Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie
herzlich, wünsche uns allen einen guten Morgen sowie
für den heutigen Tag und insbesondere die unmittelbar
folgende Debatte besonders gute und intensive Beratungen.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, habe ich einige Mitteilungen zu machen. Der Kollege Dr. Klaus
Lippold begeht heute seinen 65. Geburtstag. Dazu gratuliere ich im Namen des ganzen Hauses herzlich.
({0})
Dieses beachtliche Ereignis haben in den vergangenen
Tagen noch vier weitere Kollegen feiern können, und
zwar der Kollege Wolfgang Spanier am 30. Januar, der
Kollege Paul Friedhoff am 2. Februar, der Kollege
Ernst Hinsken am 5. Februar und der Kollege
Dr. Hakki Keskin am 12. Februar. Auch ihnen gelten
unsere herzlichen Glückwünsche.
({1})
Schließlich möchte ich darauf hinweisen, dass der Kollege Clemens Bollen ebenfalls am 12. Februar seinen
60. Geburtstag gefeiert hat. Auch ihm gelten meine herzlichen Glückwünsche.
({2})
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste
aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
FDP:
Aussage der Bundeskanzlerin Dr. Angela
Merkel am 28. November 2007 „Der Aufschwung kommt bei den Menschen an“ und
die wirkliche Situation in Deutschland
({3})
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({4})
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Winfried Nachtwei, Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wehrpflichtige in Studium und Ausbildung
vollständig vor Einberufung schützen
- Drucksache 16/8044 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({5})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Fritz Kuhn, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine Bahnprivatisierung am Parlament vorbei
- Drucksache 16/8046 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({6})
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:
Haltung der Bundesregierung zu einer räumlichen und personellen Ausweitung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({7}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen
Trittin, Winfried Nachtwei, Kerstin Müller
({8}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für einen sicherheitspolitischen Kurswechsel
in Afghanistan - Nebeneinander von ISAF
und OEF beenden
- Drucksachen 16/5587, 16/6497 Redetext
Abgeordnete Bernd Schmidbauer
Gert Weisskirchen ({0})
Dr. Norman Paech
ZP 5 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Modernisierung der Aufsichtsstruktur der
Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht ({1})
- Drucksache 16/7078 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({2})
- Drucksache 16/8083 Berichterstattung:
Abgeordnete Leo Dautzenberg
Nina Hauer
Frank Schäffler
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten MarieLuise Dött, Katherina Reiche ({3}), Michael
Brand, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dirk
Becker, Marco Bülow, Dr. Axel Berg, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Das Erneuerbare-Energien-Gesetz darf nicht
durch europäische Vorgaben für einen Zertifikatehandel unterlaufen werden
- Drucksache 16/8047 ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Löning, Michael Link ({4}), Florian
Toncar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Gerichtliche und parlamentarische Kontrolle
von EU-Agenturen
- Drucksache 16/8049 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Darüber hinaus ist vorgesehen, den Tagesordnungspunkt 8 morgen nach dem Tagesordnungspunkt 23 aufzurufen. Der Tagesordnungspunkt 24 soll zusammen mit
dem Tagesordnungspunkt 22 beraten werden. Die Tagesordnungspunkte 15 und 16 sowie 17 und 18 werden jeweils getauscht. Der Tagesordnungspunkt 21 wird abgesetzt.
Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 133. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({5}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Begrenzung der mit Finanzinvestitionen verbundenen Risiken ({6})
- Drucksache 16/7438 überwiesen:
Finanzausschuss ({7})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ich frage, ob irgendjemand mit den vorgesehenen
Veränderungen nicht einverstanden ist. - Das ist offen-
kundig nicht der Fall. Dann haben wir das gemeinsam so
beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 e auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten René
Röspel, Ilse Aigner, Jörg Tauss und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Stammzellgesetzes
- Drucksache 16/7981 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({8})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ulrike
Flach, Rolf Stöckel, Katherina Reiche ({9})
und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes für eine menschenfreundliche Medizin - Gesetz zur Änderung des
Stammzellgesetzes
- Drucksache 16/7982 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({10})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Hubert
Hüppe, Marie-Luise Dött, Maria Eichhorn und
weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs
eines … Gesetzes zur Änderung des Gesetzes
zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im
Zusammenhang mit menschlichen embryonalen Stammzellen ({11})
- Drucksache 16/7983 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({12})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
d) Erste Beratung des von den Abgeordneten Priska
Hinz ({13}), Julia Klöckner, Dr. Herta
Däubler-Gmelin und weiteren Abgeordneten einPräsident Dr. Norbert Lammert
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Stammzellgesetzes
- Drucksache 16/7984 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({14})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska
Hinz ({15}), Julia Klöckner, Dr. Herta
Däubler-Gmelin und weiterer Abgeordneter
Keine Änderung des Stichtages im Stammzellgesetz - Adulte Stammzellforschung fördern
- Drucksache 16/7985 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({16})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer Vereinbarung zwischen den Fraktionen
sind für die Aussprache drei Stunden vorgesehen. Diese
Zeit soll im Wesentlichen nach dem Stärkeverhältnis der
Unterzeichner der unterschiedlichen Anträge verteilt
werden. Die Parlamentarischen Geschäftsführer haben
sich darauf verständigt, dass aufgrund der großen Anzahl der Redewünsche und der nur begrenzt zur Verfügung stehenden Zeit für die Aussprache die Reden der
Kolleginnen und Kollegen, deren Redewunsch nicht berücksichtigt werden kann, zu Protokoll gegeben werden
können. Ich vermute, dass es auch dazu Einvernehmen
gibt. - Das ist der Fall. Dann verfahren wir genau so.
Diejenigen, die die Debatte an den Bildschirmen verfolgen, weise ich darauf hin, dass im Unterschied zu dem
in diesem Haus sonst üblichen Verfahren keine Fraktionszugehörigkeiten angezeigt werden. Das mag den einen oder anderen zunächst irritieren, erklärt sich aber
aus der Debattenlage; denn wir verhandeln nicht über
Gesetzesinitiativen oder Anträge von Fraktionen, sondern über Anträge, die quer durch das Haus Unterstützung von Mitgliedern der einen wie der anderen Fraktion
gefunden haben, sodass eine Diskussionslage deutlich
wird - das wird sich in der Debatte gleich ganz sicher
herausstellen -, die mit den Fraktionszugehörigkeiten
nicht in unmittelbarem Zusammenhang steht.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen René Röspel. - Bitte schön, Sie haben das Wort.
({17})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vor sechs Jahren haben wir an dieser Stelle eine
grundsätzliche Debatte über die Forschung mit embryonalen Stammzellen geführt. Vorangegangen war der Antrag eines Forschers an die Deutsche Forschungsgemeinschaft, sich den Import embryonaler Stammzelllinien
aus dem Ausland finanzieren zu lassen. Es gab damals in
Deutschland keine Rechtslage, wie damit zu verfahren
ist. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat den Antrag so lange zurückgestellt, bis die Politik ein Votum
dazu abgeben konnte.
Wir haben viele Monate, fast anderthalb Jahre, in der
Öffentlichkeit, in den Medien, in der Politik und im Parlament sehr intensiv darüber diskutiert. Die EnqueteKommission hat im November 2001 einen sehr umfassenden und auch heute noch lesenswerten Bericht zur
Stammzellforschung abgegeben. Der Nationale Ethikrat
folgte wenige Wochen später. Wir haben damals sehr
viele Fragen aufgeworfen: Ab wann beginnt das
menschliche Leben? Ist der Embryo schon vom ersten
Tag an Träger der Menschenwürde? Wie geht man mit
Stammzelllinien um, die ohne unser Zutun - aber auch,
ohne dass wir es hätten verhindern können - im Ausland
aus Embryonen hergestellt worden sind? Wie stark kann
Forschungsfreiheit eingeschränkt werden?
Wir haben weder als Enquete-Kommission noch in
den Debatten allgemeingültige Antworten finden können; das wäre bei dieser ethischen Frage auch nicht möglich gewesen. Aber wir haben für die Grundsatzentscheidung, die alle Mitglieder dieses Hauses für sich allein
und ihrem Gewissen verpflichtet am 30. Januar haben
treffen müssen, Entscheidungshilfen geben können. Die
übergroße Mehrheit hat damals entschieden: Für deutsche Forschung soll kein Embryo zerstört werden.
Margot von Renesse, eine ehemalige Kollegin, drückte
es damals so aus: nicht in Deutschland und auch nicht im
Ausland. Es sollte von Deutschland aus kein Anreiz an
das Ausland gehen, dies zu tun.
({0})
Aber deutsche Forscher sollten - das war der Grundsatzbeschluss 2002 - unter bestimmten Bedingungen
mit bereits existierenden Stammzelllinien arbeiten dürfen. Diese Grundsatzentscheidung führte zum Stammzellgesetz, das wir im April 2002 beschlossen haben und
das den sogenannten Stichtag enthält, das heißt, vor dem
1. Januar 2002 im Ausland hergestellte embryonale
Stammzelllinien durften und dürfen nach Deutschland
importiert werden. Auch wenn ich persönlich bei der
Grundsatzentscheidung 2002 gegen den Import gestimmt habe, so habe ich den Kompromiss, das Stammzellgesetz, im April 2002 mitgetragen, und zwar aus guter Überzeugung. Er ist möglicherweise ein ethisch nicht
hundertprozentig konsequenter Kompromiss - wir haben
es auch nie als Kompromiss bezeichnet, sondern als Mittelweg -, aber er war ein guter politischer und guter gesellschaftlicher Kompromiss.
({1})
Denn er hat die lange Debatte, die vorher stattfand, befriedet. Dieser Rechtsfrieden hat auch seinen Wert. Ich
bin froh, dass es sechs Jahre lang gut vonstatten gegangen ist.
Heute und in den nächsten Wochen geht es darum, ob
dieser Kompromiss, dieser Mittelweg, Bestand hat, ob er
auf Dauer in den nächsten Jahren lebensfähig bleibt.
Dazu gehört nicht nur die Einhaltung der ethischen
Grenzlinien, die wir 2002 gezogen haben, sondern eben
auch die Einhaltung des Versprechens an die Forschung,
mit Stammzellen arbeiten zu können. Genau das ist der
Punkt, über den wir heute und in den nächsten Wochen
diskutieren werden.
Während der Grundsatzdebatte 2002 sind wir davon
ausgegangen - das stand auch so im Enquete-Bericht -,
dass weltweit etwa 60 Stammzelllinien existieren. Mittlerweile wissen wir: Heute sind für deutsche Forscher
21 Stammzelllinien verfügbar. Ich würde mir wünschen,
dass die deutschen Forscher mit diesen Stammzelllinien
noch viele Jahre arbeiten könnten; wer je mit Zellkulturen gearbeitet hat, weiß aber, dass sie sich verändern.
Nach meiner Einschätzung ist absehbar, dass mindestens
ein Teil dieser Stammzellen, die es heute noch für deutsche Forscher gibt, nicht mehr für die intendierten Forschungszwecke zu gebrauchen sein werden.
Im Antrag der Kolleginnen und Kollegen Hinz,
Klöckner, Hüppe und anderer wird diese Position bestätigt. Ich zitiere:
Probleme, die durch die Kultivierung von menschlichen embryonalen Stammzellen entstehen wie genetische/epigenetische Veränderungen, treten bei
allen menschlichen embryonalen Stammzellkulturen auf.
Embryonale Stammzellen sind im Allgemeinen instabil. Um über genetisch/epigenetisch stabile Kulturen zu verfügen, müssen diese regelmäßig ersetzt,
also immer wieder neue Embryonen getötet werden.
Weiter unten heißt es:
… da auch neue embryonale Stammzelllinien durch
die Kultivierung genetische/epigenetische Veränderungen aufweisen und damit unbrauchbar werden.
Ich sage: Das gilt natürlich erst recht für die 21 bestehenden Stammzelllinien. Auch sie werden sich verändern,
und zwar nachhaltig. Neue Embryonen zu töten, wie es
in dem Zitat zum Ausdruck kommt, wäre mit den im
Jahre 2002 vereinbarten ethischen Grundlinien nicht
vereinbar. Ich glaube, dafür gäbe es auch in diesem
Hause keine Mehrheit.
Ist denn der Ersatz oder die Ergänzung der bestehenden Stammzelllinien möglich, ohne diese Grenzlinien zu
überschreiten? Wie unserem Gesetzentwurf zu entnehmen ist, meinen wir: Ja, das ist möglich, nämlich mit einer einmaligen Verschiebung des Stichtags auf den
1. Mai 2007. Dann würde es dabei bleiben, dass erstens
für deutsche Forschung kein Embryo zerstört wird und
dass wir dadurch zweitens dem Ausland keinen Anreiz
geben, dies zu tun. Denn es ist nicht anzunehmen, dass
bis zum 1. Mai 2007 irgendjemand im Ausland damit
gerechnet hätte, für Deutschland Stammzelllinien produzieren zu können.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass laut DFG weltweit mittlerweile etwa 500 Stammzelllinien beschrieben
und anders, besser, etablierter und stabiler in Kultur gehalten sind, als es die von vor sechs Jahren waren. Vielleicht werden für deutsche Forscher in einiger Zeit
200 oder noch mehr Stammzelllinien verfügbar sein.
Das würde für viele Jahre guter Forschung reichen.
Meine Damen und Herren, im Jahre 2002 haben wir
aus meiner Sicht einen guten Weg eingeschlagen. Die
rot-grüne Bundesregierung hat den ethisch unproblematischen Weg der adulten Stammzellforschung deutlich
breiter angelegt und darin investiert. Frau Bundesministerin Schavan hat sogar noch eine Schippe draufgelegt.
Sie setzt diesen Kurs hervorragend fort. Beispielsweise
hat sie ein Programm zur Reprogrammierung von
Stammzellen zur Förderung ausgeschrieben. Das ist ein
vielversprechender Bereich.
Wir haben in der letzten Zeit viel von den Arbeiten
des japanischen Forschers Yamanaka gehört. Er hat es
tatsächlich geschafft, normale Hautzellen des Menschen
so weit zurückzuprogrammieren bzw. in einen Zustand
zurückzuversetzen, der fast dem einer embryonalen
Stammzelle gleicht. Daran wird das große Potenzial
deutlich, das sich aus der Entwicklung anderer Zellkulturarten ergibt. Das ist ein ethisch unproblematischer
Weg - so scheint es zumindest. Das ist nämlich nur dann
der Fall, wenn diese Hautzellen tatsächlich nicht zu embryonalen Stammzellen zurückentwickelt werden, die
Alleskönner sind.
Um das zu verhindern und die Grenze einzuziehen,
dass diese Hautzellen nicht so weit zurückentwickelt
werden, dass sie wieder zu embryonalen Stammzellen
werden, braucht man zum Vergleich sicherlich embryonale Stammzellen. Denn man muss der Frage nachgehen: Wann weisen diese Hautzellen die typischen Charakteristika einer Stammzelle auf? Möglicherweise bzw.
vermutlich betont der japanische Forscher Yamanaka,
dessen erklärtes Ziel es ist, dazu beizutragen, dass zukünftig auf embryonale Stammzellforschung verzichtet
werden kann, dass aus seiner Sicht in nächster Zukunft
noch nicht auf embryonale Stammzellforschung verzichtet werden kann.
Meine Damen und Herren, die Unterstützer unseres
Gesetzentwurfes kommen aus durchaus unterschiedlichen Richtungen. Frau Aigner und ich haben im
Jahr 2002 gegen den Import gestimmt, Kollege Tauss
und Kollegin Reimann dafür. Es gab sicherlich einige,
die damals noch weiter hätten gehen wollen und gehen
können. Wir haben uns zusammengefunden, weil wir ein
gemeinsames Interesse verfolgen: Wir wollen den Kompromiss, besser gesagt den Mittelweg von 2002 am Leben erhalten und fortführen.
({2})
Die anderen Vorschläge, die gemacht werden - die
embryonale Stammzellforschung ganz zu verbieten oder
den Stichtag abzuschaffen -, würden das sofortige Ende
dieses Kompromisses bedeuten. Den Stichtag unverändert beizubehalten, wie es in einem anderen vorliegenden Antrag vorgesehen ist - ich habe ausgeführt, dass
die Zahl der Stammzelllinien sinken wird -, würde zu einem Austrocknen dieses Kompromisses führen und hätte
sein schleichendes oder vielleicht sogar schnelles Ende
zur Folge. Das wäre falsch.
Mit der einmaligen Verschiebung des Stichtages wollen wir den erfolgreichen Mittelweg weiter beschreiten.
Wir wollen keine Embryonen zum Zweck der deutschen
Forschung zur Verfügung stellen und dem Ausland keinen Anreiz geben, das für die deutsche Forschung zu
tun. Wir wollen aber gewährleisten, dass deutsche Wissenschaftler in den nächsten Jahren genug Arbeit haben.
Ich lade Sie ein, den erfolgreichen Weg dieses Kompromisses, der Rechtsfrieden im Land gebracht hat, mit uns
weiterzugehen.
Vielen Dank.
({3})
Ich erteile das Wort der Kollegin Priska Hinz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bereits
seit über einem Jahr gibt es massive Forderungen, vor allem aus der Forschung, die Politik solle das Stammzellgesetz ändern. Herr Röspel hat Ihnen mitgeteilt, dass es
vor sechs Jahren nach schwieriger Abwägung zu einer
großen Mehrheit in diesem Haus dafür kam, einen Mittelweg zu beschreiten und ein Stammzellgesetz zu beschließen, das den Embryonenschutz hochhält, aber
gleichzeitig die embryonale Stammzellforschung unter
eng bestimmten Bedingungen zulässt.
Das wichtigste Argument für dieses Stammzellgesetz
war und ist der geltende Stichtag. Dazu kommen die Alternativlosigkeit der embryonalen Stammzellforschung
und die Hochrangigkeit der Forschungsziele. Bereits damals haben viele Mitglieder dieses Hauses diesen Kompromiss für zu weit gehend erachtet, weil sie der Meinung waren: Wenn man einmal die Tür aufgemacht hat,
landet man auf einer Rutschbahn, bei der nicht abzusehen ist, wohin sie führt.
Ich glaube, gerade aus diesem Grund müssen wir besondere Anforderungen stellen, wenn wir heute darüber
nachdenken, was sich in diesen sechs Jahren eigentlich
verändert hat und ob diese Veränderungen tatsächlich zu
einer Änderung des Stammzellgesetzes führen müssen.
Schauen wir uns das einmal an - auch mit einem Blick
auf das, was andere Länder tun -: Gibt es denn neue
ethische Erkenntnisse? Aus meiner Sicht nicht. Denn das
vielfach vorgebrachte Argument der Ethik des Heilens
ist zwar eine wichtige Leitlinie; aber die embryonale
Stammzellforschung kann heute wie 2002 keine dem
Embryonenschutz gleichwertige Hochrangigkeit oder
gar therapeutischen Erfolge für sich beanspruchen.
({0})
Weltweit glauben immer weniger Wissenschaftler daran,
irgendwann einmal eine Zellersatztherapie entwickeln
zu können.
Stattdessen haben sich die Forschungsziele geändert:
Embryonale Stammzellen werden inzwischen für die toxische Überprüfung von Medikamenten benutzt. Natürlich ist das eine wichtige Sache. Aber Hand aufs Herz:
Sind Medikamentenprüfungen wirklich der Grund, weshalb das Stammzellgesetz eingeführt wurde? Ist die embryonale Stammzellforschung zur Medikamentenüberprüfung wirklich ein hochrangiges Forschungsziel und
alternativlos? Wir sagen: Nein.
({1})
Gibt es neue wissenschaftliche Erkenntnisse? Natürlich, die gibt es. Die Forschung entwickelt sich ständig
weiter, führt zu neuen Erkenntnissen. Das gilt natürlich
auch für die Stammzellforschung. Aber man muss doch
sehen: Seit 2002 basieren die meisten Publikationen - das
gilt weltweit - auf der Forschung an Stammzelllinien,
die vor 2002 gewonnen wurden. Das heißt, in Deutschland ist Grundlagenforschung nach wie vor sehr wohl
möglich. Auch aus diesem Grund brauchen wir keine
Änderung des Gesetzes.
Natürlich sind Verunreinigungen ein Problem, aber
nicht nur bei den alten Stammzelllinien, Herr Röspel.
({2})
Auch die neuen Stammzelllinien sind verunreinigt. Es
gibt weltweit nur zwei Linien, die xenofrei sind. Diese
sind allerdings nicht standardisiert nach den sogenannten
GMP-Richtlinien; um jetzt mal Fachchinesisch zu sprechen. Das heißt, den Ansprüchen der DFG genügen
diese beiden Linien nicht. Auch das muss man in dieser
Debatte wissen.
({3})
Ich glaube deswegen nicht, dass wir, nur weil die Forscher sagen, sie brauchten neue Stammzelllinien, den
Kompromiss aufkündigen sollten. Die bedeutsamste
Frage ist doch: Haben die bisherigen Forschungsarbeiten
bewiesen, dass die embryonale Stammzellforschung im
Hinblick auf eine Therapie überhaupt Fortschritte
macht? Nein, das ist weder in Deutschland noch in den
Ländern der Fall, in denen eine andere Gesetzgebung
gilt und in denen es weder einen Stichtag noch sonstige
große Restriktionen gibt. Das heißt, der Wunsch, dass
man mit embryonaler Stammzellforschung schwere
Krankheiten heilen kann, bleibt bis heute ein Wunsch.
Da die Grundlagenforschung möglich ist, man aber
das Ziel, das mit dem Stammzellgesetz verfolgt wird,
nämlich Heilserwartungen zu erfüllen, nicht erreicht hat,
kann man nicht sagen, dass die Forschungsziele so hochrangig sind, dass man den Stichtag zur Disposition stellen kann.
({4})
Priska Hinz ({5})
Uns, die wir gegen die Verschiebung des Stichtages
sind, wird oft Fortschrittsfeindlichkeit oder sogar Wissenschaftsfeindlichkeit unterstellt.
({6})
Ich muss sagen: Das ärgert mich. Es gibt nämlich keine
wissenschaftlichen Beweise für den Glauben, dass die
Nutzung neuer embryonaler Stammzellen zu mehr Heilungschancen führt. Es gibt keinen seriösen Wissenschaftler, der bereits sagen könnte, dass klinische Versuche in irgendeiner Form in absehbarer Zeit möglich sind.
Dafür ist die Tumorgefahr zu groß.
In Deutschland und weltweit werden demgegenüber
große Schritte in der sogenannten alternativen Stammzellforschung, der adulten Stammzellforschung, gemacht. Wir sind nicht wissenschaftsfeindlich. Wir wollen die Forschung stützen und fördern, die tatsächlich
Aussicht auf Erfolg hat, nämlich die adulte Stammzellforschung.
({7})
Die Reprogrammierung von Hautzellen oder das Gewinnen von Stammzellen aus Nabelschnurblut und Hoden - all diese Forschritte hat es in den letzten sechs Jahren gegeben. Auch von daher muss man sich überlegen,
ob die embryonale Stammzellforschung unter den heutigen Gesichtspunkten wirklich alternativlos ist und ob
man - ich sage es einmal so - den Stichtag verschieben
muss, nur weil Stammzelllinien instabil werden. Auch
die neuen Linien, die seit 2002 gewonnen wurden, sind
instabil. Das ist immanent. Wenn es Entwicklungen hin
zu einer anderen, besseren und ethisch unbedenklicheren
Forschung gibt, dann sollte man sich wirklich überlegen,
ob man nicht diesen Weg geht und fördert und das Bisherige auf dem Level belässt, auf dem es sich jetzt befindet. Grundlagenforschung ja, etwas anderes brauchen
wir aber nicht.
({8})
Meine Damen und Herren, es gibt auch noch ein anderes Argument, das uns immer wieder vorgehalten
wird: Die Stichtagsverschiebung sei notwendig, weil wir
jetzt neue Linien brauchen, um später ganz darauf verzichten zu können - das allein finde ich schon eine fragwürdige Vorstellung -, und wir bräuchten die neuen Linien für die vergleichende Forschung.
Herr Röspel hat eben auf den Yamanaka-Erfolg bei
der Reprogrammierung von Hautzellen hingewiesen.
Der Forscher Yamanaka hat für die vergleichende Forschung aber Stammzelllinien von 1998 genutzt, das
heißt, Stammzelllinien, die auch bei uns in Gebrauch
sind und zugelassen werden können. Allein auf die Vermutung hin, es könnte irgendwann einmal eine vergleichende Forschung notwendig sein, für die man bisher
zugelassene Stammzelllinien nicht mehr brauchen kann,
sollte man einen gesellschaftlich gefundenen Kompromiss, eine ethische Grenzziehung nicht einfach opfern.
({9})
Ich will kurz noch einen anderen Punkt ansprechen.
Es geht darum, was sich entwickelt, wenn es bei der embryonalen Stammzellforschung keine Restriktionen und
damit auch keine Entschleunigung des Prozesses gibt.
Spanien und Großbritannien gehen in den Bereichen der
Stammzellforschung und der Fortpflanzungsmedizin
gleich vor. Weil die Stammzellforscher sagen, sie könnten die tiefgekühlten Embryonen nicht mehr benutzen,
wenn sie aufgetaut sind, da dann die Qualität nicht mehr
so gut sei, werden Frauen dazu überredet, angehalten
und teilweise auch bezahlt, dass sie bei der Fortpflanzungsmedizin entweder ihre Embryonen oder sogar Eizellen direkt für die Stammzellforschung spenden.
Meine Damen und Herren, dies ist die Folge, wenn keine
Entschleunigung stattfindet, wenn es keine Restriktionen
gibt. So werden nicht nur Frauenkörper, sondern auch
Embryos zur Ware degradiert. Hier sehe ich die Notwendigkeit einer Grenzziehung.
({10})
Zum Schluss weise ich noch kurz darauf hin, dass der
Glaube daran, man könne es bei einer einmaligen Verschiebung des Stichtags belassen, ein Trugschluss ist.
Schon die einmalige Verschiebung des Stichtags ist ein
Angriff auf das Herzstück des Stammzellgesetzes. Selbst
die Forscherinnen und Forscher, die heute dankbar wären, wenn es eine einmalige Verschiebung gäbe, sagen
Ihnen ganz deutlich, dass sie sich damit nicht zufriedengeben. Sie sagen heute schon, sie brauchen weitere Verschiebungen. Wenn Sie mit ihnen unter vier Augen reden, sagen sie: Wir wollen überhaupt kein
Stammzellgesetz, wir wollen die Freigabe aller Stammzelllinien, wir wollen sie im Lande selber herstellen.
({11})
Das sollte man wissen, wenn man sich in diese Debatte
begibt.
Wir wollen nicht, dass der Stichtag zur Wanderdüne
wird. Wir wollen, dass die ethische Grenzziehung bleibt.
Es ist notwendig, sich noch einmal zu vergewissern, was
in der Debatte im Jahre 2002 denen gesagt wurde, die
meinten, der Damm mit einer Stichtagsregelung sei vielleicht nicht hoch genug.
Frau Kollegin, bitte kommen Sie zum Schluss.
Letzter Satz! - Dort wurde gesagt: Das Parlament soll
doch bitte selbstbewusst sein und an sich glauben; es soll
davon ausgehen, dass die von ihm geschaffene Grenzziehung hält. Diese Aussage von damals sollten wir beherzigen und daher diese Grenzziehung beibehalten.
Danke schön.
Priska Hinz ({0})
({1})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Flach.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir führen hier heute eine forschungspolitische Debatte, die mehr als eine forschungspolitische Debatte ist.
Sie ist eine Debatte, die in diesem Lande mit vielen
Hoffnungen verknüpft ist, und zwar Hoffnungen auf
zwei Seiten: Zum einen sind es die Hoffnungen der Forscher - ich bin sehr froh, dass wir heute eine ganze
Reihe von namhaften Forschern unter uns haben; ich
denke beispielsweise auch an namhafte Krebsforscher,
die uns alle angeschrieben haben -, die wollen, dass sie
mit Forschern auf der ganzen Welt gleichgestellt werden.
Zum anderen sind es die Hoffnungen von Menschen, die
an schweren Krankheiten leiden: MS - hier hat Sie ein
Schreiben der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft
erreicht -, Parkinson, Diabetes. Die Menschen, die mit
diesen schweren Krankheiten tagtäglich leben und die
pflegende Angehörige haben, setzen natürlich Hoffnungen in eine solche Debatte. Sie alle wissen, dass wir eine
Lösung - an dieser Stelle bin ich völlig bei Ihnen, Frau
Hinz - weder heute noch morgen anbieten können. Aber
wir müssen ihnen die Möglichkeit geben, in diese Therapien hineinzukommen. Es geht um Grundlagenforschung mit dem erklärten Ziel, wirklich zu einer Therapie kommen zu können.
({0})
In der Tat ist die Stammzellforschung in den letzten
Jahren enorm vorangekommen, sowohl im embryonalen
- das sagen wir ausdrücklich - als auch im adulten
Stammzellbereich. Wir, die inzwischen 100 Unterzeichner des Entwurfs eines Gesetzes für eine menschenfreundliche Medizin, möchten hier gar nicht die verschiedenen Formen der Stammzellforschung gegeneinander aufrechnen. Für uns sage ich ausdrücklich: Wir
brauchen beides. Das sagen uns übrigens auch die Wissenschaftler, darunter viele, die zum Beispiel mit Nabelschnurblut forschen und gerne von den Gegnern der embryonalen Stammzellforschung zitiert werden.
Gerade in diesen Tagen hat der Düsseldorfer Forscher
Peter Wernet, der mit Stammzellen aus Nabelschnurblut
arbeitet, erklärt:
Nur wenn ich meine Ergebnisse mit denen der embryonalen Stammzellen vergleiche, weiß ich, ob ich
auf dem richtigen Weg bin.
Darum geht es, meine Damen und Herren.
({1})
Deshalb haben wir uns immer dafür ausgesprochen,
beide Forschungszweige zu fördern. Wir - sowohl wir
als Liberale, die wir uns seit vielen Jahren für die embryonale Stammzellforschung einsetzen, als auch viele andere Kollegen in diesem Hause - tun dies finanziell und
mental. Der Deutsche Bundestag hat in den letzten Jahren Millionenbeträge für beide Forschungszweige ausgegeben.
Wir werden dabei von Patientenorganisationen wie
der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft begleitet,
die sich klar für unseren Antrag ausgesprochen haben.
Sie wollen diesen Antrag - ich zitiere -, „um die Hoffnungen der vielen tausend MS-Erkrankten in unserem
Land verantwortungsbewusst in die Entscheidungsfindung einzubeziehen“. Es geht um Chancen und Hoffnungen. Wir wissen, dass eine Chance noch keinen Erfolg und eine Hoffnung keine Gewissheit bedeutet. Aber
die Politik muss aus unserer Sicht Chancen und Hoffnungen eröffnen, statt sie zu verbauen.
({2})
Unser Antrag geht einen klaren und eindeutigen Weg.
Wir wollen den Stichtag 1. Januar 2002 für den Import
embryonaler Stammzellen abschaffen, und wir wollen
keinen neuen Stichtag setzen. Das heißt nicht - auch das
betonen wir -, dass wir jegliche Forschung freigeben. Jeder Import- und Forschungsantrag soll wie bisher - das
ist nämlich bereits der Fall - vom Robert-Koch-Institut
als Genehmigungsbehörde intensiv geprüft und entschieden werden. Hochrangigkeit der Forschung, Alternativlosigkeit der Nutzung embryonaler Stammzellen und
ethische Abwägung - all dies bleibt im Einzelfall erhalten. Diese Praxis hat sich bewährt. Sie ist Garantie dafür,
dass es in diesem Land keine Grauzone und keine Wildwestmethoden gibt, wie es uns die Gegner der Stammzellforschung 2002 mit auf den Weg gegeben haben. Wir
sind ein streng regulierter Staat, in dem diese Forschung
an hohen ethischen Maßstäben gemessen wird.
({3})
Die Stichtagsregelung allerdings hat sich nicht bewährt. In diesem Punkt sind wir anderer Meinung als die
Kollegen um René Röspel. Der Umstand, dass aus
Deutschland kein Anreiz zur Etablierung neuer Zelllinien gegeben werden sollte, hat entgegen der erklärten
Absicht der damaligen Befürworter nämlich nicht dazu
geführt, dass weltweit weniger Stammzelllinien entstanden sind. Er hat aber dazu geführt, dass deutsche Wissenschaftler keinen Zugang zu den neuesten Linien haben
und mit Zellen arbeiten müssen, die Alterserscheinungen
wie Mutationen aufweisen und durch tierische Viren verunreinigt sind. Deshalb können - wie die Max-PlanckGesellschaft zu Recht sagt - die anstehenden biologischen und medizinischen Fragen nicht beantwortet werden.
Zwar können bestimmte Fragen der Grundlagenforschung mit den alten Linien beantwortet werden - das
bezweifelt niemand -, aber eine Therapie wird damit nie
möglich sein. Außerdem - das ist für mich als Liberale
besonders wichtig - wird vor dem Hintergrund der sich
im Laufe der Zeit immer weiter verschlechternden Qualität der Zellen das hohe Gut der Forschungsfreiheit
nach Art. 5 des Grundgesetzes, die nur in besonderen
Ausnahmefällen vom Gesetzgeber eingeschränkt werden
darf, immer mehr gefährdet.
({4})
Hinzu kommt, dass auch die Mitwirkung an Projekten
im Ausland mit Stammzelllinien, die nach dem Stichtag
etabliert wurden, strafbar ist. Diese Entwicklung haben
wir schon immer für falsch gehalten. Die Regelung
wurde damals als Kompromiss in das Gesetz aufgenommen. Ich erinnere diejenigen daran, die damals dabei waren, dass wir schon damals darauf hingewiesen haben,
dass dies falsch ist. Dadurch kriminalisieren wir unsere
Forscher selbst dann, wenn sie mit EU-Mitteln EU-weit
forschen. Das müssen wir ändern. Ich bin sehr froh, zumindest in allen ernstzunehmenden Anträgen und Gesetzentwürfen zu erkennen, dass in diesem Punkt die
Strafbarkeit beseitigt werden soll.
({5})
Aus den Ausführungen von Herrn Röspel ist deutlich
geworden, dass es auf diesem sehr schwierigen ethischen Feld nicht nur eine Lösung gibt. Wiederum reicht
für uns eine Verschiebung des Stichtages nicht aus,
weil sie nach unserer Meinung auf einem ethisch sehr
schwankenden Fundament steht. Entweder ist Forschung
moralisch, oder sie ist es nicht. Entweder können wir sie
rechtfertigen, oder wir können sie nicht rechtfertigen.
Wir müssen uns entscheiden. Ein Kompromiss kann
nicht der Weg auf einem so schwierigen ethischen Feld
sein. Das führt uns in dieser Forschungslandschaft nicht
zu einem schlüssigen Ergebnis.
({6})
Eine Verschiebung ist aber auch eine Mogelpackung
in rechtlicher Hinsicht; denn die Forschungsfreiheit wird
weiterhin eingeschränkt. Als Stichtag ist der 1. Mai 2007
vorgesehen. Dieser ist völlig willkürlich. Die Entscheidung, in diesem Land frei zu forschen, wird politischen
Prämissen unterworfen. Lieber Kollege Röspel, es ist
nicht sehr glaubwürdig, wenn Sie sagen, dies solle ein
einmaliger Nachschlag sein.
({7})
Was tun Sie denn, wenn es in zwei Jahren Stammzelllinien gibt, mit denen wir viel weiter kommen können. Sagen Sie dann den Menschen, jetzt könnten wir nicht
mehr verschieben, weil wir im Jahre 2008 gesagt hätten,
wir würden nur einmal einen Nachschlag gewähren?
({8})
Ich finde, das ist der große Pferdefuß einer Verschiebung. Aus diesem Grunde stimmen wir dem nicht zu.
({9})
Auch unter den Unterzeichnern unseres Antrags gibt
es viele, die christliche Werte in den Mittelpunkt ihrer
Überzeugung stellen. Im katholischen Spanien, im anglikanischen England und im protestantischen Skandinavien gelten zurzeit weniger restriktive Regelungen als
bei uns. In England haben sich Erzbischöfe für die Forschung an embryonalen Stammzellen ausgesprochen. In
Spanien gibt es die liberalsten Regelungen in Europa.
Christliches Bekenntnis und Abschaffung des Stichtages
passen aus unserer Sicht zusammen. Wir, die 100 Unterzeichner des Antrages auf Abschaffung des Stichtages,
bekennen uns eindeutig zur Ethik des Heilens.
({10})
Altpräsident Herzog hat einmal gesagt, er könne es nicht
verantworten, einem kranken Kind sagen zu müssen,
dass wir nicht alles täten, um ein Mittel gegen seine
Krankheit zu finden. Sowohl die christliche Nächstenliebe als auch die ärztliche Pflicht gebieten es, alle Chancen auszuloten. Das wollen wir.
({11})
Für mich als Forschungs- und Technologiepolitikerin
ist auch das Argument des Forschungsstandortes
Deutschland wichtig. Ich möchte eben nicht, dass unsere Wissenschaftler dauerhaft ins Ausland getrieben
werden. Ich möchte auch keinen Patiententourismus. Ich
möchte nicht, dass Menschen, denen in Deutschland
nicht geholfen werden kann, gesagt wird: Dann geht
doch ins Ausland; dort hat man inzwischen etwas gefunden, und zwar mit Methoden, die bei uns nicht zulässig
sind.
({12})
Aber für viele von uns ist der Forschungsstandort nachrangig. Es geht - das möchte ich an dieser Stelle betonen - um den besten Weg, kranken Menschen eines Tages zu helfen, nicht heute und nicht morgen, Frau Hinz.
Das sind keine falschen Heilsversprechungen. Aber Forschung hat nun einmal das Ziel, Menschen langfristig zu
helfen.
({13})
Das sage ich Ihnen als ehemalige Vorsitzende des Ausschusses für Bildung und Forschung und damit als intime Kennerin der Forschungsszene in diesem Lande.
Lassen Sie mich abschließend feststellen: Wir alle haben uns diese Entscheidung nicht leicht gemacht. Viele
Kollegen haben bereits unterschrieben. Ich freue mich,
dass dieses Thema so großes Interesse in diesem Plenum
hervorruft. Wir appellieren an Sie: Treffen Sie eine Entscheidung gegen einen Kompromiss! Geben Sie diesem
Land die Chance, etwas auf einem Forschungsgebiet zu
tun, welches rasante Fortschritte macht und überall auf
der Welt als eines der innovativsten und zukunftsträchtigsten Forschungsgebiete angesehen wird! Geben Sie
Ihrem Herzen einen Stoß und stimmen Sie für unseren
Antrag!
({14})
Das Wort erhält nun der Kollege Hubert Hüppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor sechs
Jahren haben 266 Kolleginnen und Kollegen gegen einen Import von embryonalen Stammzellen nach
Deutschland gestimmt. Wir bringen heute wieder einen
solchen Antrag ein, weil wir glauben, dass es wichtig ist,
zu zeigen, dass es Kolleginnen und Kollegen in diesem
Hause gibt, die glauben, dass das große Problem darin
besteht, dass menschliches Leben für Forschungszwecke
getötet wird. Wenn man die Argumentation von damals
mit der von heute vergleicht, muss man sagen, dass die
Gründe, gegen diese Forschung zu sein, heute stärker
sind, als es noch vor sechs Jahren der Fall war.
({0})
Die Forschung an menschlichen Embryonen und die
Schaffung von embryonalen Stammzellen setzen voraus,
dass menschliche Embryonen getötet werden. Wenn der
menschliche Embryo nicht lebendig wäre, dann würde er
sich nie zu dem Blastozystenstadium entwickeln, in dem
er dann zur Stammzellgewinnung getötet wird. Es ist
völlig unbestreitbar - deswegen haben wir hier im Deutschen Bundestag vor Jahren mit großer Mehrheit ein
Embryonenschutzgesetz verabschiedet -, dass es sich
hierbei um individuelles menschliches Leben handelt. In
dieser Phase - es ist nicht die befruchtete Eizelle, wie
manchmal gesagt wird -, nach fünf, sechs Tagen, kann
sich dieser Embryo nicht mehr teilen. Es können keine
eineiigen Zwillinge mehr entstehen. Es ist völlig klar,
welche Erbanlagen er hat, und es wird sogar fein säuberlich registriert, welches Geschlecht der Embryo hat. Bei
den letzten embryonalen Stammzelllinien, deren Import
nach Deutschland gerade noch im Januar genehmigt
worden ist, kann man erkennen, dass eine Zelllinie von
einem männlichen Embryo stammt, die andere Zelllinie
von einem weiblichen Embryo. Man kann also nicht sagen, dass das irgendeine Zellmasse ist, irgendein Müll,
der bei der Reproduktion übrigbleibt, sondern es handelt
sich um menschliches Leben. Wir haben Probleme damit, dass dieses menschliche Leben allein für Forschungszwecke getötet wird.
({1})
Aus meiner Sicht spielt es auch keine Rolle, ob diese
Menschen überzählig sind. Die Frage, ob jemand überzählig werden kann und deswegen die Menschenwürde
verletzt werden kann, überhaupt zu stellen, ist für mich
gar nicht nachvollziehbar. Es ist übrigens auch egal, wie
dieser Mensch entstanden ist. Es ist doch nicht die Frage,
wie ein Mensch entsteht - übrigens auch nicht, wenn das
Klonen funktionieren würde -, sondern ob ein Mensch
entstanden ist. Und wenn er Mensch ist, dann hat er die
volle Menschenwürde. Das ist Verfassungsgrundsatz,
so steht es in den Gerichtsurteilen des Bundesverfassungsgerichts. Da, wo menschliches Leben existiert,
kommt ihm Menschenwürde zu.
({2})
Wir können nach zehn Jahren Bilanz ziehen. Seit
1998 gibt es embryonale Stammzellforschung. Ich
möchte etwas als Behindertenbeauftragter meiner Fraktion, was die meisten Kolleginnen und Kollegen wissen,
sagen. Ich kenne keinen Behindertenverband, zumindest
keinen Betroffenen-Verband, der dafür ist, diese Forschung in Deutschland zu erweitern oder diese Forschung noch weiter zu öffnen.
