumme Zwischenrufe. Angesichts dieser ernsthaften Debatte vom Wiederaufbau der
Mauer zu reden, sollte sich angesichts der Würde dieses
Hauses von selbst verbieten. Das sage ich Ihnen in aller
Ernsthaftigkeit.
({2})
Ich sage Ihnen auch in aller Ernsthaftigkeit: Ich
glaube, dass an Ihrer Feststellung, dass Milošević die
Zukunft Serbiens einschließlich des Kosovo verspielt
hat, sehr viel dran ist. Ich sage Ihnen aber genauso ernsthaft, dass der Versuch von Gregor Gysi, in letzter Minute
Milošević klarzumachen: „Wer die UNO nicht will, wird
die NATO erhalten, wird einen Krieg erhalten“, leider
gescheitert ist. Wäre er erfolgreich gewesen, wäre sehr
viel Leid erspart geblieben.
({3}))
Ich finde, darüber kann man in historischer Ernsthaftigkeit miteinander reden.
Jetzt habe ich ganz vergessen, was ich fragen will. Es
ist das Übliche: Können Sie das verstehen?
Lieber Kollege Gehrcke, manche von uns sind ja in
dieser Debatte befangen. Walter Kolbow hat eben darauf
hingewiesen; ich darf das für mich selber auch sagen.
Ich habe mit Zoran Djindjic noch wenige Tage vor
seinem Tod gesprochen. Ich habe sehr genau in Erinnerung, was ihn bewegt hat. Ihn hat die Frage bewegt, wie
das demokratische Serbien es schafft, diese Schranke
des Nationalismus zu durchbrechen, für die Milošević
stand.
({0})
Das war zwar eigentlich eine Maskerade. Milošević
war nämlich vorher Kommunist, und als er meinte, es
Gert Weisskirchen ({1})
gehe nicht mehr anders, hat er eine Maske aufgesetzt,
nämlich die Maske des Nationalisten.
({2})
Mit solchen Leuten ernsthaft zu verhandeln - verdammt
noch mal -, auf diese Idee kann niemand kommen, der
wirklich versuchen will, Demokratie in diesem Lande
durchzusetzen. Wie man so etwas tun kann, kann ich
überhaupt nicht verstehen.
({3})
Nein, Zoran Djindjic hat ganz deutlich gesagt, worum
es geht. Es ist die europäische Bestimmung Serbiens,
Demokratie von unten aufzubauen und dieses Land mit
seiner unendlich schweren Last der Geschichte in die
Europäische Union zu führen. Er wusste sehr genau
- das hat er auch in diesem Gespräch gesagt -, wer den
Preis dafür zu bezahlen hat. - Zehn Tage später wurde er
erschossen.
Das, was in Serbien nun geschieht - das lege ich uns
allen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ans Herz; es
wurde in dieser Debatte ja schon häufig angesprochen -,
muss uns ganz ernst sein. Wir müssen all unsere Kräfte
zusammenlegen. So möchte ich gerne das aufnehmen,
was der Kollege Krichbaum gesagt hat: Wir müssen jetzt
gemeinsam schauen, wie es uns gelingen kann, dass Serbien ebenfalls einen Weg in die Europäische Union findet.
Zeiten wie diese können als Zeitbeschleuniger genutzt werden. Richten wir einmal einen Blick in die gemeinsame Zukunft. Wenn wir uns nun darum bemühen,
die Architektur der Europäischen Union zugunsten dieser schwierigen Region Südosteuropa zu vollenden,
dann ziehen wir aus den Ereignissen den richtigen
Schluss. Ansonsten kämen vielleicht andere Zeitbeschleuniger zum Zuge, nämlich diejenigen, die zurück in
die nationalistische Vergangenheit gehen wollen. Dieser
Weg führt aber in die Isolation. Wir wollen, dass Serbien
in Zukunft gemeinsam mit uns europäische Verantwortung wahrnimmt. Wenn wir aus dieser Debatte diesen
Schluss ziehen, dann wäre das, wie ich finde, genau der
richtige.
({4})
Nachdem ich vorhin schon Zoran Djindjic erwähnt
habe, möchte ich auch gerne noch diejenigen, die morgen in Belgrad Reden vor vielleicht Zehntausenden von
Menschen halten, daran erinnern, was er vielleicht in
dieser Situation sagen würde, wenn er denn auf dieser
Demonstration sprechen könnte. So darf ich zitieren,
was er in einer großen Rede in Zürich im Oktober 2002,
also wenige Monate vor seinem Tod, ganz deutlich
sagte:
Was soll eine große mobilisierende Idee sein, die
stark genug ist, das Positive im Menschen zu bewegen? Man kann Menschen nicht bewegen mit ein
bisschen Entwicklungshilfe. Das ist zu wenig. Die
Menschen brauchen auch einen Sinn im Leben, und
zwar nicht nur im einzelnen, sondern auch im kollektiven Leben. Und die europäische Integration
kann diese Rolle spielen, wenn sie als eine große
Vision entwickelt wird und nicht in einem bürokratischen Konzept erstickt.
Am Ende seiner Rede sagte er:
Ohne Europa zu vervollständigen,
- er meinte damit Südosteuropa wird Europa nicht stabil und kann die Rolle in der
Weltgeschichte nicht spielen, die es spielen soll. Es
herrscht ein Defizit an europäischer Identität in Europa selbst. Man muss in Europa wissen, warum ein
europäisches Modell besser ist als alle anderen Modelle - wir brauchen eine europäische Seele.
So Zoran Djindjic.
Wie kann man mit Blick auf die gegenwärtige Situation klarer formulieren, worum es jetzt ganz eindeutig
geht? Albaner und Serben werden dereinst einen gleichen Platz haben in der Europäischen Union, zunächst
nebeneinander, später miteinander. So viel Mut wir jetzt
aufbringen, der Europäischen Union mit Belgrad und
Mitrovica eine neue Gestalt zu geben, so viel Frieden
können wir in Europa gewinnen. Hier in der Europäischen Union ist der Ort, an dem der Frieden fest wird;
dort in der nationalistischen Isolation endet jede menschliche Zukunft.
Ich hoffe, dass der heutige Beschluss der Bundesregierung mithilft, dass Serbien erkennt: Gemeinsam haben wir jetzt die Chance, den Weg in die Europäische
Union zu gehen. Ich wünschte mir, dass wir alle das erkennen und mithelfen, dass Serbien diese Chance hat wie alle anderen in Europa auch.
Danke schön.
({5})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Thomas
Silberhorn das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gerade
die ausgewogenen Beiträge in dieser Debatte haben gezeigt: Wir haben keine optimale Lösung für das Kosovo,
und es gibt sie auch nicht. Wir haben auch keine endgültige Lösung aller Fragen; aber es musste jetzt entschieden werden.
Deshalb möchte ich in Erinnerung rufen, dass alle
Möglichkeiten einer einvernehmlichen Verhandlungslösung im Hinblick auf den Status des Kosovo ausgeschöpft worden sind, unter maßgeblicher deutscher Beteiligung in der Troika, die leider ergebnislos geendet ist.
Auch wenn nun Staaten wie Russland und andere versuchen, eine Statuslösung zu blockieren, wird das nicht
weiterführen. Ich darf daran erinnern, dass erst kürzlich,
am 6. Januar, UN-Generalsekretär Ban Ki-moon geäußert hat, der Status quo im Kosovo könne jedenfalls
nicht aufrechterhalten werden; eine weitere Verzögerung
der Statusfrage würde noch zusätzlich Konfliktpotenzial
schüren. Deswegen ist die Unabhängigkeit des Kosovo
jetzt die vernünftigste und politisch wohl einzig tragfähige Lösung, meine Damen und Herren.
Die Unabhängigkeit ist - darauf muss mit aller Deutlichkeit hingewiesen werden - eine direkte Folge der
schweren Menschenrechtsverletzungen, der Massenvertreibungen von Albanern aus dem Kosovo durch Serbien
unter Milošević.
({0})
Diese schweren Menschenrechtsverletzungen begründen, dass wir im Kosovo einen Sonderfall haben. Dass
diese schweren Menschenrechtsverletzungen gegenwärtig nicht mehr vorkommen, weil zwischenzeitlich eine
Verhandlungslösung angestrebt worden ist, die im Ergebnis leider erfolglos geblieben ist, unterbricht nicht
den direkten Zusammenhang, dass diese der Grund dafür
waren, dass eine andere Lösung nicht möglich war und
im Ergebnis das Kosovo einseitig seine Unabhängigkeit
erklärt hat.
Diese Unabhängigkeitserklärung schreibt einen Zustand fest, der bereits politische Realität ist, nämlich dass
Serbien seit der Errichtung eines internationalen Protektorats unter UN-Verwaltung durch die Resolution 1244
keinen direkten Einfluss mehr auf das Kosovo ausübt.
Meine Damen und Herren, die Verhandlungen der
Troika mögen im Blick auf das Verhandlungsziel zwar
erfolglos gewesen sein; aber sie sind nicht ohne Ergebnis
geblieben. Ergebnis dieser Verhandlungen ist immerhin,
dass beide Seiten ausdrücklich einen Gewaltverzicht erklärt haben, und Ergebnis dieser Verhandlungen ist wohl
auch, dass sie innerhalb der Europäischen Union den
Boden dafür bereitet haben, eine gemeinsame Grundlage
für die nationalen Entscheidungen über die Anerkennung eines unabhängigen Kosovo zu finden. Deswegen,
meine ich, wird dadurch jetzt auch eine Basis gelegt, um
den Balkan dauerhaft stabilisieren zu können. Das jedenfalls muss unser gemeinsames übergeordnetes Ziel sein.
Die Unabhängigkeit des Kosovo ist dazu nur ein erster Schritt. Es liegt jetzt vor allem am Kosovo selbst, zu
zeigen, dass es zum Aufbau stabiler staatlicher Strukturen in der Lage ist, bei Verwaltung und Justiz, bei der
Beachtung von Minderheitsrechten und bei der Ausübung polizeilicher Hoheitsgewalt im gesamten Staatsgebiet. Das muss im Ergebnis erreicht werden.
Die Europäische Union leistet dazu vielfältige Unterstützung gemeinsam mit anderen Staaten: mit der Entsendung der Polizei- und Rechtsstaatsmission, die im
Einvernehmen mit allen EU-Mitgliedstaaten beschlossen
worden ist, mit der Ernennung eines Sonderbeauftragten,
mit der Errichtung der internationalen Verwaltungsbehörde sowie mit finanzieller und wirtschaftlicher Unterstützung. Kurzum: Die Leistungen der Europäischen
Union zeigen, dass wir die Stabilisierung des Balkans als
unsere eigene Aufgabe begreifen. Denn wenn sie nicht
gelingen sollte, werden auch wir diejenigen sein, die die
Folgen zu spüren haben werden.
({1})
Ich begrüße es, dass wir neben der Europäischen
Union eine breite internationale Präsenz im Kosovo haben werden: die NATO, die OSZE, die Weltbank, der
Europarat und andere. Insbesondere der KFOR-Mission
der NATO wird in den nächsten Monaten die wichtige
Aufgabe zukommen, einen friedlichen Übergang zu einer kosovarischen Verwaltung sicherzustellen. Es ist
mehr als eine Fußnote, dass beispielsweise Spanien, das
eine Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo ablehnt, ausdrücklich seine Bereitschaft erklärt hat, an der
KFOR-Mission weiter mitzuwirken.
Es kommen nun gewaltige Herausforderungen auf
das Kosovo zu. Es darf nicht dauerhaft am Tropf der
Europäischen Union hängen, sondern - das ist die Zielvorstellung - muss mit unserer Unterstützung in die
Lage versetzt werden, Staatsgewalt auf dem eigenen Territorium effektiv ausüben zu können. Das Kosovo muss
den Anspruch haben, selbstständig lebensfähig zu werden. Dazu bedarf es gewaltiger Anstrengungen. Ich
glaube, dass es wichtig ist, das jetzt exakt zu formulieren. Wer nämlich in der Erwartung, dass großalbanische
Träume irgendwann diskutiert werden könnten, Anstrengungen hintanstellt, dem muss man sagen, dass solche
Träume die jetzt erklärte Unabhängigkeit infrage stellen
würden. Dorthin kann kein Weg führen. Das muss deutlich gesagt werden.
Eine der ersten Aufgaben für das Kosovo wird es
sein, eine Verfassung zu entwerfen. Ich hoffe und rege
an, dass insbesondere der Schutz der Minderheiten darin
ausdrücklich Berücksichtigung findet. Das Kosovo muss
nach internationalen Standards die eigenen Minderheiten
schützen sowie das kulturelle und christliche Erbe des
Landes bewahren.
Ich denke, wir sind uns darin einig, dass das Kosovo
- wie der gesamte westliche Balkan - eine europäische
Perspektive braucht. Das gilt auch für Serbien, auch
wenn in den nächsten Wochen diplomatische Spannungen wohl unvermeidlich sein werden. Ich rufe die politisch Verantwortlichen gerade in Serbien und insbesondere die junge Generation auf, die Annäherung an die
Europäische Union nicht aus dem Auge zu verlieren.
Wir haben bislang weitgehend besonnene Reaktionen
aus Serbien verzeichnen können, die zumindest hoffen
lassen, dass es eine tragfähige Kooperation zwischen
Serbien und der EU geben kann.
Allerdings muss deutlich gesagt werden, dass die gewaltsamen Aktionen, die jetzt an Zollposten an der
Grenze zum Kosovo stattgefunden haben, nicht hinnehmbar sind. Wenn der für das Kosovo zuständige serbische Minister erklärt, dass diese Aktionen im Einklang
mit der allgemeinen Regierungspolitik Serbiens stünden,
dann muss man ihn sehr deutlich an den ausdrücklich erklärten Gewaltverzicht der serbischen Regierung erinnern.
({2})
Insbesondere die kürzlich abgehaltenen Präsidentschaftswahlen in Serbien zeigen, dass eine Mehrheit der
serbischen Bevölkerung sehr wohl die Integration in
europäische Strukturen anstrebt und sich ausdrücklich
gegen Isolation ausgesprochen hat. Das gilt besonders
für die junge Generation. Daran sollten wir anknüpfen.
Die Europäische Union hat ganz konkrete Vorschläge
unterbreitet: ein politisches Abkommen hinsichtlich einer Liberalisierung des Visaregimes und der Abschluss
eines Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens.
Kurzum: Die Stabilisierung des Balkans wird nur
durch eine solche Annährung an die Europäische Union
gelingen. Eines Tages wird man die Grenzen aufgrund
der Integration in die Europäische Union überwinden
können. Das muss unser gemeinsames Ziel sein. Darin
liegt unsere gemeinsame Zukunft.
Vielen Dank.
({3})
Der Kollege Ernst-Reinhard Beck aus der Unionsfraktion hat nun das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Unabhängigkeitserklärung
des Kosovo ist - das sage ich ganz bewusst - der logische und folgerichtige Abschluss einer politischen Entwicklung, die durch die serbische Unterdrückungs- und
Gewaltpolitik unter Milošević ausgelöst wurde. Der Verbleib im oder die Rückkehr in den serbischen Staatsverband waren der großen Mehrheit der kosovarischen Bevölkerung nicht mehr zuzumuten. Die Bilder von Flucht
und Vertreibung des Jahres 1999 sind nicht nur uns, sondern auch dort noch in schrecklicher Erinnerung.
Bedauerlich ist - das wurde vorhin angesprochen -,
dass in Belgrad nun die Demokraten die Suppe auslöffeln müssen, die ihnen der Diktator Milošević eingebrockt hat. Wir alle hätten uns eine einvernehmliche
Lösung gewünscht. Eine solche war aber - dies wurde
mehrfach gesagt - wegen der Haltung Russlands leider
nicht möglich.
Der Schritt in die Unabhängigkeit gibt daher dieser
im Durchschnitt sehr jungen Bevölkerung Hoffnung auf
eine bessere Zukunft und endlich eine Perspektive. Die
Anerkennung gerade auch durch Deutschland ist ein
wichtiger Beitrag und ein ermutigendes Signal.
Gleichwohl bedarf die Entwicklung des Kosovo hin
zu einer stabilen Demokratie weiterhin der politischen
Begleitung durch die internationale Staatengemeinschaft. Es ist daher gut und richtig, dass die EU das Kosovo auf der Grundlage der im Ahtisaari-Papier enthaltenen Vorschläge auch in Zukunft begleitet. Deutschlands
Beitrag zu dieser Entwicklung ist von großer Bedeutung sowohl in der EU als auch in der NATO.
In diesem Zusammenhang darf ich besonders den
KFOR-Soldaten der Bundeswehr für ihren Beitrag zur
Sicherung und Stabilisierung des Kosovo meinen herzlichen Dank aussprechen.
({0})
Die Soldaten - in den Kontingenten waren im Durchschnitt 6 500 und jetzt am Schluss 2 800 präsent - haben
unseren Dank und unsere Anerkennung verdient. Ich
habe es einmal hochgerechnet: Seit 1999 waren über
84 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten in 30 Kontingenten im Einsatz. Sie waren es, die durch die Aufrechterhaltung der Ordnung und der Sicherheit den Rahmen
gebildet haben, innerhalb dessen die Aufbauarbeit der
zahlreichen Hilfsorganisationen überhaupt erst stattfinden konnte.
Nicht zuletzt leisteten Soldaten der Bundeswehr vorbildliche Arbeit im humanitären Bereich, beim Minenräumen und beim Wiederaufbau unzähliger Häuser. Nebenbei sammelten Soldaten in Deutschland und im
Feldlager kontinuierlich Sach- und Geldspenden, um die
Not der Bevölkerung zu lindern. Wenn das Kosovo noch
immer die einzige Region in Europa ist, wo nicht einmal
die Stromversorgung funktioniert und in der fast jeder
Zweite arbeitslos ist und mehr als ein Drittel der Bevölkerung mit weniger als 1,50 Euro pro Tag auskommen
muss, dann lag dies nicht an den Soldaten der Bundeswehr.
Auch die Übergangsverwaltung der UNMIK mit dem
Deutschen Dr. Rücker an der Spitze verdient Dank.
Hierbei ist auch der wichtige Beitrag zu erwähnen, den
deutsche Polizeibeamte in diesem Zusammenhang geleistet haben.
({1})
Trotz gelegentlicher Rückschläge, im März 2004 zum
Beispiel, ist KFOR die schwierige Stabilisierung der Region gelungen. 16 000 Soldaten sind für diese NATO-geführte Mission mit UN-Mandat im Einsatz; 2 317 kommen aus Deutschland. Sie gehören zur multinationalen
Taskforce Süd in Prizren, an der übrigens ganz zu Anfang auch ein russisches Bataillon beteiligt war; an dieser Stelle sollte man vielleicht einmal daran erinnern.
Nach der Ausrufung der Unabhängigkeit herrscht
eine prekäre Sicherheitslage. KFOR wird zunächst den
Schutz der rund 100 000 im Kosovo verbliebenen Serben verstärken müssen und Übergriffe auf Grenzstationen, wie dies in den letzten Tagen geschehen ist, verhindern. Bereits im Vorfeld der jetzt eingetretenen Situation
hatte KFOR vor dem Hintergrund einer möglichen krisenhaften Entwicklung und ziviler Unruhen im Kosovo
im Zusammenhang mit der noch offenen Statusfrage im
Dezember Vorsorge getroffen, um in einer Krise möglichst abgestuft, flexibel und umfassend reagieren zu
können.
Ernst-Reinhard Beck ({2})
Das KFOR-Mandat des Bundestages wird am 11. Juni
2008 auslaufen. Die Bundesrepublik unterstützt bereits
heute die EULEX-Mission - European Union Rule of
Law Mission in Kosovo -, die mit über 1 800 Polizisten,
Richtern, Staatsanwälten und Zollbeamten die größte zivile Operation der EU darstellen wird. Es ist zu hoffen,
dass EULEX in nicht allzu ferner Zukunft eine weitere
signifikante Reduzierung der KFOR-Kontingente ermöglicht und vielleicht in noch fernerer Zukunft die Präsenz von KFOR völlig überflüssig macht.
Der Schritt in die Unabhängigkeit war, wie ich meine,
unvermeidlich. Die Unabhängigkeit ist aber noch lange
nicht der Abschluss dieser Entwicklung. Im Gegenteil:
Es wartet noch eine Menge Arbeit, vor allem auf die Kosovaren selbst. Der Weg wurde eingeschlagen. Wir dürfen die Hoffnung der Bevölkerung des Kosovos auf eine
bessere Zukunft, auf Recht, Ordnung, Sicherheit und
wirtschaftliche Prosperität nicht enttäuschen.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen DIE LINKE und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Fehlende Strategien der Bundesregierung in
der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und
Konsequenzen aus den Steuervergehen durch
Finanztransfers ins Ausland
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Fritz Kuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland präsentiert sich in diesen Tagen als
ein Land, an dessen Spitze von Gier zerfressene wirtschaftliche Eliten stehen. Das muss uns Sorgen machen,
weil es den sozialen und politischen Zusammenhalt in
unserem Land gefährdet. Was soll sich eigentlich, so fragen wir uns, ein Hartz-IV-Bezieher denken, der beim
Ausfüllen eines Antrages einen kleinen Fehler macht
und deswegen geschröpft wird, wenn er sieht, was die
Zumwinkels dieser Republik veranstaltet haben?
({0})
Deswegen müssen die Bekämpfung der Steuerhinterziehung und das Trockenlegen von Steueroasen in den
nächsten Monaten und Jahren Hauptaufgaben der deutschen Politik sein.
({1})
Zurzeit kann man allerorten lesen, Steuerhinterziehung sei ein Volkssport. Wenn man die empirischen Daten beurteilt, scheint das richtig zu sein. Ich sage Ihnen
aber: Der Fisch stinkt vom Kopf her, und all die Leute,
die kleine Steuerbetrügereien machen, werden sich
durch die Vorgänge, die jetzt bekannt geworden sind, geradezu legitimiert fühlen. Sie werden glauben, dass sie
das dürfen, obwohl das nicht der Fall ist, wie wir wissen.
({2})
Ich halte überhaupt nichts davon, wie sich Leute wie
Professor Kirchhof oder Herr Ramsauer von der CSU
dazu äußern. Herr Kirchhof behauptete heute in der Süddeutschen Zeitung, dass das am unverständlichen Steuersystem liege, und Herr Ramsauer sagte gestern, wir hätten eine steuerpolitische Landschaft, die so hässlich sei,
dass man es kaum aushalten könne. Wer jetzt so argumentiert, setzt sich dem Verdacht aus, die Steuerhinterziehung, die jetzt rauskommt, mit unserem Steuersystem
zu legitimieren.
({3})
Sie müssen doch bedenken, was Sie mit Ihrem Gerede
anrichten.
Logisch ist übrigens auch Oskar Lafontaine nicht. Er
schlägt die Erhöhung des Spitzensteuersatzes vor, um da
Abhilfe zu schaffen; als hätte das etwas damit zu tun, als
könnte man damit Steuerhinterziehung verhindern!
({4})
Allerorten wird zurzeit also relativ viel Blödsinn abgeliefert.
({5})
Wir werden natürlich schauen - das sage ich ganz
klar -, ob das Verhalten und das Handeln des BND richtig war. Es ist in einer Demokratie übrigens ganz normal,
dass man das in einem parlamentarischen Verfahren
klärt. Wir werden das in einer Art und Weise tun, die uns
nicht in den Verdacht bringt, die Steuerhinterziehung,
derer Herr Zumwinkel beschuldigt wird, reinwaschen zu
wollen. Wir sehen darin einen ganz normalen parlamentarischen Auftrag.
({6})
Als ich gestern gehört habe, wie der Erbprinz Alois
von und zu Liechtenstein die Story verkündet hat, nach
der ein großes, böses und grausames Land ein kleines, integres Land mit 30 000 Einwohnern angreift, habe ich
zuerst gedacht: Das kann nicht wahr sein. Diese Aussage
hält einer Betrachtung der Wirklichkeit aber nicht stand:
Seit 1995 ist Liechtenstein Mitglied im europäischen
Wirtschaftsraum, mit allen wirtschaftlichen Vorteilen,
die das Land daraus schöpft, und die sind immens. Aber
was tut es? Es agiert faktisch wie eine Räuberhöhle, verweigert jede Amtshilfe bei der Verfolgung von Steuerhinterziehung und hat ein Stiftungswesen, das zur Anonymisierung beiträgt und nichts anderes ist als eine - ich
formuliere es bewusst so hart - staatlich organisierte Beihilfe zur Steuerhinterziehung. Das sind die Fakten, um
die wir nicht herumreden sollten.
({7})
Kollege Westerwelle, der nicht anwesend ist, hätte
besser überlegen sollen, als er die Einladung der liechtensteinischen Regierung, am 5. Oktober des letzten Jahres auf einer Tagung zu sprechen, angenommen hat. Ich
zitiere den Titel der Tagung: „Veränderungen meistern:
Erfolgsstrategien für Finanzplätze“. Da hätte er vielleicht nicht sprechen sollen. Falls er das Honorar in
Höhe von 7 000 Euro versteuert, kann man immerhin sagen, dass diese 42 Prozent eine kleine Rückführung von
dem sind, was der liechtensteinische Staat so alles von
deutschen Steuerhinterziehern einkassiert hat.