({3})
Das gilt im Übrigen auch für die MS-Kranken. Frau
Flach, ich habe angerufen und mich erkundigt. Es waren
nicht die Betroffenen, nicht die Selbsthilfeleute, die diesen Brief geschrieben haben, sondern es war der Ärzteund Forschungsbeirat. Ich habe gestern telefoniert und
gefragt, ob ein Betroffener oder ein Angehöriger unter
denen gewesen sei, die diesen Brief unterschrieben haben. Das war nicht der Fall.
Auf der anderen Seite haben Sie einen Brief von der
Lebenshilfe für sogenannte geistig Behinderte bekommen. Ich mag den Begriff „geistig Behinderte“ nicht.
Diese haben an uns appelliert, die Stammzellforschung
nicht weiter zu öffnen, und zwar deswegen, weil sie
Angst haben, dass dann noch stärker als bisher der
Schutz der Menschenwürde gegen die Forschungsfreiheit abgewogen wird. Die Menschenwürde kann nicht
gegen die Forschungsfreiheit abgewogen werden.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird ja argumentiert, dass durch die Forschung viele geheilt werden können. Dazu ist zu sagen: Vor einigen Monaten fand die
Debatte über das Gewebegesetz statt. Wir haben - übrigens mit der Unterstützung der Gesundheitsministerin entgegen dem ersten Entwurf zum Schluss festgestellt:
Eingriffe an nicht Einwilligungsfähigen dürfen nicht
stattfinden, wenn sie nicht ihnen selbst helfen.
Jeder kann sich vorstellen, dass vielleicht Medikamente für Alzheimerkranke entwickelt werden könnten,
wenn man Medikamentenversuche mit Alzheimerpatienten oder sogenannten geistig Behinderten machen
würde. Aber wir tun es nicht, weil unserer Auffassung
nach das Individuum im Mittelpunkt steht und wir keine
Forschung an Menschen wollen, in die der Betroffene
nicht selber einwilligen kann. Ansonsten wäre das ein
Verstoß gegen die Menschenwürde. Nicht umsonst ist
die Menschenwürde in Art. 1 der Verfassung verankert,
das Lebensrecht in Art. 2 und die Forschungsfreiheit in
Art. 5. Die Menschenwürde ist nicht abstufbar; daran
sollten wir auch nichts ändern.
Es wird gesagt: Wir setzen auf Therapien. Aber warum hat es denn dann innerhalb von zehn Jahren nicht
eine Therapie gegeben? Warum hat es noch nicht einmal
eine klinische Studie gegeben? Ich habe noch einmal
nachgeschaut: Das größte Register über klinische Studien mit Stammzellen gibt es beim NIH in den USA. In
diesem Register werden über 1 700 Studien mit Stammzellen aufgeführt - nicht eine einzige mit embryonalen
Stammzellen, aber sehr viele mit adulten Stammzellen
und Cord Blood, also Stammzellen aus dem Nabelschnurblut.
Wenn wir den Menschen helfen und sie heilen wollen,
dann sollten wir uns doch dort engagieren, wo Hilfe
wirklich möglich ist. Das gilt nicht nur für die Forschung, sondern auch für die Anwendung. Es wäre viel
sinnvoller, die Zeit, in der wir über diesen kleinen Forschungsbereich sprechen, für die Kranken und Behinderten aufzuwenden, die heute in Einrichtungen wie Pflegeheimen leben und dort Probleme haben und auf Therapie
und Pflege warten. Ich glaube, damit wäre ihnen mehr
geholfen als mit Heilungsversprechen, die jedenfalls bisher nicht gehalten werden konnten.
({5})
Ich halte es für etwas schwierig, es dauerhaft bei nur
einem Nachschlag zu belassen, wie jetzt gesagt wird.
Diejenigen - zu denen ich und übrigens auch der Kollege Röspel gehörten -, die damals gesagt haben, dass
sie gegen einen Import von embryonalen Stammzellen
sind, haben das wie folgt begründet: Wenn wir die Tür
einmal ein Stück weit aufmachen, dann wird sofort die
nächste Diskussion darüber beginnen, ob die Tür nicht
ganz aufgemacht werden oder der Stichtag wieder verschoben werden soll.
Meine Damen und Herren, lieber Kollege Röspel,
nehmen Sie es mir nicht übel, aber die Zuversicht, dass
man sich dieses Mal daran hält, den nächsten Stichtag
ganz bestimmt nicht zu verschieben, nimmt bei mir eher
ab.
({6})
Frau Flach, Sie haben argumentiert - und das kam
auch von René Röspel -, wir brauchen diese Stammzellen - über Therapie redet hoffentlich niemand; denn es
gibt keine Therapie mit embryonalen Stammzellen -, um
sie mit den adulten oder den iPS-Zellen, also den reprogrammierten Zellen, zu vergleichen.
({7})
- Das ist ja immer wieder gesagt worden. - Ich habe die
Bundesregierung gefragt - die Antwort liegt seit Freitag
letzter Woche vor -, welche Studien an adulten Stammzellen sie nennen könnte, deren Erkenntnisse letztlich
auf dem Vergleich mit Erkenntnissen aus der Forschung
mit embryonalen Stammzellen basierten. Die Antwort
des Ministeriums war, dass leider keine solchen Studien
vorliegen.
Wer so argumentiert, der muss zumindest den Beweis
erbringen, dass es wirklich so ist. Wenn es nicht so ist,
dann sollte man dieses Argument nicht gebrauchen.
({8})
- Kollege Röspel, es steht in Ihrem Antrag, dass Sie
auch deswegen eine Stichtagsverschiebung anstreben,
weil es jetzt weniger Stammzelllinien gebe, als es zum
Zeitpunkt der Debatte in 2002 der Fall war. Auch das
habe ich die Bundesregierung gefragt. Das Ergebnis
war: An dem Tag unserer Debatte gab es eine einzige
Stammzelllinie, die für den Import verfügbar war. Im
Oktober 2002 waren es 16, 2004 waren es 17, und heute
sind es 21.
Meine Damen und Herren, wenn die Forscher forschen wollen - sie sind noch bei der Grundlagenforschung -, können sie es jetzt machen. Es gab noch nie so
viele Stammzelllinien, die zur Verfügung stehen, wie
heute, und deswegen brauchen wir keine Verschiebung.
Wir brauchen schon gar keine Abschaffung des Stichtages. Es gibt keine Argumente dafür. Es gibt vor allen
Dingen keine Argumente, menschliches Leben für Forschungszwecke zu töten.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort erhält nun die Kollegin Ilse Aigner.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es gibt die Sorge, dass der Lebensschutz mit einer Änderung des Stammzellgesetzes beeinträchtigt werden könnte. Deshalb will ich als Erstes auf
eines hinweisen: In keinem der Anträge ist eine Änderung des Embryonenschutzgesetzes vorgesehen.
({0})
Durch dieses Gesetz sind in Deutschland die Herstellung
von Embryonen zu Forschungszwecken, die Forschung
an Embryonen sowie die Herstellung von Stammzelllinien unter Strafe verboten - und das soll auch so bleiben!
Das zur Debatte stehende Stammzellgesetz regelt den
Import von Stammzelllinien, die im Ausland hergestellt
wurden. Jeder Antrag muss folgende Kriterien erfüllen:
Die Forschung kann nur mit embryonalen Stammzellen durchgeführt werden, wenn es keine Alternativen
gibt. Das heißt, es müssen alle Möglichkeiten, mit adulten und tierischen embryonalen Stammzellen zu forschen, ausgeschöpft sein.
Die Stammzelllinien müssen aus einem Embryo gewonnen worden sein, der ursprünglich für die künstliche
Befruchtung erzeugt wurde und für diese endgültig nicht
mehr verwendet werden kann.
Ein wichtiger Bestandteil des Gesetzes war der Stichtag. Er lag in der Vergangenheit, also vor der damaligen
Debatte. So konnte sichergestellt werden, dass nur
Stammzellen verwendet werden, die schon zum Zeitpunkt der Gesetzgebung vorhanden waren. Damals gab
es weltweit etwa 70 Stammzelllinien. Heute sind es etwa
500 Stammzelllinien, ohne einen Anreiz aus Deutschland.
Durch eine einmalige Verschiebung des Stichtages,
der wieder in der Vergangenheit liegt, wird kein einziger
Embryo angetastet und wird auch weiterhin kein Anreiz
zur Gewinnung von neuen Stammzelllinien entstehen;
denn es gibt keinen Automatismus für eine weitere Anpassung. Die Entscheidung wird immer in der Hand des
Bundestages liegen.
Warum wollen die Forscher eigentlich auch an
embryonalen Stammzellen forschen, wo doch bereits
Therapien mit adulten Stammzellen möglich sind?
Adulte Stammzellen können sich eben nicht - im Gegensatz zu embryonalen Stammzellen - in alle Zelltypen des
Körpers differenzieren. Deshalb erhofft man sich von
der Forschung an embryonalen Stammzellen langfristig
Therapien für bisher nicht heilbare Krankheiten. Aber
man verspricht sich eben auch grundlegende Erkenntnisse über die Entwicklung von Zellen. Eine Erkenntnis
konnte daraus gewonnen werden: wie normale Hautzellen reprogrammiert werden können. Sie ähneln stark
embryonalen Stammzellen. Man bezeichnet sie als induzierte pluripotente Stammzellen.
Diejenigen Forscher, die dies bewiesen haben, gehören zu den weltweit führenden Köpfen der embryonalen
Stammzellforschung.
({1})
Auch sie mussten auf das Wissen aus der embryonalen
Stammzellforschung zurückgreifen. James Thomson, einer der Forscher, bestätigte dies wie folgt:
Diese neuen ({2})Zelllinien hätten auf keinen Fall
hergestellt werden können, wenn es zuvor nicht
10 Jahre humaner embryonaler Stammzellforschung gegeben hätte.
Bisher wurde allerdings nur die prinzipielle Machbarkeit der Reprogrammierung bewiesen. Um zu verstehen,
ob und in welchem Maße induzierte pluripotente
Stammzellen den embryonalen Stammzellen tatsächlich
gleichen, werden jetzt auch Stammzelllinien benötigt,
die unter standardisierten Bedingungen hergestellt wurden. Diese gibt es eben erst seit 2006.
({3})
Dies ist eine Voraussetzung dafür, dass Vergleiche
von induzierten pluripotenten Stammzellen und embryonalen Stammzellen überhaupt zu belastbaren Aussagen
führen können. Diese Art von Zellen könnten vielleicht
- und dann weltweit - die embryonalen Stammzellen ersetzen. Jetzt können sie es noch nicht.
Die Hoffnung auf Ersatz für embryonale Stammzellen
ist für mich ein gewichtiger Grund dafür, einer einmaligen Verschiebung des Stichtages zuzustimmen.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir können,
wie von einigen vorgeschlagen, die Forschung an bestehenden Stammzelllinien in Deutschland ganz verbieten.
Aber die weltweite Herstellung embryonaler Stammzelllinien und die Forschung mit embryonalen Stammzelllinien weltweit können wir nicht verbieten - ob es
uns gefällt oder ob es uns nicht gefällt. Damit stellen
sich für uns folgende Fragen: Wie gehen wir eigentlich
mit dem Wissen um, das im Ausland durch die Forschung mit diesen Linien entsteht und publiziert wird?
Werden wir unseren Forschern verbieten, diese Publikationen zu lesen? Darf dieses Wissen für den Erkenntnisgewinn auch bei der adulten Stammzellforschung
genutzt werden? Sollten doch einmal Anwendungen, in
welcher Form auch immer, entstehen: Darf und kann
man diese dann den Menschen in Deutschland verwehren?
Diese Fragen muss jeder von uns selbst beantworten.
({4})
Die Kollegin Julia Klöckner ist die nächste Rednerin.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Hoffnung und Hilfe sind gerade für kranke Menschen
sehr, sehr wichtig. Aber wer Hilfe verspricht, der muss
diese auch bieten können. Unhaltbare Heilsversprechungen sind meines Erachtens sehr, sehr unlauter.
({0})
Seit Jahren wird so getan, als könne die Forschung
mit embryonalen Stammzellen ganz neue Erfolge garantieren. Genau das war 2002 auch der Grund dafür, dass
die embryonale Stammzellforschung unter gewissen
Bedingungen in Deutschland überhaupt erlaubt wurde.
Die ganz konkreten Versprechen, die die Forscher damals selbst gaben, haben sich aber nicht einmal ansatzweise bewahrheitet. Im Gegenteil, wissenschaftliche
Studien zeigen, dass embryonale Stammzellen ein extremes Tumorrisiko besitzen. Man sollte deshalb nicht so
tun, als hänge das Glück aller Patienten von der Forschung mit embryonalen Stammzellen ab.
Wer das Stammzellgesetz ändern will, braucht meiner
Meinung nach sehr gute Gründe.
Ein oft vorgetragenes Argument lautet, die aktuellen
Zelllinien seien verunreinigt. Für mich ist das wenig
überzeugend. Gerade erst im Januar wurde eine weitere
Importgenehmigung erteilt. Sie wäre wohl kaum beantragt worden, wenn man den Zellen nicht das nötige
Potenzial zusprechen würde.
Als weiteres Argument wird angeführt, man brauche
die embryonale Stammzellforschung zum Vergleich für
die adulte. Trotz dieser Behauptung finden sich bei den
adulten Stammzellforschern keine Beispiele, die dies
konkret belegen. Das gilt selbst für die zitierten Wissenschaftler Thomson und Yamanaka. Der Vergleich für die
Reprogrammierung wurde mit alten Stammzelllinien gemacht. Das hätte auch in Deutschland geschehen können.
({1})
Die adulte Stammzellforschung ist älter und auch
viel weiter. Deutschland gehört auf dem Gebiet der
ethisch unproblematischen adulten Stammzellforschung
zu den international führenden Nationen. Wir haben bereits Therapien in der Anwendung, die den Menschen
helfen, und darum geht es.
Mit dem Kompromiss von 2002 wurde ein Import
unter strengen Auflagen möglich. Dies hing genau mit
den enormen Heilsversprechungen zusammen. Wir sind
heute aber schlauer. Der einmalige Unschuldsbonus von
damals ist vergeben. Ich habe die Sorge, dass wir einen
Stichtag auf Rollen bekommen würden. Der Kern des
Kompromisses von 2002 war aber just dieser Stichtag.
Irgendwann könnten auch die neuen, sogenannten frischen Stammzelllinien verbraucht sein. Was wäre dann,
liebe Kolleginnen und Kollegen? Bestimmen wir dann
einfach wieder einen neuen Stichtag?
({2})
Durch die Verschiebung des Datums nimmt man meiner
Meinung nach in Kauf, dass mehr Embryonen nachgefragt, also zerstört werden. Wenn der Stichtag einmal
verschoben wird, gibt es keinen Grund mehr, der dagegen spricht, ihn wieder und wieder und immer wieder zu
verschieben. Das kommt einer Abschaffung gleich.
({3})
Es ist nur eine Frage der Zeit - wenn man nur lange genug wartet -, bis ein zukünftiges Datum in der Vergangenheit liegt und sich dann wiederum für eine neue
Stichtagsregelung eignet. Wir dürfen nicht einen Dominoeffekt auslösen. Deshalb bin ich ganz klar gegen eine
Stichtagsverschiebung und für die Beibehaltung des
Kompromisses von damals.
Immer wieder betonen die Forscher, die Stammzelllinien seien keine Embryonen mehr. Das stimmt, die
Stammzelllinien sind keine Embryonen mehr, aber sie
waren es vor der Zerstörung ihres Lebens. Es geht also
um die Voraussetzungen dieses Stichtages. Der Embryo
wird nicht mehr als Zweck an sich, sondern nur als bloßes Mittel behandelt. Aber der menschliche Embryo entwickelt sich nicht etwa aus einem untermenschlichen
Stadium plötzlich zum Menschen, und es gibt in diesem
Ablauf auch keine Zäsur, von der sich sagen ließe: Just
genau hier entsteht etwas völlig Neues.
Deshalb geht es um die Grundsatzentscheidung, welchen moralischen Preis die hypothetische medizinische
Behandlung von Krankheiten haben darf. Ich meine, die
Zerstörung wäre eindeutig ein zu hoher Preis für die versprochene Heilung.
({4})
Ich meine auch, das jeweils schützenswerte menschliche
Leben darf nicht nach den aktuellen Erfordernissen der
Biowissenschaften fortlaufend neu definiert werden.
Menschliches Leben ist um des Lebens willen zu schützen und nicht vor dem Hintergrund der Nutzbarmachung. Der Wert und die Würde des menschlichen Lebens leiten sich nicht davon ab, wie hoch die
Überlebenschancen oder die Nutzbarmachungsmöglichkeiten sind.
({5})
Ich habe Sorge, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, dass wir immer und immer wieder von Fall zu Fall
im Bundestag darüber entscheiden werden, unter welchen Bedingungen menschliches Leben weniger wert ist
als andere erstrebenswerte Güter.
({6})
In einer solchen Gesellschaft, wo je nach Interessenlage
darüber entschieden wird, was wert ist oder nicht wert
ist, zu leben, möchte ich persönlich nicht leben. Forschungsfreiheit darf niemals unter Preisgabe der Menschenwürde ermöglicht werden. Deshalb sage ich: Bedenke das Ende - im Zweifel für das Leben!
({7})
Das Wort erhält nun die Kollegin Katherina Reiche.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
spreche hier für den Antrag, mit dem die Stichtagsregelung ersatzlos aufgehoben und unseren Medizinern die
Unterstützung für ihre verantwortungsvolle Forschung
gegeben werden soll, die sie brauchen. Noch nie haben
Biologen und Mediziner in so kurzer Zeit so viel Neues
Katherina Reiche ({0})
über die Grundlagen des Lebens und über die Möglichkeiten, dieses Wissen anzuwenden, gelernt. Über kein
Forschungsfeld wird so intensiv diskutiert wie über die
Stammzellforschung. Sie ist eines der vielversprechendsten Forschungsfelder der Biomedizin. Deshalb
sollten wir ernst nehmen, was uns die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Selbstorganisation der gesamten deutschen Hochschulwissenschaft, sagt. Sie bittet
uns nämlich, den Zugang zu neuen reinen Stammzelllinien zu ermöglichen.
({1})
Worum geht es? Im Jahre 2001 hat der Deutsche Bundestag entschieden, die embryonale Stammzellforschung in Deutschland mit großen Einschränkungen
zuzulassen. Doch zeigt sich im Rückblick, dass das Gesetz mit starken sachfremden Einschränkungen arbeitet.
Die geltende Regelung stellt eine Forschungsbremse dar.
Diese Forschungsbremse müssen wir lösen. Der Entwurf, den wir heute vorlegen, sieht das Minimum dessen
vor, was an Veränderungen passieren muss, um dem Lebensrecht kranker Menschen und der Freiheit der Forschung den Raum zu geben, den das Grundgesetz ausdrücklich schützt. Die Einschränkungen des aktuellen
Gesetzes stellen eine folgenschwere Behinderung der
medizinischen Forschung sowie eine grundgesetzwidrige Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit dar.
({2})
Der entscheidende Unterschied zur Situation 2001 ist,
dass die Wissenschaft heute in großer Breite sagt, dass
die Forschung mit embryonalen Stammzelllinien unverzichtbar ist, um adulte Stammzellen zu verstehen. Auch
für die adulte Stammzellforschung werden die Erkenntnisse der embryonalen Stammzellforschung gebraucht.
Frau Kollegin Flach hat Zitate genannt; ich könnte diese
Liste weiterführen.
Auch die induzierten pluripotenten Stammzellen,
über die die Forscher Thomson und Yamanaka vor kurzem publiziert haben, sind nur mit der Erkenntnis aus
der vorangegangenen embryonalen Stammzellforschung möglich gewesen.
({3})
Die für deutsche Forscher verfügbaren embryonalen
Stammzelllinien sind alt, mit Viren verseucht und haben
viele der Eigenschaften verloren, an denen geforscht
werden muss, die gebraucht werden. Für weitergehende
Forschungsarbeiten oder gar therapeutische Ansätze sind
sie in jedem Fall unbrauchbar. Damit ist deutschen Forschern nicht nur eine Teilnahme am internationalen Forschungsgeschehen verwehrt - es sei denn, sie verlassen
Deutschland -; vielmehr läuft das Gesetz nun auf ein
Forschungsverbot hinaus, da neuere, standardisierte
Stammzelllinien für deutsche Forscher unerreichbar
sind.
Das Stammzellgesetz droht damit in die Verfassungswidrigkeit zu gleiten, wenn es nicht schon von Anfang
an verfassungswidrig war. Denn die in Art. 5 Abs. 3
Grundgesetz gewährte Forschungsfreiheit darf gar
nicht durch ein einfaches Gesetz eingeschränkt werden.
Nur die Kollision mit anderen Grundrechten würde eine
solche Einschränkung zulassen. Beim Import von
Stammzelllinien ist eine solche Kollision aber auch mit
größter Mühe nicht zu konstruieren.
({4})
Nun, nach fünf Jahren, ist der Vorwurf der Verfassungswidrigkeit sehr ernst zu nehmen; denn der Ausschluss deutscher Forscher von einer Forschung an
Stammzelllinien und eben nicht an befruchteten Eizellen
selbst kommt einem Forschungsverbot gleich. Dabei ist
diese dynamische Grundlagenforschung erst am Anfang.
Der Vorwurf von Stammzellkritikern an die Forscher, es
gebe noch keine Therapie, ist geradezu absurd. Die erfolgreiche Grundlagenforschung ist ja gerade Voraussetzung für die Entwicklung von Therapien - ohne Grundlagenforschung keine Therapie.
({5})
Stammzellen sind auch für die Forschung gedacht,
um neue Medikamente zu erproben und so auf den Versuch am Tier oder am Menschen verzichten zu können.
Aber das sind Forschungsmöglichkeiten, die sich unseren Forschern momentan verschließen. Wir müssen in
Verantwortung für kranke Menschen, die leiden und hoffen, und in Verantwortung für unsere Wissenschaftler,
die mit Sorgfalt, Seriosität und hohem Verantwortungsbewusstsein ihrer Arbeit nachgehen, den Weg für eine
hochrangige Forschung eröffnen und sie unterstützen.
Deshalb bitte ich Sie, der Streichung des Stichtags und
der Streichung der Strafandrohung Ihre Zustimmung zu
geben.
Vielen Dank.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Konrad Schily.
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!
Frau Reiche hat es gerade gesagt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Wissenschaft und Kunst sind frei. Dann kommt ein wichtiger Nachsatz: Das entbindet
nicht von der Treue zur Verfassung.
Wir haben es mit einem Spannungsbogen zu tun, den
Frau Flach beschrieben hat. Auf der einen Seite stehen
die Wissenschaftsfreiheit und die Tatsache, dass wir über
die Welt Aufklärung haben wollen. Alle Heilsversprechen, dass dabei etwas herauskommen könnte, mögen
eine Rolle spielen; aber sie sind nicht bestimmend. Es ist
die Freiheit der Grundlagenforschung, die die Wissenschaft fruchtbar gemacht hat und die zu den Erfolgen geführt hat, die wir heute vorweisen können. Das ist die
eine abendländische Linie.
Die andere ist, dass die Technik und Wissenschaft,
vor denen wir alle bewundernd stehen, uns immer mehr
Ehrfurcht vor der - lassen Sie es mich ruhig so sagen Weisheit der vor uns ausgebreiteten Schöpfung empfinden lassen. Diese abendländische Entwicklung hat Kant
in dem Satz zusammengefasst, dass der Mensch nie Mittel nur, sondern immer auch Zweck sein muss. Darin
gründet sich die Menschenwürde; sie ist unantastbar.
Ungeachtet dessen, ob wir mittels eines bestimmten
Weges helfen können: Wir dürfen diese Menschenwürde
nicht antasten. Es gibt keinen Grund - beispielsweise ein
ökonomisches Versprechen -, menschliches Leben zu
zerstören. Wann der Mensch zum Menschen wird, ist
biologisch nicht festzustellen und aus dem Materialismus nicht abzuleiten. Es ist eine ethische, soziokulturelle
Feststellung. Deswegen wird diese Frage in unterschiedlichen Kulturen verschieden beantwortet.
({0})
- Ja, wir sagen es eigentlich auch.
In dem Moment, wo die Anlage zum Mensch gegeben
ist - das ist beim Embryo der Fall -, besteht das Recht
auf Menschenwürde. Es gibt darüber sehr viele Besprechungen, die sich mit den Konsequenzen aus dieser Feststellung beschäftigen. Es gibt nicht nur eine Möglichkeit. Wie gesagt: Es gibt nicht nur das Versprechen, zu
ergründen, was die Welt im Innersten zusammenhält, um
daraus die Heilung abzuleiten, sondern es gibt zwei
Möglichkeiten:
Die erste Möglichkeit ist, die Forschung freizugeben.
Das ist eine klare und eindeutige - man kann auch sagen: fortschrittliche - Meinung. Dann verzichten wir
aber auf die Menschenwürde. Wir würden damit die
Auffassung vertreten, dass Freiheit unteilbar ist, dass sie
gilt und dass sie uns in die Zukunft führen wird.
Die zweite Möglichkeit ist, dass die Entwicklung auf
diesem Gebiet uns nicht von der Treue zur Verfassung
entbindet und dass wir uns zur Menschenwürde und
dazu bekennen, dass menschliches Leben niemals in irgendeiner Form zum Mittel gemacht werden darf und
dass der Mensch in sich Zweck bleibt.
({1})
Ich denke, wir werden versuchen - das liegt ja in der
Natur der Politik -, Kompromisse zu machen. Wir werden sagen: Mit dem ersten Stichtag hat es nicht geklappt,
vielleicht klappt es mit dem nächsten. In diesem polaren
Spannungsfeld - Frau Flach und Herr Hüppe haben es
anhand der entsprechenden Anträge dargestellt - gibt es
aber keinen Kompromiss. Wir müssen uns schon entscheiden.
({2})
Ich plädiere für die Menschenwürde. Wir werden den
Fortschritt auch damit erreichen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort erhält nun der Kollege Jörg Tauss.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Ich glaube, die Debatte zeigt, dass wir - wie auch schon
bei der letzten Debatte, als wir das Stammzellgesetz verabschiedet haben - mit großem Ernst und mit großem
Respekt voreinander diskutieren. Deswegen habe ich die
Bitte, Frau Kollegin Klöckner und Herr Kollege Schily,
dass Sie denen, die hier in der Tat um einen Kompromiss
ringen und einen anderen Vorschlag unterbreiten - das
sind über 300 Kolleginnen und Kollegen in diesem
Hause -, auch nicht ansatzweise etwas Ähnliches wie
ein gestörtes Verhältnis zur Menschenwürde unterstellen. Das halte ich für nicht akzeptabel, und das sollte
auch nicht Gegenstand der Auseinandersetzung sein.
({0})
Ich hätte die herzliche Bitte, dass im weiteren Verlauf
der Debatte auch auf den Kampfbegriff des Heilsversprechens verzichtet wird.
({1})
Ein solches Heilsversprechen gibt es von keinem seriösen Wissenschaftler in diesem Land. Wer gestern im
Forschungsausschuss war - wir werden zu diesem
Thema eine Anhörung durchführen, an der teilzunehmen
alle Kolleginnen und Kollegen eingeladen sind, und danach fragen -, hat erkennen können: Alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich seriös mit diesen
Fragen beschäftigen - das geschieht hier im Lande -, sagen uns: Wir sind sehr weit weg von einem medizinischen Erfolg. Wir befinden uns im Bereich der Grundlagenforschung, und Heilsversprechen erfolgen nicht. Diesen Begriff sollten wir deshalb im weiteren Verlauf
der Debatte aufgeben; denn dies trägt zur Sachlichkeit
bei.
({2})
Kollege Röspel hat zu Beginn der Debatte darauf hingewiesen, dass er aus einer etwas anderen Richtung
kommt. Ich komme eher aus der Richtung, die die Kollegin Flach vertritt. Kollege Schily, wir haben in der Tat
geschaut - das halte ich für gut und richtig; das ist angemessen für dieses Parlament -, wie wir angesichts der
unterschiedlichen Positionen einen Kompromiss finden
können. Das ist unsere Aufgabe hier. Dieser Aufgabe
will ich nachkommen.
Ein Punkt ist heute noch kaum angesprochen worden:
Das ist der strafrechtliche Bereich, bei dem schon damals erkennbar war, dass er gewisse Probleme aufwerfen wird. Dieser Punkt ist heute weniger umstritten. DesJörg Tauss
wegen glaube ich, dass wir an diesem Punkt auf einem
guten Weg sind.
Frau Kollegin Hinz, wir waren sogar so fair, Sie auf
einen Fehler in Ihrem Antrag hinzuweisen; denn Sie hätten, wenn man den Originaltext ansieht, sogar die Strafbarkeitsschwelle abgeschwächt. Dazu haben wir Ihnen
noch gesagt: Wenn ihr das tut, ist das gar nicht in eurem
Sinne. - Ich glaube, auch das gehört zu einem kollegialen Umgang untereinander. Das tun wir auch.
({3})
Der Stichtag ist der eigentliche Streitpunkt. Da besteht immer die Frage: Warum eigentlich eine Stichtagsverschiebung? Haben wir dann nicht - das hat die Kollegin Klöckner gesagt; das ist ein ernstes Argument - eine
Art Wanderdüne und ständig zu verändernde Stichtage?
Ich bin nicht so vermessen, zu sagen, was künftige Parlamente an dieser Stelle tun werden. Ein Parlament wäre
hier sogar frei, zu sagen: Wir schaffen das Stammzellgesetz völlig ab. Es wäre sogar, wenn die entsprechenden
Mehrheiten da sind, so frei, zu sagen: Wir schaffen das
Embryonenschutzgesetz ab.
Dies ist keine Position, die hier jemand vertritt. Vielmehr haben wir auf der Basis des Embryonenschutzgesetzes das Stammzellgesetz geschaffen. Wir stellen fest
- Kollege Röspel hat darauf hingewiesen -, dass die damaligen Grundlagen insofern nicht mehr bestehen, als
eine ausreichende Zahl von Stammzelllinien für die
Forschung nicht mehr vorhanden ist. Aus diesem
Grunde wollen wir jetzt eine Änderung vornehmen,
wenn eine entsprechende Mehrheit zustande kommt;
denn wir wollen die Forschung, die wir damals vorgesehen haben, auch künftig ermöglichen.
Frau Hinz fragte: Haben die bisherigen Forschungen
etwas bewiesen? Sie sagte Nein. All denjenigen, die einen Erfolg anzweifeln, kann ich nur empfehlen, in dem
entsprechenden Protokoll des Forschungsausschusses
nachzulesen: Es ist ganz klar gesagt worden, dass die
Forschung an adulten Stammzellen in einem logischen
Zusammenhang mit der Forschung an menschlichen
embryonalen Stammzellen steht, dass die Forschung an
menschlichen embryonalen Stammzellen eine Grundlagenforschung auch im Hinblick auf die Forschung an
adulten Stammzellen ist. Wer dies bestreitet, begibt sich
in eine absolut gegenteilige Darstellung dessen, was die
gesamte deutsche Wissenschaft hierzu seriös vorträgt.
({4})
Wir haben im Laufe dieser Diskussion sehr viele
emotionale Briefe bekommen. Den von der Lebenshilfe
habe ich ein bisschen bedauert, weil er Heilsversprechen
und Ähnliches zum Gegenstand hatte. Aber ich warne
die Kollegen Hüppe und Schily - auch in ihrem Sinne davor, ihren Weg, den sie gehen wollen, weiterzugehen.
Die USA haben es bewiesen: Herr Bush, der US-amerikanische Präsident, hat ein ganz klares Veto gegen die
Forschung an embryonalen Stammzelllinien eingelegt.
Was war die Folge? Er hat kein nationales Gesetz
geschaffen. Sogar ein Parteifreund von ihm, Herr
Schwarzenegger, ist ausgeschert und hat in Kalifornien
eine eigenständige gesetzliche Regelung geschaffen, mit
der Folge, dass für die Forschung an embryonalen
Stammzellen 3 Milliarden US-Dollar im Wesentlichen
nicht so strikt gesetzlich reguliert, wie wir es hier kennen, fließen. Allein im Januar dieses Jahres wurden
260 Millionen US-Dollar zusätzlich freigegeben.
Das ist ein Argument dafür, Herr Kollege Schily, verantwortungsbewusst mit diesem Thema umzugehen und
eine ethische Grundlage für die Forschung an embryonalen Stammzellen zu legen. Mit dem Kompromissantrag,
den ich Sie zu unterstützen bitte, haben wir genau dies
ermöglicht. Ich bedanke mich herzlich bei allen Kolleginnen und Kollegen, die daran mitgewirkt haben und
mit uns diesen Antrag vorgelegt haben.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort erhält nun die Kollegin Dr. DäublerGmelin.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Frage, wie die an und für sich sehr positiv zu bewertende
Suche nach einem Kompromiss in diesem Fall aussehen
kann, wird, lieber Kollege Tauss, dadurch erschwert,
dass es um Grundsatzfragen geht. Da muss in der Tat,
sofern ein Kompromiss überhaupt möglich ist, sehr sorgfältig hingeschaut werden. Deswegen bin ich sehr dankbar, wenn wir uns nicht gegenseitig irgendwelche Dinge
unterstellen. Wir haben in diesen Fragen unterschiedliche Meinungen. Ich glaube, diese Meinungen müssen
sehr offen auf den Tisch gelegt werden, ohne dass der
eine, der eine bestimmte Meinung vertritt, dem jeweils
anderen gleich die moralische Keule übers Haupt haut.
Das gilt übrigens hin wie her.
({0})
Ich spreche mich hier sehr klar dafür aus, den Stichtag nicht zu verschieben. Ich will das begründen. Vielleicht fange ich mit dem an, was wir vor sechs Jahren gemacht haben. Damals ging es im Wesentlichen um zwei
Punkte: Zum Ersten ging es um die Frage, ob man den
forschungspolitischen Ansatz der Forschung an menschlichen Embryonen braucht, und zum Zweiten darum, ob
das ethisch vertretbar ist. Die ethische Vertretbarkeit
spielt weit über die verfassungsrechtliche Frage hinaus
eine gesellschaftspolitisch zentrale Rolle, weil damit die
Frage verbunden ist, ob man den menschlichen Embryo,
der, wie wir alle wissen, das Gebilde ist, in dem, wie
man heute sagen würde, das vollständige Programm eines neuen Menschen vorhanden ist, zu Forschungszwecken wie ein Objekt benutzen bzw. gebrauchen darf.
Diejenigen, die damals wie ich gegen den Kompromiss
gestimmt haben, haben sehr klar gesagt: Man darf das
nicht, und zwar, weil das absolute Gebot der Menschenwürde vollständig und immer dagegen steht.
Damals wussten wir noch nicht, dass der erfolgversprechende Ansatz auf der Forschung an adulten
Stammzellen liegen würde. Liebe Frau Flach, wir wissen sehr wohl, dass viele Menschen hoffen, dass mithilfe
der neuen Methoden schreckliche Krankheiten gelindert
oder geheilt werden können. Damals wussten wir das
noch nicht, dass die Hoffnung bei der Forschung an
adulten Stammzellen liegt. Heute haben wir viele zusätzliche Informationen. Wir wissen heute ganz genau, dass
die Forschung mit adulten Stammzellen mehr Hoffnungen bietet. Ich glaube deshalb, dass wir festhalten sollten, dass das so ist - selbstverständlich, ohne Heilsversprechen zu machen. Das gibt dann aber keinen Grund
für die Stichtagsverschiebung.
Noch einmal zurück zu dem Kompromiss von damals. Viele von uns, die damals gegen den Kompromiss
gestimmt haben, haben sich mit dem Kompromiss letztendlich abgefunden. Warum? Wir waren der Auffassung,
dass man mit diesem Kompromiss zwar in die ethische
Grauzone und damit in die gesellschaftspolitisch bedenkliche Grauzone hineingegangen ist, dass eine
einmalige Stichtagsregelung das aber noch erträglich
macht.
Heute gibt es weniger Argumente für die embryonale
Stammzellforschung. Die ethische Grauzone indes
bleibt. Warum soll dann der Stichtag verschoben werden? Ich sage das so deutlich, weil Sie daraus vielleicht
erkennen, dass uns viel weniger persönliche Vorbehalte
oder Misstrauen gegenüber der Forschung daran hindern, der Verschiebung des Stichtages zuzustimmen,
sondern eher die schädliche Tendenz zur immer weiteren
Relativierung in einer Grundsatzfrage ohne Not. Das ist
genau der Punkt.
({1})
Ich will deswegen noch einmal dafür werben, sich genau zu überlegen, wie man sich entscheidet. Es kann
manchmal ärgerlich sein, wenn einem vorgeworfen
wird, das Festhalten an dem, was wir haben, sei durch
Denkverbote oder Bequemlichkeit diktiert. Das ist es
nicht, sondern das ist ganz klar das Ergebnis einer Abwägung zwischen einer Relativierung in Grundsatzfragen, die wir nicht wollen, und der Möglichkeit, positive
Ansätze für Heilen und Helfen tatsächlich zu nutzen.
Diese Möglichkeiten liegen aber in der Forschung an
adulten Stammzellen und nicht in der Nutzung menschlicher Embryonen.
Herzlichen Dank.
({2})
Die Kollegin Renate Schmidt ist die nächste Rednerin.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
Ich stimme Konrad Schily ausdrücklich zu. Es gibt in
dieser Frage in meinen Augen nur zwei Möglichkeiten:
entweder derartige Forschung ganz zu verbieten oder sie
im Rahmen der von uns festgesetzten Regelungen ganz
zuzulassen.
({0})
Ich stimme auch Herta Däubler-Gmelin zu, die gesagt
hat, dass es Fragen gibt, die Kompromissen unzugänglich sind. Ich glaube, in dieser Frage ist ein Kompromiss
ungeheuer schwierig. Ich unterstütze den Entwurf eines
Gesetzes für eine menschenfreundliche Medizin und
habe mir als gläubige Christin, der an ihrer evangelischen Kirche etwas liegt, die Entscheidung nicht leicht
gemacht. Ich bin sowohl Bischof Huber als auch Kardinal Lehmann für ihre Stellungnahmen dankbar - auch
wenn ich daraus andere Schlussfolgerungen ziehe -,
weil sie mir bei meiner Entscheidungsfindung geholfen
haben.
Bevor ich zu unserem Gesetzentwurf komme, möchte
ich meine Position zur Frage menschlichen Lebens,
werdenden, ungeborenen Lebens beschreiben, weil ich
glaube, dass das in diesen Zusammenhang gehört. Wir
müssen uns einmal fragen: Wie halten wir es denn insgesamt mit dem Schutz menschlichen Lebens vor der Geburt? Ich bin für einen sehr viel vorsichtigeren Umgang
und für viel mehr Beratung bei der Pränataldiagnostik,
um das Recht auf Nichtwissen von Eltern zu gewährleisten.
({1})
Genauso bin ich der Meinung, dass wir in Deutschland Präimplantationsdiagnostik zur Überprüfung
schwerster Schäden einer befruchteten Eizelle zulassen
sollten.
({2})
Ich kann nicht nachvollziehen, dass diese verboten, eine
spätere Abtreibung des schwer geschädigten Embryos
aber zugelassen ist.
({3})
Ich hoffe - hier vertrete ich nahezu eine Einzelmeinung
in meiner Fraktion -, dass wir zu Regelungen kommen
werden, die Spätabtreibungen reduzieren, auch wenn es
jährlich - ich sage das in Anführungszeichen - nur einige hundert Fälle sein mögen.
Genauso bin ich überzeugt, dass die Stichtagsregelungen für die Stammzellenforschung ganz entfallen sollten.
({4})
Es ist überhaupt keine Frage: Natürlich ist eine befruchtete Eizelle im ersten Entwicklungsstadium menschliches Leben, und zwar vollkommen unabhängig davon,
Renate Schmidt ({5})
ob sie in Deutschland oder in einem anderen Land dieser
Erde und bis zu welchem Stichtag sie entstanden ist.
Aber ist diese befruchtete Eizelle werdendes, ungeborenes Leben? Nein, ihr fehlt eine wesentliche Qualität, um
das werden zu können, nämlich das Einnisten in die Gebärmutter.
({6})
Nur ein Bruchteil der befruchteten Eizellen führt zu einer Schwangerschaft. Die größere Zahl nistet sich nicht
ein; die Frau merkt davon nichts. Beim Einsetzen einer
Spirale geschieht genau dasselbe.
Was geschieht mit sogenannten überzähligen
Embryonen, die bei künstlicher Befruchtung nicht mehr
benötigt werden? Haben diese einen anderen menschlichen Wert als aus dem Ausland eingeführte embryonale
Stammzellen? Erhalten wir uns unsere Moral, unsere
ethischen Prinzipien und unsere forschungspolitische
Unschuld dadurch, dass deutsche Steuergelder in Forschungsvorhaben der EU ohne jedwede Stichtagsregelungen fließen?
({7})
Nein, diese Unschuld haben wir längst verloren, und
zwar beginnend mit dem Zulassen künstlicher Befruchtung. In meinen Augen versuchen wir, das mit unzulänglichen Mitteln zu verbrämen.
Kardinal Lehmann hat in seiner Stellungnahme geschrieben, dass man beim Vorliegen mehrerer Alternativen die sicherere Variante, also in dubio pro vita, wählen
sollte. Bischof Huber hat in einem Interview geäußert,
die evangelische Kirche habe immer gefragt, was konkret dem Menschen und dem Leben dienen kann. Ich
möchte mit meiner Unterstützung des Entwurfs eines
Gesetzes für eine menschenfreundliche Medizin pro vita
entscheiden. Ich möchte damit den Menschen und dem
Leben dienen, den Chancen der Menschen mit multipler
Sklerose, mit Alzheimer oder Diabetes. Ich betone das
Wort „Chancen“. Ich möchte erreichen, dass nichts unversucht bleibt, von geeigneten Organspendern weniger
abhängig zu werden, wohl wissend, dass dies noch Zukunftsmusik ist und vielleicht auch bleiben wird.