({8})
Aber im Ernst. Ich will Ihnen jetzt zum Abschluss
einmal sagen, was wir tun müssen.
Erstens. Wir müssen die Steuerfahndung in Deutschland stärken.
({9})
Wir müssen die Steuerverwaltung vom Kopf auf die
Füße stellen. Dies bedeutet eine Bundessteuerverwaltung, weil die Länderkonkurrenz zur Schwächung der
Steuererhebung in Deutschland führt.
({10})
Zweitens. Wir müssen uns in Europa stärker um eine
Harmonisierung der Steuersätze bei allen vergleichbaren
Steuern und der Bemessungsgrundlagen bemühen.
Drittens. Wir brauchen ein Rechtshilfeabkommen mit
Liechtenstein, das dazu führt, dass auch bei Steuerhinterziehung Amtshilfe geleistet werden muss. Denn das ist
gegenwärtig nicht der Fall.
({11})
Viertens. Wir müssen dafür sorgen, dass Liechtenstein seinen Aufgaben im europäischen Wirtschaftsraum
nachkommt, nämlich erstens eine effektive Quellensteuer zu erheben, wenn sie schon keine Kontrollmitteilungen machen wollen, und diese zweitens auch auf Stiftungskapitalien auszudehnen und nicht nur auf normale
Zinserträge. Das wissen viele gar nicht: Bei den Zinserträgen gibt es eine Miniquellensteuer, bei Anlagen mit
Zertifikaten und Stiftungen gibt es diese nicht.
Fünftens und Letztens. Wir müssen in Deutschland,
im Parlament, aber auch im Finanzministerium und bei
der Regierung, eine systematische Strategie entwickeln,
mit der wir Schritt für Schritt dazu kommen, dass die
Steueroasen in Europa und in der Welt stillgelegt werden
können.
Herr Kollege Kuhn, diese Strategie müssen Sie außerhalb Ihrer Redezeit entwickeln.
Ich komme zum Ende. - Das, was wir alle wollen
- Sicherheit, öffentliche Infrastruktur und sozialer Zusammenhalt -, geht nur, wenn in der Globalisierung
klare Regeln darüber herrschen, dass alle Steuern zahlen
müssen. Es darf nicht sein, dass manche es nicht tun.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Otto Bernhardt für die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege
Kuhn, Sie fordern hier eine Strategie der Bundesregierung, um den Eindruck zu erwecken, als passierte nichts.
({0})
Sie selber waren bis vor zweieinhalb Jahren in der Regierung, und zwar für viele Jahre. Ich frage: Was haben
Sie denn damals gemacht?
({1})
Ich stelle fest, dass Steuerhinterziehung in Deutschland nicht, wie Sie, Herr Kollege, gesagt haben, ein Kavaliersdelikt ist. Steuerhinterziehung bedeutet: Die Steuern, welche derjenige, der sie eigentlich zahlen müsste,
nicht zahlt, müssen die anderen zahlen. Das ist ein Verstoß gegen die Solidarität.
({2})
In Deutschland wird Steuerhinterziehung hart bestraft:
bis zehn Jahre Gefängnis und Gefängnisstrafe schon ab
50 000 Euro. Dass dies nicht nur leere Worte sind, zeigen die Zahlen. In jedem Jahr haben wir in Deutschland
40 000 Verfahren, 17 000 Strafverfahren; über 1,5 Milliarden Euro kommen über diesen Weg rein. Die Steuerfahndung in Deutschland funktioniert.
Einige geben jetzt den Oasen die Schuld. Wir müssen
etwas tun, dass es möglichst keine Oasen gibt. Ich
glaube, es gibt drei in Europa. Andere geben jetzt dem
Steuersystem die Schuld. Nein, Schuld haben nicht die
Oasen, und Schuld hat nicht das Steuersystem. Schuld
haben diejenigen, die die Oasen nutzen oder vor unserem Steuersystem weglaufen. Das sind die eigentlich
Schuldigen. Das muss man meines Erachtens in jeder
Debatte mit aller Deutlichkeit betonen.
({3})
Es ist natürlich populär, die Reichen, die mehr Steuern
zahlen, zu verteufeln. Das macht sich gut, und man bekommt von bestimmten Teilen dieses Hauses Applaus.
Nur, meine Damen und Herren, auch in dieser Debatte
dürfen wir nicht übersehen: Die Mehrzahl der Deutschen
zahlt ehrlich ihre Steuern.
({4})
Ich will bei dieser Gelegenheit darauf hinweisen: Die
10 Prozent der Bevölkerung, die am meisten verdienen,
zahlen 50 Prozent des Steueraufkommens; das können
sie auch.
({5})
- Ja, ich meine die Einkommensteuer. - Die 50 Prozent,
die am meisten verdienen, zahlen insgesamt 90 Prozent
des Einkommensteueraufkommens. Das heißt im Umkehrschluss: Die 50 Prozent, die am wenigsten verdienen,
zahlen insgesamt nur zehn Prozent des Einkommensteueraufkommens. Daher warne ich vor der Verteufelung der
Reichen. Denn Reiche können sich der Steuerzahlung in
Deutschland ganz legal entziehen;
({6})
dafür gibt es viele Beispiele. Sie suchen sich einen anderen Wohnsitz, und dann sind sie weg. An dieser Stelle
müssen wir ansetzen.
Denjenigen, die vor diesem Hintergrund meinen, die
Abgeltungsteuer infrage stellen zu müssen - ich bin
froh, dass das Ministerium diesen Weg nicht mitgeht -,
muss ich sagen: Die Abgeltungsteuer ist ein Beitrag, um
sicherzustellen, dass in Zukunft mehr Geld in Deutschland bleibt. Deshalb haben wir sie eingeführt.
({7})
Jetzt spreche ich einen kritischen Punkt an, der mich
sehr nachdenklich gestimmt hat - das erinnert mich an
Vorverurteilungen, und ich frage mich, wer hierfür die
Verantwortung trägt -: Als die Steuerfandung frühmorgens auftauchte, stand das Fernsehen schon vor der Tür.
({8})
Mit dieser Frage muss man sich beschäftigen. Wenn man
morgens um acht Uhr schon auf allen Programmen im
Fernsehen zu sehen ist, ist das eine Art Vorverurteilung.
({9})
Die Art und Weise, wie die Staatsanwaltschaft vorgegangen ist, ist aus meiner Sicht nicht korrekt. Denn in
Deutschland gilt immer noch der Grundsatz: Bis zum
Ende eines Prozesses gilt jeder als unschuldig.
({10})
Eine solche Vorverurteilung ist sicherlich nicht der
richtige Weg. Deshalb sage ich: Wir werden, unserer
Grenzen bewusst, weiterhin alles tun, um die Steueroasen trockenzulegen. Wunder darf man auf diesem Gebiet
nicht erwarten. Ich vermute allerdings, die jetzige Diskussion führt dazu, dass in Deutschland noch mehr Menschen als bisher zu ehrlichen Steuerzahlern werden.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen
und Herren! Zur Steuerhinterziehung gehören immer
zwei: derjenige, der die Steuern hinterzieht, und derjenige, der zulässt, dass Steuern hinterzogen werden. Ich
sage Ihnen: Der Bundesfinanzminister und seine Kollegen in den Ländern tragen die politische Verantwortung
dafür, dass in diesem Land Steuern hinterzogen werden
können.
({0})
Es wäre kein Problem, die grassierende Steuerflucht
zu beenden, wenn die Finanzminister es wirklich wollten. Doch das wollen sie gar nicht. Ein aktuelles Beispiel: Der Bundesrechnungshof, also nicht unsere Fraktion,
({1})
forderte den Finanzminister auf, erstens bei Einkünften
von mehr als 500 000 Euro eine Pflicht zur Aufbewahrung privater Belege durchzusetzen und zweitens die
Pflicht zur Begründung von Außenprüfungen bei Einkommensmillionären aufzuheben. Wir finden, das sind
gute Vorschläge. Doch der Finanzminister hat diese Vorschläge mit der Begründung zurückgewiesen, die Bundesregierung wolle die Bürokratie abbauen.
({2})
Es ist schon erstaunlich: Wenn es um die Überwachung von Arbeitslosengeldempfängern geht, dann
scheut die Bundesregierung keine noch so hohen bürokratischen Hürden und keinen Aufwand, um herauszubekommen, ob ein Arbeitsloser vielleicht 10 Euro zu
viel bekommen hat. Ich nenne Ihnen eine Zahl: Innerhalb eines Jahres stieg die Zahl der Sanktionen gegen
Arbeitslose um 58 Prozent. Allein im September 2007
wurden 138 700 Sanktionen gegen Arbeitslose ausgesprochen. Welch ein bürokratischer Aufwand und welch
ein Widerspruch!
({3})
Wenn es um Sanktionen gegen Einkommensmillionäre
geht, dann fürchtet der Finanzminister allerdings plötzlich die anwachsende Bürokratie.
Egal welches Politikfeld man betrachtet - ob die
Steuer- oder die Arbeitsmarktpolitik -, muss man feststellen: Die Bundesregierung denkt in klaren Strukturen.
Die, die nichts haben, werden schikaniert und gedemütigt, und die, die im Geld schon fast ersticken, den Hals
nicht voll bekommen und Tag und Nacht darüber nachdenken, wie sie das Geld am Finanzamt vorbei ins Ausland schmuggeln können, werden von der Bundesregierung gehätschelt und, solange sie nicht erwischt werden,
als leuchtende Vorbilder mit Preisen und Ehrungen überhäuft. Das ist wirklich eine Beihilfe zur Steuerhinterziehung.
({4})
Die Untätigkeit der Finanzminister hinsichtlich der Prüfung von Einkommensmillionären ist eine Beihilfe zur
Steuerhinterziehung. Damit muss Schluss sein.
({5})
Es ist doch geradezu unglaublich, dass sich der Finanzminister dafür feiern lässt, dass er 5 Millionen Euro
an einen Informanten gezahlt hat, um an die Informationen zu kommen. Hätte er seinen Job als Finanzminister
ordentlich gemacht, dann müsste er erstens nicht auf die
Arbeit von Geheimdiensten zurückgreifen und zweitens
nicht 5 Millionen Euro an Steuergeldern ausgeben.
Bei der Steuerprüfung 2006 wurden aufgrund der Prüfung von Steuerpflichtigen mit bedeutenden Einkommen
pro Fall zusätzlich knapp 150 000 Euro eingenommen.
Bei diesen Ergebnissen fragt sich doch jeder, warum es
so wenige Prüfer gibt. Warum wurde zum Beispiel Herr
Zumwinkel nicht geprüft? Sie müssen es sich einmal
vorstellen: Dieser Multimillionär hatte noch nicht einmal
seinen Sparerfreibetrag ausgeschöpft. Das roch doch
schon förmlich nach Steuerhinterziehung. Doch dort
wurde nicht geprüft.
({6})
Man hat also den BND zurate gezogen und zusätzliche
5 Millionen Euro an Steuergeldern ausgezahlt. Dabei
hätte doch jeder Prüfer, der es hätte sehen wollen, sehen
können, was da lief. Warum gibt es also so wenige Prüfer?
({7}): Steuergeheimnis!)
- Sie verteidigen solche Herrschaften. Das haben wir ja
gerade gehört. Herr Kollege, durch Ihren Zwischenruf
haben Sie das sehr deutlich gemacht.
({8})
Die Antwort ist ganz einfach: Die Einkommensmillionäre gelten bei CDU und SPD als die Elite der Gesellschaft. Die möchten Sie natürlich auf keinen Fall verschrecken.
({9})
Es ist deutlich: Die politische Verantwortung für die
Verhinderung von Steuerhinterziehung liegt hier in diesem Hause. Hier in diesem Hause müssen die entsprechenden Beschlüsse gefasst werden. Wenn wir uns darauf verständigen, endlich einmal die Steuerprüfer in die
Verantwortung zu nehmen und die Anzahl der Prüfer
deutlich zu erhöhen, dann hätten wir auch mehr Geld im
Staatssäckel
({10})
und dann könnte sich auch die verehrte Kollegin Künast
aus Berlin ihre unqualifizierten Zwischenrufe sparen.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Nicolette Kressl.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir führen heute sicherlich eine wichtige Debatte, aber, Frau Kollegin Lötzsch, sie sollte schon ein
wenig von Sachkenntnis geprägt sein.
({0})
Dazu gehört zum Beispiel auch, zu wissen, dass die
Verantwortung dafür, wie viele Steuerfahnder es gibt, bei
den Ländern liegt und dass die Umsetzung und Durchführung der Gesetze Aufgabe der Länder ist. Ich bitte
Sie, hier nicht um der Polemik willen die grundlegenden
Tatsachen unseres Föderalismus und unseres Steuerrechts völlig zu ignorieren. Das tut der Sache nicht gut
und hilft uns überhaupt nicht, zu einer sachlichen und
guten Debatte zu kommen, die wirklich wichtig ist. Deshalb komme ich jetzt zur Debatte selbst.
({1})
Wir müssen diese Debatte wirklich auf drei Ebenen
führen. Zum Ersten müssen wir sie auf der internationalen Ebene führen. Das ist mit Sicherheit die wichtigste,
wenn auch die schwierigste Ebene, weil dabei traditionell natürlich sehr dicke Bretter gebohrt werden müssen.
Wir können hier nicht mit einer Gesetzgebung eingreifen, sondern wir müssen verhandeln. Ich weise darauf
hin, dass gerade die deutsche Bundesregierung in den
letzten Jahren auf internationalem Gebiet sehr oft initiativ geworden ist, um in den Bereichen Steuerflucht,
Steueroase - wir haben kurz darüber gesprochen, ob
man den Begriff „Steueroase“ nicht in einen Begriff ändern sollte, der nicht so positiv klingt ({2})
und natürlich auch Zinsbesteuerung etwas zu erreichen.
Zweitens muss es um die nationalen Handlungsmöglichkeiten gehen, die zwar eingeschränkt sind, aber dennoch nicht vernachlässigt werden dürfen. Auch dies
finde ich im Zusammenhang mit dieser Debatte immer
noch sehr wichtig.
Zum Dritten ist es wichtig, zu diesem Punkt auch
noch einmal eine gesellschaftliche Debatte zu führen,
weil es wichtig ist, zu erfahren, wie Steuerhinterziehung
bewertet und in welcher Form sie geächtet wird.
Ich beginne mit dieser gesellschaftlichen Debatte,
weil ich mich in den letzten Tagen nicht des Eindrucks
erwehren konnte, dass es ab und zu den Zungenschlag
gab, nicht mehr die wirklich Verantwortlichen, also diejenigen, die Steuern hinterziehen, als die Schuldigen zu
benennen; vielmehr wurden plötzlich Ausweichdebatten
geführt. Das Steuersystem an sich oder die eine oder andere steuerliche Regelung als Schuldige zu benennen,
gehört für mich ausdrücklich zu solchen Ausweichdebatten. Ich halte sie für schädlich, weil sie das falsche Signal senden. Dazu sollten wir uns alle gemeinsam bekennen.
({3})
Deshalb sage ich noch einmal ganz deutlich: Wer in
Deutschland ansässig ist und dem Finanzamt gegenüber
seine Einkünfte aus ausländischen Quellen nicht erklärt,
begeht Steuerhinterziehung.
({4})
Wer als Stifter eine ausländische Stiftung gründet und
die Erträge, die ihm nach unseren Steuergesetzen zuzurechnen sind, dem Finanzamt gegenüber nicht erklärt,
begeht Steuerhinterziehung. Wir sollten uns alle darauf
verständigen, dies auch wirklich immer deutlich zu benennen.
({5})
Wie wir wissen, werden Einkunftsquellen, die zu
steuerpflichtigen Einkünften führen, nicht wahllos ins
Ausland verlagert. Einkunftsquellen werden oft gezielt
in Staaten verlagert, in denen keine Steuern anfallen
oder, wenn doch, man sie eher als Dienstleistungsgebühr
bezeichnen könnte. Der Anreiz der Nicht- oder Niedrigbesteuerung allein genügt jedoch nicht - mir ist es wichtig, auch dies hier noch einmal deutlich zu machen -, um
einen Staat oder ein bestimmtes Gebiet zu einer attraktiven Steueroase für dort nicht ansässige Ausländer zu
machen. Es müssen mindestens zwei weitere Bedingungen erfüllt sein, die Anonymität garantieren: erstens kein
Zugang zu Eigentümerinformationen und zu Bankinformationen für Besteuerungszwecke und zweitens die Gewähr, dass die Behörden des betreffenden Staates oder
Gebietes mit ausländischen Steuerbehörden nicht zusammenarbeiten und kein Auskunftsaustausch stattfindet. Dies sind die Rahmenbedingungen - sie gehören
benannt -, unter denen das internationale „Steuerhinterziehungsgeschäft“ betrieben werden kann. Dieses Geschäft betreiben Staaten und Gebiete, die solche Rahmenbedingungen bieten, durchaus bewusst.
Von diesen Rahmenbedingungen machen nicht nur in
Deutschland ansässige Personen Gebrauch; es trifft viele
andere vergleichbare Staaten. Dieser Hinweis ist wichtig, damit wir sehen, wie sehr internationale Zusammenarbeit in diesem Bereich notwendig ist. Uns wie den anderen betroffenen Staaten gehen große Steuerbeträge
zum Vorteil derer verloren, die sich die Angebote der
Niedrigsteuergebiete zunutze machen. Diese Problematik ist nicht neu. Neu ist allerdings, dass sich in den internationalen Gremien zunehmend die Erkenntnis durchsetzt, dass es notwendig ist, sich zusammenzuschließen,
weil es keinen Sinn macht, sich gegenseitig zu unterbieten. Es ist allerdings nicht neu, dass es sehr schwer ist,
von dieser Erkenntnis die jeweils betroffenen Staaten zu
überzeugen.
Ich weise allerdings darauf hin, dass es Initiativen
gibt, zum Beispiel die OECD-Initiative zur Eindämmung schädlichen Wettbewerbs, die unmittelbar bei solchen Steueroasen ansetzt. Wenn wir darüber sprechen,
dann ist es kein Angriff auf die Souveränität der Niedrigsteuergebiete. Vielmehr ist es für mich eine Gegenwehr,
weil deren Verhalten einen Angriff auf das Recht der
Staaten darstellt, ihre Steuern so zu erzielen, wie es ihre
Gesetzgebung vorsieht. Auch hier dürfen die Verhältnisse nicht verdreht werden; man muss immer aus dem
richtigen Blickwinkel darauf schauen.
Als zweiten Punkt hatte ich angesprochen, dass wir
auch nationales Engagement brauchen. Ich nenne hier
beispielhaft nur drei Gesetzesvorhaben, die die Bundesregierung und der Finanzausschuss auf den Weg gebracht haben:
Erstens. Mit der Vorschrift des § 90 Abs. 3 der Abgabenordnung wurden ab 2003 erstmals eigenständige Dokumentationsvorschriften für Verrechnungspreise gesetzlich festgelegt.
Zweitens. In den Jahressteuergesetzen 2007 und 2008
sind Maßnahmen gegen die missbräuchliche Inanspruchnahme von Doppelbesteuerungsabkommen enthalten.
Das ist in diesem Bereich nicht unwichtig.
Drittens haben wir mit dem Unternehmensteuerreformgesetz 2008 durch umfangreiche Änderungen des
Außensteuergesetzes Regelungen geschaffen, die die
Besteuerung von Wertetransfers ins Ausland sicherstellen sollen.
Ich will noch einen Punkt ansprechen; denn vielleicht
bringt die Debatte auch etwas Bewegung in die eine oder
andere ablehnende Position. Lassen Sie mich eine rhetorische Frage stellen: Könnte diese Debatte nicht auch etwas Bewegung in die Diskussion über die Bundessteuerverwaltung in der Föderalismuskommission bringen?
Denn eigentlich sollten wir gemeinsam das Ziel haben,
alle Möglichkeiten der Effizienz und der besseren Nutzung von Systemen auch tatsächlich umzusetzen. Es
geht nicht um das sofortige Signal, dass wir uns auf den
Weg machen. Es ist aber sinnvoll, gemeinsam zu überlegen, wie wir die Besteuerung effizient und gezielt vornehmen können. Denn was im internationalen Vergleich
für den Steuerwettbewerb gilt, können wir auch auf die
Konkurrenz innerhalb der Bundesländer übertragen. Unsere Verpflichtung in diesem Bereich nimmt uns niemand ab.
({6})
Wir haben die drei erwähnten Vorhaben mit den damit
verbundenen Maßnahmen auf den Weg gebracht. Ich
glaube nicht, dass darin keine Strategie zu erkennen ist,
auch wenn wir noch einen weiten Weg gehen müssen.
Einen Teil der Strecke haben wir schon geschafft. Ich
glaube, wir sind uns alle darin einig, dass sich unsere
Bemühungen in jedem Fall lohnen werden.
Vielen Dank.
({7})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Volker
Wissing das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Kuhn, Sie haben darauf hingewiesen, dass
Herr Westerwelle bei einer Tagung in Liechtenstein gewesen ist. Ich weiß nicht, was das mit dem Thema dieser
Aktuellen Stunde zu tun hat, aber es wäre sinnvoll gewesen, wenn Sie dann auch erwähnt hätten, dass Otto
Schily, Joschka Fischer und der Vorsitzende des Finanzausschusses, Herr Oswald, bei einer solchen Tagung waren. Herr Eigen von Transparency International war
ebenfalls bei einer solchen Tagung.
Außerdem frage ich Sie, Herr Kuhn, ob das, was Sie
vorgetragen haben, ernst zu nehmen ist, nämlich dass
man einerseits mit Liechtenstein Abkommen schließen,
aber andererseits nicht hinfahren soll, um mit den Verantwortlichen vor Ort zu reden.
({0})
Steuerhinterziehung ist kein Kavaliersdelikt, sondern
eine Straftat. Wenn es um Millionenbeträge geht, dann
ist es eine sehr schwere Straftat. Daran gibt es keinen
Zweifel. Ich will an dieser Stelle betonen, dass es mich
wahnsinnig stört, wenn manche davon reden, es würden
Spielregeln verletzt oder es gehe um Steuersünder. Verletzt werden Strafvorschriften, und die handelnden Personen sind Straftäter. Das sage ich in aller Deutlichkeit.
({1})
Ein Rechtsstaat kann es sich nicht leisten, so etwas zu
dulden, er kann es sich aber auch nicht leisten, dass der
Bundesnachrichtendienst in unkontrollierten, vielleicht
rechtsfreien Räumen agiert. Deshalb muss das Vorgehen
dieser Behörde aufgeklärt werden.
({2})
Die FDP wird in den zuständigen Gremien mit allem
Nachdruck darauf drängen.
Es kann aber auch nicht genügen, sich auf Hasstiraden zu beschränken, wie dies bei manchen der Fall ist.
Es führt auch nicht weiter, wenn reflexartig bei allem,
was in der Gesellschaft nicht gut läuft, nach härteren
Strafen gerufen wird, und wir uns dann immer wieder
vonseiten der Praxis erklären lassen müssen, dass das
nichts bringt.
Nein, wir müssen in diesem Hause vielmehr der Frage
nachgehen, welche Botschaft an den Staat ausgeht, wenn
sich immer mehr Bürgerinnen und Bürger nicht mehr an
ihm beteiligen wollen. Auch dieser Seite des Skandals
müssen wir uns stellen, und zwar gemeinsam. Niemand
zahlt gerne Steuern. Das wird sich auch nicht ändern. Sie
werden allenfalls als notwendiges Übel erachtet. Die
Steuermoral hängt aber wesentlich davon ab, ob die Bürgerinnen und Bürger den Eindruck haben, dass der Staat
mit den Steuergeldern sparsam umgeht.
Bei manchen Beispielen fragt man sich, wie es auf die
Steuerzahler wirkt, wenn sich etwa der Umweltminister
medienwirksam als Pate des Eisbären „Knut“ feiern lässt
und später herauskommt, dass die Steuerzahler dafür
10 000 Euro berappen müssen.
({3})
Das rechtfertigt zwar keine Steuerhinterziehung, aber
solche Beispiele machen deutlich, dass der Staat nicht
immer verantwortungsvoll mit dem Geld der Bürgerinnen und Bürger umgeht. Auch an dieser Stelle kann man
einen Beitrag zur Steuermoral leisten. Auch dort ist eine
Vorbildfunktion gefragt.
({4})
Wir haben die Bundesregierung gefragt: Wie steht es
eigentlich mit der Steuerverschwendung? Was macht der
Staat dagegen? Denn auch Steuerverschwendung führt
zu Steuererhöhungen. Die Antwort lautete, der Begriff
„Steuerverschwendung“ sei der Umgangssprache entnommen und gehöre nicht zum Sprachgebrauch der
Bundesregierung. Angesichts dessen verwundert manches nicht mehr. Wenn die Regierung Steuerverschwendung nicht kennt, wenn der Begriff noch nicht einmal in
ihrem Sprachgebrauch vorkommt, dann kann man auch
nicht dagegen vorgehen.