Natürlich dürfen wir keine verfrühten Hoffnungen
wecken. Vielleicht - wirklich nur vielleicht - brauchen
wir in absehbarer Zeit keine embryonalen Stammzellen
mehr, um die genannten Ziele zu erreichen. Vielleicht
führt auch kein einziger dieser Wege zu diesen Zielen.
Dieses Noch-nicht-wissen-Können gehört zum Wesen
der Forschung.
Trotz aller Zweifel steht für mich daher fest: Nicht zu
versuchen, den aussichtsreichen Weg der Forschung mit
embryonalen Stammzellen zu gehen, wäre in meinen
Augen nicht „pro vita“, würde nicht den Menschen und
dem Leben dienen. Deshalb bin ich davon überzeugt,
dass wir diesen Weg gehen müssen, und zwar ohne
Stichtagsregelung.
({8})
Das Wort erhält nun der Kollege Thomas Rachel.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Jahre 2002 habe ich zu den Mitinitiatoren des
damaligen Stammzellgesetzes gehört. In den heute zur
Diskussion stehenden Vorlagen werden ebenso wie innerhalb der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen,
Religionsgemeinschaften und christlichen Kirchen ganz
verschiedene Positionen vertreten. Dies zeigt vor allem
eines: Es gibt bei diesem Thema keinen einfachen und
nicht nur einen Weg, weder rechtlich noch ethisch noch
christlich.
Den gesellschaftlichen und rechtlichen Rahmen zur
Beantwortung dieser Frage stellt unser Grundgesetz dar.
Daher werden sich diejenigen, die ein Rollback und damit ein Forschungsverbot fordern, fragen lassen müssen,
wie sie zu folgender Tatsache stehen:
Ein vollständiges Verbot, das auch die weltweit bereits vorhandenen ES-Zell-Linien umfasst, ist verfassungsrechtlich nicht begründbar.
Dies ist ein wörtliches Zitat aus der Begründung zum
Stammzellgesetz.
({0})
Worum ging es 2002? Im Kern ging es um zwei Anliegen. Erstens wollten wir im Sinne der grundgesetzlich
garantierten Forschungsfreiheit die Grundlagenforschung ermöglichen. Zweitens wollten wir durch einen
festen, in der Vergangenheit liegenden Stichtag ausschließen, dass von Deutschland ein Anreiz ausgeht,
dass im Ausland Embryonen zerstört werden. Sagen wir
es doch ruhig: Diese Ziele hat das Stammzellgesetz zunächst erreicht.
({1})
Inwiefern hat sich die Lage seit 2002 verändert? Die
Wissenschaft betont in breitem Konsens, dass mit den
aufgrund des Gesetzes verfügbaren Stammzelllinien eine
konkurrenz- und vor allem kooperationsfähige Forschung nur noch sehr eingeschränkt möglich ist; denn
diese Stammzelllinien sind teils kontaminiert, teils genetisch verändert und nicht standardisiert.
({2})
Adulte Stammzellen sind wichtig, aber sie können
embryonale Stammzellen nicht ersetzen; denn sie können nicht langfristig vermehrt werden, und sie können
sich nicht zu allen Körperzellen entwickeln. An dieser
Stelle möchte ich eine Bemerkung zur Behauptung von
MdB Hüppe machen, die er vorhin aufgestellt hat, als es
im Zusammenhang mit der Antwort des Forschungsministeriums auf seine Anfrage um den Vergleich von adulten und embryonalen Stammzellen ging: Die Behauptung, die vorhin geäußert wurde, ist falsch. Richtig ist,
dass sich die Forschung an adulten und die Forschung an
embryonalen Stammzellen gegenseitig beeinflussen.
({3})
Das ist nichts Theoretisches, sondern findet statt.
({4})
Zurzeit werden in Deutschland mehrere vom RobertKoch-Institut genehmigte Forschungsprojekte zum direkten Vergleich von humanen embryonalen Stammzellen und adulten Stammzellen durchgeführt. So wird beispielsweise am MDC in Berlin das Potenzial von
Nabelschnurblutzellen und embryonalen Stammzellen
bei der Generierung von Leberzellen untersucht. Das ist
also bereits Praxis.
({5})
Forscher wie Yamanaka und Thomson werden für die
Ergebnisse ihrer Forschung im Bereich der Reprogrammierung von Körperzellen, zu sogenannten induzierten
pluripotenten Stammzellen, übrigens auch von denjenigen gefeiert, die keine Forschung mit embryonalen
Stammzellen in Deutschland wollen.
Herr Kollege Rachel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hüppe?
Bitte.
Herr Kollege Rachel, da die Antwort der Bundesregierung auch von Ihnen unterschrieben worden ist, habe
ich folgende Frage: Können Sie mir eine Arbeit nennen,
die im Rahmen der Forschung an adulten Stammzellen
zum Erfolg führte bzw. eine klinische Studie zur Folge
hatte, die tatsächlich nur deswegen durchgeführt werden
konnte, weil Ergebnisse der embryonalen Stammzellforschung vorlagen? Können Sie mir eine solche Arbeit
nennen?
Herr Kollege Hüppe, in Ihrer Anfrage an die Bundesregierung haben Sie nach einer Bewertung erschienener
Publikationen gefragt. Die Antwort des Ministeriums
lautete, dass es Ihnen dazu keine Zitationsanalyse vorlegen kann, da zum Stichwort „stem-cells“ knapp
20 000 Publikationen vorliegen und das genau ausgewertet werden müsste.
Faktum ist, dass es in dieser Hinsicht bereits vergleichende Studien in Deutschland gibt. Außerdem sagen
die Forscher selber, dass sie die Erfolge bei der Reprogrammierung den Erkenntnissen aus der Forschung an
humanen embryonalen Stammzellen verdanken. Das hat
Thomson erst im Dezember letzten Jahres gegenüber der
New York Times erklärt. Die Forscher selbst haben es
also belegt.
({0})
Thomson hat sogar gesagt, dass weder seine noch die Ergebnisse in Japan ohne die Ergebnisse der letzten zehn
Jahre Forschung an embryonalen Stammzellen möglich
gewesen wären.
Thomson hat nachgewiesen, dass die Reprogrammierung grundsätzlich machbar ist. Man kann auch sagen, er hat den Proof of Principle erbracht. Das ist toll.
Für die nun anstehenden Detailanalysen, ob die iPS-Zellen und die humanen embryonalen Stammzellen identisch
sind oder sich, wie Schöler sagt, in über 1 000 Genen unterscheiden, sind die Forscher auf neue embryonale
Stammzelllinien angewiesen.
({1})
James Adjaye, der hier in Berlin am Max-Planck-Institut
an der Reprogrammierung von Stammzellen forscht, hat
gesagt: Wir können es schaffen, reprogrammierte Zellen
für die Medizin nutzbar zu machen; dazu benötigen wir
aber dringend brauchbare neue embryonale Stammzellen.
Meine Damen und Herren, eine Position, bei der ausschließlich Prinzipien verteidigt werden, wird ethisch
nur schwer überzeugen können. Wer die Forschung an
Stammzellen in Deutschland verbieten will, muss erklären, wie er mit den Ergebnissen umgehen will, die Forscher in anderen Ländern erzielen. Entweder werden
diese Ergebnisse den kranken Menschen in Deutschland
vorenthalten, oder er wird sich zumindest mit dem Vorwurf der Inkonsequenz auseinandersetzen müssen.
Wir sind gefordert, zu überprüfen, ob der Geist des
damaligen Kompromisses durch das geltende Stammzellgesetz noch hinreichend verwirklicht wird, ob in
Deutschland nach wie vor hochwertige Forschung an
embryonalen Stammzellen möglich ist oder dies bald nur
noch auf dem Papier steht. Durch die Verschiebung des
Stichtages auf einen neuen, ebenfalls in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt würde es den Forschern ermöglicht, auf neue Stammzelllinien zurückzugreifen. Diese
Zelllinien - um nichts anderes geht es - sind bereits vorhanden. Das heißt, kein einziger Embryo wird bei einer
Verschiebung des Stichtages auch nur berührt.
({2})
Eine theoretisch denkbare Änderung in der Zukunft
bleibt - das ist uns wichtig - dem Gesetzgeber vorbehalten. Wenn also einige im Moment eine ethische Wanderdüne malen, sprechen sie letztlich den Mitgliedern
zukünftiger Bundestage ein verantwortliches und moralisches Urteil ab.
({3})
Die Mutmaßung, dass im Ausland extra für die Forschung in Deutschland Embryonen zerstört würden, ist,
vorsichtig formuliert, gewagt. Wer die deutsche Nabelschau ein Stück verlässt, stellt fest, dass 98 Prozent der
entsprechenden Publikationen im Ausland entstehen.
Wir - Bund und DFG - geben innerhalb von fünf Jahren
knapp 4 Millionen Euro für die embryonale Stammzellforschung aus. Allein der Bundesstaat Kalifornien stellt
in einem Jahr 300 Millionen US-Dollar zur Verfügung.
Diese Größenverhältnisse sagen alles.
Kurz und gut: Mit dem von uns vorgestellten Antrag
kann der Ausgleich zwischen den verschiedenen Positionen von 2002 in verantwortlicher Weise fortgeführt werden.
({4})
Wir tragen mit ihm den veränderten Bedingungen in der
Wissenschaft Rechnung; zugleich wird kein einziger
Embryo berührt. Eine Verschiebung des Stichtages entwertet den damaligen Kompromiss nicht. Im Gegenteil,
sie gibt ihm den Wert zurück, den er 2002 hatte.
Herzlichen Dank.
({5})
Der Kollege Hans-Michael Goldmann ist der nächste
Redner.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zunächst einmal möchte ich sagen, dass ich
sehr froh darüber bin, dass unsere Diskussion trotz der
Bandbreite der Positionen - sie reicht von der Position
Herrn Schilys und meiner Kollegin Frau Flach bis zur
Position anderer - eine weit höhere Qualität aufweist als
das, was ich in den letzten Tagen im Fernsehen sah. Da
wurde in einem Bericht aus Berlin ein armes Kind vorgestellt, mit lauter Schläuchen an seinem Körper. Daneben stand ein ratloser Mediziner, der suggerierte: Wenn
doch nur die embryonale Stammzellforschung möglich
wäre; dann könnte ich diesem Kind helfen. Als ich gestern Abend nach Berlin zurückfuhr, sprach ein Journalist
im Radio davon, dass es sich doch nur um einen Zellhaufen handele und dass man Tilman Riemenschneider ja
auch kein altes Holz zur Verfügung gestellt habe, um
seine Kunstwerke zu erstellen.
({0})
Ich denke, es geht hier um eine ganz grundsätzliche
Auseinandersetzung darüber, wie wir es mit den ethischen Werten in unserer Gesellschaft halten. Es geht hier
nicht darum - auch für mich ganz persönlich nicht -,
seine Position als Katholik deutlich zu machen. Es geht
hier nicht darum, über die Bibel zu reden, sondern es
geht darum, zu fragen, was die Grundbausteine unserer
Gesellschaft sind, welchen Stellenwert wir dem Leben
geben und wie das Leben in unserem Grundgesetz definiert ist: Es existiert von Anfang an.
Ich bin mit der Aussage einverstanden, dass der
Stichtag ein Kompromissstichtag ist. Wir haben es aber
in allen Bereichen, in denen sehr wesentliche Entscheidungen getroffen werden, mit Stichtagen zu tun. Ob Sie
die Präimplantationsdiagnostik durchführen lassen wollen, ob Sie eine Abtreibung machen lassen wollen oder
müssen - auch dann haben Sie es mit Stichtagen zu tun.
Deswegen bin ich der Meinung, dass der Kompromiss
hinsichtlich des alten Stichtages trägt. Diese Regelung
braucht keinen neuen Geist, wie es Herr Rachel eben
zum Ausdruck gebracht hat. Es besteht meiner Meinung
nach auch nicht die Gefahr, dass es beim Thema Stichtag
zu einer Entwicklung gleich einer Wanderdüne kommt.
Wir müssen abklopfen - deswegen bin ich auch froh,
dass es zu diesem Thema noch eine Anhörung geben
wird -, ob der alte Stichtag für die gegebenen Erfordernisse ausreichend ist.
Ich will noch etwas sagen: Ich bin ein bisschen betroffen darüber, dass man zwischen der Ethik des Heilens und - in Anführungsstrichen - der Notwendigkeit
des Tötens abwägen will. Ich glaube, das kann man nicht
miteinander abwägen.
({1})
Es muss immer Vorfahrt für das Leben gelten. Das ist
keine konfessionelle Position, sondern eine grundgesetzliche Position. Sie gilt nicht nur am Anfang des Lebens,
sondern auch am Ende des Lebens.
Wir müssen uns sehr genau darüber unterhalten - das
werden wir im Rahmen der Anhörung auch noch tun -,
ob wir mit der Chance der embryonalen Stammzellenforschung weitergekommen sind. Ich glaube, man muss
sehr kritisch hinterfragen, wie die Tumorneigung von
embryonalen Stammzellen außerhalb des menschlichen
Körpers aussieht. Nehmen wir hier nicht einen sehr hohen ethischen Preis in Kauf, um vermeintliche Erfolge
zu erzielen? Ist das zu rechtfertigen? Ich melde hier erhebliche Zweifel an; denn gerade die Entwicklungen der
letzten Zeit haben gezeigt, dass uns die Erfolge mit der
adulten Stammzellenforschung wesentlich weitergebracht haben.
Es betrübt mich schon, wenn manchmal durchklingt,
dass der eine oder andere Antrag vielleicht nicht ganz so
wertvoll sei. Ich finde sie alle sehr wertvoll, weil sie eine
wichtige Grundlage sind, um Dinge zu entwickeln. Jeder
von Ihnen wird persönliche Erfahrungen gemacht haben,
möglicherweise mit dem Vater, der elendig an Krebs gestorben ist. Ich glaube, man sollte die Werthaltigkeit der
Anträge nicht infrage stellen.
({2})
Ich habe mich positioniert und gesagt, dass ich den
Kompromiss für klug und notwendig halte. Wir sollten
nicht an ihm rütteln.
Ich möchte noch einen Gedanken anfügen, der
manchmal ein bisschen zu kurz kommt und den man si14904
cherlich kritisch sehen sollte. Ich fand es sehr interessant, dass in den Umfragen, die mir zur Kenntnis gebracht worden sind, Frauen eine wesentlich kritischere
Haltung gegenüber der embryonalen Stammzellenforschung einnehmen als Männer. Wir sollten auch einmal
hinterfragen, wie die Forscherlandschaft in diesem Bereich ausgestaltet ist. Ich fand auch die Feststellung sehr
interessant, dass junge Menschen gerade in letzter Zeit
eine stärker ablehnende Haltung gegenüber der embryonalen Stammzellenforschung einnehmen. Ich meine,
auch das sollten wir im Rahmen der Anhörung und der
weiteren Erörterung dieser Problematik in unsere Überlegungen einbeziehen.
Ich hoffe, dass wir wieder einen guten Kompromiss
finden werden, durch den unsere Gesellschaft vorangebracht wird und der von unserer Gesellschaft getragen
wird.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort erhält der Kollege Michael Kretschmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dieser
Debatte ist viel von Angst die Rede, einer Angst, die aus
dem Unbehagen herrührt, mit den Stammzellforschungsprojekten könnte leichtfertig umgegangen werden. Daher stelle ich zunächst einmal fest, dass jedes der wenigen Projekte, die in Deutschland genehmigt worden
sind, nach sehr strengen fachlichen und vor allem ethischen Maßstäben bewertet wurde. Ich trete dem Eindruck entgegen, die deutschen Forscher gingen mit diesem Thema leichtfertig um und seien sich der ethischen
Bedeutung dieses Themas nicht bewusst.
({0})
Vielmehr täten wir als Deutscher Bundestag gut daran,
egal wie wir zu diesem Thema stehen, der deutschen
Wissenschaft zu vertrauen und das Vertrauen in sie zu
nähren und zu betonen; denn auf diese Leute, über die
wir hier heute oftmals mit dem Anflug reden, es könnte
sich bei ihnen um leichtfertige Gesellen handeln, sind
wir ansonsten stolz. Ihnen haben wir gerade im medizinischen Bereich in den letzten Jahren unheimlich viel zu
verdanken, und wir unterstützen und feiern sie bei vielen
Anlässen. Aus diesem Grund haben sie zunächst einmal
unser Vertrauen und unsere Achtung verdient.
({1})
Meine Damen und Herren, es wird in der Diskussion,
aber auch in der heutigen Debatte im Deutschen Bundestag vieles miteinander vermengt. Wir reden nicht über
das Embryonenschutzgesetz, weil wir uns alle, wie ich
denke, darüber einig sind, dass in Deutschland keine
Stammzelllinien hergestellt werden sollen und dass wir
das Embryonenschutzgesetz nicht ändern wollen. Vielmehr sagen wir ganz deutlich: Das ist für uns ein Wert,
der Bestand hat. Es geht einzig und allein darum,
Stammzelllinien, die im Ausland hergestellt wurden,
auch in Deutschland zu verwenden. Deswegen kann man
auch nicht von einem Dammbruch oder von einer ethischen Wanderdüne reden. Solche Kampfbegriffe tun dieser Diskussion nicht gut.
Von Deutschland wird kein Anreiz ausgehen, Stammzelllinien herzustellen oder Embryonen zu töten.
Deutschland steht eher in der Gefahr, eine Entwicklung
zu verpassen und sich aus ihr zu verabschieden, als
selbst treibende Kraft oder Motor zu sein. Wir haben gerade gehört, dass in Kalifornien allein von der Privatwirtschaft 300 Millionen Euro ausgegeben werden; in
Deutschland reicht die Deutsche Forschungsgemeinschaft 13 Millionen Euro für alle einschlägigen Forschungsbereiche aus, wovon nur 3 Prozent für embryonale Stammzellen bestimmt sind. Alles andere wird für
die Forschung mit tierischen oder adulten Stammzellen
ausgegeben. Aus diesem Grund sage ich noch einmal
ganz deutlich: Deutschland ist bei diesem Thema nicht
der Nabel der Welt, weder was die ethischen Standards
angeht - viele Länder, die wie Spanien und Großbritannien ebenfalls unserem Kulturkreis angehören, gehen
ganz anders damit um; man muss auch einmal darüber
nachdenken, warum andere zu anderen Ergebnissen
kommen - noch was die Funktion als treibende Kraft angeht.
({2})
Es muss uns doch bedenklich stimmen, wenn ein
Land wie die Bundesrepublik Deutschland mit hohen
ethischen Standards und einer bedeutenden Wissenschaft
an diesem Thema nicht mehr mitwirkt.
({3})
Zum einen können wir keine ethischen Standards im
Ausland mitbestimmen, wenn wir nicht mehr daran teilhaben; zum anderen werden wir, wenn es am Ende tatsächlich zu Ergebnissen kommt, an ihnen nicht teilhaben. Meine Damen und Herren, ich kann nur davor
warnen, dass Geisteswissenschaftler oder Ingenieure, die
Mitglieder dieses Parlaments sind und sicherlich auch
große wissenschaftliche Leistungen erbringen, über die
Frage urteilen, ob Forschung an embryonalen Stammzellen eine Chance haben soll oder nicht und ob wir lieber
auf adulte Stammzellen setzen sollen. Dies müssen wir
doch den Wissenschaftlern überlassen, darüber kann
doch nicht die Politik entscheiden.
({4})
Stammzellforschung ist zutiefst Grundlagenforschung, und man kann nie im Voraus wissen, was dabei
herauskommt. Wir reden nicht über Auftragsforschung.
Sie müssen sich stets klarmachen, dass kein Nobelpreisträger einen Preis für das bekommen hat, was er vorhatte, sondern nur für tatsächlich gewonnene Erkenntnisse. So ist es auch bei diesem Thema. Aus diesem
Grund plädiere ich klar dafür, dass wir uns an dieser Forschung beteiligen. Wir brauchen diesen Stichtag nicht.
Die Zulassungsverfahren bieten uns andere Möglichkeiten, unsere ethischen Standards, die, wie ich denke, unumstritten sind, einzuhalten. Wir sollten uns aus diesem
Feld nicht zurückziehen. Wenn es irgendwann einmal zu
Ergebnissen kommt, können wir die Möglichkeiten zur
Heilung niemandem in Deutschland verwehren; das sollten wir auch nicht tun.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Carola
Reimann.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Schon im Herbst 2006 hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft mit großer öffentlicher Resonanz
auf die sich verschlechternden Rahmenbedingungen für
die Stammzellforschung in Deutschland aufmerksam gemacht. Die DFG legte seinerzeit dar, dass die derzeit geltenden Regelungen zur Stichtags- und Strafbarkeitsregelung deutsche Forscher von der Arbeit an neuen,
qualitativ hochwertigen Stammzelllinien de facto ausschließen. In einer großen öffentlichen Anhörung des
Bildungs- und Forschungsausschusses - unter Beteiligung der Gesundheitspolitiker - im Mai 2007 wurde
diese Sichtweise weitgehend bestätigt. Die Mehrheit der
dort gehörten Sachverständigen zeigte einen dringenden
Handlungsbedarf bei der Stichtags- und Strafbarkeitsregelung auf.
({0})
Schließlich fand im September 2007 eine Veranstaltung
zum fünfjährigen Bestehen der Zentralen Ethik-Kommission für Stammzellenforschung statt.
Die beim Robert-Koch-Institut angesiedelte interdisziplinäre Kommission, die wir erstmals mit Inkrafttreten
des Stammzellgesetzes eingesetzt haben, bewertet die
ethische Vertretbarkeit von Forschungsvorhaben mit embryonalen Stammzellen und gibt dann gegenüber der
Genehmigungsbehörde eine entsprechende Stellungnahme ab. Die ethische Vertretbarkeit ist an Vorprüfungen gebunden. Hochrangigkeit und Alternativlosigkeit
- das ist heute Morgen schon angesprochen worden müssen dargelegt werden. Damit verfügt Deutschland
über extrem hohe Prüf- und Zulassungsstandards, die
sonst so nirgends in der Welt zu finden sind.
({1})
Bis zum Herbst 2007 - inzwischen ist ein weiteres
Vorhaben dazugekommen - wurden 25 Vorhaben nach
strenger Prüfung genehmigt, allerdings bei einer sinkenden Zahl von Anträgen. An dieser Stelle ist festzustellen,
dass die Zentrale Ethik-Kommission hier eine ausgesprochen verantwortungsvolle und gute Arbeit geleistet
hat. Dafür möchte ich mich beim Vorsitzenden, Professor Siep - stellvertretend für alle Mitglieder -, für die
sehr gute Arbeit bedanken, die sie geleistet haben.
({2})
Dies gilt im Übrigen auch für die deutschen Forscher.
Mein Vorredner hat bereits darauf hingewiesen, dass sie
seit 2002 sehr verantwortungsvoll mit den zur Verfügung
stehenden Möglichkeiten umgegangen sind.
Bei der Veranstaltung anlässlich des fünfjährigen Bestehens der Zentralen Ethik-Kommission wurde eines
überdeutlich: Die Antragsentwicklung - und zwar nicht
qualitativ, sondern quantitativ - gibt entschieden Anlass
zur Sorge. Es muss etwas geschehen, um den beim
Stammzellgesetz gefundenen Kompromiss weiterhin mit
Leben zu füllen.
Vor diesem Hintergrund haben wir uns entschlossen,
eine Initiative auf den Weg zu bringen, den Stichtag
einmalig zu verschieben. Durch eine einmalige Verschiebung - das ist hier schon angeklungen - erhalten
deutsche Forschergruppen die Möglichkeit, mit
500 hochwertigen und unter standardisierten Bedingungen hergestellten Zelllinien zu arbeiten.
Mit der einmaligen Verschiebung des Stichtags setzen
wir den gefundenen Mittelweg von 2002 fort, der dazu
beigetragen hat, den strengen Maßstab des Embryonenschutzgesetzes zu erhalten. Ich weise noch einmal ausdrücklich darauf hin, dass auch der von uns gewählte
neue Stichtag in der Vergangenheit liegt. So ist sichergestellt - das war eines der zentralen Ziele des Stammzellgesetzes und sollte es auch bleiben -, dass von Deutschland keinerlei Anreize ausgehen, sogenannte überzählige
Embryonen für Forschungszwecke zu verbrauchen.
({3})
Eine Verschiebung des Stichtags auf den 1. Mai 2007 gefährdet die Grundintention des Stammzellgesetzes in
keiner Weise, sondern erhält diesen Mittelweg.
Besonders diejenigen, die eine Stichtagsverschiebung rigoros ablehnen, müssen sich fragen lassen, wie in
Zukunft die wichtige Forschung mit adulten Stammzellen vorankommen soll. Hier wird immer wieder übersehen, dass die jüngsten Erfolge bei der Umwandlung von
adulten Körperzellen in pluripotente Stammzellen - die
sogenannte induzierte Pluripotenz - ohne die jahrelange
embryonale Stammzellforschung nicht möglich gewesen
wäre.
({4})
Wir können auch in nächster Zukunft nicht auf die Forschung an embryonalen Stammzellen verzichten; denn
sie ist - darüber wurde intensiv diskutiert - für Referenzbzw. Vergleichsmöglichkeiten notwendig. Dabei geht es
nicht unbedingt um vergleichende Studien, sondern darum, Wissen über Differenzierungsvorgänge zu erlangen. Dieses Wissen wird in beiden Bereichen genutzt,
und zwar wechselseitig.
({5})
Der damalige vermittelnde Weg konnte nur zustande
kommen, weil die Vertreter einer größeren Forschungsfreiheit und die Befürworter eines umfassenden Lebensschutzes ihre weiter gehenden Überzeugungen zugunsten eines tragfähigen und gangbaren Kompromisses
zurückgestellt haben. Auch die Initiatoren des heutigen
Kompromissvorschlages sind von unterschiedlichen Positionen gekommen, um sich nach gründlicher Abwägung der Argumente auf den nun vorliegenden Vorschlag einer einmaligen Stichtagsverschiebung zu
verständigen. Deshalb denke ich, dass wir mit dem Gesetzentwurf einen vermittelnden Vorschlag vorlegen, den
viele Kolleginnen und Kollegen mittragen können.
Wir erhalten damit die Substanz des gefundenen Mittelweges. Was wollten denn die Väter und Mütter des
Stammzellgesetzes? - Ich begrüße in diesem Zusammenhang Margot von Renesse und Wolf-Michael
Catenhusen auf der Zuschauertribüne. - Wir wollten
doch einen Ausgleich zwischen Lebensschutz auf der einen Seite und Freiheit der Forschung und dem berechtigten Interesse kranker Menschen an neuen Therapiemöglichkeiten auf der anderen Seite. Wir setzen das mit dem
vermittelnden Vorschlag in Verantwortung fort und ermöglichen, dass dieser Weg begehbar bleibt und nicht
nur auf dem Papier besteht.
Ich danke.
({6})
Das Wort erhält nun der Kollege Volker Kauder.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben in Europa zwei große Traditionen.
Die erste große Tradition ist die Forschungstradition.
Mit dieser Forschungstradition haben wir unglaublich
viel für die Welt und die Menschen bewegt. Wir haben
Ergebnisse erzielt, die die Menschen zum Staunen gebracht haben. Wir haben Ergebnisse erzielt, die junge
Menschen dazu bewogen haben, sich den Naturwissenschaften zu widmen. Diese große Forschungstradition ist
ungebrochen. Deshalb ist es völlig richtig, wenn die
Bundesregierung und insbesondere die Forschungsministerin, aber auch wir in der EU die Forschung in ganz
besonderer Weise fördern und unterstützen. Wir müssen
als Deutscher Bundestag alles daran setzen, dass die
Bundesregierung und insbesondere die Forschungsministerin das Ziel erreichen können, die Forschung in Europa voranzubringen.
Wir haben eine zweite große Tradition, die ihren ersten Höhepunkt in der Aufklärung hatte. Wir sind uns
darüber bewusst geworden, dass der Mensch nicht einfach als naturwissenschaftliches Produkt, sondern auch
als geistiges Wesen in der Welt ist. Der Mensch hat sich
immer gefragt, ob es Grenzen seines Handelns gibt oder
ob er alles, was er kann, auch wirklich darf. Die Qualität
des Menschen zeichnet aus, dass er sich fragt, welche
Konsequenz sein Handeln hat, dass er nicht nur auf Forschung und Innovation schaut. Diese zweite große Traditionslinie besagt, dass der Mensch nicht alles darf, was
er kann. Unbestritten war und ist, dass der Mensch nie
zum Objekt werden darf, dass er nie verzweckt werden
darf, sondern dass er in seiner Menschenwürde immer
als Ebenbild Gottes betrachtet werden muss.
({0})
Heute führen wir eine Diskussion darüber, was Technik, Innovation und Wissenschaft können. Ich will gar
nicht bestreiten, dass es da Möglichkeiten gibt, wenngleich all diejenigen, die von den großen Möglichkeiten
der embryonalen Stammzellen sprechen, den Beweis dafür noch schuldig geblieben sind und noch keine Antwort auf die Frage haben, was passiert, wenn Fehlentwicklungen stattfinden. Aber diese Frage will ich gar
nicht weiter vertiefen.
Ich glaube vielmehr, dass die ganz entscheidende
Frage, die gestellt werden muss, lautet: Wann beginnt
menschliches Leben?
({1})
Die Antwort auf diese Frage entscheidet darüber, was
ich mit den Zellen machen darf und was nicht. Da es darüber unterschiedliche Auffassungen gibt, haben wir
heute eine Debatte, die losgelöst von Fraktionsvorgaben
ist. Jeder ist seinem Gewissen verantwortlich. Es ist völlig richtig, dass die Frage, wann menschliches Leben
beginnt, eine Frage der Definition ist. Sie wird in verschiedenen Kulturen und von verschiedenen Religionen
unterschiedlich beantwortet. Der Respekt vor diesen Religionen gebietet es mir, mich mit dieser Frage auseinanderzusetzen. Ich komme zu einer für mich ganz eindeutigen und klaren Position, und die heißt: Da ich nicht
hundertprozentig weiß - das ist eine Definitionsfrage,
und eine Definition hängt natürlich immer von denen ab,
die die Definition geben -, wann menschliches Leben
beginnt, bin ich in Respekt vor der Würde des Menschen
und der Ebenbildlichkeit Gottes der Auffassung, den
Termin zum frühestmöglichen Zeitpunkt anzusetzen
und nicht zum spätestmöglichen.
({2})
Ich komme zu der Überzeugung, dass die Ei- und die Samenzelle das eine sind, aber dass mit der Verbindung
von Ei- und Samenzelle etwas ganz Neuartiges entsteht,
etwas, mit dem sich der Start des Lebens verbindet und
mit dem Leben weitergeht. Jeder, der diese Position
nicht vertritt, muss mir sagen, wann Leben beginnt.
Ich glaube, die entscheidende Frage heute - die müssen sich alle vorlegen - ist nicht, ob der Stichtag verschoben werden soll oder nicht, sondern entscheidend
ist: Wenn ich dem Embryo menschliche Lebensqualität
zugestehe, dann verbietet sich Forschung an ihm, und
dann darf ich auch nicht aus der Dritten Welt oder von
sonst wo die Zellen herholen. Da kann ich nur sagen,
was der Moraltheologe Eberhard Schockenhoff und anVolker Kauder
dere sagen: Das fortgesetzte Rechnen mit fremdem,
nicht selbst begangenem Unrecht erschüttert die eigene
moralische Glaubwürdigkeit.
({3})
Weil ich zu der Überzeugung komme, dass der Start
des menschlichen Lebens unwiderruflich mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle beginnt, was wir im
Übrigen auch im Embryonenschutzgesetz formuliert haben, bin ich der Auffassung, dass wir an den Embryonen
nicht forschen dürfen. Deswegen bin ich gegen eine Verschiebung des Stichtages.
({4})
Der Kollege Jochen Borchert hat im Jahr 2002 genau das
formuliert, was heute eintritt: Es wird nicht beim Stichtag bleiben, er wird verschoben werden. ({5})
Ich sage Ihnen: Es wird auch nicht bei diesem Stichtag
bleiben. Es gibt nämlich nur die Alternative: Wenn der
Embryo menschliches Leben ist, dann nein, und wenn er
es nicht ist, dann brauche ich auch keinen Stichtag; dann
stellen sich die Fragen ganz neu.
({6})
Ich werbe für klare Positionen, und ich werbe dafür, dass
wir den Embryo als den Startschuss des menschlichen
Lebens betrachten, sodass niemand mehr sagen kann,
dass das menschliche Leben später beginnt. Allein der
frühestmögliche Zeitpunkt hilft, menschliches Leben zu
schützen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nun Kollegin Cornelia Pieper.
({0})
Sehr geehrter Präsident! Meine Damen und Herren!
Lieber Herr Kauder, nachdem Sie die Debatte mit der
Frage, wann menschliches Leben beginnt, fortgesetzt haben, möchte ich an dieser Stelle auch namens der FDPFraktion an eine andere wichtige Debatte ethischer Kultur erinnern, nämlich an die Debatte zum Schwangerschaftsrecht mit der Fristenlösung. Auch damals haben
wir uns verantwortungsbewusst der Frage gestellt: Wann
beginnt menschliches Leben? Wir haben aus meiner
Sicht sehr verantwortungsbewusst zwischen dem Schutz
des ungeborenen Lebens und dem Selbstbestimmungsrecht von Frauen abgewogen. Ich meine, dass die
Lösung, die wir gefunden haben, nämlich eine Fristenlösung mit einer Beratungspflicht, eine sehr verantwortungsbewusste Lösung war, die man mit dieser Debatte
heute nicht wieder infrage stellen sollte, Herr Kauder,
wie Sie es getan haben.
Wir müssen uns bewusst machen, dass es in der Debatte, die wir heute zum Stammzellgesetz führen, sowohl um den Schutz des ungeborenen Lebens als auch
um die Unversehrtheit des Lebens geht, also um die
Ethik des Heilens.
({0})
Ich möchte ganz bewusst an die Worte der Kanzlerin
in ihrer ersten Regierungserklärung erinnern - daran erinnere ich mich immer sehr gerne.
({1})
Sie wissen, was kommt: „mehr Freiheit wagen!“
Ich zitiere die Kanzlerin:
Wir müssen auf die Freiheit der Entwicklungsmöglichkeiten in der Nano-, Bio- und Informationstechnologie setzen.
Der Staat darf nicht glauben, er wisse selber, was da
am besten zu tun sei, sondern wir müssen die Begutachtung durch die Wissenschaftsorganisationen
in den Vordergrund rücken.
({2})
So, wie es die Kanzlerin damals formuliert hat, will
ich es heute auch tun. Ich finde es nicht richtig, dass wir
in der Debatte heute - in einigen Beiträgen kam das ein
bisschen zum Vorschein - den Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftlern nicht verantwortungsbewusstes Handeln unterstellen. Denn auch sie diskutieren natürlich
ethische Fragen. Wir alle wissen doch, dass selbst in der
Zentralen Ethik-Kommission für Stammzellenforschung namhafte Stammzellenforscher mitarbeiten und
unter strengen ethischen Auflagen Entscheidungen für
Forschungsprojekte mit embryonalen Stammzellen treffen.
({3})
Deshalb möchte ich heute die Leopoldina, die älteste
Akademie der Naturwissenschaften - ich gratuliere Frau
Schavan noch einmal zu der Entscheidung, die Leopoldina zur Nationalen Akademie der Wissenschaften zu
machen -, zitieren. Die Leopoldina hat in ihrer Stellungnahme zur Stammzellenforschung erklärt:
Es ist wissenschaftlich trotz wiederholter anderer
Aussagen aus Politik und Medien allgemein anerkannt, dass beim derzeitigen Kenntnisstand die
ethisch unbedenklichen adulten Stammzellen die
humanen embryonalen Stammzellen auch im Stadium der Forschungsentwicklung nicht ersetzen
können. Dies ist in zahlreichen Studien zur Regene14908
ration von Herzgewebe mit Knochenmarkstammzellen gezeigt worden.
Professor Steinhoff, ein Ihnen bekannter Stammzellenforscher aus Rostock, der sich mit der Regeneration
von Zellgewebe des Herzens befasst, hat es in einer Anhörung, die wir im Mai vergangenen Jahres durchgeführt
haben, vor dem Forschungsausschuss folgendermaßen
formuliert:
Die wissenschaftliche Untersuchung von Stammzellen ist Lebensforschung, und zwar von der ersten
Sekunde des Lebens bis zur letzten Sekunde, und
da kann man Stammzellen nicht trennen in embryonal, fötal oder adult. Sie alle können nicht ohne
Stammzellenerhalt leben. … Deshalb können wir
aus Sicht der Klinik und der adulten Stammzellforschung nicht auf die embryonale Stammzellforschung verzichten.
({4})
Meine Damen und Herren, das ist der Punkt. Aus
meiner Sicht ist es auch wichtig, in diesem Zusammenhang noch einmal die Ethik des Heilens in den Vordergrund zu stellen. Wozu machen wir denn Forschung?
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler forschen
doch nicht aus Selbstzweck. Wir machen Forschung im
Dienste des Menschen, zum Wohle der Menschen.
Dank der Forschung ist es heute beispielsweise schon
möglich, viele Krebsarten zu bekämpfen. Aber als die
Grundlagenforschung in diesem Bereich begonnen hat,
war sie natürlich ergebnisoffen. So ist es auch heute bei
der Stammzellforschung. Wenn sich Chancen auf Heilung eröffnen könnten, dann dürfen wir uns dem doch
nicht versperren.
Herr Hüppe, Sie haben gesagt, dass einige Verbände
- Sie haben die Behindertenverbände angesprochen - zu
Recht nicht wollen, dass mit embryonalen Stammzellen
geforscht wird. Aber man kann doch nicht gleichzeitig
anderen Menschen, die für sich persönlich entscheiden,
dass sie geheilt werden möchten, Therapien verwehren,
die irgendwann zur Verfügung stehen.
Ich zitiere das Grundgesetz:
Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.
({5})
Diesem Grundrecht fühlen wir uns verpflichtet.
Es sind für mich auch Zweifel angebracht, ob das bestehende Stammzellgesetz in der Tat dem Grundrecht
auf Forschungsfreiheit standhält; Frau Reiche hat es
schon angesprochen. Auch eine Verschiebung des Stichtages wird dieses Dilemma nicht lösen. Das hat auch
Herr Professor Schöler, einer der weltweit bekanntesten
Stammzellforscher, in der letzten Anhörung im Forschungsausschuss zum Ausdruck gebracht.
„Deutsche Stammzellforscher können international
nur noch schwer mithalten“, sagt Hans-Peter Schreiber,
Leiter des Novartis-Ethikrates.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ich glaube, dass wir gut daran tun, gerade am Forschungsstandort Deutschland Zeichen zu setzen, uns
nicht einer Entwicklung zu versperren, die unter ethischen Prinzipien gut ist und die aus meiner Sicht auch
notwendig ist, um den Standort Deutschland weiterhin
an der Spitze zu halten, vor allen Dingen um Menschen
zu helfen, die schwer krank sind. Deswegen votiere ich
für den Fall des Stichtages, und ich votiere vor allen
Dingen für die Entkriminalisierung der Forscher in diesem Land.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Eberhard Gienger.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
der Biotechnologie verbinden sich wie in fast keinem anderen Forschungsgebiet große gesellschaftliche Hoffnungen. Aber diese Hoffnungen werden auch begleitet
von Ängsten und Sorgen. Vielen Menschen wird „unheimlich“. Sie fragen sich: Sind denn die Forscher die
neuen Zauberlehrlinge des Lebens? Sie fürchten ethische
Dammbrüche, die unsere Gesellschaft verändern könnten.
Die Menschen erwarten von der Politik aber zu Recht,
dass sie die Rahmenbedingungen so setzt, dass neue
Technologien zum Positiven genutzt werden können.
Die Diskussion um die Stammzellforschung hat eine besondere Dimension, besonders für Abgeordnete, die sich
am christlichen Menschenbild orientieren.
Als Forschungspolitiker stehe ich hier wie viele andere Mitglieder dieses Hohen Hauses vor der enormen
Herausforderung, unsere klare Position zum Lebensschutz verantwortlich in Einklang zu bringen mit den
berechtigten Interessen der Forschung. Mit dem Antrag
zur einmaligen Verschiebung des Stichtages glauben wir
einen guten Weg gefunden zu haben, mit dem wir die
Substanz des 2002 erlangten Kompromisses fortschreiben und erhalten können. Aus forschungspolitischer
Sicht geht es mir dabei in erster Linie um die Vereinbarkeit von Lebensschutz und Verpflichtung zum Heilen;
zum anderen geht es mir darum, die rechtlichen Rahmenbedingungen dafür zu setzen, dass geforscht werden
kann. Zugegeben, das ist keine einfache Aufgabe. Die
meisten von uns befinden sich hier in einem Dilemma.
Als vor fast sechs Jahren das Stammzellgesetz verabschiedet wurde, ist den deutschen Forschern erlaubt worden, mit humanen embryonalen Stammzellen zu arbeiEberhard Gienger
ten, ohne jedoch Anreize für die Tötung von Embryonen
zu geben. Das muss auch so bleiben.
Mit der Stichtagverschiebung zum 1. Mai 2007 haben
wir einen Kompromiss gefunden, dem sich die Forscher,
ein großer Teil der evangelischen Kirche und auch viele
Katholiken dieses Hohen Hauses anschließen können.
Ein Stichtag ist ein wirksames Instrument, um zu verhindern, dass von Deutschland ein Anreiz ausgeht, Embryonen für die Herstellung von Stammzelllinien zu töten.
Einen solchen Anreiz wollen wir definitiv nicht.
({0})
Wir lehnen deshalb die gänzliche Aufhebung des
Stichtages entschieden ab. Eine Aufhebung ist auch
nicht nötig, da wir eine erfolgreiche Reprogrammierung
von menschlichen Hautzellen zu Zellen mit embryonalen Eigenschaften demnächst erwarten dürfen. Deswegen können wir davon ausgehen, dass wir in absehbarer
Zeit auch auf embryonale Stammzellen verzichten können. Doch bis es so weit ist, müssen Forscher die reprogrammierten embryonalen Stammzellen miteinander
vergleichen können.