({5})
Die FDP begrüßt jedes sinnvolle und rechtsstaatlich
einwandfreie Engagement der Bundesregierung gegen
Steuerhinterziehung. Man sollte sich aber auch der Frage
zuwenden, wie wir in Deutschland mit Steuerverschwendung umgehen. Der Bundesfinanzminister hat - zu
Recht - gesagt, er freue sich, dass mehrere Hundert Millionen Euro Steuermehreinnahmen durch Aufklärung
möglich sind.
({6})
- Herr Kuhn, was wollen Sie denn? Sie haben hier eine
populistische Rede gehalten und nichts zur Sache gesagt.
({7})
Nun rufen Sie dazwischen. Hören Sie doch einmal zu!
Dann können Sie vielleicht noch etwas erfahren.
({8})
Ich will darauf hinweisen, dass die Finanzbehörden
allein im Jahr 2005 auf 366 Millionen Euro freiwillig
- gestundet oder erlassen - verzichtet haben. Bundesländern wie Berlin, in denen Sie mitregieren, liebe Kollegin
Lötzsch, wurden sogar besonders viele Steuern erlassen.
Darüber müssen wir hier auch einmal reden. Wenn wir
die Bundesländer beim Steuervollzug erwischen, dass
sie Standortpolitik machen, dass im Bereich der Steuerfahndung Personal abgebaut wird, weil Mehreinnahmen
im Länderfinanzausgleich verschwinden und die Kosten
vor Ort hängen bleiben, dann besteht für uns Handlungsbedarf.
({9})
Die Betrogenen sind auch an dieser Stelle die Bürgerinnen und Bürger, die dann höhere Steuern zahlen müssen.
Sie haben sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Großen Koalition, kräftig zur Kasse gebeten.
({10})
Steuerhinterziehung ist eine Straftat, die zum Teil mit
erheblicher krimineller Energie begangen wird. Das lässt
sich nicht entschuldigen und muss mit aller Konsequenz
aufgeklärt werden. Aber die Lösung besteht nicht darin,
populistische Parolen in die Welt zu posaunen, sondern
darin, die Ermittlungsbehörden - das sind die Staatsanwaltschaften und die Steuerfahnder - personell und
sachlich so auszustatten, dass sie dieser Aufgabe nachgehen können. Wir müssen uns aber auch mit der Frage
befassen, ob unser Steuersystem die notwendige Akzeptanz hat. Wenn Sie bereit wären, mit uns über ein einfacheres und gerechteres Steuersystem mit niedrigeren
Steuersätzen ernsthaft zu diskutieren und es auch umzusetzen, könnten wir die Akzeptanz des Steuersystems
und die Steuermoral in Deutschland verbessern. Diesen
Beitrag sollten wir leisten. Lassen Sie uns das gemeinsam tun.
({11})
Das Wort hat der Kollege Olav Gutting für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wer die Bibel kennt, weiß: Schon Kaiser Augustus
hatte vor 2000 Jahren Schwierigkeiten, Steuern einzutreiben. Auch im Mittelalter haben die Leute ihre
Schweine und Hühner versteckt, wenn die Steuereintreiber des Königs kamen. Steuerhinterziehung ist also kein
Phänomen unserer heutigen Zeit. Es gibt sie schon so
lange, wie es Steuern gibt.
Steuerhinterziehung - oder besser: der Betrug des
Einzelnen zulasten der Allgemeinheit - ist auch nicht auf
bestimmte Bevölkerungsschichten beschränkt. Es gibt
den ALG-II-Empfänger, der Vermögen verschweigt und
dadurch Leistungen erschleicht. Es gibt den Rentner, der
sein Wohnzimmer vom Handwerker ohne Rechnung tapezieren lässt. Es gibt den Familienvater, der beim Fahrtenbuch schummelt. Es gibt die Studentin, die schwarz
in der Kneipe jobbt. Es gibt auch den Topmanager, den
Spitzensportler oder den Showstar, der nach Liechtenstein stiften geht.
({0})
Wichtig ist festzuhalten: Es sind nicht alle, sondern in
der Regel einige wenige. Vor Pauschalverurteilungen,
wie sie in den letzten Tagen und auch in den letzten
Minuten zu hören waren, sollten wir uns hüten.
({1})
Die Ursachen für den Betrug an der Gemeinschaft aller in unserem Staat Lebenden sind vielfältig. In der
Regel ist es eine Mischung aus zu hoher Abgabenlast
- nicht nur Steuern -, sich bietenden Gelegenheiten und
einer moralischen Schwäche. Eine ganz wichtige Rolle
dabei spielt auch das Gefühl des Steuerzahlers bezüglich
dessen, was mit seinem Geld passiert. Wer anständig ist
und ehrlich Steuern zahlt, der möchte sein hart verdientes Geld nicht in irgendwelchen Milliardenlöchern im
Bundeshaushalt verschwinden sehen.
({2})
Die mittlerweile monströse Umverteilungsmaschinerie, die wir in diesem Land in Jahrzehnten gezüchtet haben, gibt vielen Menschen gerade nicht das Gefühl, dass
ihr Geld beim deutschen Fiskus in guten Händen ist.
({3})
Dieses Gefühl gibt es gerade bei denjenigen - Kollege
Otto Bernhardt hat es vorhin schon gesagt -, die als
kleine Gruppe von weniger als 10 Prozent der Bevölkerung mehr als die Hälfte des Einkommensteueraufkommens in Deutschland erwirtschaften. Viele haben das
Prinzip „linke Tasche, rechte Tasche“ durchschaut und
verlieren darüber ihre Steuermoral.
({4})
Die Menschen wollen von ihrem Steuergeld verständlicherweise auch etwas sehen. Keiner zahlt gerne Steuern
für vermeintliche Wohltaten des Staates aus den letzten
Jahren oder aus der Vergangenheit. Auch aus diesem
Grund hat sich die Große Koalition ein wichtiges Ziel
gesetzt, nämlich einen ausgeglichen Bundeshaushalt in
den nächsten Jahren zu erreichen.
Den Betrug am Staat, am Allgemeinwesen, werden
wir nie völlig zurückdrängen können.
({5})
Solange es Steuern und Abgaben gibt, solange wird es
Versuche geben, deren Zahlung zu vermeiden.
({6})
Das soll nun nicht bedeuten, dass wir uns dem Schicksal
der Steuerhinterziehung fügen. Selbstverständlich hat
unser Staat, haben wir als Gesetzgeber die Pflicht, zu
handeln. Es ist zwischen tauglichen auf der einen und
untauglichen Mitteln auf der anderen Seite zu unterscheiden. Klar ist: Steueroasen innerhalb Europas können nicht mehr geduldet werden. Liechtenstein, Monaco
und andere - hier ist die Europäische Union aufgerufen,
die teilweise staatlich organisierte Steuerhinterziehung
zu beenden und dieser einen Riegel vorzuschieben. Es
wird weiterhin andere Steueroasen geben - Cayman
Islands, Bermudas, Singapur -, aber Geld aus Deutschland dorthin zu bringen, ist lange nicht so bequem, wie
einfach zum Nachbarn zu marschieren. Wir, die Große
Koalition, werden mit dem Austrocknen illegaler europäischer Steueroasen konsequent weitermachen.
Untauglich sind hingegen höhere Strafen, die jetzt gefordert wurden.
({7})
Wir sollten hier nicht den Eindruck erwecken, dass Steuerhinterzieher in Deutschland mit Samthandschuhen angefasst werden. Die Realität ist eine andere. Die Justiz
verhängt in der Regel empfindliche Strafen gegen ertappte Steuersünder - und das völlig zu Recht. Hinzu
kommt noch die soziale Strafe, die die Betroffenen zusätzlich erfahren.
({8})
Noch sind nicht alle Einzelheiten der aktuellen Steuerhinterziehungsfälle bekannt. Ich möchte hier daran erinnern, dass in Deutschland immer noch die Unschuldsvermutung gilt. Eines - das ist wichtig - hat die aktuelle
Debatte bereits heute gebracht, nämlich das Bewusstsein, dass für eine funktionierende Gesellschaft auch
Moral und Werte wie Anständigkeit und Gemeinsinn
eine Rolle spielen. Wer sich außerhalb des Gesetzes und
der Gemeinschaft stellt, kann sich nicht als heimlich bewunderter Steuerakrobat fühlen, sondern muss mit der
Ächtung durch die Mehrheit der Ehrlichen rechnen.
({9})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Christine Scheel das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Wenn man sich die Vorredner anhört, dann hat man
wirklich das Gefühl, man ist hier im falschen Film.
({0})
Das Volk ist empört, die Leute sind entrüstet darüber,
was in Deutschland passiert, und der eine redet von irgendwelchen Hausschweinen und Geflügel, und der andere hält hier eine Steuerhinterziehungsschutzrede.
({1})
Da muss man sich wirklich fragen: Was ist los in diesem
Haus?
({2})
Wenn dann noch gesagt wird, es gebe soziale Strafen
und diese seien furchtbar, dann heißt das, dass man noch
Verständnis für diejenigen hat,
({3})
die seit Jahren Millionen in Steueroasen im Ausland
schaffen. Das dürfen wir nicht dulden; denn es geht hier
um Fairness und um Gerechtigkeit in dieser Gesellschaft, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt und
nicht um ein soziales Verständnis für Leute, die ihr Geld
ins Ausland schaffen.
({4})
Ich sage, zur FDP und zu Teilen der CDU/CSU gewandt: Steuerhinterziehung kann man nicht mit Steuersenkungen vermeiden. Ich sage das ganz bewusst. Für
diejenigen, die in den letzten Jahren die Möglichkeit hatten, relativ gefahrlos keinerlei Steuern zu zahlen, waren
niedrige Steuersätze kein Anreiz zur Ehrlichkeit.
({5})
Auch das muss man an dieser Stelle einmal sagen. Wir,
Rot-Grün, haben damals eine großzügige Amnestieregelung geschaffen. Sie haben später die Abgeltungsteuer
beschlossen. Doch all das reicht immer noch nicht.
Diesen Steuerhinterziehern geht es nicht darum,
25 Prozent Steuern zu bezahlen, sondern darum, höchstens etwas mehr als 0 Prozent Steuern zu bezahlen. Das
können wir nicht akzeptieren.
({6})
Genau diese Leute erwarten von dem Land Bundesrepublik Deutschland nämlich, dass Straßen gebaut werden,
dass Flughäfen bereitstehen, dass die Bundesbahn fährt
und dass Schulen gebaut werden. Wenn das geschehen
ist, überlegen sie sich: Welchen Beitrag möchte ich leis15216
ten? Sie entscheiden dann selbst, wie sie den Staat unterstützen.
Ich finde, wir haben ein gesundes Rechtssystem. Diesem Rechtssystem darf sich niemand entziehen. Deswegen brauchen wir auch an dieser Stelle keine Strafen von
15 Jahren - diese Forderung wurde übrigens auch aus
den Reihen der CDU erhoben -; vielmehr müssen wir
den bestehenden Strafrahmen vernünftig ausschöpfen.
Darum geht es.
({7})
Damit es hier kein Missverständnis gibt: Es darf nicht
sein, dass wir heute hier diese Debatten führen, dass das
nach außen dringt und dass eine hochemotional geführte
Diskussion, wie sie in der Öffentlichkeit derzeit geführt
wird, folgenlos bleibt. Deswegen erwarten wir Grünen,
dass es ganz konkrete Maßnahmen gibt.
({8})
Fritz Kuhn hat konkrete Maßnahmen genannt. Er war
bislang übrigens der Einzige, der dies hier getan hat.
Bei uns sollten nicht nur die Zinsen einer Quellenbesteuerung unterliegen, sondern auch Wertpapiererträge
und die Erträge von Stiftungen. Genau diesen Punkt haben die Grünen seit Jahren angesprochen: Die Zinssteuerrichtlinie hat - auch wenn sie im europäischen Kontext
noch so gut gemeint war - Lücken.
({9})
- Sie können so viel dazwischenplärren, wie Sie wollen. Sie haben darauf noch nie hingewiesen. Die FDP hat
sich vielmehr immer hinter den Steuerhinterziehern versteckt.
({10})
Das ist doch Ihre Politik. Ich brauche mir hier gar nicht
Ihre blöden Zwischenrufe anzuhören.
Uns geht es darum, dass Liechtenstein und andere
Steueroasen Amtshilfe leisten, dass die Steuerschlupflöcher gestopft werden und dass wir letztendlich zu mehr
Steuerehrlichkeit insgesamt kommen.
Ich sage Ihnen auch:
({11})
Es geht natürlich nicht, dass hinter jedem Bürger und jeder Bürgerin, hinter jedem Betrieb ein Betriebsprüfer
oder ein Steuerfahnder steht.
({12})
Es ist wichtig, dass wir in diesem Bereich mehr Personal
einstellen.