Wissenschaftler sind davon überzeugt, dass auf Forschungsarbeiten mit humanen embryonalen Stammzellen derzeit nicht verzichtet werden kann. Grundlagenkenntnisse für mögliche spätere therapeutische
Ansätze können zum Teil nur in parallelen Arbeiten an
adulten sowie an embryonalen Stammzellen gewonnen
werden. Professor Ho, der nur an adulten Stammzellen
arbeitet, hat hier in einer Anhörung vor einigen Monaten
gesagt: Ohne die Kenntnisse der embryonalen Stammzellen hätte ich es nicht so weit gebracht.
({1})
Wir wollen demzufolge der Forschungsfreiheit und auch
dem Interesse der kranken Menschen an der Entwicklung neuer Therapien angemessen Rechnung tragen.
Uns ist es wichtig, dass die Grundausrichtung des bestehenden Gesetzes nicht verändert wird. Es geht um die
Anpassung an neue wissenschaftliche Erkenntnisse
und Herausforderungen.
Wir befinden uns unausweichlich in einem Dilemma.
Die Werteorientierung für uns heißt: Lebensschutz. Aber
dies beinhaltet auch die Verantwortung für die geborenen Menschen und deren Lebenswürde. Diese Verantwortung verpflichtet uns, Krankheiten zu bekämpfen
und Heilungschancen zu nutzen. Eine einmalige Verschiebung des Stichtags ist aus meiner Sicht nicht nur
eine verantwortbare Lösung; sie ist aus meiner Sicht eine
gute Lösung. Ich bitte Sie deshalb, unserem Antrag zu
folgen.
Vielen Dank.
({2})
Nun hat Fritz Kuhn das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Präsident! Für mich ist eine vernünftige und kluge Definition
dessen, was ein Embryo ist, der Satz: Ein Embryo ist ein
zukünftiges Kind zukünftiger Eltern. - Er kann - deswegen bin ich gegen eine Stichtagsverschiebung - nicht als
Rohstoff oder als Zellmaterial angesehen werden.
({0})
Jürgen Habermas hat in einer wichtigen Schrift zur
Frage der Bioethik einmal gesagt, dass die Instrumentalisierung des vorpersonalen Lebens unser gattungsethisches Selbstverständnis - wie wir uns in unserer Kultur
mit den Traditionen, die wir haben, definieren - aufs
Spiel setzen würde, also das, was wir in unserer Kultur
unter Menschsein verstehen. Deswegen sage ich: Bei alldem, was die Tür dazu öffnet, aus dem Embryo einen
Rohstoff für Heilungsprozesse zu machen, haben wir
es mit einer gefährlichen Fragestellung zu tun; über die
Grenzen haben wir ernsthaft zu diskutieren.
Wir diskutieren - Herr Kauder hat es vorhin dargestellt - in einer Welt der naturwissenschaftlichen ZweckMittel-Relation, aber auch in einer moralischen Welt der
Ethik. Es gibt in der Ethik seit langem, seit David
Hume, einen Grundsatz, der lautet: Du darfst keinen naturalistischen Fehlschluss begehen. - Es ist unzulässig,
in ethischen Diskussionen aus dem Sein auf das Sollen
zu schließen.
({1})
„Weil es faktisch Ungerechtigkeit gibt, dürfen wir Ungerechtigkeit akzeptieren“, das wäre ein Beispiel für einen
naturalistischen Fehlschluss.
Das heißt übrigens auch: Aus einem prognostizierten
Sein - mit Stammzellenforschung heilen wir jetzt noch
unheilbare Krankheiten; das ist ja eine Hoffnung oder
ein vages Versprechen - darf nicht abgeleitet werden,
was wir heute tun müssen. Wenn wir dies anfangen - an
dieser Stelle schaue ich Frau Kollegin Flach an -, hebeln
wir systematisch alle ethischen, moralischen Diskussionen aus. Dann gibt es nämlich nichts anderes mehr. Aus
der Möglichkeit, die übrigens in allem steckt, dieses oder
jenes zu tun, müssen wir dann, moralisch gezwungen,
dieses oder jenes zulassen.
({2})
Wer dies macht, hebelt die Ethik aus und verlässt systematisch die Spannung zwischen Kausalität und moralischer Verantwortung - das sind die zwei Welten, die
Kollege Kauder angeführt hat -, indem er die Ethik nicht
mehr entsprechend zur Geltung bringt.
Deswegen: Vorsicht vor dieser Argumentation: „Wir
müssen, weil es das Ausland macht, weil die Hoffnung
daran hängt“! Diese Argumentation ist - ich will es den
Kollegen nicht persönlich unterstellen ({3})
in logischer Konsequenz durchdacht meines Erachtens
eine Kapitulation vor der ethischen Grundfrage, und
die heißt seit Kant: Was dürfen wir tun? Die muss mit eigener Vernunft und darf nicht nur mit Verweis darauf,
was andere tun, beantwortet werden.
({4})
Ich will jetzt noch etwas zum Thema Kompromiss
sagen; da war ich doch ein bisschen erstaunt. Herr Kollege Röspel, was wir im Jahr 2002 beschlossen haben,
war, fand ich, ein Kompromiss und nicht ein Mittelweg.
Ich war erstaunt über den Begriff Mittelweg. Ich sage Ihnen: Es war deswegen ein Kompromiss, weil er für beide
Seiten - die Lösung war ja der Stichtag - Zumutungen
bedeutet hat. Für viele von uns war dieser Kompromiss
eine Zumutung, aber wir haben gesagt: Obwohl wir eine
eindeutige Auffassung von der Bedeutung von Embryos
haben, machen wir bei der Festlegung eines einmaligen
Stichtages mit, weil wir das Argument, mit der Gewährung von Forschungsfreiheit in diesem Bereich könne
man möglicherweise Heilmethoden für bisher unheilbare
Krankheiten entwickeln, gewertet und gewichtet haben.
Ihr Vorschlag, den Stichtag „einmalig“ zu verschieben, stellt für uns ein Abrücken von diesem Kompromiss
dar. Ich fühle mich sogar ein wenig betrogen, nachdem
ich 2002 den Kompromiss mitgetragen habe. Ich will Ihnen das erläutern: Damals war der Kontext, dass die Verfechter der embryonalen Stammzellforschung doch sehr
stark argumentiert haben, dass sie gute Hinweise hätten,
dass durch entsprechende therapeutische Eingriffe bisher
unheilbare Krankheiten geheilt werden könnten.
({5})
Dieses Argument ist in den letzten sieben Jahren sehr
stark in den Hintergrund getreten. Wenn man jetzt aus
den gleichen Gründen sagt, man müsse den Stichtag
weiter nach hinten verschieben, dann nimmt man das,
was sich in der Zwischenzeit getan und gezeigt hat, nicht
besonders ernst.
({6})
Herr Röspel, wir wollen fair diskutieren. Ich will Ihnen nichts unterstellen.
({7})
Man muss aber auch schon streiten und Auseinandersetzungen ertragen können. Alle wissen doch - Sie sind ja
auch Politiker -, welches Signal wir, wenn wir jetzt einen neuen Stichtag festlegen, an das Ausland und die
ganze Forschungscommunity senden. Das Signal ist eindeutig:
({8})
Immer dann, wenn neue Argumente - jetzt übrigens
schwächere als damals - ins Feld geführt und breit über
die Medien transportiert werden, hat man eine ausreichende Begründung für die Festlegung eines neuen
Stichtages.
Deswegen sage ich: Wer sich dafür einsetzt, dass wir
einen neuen Stichtag beschließen, der gibt damit einen
Dauerauftrag für weitere Stichtagsverschiebungen auf.
Ich finde, das sollten wir nicht tun. Das war nicht die
Geschäftsgrundlage für den Kompromiss des Jahres
2002.
({9})
Das Wort hat nun Thomas Oppermann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kant ist
heute in unserer Debatte mehrfach und auch zu Recht zitiert worden, so von Herrn Schily und von Herrn Kauder.
Auch mein Vorredner Kuhn hat es versucht. Kant hat in
seiner Kritik der reinen Vernunft die richtigen Fragen für
unsere Debatte formuliert. Sie lauten: „Was kann ich
wissen?“, „Was soll ich tun?“ und „Was darf ich hoffen?“.
Die Stammzellforschung hat zunächst einmal etwas
mit Wissen zu tun. Es handelt sich nicht um eine Therapieforschung. Es geht darum, die grundlegende Funktionsweise von Zellen, von Zellveränderungen und von
menschlichem Leben herauszufinden.
({0})
Bevor wir zu Heilmethoden und Therapien kommen,
müssen wir erst einmal die Wissensbasis dafür erarbeiten, müssen wir durch Forschung erst einmal das notwendige Wissen dafür erlangen. Deshalb geht die Kritik,
die hier teilweise formuliert worden ist, dass nach so und
so vielen Jahren noch keine Therapien entwickelt wurden, das alles daher nichts gebracht habe und man jetzt
auf adulte Stammzellen zurückgreifen müsse, völlig an
der Sache vorbei.
({1})
Stammzellforschung ist Grundlagenforschung.
Grundlagenforschung ist zunächst einmal die Erweiterung des Wissens, also die Verschiebung der Grenzen
menschlichen Wissens, Schritt um Schritt. Aber medizinische Grundlagenforschung von heute hilft auch den
Erkrankten von morgen und übermorgen. Übrigens verdanken wir die medizinischen Heilbehandlungsmöglichkeiten, die wir heute genießen, der Grundlagenforschung
von vor 50 oder 100 Jahren. Deshalb ist die Frage, wie
wir mit vielversprechenden, mit aussichtsreichen Forschungsansätzen bei der embryonalen Stammzellforschung umgehen, auch eine Frage, an der sich die Möglichkeiten entscheiden, die künftige Generationen haben.
({2})
Meine Damen und Herren, was sollen wir tun? Sollen
wir am Stichtag festhalten, sollen wir ihn verschieben,
oder sollen wir ihn ganz aufgeben? Ich plädiere konsequenterweise dafür, ihn ganz aufzuheben. Die deutsche
Stichtagsregelung mit dem Stichtag 1. Januar 2002 hat
ganz offenkundig und ganz erkennbar keinen Einfluss
auf die Nutzung von Embryonen.
({3})
Auch ohne Veranlassung oder Anreizwirkung aus
Deutschland sind in den letzten Jahren weltweit rund
500 embryonale Stammzelllinien etabliert worden.
Wenn die deutschen Forscher durch eine Verschiebung
oder Aufhebung des Stichtages jetzt Zugang zu diesen
neuen, hochwertigen Stammzelllinien bekommen, dann
können sie den Anschluss an die internationale Forschung gewinnen. Aber vermutlich müssten wir schon in
wenigen Jahren den Stichtag erneut verschieben, weil
dann noch bessere Linien zur Verfügung stehen. Ich rate
davon ab.
({4})
Ich finde es im Übrigen ohnehin hochproblematisch,
dass wir einerseits den Import von überzähligen ausländischen Embryonen erlauben, gleichzeitig aber die Verwendung überzähliger inländischer Embryonen unter
Strafe stellen.
({5})
Das ist für mich ein schwerer Wertungswiderspruch. Ich
kenne keinen einzigen Grund, warum inländische Embryonen schutzwürdiger sein sollten als ausländische
Embryonen.
({6})
Das Argument, mit den adulten Stammzellen könnten
die gleichen Erfolge erzielt werden, ist nicht redlich. Es
ist schon darauf hingewiesen worden: Die embryonale
Stammzellforschung ist notwendige Grundlagenforschung, um die Funktionsweise von adulten Stammzellen präzise verstehen zu können. Wenn wir adulte
Stammzellen für die Therapie wollen, dann brauchen wir
gerade deshalb mehr Forschung mit embryonalen
Stammzellen.
({7})
Was dürfen wir hoffen, meine Damen und Herren?
Durch verantwortbare Forschung mit embryonalen
Stammzellen können wir neue, grundlegende Erkenntnisse über die Entwicklung, die Degeneration und die
Regeneration von menschlichen Zellen gewinnen. Das
könnte für die Lebensqualität, die Gesundheit und die
Lebenschancen künftiger Generationen eine ganz wesentliche Verbesserung sein. Dafür zu arbeiten, haben
wir als aufgeklärte Menschen das Recht, aber auch die
Pflicht.
({8})
Das Wort hat Brigitte Zypries.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute über die Änderung des Stammzellgesetzes diskutieren, dann sind drei Aspekte, mit denen
wir es zu tun haben, von sehr großer Bedeutung: Erstens
geht es um die Grenzen der Wissenschaft, sowohl verfassungsrechtlich als auch ethisch. Nicht alles, was an
Biomedizin heute oder künftig möglich ist, wollen oder
können wir zulassen. Zweitens geht es neben dem medizinischen Fortschritt um die Chancen, schwere Krankheiten künftig besser zu heilen und dadurch menschliches Leben zu retten. Drittens geht es um den
Forschungsstandort Deutschland und die vom Grundgesetz garantierte Freiheit der Forschung.
({0})
Es geht darum, ob unsere Wissenschaftler auch in Zukunft international konkurrenzfähig bleiben können.
Das Stammzellgesetz von 2002 sah einen vernünftigen Ausgleich zwischen allen Belangen - den Belangen
der Medizin, der Forschung und des Schutzes embryonalen Lebens - vor. Heute, sechs Jahre später, müssen wir
feststellen, dass das geltende Recht diesen Ausgleich
nicht mehr hinreichend gewährleistet. Die bisherige
Stichtagsregelung schränkt die Forschungsmöglichkeiten für die heutige Zeit zu stark ein. Die Stammzelllinien
aus der Zeit vor dem Stichtag reichen quantitativ und
qualitativ nicht mehr aus. Deshalb meine ich: Wir brauchen eine Änderung des Gesetzes. Ich meine auch, dass
eine Verschiebung des Stichtages verfassungsrechtlich
einwandfrei und in der Sache richtig ist.
({1})
Für mich ist klar, dass auch der Embryo in der Petrischale kein beliebiger Zellhaufen ist. Er ist menschliches Leben, und unser Grundgesetz verlangt ausdrücklich, Leben zu schützen. Dafür, wie wir das tun, gibt uns
die Verfassung allerdings einen Spielraum. Wir sind verpflichtet, diesen Spielraum zu nutzen, und zwar verantwortungsvoll.
({2})
Nur so können wir auch anderen Verfassungsgütern oder
anderen Facetten der staatlichen Schutzpflicht Geltung
verschaffen, zum Beispiel der Forschungsfreiheit oder
der Verpflichtung des Staates, die Menschen bestmöglich vor Krankheiten zu schützen.
Mit dem Embryonenschutzgesetz und der neuen
Stichtagsregelung im Stammzellgesetz gelingt uns ein
vernünftiger Ausgleich zwischen diesen verschiedenen
Verfassungsgütern. Das Embryonenschutzgesetz verbietet die Tötung von Embryonen zur Gewinnung von
Stammzellen. Dabei bleibt es. Dieses Verbot steht nicht
zur Disposition.
({3})
Wenn wir jetzt den Stichtag einmalig verschieben,
dann erlauben wir der Forschung, mit Stammzellen zu
arbeiten, die bereits vor dem Stichtag bestanden. Wir
schützen zugleich das embryonale Leben, weil von
Deutschland auch künftig kein Anreiz ausgeht, Embryonen zur Gewinnung von neuen Stammzellen zu töten.
Die Verschiebung des Stichtages ist eine gute und
verfassungsrechtlich vernünftige Lösung. Wir sichern
damit eine weitere Stammzellforschung in Deutschland,
und wir schaffen die Grundlage für Verbesserungen etwa
in der Transplantationsmedizin und in der Krebsbekämpfung. Schließlich begründen wir damit die zusätzliche Hoffnung, dass gerade diese Forschung dazu führt,
dass die Wissenschaft auf die Nutzung embryonaler
Stammzellen schon bald völlig verzichten kann.
({4})
Das Wort hat nun Maria Eichhorn.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
menschliche Würde ist unantastbar. Dies gilt für mich
vom Beginn bis zum Ende des menschlichen Lebens.
Deshalb habe ich im Jahr 2002 zusammen mit weiteren
262 Kolleginnen und Kollegen gegen den Import embryonaler Stammzellen und gegen die Stichtagsregelung gestimmt. Die Kernargumente von 2002 gelten heute genauso wie vor sechs Jahren. Diese Grundüberzeugung
kommt im Gesetzentwurf Hüppe zum Ausdruck. Wir,
die 52 Unterzeichner, wollen deutlich machen, dass eine
Forschung mit menschlichen Embryonen auch heute
ethisch nicht zu vertreten ist.
Die Forschung an menschlichen embryonalen
Stammzellen setzt die Tötung von Embryonen voraus.
Deshalb lautet die Schlüsselfrage, der wir uns immer
wieder stellen müssen: Wann entsteht menschliches Leben? Natürlich gibt es unterschiedliche Positionen. Aber
man muss für sich selbst eine Entscheidung treffen. Solange nichts anderes bewiesen wird, ist für mich klar:
Menschliches Leben beginnt mit der Zeugung. Von diesem Augenblick an entwickelt sich ein eigenständiger
Mensch mit all seinen Anlagen und Fähigkeiten. Damit
beginnt die Entwicklung dieses einen unverwechselbaren Menschen. Nach meiner vollen Überzeugung muss
das Leben bereits ab diesem Zeitpunkt geschützt werden.
({0})
Jede andere Bestimmung des Zeitpunkts für den Beginn des vollen Schutzes menschlichen Lebens ist willkürlich. Würden wir dem Menschen nicht von Anfang
an in jedem Stadium die volle Würde zuerkennen, so kämen wir schnell in Gefahr, auch am Ende des Lebens bei
Krankheit oder Gebrechlichkeit diese Zuerkennung der
menschlichen Würde infrage zu stellen.
Der Lebensschutz verträgt keine Relativierung. Forschung an embryonalen Stammzellen ist ethisch bedenklich, weil für ihre Herstellung die Tötung menschlicher
Embryonen erforderlich ist. Der Zweck heiligt nicht die
Mittel.
({1})
Die Verheißungen der Forschung rechtfertigen nicht,
dass menschliches Leben getötet wird. Das gilt auch für
die sogenannten überzähligen Embryonen. Das Recht
auf Leben und körperliche Unversehrtheit steht nach
meiner festen Überzeugung höher als die Forschungsfreiheit.
({2})
Liebe Kolleginnen, uns Frauen kommt in den Fortpflanzungstechnologien und in der Embryonenforschung
eine Schlüsselrolle zu. Die embryonale Stammzellforschung basiert auf der Verfügbarkeit von Eizelle und
Embryo. Das führt dazu, dass Frauen in einigen Ländern
gegen Bezahlung dazu animiert werden, Eizellen für die
Forschung zu liefern. Damit werden wir Frauen zu Rohstofflieferanten. Hier wird Menschenwürde verletzt.
Gott sei Dank gibt es das bei uns nicht. Aber nur wenn
wir die ethischen Grundsätze bewahren, wird das bei uns
so bleiben.
In den letzten Jahren wurden pluripotente adulte
Stammzellen entdeckt, die sich in Zellen unterschiedlicher Gewebe entwickeln, für deren Gewinnung weder
Embryonen noch Eizellen von Frauen benötigt werden
und die nach Aussagen der Wissenschaftler nicht von
embryonalen Stammzellen zu unterscheiden sind. Die
Forschung an adulten Stammzellen entspricht den
Vorstellungen der Mehrheit der deutschen Bevölkerung,
vor allem denen der Frauen.
Aus einer Umfrage von Infratest im Januar dieses
Jahres geht hervor, dass sich 61 Prozent der Gesamtbevölkerung, aber 70 Prozent der Frauen für die adulte und
gegen die embryonale Stammzellforschung aussprechen.
75 Prozent der deutschen Frauen wollen darüber hinaus,
dass in Deutschland keine menschlichen Embryonen zu
Forschungszwecken erzeugt und zerstört werden. Das
sollte uns nachdenklich machen.
({3})
Deutschland nimmt schon heute in der adulten
Stammzellforschung einen internationalen Spitzenplatz
ein. Dieser muss weiter ausgebaut werden. Forschung an
adulten Stammzellen ist nicht nur ethisch unbedenklich,
sondern auch therapeutisch aussichtsreicher; das ist
heute schon mehrmals gesagt worden. Wenn wir uns auf
diese Forschung konzentrieren und unseren Einsatz dafür verstärken, liegt dies im Interesse der Patienten und
im Interesse von Forschung und Medizin. Es muss dazu
kein einziger Embryo getötet werden.
Gehen wir diesen Weg, liebe Kolleginnen und Kollegen. Denn der Schutz des menschlichen Lebens hat
höchste Priorität.
({4})
Das Wort hat nun Petra Sitte.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Behutsame Novellierung des Stammzellgesetzes ist die Fortschreibung des Stammzellkompromisses“, haben René
Röspel und andere ihren Antrag überschrieben. In der
Tat gibt dieser Antrag wie auch der von Frau Flach und
anderen eingebrachte Gesetzentwurf der medizinischen
Stammzellforschung in Deutschland eine Perspektive.
Beide Richtungen belassen es trotz Stichtagsveränderung bei den weltweit strengsten Auflagen zur öffentlichen Kontrolle und gegen eine Kommerzialisierbarkeit
dieser Forschung.
({0})
Es handelt sich daher nicht um eine Ausweitung der
Stammzellforschung, wie immer wieder zu hören ist;
vielmehr geht es um die Suche nach neuen Heilungschancen, ergänzend zu herkömmlichen Therapien.
Das heißt, die Stammzellforschung wird fortgesetzt. Am
Ende eines zugegebenermaßen langen Forschungsweges
soll eine auf den einzelnen Patienten oder die einzelne
Patientin zugeschnittene Behandlung von solchen
Krankheiten wie Parkinson und Alzheimer oder des
Herzinfarktes stehen. Solange diese Forschungen nicht
umfassend geschehen sind, diese Chancen nicht seriös
erforscht worden sind, könnte ich persönlich niemandem
erklären, weshalb die medizinische Stammzellforschung
in Deutschland erheblich eingeschränkt wird.
({1})
Darauf liefe aber eine Beibehaltung des alten Stichtages,
wie in dem von Frau Hinz und anderen eingebrachten
Gesetzentwurf gefordert, hinaus. In dem von Herrn
Hüppe und anderen eingebrachten Gesetzentwurf wird
diese Forschung faktisch verboten.
Nun wird gesagt, die Stammzellforschung solle sich
auf alternative, ethisch unbedenkliche Methoden der Gewinnung von Stammzellen konzentrieren. Es wird auf
adulte Stammzellen oder auf reprogrammierte adulte
Stammzellen verwiesen. Auch ich glaube, dass darin
langfristig die Zukunft von Stammzelltherapien liegt. Ob
die Erwartungen zu erfüllen sind, ist aber nicht ohne vergleichende Forschung an embryonalen Stammzellen
einzuschätzen.
({2})
Dabei könnten die weltweit etwa 500 vorhandenen
embryonalen Stammzelllinien helfen. Bliebe es beim alten Stichtag, wären - das ist schon mehrfach gesagt
worden - für die deutsche Forschung eben nur 21 verunreinigte Linien nutzbar. Die so erzielten Ergebnisse
sind - das wird klar belegt; das hat sich auch in der Anhörung gezeigt - unter Umständen verfälscht. Ich verweise allein auf die Schädigungen von Chromosomen.
Mit einer Stichtagsverschiebung ließen sich Forschungen aus anderen Ländern zu besonderen Risiken
aller Stammzelltypen, insbesondere das Problem der Tumorbildung, vergleichen und ergänzen. Wenn nun eingewandt wird, dass die embryonale Stammzellforschung
noch keine klinischen Anwendungen hervorgebracht
hat, dann ist das zweifelsohne richtig. Das hat hier auch
niemand behauptet. Medizinische Forschungen sind nun
einmal so komplex, dass in bestimmten Feldern über
Jahrzehnte geforscht wird. Das zeigt der Kampf gegen
Aids. Ich will einfach einmal einwerfen, dass die Medikamentenentwicklung im Durchschnitt 10 bis 15 Jahre
dauert. Menschliche embryonale und reprogrammierte
Zellen werden frühestens in 15 Jahren klinische Bedeutung erlangen, sagen seriöse Stammzellforscher.
Die Zulässigkeit medizinischer Stammzellforschung
stand und steht im Zentrum bioethischer Debatten; denn
die Zellentnahme führte bislang - es gibt, wie gesagt,
auch andere Methoden - zum Verlust von Embryonen.
Ich meine, der Schutz vorgeburtlichen Lebens und der
Menschenwürde einerseits sowie die Hoffnung auf Heilung und die Forschungsfreiheit andererseits müssen immer wieder aufs Neue miteinander in Einklang gebracht
werden. Es gibt weder einfache Antworten im Umgang
mit menschlichem Leben noch gibt es einen Königsweg
zu einer neuen Therapie.
({3})
Unsere Rechtsordnung schützt den Embryo in Abhängigkeit von seiner vorgeburtlichen Entwicklungsphase.
Das Selbstbestimmungsrecht der Mutter geht unter Umständen dem Lebensrecht des Embryos bzw. Fötus vor.
Gleichwohl wird ein drei Tage alter achtzelliger Embryo
im Reagenzglas absolut geschützt, obwohl ihm erst mit
seiner Einnistung in die Gebärmutter die reale Chance
auf Menschwerdung eröffnet wird.
Selbstverständlich bedarf es des strengen Schutzes.
Zerstörung und Verzweckung des Embryos verhindert
das Embryonenschutzgesetz. Dabei bleibt es auch nach
einer Stichtagsverschiebung. Das Stammzellgesetz vollzieht aber insoweit eine ethische Abwägung, als es ausnahmsweise für ethisch hochstehende Ziele die Einfuhr
und Forschung an bestehenden Stammzelllinien aus dem
Ausland erlaubt.
Die Befürchtungen von 2002, dass Deutschland den
Weg uferloser Embryonenforschung geht, haben sich
nicht erfüllt.
({4})
Daran haben verantwortungsbewusste Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, ein transparentes Genehmigungsverfahren und die Zentrale Ethik-Kommission für
Stammzellforschung einen erheblichen Anteil. Ethisch
umstrittene Forschung bedarf öffentlicher Kontrolle und
Förderung. Schließlich ist Transparenz das beste Mittel
gegen Missbrauch und Kommerzialisierung.
({5})
Abschließend: Ich finde, das Bemühen um neue Therapien für kranke Menschen ist ein wichtiges und ein
ethisch hochstehendes Ziel. Auch diese Menschen haben
ein Recht auf Schutz ihrer körperlichen Unversehrtheit
und ihrer Würde. Deswegen stimme ich für eine Verschiebung des Stichtages. Das ist eine behutsame und
ethisch verantwortbare Lösung.
Danke schön.
({6})
Wie vereinbart, erhält jetzt Monika Knoche das Wort
zu einer Kurzintervention.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Ich melde mich zu einer Kurzintervention, um
deutlich zu machen, dass ich mich sehr geärgert habe.
Ich möchte mein Unverständnis über das Verhalten einiger Antragstellerinnen und Antragsteller in diesem
Hause äußern. Sie haben sich zu Gruppenanträgen zusammengefunden, um das breite Spektrum der Meinungen zu diesem sehr wichtigen Thema, das in allen Fraktionen, auch in der Fraktion Die Linke vorhanden ist,
zum Ausdruck zu bringen.
Es ist nicht möglich gewesen, uns als in dieser Frage
engagierte Linke - auch ich habe sehr intensiv an der
Thematik zum Jahr 2002 gearbeitet - auf die Liste der
Initiatorinnen und Initiatoren dieser Gruppenanträge zu
setzen. Das ist Frau Petra Sitte mit ihrer Position genauso ergangen wie mir.
Im Ergebnis bedeutet das, dass es der Fraktion der
Linken heute nicht möglich ist, hier in diesem Haus die
Breite der Auffassungen darzustellen. Das halte ich angesichts der Bedeutung dieser Thematik für vollkommen
unangemessen,
({0})
und das ist in dieser Debatte nicht wiedergutzumachen.
Ich hoffe sehr, dass wir im Verlaufe des Beratungsverfahrens ernsthaft die Chance haben, dass sich die Kollegialität und das parlamentarische Gebaren wieder dahin
gehend einpendeln, wie es ehedem war.
Eine Position - ich und sehr viele Mitglieder meiner
Fraktion vertreten diese - lautet, dass es hier um die
grundlegende Frage des Verbotes der Instrumentalisierung menschlichen Lebens geht, dass es darum geht,
dass wir Grenzen ziehen müssen gegenüber den Begehrlichkeiten einer Forschung, die auf der künstlichen Erzeugung und Zerstörung menschlichen Lebens aufbaut.
Im Sinne einer Entwicklung einer humanistischen Humanmedizin müssen die Voraussetzungen für Forschung
und für eventuelle therapeutische Anwendungen den
Prinzipien der Menschenwürde und des Lebensschutzes
gerecht werden. Wir haben in unserer Verfassung das
Verbot der fremdnützigen Forschung als eine wichtige
zivilisatorische Errungenschaft festgehalten. An diesen
Prinzipien müssen wir uns messen. Es kann nicht angehen, dass das Parlament, das eine so wesentliche Entscheidung bereits getroffen hat, heute von ständig neuen
Forderungen der Forschung überhäuft wird und seine
Grundsätze und Prinzipien infrage stellen muss.
Deshalb bitte ich die Öffentlichkeit um Verständnis
dafür, dass es der Fraktion der Linken in der Gänze heute
nicht möglich war, an dieser Debatte teilzunehmen. Es
lag nicht an uns. Sie können gewiss sein, dass wir alle
Instrumente nutzen, um die Breite unserer Auffassungen
der Öffentlichkeit zur Kenntnis zu geben.
({1})
Meine Damen und Herren, damit in der Öffentlichkeit
kein falscher Eindruck entsteht, will ich ausdrücklich sagen: Erstens sind Vertreter der Fraktion Die Linke, wenn
ich es richtig gesehen habe, bei allen Vorlagen als Unterzeichner bzw. Antragsteller dabei.
({0})
Zweitens. Es war vereinbart worden, dass es hier nicht
um Fraktionsmeinungen geht, sondern um individuelle
Meinungen,
({1})
Gewissensüberzeugungen, die dargestellt werden, die
sich nicht nach Fraktionen richten. Ich möchte das nur
klarstellen; alles andere ist der Diskussion zugänglich.
Nun erteile ich Wolfgang Wodarg das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Anliegen, jetzt neue Regeln aufzustellen und den Stichtag
zu verschieben, wurde nicht von den Patienten vorgebracht. Es kommt von Forschern in Deutschland, die
eine bestimmte Forschungsrichtung gefahren haben, die
sich darauf verlassen und öffentliche Gelder für ihre Forschung bekommen haben. Diese Forscher sind auf dem
Holzweg. Sie kommen nicht in die Nähe dessen, was sie
den Menschen und uns hier im Hause versprochen haben. Sie haben uns versprochen, dass das, was sie tun, zu
größeren Heilungschancen führen wird und dass daraus
Therapien entwickelt werden können.
Man wollte menschliche Embryonen klonen, um Zellen zu erhalten, die nicht abgestoßen, sondern vom
Körper des Patienten akzeptiert werden. Das ist ein ganz
großer Umweg, für den sehr viele Embryonen und sehr
viele Eizellen benötigt werden. Das ist so abwegig, dass
man noch nicht einmal an klinische Versuche denken
kann; auch die Tumorgefahr ist hierbei sehr groß. Das ist
also ein völliger Holzweg in Bezug auf Therapien. Das
ist hier heute ganz häufig angeklungen.
Jetzt lautet das Argument: Aber wir müssen das, was
wir tun, mit dem, was andere tun, vergleichen. Wir brauchen das. - Wieso eigentlich? Wieso ist das der Standard, der verglichen werden muss? Das ist nichts weiter
als der Versuch, mit etwas in der Diskussion zu bleiben,
das überholt ist und nicht benötigt wird; die Forschung
ist bereits fortgeschritten.
Wir haben im Bereich embryonaler Stammzellen natürlich ganz interessante Erkenntnisse erlangt. Aus
embryonalen Stammzellen, die aus Tieren gewonnen
worden sind, haben wir international über Programmierung und Reprogrammierung grundsätzliche Erkenntnisse gewinnen können. Aber für das, was wir jetzt unterstützen und woran wir weiterarbeiten wollen, nämlich
dass es irgendwann einmal Therapien gibt, dass Heilungschancen für Menschen geschaffen werden, brauchen wir die embryonale Stammzellforschung nicht. Das
ist das letzte Zucken derjenigen, die in der Sackgasse
sind. Das Ganze ist wissenschaftlich nicht notwendig.
({0})
Wenn wir dem zustimmten, würden wir etwas aufgeben,
das wir kaum wiedergutmachen können. Wir haben
durch unseren Kompromiss schon viel aufgegeben.
Ernst-Wolfgang Böckenförde, ehemaliger Richter am
Bundesverfassungsgericht, hat einmal etwas resigniert
gesagt: „Die Würde des Menschen war unantastbar.“
Wir haben das Prinzip der Unantastbarkeit der Würde
des Menschen und dieses gegenseitige Versprechen der
Menschen relativiert. Denn wir haben gesagt: Es gibt
auch solche Fälle, in denen man Menschen töten darf
- dass es sich hierbei um Menschen handelt, ist unstrittig -, weil der höhere Zweck, anderen Menschen zu helfen, dies rechtfertigt.
Diesen Kompromiss, der sehr strittig war, sind wir
eingegangen. Der Deutsche Bundestag hat sich vor einer
konsequenten Haltung gedrückt. Wir haben gesagt: Da
das in der Vergangenheit passiert ist, können wir das
nicht „reparieren“. Da wir aber nicht die Augen vor den
Ergebnissen verschließen wollen, werden wir die Ergebnisse, die erzielt wurden, nutzen. Das haben wir getan,
und zwar mit großen Bauchschmerzen. Das gilt insbesondere für diejenigen in diesem Hause, die einander
achten und davon ausgehen, dass auch diejenigen, die
eine andere Position vertreten, gute Argumente haben.
Wir haben das getan, weil wir die Regeln für dieses Land
aufstellen müssen.
Jeder in diesem Hause muss aber wissen, dass der
Grund für die damals unterschiedlichen Sichtweisen dadurch nicht vom Tisch ist. Er ist weiterhin vorhanden.
Wenn wir den Stichtag jetzt verschieben, dann heißt das,
dass wir uns auf eine völlig andere, auf eine sehr utilitaristische, also von Nutzenerwägungen geprägte Ebene
begeben. Dann muss man tatsächlich fragen: Was soll
das nutzen? Am Anfang meiner Rede habe ich bereits
gesagt: Es nutzt nichts.
Jetzt geht es darum, ob wir uns dafür entscheiden,
embryonale Stammzellen zu „vernutzen“ und damit indirekt immer wieder einen Anreiz zu schaffen, dass anderswo auf der Welt - natürlich nicht bei uns; wir sind
ganz sauber - für uns aus Embryonen, die getötet werden, Stammzellen gewonnen werden. Die Argumente,
die für diese Entscheidung sprechen, sind schlechter als
die Gegenargumente. Heute gibt es weniger gute
Gründe, die dafür sprechen, als es bei der letzten Debatte
zu diesem Thema vor einigen Jahren der Fall war.
({1})
Ich stehe zu unserem Kompromiss, weil ich dieses
Haus achte und weil ich denke, dass wir Rechtssicherheit brauchen. Die Menschen müssen wissen, worauf sie
sich verlassen können, und sie müssen uns ernst nehmen.
Ich denke, wenn wir den Stichtag verschieben, dann
werden uns die Bürger und die Forscher nicht mehr ernst
nehmen können.
Deshalb bitte ich Sie alle: Lassen Sie uns zu dem guten Kompromiss, den wir gefunden haben, stehen. Wir
dürfen die Basis unseres Zusammenlebens nicht aus
Nutzenerwägungen relativieren oder sogar aufgeben.
Das können und dürfen wir nicht machen.
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort hat nun Patrick Meinhardt.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! In Anbetracht der bisherigen Debattenbeiträge kann ich feststellen: Meiner Meinung nach ist
heute ein besonderer Tag der Parlamentskultur. Im Laufe
dieser auch für mich sehr bewegenden Debatte über die
Zukunft der Stammzellforschung haben sich überraschend neue Überzeugungsgemeinschaften gebildet, und
zwar jenseits von Fraktions- und Koalitionsgrenzen und
diesseits von Ethik und Forschungsfreiheit. Deswegen
können wir Parlamentarier wirklich stolz darauf sein,
dass wir diese ernste Debatte mit so großem Respekt und
so großer Achtung vor der Meinung des anderen führen.
({0})
Ein wesentliches Ziel der heute zur Beratung anstehenden Vorlagen besteht darin, die Rechtsunsicherheit,
die für im Rahmen internationaler Forschungsverbünde
tätige deutsche Forscher entstanden ist, zu beenden.
Diese Rechtsunsicherheit muss durch eine Klarstellung
im Stammzellgesetz, durch die die Wirkung des Gesetzes nur auf das Inland beschränkt wird, beseitigt werden.
Auch wenn dieser Aspekt in der öffentlichen Debatte
bislang nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stand, ist
er für die Forschungsgemeinschaft von nachhaltiger Bedeutung. Wir sind es unseren Forschern schuldig, für
Rechtssicherheit zu sorgen.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, in einer
Welt, in der es grausame Krankheiten gibt, die wir mithilfe der Stammzellforschung bekämpfen können und
müssen, ist eine sinnvolle Forschungspolitik wichtig.
Wir müssen sie aber immer wieder unter ethischen Gesichtspunkten hinterfragen. Als Abgeordneter und als
bekennender Christ muss ich mir immer wieder die
Frage stellen, welche Entscheidung ich mit meinem Gewissen vereinbaren kann. Ich füge ganz bewusst hinzu:
Wir werden zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen
kommen, auch wenn wir von ein und demselben ethischen Fundament ausgehen; diese Demut gehört zur
heutigen Debatte hinzu.
Die Bewahrung der Schöpfung Mensch ist sicherlich
der oberste Maßstab. Dies beinhaltet aber auch und gerade die Ethik des Heilens. Genau wie der EKD-Ratsvorsitzende, Bischof Huber, sehe ich die Forschung an
embryonalen Stammzellen als eine Gratwanderung, die
mit einer einmaligen Verschiebung des Stichtages auf
den 1. Mai 2007 nur zeitlich begrenzt vertretbar ist. Die
EKD spricht in diesem Zusammenhang von einem schonenden Ausgleich der beiden so essenziellen Grundwerte des Lebensschutzes und der Forschungsfreiheit.
Ich habe großen Respekt vor denjenigen, die sagen,
dass der Schutz der Würde des Menschen sie zu einem
Nein zur embryonalen Stammzellforschung kommen
lässt. Ich habe aber auch großes Verständnis für diejenigen, die von hier aus, wenige Hundert Meter von der
Charité entfernt, dem Ort der biologischen und medizinischen Zellrevolution, wie es im Spiegel von dieser
Woche zu lesen ist, der Forschung noch mehr Möglichkeiten einräumen wollen. Umso mehr müssen wir im
Rahmen einer verantwortungsvollen Forschungspolitik
Alternativen fördern.
Bei der Forschung an adulten Stammzellen befindet sich Deutschland im internationalen Vergleich auf einem hohen Niveau. Dies sollte uns dazu motivieren,
noch besser zu werden. Durch den kürzlich erfolgten
Durchbruch bei der Reprogrammierung von Hautzellen
eröffnet sich möglicherweise ein neuer Weg. Trotzdem
muss der veränderten Sachlage Rechnung getragen werden, dass zurzeit nur noch immer schlechter verwendbare Stammzelllinien für die so wichtige Forschung zur
Verfügung stehen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die gesetzlichen
Regelungen dürfen nicht so restriktiv ausfallen, dass die
Forschung ins Ausland geht und später eimmal Heilmittel gegen Querschnittslähmung, Krebs und Aids, die auf
Ergebnissen genau dieser Forschung beruhen, aus dem
Ausland eingeführt werden, um hier Menschen zu retten.
Deshalb müssen wir konsequent entscheiden: Chancen, die sich durch die Forschung ergeben, müssen genutzt werden; sie müssen der Menschheit zugänglich gemacht werden. Wir als Gesetzgeber haben aber die
Verpflichtung, hierfür einen klaren Gestaltungsrahmen
zu setzen. Solch eine klare Haltung des Parlamentes auf
der Grundlage des Beschlusses von 2002 ist deswegen
sicherlich ein ethisch vertretbarer Weg. Oder um es mit
Professor Klaus Tanner von der Universität Halle-Wittenberg zu sagen:
Parlamentarische Kompromissbildung ist in solch
einer Situation kein schwächliches Kapitulieren,
sondern Ausdruck des Ethos der parlamentarischen
Demokratie.
({1})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die einmalige
Stichtagsverlegung ist solch ein parlamentarischer Kompromiss, ist solch eine Gratwanderung, solch ein schonender Ausgleich. Die heutige Diskussion verlangt jedem von uns ab, dass er mit sich um die bestmögliche
Entscheidung ringt. In dem Wissen darum, dass wir mit
dieser Entscheidung immer auch Schuld auf uns laden,
bietet diese Vorlage die Chance, den wichtigen Bogen
zwischen der Ethik des Heilens und der Ethik des Lebens zu spannen. Deutschland verträgt solch eine ethisch
fundamentierte Forschungsfreiheit.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Michael Brand.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Rede fällt mir heute nicht leicht und ich bitte Sie
um einen kurzen Moment der Aufmerksamkeit für eine
persönliche Schilderung. Ich nehme an dieser besonderen Debatte vor dem Hintergrund besonderer Umstände
teil, wie sie vielen von uns sicherlich bekannt oder selbst
schon begegnet sind.
Nach dieser Debatte werde ich mich nach Hause zu
meiner Familie begeben, um meinen krebskranken
Schwiegervater in seiner letzten Lebensphase zu begleiten. Gestern Abend war der Pfarrer da und hat den Rosenkranz gebetet. Meine Frau hat mir gestern Abend am
Telefon nochmals gesagt, dass ich hier heute meinen
Beitrag zu dieser so wichtigen Debatte leisten soll.
So will ich mich auf die Kernpunkte unserer Debatte
beschränken. Ich wollte diese persönliche Bemerkung
aber deswegen machen, weil mir in den letzten Wochen
bei den Diskussionen viele begegnet sind, die gesagt haben - Herr Tauss, es ist so, dass die Diskussion so geführt wurde -: Na ja, die einen sind für das Heilen zuständig und die anderen wissen nicht, wovon sie reden.
Mein Vater ist vor fast acht Monaten nach vielen Operationen an einem Herzleiden gestorben. Im Jahre 1973,
meinem Geburtsjahr, ist er kurz nach meiner Geburt an
Krebs erkrankt. Ich habe jetzt erlebt, dass mein Schwiegervater alles versucht hat, bis hin zum Krebsforschungszentrum in Heidelberg. Wir alle stehen vor der
Frage, was zu tun ist, um die Chancen auf Heilung zu
verbessern. Wie gehen wir diesen Weg zur Heilung der
Menschen, ohne das zentrale Gebot des Schutzes der
Würde und des Lebens der Menschen zu verletzen?
Ich habe auch deswegen diese persönliche Bemerkung gemacht, liebe Frau Kollegin Flach, weil schon im
Titel des Gesetzentwurfes, den Sie unterzeichnet haben,
„für eine menschenfreundliche Medizin“ steht. Ich will
Ihnen das nicht ersparen: Ich finde es sehr anmaßend, in
der Diskussion so zu argumentieren. Deswegen will ich
es Ihnen auch nicht ersparen, so zu antworten.
Sie haben davon gesprochen, dass Sie den Krankenhaustourismus verhindern wollen. Mit diesem Argument
müssten Sie hinsichtlich der Sterbehilfe genauso sagen:
Bevor auf deutschen Parkplätzen Medikamente verabreicht werden, lassen wir die Sterbehilfe zu. Ich sage Ihnen dazu nur: Hilfe; denn ich glaube, es muss Grenzen
geben.
({0})
Wir verzeichnen in Deutschland und weltweit beachtliche Erfolge in der Forschung mit adulten Stammzellen,
zum Beispiel bei Herztherapien, Leukämie, Leberkrebs
und anderen schweren Krankheiten. Da dies nicht allen
hilft, wünscht man sich gerade in der konkreten Situation mehr Hilfe und hofft man auf mehr Fortschritte. Allerdings stimme ich Kollegin Schmidt, Kollegen Schily,
Kollegen Hüppe und auch Volker Kauder ausdrücklich
zu: Manche Entscheidung entzieht sich eben einem wie
auch immer gewünschten Kompromiss.
Meine Überzeugung ist klar: Wir können eine weitere
Aufweichung der Grenzen bei der Stammzellforschung nicht verantworten.
({1})
Lieber Herr Kollege Meinhardt: Bei allem Leid, bei aller
Standortdebatte und auch bei mancher Diskriminierung
ethischer Überzeugungen können wir eines nicht zulassen, nämlich die Tötung menschlichen Lebens. Das ist
einfach nicht hinnehmbar.
({2})
Für mich persönlich heißt ethischer Standard, dass
dies unabdingbar ist. Das bedeutet, dass ich bei dieser
Gewissensfrage nicht anders kann, als gegen den Gesetzentwurf für die embryonale Stammzellforschung zu
stimmen; denn die Nutzung der embryonalen Stammzellen setzt nun einmal das Töten von Menschen voraus.
Vor diesem Fakt kann sich niemand drücken, kein Forscher, kein Politiker und auch kein anderer Mensch.
({3})
Der Verweis auf andere Länder, andere ethische
Sichtweisen und andere Traditionen hilft hier nicht weiter. Wir alle haben uns die Frage zu stellen, ob die einmalige, ausnahmsweise vorgenommene Setzung eines
Stichtages aus dem Jahr 2002 gerechtfertigt oder relativ
ist. Bleiben wir bei den Standards in den gesetzten Grenzen oder durchbrechen wir diese Grenzen?
Dass der Mensch und seine Würde unter dem besonderen Schutz unserer Verfassung stehen, ist ein großartiges und in vielen Ländern nicht selbstverständliches, hohes Gut. Das dürfen wir nicht gefährden, auch nicht
Schritt für Schritt. Alle Wissenschaft und alle Forschung
sind zu Recht frei, aber sie stehen unter diesem Vorbehalt.
Heute geht es um die Frage, wer hier diese Grundrechte bei einer kleinen Frage mit großer Wirkung verteidigt. Ich glaube - das zeigt auch die große Ablehnung
zur Stammzellenforschung bei jungen Menschen -, dass
wir ein hohes Risiko eingingen, wenn wir uns bei konkreten einzelnen Forschungsvorhaben nicht an die weit
gezogenen, aber strikt einzuhaltenden Grenzen unserer
Verfassung halten.
Ich möchte Sie alle deshalb aufrufen, die Büchse der
Pandora nicht weiter zu öffnen. Ich wende mich vor allem an die Zweifler, also an diejenigen, die sich noch
fragen, ob der Stichtag dieses eine Mal noch einmal verschoben werden kann. Und ich stelle die zentrale Frage:
Glaubt irgendjemand hier im Saal ernsthaft daran, dass
wir diese zweite Verschiebung nach dem Prinzip „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben“ beschließen und später
die Schleuse wieder schließen können?
Es muss niemand meine persönliche Einstellung zum
Schutz des menschlichen Lebens teilen, aber eines ist in
dieser Debatte doch ganz wichtig: Wenn wir heute der
Verschiebung zustimmen, dann ist es vorbei; denn dann
wird eine Grenze überschritten, die nicht mehr zu schließen ist.
({4})
Nach aller Erfahrung wird sie dann immer weiter verschoben.
Ich möchte Sie daher herzlich bitten: Tun wir das
nicht. Lassen wir uns nicht dazu bringen, aus durchaus
überzeugend erscheinenden Gründen einen schweren
Fehler zu begehen, den wir nicht mehr ungeschehen machen können. Wir müssen mehr als bisher tun, um die erfolgreiche Forschung an adulten Stammzellen, Alternativen mit Nabelschnurblut und vieles andere zu raschen
Ergebnissen zu bringen.
Es ist und bleibt bitter, dem Tod und dem Leid ausgesetzt zu sein und manchmal einfach machtlos davorzustehen. Dennoch bitte ich Sie an diesem besonderen Tag:
Geben wir nicht die Grenzen auf, bleiben wir bei den
Grundfragen menschlichen Lebens wachsam, tun wir
bitte nicht alles, was uns technisch möglich ist, weil wir
mehr als die Würde und die Achtung vor dem menschlichen Leben verlieren könnten.
({5})
Das Wort hat nun Horst Seehofer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich werde mich mit einigen Wertungswidersprüchen beschäftigen, die mich bewegen, seit ich Gesundheitspolitik betreibe.
Ich habe heute niemanden gehört, der dafür eingetreten
wäre, dass menschliche Embryonen zu Forschungszwecken produziert werden. Vielmehr geht es ausschließlich
um den Fall, wie wir Stammzellen behandeln, die aus
Embryonen gewonnen werden, die für eine Schwangerschaft produziert wurden, dafür aber nicht benötigt werden. Das ist ein ganz wichtiger Punkt;
({0})
denn damit müssen wir alle die Frage beantworten,
wieso wir keine öffentliche Debatte über die Tatsache
führen, dass solche überzähligen Embryonen zum Tod
verurteilt werden, wenn sie für die Schwangerschaft
nicht gebraucht werden, wohl aber eine Debatte über
eine Forschung an Stammzellen aus solchen Embryonen.
({1})
- Ja, die Tötung ist möglich, nicht aber die Forschung.
Dies ist ein gewaltiger Wertungswiderspruch.
Daher stelle ich, der ich für eine Verschiebung des
Stichtags eintrete, jedenfalls für meine Person fest: Es
geht nicht um eine Änderung des Embryonenschutzgesetzes - das ist ganz wichtig -, es geht nicht um die Produktion von Embryonen zu Forschungszwecken, und die
Forschungsfreiheit erhält keinen Vorrang vor der Menschenwürde. Diese eindeutige Lage kann niemand bezweifeln.
({2})
Auch für diejenigen, die für den Stichtag oder seine Verschiebung eintreten, steht die Achtung der Menschenwürde an vorderster Stelle.
({3})
Mich bewegt dieses Thema der Wertungswidersprüche so stark, weil im Grunde nur eine gesellschaftliche
Kraft, die katholische Kirche, in diesem Punkt in sich
schlüssig argumentiert, nämlich von der künstlichen Befruchtung bis zur Forschung an Stammzellen überflüssiger Embryonen. Alle anderen beschäftigen sich nicht mit
diesem Wertungswiderspruch, dass Embryonen getötet
werden, wenn sie für die Schwangerschaft nicht gebraucht werden, aber bei der Forschung sehr wohl wieder in den Mittelpunkt der ethischen Betrachtung treten.
({4})
Wir müssen uns diesen Spiegel in vielen Bereichen
selbst vorhalten. Wir haben ethische Regeln für die
Transplantation, die uns aber nicht daran hindern, täglich
in Deutschland Organe zu implantieren, die in Europa
nach ganz anderen ethischen Regeln gewonnen worden
sind. Wir haben ethische Regeln für die Präimplantationsdiagnostik, die uns überhaupt nicht daran hindern,
täglich in der deutschen Medizin im Ausland gewonnene
Erkenntnisse der Präimplantationsdiagnostik anzuwenden. Wir haben ethische Regeln für Blutspenden und die
Produktion von Blutprodukten, was uns überhaupt nicht
daran hindert, Blutprodukte, die nach ganz anderen ethischen Regeln zum Beispiel in Amerika gewonnen worden sind, in Deutschland tagtäglich einzusetzen, weil wir
sonst unsere Versorgung nicht sicherstellen könnten.
({5})
Auf diesen Punkt wollte ich hinweisen, weil es hier
nicht um die Frage geht, ob man Embryonen für Forschungszwecke produziert, sondern ausschließlich darum, ob man aus überzähligen Embryonen Stammzellen
für die Forschung gewinnen darf. Deswegen ist die
These einfach falsch, dass Leben zerstört werde, um forschen zu können.
({6})
Meine Damen und Herren, wer sich in der Medizin
auskennt, kommt an der Realität nicht vorbei. Da bin ich
eher auf der Seite der Mehrheitsmeinung bei der FDP.
Die Stammzellforschung ist eines der am ehesten zukunftsträchtigen und vielversprechenden Felder der
Biomedizin. Damit verbinde ich ausdrücklich kein
Heilsversprechen. Aber es gehört zum Wesen der
Grundlagenforschung, dass man das Ergebnis nicht vorhersagen kann. Wenn wir erreichen wollen, dass heute
noch nicht beherrschbare oder nicht heilbare Krankheiten überwunden werden können, dann brauchen wir die
Grundlagenforschung an embryonalen Stammzellen.
({7})
Insofern werden wir einen Prozess erleben, der die
Voraussetzung dafür ist, dass heute noch nicht beherrschbare Krankheiten überwunden werden können.
Jetzt komme ich zu dem entscheidenden Punkt, warum ich für eine Verlegung des Stichtags bin - in Amerika wurde die gleiche Debatte geführt -: Ohne einen
Stichtag bestünde in der Tat die Gefahr, dass im Zuge
der künstlichen Befruchtung überzählige Embryonen
produziert würden, um umfangreicheres Material für
Forschungszwecke zu erhalten. Deshalb ist ein Stichtag
notwendig, der in der Vergangenheit liegt, damit die Gefahr, dass wegen der Forschung im Zuge der künstlichen
Befruchtung überzählige Embryonen entstehen, vermieden wird.
Ich selbst bin zu dem Ergebnis gekommen, dass es
nicht um einen blinden Fortschrittsglauben geht; es geht
vielmehr um eine sorgfältige Güterabwägung. Ich
glaube, dass diejenigen, die für eine Verlegung des
Stichtags eintreten, für sich in Anspruch nehmen können, für einen ethisch verantwortlichen Fortschritt einzutreten.
({8})
Das Wort hat nun Norbert Geis.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich stimme mit Horst Seehofer darin überein,
dass die Freiheit der Forschung nicht unbegrenzt sein
kann. Auch wenn Art. 5 des Grundgesetzes keinen Gesetzesvorbehalt kennt, gilt für die Forschung eine immanente Schranke, wenn ein höheres Rechtsgut der Forschung entgegensteht. Das sind immer das Leben und
die Würde des Menschen.
({0})
Insofern stellt sich die Frage, ob der Embryo Würde
und ein Recht auf Leben hat.
Ich stimme mit den meisten in diesem Hause auch darin überein, dass der Embryo von Anfang an ein Mensch
ist. Denn wir alle haben als Embryo angefangen. Das ist
der Beginn unseres Lebens. Wenn dies so ist, dann gilt
der Grundsatz, dass der Embryo von Anfang an - nach
Verschmelzung von Ei und Samenzelle - Würde und das
Recht auf Leben hat. Deshalb ist der Staat verpflichtet,
dieses Grundrecht gegen die Forschung zu schützen.
({1})
Das gilt auch vor der Nidation. Die Nidation ist die
Voraussetzung für den Fortgang des Lebens. Diese Voraussetzungen gelten aber auch für den geborenen Menschen. Es gibt immer wieder Momente, in denen es darauf ankommt, dass ein Hindernis beiseitegeschoben
wird, damit das Leben seinen Fortgang nehmen kann.
Die Nidation ist nichts anderes. Sie ist kein neuer sogenannter qualitativer Sprung; vielmehr ist der Mensch
auch vor der Nidation ein Mensch. Ich glaube, dass man
auch diese Überlegung anstellen muss.
({2})
Hinzu kommt ein weiterer Punkt. Horst Seehofer hat
eben ausgeführt, dass bei der Konservierung der sogenannten - so würde ich es lieber ausdrücken - überzähligen Embryonen eine Tötung erfolgt. Das ist nicht der
Fall. Embryonen, die konserviert werden, werden nicht
getötet. Sonst müssten sie schließlich nicht konserviert
werden. Sie sterben aber, wenn die Konservierung beendet wird.
({3})
Aber das ist etwas anderes.
({4})
- Lieber Herr Tauss, lassen Sie mich ausreden! Ich habe
Sie auch nicht gestört. Wir haben eine hervorragende
Debatte geführt, und ich möchte, dass wir in Ruhe weiterreden können.
({5})
Nach meiner Auffassung ist es etwas anderes, jemanden sterben zu lassen, als ihn zu töten.
({6})
Das ist ein wesentlicher Unterschied. Deswegen ist die
eben getroffene Folgerung nicht richtig, dass bei der
Konservierung eine Tötung erfolgt, der „überzählige“
Embryo aber nicht getötet werden darf, wenn es um Forschung geht. Dann wird er aber getötet. Der sogenannte
überzählige Embryo wird dann zu Forschungszwecken
getötet. Um den Embryo zu schützen, haben wir aber das
Embryonenschutzgesetz, das offensichtlich auch niemand aufheben will. In Deutschland darf kein Embryo
getötet werden, um daraus Stammzellen zu gewinnen.
Diesen Grundsatz wollen wir beibehalten. Das ist in der
Diskussion nicht ganz deutlich zum Ausdruck gekommen.
Nun kommt ein weiterer Punkt. Die aus dem getöteten Embryo gewonnene Stammzelle ist mit dem
Embryo nicht identisch; das muss man anerkennen. Sie
hat deshalb keinen unmittelbaren Anspruch auf Schutz
des Lebens und der Würde. Aber sie steht in einem engen Verhältnis zum Embryo. Sie war Embryo, bevor der
Embryo getötet wurde, um sie zu gewinnen. Deswegen
wirkt das Recht auf Leben - das wissen wir seit der Mephisto-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus
einem anderen Zusammenhang -, der Anspruch auf
Würde gewissermaßen über den Tod des Embryos hinaus und erstreckt sich auch auf die embryonale Stammzelle. Deswegen tun wir uns so schwer und haben einen
Stichtag eingeführt. Von Deutschland soll kein Anreiz
ausgehen, Embryonen im Ausland zu töten, um daraus
Stammzellen zu gewinnen. Dies haben wir 2002 so beschlossen. Richtiger wäre die Auffassung von Hubert
Hüppe, der sagt: Auch dann darf es keine Forschung an
Stammzellen geben. Das ist konsequent. Darauf haben
der Kollege Schily und andere hingewiesen. Man kann
eigentlich nur Ja oder Nein sagen; denn wenn man davon
ausgeht, dass auch die Stammzelle Würde hat, weil sie
vom Embryo stammt, dann darf man daran eigentlich
nicht forschen.
Wir haben aber den Kompromiss aus dem Jahre 2002
zu achten; davon müssen wir ausgehen. Nun geht es darum, ob wir den Stichtag, den wir eingeführt haben, damit kein Embryo im Ausland getötet wird, um in
Deutschland an Stammzellen zu forschen, verschieben.
Ich schließe mich hier all den Argumenten an, die von
Volker Kauder in sehr eindrucksvoller Weise vorgetragen wurden. Wenn wir den Stichtag aufgeben, werden
wir im Ausland nicht mehr ernst genommen.
({7})
Von Deutschland wird dann der Anreiz ausgehen, im
Ausland Embryonen zu töten, um Stammzelllinien nach
Deutschland einzuführen.
({8})
- Diese Befürchtung muss man haben, Herr Tauss. Sie
liegt auf der Hand.
({9})
Wir werden nicht mehr ernst genommen werden. Außerhalb Deutschlands wird man sagen: Die Deutschen
meinen es mit ihrem Stammzellgesetz nicht ganz so
ernst, genauso wenig wie mit ihrem Embryonenschutzgesetz. Diesen bösen Anschein dürfen wir nicht erwecken. Deswegen müssen wir uns diesen Überlegungen
widersetzen und am vorhandenen Stichtag festhalten.
Danke schön.
({10})
Das Wort hat nun Kerstin Griese.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
richte mich bei meiner Entscheidung zugunsten eines
Gesetzentwurfs nach meinen ethischen, christlichen
Grundwerten. Viele in diesem Parlament tun das, kommen aber zu unterschiedlichen Entscheidungen. Ich
glaube, das muss in dieser Debatte möglich sein.
({0})
Genauso wie bei den Patientenverfügungen muss man
anerkennen, dass man aufgrund christlicher Grundüberzeugungen zu unterschiedlichen Entscheidungen kommen kann.
({1})
Mir ist es wichtig, was meine Kirche zu diesem
Thema sagt. Es ist aber gut, dass es eine Vielfalt in den
Positionen der christlichen Kirchen in dieser Frage gibt.
({2})
Ich bedanke mich ausdrücklich bei der katholischen und
der evangelischen Kirche für viele Stellungnahmen und
Ausführungen. Es ist richtig und wichtig, dass sie sich in
die Diskussion über ethische Grundwerte einschalten.
Ich will aber auch deutlich sagen: Gleichzeitig müssen
die Kirchen Raum für die Gewissensverantwortung jedes einzelnen Christen und jeder einzelnen Christin in
diesem Parlament und darüber hinaus geben.
({3})
Ich möchte sagen, welche Grundsätze mir aus ethischer Verantwortung wichtig sind, welche Argumente
mich bewogen haben, den Gesetzentwurf von Herrn
Röspel und anderen auf eine einmalige Stichtagsverschiebung zu unterstützen. Wir müssen eine klare Regelung finden. Ich weiß nicht, warum hier so negativ über
den Kompromiss gesprochen wird. Ich glaube, das geltende Stammzellgesetz stellt eine klare Regelung dar, die
deutlich macht, dass keine Embryonen zur Gewinnung
von Stammzellen zerstört werden. Das wird im Ausland
sehr ernst genommen, weil es eine klare Regelung ist,
eine deutlichere als in vielen anderen Ländern.
({4})
Wir müssen eine Regelung finden, die es uns ermöglicht, Heilungschancen zu nutzen, wenn es solche - das
kann noch niemand wissen - in Zukunft gibt. Bischof
Huber, der EKD-Ratsvorsitzende, ist heute schon häufiger zitiert worden. Er hat sich für die einmalige Verschiebung des Stichtages mit dem Argument ausgesprochen: Starre Argumentationen können Lösungen
auch verhindern. Ich glaube, das ist ein sehr kluges Argument. Er hat weiter gesagt, es sei gerade im Sinne des
Lebensschutzes, den Stichtag nicht abzuschaffen, sondern einen Weg zu finden, das Stammzellgesetz von
2002 fortzuschreiben. Deshalb habe ich mich für die
Verschiebung des Stichtages ausgesprochen, und ich will
ganz deutlich sagen: Das ist eine klare, eine sehr strenge,
eine sehr restriktive Regelung, die sehr viel restriktiver
als die Regelungen in allen anderen Ländern der Welt
ist.
({5})
Es sind besonders drei Argumente, die mich bewogen
haben, für diese Haltung zu plädieren. Erstens. Der Forschung ist immanent, dass man das Ergebnis vorher
nicht kennt.
({6})
Das ist eine Binsenweisheit, aber es liegt in der Natur
der Forschung, dass man vorher nicht weiß, was dabei
herauskommt. Ob die embryonale Stammzellforschung
nun wirklich ergebnislos ist, wie heute einige sagten und
zu wissen meinen,
({7})
können wir nicht sagen. Das muss und wird die Forschung ergeben.
({8})
Deshalb müssen wir die Forschung mit adulten Stammzellen - das tun wir auch - stärken. Genau das brauchen
wir. Wir sollten uns hier und heute nicht anmaßen, schon
zu wissen, dass embryonale Stammzellforschung keine
Ergebnisse zeitigen und dass es keine Heilungschancen
geben wird. Deshalb sage ich noch einmal: Der Forschung ist immanent, dass man das Ergebnis vorher
nicht kennt. Deshalb muss man sie ermöglichen.
({9})
Mein zweites Argument. Die strengen ethischen Regeln, die das deutsche Stammzellgesetz vorsieht, können
nur erhalten bleiben, wenn dieses Gesetz weiterentwickelt wird, wenn wir der einmaligen Verschiebung zustimmen; denn - ich habe es schon gesagt - im internationalen Vergleich sind diese Regelungen sehr restriktiv.
Es gibt keine Zerstörung von Embryonen zum Zwecke
der Forschung in Deutschland, und es gibt auch keinen
Anreiz im Ausland zur Zerstörung von Embryonen für
die Forschung in Deutschland, weil wir diese klaren Regelungen haben. Der Gesetzentwurf des Kollegen
Röspel und anderer schreibt diese Regelungen fort.
Mein drittes Argument. Wir sind keine Insel in
Deutschland, und wir können auch keine Insellösung
finden. Was passiert denn, wenn mithilfe der embryonalen Stammzellforschung in anderen Ländern Erkenntnisse gewonnen werden, mit denen auch bei uns in
Deutschland Menschen geheilt werden könnten? Wie
gehen wir mit solchen Ergebnissen um? Muss dann ein
Arzt oder eine Ärztin sagen: Aus ethischer Verantwortung wende ich diese Ergebnisse nicht an?
({10})
Ich glaube, Grundlage von Ethik ist, Mitleid haben zu
können. Eine Ethik ohne Mitleid gibt es nicht, hat mir
Margot von Renesse gestern für diese Debatte mit auf
den Weg gegeben. Mitleid ist ein Teil von Ethik. Man
muss sich um Menschen kümmern wollen, Menschen
heilen wollen. Auch das ist Ethik. Wir können uns nicht
wie auf einer Insel vor dem verschließen, was im Rest
der Welt geschieht.
({11})
Mich haben besonders diese drei Gründe bewogen,
für eine Verschiebung des Stichtages zu stimmen, übrigens im Sinne der Menschenwürde - das nehme ich ausdrücklich auch für mich und die anderen, die diesen Gesetzentwurf unterschrieben haben, in Anspruch -, im
Sinne ethischer Grundlagen, die wir nicht nur auf dem
Papier stehen haben wollen, sondern die wir anwenden
und die wir tatsächlich bei uns leben wollen. In diesem
Sinne bitte ich um Zustimmung.
Vielen Dank.
({12})
Kollegin Marlies Volkmer hat ihre Rede zu Protokoll
gegeben. Deswegen erteile ich jetzt Peter Hintze das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
dieser Debatte eint uns die Überzeugung, dass der
Schutz des Lebens des Menschen den rechtlichen und
moralischen Kern unserer Zivilisation darstellt.
({0})
Ich möchte uns bitten, dass wir in dieser Debatte nicht
in falsche Alternativen geraten, wenn es um die Menschenwürde, wenn es um den Schutz des menschlichen
Lebens und wenn es um die Heilung der Menschen geht.
Die von Immanuel Kant bis Volker Kauder
({1})
geäußerte These unterstütze ich - ich werde es gleich erläutern - nachdrücklich, nämlich dass es Grenzen des
Handelns geben muss. Ich unterstütze nachdrücklich die
These, dass kein noch so hoher medizinischer Zweck
eine Verzweckung des Menschen gestatten würde. Das
ist überhaupt nicht die Alternative, über die wir hier reden.
({2})
Wir sagen, der rechtliche und moralische Kern unserer Zivilisation ist der Lebensschutz. Wer kümmert sich
denn in Deutschland und in der Welt mehr um den
Schutz des Lebens als unsere Ärzte, als die Biologen und
Wissenschaftler in der medizinischen Forschung? Die
Medizin ist von ihrer Natur her Lebensschutz.
({3})
Die Mediziner, die um diesen Lebensschutz ringen,
bitten uns in großer Einhelligkeit - übrigens ein interessanter Unterschied im Vergleich zu 2001 - darum: Gebt
uns diese Möglichkeit auf dem hoffnungsvollsten Feld
der Medizin, nämlich dem der regenerativen Medizin!
Gebt uns die Möglichkeit, dem Menschen in seinem Leben zu helfen!
({4})
Kollege Schily und Kollege Kauder haben gesagt,
dass man dazu eine Entscheidung treffen muss. Die Entscheidung hängt natürlich mit unserem Menschenbild
zusammen. Ich glaube, auch darin sind wir uns wieder
einig.
Volker Kauder hat die Frage aufgeworfen, wann
menschliches Leben beginnt. Er hat die Theorie vom
frühestmöglichen Zeitpunkt angesprochen. Dieser Theorie kann man zustimmen. Aber ich finde, wenn man den
Beginn des menschlichen Lebens auf diese biologische
- um das harte Wort „biologistisch“ zu vermeiden Weise definieren will, dann muss man auch der Logik
recht geben. Menschliches Leben kann doch wohl frühestens dort beginnen, wo bei weiterer Entwicklung
auch ein Mensch entsteht.
({5})
Die Vorverlegung dieses Zeitpunktes ist meiner Ansicht nach logisch ausgeschlossen. Wenn man sich auf
eine solche biologische Definition einlassen will, dann
entsteht der Mensch, wenn sich die befruchtete Eizelle
im Mutterleib einnistet. Dann entsteht ein Mensch.
({6})
Wenn wir nach dem frühesten Zeitpunkt fragen, dann
haben wir ihn damit bestimmt.
Jetzt will ich ein ethisches Urteil sprechen: Für mich
hat ein kranker Mensch, um dessen Heilung es geht, in
der Tat einen höheren Stellenwert als die sehr achtenswerte biologische Substanz, aus der ein Mensch entstehen kann. Ich bin der Meinung, damit muss man würdevoll umgehen. Aber für mich hat ein kranker Mensch
Vorrang vor einer befruchteten Eizelle, die wir tiefgekühlt in einem Stahlbehälter im Labor der Reproduktionsmedizin aufbewahren. Übrigens fragt niemand, ob
das der Menschenwürde entspricht.
({7})
Wer diesen Unterschied nicht macht, wer meint, eine
befruchtete mikroskopisch kleine Eizelle in der Petrischale ist vom gleichen Wert wie ein kranker Mensch,
dem geholfen werden muss, wer lieber den kranken
Menschen sterben lässt,
({8})
als diese gespendete überzählige Eizelle zur Verfügung
zur stellen, der kann natürlich sagen: Ich bin konsequent.
Das ist ganz klar. Aber Konsequenz hat Menschen schon
oft sehr geschadet. Ich bin für eine menschenfreundliche
Konsequenz. Und die menschenfreundliche Konsequenz
lautet: Wenn uns die Medizin in Deutschland, die Menschen, die für den Lebensschutz arbeiten und um ihn
kämpfen, darum bitten, dann sollten wir diese Möglichkeit rechtlich auch erschließen, unabhängig von der
Frage, ob das unser Grundgesetz nicht sowieso gebietet.
Lassen Sie mich einen letzten Gedanken zum Wissenschaftsverständnis anführen. Wer Wissenschaft so versteht, dass Forschung dort erlaubt ist, wo die Forscher
von vornherein das therapeutische Endergebnis garantieren, der hat Wissenschaft nicht verstanden.
({9})
Der Charakter der Wissenschaft ist ihre Offenheit.
Daraus erwachsen Ergebnisse, und zwar erstaunliche Ergebnisse, die den Menschen sehr helfen. Ich möchte,
dass unsere verantwortlichen Forscher dieses Recht bekommen.
Deswegen bin ich für die Abschaffung der entwürdigenden Kriminalisierung und Strafandrohung. Deshalb
bin ich dafür, dass wir den Stichtag aufheben und es bei
den anderen guten Regelungen belassen, die sicherstellen sollen, dass wir einer Ethik des Heilens Rechnung
tragen. Das können wir durch unsere Beschlussfassung
in diesem Parlament.
Ich danke Ihnen sehr.
({10})
Das Wort hat nun Steffen Reiche.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir sollten und wollen einen Kompromiss finden.
Wir finden uns gespalten in fünf Beschlussvorschläge so viele Gruppen wie Fraktionen. Kompromiss heißt, zuzusagen, sich der Entscheidung eines Schlichters zu beugen. Schlichter kann hier nur der Gesetzgeber als Ganzes, also der Bundestag sein.
({0})
Durch einen Kompromiss wird niemand kompromittiert.
Unser Gesetzentwurf beinhaltet einen Kompromiss
zwischen divergierenden, gut begründeten Positionen,
indem eine einmalige Verschiebung des Stichtages und
die Begrenzung der Reichweite der Strafandrohung auf
das Inland beschlossen werden sollen. Ja, die Positionen
stehen unvermittelbar im Raum; aber gerade deswegen
ist ein Kompromiss notwendig.
Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland
hat unseren Vorschlag im vergangenen November - anders als ein Jahr zuvor - im Wesentlichen als tragfähigen, glaubwürdigen Kompromiss angesehen. Also gab
es auch hier keine Änderungen bei den ethischen Grundlagen, wohl aber bei der daraus entwickelten Position.
Wir schreiben hier einen schon einmal erzielten Kompromiss einmalig fort. So wie damals sichert er eine
Balance zwischen Embryonenschutz und Forschungsfreiheit. Mir sind folgende Argumente besonders wichtig:
Wir fördern mit europäischem Geld aus guten, mit der
Mehrheit des Europäischen Parlaments beschlossenen
Gründen auch die embryonale Stammzellenforschung.
Wenn mit deutschem Fördergeld gefördert wird, was
deutsche Forscher in Deutschland nicht dürfen, ist das
nicht konsequent.
Die Debatte, die wir heute führen, ist eine zu Recht
häufig geführte, und sie wird auch nach diesem Beschluss geführt werden und werden müssen. Seinerzeit,
Mitte Juni 2006, als es um die Fortschreibung des EUForschungsrahmenprogramms ging, entzündete sich
die Debatte im Europäischen Parlament genau an der
Frage, ob dieses Förderprogramm eben auch die Forschung unter Verwendung menschlicher Stammzellen,
sowohl adulter wie embryonaler, ermöglichen soll. Ergebnis der Diskussion war auch hier ein vernünftiger
Kompromiss: Ja, die EU fördert diese Forschung, aber
nur nach Maßgabe des Inhalts des wissenschaftlichen
Vorschlags, nach den rechtlichen Rahmenbedingungen
des betreffenden Mitgliedstaats und unter Einhaltung
strenger, EU-weit geltender Genehmigungs- und Überwachungsvorschriften.
Mit der einmaligen Verschiebung ermöglichen wir die
seit langem und mit Nachdruck geforderte europäische
und internationale Forschungskooperation. Noch ist
die deutsche Forschung auf diesem Gebiet gefragt.
Stehen deutschen Forschern mit einem Beschluss der
einmaligen Stichtagsverschiebung statt 21 dann rund
260 der im neuen Stammzellregister geführten Zelllinien
zur Forschung zur Verfügung, wird in den nächsten Jahren klar werden, welcher Weg um der Menschen willen
weiter verfolgt werden sollte: der der adulten oder auch
der der embryonalen Stammzellenforschung.
Damit diese Frage endlich beantwortet werden kann,
sollte eine der weltweit erfolgreichsten Forschungslandschaften, nämlich die deutsche, diese derzeit global bearbeitete Frage mit klären können. Lebensschutz ist uns
von der Verfassung aufgetragen, von der Zeugung bis
zum Tod. Aber wie wir Leben schützen, dafür gibt uns
die Verfassung einen Freiraum. Mit der Regelung über
die Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruches oder
die erlaubte Nutzung der Spirale ist in Deutschland dieser Raum genutzt worden.
({1})
Steffen Reiche ({2})
Die deutsche medizinische Forschung darf sich nicht
selbst von einer medizinischen Entwicklung innerhalb
der westlichen Wertegemeinschaft abschneiden. Das ist
in der Begründung der Gesetzesinitiative zur ersatzlosen
Streichung der Stichtagsregelung richtig erkannt worden. Unser Kompromiss der einmaligen Verschiebung
des Stichtags fügt dem aber ein entscheidendes Detail
hinzu: Wir müssen sowohl mit unseren Forschungsfortschritten als auch mit den berechtigten ethischen Vorbehalten argumentieren dürfen. Verbleibt es bei der jetzigen Situation, ist es nur eine Frage der Zeit, bis man
deutschen Stammzellforschern nicht mehr zuhört. Aber
käme es zur ersatzlosen Stichtagsabschaffung, würden
wir die Möglichkeit, aus ethischen Gründen Widerspruch zu erheben, gänzlich abschaffen. Damit liegt der
vernünftige Kompromiss auf der Hand.
({3})
Das Wort hat nun Annette Schavan.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Die Entscheidung, die der
Deutsche Bundestag nach Abschluss seiner Beratungen
zur Stammzellgesetzgebung zu treffen hat, ist nicht nur
für Deutschland bedeutsam. Von ihr gehen auch Signale
an die internationale Wissenschaftswelt aus. Forschung ist international vernetzt. Unser Wertefundament
endet nicht an nationalen Grenzen, sondern ist Teil einer
europäischen Wertetradition.
({0})
Die besondere Stellung des Menschen als Individuum, die Überzeugung von der Würde eines jeden
Menschen und davon, den grundlegenden Wert des Lebensschutzes zu achten, sind nicht Sondermoral, sondern
kulturelles Fundament für die Forschung in dieser Tradition - in Deutschland und in Europa.
({1})
Genau davon sind das Stammzellgesetz und das
Embryonenschutzgesetz geprägt, das Embryonenschutzgesetz aus dem Jahr 1990, das Stammzellgesetz aus dem
Jahr 2002.
Wissenschaft und Politik in Deutschland haben bei
der Frage der Stammzellforschung einen weitreichenden
Konsens erzielt - quer durch die Fraktionen, im Dialog
zwischen Wissenschaft und Politik. Nenne man mir ein
Land der Welt, in dem der Konsens so groß ist wie in
Deutschland und in dem das Fundament im Blick auf
den Schutz des Lebens und die Heilung von Krankheiten
so stabil ist wie in Deutschland!
({2})
Das haben gerade die Debatten der vergangenen Monate gezeigt: Niemand will die grenzenlose Forschung.
Niemand stellt das Embryonenschutzgesetz in Frage.
Wissenschaft und Politik führen seit Monaten einen
ernsthaften Dialog, der auch für andere Länder beispielgebend ist.
Das Signal, das vom Stammzellgesetz in Deutschland
bislang ausgeht und nach meiner Überzeugung auch in
Zukunft ausgehen soll, lautet: Erstens. Es darf keine Herstellung von menschlichen Embryonen zum Zweck
der Forschung geben. Zweitens. Es darf von Deutschland kein Anreiz zum Verbrauch von Embryonen für
die Forschung ausgehen.
Der Import von embryonalen Stammzelllinien, gewonnen aus menschlichen Embryonen, darf nur im Ausnahmefall und für einen streng definierten Korridor der
Forschung erfolgen. Seit Inkrafttreten des Stammzellgesetzes wurden 25 Anträge bewilligt. In jedem Antrag
muss dargelegt werden, dass keine Alternative zu dem
Weg existiert, der beantragt wird.
({3})
Der damalige Justizminister Klaus Kinkel schrieb
1990 im Vorwort zum Embryonenschutzgesetz: Das
Embryonenschutzgesetz ist im europäischen Vergleich
die umfassendste Regelung der mit der Fortpflanzungsmedizin zusammenhängenden strafrechtlichen Fragen.
({4})
Auch das sollten wir also sagen: Nirgends sonst in
Europa ist eine so klare Regelung sämtlicher strafrechtlicher Fragen erfolgt.
Die Stammzellgesetzgebung in Deutschland gilt bis
heute als eine der restriktivsten Regelungen; ich sage: als
eine der verantwortungsbewusstesten Regelungen überhaupt.
({5})
Beide Gesetze haben dazu beigetragen - davon bin
ich überzeugt -, dass man sich in Deutschland erfolgreich auf solche Stammzellforschung konzentriert hat,
die vor allem ethisch unbedenkliche Alternativen
- sprich: Quellen für die Gewinnung embryonaler
Stammzelllinien - sucht. Glaube niemand, irgendwann
brauche man embryonale Stammzelllinien nicht mehr!
Natürlich werden sie gebraucht. Die Frage ist nur, woher
wir diese Stammzelllinien gewinnen. Deshalb sind die
neuen Durchbrüche so wichtig für die Zukunft dieser
Forschung, die die Basis der regenerativen Medizin,
der Medizin im 21. Jahrhundert sein wird.
({6})
Wenn ich immer höre, man solle jetzt endlich mehr
für adulte Stammzellforschung tun, muss ich noch einmal eine Zahl nennen: 97 Prozent der Mittel sowohl des
Ministeriums wie der Deutschen Forschungsgemeinschaft sind in Alternativen, also in Forschung mit tierischen und adulten Stammzellen, geflossen.
({7})
Um noch eine Zahl zu nennen: Im gesamten Zeitraum
seit Anfang 2000 hat das Forschungsministerium
49 Millionen Euro ausgegeben. Allein der neue Förderschwerpunkt „Wege der Reprogrammierung“, den ich im
letzten Jahr verkündet habe, wird jährlich mit bis zu
10 Millionen Euro dotiert sein. Ich habe erklärt: Am
Geld wird es nicht liegen. Was notwendig ist, wird finanziert werden.
({8})
Noch vor fünf Jahren, noch vor drei Jahren glaubte
niemand, dass Reprogrammierung möglich ist. Das hat
in der damaligen Debatte keine Rolle gespielt. Genau
hier setzt das Dilemma im Blick auf die ethische Bewertung ein, in dem wir jetzt stehen. Ich sage noch einmal
sehr deutlich - das kann einem ethisch passen oder nicht;
mir passt es auch nicht hundertprozentig -: Zu moralischer Integrität gehört auch, dass ich nicht einfach ignoriere, was mir nicht passt. Ich muss auch zur Kenntnis
nehmen, dass Reprogrammierung ohne embryonale
Stammzellforschung nicht funktionieren kann und das
alles, was Yamanaka und Thomson gemacht haben, auf
Erkenntnisse aus der embryonalen Stammzellforschung
angewiesen ist. Wir wüssten sonst - so hat es ein Berliner Forscher gestern gesagt - nicht einmal, wann aus einer Hautzelle eine embryonale Stammzelle geworden ist.
Diese Tatsachen können forschungspolitisch nicht ignoriert werden.
({9})
Natürlich, Frau Hinz, hat diese Forschergruppe mit
sogenannten alten Stammzelllinien gearbeitet. Aber jeder in der Forschung weiß, dass sich an den Durchbruch,
der jetzt erreicht wurde, gleichsam eine Überprüfungsphase anschließt. In dieser Überprüfungsphase ist es notwendig, wenn es denn je um die Entwicklung von
Therapien gehen soll, auf qualitativ einwandfreie
Stammzelllinien zurückgreifen zu können.
({10})
Ich komme zum Ende, Herr Präsident; ich sehe das
Blinklicht. - Mit den vor 2002 gewonnenen Stammzelllinien lässt sich forschen. Ja, das bezweifelt niemand.
Aber um die neuen Wege der Reprogrammierung zum
Erfolg zu bringen, um also das zu erreichen, was wir
wollen, nämlich ethisch unbedenkliche Quellen für
Stammzellen, ist der Rückgriff auf qualitativ bessere
und neuere Stammzelllinien notwendig. Die Forschung
in diesem Feld braucht Überprüfung, wenn ich Alternativen will, wenn ich also will, dass Deutschland zu einem
Motor für die Entwicklung ethisch unbedenklicher Alternativen wird. Aus diesem Grunde halte ich die Verlegung des Stichtages für verantwortbar. Was wir damit
ermöglichen, bedeutet nach meiner festen Überzeugung
weder Dammbruch noch grenzenlose Forschung. Wir
sorgen damit nicht für eine Liberalisierung des Gesetzes,
sondern für eine Weiterentwicklung, die der Intention
des Gesetzes von 2002 entspricht.
Vielen Dank.