Herr Wissing, dort, wo die FDP mitregiert - Sie haben es vorhin angesprochen -, hat man in der Finanzverwaltung Stellen abgebaut. Beispielsweise in Hamburg ist
es so - ich weiß, dass dem eine föderale Entscheidung
vorausging -, dass die Zahl der durchgeführten Fahndungsprüfungen im Jahr 2002 noch bei knapp 1 800 gelegen hat. Im letzten Jahr wurde noch nicht einmal die
Hälfte durchgeführt. Das geht natürlich auch nicht. Man
muss einmal klipp und klar sagen: Da stimmt sehr vieles
in diesem Land nicht mehr.
Letzte Bemerkung. Ich finde es grundfalsch und halte
es für eine Verkehrung der Tatsachen, wenn der Überbringer der schlechten Nachricht zum Alleinschuldigen
gemacht wird. Wer Steuern hinterzieht, macht sich
schuldig. Wir gehen davon aus, dass Liechtenstein
Amtshilfe leistet, um das Ganze vernünftig aufzuklären.
Danke schön.
({13})
Der Kollege Ortwin Runde spricht nun für die SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich weiß nicht, wie es Ihnen gegangen ist. Wenn man
hört, dass jemand, der 3 Millionen Euro im Jahr verdient, der noch Aktienoptionen hat, der im Leben richtig
erfolgreich gewesen ist, muss man sich doch fragen, wie
so jemand auf die Idee kommen kann, sein Lebenswerk,
sein Ansehen, seinen Ruf aufs Spiel zu setzen. Das ist etwas, worüber man nachdenken muss.
({0})
In letzter Zeit häuft sich das unter den Managern und
den Reichen. Es gilt, darüber nachzudenken, was der
Hintergrund ist. Dazu muss ich sagen: Diese unmoralischen Verhaltensweisen - die gibt es auch bei Boni oder
Abfindungen oder in Form der Steuerhinterziehung - haben ein bisschen mit der Entwurzelung dieser Leute zu
tun. Sie stellen sich außerhalb der Gesellschaft. Sie sind
nicht mehr im Wertesystem unseres Gemeinwesens verankert. Diese Erscheinungsform in der Globalisierung
stimmt tief nachdenklich.
Die Tatsache, dass diese Leute gleichzeitig die Unternehmensleitbilder bestimmen, mit denen sie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern beibringen,
({1})
wie sie sich redlich zu verhalten haben, als Voraussetzung dafür nämlich, dass das Ganze funktioniert, ist eine
Bankrotterklärung. Wir befinden uns in einer tiefen
Krise.
({2})
Herr Wissing, in Ihrer Rede haben Sie gerade noch
eingeräumt: Steuerhinterziehung ist eine Straftat; das ist
nichts, worüber man irgendwie hinwegkommen kann.
({3})
Aber dann haben Sie schon angefangen, alle Entschuldigungsgründe aufzuzählen. Sie haben gesagt: Man muss
ein bisschen Verständnis haben. Man muss bedenken,
dass die so gequält werden.
({4})
Dann gibt es noch den Bund der Steuerzahler - oder, wie
man ihn besser nennen könnte, den Bund der Steuerhinterzieher -, der immer aufführt, dass die staatlichen Mittel nicht vernünftig eingesetzt werden.
({5})
Wir bräuchten wirklich ein etwas anderes Staatsbewusstsein. In Skandinavien etwa ist man stolz darauf,
wenn man Steuern zahlt, weil man dann etwas für sein
Gemeinwesen, für die Zukunftsfähigkeit, für Bildungsinfrastruktur usw. leistet.
({6})
Für jede Scheißkinokarte wird ganz selbstverständlich
gezahlt, aber für das Gemeinwesen will man hier nicht
zahlen. Das ist schon eine merkwürdige Geisteshaltung.
Da spielt auch der Professor aus Heidelberg eine
Rolle.
({7})
Den habe ich heute im Deutschlandfunk gehört. Mir
standen die Haare zu Berge! Er äußerte viel Verständnis
und sagte: Wenn das Steuersystem einfacher wäre, dann
hätten wir diese Steuerhinterziehung nicht. - Das sind
wirklich merkwürdige Ansätze.
({8})
Wenn ich an die Zahl der Reden im Bundestag denke,
in denen mangelnder Stolz auf den Staat und die staatliche Leistung zum Ausdruck kommt, wird mir ein bisschen klar, woher diese Erosion von Moral und Werten
kommt.
({9})
Wir alle können dazu beitragen, dass sich das ändert.
Aber wer sich die Debatten der letzten Jahre vor Augen
führt, erkennt: Wenn es darum ging, die Handlungsfähigkeit des Staates in dem Bereich und besonders die
Bekämpfung von Steuerhinterziehung zu verbessern,
dann waren Sie von der FDP es, die gesagt haben: „Identitätsnummer, das gibt es nicht; Kontenabfrage, das gibt
es nicht“ usw. usf. Ich könnte ein ganzes Register aufmachen. Sie müssen mir einmal ein Beispiel dafür nennen,
dass Sie wirklich etwas getan haben, um die Handlungsfähigkeit des Staates und der staatlichen Institutionen zu
erhöhen. Sie müssen ein bisschen in sich gehen und sich
klarmachen, was Sie dabei sind anzurichten.
Wenn Politiker über Raffke-Mentalität sprechen, aber
gleichzeitig Stellen bei der Steuerfahndung kräftig abbauen, ist das erschreckend. Ich war einmal Finanzsenator, ich war Bürgermeister und habe die Steuerfahndung
ausgebaut.
({10})
2001 hatten wir in Hamburg noch 60 Steuerfahnder;
heute sind es nur noch 49. Frau Scheel hat gesagt, wie
sich die Zahl der Verfahren verringert hat. Wir haben
heute 20 Prozent weniger Steuerfahnder. Dann kann ich
mich aber nicht sonntags hinstellen und sagen: Wir müssen die Raffkes bekämpfen.
Es gilt, die Möglichkeiten des Staates wirklich zu verbessern. Natürlich gehört dazu, eine Trutzburg wie das
Fürstentum Liechtenstein trockenzulegen.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Werte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jede Form von Steuerhinterziehung ist kriminell.
Das stelle ich klipp und klar fest. Aber zur erfolgreichen
Steuerhinterziehung gehören immer zwei: einer, der die
dafür nötige kriminelle Energie aufbringt, und ein Staat,
der dies zulässt.
Dank der Regierungspolitik der letzten Jahre sind
Einkommen und Vermögen in Deutschland zunehmend
ungleicher verteilt. Entsprechend wurden auch die Anreize und die Möglichkeiten zur Steuerhinterziehung
ausgebaut. Menschen ohne Einkommen, ALG-II-Bezieherinnen und -Bezieher, unterliegen im Prinzip einer
vollständigen Kontrolle. Bei Arbeitseinkommen wird
die Lohnsteuer umgehend abgeführt. Aber Reiche und
Vermögende haben in den letzten Jahren unter der rotgrünen und unter der Großen Koalition massive Entlastungen erfahren, beispielsweise durch die Senkung des
Spitzensteuersatzes, der bei Helmut Kohl noch
53 Prozent betrug und inzwischen nur noch 42 Prozent
beträgt.
Das reicht Betuchten wie Herrn Zumwinkel offenbar
nicht aus. Sie wenden viel kriminelle Energie auf, um
ihre Steuerpflicht auf eigene Faust noch weiter zu senken. Die Bundesregierungen haben dafür gesorgt, dass
entsprechende Gesetzeslücken existieren.
({0})
Mit der Abgeltungsteuer wird ab 1. Januar eine zusätzliche große Lücke entstehen. Zukünftig werden insbesondere die Besserverdienenden ihre Kapitaleinkünfte
- viele Menschen haben ja überhaupt keine - gar nicht
mehr angeben. Damit erhalten die Finanzbehörden nicht
einmal mehr einen Hauch von Informationen über die
Kapitaleinkünfte. Nach Aussagen der Deutschen SteuerGewerkschaft führt oft aber nur eine Spur die Finanzbehörden zu nicht angezeigten Kapitaleinkünften. Zukünftig werden die Finanzbehörden vollständig im Dunkeln
tappen, und dafür sind Sie verantwortlich.
({1})
Glauben Sie etwa, dass durch die Abgeltungsteuer
und die Senkung des Steuersatzes auf nur noch
25 Prozent, wodurch Menschen mit geringen Kapitaleinkünften mehr belastet und die mit hohen Einkünften zusätzlich entlastet werden,
({2})
Steuerhinterzieher veranlasst werden, jetzt auf einmal
die Steuern zu zahlen? Ich erinnere nur an den Flop von
Herrn Eichel mit der Steueramnestie. Es wurde versprochen, 4 Milliarden Euro kämen wieder herein, aber
nichts geschah.
({3})
Die Raffgier vieler Besserverdienender kennt offenbar
keine Grenzen.
Das Problem der Steuerhinterziehung ist seit Jahren
bekannt. Grund hierfür ist natürlich die unterschiedlich
hohe Besteuerung der Kapitaleinkünfte im internationalen Bereich inklusive des Vorhandenseins von Steueroasen. Die Deutsche Steuer-Gewerkschaft geht davon aus,
dass jährlich 400 Milliarden Euro illegal ins Ausland
verbracht werden.
({4})
Daraus errechnen sich etwa 30 Milliarden Euro Steuerhinterziehung pro Jahr.
({5})
Solange dieses internationale Steuergefälle existiert,
wird es natürlich legal über Steuervermeidung und illegal über Steuerhinterziehung ausgenutzt werden. Aber
- ein ganz großes Aber - die Bundesregierungen der
letzten Jahre beteiligen sich doch an der Aufrechterhaltung dieses internationalen Steuergefälles.
({6})
Deutschland ist die größte Volkswirtschaft in Europa,
und wir hätten natürlich die Kraft, hier Druck auszuüben. Aber seit 1998 werden immer wieder, sowohl von
Rot-Grün als auch von der Großen Koalition, mit Hinweis auf den internationalen Steuerwettbewerb die Steuersätze für Kapitaleinkünfte gesenkt. Das reicht Herrn
Zumwinkel offenbar nicht.
Die Senkung von Steuersätzen kann doch wohl nicht
die gerechte und richtige Antwort auf Steuervermeidung
und Steuerflucht sein.
({7})
Hier brauchen wir eine andere Politik. Wir brauchen
keine direkte Beteiligung am internationalen Steuerwettbewerb. In den Diskussionen hört man vom Unterschied
zwischen fairem und schädlichem Steuerwettbewerb.
Wo ziehen Sie denn, bitte schön, die Grenze?
Herr Huber von der CSU hat jetzt festgestellt: Ja,
auch die Schweiz ist eine Steueroase. Ich zitiere einmal
aus dem SWR vom 29. November: Gern gesehene Kunden von Bankfilialen in Südbaden sind
Schweizer „Steuerflüchtlinge“. Wer seine Franken
in Deutschland anlegt, spart nämlich die Quellensteuer von 35 Prozent …
Aus Sicht der Schweiz ist Deutschland also durchaus
heute schon eine Steueroase. Statt weiterer Steuersenkungsrunden im internationalen Steuerwettbewerb, wie
in diesem Jahr wieder durch die Unternehmensteuerreform praktiziert, gilt es, sich wirklich für eine internationale Steuerharmonisierung einzusetzen, zumindest auf
EU-Ebene. Wir könnten das.
Natürlich brauchen wir ein umfassendes, automatisches, international installiertes Informationssystem.
Dazu gehört auch die weltweite Aufhebung des Bankgeheimnisses. Ja, dazu stehen wir. Ich möchte hierzu auf
Aussagen des OECD-Generalsekretärs verweisen, der
sagte, ein „exzessives Bankgeheimnis“ sei ein Relikt aus
vergangenen Zeiten und dürfte nicht mehr Gegenstand
der Beziehungen demokratischer Gesellschaften sein.
({8})
Lassen Sie mich abschließend einmal daran erinnern,
wie die USA agiert haben. Die USA haben durchgesetzt,
dass auch die Steueroase Liechtenstein gegenüber den
US-Steuerbehörden alle Informations- und Zahlungspflichten erfüllt, die aus der US-Quellensteuer herrühren; denn die USA haben Liechtenstein gedroht, andernfalls den Zugang zum US-Kapitalmarkt zu verwehren.
Die USA haben ihre wirtschaftliche Macht entsprechend
eingesetzt. Warum bringen wir hier nicht endlich einmal
den Mut auf, tatsächlich zu handeln? Dazu fordern wir
Sie auf!
Danke.