({11})
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll gegeben: Jung, Krings, Willsch, Eisel,
Weiß ({0}), Fischer ({1}), Mißfelder,
Liebing, Eymer ({2}), Knoche und Volkmer.1)
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/7981, 16/7982, 16/7983, 16/7984
und 16/7985 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Nach dieser intensiven Debatte, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, kommen wir nun zu einem anderen Tagesordnungspunkt, dem Tagesordnungspunkt 5:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({3}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll,
Dr. Axel Troost, Dr. Herbert Schui, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Ermäßigung des Mehrwertsteuersatzes für
Produkte und Dienstleistungen für Kinder auf
7 Prozent
- Drucksachen 16/4485, 16/6732 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Dr. Barbara Höll
Ich weise darauf hin, dass wir über die Beschlussempfehlung später namentlich abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Lydia
Westrich, SPD-Fraktion, das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich warte vielleicht
noch ein bisschen, bis sich die Unruhe etwas gelegt hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie dieser Debatte nicht mehr folgen wollen, dann bitte ich Sie, Ihre
Gespräche außerhalb fortzusetzen.
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Kinderarmut
zu bekämpfen ist ein Ziel, dem sich das ganze Hohe
Haus verschrieben hat. Die Quote der in Armut lebenden
Familien in Deutschland ist viel zu hoch. Natürlich ist
das materielle Wohl der Kinder nicht allein ausschlagge-
bend für ihr glückliches und gesundes Aufwachsen. Was
dazu nötig ist, können wir von Staats wegen nicht beein-
1) Anlage 2
flussen. Aber immer mehr Familien sind nur deshalb,
weil sie Kinder haben, auf Grundsicherung angewiesen.
Bei Familien mit mehreren Kindern steigt das Armutsrisiko. Diese Armut beeinträchtigt natürlich die Möglichkeiten sozialer, gesundheitlicher und auch kultureller Entwicklung der Kinder. Das nehmen wir als
Regierungsfraktionen nicht einfach hin.
Zug um Zug rücken wir - die Koalitionsfraktionen,
Bundesregierung, Länder und Kommunen, aber auch
viele gesellschaftliche Partnerorganisationen - diesem
Problem zu Leibe. Das Ganztagsschulprogramm, der
Kinderzuschlag, die Wohngelderhöhung, die BAföG-Erhöhung, die Mehrgenerationenhäuser, der Ausbau der
Kinderbetreuung sind ganz wichtige Bausteine, die wir
bereits auf den Weg gebracht haben.
({0})
Deren Ergebnisse werden sich in Kürze zeigen.
Nur ein kleines Beispiel: Durch die durch unser Programm ermöglichte Einrichtung der Ganztagsschule ist
es in meiner Region, in der Regionalen Schule Wallhalben, gelungen, fast alle Kinder wenigstens mit Hauptoder Realschulabschluss ins Leben zu entlassen. Die individuellen Fördermöglichkeiten ersetzten teure Nachhilfestunden und eröffneten den Kindern neue Welten.
Das ist wirkungsvolle Armutsbekämpfung.
Was liegt uns heute vor? Ein Antrag, der vorspiegelt,
die große Sorge der Kinderarmut durch ein paar Drehungen an diversen Schräubchen beheben zu können. Das
ist angesichts dieser Aufgabe mehr als unredlich.
({1})
Sie, meine Damen und Herren von der linken Seite, benutzen die Not der betroffenen Familien, um hier wieder
einmal eine ganz große Show abzuziehen.
({2})
Ihr Antrag „Ermäßigung des Mehrwertsteuersatzes für
Produkte und Dienstleistungen für Kinder auf 7 Prozent“
ist jetzt bald ein Jahr alt. Inzwischen sollten Sie, eventuell belehrt von Exfinanzminister Oskar Lafontaine, gelernt haben, dass wir alle hier, auch Sie, dieser Forderung nicht entsprechen können, weil sie EU-rechtswidrig
ist, sehen wir einmal davon ab, wie sinnvoll eine solche
Maßnahme wäre. Gegen Polen wurde jetzt wegen solcher Maßnahmen von Brüssel ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet.
Über diese offenkundige EU-Rechtswidrigkeit lassen Sie auch noch namentlich abstimmen. Da sieht man
einmal, wie Sie zu Europa stehen. Bei dieser Farce fällt
es zumindest auch denjenigen leicht, dagegen zu stimmen, die aufgrund des Tenors Ihres Antrags vielleicht
noch damit geliebäugelt haben. Sie führen mit dieser
Maßnahme doch nur vor, wie wichtig Ihnen die Bekämpfung der Kinderarmut in Wirklichkeit ist. Es macht
mich zornig, wie Sie die Nöte und Sorgen unserer Bürgerinnen und Bürger instrumentalisieren.
Vor drei Wochen fast um dieselbe Zeit hat Herr Gysi
an diesem Rednerpult Vorschläge gemacht, wie er Kinderarmut bekämpfen würde, leidenschaftlich und lautstark, wie er ist. Am Schluss seiner Rede erklärte er, dass
alles leicht über Steuererhöhungen - er sprach von
120 Milliarden Euro jährlich - zu finanzieren sei. Und
worüber reden wir heute, drei Wochen später, aufgrund
seines Antrags? Nicht über mehr, sondern über weniger
Steuern. Das Merkwürdigste dabei ist, dass jeder weiß,
dass dieses Geld kaum den Familien zugutekommen
wird, die es brauchen. Sie stopfen es den Unternehmen
in den Rachen, die Sie sonst immer mit mehr Steuern belegen wollen.
({3})
Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, einen Vergleich der Preise für Kinderkleider in mehreren Ländern anzustellen. Das war schwierig; denn selbst in
Deutschland gibt es häufig unterschiedliche Preise in
den einzelnen Regionen. Aber ich habe es doch geschafft. Zum Beispiel ein Babylangarmshirt von derselben Firma kostet in Österreich 3,19 Euro, in Tschechien
- ermäßigter Steuersatz - 3,74 Euro, in Deutschland
2,99 Euro, in Großbritannien 3 Pfund, also mehr als
4 Euro. Ungefähr das Gleiche gilt für Pampers und anderes. In Großbritannien ist Kinderkleidung ganz von der
Mehrwertsteuer befreit; dennoch war das Shirt dort am
teuersten. Wer hat in dem Fall den Profit?
({4})
Außerdem ist die Kinderarmut in dem von Ihnen als Beispiel genommenen Großbritannien noch weit höher als
in Deutschland. Was wollen Sie also mit diesem Antrag
bewirken?
({5})
Ich nehme an, dass Sie sich schon vor dem Verfassen des
Antrags über die tatsächlichen Verhältnisse schlau gemacht haben. Also wissen Sie, dass das ein reiner Schaufensterantrag ist. So einen Umgang haben die Familien
wirklich nicht verdient.
({6})
Falls die EU-Kommission die Babywindeln in den
Katalog der ermäßigten Steuersätze aufnimmt, was wir
dann natürlich auch tun, können wir allein an diesem
Beispiel studieren, wie sich die Preise entwickeln werden. Dass das am Ende dem Verbraucher nutzt, bezweifle ich sehr.
Stimmten wir aber Ihrem Antrag zu, hätten wir zuverlässig hohe Steuerausfälle. Um das zu erkennen, brauche
ich mir nur die Schreiben auf meinem Tisch anzuschauen:
Die deutschen Freizeitparks sind familienfreundlich, Mineralwässer und Medikamente für Kinder ebenso. Wie
sieht es mit der Bahn aus? Auch Bahnfahren ist familienfreundlich. Nette Familienrestaurants gibt es ebenfalls.
Sehr viele würden vorgeben, Produkte für Kinder herzustellen bzw. Dienstleistungen für Kinder zu erbringen.
Ein Milliardenloch würde so entstehen. Zusätzlich er14926
wartet uns ein teures Vertragsverletzungsverfahren aus
Brüssel. Die von Herrn Gysi anvisierten 120 Milliarden
Euro Steuererhöhung würden also nicht ausreichen. Da
müssten Sie kräftig noch etwas drauflegen. Ihr Antrag ist
wirklich ein schlechter Witz, obwohl niemand bei diesem Thema lachen kann.
Mit einer Minderung der Umsatzsteuer, meine Damen
und Herren von der Linken, entziehen Sie Bund, Ländern und Gemeinden das Geld, das gebraucht wird, um
all das zu finanzieren, was Familien zugute kommt. Ich
nenne beispielsweise beitragsfreie Kindergärten, Kinderpsychologen und Gesamtschulen, wie sie in Rheinland-Pfalz - von den Eltern gefordert und vom Land
gefördert - auch in ländlichen Gebieten wohnortnah entstehen.
Der von Ihnen zitierte Christoph Butterwegge analysiert, dass sich Kinderarmut in der Regel auf Mütterarmut
zurückführen lässt. Er sieht den Schlüssel zur Verringerung dieser Armut in einer höheren Erwerbsbeteiligung
von Frauen. Mütter sollen Geld verdienen, so schreibt er.
Wenn ich Ihren Kronzeugen ernst nehme, dann komme
ich zu dem Schluss: Wir brauchen eine nachhaltige Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Wir können ein höheres Kindergeld beschließen sowie Ganztagsschulen, Kinderbetreuung und anderes einführen. Wie die rot-grüne Koalition wird auch die Große
Koalition die Familienförderung weiterentwickeln.
Das Wichtigste ist aber, dass die Zahl der Arbeitslosen
sinkt. Denn Arbeitslosigkeit macht arm - nicht nur Mütter, sondern auch Väter. Schauen wir einmal auf den
rheinland-pfälzischen Arbeitsmarkt. In keinem Jahr
konnte in Rheinland-Pfalz die Arbeitslosigkeit so deutlich abgebaut werden wie im Jahr 2007. Der Abbau hat
alle Personengruppen erreicht: Frauen, Männer, Jugendliche und auch viele Bezieher von Arbeitslosengeld II.
Natürlich ist das dem konjunkturellen Aufschwung geschuldet, aber auch unseren Arbeitsmarktreformen. Das
ist eine nachhaltige Bekämpfung der Armut.
Die Mindestlöhne, die wir auf den Weg gebracht haben, ziehen Familien auch aus der Armut. Auf diesem
Weg werden wir weitermachen. Ich bin davon überzeugt, dass der Armuts- und Reichtumsbericht ganz anders ausschauen wird, wenn wir es geschafft haben,
Mindestlöhne flächendeckend durchzusetzen, sodass
Menschen, die arbeiten, nicht noch zusätzlich Unterstützung vom Staat brauchen.
({7})
Wir werden es schaffen - allerdings nicht mit Ihren
Forderungen nach immensen Steuererhöhungen, meine
Damen und Herren von der Linken. Denn dadurch verschwinden die Arbeitsplätze so schnell, wie sie entstanden sind.
({8})
Da Sie die 120 Milliarden Euro Mehreinnahmen für die
Kinder ausgeben wollen, bleibt für einen öffentlich unterstützten Arbeitsmarkt nichts übrig, es sei denn, Sie
würden noch etwas oben drauflegen. Mit Ihren Plänen
stürzen Sie die Familien geradezu in Armut.
Ich komme zurück zur Mehrwertsteuer, die für die
Durchsetzung so vieler Ziele einschließlich der Verminderung der Schuldenlast der öffentlichen Haushalte bestimmt ist. Dieses Ziel dürfen wir nicht aus den Augen
verlieren, gerade wenn wir uns mit dem Thema Kinder
beschäftigen.
Die Liste der Dinge, die dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz unterliegen, ist zugegebenermaßen kaum
noch nachvollziehbar. Sie ist in vielen Jahren gewachsen
und verändert worden. Neu hinzugekommen sind nun
die Bergbahnen. Ich wünsche mir zum Beispiel die Aufnahme der Kunstfotografie. Die Begehrlichkeit von allen
Seiten, in das verwirrende System der ermäßigten Steuersätze aufgenommen zu werden, nimmt zu. Wir Finanzpolitiker werden uns diese Liste in Kürze genauer anschauen müssen. Herr Wissing, Kaviar ist übrigens nicht
mit dem ermäßigten Steuersatz belegt, wie Sie das immer behaupten.
({9})
- Man kann immer etwas finden. - Wir werden uns diese
Liste, wie gesagt, genauer anschauen müssen, um eine
Linie zu finden. Diese Linie könnte zum Beispiel sein,
leibliches und geistiges Wohl durch einen ermäßigten
Mehrwertsteuersatz zu unterstützen und alles andere
dem normalen Steuersatz zu unterwerfen.
Das wird eine sehr spannende Diskussion, auf die ich
mich schon jetzt freue. Aber heute bitte ich Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen, diesen Antrag abzulehnen,
weil er die Familien benutzt, ihnen aber in keiner Weise
nutzt.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat nun Kollege Volker Wissing, FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren von der Linken, Ihr Antrag
scheint zwar jetzt auf Ablehnung zu stoßen. Aber ich
kann Ihnen sagen: Sie haben auch Befürworter, zum Beispiel jemanden im Bundeskanzleramt. Dort gibt es eine
große Fürsprecherin Ihres Antrages. Staatsministerin
Maria Böhmer hat dazu Folgendes gesagt - ich zitiere
sie -: Das ist ein „zielgerichteter Vorschlag für eine familienfreundliche Steuerpolitik“.
({0})
Sie sehen, es geht wie Kraut und Rüben durcheinander.
Sie haben im Bundeskanzleramt auch noch andere Fürsprecher. Die Bundeskanzlerin selbst hat gesagt, sie
könne nicht ausschließen, dass mittelfristig der ermäßigte Steuersatz für die meisten Kinderprodukte gelten
solle.
Nun werden Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Union, sagen: Diese Aussagen sind schon
zwei Jahre alt. Zwei Jahre sind natürlich eine lange Zeit
für eine Regierungsfraktion. Damals wurden viele Steuersenkungsversprechungen gemacht, und am Ende
wurde kräftig erhöht; das wissen wir alle. Die Erinnerungslücke, was die Wahlversprechen in der Steuer- und
Finanzpolitik angeht, ist bei den Regierungsfraktionen
schon beängstigend.
2005 haben Sie den ermäßigten Umsatzsteuersatz für
Kinderartikel gefordert, und 2007 haben Sie noch einmal
3 Prozentpunkte auf den vollen Umsatzsteuersatz draufgeschlagen.
({1})
Statt für Kinderartikel einen Steuersatz von 7 Prozent
einzuführen, besteht für die Bürgerinnen und Bürger
heute ein Steuersatz von 19 Prozent. Das heißt, statt einer Halbierung haben wir jetzt fast eine Verdreifachung
dessen, was Frau Böhmer damals beschworen hat.
Eines kann man jedenfalls sagen: Die Erhöhung der
Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte ist eine Antifamilienpolitik, die Sie von der SPD mitgetragen haben. Die
Bürgerinnen und Bürger haben auch Ihre Mehrwertsteuerlügen nicht vergessen. Es hieß, die Merkel-Steuer
werde teuer. Mit der SPD wurde es dann noch viel teurer. So war das in Deutschland.
Diese Steuererhöhungspolitik, die Sie von der Großen Koalition in den letzten Jahren massiv betrieben haben, hat die Familien erheblich belastet. Sie zahlen
heute jährlich im Schnitt 1 600 Euro mehr an den Fiskus.
Dieses Geld fehlt für die Kinder, fehlt den Familien. Das
ist für sie ein sehr ernstes Thema. Deswegen kann ich
nachvollziehen, dass Sie von der SPD jetzt so ernst
schauen. Bei vielen Familien in Deutschland wurde
durch Ihre Politik wirklich existenziell abkassiert. Da
hilft es auch nichts, wenn Sie dann Feigenblättchen in
die Welt setzen, zum Beispiel das Elterngeld und all das
andere Gute, das Sie tun wollen. Wenn man erst bei den
Leuten abkassiert und sich hinterher bei den Familien als
Gönner aufspielt, dann ist das schon an der Grenze dessen, was man den Menschen zumuten kann.
({2})
Sie haben die Eigenheimzulage gestrichen, Sie haben
die Pendlerpauschale gekürzt, Sie haben den Sparerfreibetrag gekürzt, Sie haben die Mehrwertsteuer erhöht und
damit tief in die Taschen der Familien gegriffen. Sie haben den Familien in Deutschland sehr viel genommen,
und Sie nehmen ihnen sehr viel. Sie sind nicht in der
Lage, ihnen auch nur ansatzweise etwas Adäquates zurückzugeben; auch das muss an dieser Stelle gesagt werden.
Die Forderung der Linken nach Einführung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes für Kinderprodukte ist von
der Zielsetzung her verständlich. Wir alle wollen etwas
für Familien tun. Es war einmal die erklärte Absicht des
Gesetzgebers, bei der Mehrwertsteuer ein System zu
schaffen, das die Artikel des täglichen Bedarfs vergünstigen soll. Es gibt in diesem Haus niemanden, der
bestreitet, dass dieses Ziel verfehlt worden ist.
Das Bundesministerium der Finanzen vertritt sogar
die Auffassung - wir hatten da einmal nachgefragt -,
dass die Anwendung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes
keiner inneren Logik folge - das ist schon bemerkenswert -, sondern vielmehr - so sagt das BMF - Ausdruck
der Durchsetzungsfähigkeit verschiedener Lobbyisten
und anderer Interessengruppen sei. Nun hat das Bundesfinanzministerium im Oktober 2006 den ermäßigten
Umsatzsteuersatz für getrocknete Schweineohren gewährt. Für Kinderartikel gilt aber nach wie vor der volle
Satz. Da sieht man: Beim BMF haben sich die Lobbyisten für getrocknete Schweineohren durchsetzen können.
Für Kinder, in der Familienpolitik wurde bisher wenig
getan.
({3})
Da gibt es starke Lobbygruppen für Sessellifte und
Seilbahnen, die bei der Bundesregierung offene Ohren
finden und sich durchsetzen können. Es ist eine Sache,
wenn Lobbyisten und Interessengruppen ihre Anliegen
vertreten. Es ist aber eine andere Sache, wenn deren
Wünsche dann mir nichts, dir nichts den Weg in das Gesetz finden. Es spricht nicht gerade für die politische
Standhaftigkeit der Bundesregierung, wenn sie es nicht
einmal schafft, den Interessenvertretern für getrocknete
Schweineohren Paroli zu bieten. Es ist nicht Aufgabe der
Bundesregierung, Lobbygruppen zu vertreten. Aufgabe
der Bundesregierung ist vielmehr, ein Steuerrecht zu
schaffen, das den berechtigten Belangen der Gesellschaft
und - wie wir immer betonen - einer guten Familienpolitik gerecht wird.
Es wäre ein Signal gewesen, wenn Sie, statt stupide
die Mehrwertsteuer zu erhöhen, die Chance genutzt hätten, unser Mehrwertsteuersystem umfassend zu reformieren. Das ist zwar ein großes Projekt, es wäre aber angemessen gewesen, wenn die Große Koalition das in
Angriff genommen hätte. Wenn Sie gebetsmühlenartig
sagen: „Das geht alles nicht, wegen Europa!“, frage ich
mich: Wer ist denn Europa?
({4})
Die Bundesregierung tut immer so, als hätten wir damit
gar nichts zu tun. Um Gottes willen! Erheben Sie doch
einmal Ihre Stimme und sagen Sie in Europa, was für
Deutschland richtig, wichtig und gut ist. Wir können uns
von den anderen doch nicht immer sagen lassen, dass
das nicht geht. Nein, damit flüchten Sie sich aus der Verantwortung, und das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
({5})
Wer den ermäßigten Umsatzsteuersatz für Sessellifte
und Bergbahnen einführen kann, der kann sich in anderen Bereichen nicht einfach mit dem Verweis auf Europa
verweigern.
Immerhin gab es schon einmal eine Initiative der
SPD. Sie wollten das schon einmal überarbeiten, damals
unter Finanzminister Eichel. Jetzt werden Sie sagen: Die
FDP war damals nicht begeistert. Natürlich nicht! Weil
Sie nur einseitig anheben wollten. Sie haben sich keine
Gedanken darüber gemacht, ob man in anderen Bereichen, zum Beispiel bei Trüffel und Gänsestopfleber, von
der Subventionierung wegkommen müsste, weil sie keinen Sinn macht, Frau Kollegin Westrich. Das haben Sie
damals einfach ausgelassen.
Wenn man schon eine Reform macht, sollte es auch
eine vernünftige sein, dann sollte es nicht nur ein bisschen sein, dann sollte man nicht nur die Kassen ein bisschen auffüllen, wie Sie immer denken, sondern dann
muss man etwas machen, das das System strukturell verbessert. Deswegen sagt die FDP gebetsmühlenartig immer wieder im Finanzausschuss: Wir brauchen die
Selbstbefassung. Wir müssen jetzt an die Überarbeitung
des Mehrwertsteuersystems ran. Es ist höchste Zeit.
Ich kann Sie an dieser Stelle nur wieder auffordern:
Lassen Sie uns das gemeinsam angehen. Das ist eine
wichtige Aufgabe. Man sollte nicht immer nur sagen:
Europa! Europa! Wir können nicht! Wir wollen nicht! Ich glaube, es gibt viel zu tun: In Deutschland gibt es unterschiedliche Mehrwertsteuersätze für Dill und Basilikum. Bei Lorbeer kommt es darauf an, ob er frisch oder
getrocknet ist. Weihnachtskränze haben je nach Feuchtigkeitsgehalt der Tannen unterschiedliche Mehrwertsteuersätze. Was ist denn das für ein Steuersystem? Da
kann man doch hier nicht einfach sagen: Das lassen wir
einfach so! Europa! Ich finde, wir müssen uns dieses
Themas dringend annehmen. Wir sollten uns diesem
Thema nicht immer verweigern und sagen, dass das
nicht geht. Lassen Sie uns die Selbstbefassung machen.
Zu dem Antrag der Linken: Sie brauchen eine vernünftige, systematische Vorstellung des Ganzen. Einfach
hinzugehen und Symbolpolitik in die Welt zu blasen, das
hilft doch auch keinem. Sie sprechen von „Waren und
Dienstleistungen für Kinder“. Wie das abgegrenzt und
praxisgerecht ausgestaltet werden soll, sagen Sie aber
nicht. Nehmen Sie beispielsweise ein Kinderschnitzel in
einem Restaurant. Jetzt kommt ein Erwachsener und isst
ein Kinderschnitzel. Was machen wir denn jetzt? Sagen
wir dann: Es kommt darauf an. Wir können Ihnen den
Mehrwertsteuersatz und den genauen Preis erst beim
Abrechnen mitteilen, erst, nachdem wir Ihr Alter festgestellt haben.
({6})
Sie müssen schon einen Vorschlag vorlegen, der hiebund stichfest und europatauglich ist.
({7})
Die Chance, die dieser Finanzausschuss und dieses
Parlament haben, sollten wir nutzen. Wir sollten aber
keine Symbolpolitik machen, weil das Thema viel zu
ernst ist. Da hat Frau Westrich recht. Wenn wir das machen wollen, lassen Sie es uns gemeinsam tun. Bei einer
vernünftigen Überarbeitung des Systems ist die FDP an
Ihrer Seite. Ich sage Ihnen aber eines voraus - Stichwort:
Steuererhöhungen -: Wenn Sie meinen, Sie könnten mit
einer Systemüberarbeitung wieder abkassieren, so wie
damals, dann haben Sie uns als Gegner.
Vielen Dank.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Manfred Kolbe für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Der Antrag der Fraktion Die Linke,
den Mehrwertsteuersatz für Produkte und Dienstleistungen für Kinder auf 7 Prozent zu ermäßigen, ist der klassische Fall eines Rohrkrepierers: Eine im Kern gut gemeinte Absicht wird durch schlechte handwerkliche
Ausführung kaputtgemacht. Das ist Ihr Rohrkrepierer.
({0})
In der Sache hat sich auch die Union mittelfristig das
Ziel gesetzt, wie jüngst wieder in der Hamburger Erklärung vom 11. Februar betont wurde, zu prüfen, ob auf typische Kleinkind- und Kinderprodukte des täglichen Bedarfs künftig nur noch der ermäßigte Mehrwertsteuersatz
angewendet werden kann. Familien und Kinder stehen
im Mittelpunkt der Politik dieser Koalition.
({1})
Der heute zur Abstimmung stehende Antrag ist handwerklich schlicht und ergreifend Murks. Das hätte Ihnen
der ehemalige Bundesfinanzminister Oskar Lafontaine
eigentlich erklären können. Ich sehe ihn nicht. Er ist
nicht da. Das ist schon bezeichnend. Sie ziehen hier
etwas hoch, Sie beantragen eine namentliche Abstimmung, und dann kommt einer Ihrer Fraktionsvorsitzenden nicht. Das zeigt doch den Showcharakter dieses
Antrags.
({2})
Ihr Antrag ist schlicht und ergreifend schlampig formuliert. Warum ist er handwerklicher Murks? Der
Antrag übersieht zunächst, dass eine ganze Reihe von
Artikeln für Kinder bereits jetzt dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz unterliegt: Nahrungsmittel, Milchprodukte, Süßigkeiten, Schokolade - das ist nicht ganz
unwesentlich - und Bücher einschließlich Malbücher
werden schon heute ermäßigt besteuert.
Was sollen denn dann die weiteren Waren und
Dienstleistungen für Kinder sein? Sollen darunter generell Musik-CDs, Videofilme, Videospiele, Gameboys,
MP3-Player, iPods nano und andere teilweise kostspielige Elektronik fallen, die sowohl Kinder als auch Erwachsene benutzen, ja oder nein? Sie werden wahrscheinlich Nein sagen. Sollen darunter auch hochwertige
Puppen, Modellautos, Modelleisenbahnen, Modellflugzeuge, teure Markenkleidung und Ähnliches fallen?
Mancher erwachsene Sammler oder erwachsene KonsuManfred Kolbe
ment würde sich darüber freuen. Der Zielrichtung Ihres
Antrags würde das aber wahrscheinlich nicht gerecht
werden.
Meine Damen und Herren von der Linken, der Teufel
liegt wie immer im Detail. Der kurze und knappe Rat
meiner Fraktion lautet: Ziehen Sie diesen schlampigen
Antrag zurück und sitzen Sie nach. Damit dienen Sie
auch den Kindern.
Dieser Antrag ist typisch für Ihre Fraktion: immer alles fordern, aber nichts in die Realität umsetzen.
({3})
Das ist auch typisch für Ihre scheinheilige Strategie und
für Ihre Spitzenleute. Unter Ihnen befinden sich zwei
Personen, Oskar Lafontaine und Gregor Gysi, die einmal
hohe Staatsämter in dieser Republik bekleidet haben. Da
hätten sie manches ändern können, aber sie haben es
nicht getan. Ich gehöre wahrhaftig nicht zu denen, die
bedauern, dass sie es nicht getan haben. Sie haben irgendwann den Bettel hingeschmissen und sich lieber der
Polemik im Bundestag hingegeben. Genau das ist die
Scheinheiligkeit Ihrer Strategie.
({4})
Dafür ist auch dieser Antrag typisch.
Sie übersehen weiter - Kollege Wissing hat es schon
ausgeführt -, dass dieser Antrag schlicht und ergreifend
europarechtswidrig ist.
({5})
Auch Sie haben Europaabgeordnete. Über eine habe ich
neulich etwas in der Zeitung gelesen. Herr Gysi, vielleicht treffen Sie sich einmal mit Frau Wagenknecht zum
Hummeressen in Brüssel und lassen sich das erklären.
({6})
Sie brauchen auch keine Angst zu haben, dass Sie dabei
fotografiert werden.
({7})
Frau Wagenknecht löscht diese Bilder dann eigenhändig
auch von fremden Kameras.
Die am 1. Januar 2007 in Kraft getretene Mehrwertsteuersystemrichtlinie bildet heute die rechtliche Grundlage für das harmonisierte Mehrwertsteuerrecht in
Europa. Gemäß Art. 98 Abs. 1 können Mitgliedstaaten
einen oder zwei ermäßigte Steuersätze anwenden, aber
eben nur auf Gegenstände, die sich in Anhang III befinden. Schaut man sich einmal das Verzeichnis in Anhang III an, so findet man eben nicht - ich bedauere
das - Kinderwindeln, Kinderkleidung oder Spielsachen.
Man mag dies bedauern, aber es ist so. Eine Möglichkeit
zur Änderung haben wir zurzeit nicht.
Mein Vorredner hat bereits zu Recht ausgeführt, dass
Europa nicht irgendein Fremdkörper ist, sondern wir Teil
der Europäischen Union sind und Gestaltungsmöglichkeiten haben. Wir begrüßen es deshalb, dass die Europäische Union im letzten Jahr zu der Auffassung gelangt
ist, dass die derzeitige Struktur der Mehrwertsteuersätze,
insbesondere der ermäßigten Mehrwertsteuersätze, vereinfacht werden muss, da die derzeitige Regelung zu
komplex sei. Die Kommission möchte neue gemeinsame
Vorschriften entwickeln, die nach 2010 Anwendung finden sollen. Hierbei wird die Koalition den Bundesfinanzminister, der dafür die Verhandlungen in Brüssel
führt, mit Tatkraft unterstützen. Die Kinder stehen dabei
für uns ganz im Zentrum der Bemühungen.
Auch wir - das kann ich für meine Fraktion sagen wollen die Liste der dem ermäßigten Steuersatz unterliegenden Gegenstände gemäß der Anlage zu § 12 Umsatzsteuergesetz überarbeiten. Brauchen wir tatsächlich eine
solche ellenlange, detailverliebte Kasuistik, die regelmäßig eine Fundgrube für Büttenredner im Karneval darstellt, um die Regelungswut des Steuergesetzgebers anzuprangern? Ich zitiere die Nummer 22 dieser Liste:
Dem ermäßigten Steuersatz unterliegen:
Johnnisbrot und Zuckerrüben, frisch oder getrocknet, auch gemahlen; Steine und Kerne von Früchten
sowie andere pflanzliche Waren ({8}) der hauptsächlich zur menschlichen Ernährung verwendeten
Art, … ausgenommen Algen, Tange und Zuckerrohr.
Alles klar, oder? Ich könnte auch aus dem Schreiben des
BMF zum Thema Schweineohren zitieren. Hier besteht
in der Tat Reformbedarf.
Noch schwerwiegender als solche Kuriosa wiegen die
teilweise krassen Wertungswidersprüche, die in dieser
Liste enthalten sind. Warum werden Musik-CDs niedriger besteuert als Babywindeln?
({9})
Warum wird Tierfutter niedriger besteuert als Arzneimittel besteuert werden? Warum werden Hummer und Trüffel niedriger besteuert als Mineralwasser besteuert wird?
Ich glaube, es besteht sicherlich ein gewisser Konsens
in diesem Hause, dass eine breit angelegte Diskussion
über das Thema „Ermäßigte Mehrwertsteuersätze“ geführt werden muss. Allerdings sollten die Vorarbeiten
der Europäischen Kommission abgewartet werden. Wir
wollen eine europäische Regelung. Deutschland darf
hier keinen nationalen Alleingang wagen. Die Vorarbeiten der Europäischen Kommission und die uns vorliegenden Berichte des Bundesfinanzministeriums bilden
dabei die Grundlage. Unser Ziel ist, zu prüfen, ob es
möglich ist, dass auch typische Kleinkind- und Kinderprodukte des täglichen Bedarfs lediglich mit dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz belastet werden.
An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, was
wir uns auf keinen Fall vorwerfen lassen werden: dass
wir Kinder politisch benachteiligen. Die Bundesregierung mit der Bundeskanzlerin und der Bundesfamilien14930
ministerin an ihrer Spitze hat die Familienpolitik ganz
oben auf die politische Agenda gesetzt und dem auch Taten folgen lassen:
Erstens. Mit dem Elterngeld haben wir Vätern und
Müttern im ersten Lebensjahr ihres Kindes gezielt das
Einkommen gesichert, damit sich die Eltern für ihr Neugeborenes Zeit nehmen können.
({10})
Auch die große Gruppe der Alleinerziehenden profitiert
davon, Frau Schewe-Gerigk.
Zweitens. Der beschlossene Ausbau des Betreuungsangebots für unter Dreijährige sorgt für echte Wahlfreiheit. Bis 2013 wollen wir in Deutschland für 35 Prozent
der Kinder unter drei Jahren ein Betreuungsangebot in
Tagespflege oder Kinderkrippen schaffen. Im Anschluss
daran werden wir ein Betreuungsgeld für Eltern einführen, die ihre Kinder vom vollendeten ersten bis dritten
Lebensjahr zu Hause betreuen und keinen Platz in einer
Kindertagesstätte beanspruchen.
Drittens. Die Koalition wird im Herbst dieses Jahres
entscheiden, ob wir das Kindergeld erhöhen oder nicht.
Abschließend: Auch wir wollen im Rahmen der europäischen Vorgaben und unserer haushaltspolitischen
Möglichkeiten typische Kleinkind- und Kinderprodukte
des täglichen Bedarfs künftig nur noch mit dem ermäßigtem Mehrwertsteuersatz belasten. Den heutigen Antrag der Fraktion Die Linke lehnen wir aber ab, da er
dazu wegen seiner fachlichen Mängel nicht geeignet ist.
Danke.
({11})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Gregor Gysi für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kolbe, ich verstehe gar nicht, warum Sie sich darüber
aufregen, dass einer unserer Fraktionsvorsitzenden fehlt.
Wir haben immerhin zwei. Ihrer ist nicht da, von der Regierung ist keiner da.
({0})
Ich weiß gar nicht, was Sie hier herummeckern. Das Problem, das mir an dieser Debatte auffällt, ist: Manche
Abgeordnete werden, wenn sie über den Schutz von
Embryonen diskutieren, sehr leidenschaftlich. Wenn es
aber um die bereits geborenen Kinder geht, dann fehlt
ihr Interesse plötzlich.
({1})
Wir haben es hier mit einem sehr ernsten Thema zu
tun. Denn in Deutschland, einem der reichsten Länder
der Erde, leben 2,6 Millionen Kinder in Armut.
({2})
Das können wir uns nicht leisten. Ganz egal, ob man
Mitglied der CSU oder der Linken ist: Das ist nicht hinnehmbar. Das müsste der ganze Bundestag beschließen.
({3})
Ursache der Kinderarmut ist immer die Armut der
Eltern. Also muss man dort ansetzen und die Strukturen
verändern. Da Sie uns immer vorwerfen, wir würden
Wahlkampf machen, muss ich Ihnen sagen: Das, was wir
gerade bei der Union erleben, ist in jeder Hinsicht klassischer Wahlkampf. Das werde ich Ihnen auch belegen.
Frau Westrich, Sie haben argumentiert, indem Sie auf
das EU-Recht hingewiesen haben. Dazu muss ich Ihnen
sagen: Das finde ich wirklich unakzeptabel. Denn wenn
man von EU-Recht spricht, tut man immer so, als sei
dieses Recht göttlich gegeben. Darf ich Sie daran erinnern, dass auf EU-Ebene nichts ohne Zustimmung der
deutschen Bundesregierung beschlossen wurde?
({4})
Selbstverständlich sind wir berechtigt, auf europäischer
Ebene Veränderungen herbeizuführen.
Dass Sie das Handwerkliche an unserem Antrag kritisieren, finde ich völlig falsch. In unserem Antrag steht:
Die Bundesregierung wird aufgefordert, das Umsatzsteuergesetz so zu ändern, dass solche Produkte aufgenommen werden können. - Wenn der Bundestag das
beschlösse, könnten die Bundesregierung und der Bundestag anschließend beraten, welche Produkte aufgenommen werden, wie wir vorgehen und was am EURecht verändert werden muss. Wenn der Bundestag unseren Antrag mehrheitlich annimmt - wenn er es denn
täte, er macht es leider nicht -, drückt er seinen Willen
aus, dass die Bundesregierung diesbezüglich aktiv wird.
Das ist handwerklich völlig sauber.
({5})
Wenn wir alles einzeln aufgeschrieben hätten, hätten Sie
über das Handwerkliche meckern können. Doch in diesem Falle ist Ihr Vorwurf falsch.
Hinzu kommt: Wie schnell haben Sie die Mehrwertsteuer gleich um 3 Prozentpunkte, von 16 auf 19 Prozent, erhöht! Wieso haben Sie, wenn Sie das schon machen, im Ausgleich nicht wenigstens die Mehrwertsteuer
für bestimmte Produkte gesenkt? Warum haben Sie sich
dafür bei der EU nicht entsprechend eingesetzt? Die Situation ist doch grotesk: Bei Nahrungsmitteln sind es
7 Prozent, bei Zeitungen, Büchern, Kultur, öffentlichem
Nahverkehr sind es 7 Prozent, bei Tiernahrung und Tiermedikamenten sind es 7 Prozent. Sie müssen einmal erklären, wieso jemand auf das Antibiotikum für seinen
Hund nur 7 Prozent Mehrwertsteuer zahlen muss, auf ein
Antibiotikum für sich selbst hingegen 19 Prozent!
({6})
Dieser Logik kann ich nicht folgen.
Kinderkleidung - das ist selbstverständlich - muss für
jedes Jahr neu angeschafft werden, also viel häufiger als
bei Erwachsenen, und auf jedes Kleidungsstück sind
19 Prozent Mehrwertsteuer zu zahlen. Kommen Sie mir
jetzt nicht mit Beispielen, wo es nicht angebracht wäre,
wenn der Mehrwertsteuersatz ermäßigt würde! Darüber
können wir diskutieren, wenn der Bundestag beschlossen hat, die Mehrwertsteuer auf Produkte für Kinder zu
ermäßigen. Dann können wir das Produkt für Produkt
durchgehen.
({7})
Bayern ist spitze: Bayern sorgt dafür, dass Seilbahnfahrten künftig nur noch mit 7 Prozent besteuert werden.
Im Hinblick auf Kinderkleidung gab es keinen solchen
Antrag aus Bayern; das möchte ich an dieser Stelle einmal feststellen.
({8})
Kommen wir einmal zu dem Affentheater, das wir
hier in letzter Zeit erleben. Im Wahlkampf in Hamburg
wird erklärt, das Kindergeld muss erhöht werden. Der
Bundesfinanzminister äußert sich dazu, das sei der völlig
falsche Weg, er sei strikt dagegen, das Kindergeld zu erhöhen. Einen Tag später denkt Herr Beck laut darüber
nach, das Geld je zur Hälfte in eine Erhöhung des Kindergeldes und in Schulessen zu investieren. Dann hört
man wieder nichts. Dann beschließt die CDU die Hamburger Erklärung, zufällig in Hamburg; ich glaube, da
sind Wahlen. In dieser Hamburger Erklärung steht, anders als Sie es heute zitiert haben:
Zahlreiche wichtige Kinderartikel unterliegen
schon heute dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz.
Wir wollen auch unter dem Gesichtspunkt der Finanzierbarkeit prüfen, wo in Zukunft grundsätzlich
der untere Mehrwertsteuersatz angewendet werden
kann. Ziel ist, typische Kleinkind- und Kinderprodukte des täglichen Bedarfs hierunter zu fassen.
Nicht vor zwei Jahren - jetzt, im Jahre 2008, ist das beschlossen worden. Da muss ich Herrn Beck recht geben,
der hierzu sagt: Es ist nicht glaubwürdig, was die Union
da macht. - Denn heute wird sie genau gegen das stimmen, was sie in ihrer Hamburger Erklärung gefordert
hat; das wollen wir den Hamburgerinnen und Hamburgern und der Öffentlichkeit zeigen.
({9})
Wenn Sie Ihre Hamburger Erklärung ernst nehmen, müssen Sie heute unserem Antrag zustimmen. Sonst ist das
eine typische Wahlkampferklärung, die nicht in Ordnung
ist. Wie gesagt: Das Ganze ist ein ziemliches Affentheater.
Noch etwas. Sie sagen, alles ist abhängig von dem,
was im Existenzminimumbericht steht. Dieser Bericht,
der im September vorgelegt werden soll, bindet Sie; da
sind Sie gar nicht frei in Ihrer Entscheidung. Das Bundesverfassungsgericht hat klipp und klar gesagt: Das
Existenzminimum ist für jedes Kind zu gewährleisten.
Sie kommen gar nicht umhin, die Ergebnisse dieses Berichts zu berücksichtigen. Andernfalls würden Sie sich
in eine grundgesetzwidrige Situation begeben, was dann
entsprechende Folgen hätte.
Die CDU/CSU spricht davon, das Kindergeld um
10 Euro erhöhen zu wollen. Die SPD will die Hälfte - das
wären dann 5 Euro - sowie den gleichen Betrag für
Schulessen. So kommen wir nicht weiter, so überwinden
wir die Armut von 2,6 Millionen Kindern in Deutschland nicht.
({10})
Jedes sechste Kind in Deutschland kann sich Klassenfahrten nicht leisten, hat kein Taschengeld, kann sich die
Mitgliedschaft im Sportverein nicht leisten und geht in
Suppenküchen. Wenn Sie sich einmal die Gesichter der
Kinder, die in Suppenküchen gehen, anschauen - das
hätte ich gerne Herrn Koch gesagt -, dann wissen Sie,
wo Frust und Gewaltbereitschaft entstehen.
({11})
Wenn wir das nicht überwinden, haben wir es später mit
noch viel schlimmeren Folgen zu tun.
({12})
Sie haben recht: Die 7 Prozent Mehrwertsteuer sind
nur der erste Schritt. Wir fordern ja mehr; wir können
nur nicht immer alles zur Abstimmung stellen. So fordern wir, das Kindergeld von 154 Euro auf 200 Euro zu
erhöhen. Doch dazu sind Sie nicht bereit. Wir fordern
darüber hinaus, den Kinderzuschlag für Hartz-IV-Bezieherinnen und Hartz-IV-Bezieher von maximal 140 Euro
für unter 14-Jährige auf 200 Euro und für über 14-Jährige auf 270 Euro zu erhöhen.
({13})
Wir sagen: Die entsprechenden Regelsätze für Kinder
von Hartz-IV-Empfängern müssen von 207 Euro bzw.
276 Euro auf 300 Euro erhöht werden. Damit könnte
man die Kinderarmut überwinden.
Sie alle fragen, wovon man das bezahlen soll. Wir sagen: Wir brauchen Steuergerechtigkeit. An einer Tatsache kommen Sie, die Sie hier so lange über die
120 Milliarden Euro gesprochen haben, nicht vorbei:
Die durchschnittliche Steuer- und Abgabenquote in
Deutschland liegt bei 35,6 Prozent, während der Durchschnitt aller 27 Mitgliedsländer der EU bei 40,8 Prozent
liegt. Als stärkstes ökonomisches Land der EU liegen
wir also um über 5 Prozentpunkte unter dem Durchschnitt.
({14})
Damit meinen wir nicht die Mehrwertsteuer und auch
nicht die Einkommensteuer - schon gar nicht die der
Empfänger unterer Einkommen und auch nicht die der
Empfänger durchschnittlicher Einkommen. Damit meinen wir eine gerechte Besteuerung der Empfänger hoher
Einkommen.
Herr Kollege, ich muss Sie auf die Redezeit aufmerksam machen.
Ja. - Wir meinen eine Vermögensteuer, eine Börsenumsatzsteuer, eine Luxussteuer und eine Veräußerungserlössteuer. Auf all das verzichten Sie.
({0})
Andere Länder haben sie aber. Wenn wir darauf nicht
verzichten würden und Steuergerechtigkeit hätten, dann
könnten wir die Kinderarmut überwinden.
({1})
Nächster Redner ist nun der Kollege Dr. Gerhard
Schick für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach
der Rede von Herrn Gysi könnte man meinen, dass alle,
die diesem Antrag nicht zustimmen, völlig unsozial sind,
noch nie eine Suppenküche gesehen haben und sich mit
dem Problem der Kinderarmut nicht auseinandersetzen
wollen. Ich glaube, diesen Eindruck muss man ganz
deutlich zurückweisen.
({0})
Sie schlagen die Ermäßigung des Mehrwertsteuersatzes vor. Ich rede nicht über andere Vorschläge, die wir
teilweise durchaus richtig finden. Wir selber haben den
Antrag gestellt, die Regelsätze endlich an das Existenzminimum anzupassen, damit die Kostensteigerungen,
die unter anderem durch die Mehrwertsteuererhöhung
entstanden sind, durch entsprechende Einkommenserhöhungen für die Menschen gemildert werden. Natürlich
kann man hier über einiges reden, aber heute steht die
Ermäßigung des Mehrwertsteuersatzes für Kinderprodukte zur Debatte.
({1})
Sie würde natürlich überhaupt nichts zur Bekämpfung der Kinderarmut beitragen, die Sie hier gerade
anhand einer Reihe von Bildern geschildert haben.
({2})
Möglicherweise würde das Symptom der Kinderarmut
aufgrund der Verbilligung einzelner Produkte ein wenig
gelindert werden - aber wohl noch nicht einmal das.
Herr Gysi, auf das Gegenargument von Frau
Westrich, dass sich die Reduzierung der Mehrwertsteuer
auf die Preise nicht auswirken würde - das ist das zentrale Kernargument, und ich sage auch für meine Fraktion, dass die Reduzierung bei den Menschen nicht ankommt -, sind Sie gar nicht eingegangen. Daran erkennt
man, dass Ihr Antrag nicht wirklich begründet ist. Es
kommt bei den Kindern nicht an. Deswegen lehnen wir
den Vorschlag auch ab.
({3})
Wir müssen uns mit der Kinderarmut beschäftigen.
2 Millionen Kinder leben unter der Armutsschwelle.
Auch im aktuellen Aufschwung steigt diese Zahl. Dies
gilt auch für Baden-Württemberg, ein Bundesland, dessen ökonomische Zahlen häufig überdurchschnittlich
sind. Mit einem Plus von 13 Prozent stehen wir sogar am
oberen Rand dieses Zuwachses. Man sieht eindeutig,
dass ein Handlungsbedarf vorhanden ist. Diesem dürfen
wir uns nicht entziehen.
Deswegen ist es richtig, dass wir über die Kindergelderhöhung sprechen und uns fragen, wie wir die Infrastruktur verbessern und es verhindern können, dass Eltern, insbesondere alleinerziehende Eltern, so stark von
Armut betroffen sind. Das sind richtige Fragen, denen
wir uns mit einer Reihe von Vorschlägen stellen.
({4})
Ich möchte hier jetzt aber nicht zu allen Aspekten der
Kinderpolitik sprechen, vielmehr möchte ich Sie noch
einmal darauf hinweisen, was wir im Steuersystem machen und wo das richtig angesiedelt ist. Ich möchte für
meine Fraktion ganz deutlich sagen, dass wir das Mehrwertsteuersystem nicht für die zentrale Stelle halten, an
der wir Sozialpolitik idealerweise betreiben sollten. Die
empirische Evidenz, dass das irgendetwas bringt, ist einfach nicht gegeben. Durch den Bericht der Bundesregierung wurde uns das noch einmal sehr deutlich gemacht.
Darin sind wir alle uns ja auch einig.
Nun kommen wir aber zu folgendem Punkt: Wenn die
Bundesregierung feststellt, dass das Mehrwertsteuersystem jeder Logik widerspricht und es im Wesentlichen
auf Lobbyeinflüsse zurückzuführen ist, wo wir Ausnahmen machen und wo nicht, dann müssen wir jetzt einmal
etwas tun. Ich halte den Vorschlag der Oppositionsfraktionen, einmal richtig an dieses Thema heranzugehen,
für geeignet, hier System hineinzubringen. Daher würde
ich mich freuen, wenn die weiteren Rednerinnen und
Redner von der Großen Koalition uns einen Vorschlag
machten, wie wir darangehen wollen. Wir haben vorgeschlagen, das im Rahmen der Selbstbefassung im AusDr. Gerhard Schick
schuss hinter verschlossenen Türen zu machen, gegebenenfalls auch in Form eines Berichterstattergesprächs,
damit wir uns diesem Thema in Ruhe nähern können.
Allerdings hat Herr Wissing hier zu Recht deutlich
gemacht, dass die Große Koalition damit ihre Schwierigkeiten hat: Ihre Leute werben in Hamburg und im Saarland damit, dass sie die Ermäßigung wollen; gleichwohl
werden sie hier mit Nein stimmen. Auch das Beispiel der
Sessellifte widerspricht jeder Systematik. Dies zeigt das
Ausmaß des Problems, das wir nur gemeinsam angehen
können. Unsere Fraktion ist bereit, an einer besseren
Systematik des Mehrwertsteuerrechts mitzuwirken. Dies
werden wir aber nur tun können, wenn Sie von der Großen Koalition endlich zu einem ernsthaften Prozess der
Verbesserung und Vereinfachung unseres Mehrwertsteuersystems Ja sagen. Darauf warten wir, und ich fordere
die nachfolgenden Redner der Koalition auf, hierzu Stellung zu nehmen.
({5})
Aber die FDP muss noch eine Voraussetzung schaffen, wenn wir ernsthaft an dieses Thema herangehen
wollen. Wenn Sie in dem Graben bleiben und überall
dort, wo ungerechtfertigte Erleichterungen, Subventionen und Vergünstigungen abgebaut werden, mit der großen Steuererhöhungskeule ausholen - ich erinnere nur
daran, wie die Debatte lief, als wir damals Verbesserungsvorschläge vorgelegt hatten -, dann werden wir
nicht vorankommen. Im Endeffekt ist es doch egal, ob
man an dieser oder an einer anderen Stelle die Steuer erhöht, wenn man einen Konsolidierungsbedarf hat. Wenn
Sie wirklich an die Systematik heranwollen, dann müssen Sie diese Systematik in den Vordergrund stellen und
dürfen nicht in erster Linie darauf abstellen, dass Steuern
erhöht würden.
({6})
Deswegen fordere ich Sie auf, konstruktiv mitzumachen und nicht wieder in den Fehler zurückzufallen, sofort „Steuererhöhung“ zu schreien. Dann haben wir die
Chance, zu mehr Systematik bei der Mehrwertsteuer zu
kommen. Außerdem könnten wir dann dort, wo es sinnvoll ist, nämlich im Bereich der Transferleistungen und
der Infrastruktur, wirklich etwas für Kinder in diesem
Lande tun. Wir müssen Kinderarmut dort bekämpfen,
wo es tatsächlich etwas bringt, also nicht so, wie es die
Linke heute vorschlägt.
Danke schön.
({7})
Für die SPD-Fraktion erteile ich nun das Wort der
Kollegin Gabriele Frechen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Dr. Schick hat eben etwas aufgegriffen,
was ich mir auch dachte, als ich Herrn Dr. Wissing hörte:
Egal, was es ist, und wenn es die getrockneten Schweineohren sind,
({0})
fällt etwas aus dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz heraus, ist Herr Dr. Wissing der Erste, der auf den Barrikaden steht und brüllt: Haltet den Dieb, Steuererhöhungen!
Das ist unredlich, Herr Dr. Wissing, einfach unredlich.
({1})
Herr Dr. Gysi hat relativ wenig zum Antrag seiner
Fraktion gesprochen, sondern eher allgemeine Ausführungen gemacht, was ich auch nachvollziehen kann.
Aber er hat behauptet, in dem Antrag werde die Bundesregierung aufgefordert, die Voraussetzungen für eine
Änderung des Umsatzsteuergesetzes zu schaffen. Nein,
Herr Dr. Gysi, in dem Antrag steht, dass Sie das Umsatzsteuergesetz ändern wollen, unabhängig davon, ob es
EU-rechtlich zulässig ist. Sie wollen also sehenden Auges in ein Vertragsverletzungsverfahren hineinlaufen.
Oder bereiten Sie Spiegeleier zu, indem Sie zuerst das Ei
auf den Herd kloppen und dann die Pfanne daraufstellen? Ich mache es umgekehrt, und so sollten wir eigentlich auch Gesetze machen.
({2})
In der heutigen Diskussion habe ich schon mehrfach bemerkt, dass Ihnen der Hang zur Logik abgeht. Zu den
Beispielen von Frau Westrich haben Sie auch gesagt, dahinter stecke keine Logik. Alle Kolleginnen und Kollegen konnten sie verstehen, nur Sie merkwürdigerweise
nicht.
Aber lassen Sie mich ein ähnliches Beispiel anführen;
denn ich habe mich wirklich mit Ihrem Antrag auseinandergesetzt. Auch wenn er nur wenige Zeilen hat, hat er
ordentlich Zeit gekostet.
({3})
- Sie nicht. Das habe ich auch nicht vermutet.
Ich habe im Internet gestöbert und eine Plattform entdeckt, auf der sich Eltern austauschen können. Dort habe
ich Folgendes gefunden:
Ich habe heute Windeln gekauft, aber kann es wirklich sein, dass dieselben Windeln in unterschiedlichen Geschäften einen Preisunterschied von mehr
als 5 Euro haben? Zuerst war ich bei A:
Ich kann Ihnen zwar die Marke nennen, aber ich will
keine Reklame machen.
… eine Packung … mit 56 Windeln 13,99 Euro.
Das war mir viel zu teuer, also zu B …, da kostete
dieselbe Packung 10,99 Euro, gut, dachte ich, sind
ja 3 Euro! Zur Sicherheit bin ich dann noch mal
zu C … in der Hoffnung, vielleicht noch 50 Cent
oder so zu sparen, da kostete genau dieselbe Packung … auch mit 56 Stück nur 8,45 Euro.
Die Preisdifferenz beträgt 5,54 Euro bzw. 40 Prozent.
Die Nachbarländer erleben dasselbe. In Österreich hat
die Tiroler Arbeiterkammer festgestellt, dass Windelpreise um bis zu 50 Prozent variieren. Sind Sie wirklich
der Meinung, dass das am Steuersatz liegt?
({4})
Meinen Sie im Ernst, der Mutter wäre ihre Windelrallye
erspart geblieben, wenn der Steuersatz nur 7 Prozent betragen würde? Das wage ich zu bezweifeln.
({5})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dr. Gysi?
Ja.
Frau Kollegin, ich habe eine Frage, weil Sie wie Ihre
Vorredner behaupten, dass eine Mehrwertsteuersenkung nicht bei den Kundinnen und Kunden ankäme.
Erstens haben wir aber erlebt, dass eine Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozentpunkte bei allen Kundinnen und
Kunden ankommt.
({0})
Darf ich zweitens aus Ihrer Bemerkung schließen, dass
Sie sämtliche Unternehmer für Gauner dergestalt
halten, Gabriele Frechen ({1}):
Nicht durchgehend.
- dass sie bei einer Mehrwertsteuersenkung um
12 Prozentpunkte anschließend eine Preissteigerung um
12 Prozentpunkte durchführen? Ist das wirklich Ihre
Einstellung? Eine so negative Einstellung habe ich nicht
gegenüber den Unternehmerinnen und Unternehmern in
Deutschland.
({0})
Ich bin bestimmt kein misstrauischer Mensch, aber
ich glaube nicht, dass Steuersenkung gleichbedeutend
mit Preissenkung ist. Denn wie das Beispiel der Mutter,
die sich auf den Weg durch die Geschäfte machte, zeigt,
folgt die Preisfindung bei Babykleidung, Babyfläschchen, Babyschnullern und Babywindeln offensichtlich
ganz anderen Gesetzmäßigkeiten als dem Mehrwertsteuersatz. Sonst würden sich nicht solche Preisunterschiede
ergeben.
({0})
Deshalb bin ich sicher, dass es mit der in Ihrem Antrag vorgeschlagenen Lösung zwei Gewinner gäbe: zum
einen die Händler, die die Preise, wie gesagt, nach anderen Kriterien festlegen, und zum anderen die Hersteller
- die internationalen Konzerne -, die auch gerne ein
Stück von dem Kuchen abhaben wollen. Ich weiß nicht,
ob es die Intention Ihres Antrags war, Steuersenkungen
zugunsten der betroffenen Unternehmen durchzuführen.
Fakt ist, dass ihr Antrag diese Wirkung hätte. Die Familien hätten nichts davon. Das ist reine Augenwischerei.
({1})
Wenn Sie von Kindern sprechen, dann fallen immer
nur Begriffe wie Kostenfaktor, Armutsrisiko und
schlechte Lebensbedingungen für die Eltern. Dass Kinder einen Wert an sich darstellen, habe ich von Ihnen
noch kein einziges Mal gehört.
({2})
Das schmerzt mich; denn Kinder möchten genau das
sein, was sie sind: weder ein Armutsrisiko noch ein Kostenfaktor, sondern ganz einfach Kinder.
({3})
Ich bin, wie gesagt, kein misstrauischer Mensch. Deshalb gehe ich davon aus, dass sich hinter dem Antrag ansatzweise das Anliegen verbirgt, dass es Familien mit
Kindern bessergehen soll. Dieses Anliegen teilt sicherlich jeder hier und die SPD-Fraktion ganz besonders.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Bulling-Schröter?
Ja.
Danke schön, Frau Kollegin Frechen. - Ich möchte
auf den ermäßigten Mehrwertsteuersatz eingehen. Ich
habe Ihrer Rede entnommen, dass Sie alles, was wir
vorschlagen, für nicht sehr zielführend halten. Ich
komme aus Bayern. Der VdK Bayern sammelt zurzeit
Unterschriften für eine Halbierung des Mehrwertsteuersatzes für apothekenpflichtige Medikamente. Wenn ich
mich richtig erinnere, sind inzwischen 800 000 bis
1 000 000 Unterschriften zusammengekommen. Die
Vorsitzende des VdK Bayern ist Mitglied Ihrer Partei.
Ich möchte gerne wissen, ob Sie die hier geforderte Senkung des Mehrwertsteuersatzes ebenfalls für unsinnig
halten. In der Vergangenheit haben Sie unseren Antrag
abgelehnt, während Mitglieder Ihrer Partei nun in Bayern Unterschriften dafür sammeln.
Frau Kollegin, ich würde dem VdK Bayern eine ähnliche Antwort geben wie in der heutigen Diskussion.
Wenn Sie sich den Preisverfall bei Medikamenten nach
der Gesundheitsreform, wonach die preiswertesten unter
gleichwertigen Medikamenten genommen werden müssen, anschauen, dann müssen auch Sie sehen, dass der
Mehrwertsteuersatz ganz sicher nicht das entscheidende
Kriterium bei der Preisfindung bei Medikamenten ist.
({0})
- Das will ich gar nicht abstreiten.
Ich will nicht abstreiten, dass neben den Vorteilen für
Händler und Hersteller von Babyartikeln vielleicht ein
Erfolg für die Familien erzielt würde. Aber Copenhagen
Economics und das Bundesfinanzministerium sind übereinstimmend zu dem Ergebnis gekommen, dass es deutlich bessere Mittel gibt als einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz, um Familien zu entlasten. Ich habe mich
natürlich gefragt, welche Produkte und Dienstleistungen Sie in Ihrem Antrag meinen und wie das praktisch
aussehen könnte; denn ich nehme Sie ernst. Soll künftig
auf Bleistifte ein Mehrwertsteuersatz von 7 Prozentpunkten erhoben werden, wenn Kinder sie benutzen, und
ein Mehrwertsteuersatz von 19 Prozentpunkten, wenn
ich als Erwachsene sie benutze? Wie groß darf eine
Jeans sein, um eine Kindergröße zu haben? Die Turnschuhe meines 13-jährigen Neffen passen mir ebenfalls.
Das alles können also keine Kriterien sein. Nehmen wir
das Alter als Beispiel. Die Eltern müssten den Kinderausweis vorzeigen, um nachzuweisen, dass sie noch Kinder im Sinne des Umsatzsteuerrechtes haben. Das ist
doch ein Stück aus Absurdistan. Das kann doch nicht
ernst gemeint sein.
({1})
Frau Kollegin, der Kollege Pronold hat den Wunsch,
eine Zwischenfrage zu stellen. Gestatten Sie?
Ja.
Liebe Kollegin Frechen, es geht um die Frage, ob eine
Mehrwertsteuersenkung an die Verbraucher weitergegeben wird. Nehmen wir als Beispiel Fast-Food-Restaurants. Wenn man das Essen mitnimmt, wird ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz erhoben. Wenn man das
Essen im Lokal verzehrt, wird der volle Mehrwertsteuersatz erhoben. Ist Ihnen bekannt, ob die Preise unterschiedlich sind, ob der Hamburger billiger ist, wenn man
ihn mitnimmt?
Vielen Dank für Ihre Frage, Herr Kollege Pronold.
Das ist ein geeignetes Beispiel dafür, dass die unterschiedlichen Mehrwertsteuersätze bei der Preisfindung
keine Rolle spielen. Ich kaufe ab und zu einen Döner
„auf die Faust“ - ich weiß natürlich nicht, ob auch Sie
von der Linken das machen - oder bestelle mir eine
Pizza. Ob ich die Pizza in der Pizzeria esse oder ob ich
sie mitnehme, sie kostet immer gleich viel. Dabei wird
im ersten Fall ein Mehrwertsteuersatz von 19 Prozent
und im anderen Fall ein Mehrwertsteuersatz von
7 Prozent erhoben. Die Weitergabe einer Mehrwertsteuersenkung an den Kunden findet also nicht statt. So viel
dazu.
({0})
Die eben schon erwähnte Studie von Copenhagen
Economics oder auch der Bericht des Bundesfinanzministeriums besagen, dass es zielführendere Hilfen
gibt. Es gibt vieles, was deutlich besser ist, um Familien
zu helfen, und das sind direkte Hilfen. Wer wirklich
ernsthaft Familien entlasten will, der muss erst einmal
dafür sorgen, dass die Menschen von ihrer Arbeit auch
leben können. Deshalb stehen wir zu Mindestlöhnen.
({1})
Wenn das Familieneinkommen nicht ausreicht, gibt es
den Anspruch auf Kinderzuschläge, die weiter ausgebaut
werden. Damit Eltern in Ruhe arbeiten gehen können,
gibt der Bund viel Geld für die Tagesbetreuung von Kindern ab dem ersten Lebensjahr aus. Das ist für uns
direkte Hilfe für Familien. Was mir noch wichtig ist,
sind Einschulungspakete, kostenloses Mittagessen in der
offenen Ganztagsschule oder in den Kindertagesstätten.
({2})
Wer mir jetzt entgegenhält, das sei Ländersache und damit habe der Bund nichts zu tun, dem kann ich nur sagen, dass er den Gong noch nicht gehört hat. Wer heute
noch nicht kapiert hat, dass Familienpolitik, dass die
beste Politik für unsere Kinder eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe auf allen staatlichen Ebenen ist, der lernt
es nie mehr.
({3})
Ich glaube, Kompetenzgerangel oder Schmollecken
auf den verschiedenen Ebenen helfen da überhaupt
nicht. Was am allerwenigsten hilft, sind populistische
Einzelmaßnahmen, wie sie von Ihnen heute gefordert
wurden. Diese stärken vielleicht das Ego des einen oder
anderen Machos bei Ihnen, aber den Familien hilft das
ganz bestimmt nicht.
({4})
Nun darf ich Sie um Aufmerksamkeit für den letzten
Redner in dieser Debatte bitten. Es ist der Kollege Otto
Bernhardt für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Umsetzung der Forderung im Antrag der
Linken würde 1,5 Milliarden Euro kosten. Ich glaube,
Sie stimmen mir zu, dass man mit diesem Betrag Besseres für die Kinder in unserem Lande tun kann.
({0})
Natürlich ist es populär, so etwas zu fordern. Aber ich
finde, wenn man so etwas fordert, sollte man der Fairness halber auch sagen, was das kostet. Bei der gesamten
Debatte über den ermäßigten Mehrwertsteuersatz bzw.
den normalen Mehrwertsteuersatz dürfen wir eines nicht
aus dem Auge verlieren: Jede Maßnahme zur Ausdehnung des ermäßigten Steuersatzes auf weitere Produkte
führt zur Verringerung des Steueraufkommens. Dann
stehen wir vor der Frage, ob wir den generellen Steuersatz erhöhen.
Ich will das einmal an der Größenordnung der
Mehrwertsteuer klarmachen. Das Gesamtaufkommen
liegt bei etwa 175 Milliarden Euro, und damit ist die
Mehrwertsteuer für die öffentliche Hand eine der wichtigsten Einnahmen überhaupt. Ich will darauf verweisen,
dass 85 Prozent aller Güter und Dienstleistungen mit
dem normalen Steuersatz von 19 Prozent und 15 Prozent
mit dem ermäßigten Steuersatz besteuert werden.
({1})
75 Prozent der Produkte, die den ermäßigten Steuersatz
haben, entfallen auf Lebensmittel. Wenn wir keinen ermäßigten Steuersatz hätten, sondern alle Produkte mit
19 Prozent besteuern würden, dann hätten wir ein zusätzliches Aufkommen von 18 Milliarden Euro. Das
bedeutet, dass wir den Steuersatz generell um 2,5 Prozentpunkte reduzieren könnten, um zum gleichen Steueraufkommen zu kommen.
Nun wissen Sie, dass die Mehrwertsteuer in der heutigen Form ziemlich genau vor 40 Jahren eingeführt
wurde. Damals gab es den Übergang von der generellen
Umsatzsteuer zur Mehrwertsteuer. Damals gab es eine
sehr intensive Diskussion über die Frage, für welche
Produkte ein ermäßigter Steuersatz gelten soll und für
welche nicht. Das EU-Recht eröffnet den Ländern übrigens sogar die Möglichkeit, zwei ermäßigte Steuersätze
anzuwenden. Viele Länder machen davon Gebrauch wir nicht.
Natürlich sind die Maßstäbe, nach denen man heute
Grundlebensmittel von anderen Lebensmitteln abgrenzt, heute andere als noch vor 40 Jahren. Das zeigt
ein extremes Beispiel: Vor 40 Jahren - niemand von uns
war damals schon im Bundestag - hielt man zum Beispiel Wasser nicht für ein lebensnotwendiges Gut. Es
wurde mit 19 Prozent besteuert. Wir alle erhalten jedes
Jahr immer wieder Schreiben mit der Bitte, doch dieses
Produkt, das immer wichtiger wird, endlich nur noch mit
7 Prozent zu besteuern.
({2})
Ich will Ihnen einmal sagen, was das kosten würde:
Wir hätten Mindereinnahmen von 300 Millionen Euro,
wenn die Besteuerung von Wasser auf 7 Prozent gesenkt
würde. Dieses Beispiel - und auch andere Beispiele, die
meine Vorredner angeführt haben - zeigt, dass das System überprüfungsbedüftig ist.
({3})
Jeder, der das leugnet, kann sich mit dem Thema nicht
beschäftigt haben.
Sobald man eine Detaildiskussion führt, macht jeder
Vorschläge dazu, bei welchen Produkten der Steuersatz
dringend auf 7 Prozent gesenkt werden muss. Aber es
kommen keine Anträge und Vorschläge, welche Produkte höher besteuert werden sollen - außer vielleicht
Katzenfutter. Aber mit den 10 Millionen Euro, die sich
daraus ergeben würden, kann das System nicht verändert
werden.
Deshalb glaube ich, es ist richtig, dass wir uns diesem
Thema ausführlich widmen - das wird ja auch im
Grundsatz von allen Fraktionen gefordert - und nicht mit
Rosinenpickerei beginnen. Ich sage an dieser Stelle
auch, vor welcher Problematik wir stehen: Es gibt zwei
Bereiche, die heute schon angesprochen worden sind,
bei denen vieles dafür spricht - auch mit Blick auf den
internationalen Vergleich -, einen ermäßigten Steuersatz
anzuwenden. Der eine Bereich ist die Gastronomie, der
andere die Medizin. Ich nenne die Größenordnungen,
um die es dabei geht: Wenn wir die Produkte bzw.
Dienstleistungen in diesen beiden Bereichen - und viele
fordern das ja von uns - in Zukunft mit 7 Prozent besteuern, dann ergibt sich ein Steuerausfall von rund
8 Milliarden Euro. Im Gegenzug müssten wir den generellen Mehrwertsteuersatz von 19 Prozent auf 20 Prozent
erhöhen. Ich finde es fair, wenn wir in unseren Diskussionen vor Ort darauf hinweisen.
Ich sage mit allem Nachdruck: Ich finde den Antrag
der Linken - mein Kollege Kolbe hat es bereits gesagt -,
für einen Bereich 1,5 Milliarden Euro einzusetzen, wenn
man nicht einmal weiß, wie viel davon wirklich bei den
Kindern ankommt, im Grunde erbärmlich. Jeder, der
sich intensiv mit diesem Thema beschäftigt - einige Vorredner haben das gemacht -, wird schnell zu dem Ergebnis kommen, dass das vor dem Hintergrund der EU-Regelungen schwierig umzusetzen ist. Sicherlich können
wir auf EU-Ebene etwas verändern, aber das geht nur in
Jahren und nicht in Monaten, um das klar zu sagen. Vor
diesem Hintergrund möchte ich auch noch das Stichwort
der gesamten Abgrenzungsproblematik nennen.
Wir von der Koalition werden Ihren Antrag aus diesen Gründen ablehnen und dem Beschluss des Finanzausschusses zustimmen. Wir werden unsere Politik insbesondere der Stärkung der Situation der jungen
Generation und der Kinder fortsetzen. Ein wichtiger Beitrag, vielleicht der wichtigste, ist es, an dem Ziel der Stabilisierung und Sanierung der öffentlichen Finanzen
konsequent weiterzuarbeiten. Denn alle Schulden, die
wir heute machen, müssen unsere Kinder und Enkelkinder nicht nur verzinsen, sondern auch zurückzahlen. Wir
bleiben bei unserer soliden Finanzpolitik
({4})
und lassen uns bei einer Politik für die Kinder durch niemanden überbieten, insbesondere nicht durch die EinOtto Bernhardt
malhascher von der linken Seite. Wir bleiben bei unserer
soliden Politik für die Kinder in Deutschland.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem An-
trag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Ermäßigung
des Mehrwertsteuersatzes für Produkte und Dienstleistun-
gen für Kinder auf 7 Prozent“. Der Ausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/6732,
den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/4485
abzulehnen. Die Fraktion Die Linke verlangt namentli-
che Abstimmung. Ich bitte nun die Schriftführerinnen
und Schriftführer, ihre Plätze einzunehmen. - Sind alle
Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich er-
öffne die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall.
Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen
später bekannt gegeben.1)
Ich würde gern die Beratungen fortsetzen. Wir haben
noch eine ganze Reihe von Abstimmungen zu bewälti-
gen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Ihre
Gespräche vor dem Saal zu führen. Diejenigen, die an
den weiteren Beratungen und Abstimmungen teilneh-
men wollen, bitte ich, die Plätze einzunehmen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 c
sowie die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf:
29 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung wehrrechtlicher und anderer Vorschriften ({0})
- Drucksache 16/7955 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Wissenschaftsjahr der Mathematik 2008 als
Chance begreifen
- Drucksache 16/7535 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
1) Ergebnis Seite 14939 D
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick
Döring, Horst Friedrich ({3}), Ernst
Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Wiedereinführung der Zwölf-Tage-Regelung
in Europa unterstützen
- Drucksache 16/7861 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Tourismus
ZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Winfried Nachtwei, Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Wehrpflichtige in Studium und Ausbildung
vollständig vor Einberufung schützen
- Drucksache 16/8044 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({5})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Fritz Kuhn, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine Bahnprivatisierung am Parlament vorbei
- Drucksache 16/8046 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({6})
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Es handelt sich dabei um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 m auf.
Dabei geht es um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 30 a:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Ausnahme von dem Verbot der Zugehörigkeit
zu einem Aufsichtsrat für Mitglieder der Bundesregierung
- Drucksache 16/7975 Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer ist dagegen? Enthaltungen? - Dann ist der Antrag mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Bereinigung von Bundesrecht im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums der
Finanzen und zur Änderung des Münzgesetzes
- Drucksache 16/7616 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksache 16/8082 Berichterstattung:
Abgeordnete Leo Dautzenberg
Martin Gerster
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8082, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/7616 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in der zweiten Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Monika Knoche, Dr. Norman
Paech, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
70. Jahrestag der Gründung der Internationalen Brigaden in Spanien - Würdigung des
Kampfes deutscher Freiwilliger an der Seite
der Spanischen Republik für ein antifaschistisches und demokratisches Europa
- Drucksachen 16/2679, 16/3828 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Grund
Niels Annen
Harald Leibrecht
Jürgen Trittin
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3828, den Antrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/2679 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Wie ist das bei den Grünen?
({2})
Enthaltung der ganzen Fraktion?
({3})
Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Dr. Norman Paech, Monika
Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Den Friedensprozess im Nahen Osten wieder
aufnehmen
- Drucksachen 16/3802, 16/4588 Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Hörster
Gert Weisskirchen ({5})
Dr. Norman Paech
Kerstin Müller ({6})
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4588, den Antrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/3802 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDPFraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei
Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({7}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Patrick Döring, Horst
Friedrich ({8}), Joachim Günther ({9}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Rollende Supermärkte von fahrpersonalrechtlichen Vorschriften ausnehmen
- Drucksachen 16/6639, 16/7844 Berichterstattung:
Abgeordneter Wilhelm Josef Sebastian
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7844, den Antrag der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/6639 für erledigt zu erklären. Gleichwohl müssen wir über die Beschlussempfehlung abstimmen. Wer stimmt also für die Beschlussempfehlung? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Dann
ist die Beschlussempfehlung einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 f:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
und Reaktorsicherheit ({10}) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Verordnung zum Schutz des Klimas vor Veränderungen durch den Eintrag bestimmter
fluorierter Treibhausgase ({11})
- Drucksachen 16/7604, 16/7793 Nr. 2.1, 16/7941 Berichterstattung:
Abgeordnete Ingbert Liebing
Frank Schwabe
Michael Kauch
Sylvia Kotting-Uhl
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7941, der Verordnung auf
Drucksache 16/7604 zuzustimmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei
Enthaltung der Fraktionen des Bündnisses 90/Die Grünen und der Linken angenommen.
Nun kommen wir zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 30 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 345 zu Petitionen
- Drucksache 16/7847 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 345 ist damit mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 346 zu Petitionen
- Drucksache 16/7848 Wer stimmt dafür? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist auch die Sammelübersicht 346 mit
den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 347 zu Petitionen
- Drucksache 16/7849 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 347 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 348 zu Petitionen
- Drucksache 16/7850 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 348 ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 349 zu Petitionen
- Drucksache 16/7851 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? - Die
Sammelübersicht 349 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Die Linke und der Fraktion
der FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 350 zu Petitionen
- Drucksache 16/7852 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 350 ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion der FDP und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen
der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 351 zu Petitionen
- Drucksache 16/7853 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 351 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Bevor ich die Aktuelle Stunde aufrufe, darf ich Ihnen
das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die
Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zum Antrag der Fraktion Die Linke „Ermäßigung des Mehrwertsteuersatzes für Produkte und Dienstleistungen für
Kinder auf 7 Prozent“ bekannt geben: Abgegebene Stimmen 566. Mit Ja haben gestimmt 514, mit Nein haben
gestimmt 50, Enthaltungen 2. Die Beschlussempfehlung
ist damit angenommen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 566;
davon
ja: 514
nein: 50
enthalten: 2
Ja
CDU/CSU
Peter Albach
Peter Altmaier
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({19})
Veronika Bellmann
Otto Bernhardt
Clemens Binninger
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({20})
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Stephan Eisel
Anke Eymer ({21})
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({22})
Dirk Fischer ({23})
Axel E. Fischer ({24})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
({25})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Jürgen Gehb
Eberhard Gienger
Ralf Göbel
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Markus Grübel
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Olav Gutting
Gerda Hasselfeldt
Ursula Heinen
Michael Hennrich
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Robert Hochbaum
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Susanne Jaffke-Witt
Dr. Peter Jahr
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({26})
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({27})
Eckart von Klaeden
Jürgen Klimke
Jens Koeppen
Kristina Köhler ({28})
Norbert Königshofen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Gunther Krichbaum
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers
({29})
Andreas G. Lämmel
Helmut Lamp
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Stephan Mayer ({30})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Friedrich Merz
Laurenz Meyer ({31})
Maria Michalk
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Hildegard Müller
Carsten Müller
({32})
Stefan Müller ({33})
Bernward Müller ({34})
Bernd Neumann ({35})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Beatrix Philipp
Daniela Raab
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({36})
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Johannes Röring
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht ({37})
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({38})
Hermann-Josef Scharf
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({39})
Andreas Schmidt ({40})
Ingo Schmitt ({41})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Kurt Segner
Marion Seib
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Thomas Strobl ({42})
Michael Stübgen
Hans Peter Thul
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß ({43})
Gerald Weiß ({44})
Ingo Wellenreuther
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer ({45})
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Dr. Lale Akgün
Gregor Amann
Gerd Andres
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Ernst Bahr ({46})
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Petra Bierwirth
Lothar Binding ({47})
Volker Blumentritt
Clemens Bollen
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Klaus Brandner
Bernhard Brinkmann
({48})
Marco Bülow
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Karl Diller
Martin Dörmann
Dr. Carl-Christian Dressel
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Peter Friedrich
Sigmar Gabriel
Martin Gerster
Iris Gleicke
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({49})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Gabriele Groneberg
Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
({50})
Nina Hauer
Hubertus Heil
Dr. Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Petra Hinz ({51})
Gerd Höfer
Iris Hoffmann ({52})
Frank Hofmann ({53})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Johannes Jung ({54})
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Christian Kleiminger
Dr. Bärbel Kofler
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Angelika Krüger-Leißner
Jürgen Kucharczyk
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange ({55})
Dr. Karl Lauterbach
Waltraud Lehn
Helga Lopez
Gabriele Lösekrug-Möller
Lothar Mark
Caren Marks
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({56})
Ulrike Merten
Dr. Matthias Miersch
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller ({57})
Michael Müller ({58})
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Holger Ortel
Johannes Pflug
Christoph Pries
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Steffen Reiche ({59})
Gerold Reichenbach
Walter Riester
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({60})
Michael Roth ({61})
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
({62})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({63})
Dr. Hermann Scheer
Marianne Schieder
Otto Schily
Dr. Frank Schmidt
Ulla Schmidt ({64})
Silvia Schmidt ({65})
Renate Schmidt ({66})
Heinz Schmitt ({67})
Carsten Schneider ({68})
Olaf Scholz
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({69})
Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Dieter Steinecke
Andreas Steppuhn
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Dr. Rainer Tabillion
Jella Teuchner
Jörn Thießen
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Gunter Weißgerber
({70})
Dr. Rainer Wend
Dr. Margrit Wetzel
Dr. Dieter Wiefelspütz
Engelbert Wistuba
Waltraud Wolff
({71})
Heidi Wright
Manfred Zöllmer
FDP
Jens Ackermann
Dr. Karl Addicks
Daniel Bahr ({72})
Uwe Barth
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({73})
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Miriam Gruß
Joachim Günther ({74})
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Dr. Werner Hoyer
Michael Kauch
Dr. Heinrich L. Kolb
Hellmut Königshaus
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Horst Meierhofer
Jan Mücke
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({75})
Detlef Parr
Gisela Piltz
Jörg Rohde
Frank Schäffler
Marina Schuster
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Florian Toncar
Christoph Waitz
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({76})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({77})
Volker Beck ({78})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Grietje Bettin
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Priska Hinz ({79})
Ulrike Höfken
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({80})
Monika Lazar
Anna Lührmann
Nicole Maisch
Winfried Nachtwei
Omid Nouripour
Claudia Roth ({81})
Krista Sager
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Nein
DIE LINKE
Hüseyin-Kenan Aydin
Karin Binder
Dr. Lothar Bisky
Heidrun Bluhm
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Diana Golze
Heike Hänsel
Lutz Heilmann
Hans-Kurt Hill
Cornelia Hirsch
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Dr. Lukrezia Jochimsen
Dr. Hakki Keskin
Monika Knoche
Jan Korte
Oskar Lafontaine
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Kersten Naumann
Dr. Norman Paech
Bodo Ramelow
Elke Reinke
Paul Schäfer ({82})
Volker Schneider
({83})
Dr. Ilja Seifert
Frank Spieth
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann
fraktionslos
Enthaltung
CDU/CSU
Uda Carmen Freia Heller
Volkmar Uwe Vogel
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Haltung der Bundesregierung zu einer räumlichen und personellen Ausweitung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Paul Schäfer für die Fraktion
Die Linke.
({84})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit vergangenem Wochenende wissen wir zumindest eines: Die
Schlagzahl, mit der über eine Verstärkung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan geredet wird, erhöht sich
beträchtlich. Kaum hatte man die Stellung der schnellen
Eingreiftruppe im Norden zugesagt, wurde darüber diskutiert, dass das Kontingent aufgestockt und eventuell
das Einsatzgebiet erweitert werden müsse. Die Bundesregierung hat zwar schnell dementiert, aber sofort auch
gesagt, spätestens im Herbst würden die Karten neu gemischt. Das heißt, es wird neu über das Mandat geredet.
Heute lesen wir in den Agenturmeldungen, dass es einen Koalitionsgipfel geben solle, wo man vielleicht
schon vorher über eine Aufstockung des Bundeswehrkontingents reden wolle. Das liegt in Ihrer Logik. Sie
wollen die schnelle Eingreiftruppe stellen, Sie wollen
mehr Militärausbilder, Sie wollen mehr Personal für den
Schutz der Bundeswehreinrichtungen, Sie wollen mehr
Aufbauteams. Das alles ist mit dem bisherigen Aufwand
nicht zu machen. Vergessen wir eines nicht: Der Druck
- auch das ist am vergangenen Wochenende deutlich geworden - der NATO, dass die Bundeswehr sich stärker
engagieren und mit mehr Truppen und mehr Kampfverbänden vertreten sein soll, hält an. Die US-Botschafterin
hat es deutlich gesagt: Wir werden alle unsere Verbündeten, darunter auch Deutschland, auf dem NATO-Gipfel
in Bukarest im April dringend bitten, mit uns Soldat für
Soldat, Euro für Dollar gleichzuziehen. Das ist die eindeutige Ansage. Für uns steht fest: Die deutsche Beteiligung an den Kriegshandlungen in Afghanistan wird umfangreicher und intensiver. Genau das lehnen wir als
Linke entschieden ab.
({0})
Die Intensivierung ergibt sich allein schon durch die
Stellung der schnellen Eingreiftruppe. Das ist eine neue
Qualität des deutschen Militäreinsatzes. Da geht es nicht
vorrangig um Routinepatrouillen, sondern es geht um
die militärische Bekämpfung des Gegners, um Einsätze
mit militärischer Gewalt, um offensive Militäroperationen. Die Erfahrungen der Norweger, die bisher diese
Quick Reaction Force gestellt haben, belegen: Dabei
geht es um Einsätze, bei denen man nicht zimperlich zu
Werke geht. Ich füge hinzu: Das, was dort im Rahmen
der Operation Harekate Yolo gemacht worden ist, ist mit
den bisherigen deutschen Einsatzregeln nicht in Übereinstimmung zu bringen. Deshalb werden wir nächste
Woche darüber hier im Bundestag abstimmen lassen.
({1})
Zumindest hören wir jetzt von Ihnen, die Debatte
müsse ehrlicher geführt werden. Ja, es gehe um Kampfeinsätze, und man müsse auch mit Toten rechnen. - Man
könnte es martialisch ausdrücken: Der Kampf an der
Heimatfront ist eröffnet.
({2})
Ich wage allerdings zu bezweifeln, ob es gelingen
wird, mittels verschärfter PR-Arbeit die Deutschen von
der Afghanistan-Mission zu überzeugen. 84 Prozent der
Bundesbürger sind gegen eine Beteiligung der Bundeswehr an Kampfeinsätzen im Süden. Weit über die Hälfte
der Befragten wollen das Bundeswehrengagement grundPaul Schäfer ({3})
sätzlich beendet sehen. Das bekommen Sie nicht weg,
und das ist auch gut so.
({4})
Sie haben ja selber Zweifel am Erfolg Ihrer Öffentlichkeitskampagne. Warum sonst die Überlegungen, die
Mandatsverlängerungen nicht im Herbst 2009, sondern
Monate später zu vollziehen?
Wir, die Linke, werden uns dieser Manipulation entschieden widersetzen. Die Bevölkerung muss die Möglichkeit haben, bei der Bundestagswahl im nächsten Jahr
auch darüber zu entscheiden, ob die Bundeswehr in Afghanistan bleiben soll oder nicht.