({9})
Das Wort hat der Kollege Dr. Hans Michelbach für
die Unionsfraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Deutschland ist kein Land von Steuerhinterziehern. Es geht hier zuvörderst um die kriminelle Energie
Einzelner, die rechtsstaatlich zu verfolgen sind. Natürlich gibt es keine Rechtfertigung für Steuerbetrüger, aber
ein Defekt unseres Wirtschaftssystems lässt sich aus diesen kriminellen Machenschaften von Steuerbetrügern
nach meiner Ansicht nicht ableiten. Den Versuch, beides
miteinander in Verbindung zu bringen, wie wir ihn im
Moment erleben, müssen wir gemeinsam im Interesse
unserer sozialen Marktwirtschaft und unseres freiheitlichen Rechtsstaates zurückweisen.
({0})
Nicht der mutmaßlich schwere Verstoß Einzelner gegen Steuergesetze ist die größte Gefahr für unsere freiheitliche Wirtschaftsordnung. Ich bin mir ganz sicher:
Damit wird unser Rechtsstaat schon fertig. Eine weitaus
größere Gefahr sehe ich in einer Diffamierungskampagne gegen unser Wirtschaftssystem, in der Äußerung eines Generalverdachtes gegen die Wirtschaftstreibenden
oder auch in einer pauschalen Hexenjagd gegen die Unternehmer, wie dies leider in diesen Tagen zu hören war.
({1})
- Sehen Sie, Ihre Wortmeldung zeigt ja, wessen Geistes
Kind Sie sind. - Ich warne ausdrücklich vor Pauschalverurteilungen der sozialen Marktwirtschaft und der großen Masse der verantwortungsbewussten Unternehmer.
Das ist nichts anderes als Populismus.
({2})
Ruhige, ernsthafte und sachbezogene Bewertung der
nachlassenden Steuermoral ist jetzt gefragt. Woran das
liegt, muss aufgearbeitet werden, ohne Populismus und
Vorverurteilungen.
({3})
Ich warne ausdrücklich vor der Beschädigung der sozialen Marktwirtschaft durch diese Steuerhinterziehungsdebatte.
({4})
Es ging in den letzten Tagen vielen doch nicht um
rechtsstaatliche Aufklärung, sondern um Wahlkampf,
um Klassenkampf pur und natürlich um kurzfristige politische Vorteile. Das ist die Situation.
({5})
Frau Höll, wie stellen Sie sich denn eigentlich Steuerwettbewerb zwischen freien Ländern vor? Wir können
doch gar nicht bestimmen, welche Steuerregeln und
Steuergesetze im Ausland beschlossen werden. Es ist
doch nicht so wie früher, dass das in Moskau beschlossen wird und Sie das zu befolgen haben.
({6})
Letztendlich leben wir in einer freiheitlichen Gesellschaft. Die soziale Marktwirtschaft - das ist der Kernpunkt - ist das Fundament unseres Wohlstandes und bedeutet den Zusammenhalt unserer Gesellschaft.
Die meisten Unternehmer erfüllen eine Vorbildfunktion; sie stehen für den moralischen Grundkonsens, für
Anstand und für eine erfolgreiche soziale Marktwirtschaft in Deutschland. Es wird Zeit, dass sich diese Menschen auch gegen vordergründige Kampagnen zur Wehr
setzen. Deutschland ginge es natürlich ohne Zweifel besser, wenn der eine oder andere hochdotierte Konzernmanager das gleiche Verantwortungsbewusstsein wie der
persönlich haftende Familienunternehmer an den Tag legen würde. Aber wir müssen, wenn solche Debatten geführt werden, immer bedenken: 70 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland arbeiten in mittelständischen
Familienunternehmen. Deswegen können wir mit einem
solchen Generalverdacht und einer Hexenjagd auf Unternehmer großen Schaden anrichten.
({7})
Deshalb muss das unterbleiben.
({8})
Ich kann Ihnen deutlich sagen: All das, was ich in den
letzten Tagen gehört habe - Ruf nach härteren Strafen,
nach einer Bundessteuerverwaltung, nach Druck auf
Steueroasen, nach Vereinfachung des Steuersystems -,
ist es wert, diskutiert zu werden. Alle diese Punkte sind
im Rahmen eines Wertekanons, einer Werteordnung zu
diskutieren, aber nicht mit Schnellschüssen, Vorverurteilungen und Generalverdacht, wie das jetzt passiert.
({9})
Die öffentliche Inszenierung und die politische Hetzjagd der letzten Jahre dienen unserem Standort nicht.
Lassen Sie uns eine ruhige, ernsthafte und sachbezogene
Aufarbeitung des Problems der Steuermoral in unserem
Land
({10})
angehen. Das ist der richtige Ausgangspunkt. Alles andere kann man hier nicht akzeptieren.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Ludwig Stiegler für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben ja gerade das Wilhelm-Busch-Jahr, und der hat einmal geschrieben: Die Tugend - dieser Satz steht fest - ist
stets das Böse, das man lässt. - Deshalb möchte ich mich
auf das konzentrieren, was wir tun können, um die Tugend zu fördern. Mangel an Gelegenheit bedeutete schon
immer eine große Förderung der Tugend. Viele Sünden
sind vermieden worden, weil sich das Gebüsch nicht bot.
({0})
Deshalb, meine Damen und Herren, kommt es darauf
an: Was tun wir, um strukturell zu helfen? Das Erste ist:
Liechtenstein muss kooperieren. Ich habe da ein schönes
Interview von Egon Matt, Chef der Liechtensteiner Opposition, gelesen, in dem er sagt:
Es gibt etwa 80 000 Stiftungen im Land - das Stiftungsgeschäft gehört zum Finanzplatz, es generiert
20 Prozent der Staatseinnahmen. … Eine Liechtensteiner Stiftung ist nichts anderes als ein Mantel um
ein Vermögen, das man nach außen nicht deklarieren möchte.
Wenn der Großfürst jetzt den Weltsicherheitsrat anruft, weil der Bundesadler den Zaunkönig fressen will,
({1})
dann sagen wir ihm: Luxemburg muss mit Deutschland
kooperieren - ({2})
- Liechtenstein - die Luxemburger haben das schon früher gemacht, das ist wahr; sie sind zwei Jahre voraus muss mit Deutschland kooperieren. Die Amerikaner haben es ja erzwungen. Ich empfehle die Website
www.irs.gov. Da sehen Sie all die Auflagen, die die
Liechtensteiner gegenüber den Amerikanern erfüllen.
Liechtenstein will jetzt in den Schengen-Raum. Sollen
wir zur Belohnung für ihre Leistungen jetzt die freie
Durchfahrt für die Geldkofferautos genehmigen, ohne
dass sie kooperieren?
({3})
Aufgrund ihrer Zollgemeinschaft mit der Schweiz
sind die Liechtensteiner darauf angewiesen, dass sie dem
Schengen-Raum beitreten können. Wir sagen deshalb:
Liebe Freunde, nur wenn ihr bei der Durchsetzung der
Steuergesetze kooperiert, so wie ihr es im Fall Amerika
tut, dann könnt ihr dem Schengen-Raum beitreten. - Wir
machen das Schlupfloch doch nicht noch größer. Das
müssen wir mit den Liechtensteiner Freunden ernsthaft
besprechen. Es gibt überhaupt keinen Grund für sie, sich
zu beklagen. Wer sein Land quasi wie eine Räuberhöhle
einrichtet, der darf sich nicht wundern, dass sich andere
zur Wehr setzen. Das ist doch eine klare Sache.
({4})
Ein weiterer Punkt. Wir müssen auch bei uns einiges
ändern. Das betrifft zum Beispiel die Einstellung der Berater. Der Kollege Joachim Poß hat sich den Präsidenten
des Deutschen Steuerberaterverbandes vorgenommen,
der doch glatt erklärt hat - wie die Liechtensteiner; als
ob er deren Mandat hätte -, dass das kriminelle Verhalten eine Folge nicht gerechtfertigter und zu komplizierter Steuergesetzgebung sei. Das ist schon erstaunlich.
Als ob diese Leute die Steuergesetze nicht verstünden!
Sie haben doch ganze Bataillone von Juristen, die ihnen
sagen, wie sie die Steuergesetze umgehen können.
Wir brauchen deshalb eine andere Einstellung der Berater. Ich gehe noch einen Schritt weiter: Wer solche
Steuersparmodelle entwirft und die Leute zur Steuerhinterziehung verleitet, der muss mit berufsrechtlichen
Konsequenzen rechnen. Man kann die Sache nicht einfach laufen lassen, dass eine ganze Beratungsindustrie
daran verdient, den Staat um seine Revenuen zu bringen.
({5})
Ich schlage vor, dass der Finanzminister eine
Taskforce einrichtet, die all diese Prospekte auswertet
und all diese Seminare beobachtet, sodass man sofort reagieren kann.
({6})
Was bekommen wir schon wieder täglich Anzeigen von
Seminaren zu sehen, bei denen es um die Hinterziehung
der Quellensteuer geht. Es handelt sich regelrecht um
eine Beratungsindustrie, die viel Geld damit verdient.
Auch diesen Sumpf müssen wir austrocknen. Wir werden nur dann auf den Pfad der Tugend zurückkehren,
wenn die Zahl der Gelegenheiten, die es in den letzten
Jahren in reichlichem Maße gab, nicht mehr so groß ist.
({7})
Wir können eine Menge Lektionen lernen. Liechtenstein muss kooperieren, und wir müssen mit denen, die
im Inland das Geschäft betreiben, robust umgehen.
({8})
Nun hat der Kollege Eckhardt Rehberg aus der
Unionsfraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Frau Kollegin Höll, ich bin ebenfalls für die
weltweite Aufhebung des Bankgeheimnisses. Insbesondere verspreche ich mir viel davon, das Geheimnis um
das eine oder andere Konto in Liechtenstein zu lüften.
Ich habe dazu einen durchaus interessanten Artikel in einer heute erschienenen Zeitschrift gelesen. Der Deutsche
Bundestag musste sich 16 Jahre lang im Rahmen der unabhängigen Kommission, die sich mit dem SED-Vermögen befasste, anstrengen, um 1 Milliarde herauszuholen.
Ich bin fest davon überzeugt, dass ehemaliges SEDEckhardt Rehberg
bzw. PDS-Vermögen weltweit noch auftauchen würde.
Partiell in diesem Punkt stimme ich also Ihrem Vorschlag ganz ausdrücklich zu.
({0})
- Wer im Glashaus sitzt, der sollte nicht mit so vielen
Steinen werfen.
Herr Kollege Stiegler, Sie sind aus meiner Sicht zu
Recht auf das eingegangen, was Liechtenstein betrifft.
Ein Bankgeheimnis kann nicht sakrosankt sein; Kontrollmeldungen müssen möglich sein. Erlauben Sie mir
nur die Bemerkung - auch mit Blick auf Frau Scheel und
Herrn Kuhn -: Das wäre nicht nur eine Aufgabe ab Januar/Februar 2008, sondern man hätte auch früher schon
etwas mehr Druck machen müssen und auch können.
Herr Kollege Stiegler, ich gebe Ihnen ausdrücklich recht,
dass der Beitritt zum Schengen-Abkommen ein richtiger
Zeitpunkt ist, diese Punkte anzusprechen. Ich schließe
mich aber Ihrem Begriff „Räuberhöhle“ ausdrücklich
nicht an.
({1})
Es kommt nicht nur im Falle Liechtensteins darauf an,
für transparente Verhältnisse zu sorgen. Das gilt auch für
andere Steueroasen, die es auf dieser Welt noch gibt.
Nur, wir sollten uns an dieser Stelle nicht überheben.
Lassen Sie mich auf die Neiddebatte zu sprechen
kommen. Ich will ganz unvoreingenommen zumindest
eine Stimme zitieren - es gibt derer aber noch viel mehr
in den Tageszeitungen -:
Steuerhinterziehung ist nicht allein das Privileg von
Managern, Sportlern oder Künstlern, die ihre private Rendite steigern wollen. Der bewusste Betrug
des Finanzamts ist ein Massenphänomen in
Deutschland. In kaum einem anderen Land verwenden die Bürger so viel Zeit damit, den Fiskus für
dumm zu verkaufen.
Beides ist kein Kavaliersdelikt: Steuerbetrug und
auch Sozialbetrug.
({2})
Wir sollten im Augenblick ein bisschen aufpassen, die
Gewichte nicht zu verschieben und zu verlagern, nur
weil es auf der einen Seite nicht nur um zwei- oder dreistellige Beträge, sondern um vier-, fünf-, sechs-, sieben-,
acht- oder neunstellige Beträge geht. Wir müssen dem
Bürger klarmachen - da gebe ich Ihnen, Herr Kollege
Runde, ausdrücklich recht -, was es bedeutet, den Staat
zu betrügen. Auch wenn im Zusammenhang mit
Hartz IV betrogen wird, betrifft dies Steuergelder. Wenn
beim Arbeitslosengeld I betrogen wird, geht es um Sozialbeiträge. Wer Steuern hinterzieht, entzieht dem Staat,
uns allen, Mittel für den Infrastrukturausbau, die Bildung usw. Der Bürger muss wieder sagen: Diese Mittel
braucht der Staat, weil es für uns, weil es für mich ist.
Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung zum Steuersystem machen. Das Steuersystem ist hochkompliziert.
An der einen oder anderen Stelle konnte man merken,
was für eine Debatte entsteht, wenn man Missbrauch
vorbeugen will. Ich nenne zum Beispiel die Einführung
der elektronischen Lohnsteuerkarte bzw. die Abschaffung der Lohnsteuerkarte ab 2011. Was habe ich hierzu
von einigen Fraktionen im Wirtschaftsausschuss gehört!
Erst die Einführung der elektronischen Lohnsteuerkarte
wird eine Vernetzung der Daten möglich machen, die
jetzt überwiegend nur bei den Meldebehörden vorliegen.
Manche fordern, wenn wir hinter Betrügereien - egal auf
welcher Ebene - kommen wollen, Dinge, die natürlich
sehr viel mit Datenschutz zu tun haben. Deswegen muss
derjenige, der das eine will, auch das andere akzeptieren.
Angesichts dessen, dass 30 Prozent der Steuerpflichtigen nicht einmal 1 Prozent des Steueraufkommens tragen - auch das sollte man einmal deutlich machen; das
sind diejenigen, die ein Jahreseinkommen von unter
17 000 Euro haben -, frage ich mich wirklich, Frau Kollegin Höll, was diese Neiddebatte an dieser Stelle soll.
Wir sollten hier keine Neiddebatte führen. Es ist doch so,
dass die Einkommensstarken weit über die Hälfte des
Steueraufkommens tragen. Wir sollten deutlich machen:
Es ist mehr als zu hinterfragen, es ist verwerflich und es
ist teilweise kriminell, wenn jemand im Sozialbereich
oder im Steuerbereich betrügt. Es bringt dieser Gesellschaft überhaupt nichts, wenn wir die eine Gruppe gegen
die andere Gruppe ausspielen.
Danke.
({3})
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Gabriele
Frechen das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Auf OECD-Ebene und auf EU-Ebene - nicht
zuletzt mit der EU-Zinsrichtlinie - wird daran gearbeitet,
faire Bedingungen für die Staaten untereinander zu
schaffen, damit sie ihre Steueransprüche durchsetzen
können. Liechtenstein - so ist in den Berichten der
OECD zu lesen - gehört zu den unkooperativen Staaten.
Ich denke, das sollte man vor Augen haben, wenn man
momentan die Ansprüche und die Aussagen der zuständigen Herren aus Liechtenstein hört. Deutschland wird
aufgrund der internationalen Verflechtungen sicherlich
nichts im Alleingang erreichen. Aber wir haben Möglichkeiten, die wir nutzen können. Nur, wir müssen sie
auch nutzen wollen. Ich bin kein misstrauischer Mensch
- ich glaube, das habe ich hier schon einmal gesagt -,
aber ich glaube an die präventive Kraft des Entdeckungsrisikos.
({0})
Das heißt: Wenn wir das Risiko, entdeckt zu werden, so
hoch machen, dass man es schon allein deshalb bleiben
lässt, dann können es meines Erachtens nur noch Steuerjunkies sein, die Steuerhinterziehung betreiben. Die einen machen Bungeejumping, die anderen gehen ins Kasino, um alles zu verlieren, und einigen gibt es halt einen
Kick, den Staat und die Allgemeinheit zu bescheißen.
An die werden wir nie herankommen, egal wie niedrig
unsere Steuersätze sind. Deshalb müssen Finanzbehörden in der Lage sein, im Veranlagungsbereich zu kontrollieren und Betriebsprüfungen durchzuführen.
Mein Heimatland Nordrhein-Westfalen hat im Jahr
2003 - wir wissen alle, dass damals Rot-Grün in NRW
regierte - 2 932 Bezieher von Einkünften in Höhe von
mehr als 500 000 Euro geprüft, was zu Mehreinnahmen
in Höhe von 67 Millionen Euro führte. Bei der Prüfung
von Banken betrug das Mehrergebnis 1,9 Milliarden
Euro. Der Finanzminister der schwarz-gelben Regierung
fährt jetzt aber den genau gegenläufigen Kurs, der meines Erachtens fatal ist: Er will 931 Stellen streichen, davon 165 im Bereich der Betriebsprüfung und 25 bei der
Steuerfahndung.
({1})
Sollte unsere föderale Struktur dazu führen, dass der
Bund nur noch Gesetze macht, die die Länder nicht mehr
vollziehen, müssten wir im Ernst über eine Bundessteuerverwaltung nachdenken.
({2})
Als Erklärung für Steuerhinterziehung habe ich in den
letzten Tagen zwei Argumente gehört: Das eine ist, dass
unsere Steuersätze zu hoch sind, und das andere, dass
unser Steuerrecht zu komplex ist. Beides lasse ich nicht
durchgehen. Wer so einen Schwachsinn glaubt, der zieht
auch die Hose mit der Beißzange an. Unsere Steuersätze
- Frau Höll hat uns das eben vorgerechnet - sind deutlich gesunken. Nach Einführung der Abgeltungsteuer
wird der Steuersatz 25 Prozent betragen. Darum geht es
aber nicht. Nur wenn der Steuersatz bei 0 Prozent liegt,
ist der Steuersatz für diese Verbrecher, für diese Kriminellen niedrig genug.
({3})
- Ja, im Ernst.
({4})
Die Komplexheit unseres Steuerrechts als Argument
anzuführen, ist das Verrückteste überhaupt. Wer so viel
Geld hat, dass er es irgendwohin verschieben muss - in
eine Räuberhöhle, ein Steuerparadies, eine Steueroase
oder wie immer Sie es nennen wollen -, der hat zuvor
garantiert mit viel Geld alle legalen Tricks ausgenutzt,
um Steuern zu sparen. Das reicht solchen Leuten aber
noch nicht. Daher wird der Rest von den sauer erarbeiteten Millionen nach Liechtenstein geschafft. Dafür habe
ich überhaupt kein Verständnis. Das muss man beim Namen nennen, auch die Rolle, die Liechtenstein dabei
spielt. Wer verbreitet, dass es an diesen zwei Punkten
liegt, der macht sich meines Erachtens zum Steigbügelhalter dieser Steuerhinterzieher.
({5})
Auch die Verantwortlichen in Liechtenstein führten in
den letzten Tagen die Kompliziertheit unseres Steuerrechts an. Wenn der Botschafter Liechtensteins steuerliche Tipps für die Überarbeitung unseres komplexen
Steuersystems gibt, muss ich bei allem Respekt sagen:
Das Steuersystem Liechtensteins mag in einem Land mit
35 000 Einwohnern funktionieren. Dieses System auf
ein Land mit 82 Millionen Einwohnern zu übertragen,
das ganz andere Probleme und Herausforderungen zu
bewältigen hat, halte ich aber für ein Sandkastenspiel.
Das sage ich ganz eindeutig. Damit sollten wir uns nicht
länger abgeben.
({6})
Das mag vielleicht daran liegen, dass zu den 35 000 Einwohnern 75 000 Briefkästen hinzukommen. Die wollen
natürlich auch verwaltet werden.
({7})
Führungskräfte sind Vorbilder, und eine Führungskraft soll Werte vorleben, so zitiert die Mitarbeiterzeitung der Post Klaus Zumwinkel. Wenn es nicht so verlogen wäre, könnte man glatt anfangen, zu lachen. In
dieser Woche, in der die Zeitung erschienen ist, kann
man darüber aber noch nicht einmal lachen.
Kollegin Frechen, kommen Sie bei aller Empörung
bitte zum Schluss.
Sofort. - Was hat er eigentlich vorgelebt? Nimm alles
in Anspruch, gib möglichst wenig zurück! Wir verlangen
von Menschen, die zu uns kommen und bei uns leben
wollen, dass sie unsere Werte annehmen. Ich glaube, es
wird höchste Zeit, dass die Eliten in unserem Land das
auch wieder tun.
({0})
Kollegin Frechen, ich rege an, für die zukünftige populäre Beschreibung von empörenden Vorgängen parlamentarische Ausdrücke zu suchen.
Das Wort hat der Kollege Jörg-Otto Spiller für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Steuergesetze sind einzuhalten - so wie alle anderen Gesetze auch.
({0})
Warum haben wir heute diese Aktuelle Stunde? Es gibt
einen spektakulären Erfolg bei der Durchsetzung deutschen Steuerrechts. Ich bekunde Respekt vor der Bochumer Schwerpunktstaatsanwaltschaft und vor der guten
Arbeit des Bundesnachrichtendienstes.
({1})
Ich bin über manche selbsternannte Zumwinkel-Advokaten erstaunt, die uns glaubhaft machen wollen, es
liege am deutschen Steuerrecht, dass so viele Leute auf
die Idee kommen, sich der Steuerpflicht zu entziehen.
Mich hat besonders bedrückt, dass auch einige Kollegen
in dieser Richtung gesprochen haben. Ich muss auch sagen, dass ich kein Verständnis dafür habe - Kollege
Stiegler hat das erwähnt -, dass der Präsident des Deutschen Steuerberaterverbandes sagt: Die Gesetze, das
Steuerrecht verleite die Steuerzahler, sich Lücken zu suchen und Steuern zu hinterziehen. Herr Pinne schadet
damit dem Ansehen seines Berufsverbandes. Meine
Überzeugung ist - so wie Herr Bernhardt gesagt hat -:
Die Masse der deutschen Bürger ist steuerehrlich, und
die Masse der Steuerberater berät korrekt und gibt keine
Beihilfe zur Steuerhinterziehung.
({2})
Wir haben in den vergangenen Jahren - gerade auch
unter der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder - die Instrumente zur Durchsetzung des Steuerrechtes, des Steueranspruches erheblich verbessert,
({3})
und zwar gerade in dem Punkt, der besonders sensibel
war: bei der Erfassung von Kapitalerträgen, Herr
Wissing. Da geht es darum, dass man zunächst einmal
Kenntnisse hat. Wir haben durchgesetzt, dass alle Banken ihren Kunden am Ende des Jahres eine Aufstellung
über die Erträge geben. Diese Aufstellung ist dem Finanzamt vorzulegen. Wenn da getrickst wird, wenn das
Finanzamt den begründeten Verdacht hat, dass vielleicht
nur ein Teil der Erklärungen vorgelegt wurde und es
noch Erklärungen von anderen Banken gibt, dann greift
das Instrument der Kontenabfrage, wodurch die Behörde
feststellen kann, wo der Bürger ein Konto hat. Die Behörde erfährt nicht, welche Erträge oder Guthaben es
gibt. - Das ist ein wesentliches Instrument zur Durchsetzung des Steueranspruches.
Der wunde Punkt bei Kapitalerträgen: Wie verhält es
sich, wenn sie im Ausland anfallen? Wir haben auf europäischer Ebene mit der europäischen Zinsrichtlinie einen
Einstieg erreicht. Es gibt Mängel, aber es ist ein guter
Ansatz.
({4})
- Ja, es hat lange gedauert, und es war mühsam.
Zu den Ländern, die sich da ein bisschen schwertun
- sie gehören nicht zur EU -, gehört außer der Schweiz
auch Liechtenstein. Dazu zitiere ich, was der Oppositionsführer aus Liechtenstein gesagt hat: Wir müssen mit
unserem Nachbarn Deutschland kooperieren. - Das ist
genau der richtige Ansatz. Liechtenstein hat sich bei der
Zusammenarbeit bezüglich Geldwäsche und Verbrechen
im Bereich von organisierter Kriminalität bewegt. Der
nächste Schritt ist die faire Zusammenarbeit bei der Verfolgung von Steuerhinterziehung.
({5})
Wir haben eine lange gemeinsame Vergangenheit.
Noch im Jahre 1848 hat Liechtenstein zwei Abgeordnete
in die Frankfurter Paulskirche entsandt. Wir sollten also
gutnachbarschaftlich miteinander umgehen.
({6})
Es gibt noch eine Ermutigung: Jean-Claude Juncker,
der Regierungschef von Luxemburg, hat zu Recht darauf
hingewiesen, dass wir auf EU-Ebene und auf OECDEbene eine Verbesserung der Zusammenarbeit bei der
steuerlichen Erfassung von Kapitalerträgen brauchen.
Der Mann weiß, wovon er redet.
Kollege Spiller, das Licht zeigt Ihnen an, dass Ihre
Redezeit vorbei ist.
Ich finde, wenn Luxemburg diesen Vorstoß macht,
dann liegt es an Liechtenstein, dem zu folgen.
({0})
Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind am Schluss
unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 21. Februar 2008,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen einen
erfolgreichen und natürlich auch schönen Abend.