({5})
Es gibt zwei Gründe, warum es eine so große Mehrheit der Deutschen gegen diesen Einsatz gibt:
({6})
Erstens, lieber Kollege Nachtwei, fürchten die Menschen, dass wir uns in Dinge verstricken, in die wir uns
vor dem Hintergrund unserer Geschichte im letzten Jahrhundert nicht verstricken sollten. Sie sehen die Bilder
von Abu Ghureib, sie hören, dass in afghanischen Gefängnissen auch misshandelt und gefoltert wird, und keiner hier kann definitiv ausschließen, dass gezielt getötet
wird, was völkerrechtswidrig ist. Deshalb ist es, glaube
ich, richtig, dass die Leute nicht wollen, dass wir uns an
so etwas beteiligen, auch nicht mittelbar.
({7})
Der zweite Punkt. Man merkt: Auf diesem Kriegsschauplatz läuft so viel schief, dass dieser Einsatz nicht
zu einem guten Ende gebracht werden kann. Die britische Außenministerin hat jetzt gesagt, Afghanistan
drohe ein „failed state“ zu werden. Bisher waren diese
gescheiterten Staaten eher ein Anlass, um zu intervenieren, um die Dinge in Ordnung zu bringen. Jetzt sind sieben Jahre Militärintervention offensichtlich der Grund
für einen „failed state“. Man muss darüber nachdenken,
was dieser Auflösungsprozess mit der US- und NATOgeführten Militärmission zu tun hat.
Das sind die Gründe, warum auch wir meinen, dass
der Militäreinsatz so schnell als möglich beendet und die
Truppen zurückgezogen werden sollten. Sie gehen stattdessen in die entgegengesetzte Richtung und weiter in
die Sackgasse hinein. Andersherum wird es richtig:
Truppenabzug, Vervielfachung der zivilen Aufbauhilfe
und Verstärkung des diplomatischen Prozesses, um zu
einem stabilen Waffenstillstand im Land zu kommen.
Das ist der Weg, um die Taliban wirkungsvoll zu bekämpfen und um dem Land zu einer eigenständigen, demokratischen Entwicklung zu verhelfen. In diese Richtung und nicht in die andere müssen wir gehen. Dieser
Irrweg muss unverzüglich beendet werden.
Danke.
({8})
Nächster Redner ist nun der Kollege Eckart von
Klaeden für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Was unterscheidet die Linkspartei von einem
Huhn? Das Huhn begackert das Ei erst, wenn es gelegt
ist. Die Linkspartei nutzt eine Pressemeldung vom Wochenende, die schon längst dementiert wurde, um für den
Donnerstag eine Aktuelle Stunde zu beantragen.
({0})
Das zeigt: Es geht hier nicht um Afghanistan, sondern
um Innenpolitik, nämlich um die Bürgerschaftswahlen
in Hamburg.
({1})
Man versucht, die Sorgen unserer Bevölkerung zu instrumentalisieren. Dieses Spiel kennen wir von der
Linkspartei schon seit einiger Zeit.
Ganz besonders deutlich wurde das im vergangenen
Sommer, als ein deutscher Ingenieur in Afghanistan entführt wurde. Das Auswärtige Amt wies danach darauf
hin, dass die Entführung einen rein kriminellen Hintergrund hatte und den Zweck verfolgte, Lösegeld zu erpressen. Gleichzeitig haben aber zwei versucht, dieses
Verbrechen für politische Zwecke zu missbrauchen. Der
eine war der Sprecher der Taliban in Afghanistan, und
der andere war der Sprecher der Linkspartei, Gregor
Gysi, in Deutschland.
({2})
Beide haben dieselbe Forderung aufgestellt, nämlich
nach einem sofortigen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan.
Dabei wissen wir alle, dass die Tragödie in Afghanistan mit dem Einmarsch der Roten Armee begonnen hat.
Wir wissen auch, dass die einzige Partei, die diesen Einmarsch frenetisch begrüßt hat, die umbenannte Linkspartei gewesen ist.
({3})
Furchtbare Juristen wie Professor Paech, der heute für
die Linkspartei im Auswärtigen Ausschuss sitzt, haben
damals diesen Einmarsch gerechtfertigt. Heute wollen
sie nichts mehr davon wissen.
Aber nicht die Geisteshaltung der Linkspartei, sondern die Verhältnisse haben sich - übrigens gegen ihren
Willen - durch die demokratische Revolution von 1989
geändert. Vor dem Fall der Mauer hat die umbenannte
Linkspartei mit arabischen Terrorgruppen und Terrorstaaten sowie der RAF kooperiert. Man hat den Genossen von der RAF in der DDR Unterschlupf gewährt.
({4})
- Ich komme jetzt dazu.
({5})
Heute wirbt Herr Professor Paech mit weicher Stimme
im Auswärtigen Ausschuss für Verständnis für Terrorgruppen und Mörderbanden wie die Hamas oder die
FARC.
({6})
Die Verhältnisse haben sich geändert, aber „der Schoß
ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“.
({7})
Auch wenn ein Misserfolg der Bundeswehr und der
NATO im Rahmen des ISAF-Mandats in Ihr politisches
Kalkül passen würde: Die Fakten in Afghanistan sprechen eine andere Sprache. Ich möchte in diesem Zusammenhang aus einer Studie der FU Berlin zitieren,
({8})
über die die FAZ am 6. Februar berichtet hat.
({9})
- Die FU Berlin ist ein dubioser Verein? Ich möchte,
dass dieser Zwischenruf von Herrn Gehrcke in das Protokoll aufgenommen wird.
({10})
Die FAZ schreibt, dass 2 034 Haushalte in Nordafghanistan von der FU Berlin befragt worden sind. Weiter
heißt es:
76 Prozent der Befragten gaben an, dass sich die Sicherheitslage in den vergangenen zwei Jahren stark
verbessert habe, 23 Prozent sagten, sie habe sich
etwas verbessert. Nur 0,6 Prozent äußerten, die
Sicherheitslage habe sich in dieser Zeit verschlechtert.
Zur Verbesserung haben in der Wahrnehmung der
Afghanen im Norden des Landes
- also dort, wo wir die Verantwortung im Rahmen eines
Mandats tragen, von dem Sie meinen, dass wir es unmittelbar beenden sollten vor allem die Soldaten aus dem Westen beigetragen. 80 Prozent der Befragten glauben demnach,
ihre Präsenz habe positive Effekte auf die Sicherheitslage.
Die FAZ führt weiter zutreffend aus, dass Sicherheit
als Voraussetzung für den Erfolg der Friedensmission
beim zivilen Aufbau nicht wegzudenken sei. Deswegen
stehen wir zu unserem Einsatz in Afghanistan und zu unserem dortigen Engagement. Wir stehen für das Konzept
der vernetzten Sicherheit, weil es keine Entwicklung
ohne Sicherheit, aber auch keine Sicherheit ohne Entwicklung geben kann. Wir stehen zu der regionalen Aufteilung der Verantwortung in Afghanistan und für unsere
Verantwortung im Norden. Und: Wir stehen zu der Solidaritätsklausel im Mandat des Bundestages. Wir lassen
unsere Verbündeten in ganz Afghanistan nicht im Stich.
({11})
Vieles liegt noch vor uns, und vieles muss besser gemacht werden. Aber wir alle wissen doch, dass die bisher glücklicherweise vereitelten Anschläge in Deutschland alle im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet
vorbereitet worden sind und dass bis heute mehr deutsche Staatsbürger durch den islamistischen Terror gestorben sind als durch die Anschläge der RAF. Deswegen dient unser Einsatz in Afghanistan nicht nur dem
afghanischen Volk, sondern vor allem unserer eigenen
Sicherheit.
({12})
Nun hat das Wort die Kollegin Birgit Homburger für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der öffentlichen Debatte, die derzeit über den Afghanistan-Einsatz geführt wird, geht es wieder überwiegend
um militärische Fragen. Ich finde, dies greift zu kurz.
Dies reicht nicht; wir brauchen einen Gesamtansatz. Wir
müssen vor allen Dingen versuchen, den Menschen in
Deutschland zu vermitteln, warum die Bundeswehr in
Afghanistan eingesetzt ist.
Ich sage hier in aller Deutlichkeit - darauf hat mein
Vorredner schon hingewiesen -: Wir sind dort, um die
afghanische Regierung und das afghanische Volk beim
Aufbau zu unterstützen, um eine selbsttragende Sicherheit in Afghanistan zu erreichen. Aber wir sind auch
dort, weil wir wissen: Wenn wir Afghanistan jetzt alleine
lassen würden, dann würde von dort aus wieder eine terroristische Bedrohung ausgehen, ganz abgesehen von
der destabilisierenden Wirkung, die dies auf Pakistan
hätte, mit unabsehbaren Folgen auch für uns hier. Deshalb stehen wir zu diesem Einsatz.
({0})
Ich möchte einige Bemerkungen an die Bundesregierung richten: Herr Bundesverteidigungsminister, Sie
bzw. die Bundesregierung haben gerade erst eine Ausweitung des Einsatzes im Rahmen des bestehenden
Mandats beschlossen. Die Bundeswehr wird ab Sommer
dieses Jahres die schnelle Eingreiftruppe im Norden Afghanistans stellen. Ich sage deutlich, dass diese Diskussion für die FDP-Fraktion noch nicht abgeschlossen ist.
Wir möchten von Ihnen wissen, ob die Ausstattung und
Ausrüstung, die der Truppe zur Verfügung gestellt werden, tatsächlich ausreichend sind. Wir haben hier Zweifel. Dies bezieht sich auf die gepanzerten Fahrzeuge, die
Fernmeldeausrüstung, den Lufttransport, die Mörsertrupps und die Fliegerleittrupps. Darauf sind Sie, Herr
Minister, bisher eine Antwort schuldig geblieben. Die
Bundesregierung kann zwar im Rahmen des bestehenden Mandats über diesen Einsatz entscheiden. Auch wir
sagen ganz eindeutig: Die schnelle Eingreiftruppe im
Norden des Landes ist absolut notwendig. Aber sie ist
nur verantwortbar, wenn die Bundeswehr die nötige
Ausrüstung und Ausstattung erhält. Da erwarten wir von
Ihnen, Herr Minister, klare Antworten; wir erwarten,
dass Sie dafür sorgen, dass das passiert.
({1})
Die Ausweitung ist noch nicht einmal umgesetzt,
schon folgt die nächste Diskussion über noch mehr Militär. Deswegen möchte ich an dieser Stelle für meine
Fraktion sehr deutlich festhalten: Mit immer mehr Soldaten allein wird der Erfolg in Afghanistan nicht zu erreichen sein.
({2})
Ich möchte Auskunft über die fragliche Ausweitung der
Mandatsobergrenze, über die seit dem Wochenende diskutiert wird, haben, wozu Ihr Generalinspekteur, Herr
Minister, öffentlich mitteilt, er werde Ihnen eine Ausweitung der Obergrenze vorschlagen. Wir möchten wissen, was es mit der Erweiterung des Einsatzes von der
Nordregion gen Westen zu tun hat. Hören Sie endlich
mit der Geheimniskrämerei auf und sagen Sie dem Deutschen Bundestag, was Sie planen!
Herr Jung, es ist eben nicht so, wie Sie sagen. Dass es
ein Mandat gibt, an das Sie sich halten müssen, das ist
insoweit richtig. Dass dann der Deutsche Bundestag entscheidet, auch das ist richtig. Aber Sie, Herr Minister,
müssen vorlegen. Sie wissen genau, dass wir im Deutschen Bundestag nur Ja oder Nein zu einem Mandat sagen können. Das heißt, Sie sind auskunftspflichtig. Was
wir von Ihnen hierzu hören, ist schlicht und ergreifend
ausweichend. Es sind Ausreden, und es ist Verschleierung. Hören Sie endlich auf damit und spielen Sie mit
offenen Karten! Denn Sie werden den Deutschen Bundestag am Ende brauchen.
Ich sage Ihnen: Gerüchte schaden. Sie heizen die Diskussion an,
({3})
verunsichern die Truppe und befördern die Skepsis in
der Bevölkerung. Wir erwarten von Ihnen, dass Sie uns
endlich klar und deutlich sagen, was die Bundesregierung plant.
({4})
Ich möchte hier noch einmal ansprechen, dass wir für
Afghanistan ein Gesamtkonzept brauchen. Der Wiederaufbau und der Aufbau staatlicher Strukturen bei Militär
und Polizei müssen im Zentrum dieses Konzeptes stehen. Als Bundesregierung haben Sie Verantwortung
übernommen und klare Zusagen gemacht. Wir erwarten,
dass diese klaren Zusagen jetzt auch eingehalten werden.
Wir erwarten, dass beim Wiederaufbau mehr passiert.
Wir erwarten, dass bei der Militärausbildung mehr passiert. Und wir erwarten vor allen Dingen, dass Sie bei
der Polizeiausbildung, bei der es immer noch furchtbar
und erbärmlich läuft, bei der nichts vorwärtsgeht, mehr
tun.
({5})
Eine bessere Koordinierung aller Maßnahmen ist notwendig, und zwar NATO-weit. Das klappt aber noch
nicht einmal bei den Ressorts der Bundesregierung. Sie
sprechen von vernetzter Sicherheit. Ja, das ist das, was
wir brauchen. Wir brauchen vernetzte Sicherheit. Sorgen
Sie aber bitte dafür, dass das keine Leerformel bleibt,
sondern mit Leben erfüllt wird! Das erwarten wir von Ihnen, bevor Sie schon wieder über mehr Soldaten reden.
({6})
Zum Schluss sage ich: Wir sehen die öffentliche Diskussion in der NATO mit Sorge. Ich denke, dass auf dem
Gipfel in Bukarest ein Gesamtkonzept beschlossen werden muss, das von allen getragen wird. Es muss in politischer, ökonomischer und militärischer Hinsicht ein Gesamtkonzept geben. Das ist absolut zwingend. Die
öffentliche Diskussion innerhalb der NATO muss aufhören; das schadet uns. Wenn diese Diskussion weiterhin
geführt wird, wird das in Afghanistan negative Effekte
hervorrufen. Dieses Gesamtkonzept muss die NATO auf
dem Gipfel in Bukarest Anfang April leisten, damit sie
in den nächsten, wie ich finde, ziemlich entscheidenden
Monaten in Afghanistan geschlossen auftreten kann.
Vielen Dank.
({7})
Nächster Redner ist nun der Kollege Walter Kolbow
für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich denke, es ist richtig, auch in dieser Aktuellen Stunde
darauf hinzuweisen, dass Soldatinnen und Soldaten unserer Bundeswehr, aber auch zivile Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter den Menschen in Afghanistan in einem überaus harten Winter helfen, den Familien Unterstützung
zuteilwerden lassen und Menschenleben retten, womit
sie sich auch in einem humanen Einsatz befinden.
({0})
Genauso richtig ist es, darauf hinzuweisen, dass das
afghanische Parlament nach der Pause, die es im Winter
zwangsläufig eingelegt hat, wieder mit den Tagungen
begonnen hat und Präsident Karzai, aber auch der Unterhaussprecher Qanuni, den wir hier bald erwarten dürfen
und mit dem wir hier sprechen werden, im afghanischen
Parlament die Erfolge, aber auch die Defizite der ISAFMission und der zivilen Anstrengungen angesprochen
haben.
Ich denke, es ist wichtig, dass wir nicht vergessen, unsere Leistungen darzustellen. Die Bundesregierung tut
das Gott sei Dank nicht. Lassen Sie mich an dieser Stelle
die Bemerkung einschieben, dass das auch auf der Münchener Sicherheitskonferenz geschehen ist. Die Berichterstattung, die für Aufregung gesorgt hat, muss zurechtgerückt werden. Das geschieht auch dadurch, dass im
afghanischen Parlament die verbesserte Selbstversorgung mit Lebensmitteln, die Förderung der Zivilgesellschaft und der Medien, der Ausbau des Bildungs- und
Gesundheitsbereichs sowie die Gewährleistung der
Frauenrechte als Erfolg bezeichnet werden. Unsere afghanischen parlamentarischen Kollegen sagen aber
auch, dass es Rückschläge gegeben hat, vor allem im Sicherheitsbereich. Sie sprechen auch die weiteren terroristischen Gefahren, die Drogensituation und die Korruption an.
Ich denke, es ist richtig, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass wir im Afghanistan Compact die Gesamtstrategie der internationalen Gemeinschaft für Afghanistan festgelegt haben und die Bundesregierung die
deutschen Ziele für Afghanistan im Rahmen dieser Gesamtstrategie im Einvernehmen mit dem Parlament festgelegt hat. In der Verlautbarung unserer Regierung, die
wir alle kennen, heißt es: Beibehaltung der Bundeswehrpräsenz im internationalen Rahmen so lange, bis die afghanischen Kräfte selbst für die Sicherheit sorgen können; Werben im Kreise der Bündnispartner um noch
konsequentere Vermeidung ziviler Opfer.
Wir sind nicht nur im Norden Anhänger der Strategie
„Frei verhandeln, statt freikämpfen“, sondern auch draußen im Lande. Denn die zivile Strategie, die des Sicherheitskonzepts nicht entbehren darf, ist die Voraussetzung
dafür, dass die Gesamtstrategie des Afghanistan Compact und unsere nationale Zielrichtung in der internationalen Gemeinschaft gelingen. Das bedeutet eben auch
eine aktive Vermittlung der Notwendigkeit des Einsatzes
in der deutschen Öffentlichkeit. Ich würde mich sehr
freuen, wenn die deutschen Medien mehr darauf abstellen würden, was geleistet wird, und nicht nur darauf, was
noch fehlt.
({1})
Natürlich fehlt etwas.
Ich denke, dass die Ausfächerung der Präsenz im
Norden durch Bildung von mehreren zivil-militärischen
regionalen Beraterteams eine Ergänzung der aktuellen
Strategie, die mehr als sinnvoll ist, darstellt. Die Verdreifachung der Bemühungen für die Ausbildung der afghanischen Armee ist ein wesentlicher Bestandteil der Weiterentwicklung; Weiterentwicklung muss in einem
dynamischen Mandatsprozess enthalten sein. Wir haben
klare Festlegungen getroffen. Diese Festlegungen gelten.
Nun ist es an der Bundesregierung, mit den nationalen
und internationalen Partnern abzustimmen, wie ein Mandat weiterentwickelt werden muss oder kann.
({2})
- Das heißt konkret, dass wir auf den NATO-Gipfel gehen und mit unseren internationalen Partnern abstimmen, was möglicherweise fortentwickelt werden muss;
denn am 13. Oktober dieses Jahres läuft das jetzige
ISAF-Mandat aus.
({3})
Das ist im Übrigen bei jedem anderen Mandat, über
das der Deutsche Bundestag beschließt, auch der Fall.
Bei der internationalen Afghanistan-Konferenz, deren
Einberufung wir hier im Parlament stark gewollt haben
und der wir als Bestandsaufnahme- und Evaluierungseinrichtung für die internationale Gemeinschaft eine
große Bedeutung geben, werden für die mögliche Fortentwicklung eines Mandates Outputs gegeben. Es ist
dann Sache der Bundesregierung, dies dem Parlament
vorzulegen. Dann ist es Sache des Parlaments, dies zu
beurteilen. Wenn dieser Fall eintritt, dann werden wir
eine Beurteilung vornehmen, und zwar im Rahmen unseres Selbstverständnisses, das die Rednerinnen und
Redner von der Koalition, aber auch von der Opposition
- ich nenne Frau Homburger - hier dargestellt haben.
Das ist auch Grundlage dafür, innerhalb der internationalen Gemeinschaft zu bestehen und die Defizite, die
wir haben, auf der Basis von tatsächlichen Fortschritten
zu beheben, um in Afghanistan zum Erfolg zu kommen.
Dafür werben wir auch in dieser Aktuellen Stunde trotz
ihrer vordergründig taktischen Anberaumung durch die
Fraktion der Linken.
({4})
Nun hat das Wort der Kollege Jürgen Trittin für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine
Vorbemerkung zu Ihnen, Kollege Schäfer: Afghanistan
ist nicht erst in den letzten sieben Jahren zu einem
„failed state“ geworden. Afghanistan war ein „failed
state“, seit Russland und die USA dort den Kalten Krieg
heiß gemacht haben. Es war ein „failed state“, als der
Bürgerkrieg tobte. Es war ein „failed state“, als die Taliban dort ihre Terrorherrschaft errichtet haben. Die
Afghanen aus der Situation des „failed state“ zu holen,
ist der Ansatz der Vereinten Nationen.
({0})
Das ist nicht einfach. Es gibt Rückschläge, es gibt
Widersprüche; es gibt Fehler. Man kann auch über unabhängige und seriöse Untersuchungen sagen, dass sie
von einem dubiosen Verein durchgeführt wurden. Ich
halte die FU und den entsprechenden Forschungsbereich dort für das Gegenteil. Man kann das alles machen. Aber man muss doch auch einmal zur Kenntnis
nehmen, dass von den Menschen, die aufgrund der Tatsache, dass Afghanistan ein „failed state“ ist, ins Ausland geflohen sind, mittlerweile 4,7 Millionen Menschen zurückgekehrt sind, dort bauen und dort ihre
Zukunft sehen.
({1})
Das kann man nicht einfach unter den Tisch fallen lassen.
Jetzt komme ich zur Bundesregierung. Sie stellt sich
immer besonders pfiffig dabei an, ihre Afghanistan-Politik zu verteidigen.
({2})
- Ich rede von der aktuellen Bundesregierung. Von welcher sonst? ({3})
Was ist denn am letzten Wochenende passiert? Wir alle
konnten in den Zeitungen lesen, Herr Jung plane, die
deutschen Truppen, um die Amerikaner zu beschwichtigen, um 1 000 Leute aufzustocken, das Einsatzgebiet im
Norden und im Westen Afghanistans zu erweitern und
das Ganze so zu stricken, dass der Deutsche Bundestag
nach Möglichkeit nicht mehr vor der nächsten Bundestagswahl mit diesem unangenehmen Thema befasst
wird. Soll ich Ihnen einmal sagen, was das ist?
({4})
Beim Kollegen Lafontaine war die Freude natürlich
groß; denn wenn man dieses Thema so anfasst, dann
wird doch völlig klar, dass man nicht zur eigenen Politik
steht. Das ist besonders peinlich, wenn man dann auf der
Münchener Sicherheitskonferenz danach gefragt wird
und darauf, weil man in Gedanken offensichtlich schon
beim Amt des hessischen Ministerpräsidenten ist, keine
Antwort weiß
({5})
und wenn dann Vertreter der Oppositionsfraktionen - in
diesem Fall war es der Vorsitzende der Partei von Frau
Homburger - die deutsche Position darstellen bzw. klarstellen müssen.
({6})
Ich sage Ihnen: Mit dieser Haltung tun Sie uns im Ausland keinen Gefallen. Vor allen Dingen tun Sie uns dann
keinen Gefallen, wenn Sie die Bundesrepublik weiterhin
unter Wert verkaufen.
({7})
Haben wir es eigentlich nötig, uns in dieser Debatte
von den USA in die Ecke drängen zu lassen? Das geht so
weit, dass es heißt, auch wir hätten mehr als 20 Tote zu
beklagen gehabt. Das ist eine Herangehensweise, die
nicht von Selbstbewusstsein zeugt. Das ist nur peinlich.
Tatsache ist doch: Der größte Legitimationsverlust des
internationalen Einsatzes in Afghanistan war der ohne
völkerrechtliche Begründung durchgeführte Krieg der
Amerikaner im Irak. Dadurch wurden die Bemühungen
um den Aufbau Afghanistans massiv zurückgeworfen.
({8})
Da es in dieser Debatte auch um Caveats, also um
Vorbehalte, geht, weise ich Sie darauf hin: Den größten
Caveat im Zusammenhang mit dem Einsatz in Afghanistan haben nicht die Deutschen, die Dänen oder die Norweger. Den größten Caveat haben die USA. Sie haben
bis heute massive Vorbehalte dagegen, die Truppen, die
sie im Rahmen von OEF einsetzen, dem Kommando, der
Einsatzdoktrin und den Einsatzregeln von ISAF zu unterstellen. Das ist meiner Meinung nach der größte Caveat. Ich finde, in Anbetracht dessen sollte man auch mit
guten Verbündeten und Freunden einmal Klartext reden.
({9})
Als der amerikanische Verteidigungsminister Robert
Gates in München gesagt hat, es bedürfe in Afghanistan
endlich einer zivilen Koordinierung, und als er dann auf
die Europäer gezeigt hat, hätte ich mir von einem deutschen Verteidigungsminister, von einem deutschen Außenminister folgende Antwort gewünscht:
({10})
Die Amerikaner und die Briten, die Tom Koenigs so
lange gemobbt haben, bis er vorzeitig aus dem Amt geschieden ist, die aber bis zum heutigen Tag nicht in der
Lage waren, einen Nachfolger zu stellen, sind die letzten, von denen wir uns über Koordination bei der zivilen
Hilfe belehren lassen.
({11})
Ich füge eine letzte Bemerkung hinzu: Derjenige, den
die Amerikaner und die Briten gerne im Amt des UNSondergesandten in Afghanistan gesehen hätten, hat ihnen etwas ins Stammbuch geschrieben. Paddy Ashdown,
der abgelehnte Bewerber, hat gesagt: Mehr Truppen hel14948
fen nicht. Wir brauchen mehr Hilfe zur Selbsthilfe. Wir
brauchen mehr Zivilität. Wir brauchen einen Strategiewechsel.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung sagt,
dass sie für einen Strategiewechsel ist. Sie hat aber nicht
einmal auf einer öffentlichen Konferenz den Mores in
der Hose, um offensiv für diesen Strategiewechsel zu
streiten. Das sind im Hinblick auf den kommenden
NATO-Gipfel in Bukarest sehr schlechte Nachrichten.
({12})
Nächster Redner ist nun der Kollege Bernd
Schmidbauer für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wir haben ja erlebt, wie in den letzten Tagen Enten durch die Presse geeiert sind und jeder, der die
Argumente gebraucht hat, draufgehüpft ist.
({0})
Aber ernsthaft: Wir sind doch der Meinung, dass unser Engagement vor vielen Jahren gerechtfertigt war,
weil wir den Sumpf des Terrors in Afghanistan austrocknen wollen. Die Bundeskanzlerin hat im Hinblick auf
München und im Hinblick auf die Debatten, dass der
eine oder andere 1 000 Soldaten zusätzlich schicken soll,
zu Recht gesagt, dass unser Mandat, das wir erst vor wenigen Monaten verabschiedet haben, bis Oktober gilt
und dass daran nichts geändert wird. So ist das nun einmal mit einem Mandat: Es wird im Deutschen Bundestag verabschiedet und bringt dann entsprechende Termine mit sich.
Wir können nun für die Zeit ab Oktober neu überlegen. In der Zwischenzeit sollten wir aber aufpassen,
nicht Verteufelung zugunsten der Taliban zu betreiben.
Die verfolgen schließlich aufmerksam, was hier erzählt
und verabschiedet wird. Auch die Nord-Süd-Debatte
und das Herausstellen von Egoismen sind kleinkariert.
Wir alle sollten uns bemühen, in Solidarität mit diesem
Bündnis die Argumente, die erwägenswert sind, auszutauschen.
Frau Homburger spielt ja seit vielen Debatten auf diesem Instrument und hat sich im zweiten Teil ihrer Rede
der Bundesregierung zugewandt. Selbstverständlich
muss kritisch hinterfragt werden, wie es mit der Ausrüstung unserer Soldaten in Afghanistan aussieht. Darüber,
was Experten zur Frage der Hubschrauber sagen, lese
ich mehr in englischsprachigen Zeitungen als bei uns.
Wir würden ja gerne Hubschrauber liefern; aber wir haben keine solchen Hubschrauber. Es gibt auch Ideen,
Munition auszuleihen. Frau Homburger, es wäre gut,
wenn wir uns in der nächsten Zeit Antworten geben ließen zum Einsatz, zur Ausbildung, zur Sicherheit unserer
Soldaten. Ich habe bisher nur gehört, was uns der Verteidigungsminister im Ausschuss darüber berichtet hat. Ich
kann das nachvollziehen. Ich kann aber auch nachvollziehen, dass wir vor der Entscheidung stehen, zusätzliche Ausrüstung zu beschaffen, die im Hinblick auf Nothilfe, auch im Süden, nötig ist. In der Öffentlichkeit wird
zwar immer so getan, als würden wir uns über eine bestimmte Demarkationslinie - aus welchen Gründen auch
immer - nicht hinauswagen. Aber dem ist nicht so. Wir
helfen aus im Süden: mit Transportmaschinen, mit Funkaufklärung, mit Flugzeugaufklärung insgesamt. Wir haben einen Gesamtansatz.
Natürlich gibt es Bereiche, in denen die Situation desaströs ist, bei der Polizeiausbildung zum Beispiel.
Heute Morgen konnten wir wieder - bei Marmelade und
Wurst - lesen, dass sich alles positiv entwickelt habe.
Ein Dreck hat sich hier positiv entwickelt! Die Situation
wurde Monat für Monat schlechter.
({1})
Ich will aber festhalten, dass der deutsche Beitrag hervorragend war, dass wir hervorragende Polizisten in Kabul hatten.
({2})
Plötzlich aber gab es die Idee, die Situation zu europäisieren. Damit fing es an. Den 27 Ländern war es nicht
möglich, 18 Polizisten dorthin zu entsenden, weil die Division nicht aufging. Dann hat man festgestellt, dass man
andere Überlegungen anstellen muss.
Die Situation verschlechtert sich; es ist derzeit nicht
abzusehen, wie wir sie verbessern können. Ich habe vorgeschlagen, gemeinsam einen Teil der Ausbildung in
Deutschland durchzuführen. Geschockt hat mich, dass
mir daraufhin vorgehalten wurde, das gehe nicht, weil
das ein Kulturschock für die Polizisten aus Afghanistan
wäre. Mit dieser Argumentation kommen wir nicht weiter. Wir können doch Spezialisten ausbilden, die ihrerseits als Multiplikatoren vor Ort andere Polizisten ausbilden. Wenn das alle europäischen Länder tun - und
seien es nur die, die unsere Ansicht teilen -, kommt eine
erkleckliche Anzahl zustande.
({3})
Das Problem war ja, dass die Anzahl der Polizisten
nicht dividierbar war, dass manche Länder 0,7 Polizisten
hätten stellen müssen. Aber das war wohl nicht der
Grund. Ich hoffe, Herr Trittin, dass die kommende Konferenz in Paris im Sommer nicht eine erneute Ausrede
wird, mit Leerformeln,
({4})
mit der Forderung nach neuen Strategien, nach einer Gesamtstrategie, sondern dass das, was in London vorgegeben wurde, erfüllt wird. Dann hätten wir einen großen
Schritt gemacht. Dazu gehört auch, der Regierung in Kabul zu sagen, dass sie ihren Beitrag leisten muss.
Ich habe an sich keine große Freude daran, weil wir
wissen, dass dort immer noch ein Korruptionssystem befördert wird, dass wir die Einsetzung des Ausschusses
nicht erreichen und andere Dinge mehr. In Kabul wird
Vorschub geleistet für Gerüchte in Zeitungsartikeln und
Presseberichten.
Ich glaube, man kann nicht alles mit PR machen. Eine
PR-Geschichte, die sich nicht auszahlen würde, wäre,
bei der Erteilung des Mandats hier im Parlament zu manipulieren, nur weil ein Wahlkampf ansteht.
({5})
Meine Freunde, ich sage Ihnen allen: Wir stehen zu diesem Einsatz, also können wir auch Wahlen bestehen.
({6})
Wir müssen doch nicht auf diejenigen hereinfallen, die
vor Populismus strotzen und meinen, man müsse das
zwei Monate lang verschweigen.
({7})
Was bringt das denn? Glaubt denn einer, dass wir um Afghanistan einen Zaun ziehen können und damit die Debatte in der Öffentlichkeit beendet ist? Nein, unser Engagement für diese Aufgabe, Terror auszutrocknen, ist
glaubwürdig. Diejenigen, die nicht mitziehen, dürfen
sich nicht beschweren, wenn der Terror weitergeht und
wir es nicht schaffen, die zweite und dritte Generation
des Terrors in Afghanistan zu bekämpfen und auszurotten.
Herzlichen Dank.
({8})
Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist nun
die Kollegin Heike Hänsel.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos]
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr von Klaeden, ich möchte zunächst einmal zu den
Vergleichen kommen, die Sie hier gezogen haben und
die absolut unzulässig sind. Dass Sie uns und insbesondere Herrn Gysi mit faschistischen Tendenzen beleidigen
- „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“ -,
möchte ich im Namen unserer Fraktion ganz klar zurückweisen.
({0})
Bezüglich der Einschätzung der Sicherheitslage im
Norden habe ich jetzt eine Frage an Sie: Lesen Sie auch
die regelmäßigen Berichte der Bundeswehr über den signifikanten Anstieg der Zahl der Anschläge im Norden?
Wenn Sie nach Afghanistan fahren, werden Sie stark geschützt. Sie machen Blitzbesuche; Frau Merkel kündigt
ihren Besuch nicht einmal an. Aus dem Entwicklungsausschuss waren zwei Leute im Norden Afghanistans;
sie wurden ebenfalls stark geschützt, die Begleiter waren
schwerbewaffnet. Wir vom Entwicklungsausschuss
wollten bereits zweimal nach Afghanistan fahren. Das
wurde aus Sicherheitsgründen abgesagt. Trotzdem sprechen Sie von einer Sicherheitslage im Norden Afghanistans, die für die Menschen erträglich ist. Das kann ich
hier nur ganz klar zurückweisen.
({1})
Nach sieben Jahren Militärpräsenz wird die Sicherheitslage für die Menschen in dieser Region immer schlechter.
Zur Instrumentalisierung der Politik und der Soldaten
und Soldatinnen. Sie instrumentalisieren die Soldaten
und Soldatinnen, um von einer fehlenden Politik abzulenken. Sie haben keine politische Lösung für Afghanistan. Ihnen geht es um Bündnistreue. Wie Herr Lamers
sprechen auch Sie von der Glaubwürdigkeit der NATO,
die dort auf dem Spiel steht. Deswegen sind dort Soldaten und Soldatinnen, die kämpfen. Das ist für mich eine
Instrumentalisierung der Leben von Soldaten und Soldatinnen, da wir hier nicht fähig sind, politische Lösungen
für dieses Land zu entwickeln.
({2})
Herr von Klaeden, ich möchte Ihnen auch noch etwas
bezüglich Ihres Gedächtnisses sagen. Sie sprachen von
der Sowjetunion. Wer hat denn in den 80er-Jahren die
Taliban, die Mudschaheddin und pakistanische Söldner
systematisch finanziert, ausgebildet und ausgerüstet?
Das war die US-Regierung.
({3})
Die werden jetzt auch von deutschen Soldaten bekämpft.
Wer hat diese Kräfte über Jahrzehnte stark gemacht?
({4})
Jetzt muss das Bündnis in Afghanistan gegen diese
Kräfte kämpfen - das ist der Zynismus der Politik -,
während wir hier im Parlament sitzen. Man spricht hier
noch nicht einmal von Kämpfen. In diesem Land, in Afghanistan wird Krieg geführt - das wird hier mit keinem
Wort erwähnt -, und die Bundeswehr ist dabei. Die Süddeutsche Zeitung hat am 7. Februar 2008 sehr gut getitelt: „Kämpfen, aber nicht darüber reden“. - Wir müssen
darüber reden und uns fragen lassen - vor allem Sie -,
ob Sie das vor dem Hintergrund der Situation in Afghanistan verantworten können.
Aus entwicklungspolitischer Sicht - ich bin ja Entwicklungspolitikerin - kann ich nur sagen: Nach diesen
sieben Jahren ist die Lebenssituation der Menschen katastrophal. Wir müssen uns auch fragen lassen, wohin sehr
viele Gelder dieser Entwicklungshilfe fließen.Wir müssen auch über die Korruption der dortigen Regierung
sprechen: Welches System wird dort eigentlich von
ISAF aufrechterhalten? Mit welchen Kräften kooperieren sie dort, mit demokratischen Kräften oder mit Warlords und Drogenbaronen, die im Parlament sitzen? Über
60 Prozent der Abgeordneten in Afghanistan haben militärischen oder Drogenhintergrund; dies müssen wir doch
einmal ansprechen.
({5})
In 10, 20 Jahren werden sie diese Kräfte bekämpfen
müssen, etwa die Nordallianz, die systematisch aufgebaut wird, weil sie mit dem Westen kooperiert.
Das ist die Situation in Afghanistan, die auch mit einer Unglaubwürdigkeit den Menschen gegenüber einhergeht. Fragen Sie doch einmal in Ihrer FU-Umfrage
nach der Akzeptanz und Glaubwürdigkeit der Regierung
in Afghanistan.
({6})
Die Menschen vertrauen dieser Regierung nicht mehr,
weil sich ihre Lebenssituation nicht verbessert.
In diesem Zusammenhang begrüße ich eine mutige
Frau, die auf der Besuchertribüne sitzt: die afghanische
Parlamentarierin Malalai Joya.
({7})
Sie hat am Montag den Human Rights Award von
„Cinema for Peace“ bekommen, weil sie genau das thematisiert, was ich hier anspreche: die schreckliche Situation für Frauen und die insgesamt schreckliche Menschenrechtssituation in diesem Land. Sie spricht von
Kollegen im Parlament, die Kriegsverbrecher sind. Sie
spricht von - ({8})
Können Sie hier bitte einmal für Ruhe sorgen?
({9})
Sie spricht von der schrecklichen Situation. Sie hat
genau das gesagt: Sie sind Opfer zwischen US-feindlichen Fundamentalisten und US-freundlichen Fundamentalisten.
({10})
Das ist keine Zukunft für Afghanistan.
({11})
Wir wollen, dass diese demokratischen Kräfte unterstützt werden, Herr von Klaeden. Aber Frau Joya konnte
nicht einmal im Auswärtigen Ausschuss reden, obwohl
wir darum gebeten hatten. Seit Monaten bemühen wir
uns darum, dass sie in das Netzwerk „Parlamentarier
schützen Parlamentarier“ aufgenommen wird. Es gibt
seitens des Auswärtigen Amtes immer neue Verzögerungen. Wenn solche Menschen, die mutig die Zukunft Afghanistans repräsentieren, weil sie den Mund aufmachen, nicht einmal hier in Deutschland unterstützt
werden, dann brauchen Sie von Demokratisierung in Afghanistan gar nicht mehr zu reden.
({12})
Wir brauchen einen Politikwechsel in Afghanistan. In
meinen Augen ist die Bundeswehr Teil des Problems
und nicht der Lösung. Wir müssen langfristig auf demokratische Kräfte in Afghanistan setzen. Dazu gehören
Malalai Joya und viele mutige Journalisten, die jetzt Todesstrafen ausgesetzt sind, weil sie die Fundamentalisten
kritisieren. Wo ist da die Bundesregierung, wo ist ISAF?
Werden diese Menschen geschützt? Da passiert nichts.
Deswegen brauchen wir einen Politikwechsel. Ich bedanke mich noch einmal ausdrücklich, dass es so mutige
Menschen wie Malalai Joya gibt. Sie sollte sogar an der
Ausreise gehindert werden. Ich hoffe, dass wir uns alle
dafür einsetzen, dass solche Menschen in Afghanistan
stärker geschützt werden.
Danke.
({13})
Für die Bundesregierung erteile ich nun das Wort
Herrn Staatminister Günter Gloser.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr verehrte Frau Kollegin, in den letzten
Wochen und Monaten gab es eine Reihe von Begegnungen zwischen Parlamentarierinnen und Parlamentariern,
an denen auch Gäste aus Afghanistan teilnahmen. Dort
haben Frauen vorgetragen und deutlich gemacht, dass
ihnen heute vieles möglich sei, was sie vorher nicht hätten tun können. Dies konnte nur dadurch gelingen, dass
Soldaten in Afghanistan sind.
({0})
Sie haben davon gesprochen, dass ein Zugang zur Gesundheitsversorgung, zur Wasserversorgung und zu Bildung vorhanden sei. Wir blenden die Probleme in keiner
Weise aus; aber wir sollten auch dokumentieren - dies
haben mehrere Rednerinnen und Redner bereits gesagt -,
was in dieser Zeit erreicht worden ist.
Ich komme auf die in den letzten Wochen - insbesondere im Vorfeld des NATO-Verteidigungsministertreffens in Vilnius und der Münchener Sicherheitskonferenz sicherlich etwas aufgeregte Debatte über das internationale militärische Engagement in Afghanistan zurück.
Die USA und andere NATO-Partner - deren Einsatz im
Süden Afghanistans ist unstreitig - haben in unterschiedlicher Form in den letzten Tagen und Wochen die gleiche
Botschaft an ihre NATO-Partner, auch an Deutschland,
gerichtet: Bitte verstärkt erneut euer Engagement in Afghanistan und engagiert euch insbesondere im Süden
Afghanistans. - Für die Bundesregierung stelle ich ganz
klar fest: Sie hat stets die Position vertreten, dass Fragen
der Truppengenerierung im Rahmen der NATO zu
beraten sind. Kollege Kolbow hat darauf bereits hingewiesen. Das geschah dann auch beim NATO-Verteidigungsministertreffen letzte Woche in Vilnius in einer
partnerschaftlichen Atmosphäre. Dabei wiederholten die
USA, Kanada, die Niederlande und Großbritannien ihre
Appelle, wobei sie aber nicht die einzelnen Staaten, sondern die NATO insgesamt angesprochen haben.
Wir haben in dieser Debatte deutlich darauf hingewiesen - dabei beziehe ich mich auf die Beiträge von Frau
Homburger oder Herrn Trittin -, dass es nicht ständig
nur darum gehen kann, mehr Truppen zu entsenden;
vielmehr hängt in Afghanistan viel von einer verbesserten Vernetzung der Bemühungen der verschiedenen Akteure um den Wiederaufbau und die Schaffung von Sicherheit ab. In Vilnius sowie am Rande der Münchner
Sicherheitskonferenz hat die Bundesregierung vor allem
eines sehr deutlich gemacht: Wir brauchen uns mit unserem Engagement in Afghanistan nicht zu verstecken.
({1})
Denn mit derzeit 3 300 tatsächlich eingesetzten Soldaten
bei einer Obergrenze des ISAF-Mandats von 3 500 Soldaten stellt Deutschland das drittgrößte ISAF-Kontingent. Mit der Übernahme des regionalen Wiederaufbauteams in Kunduz im Herbst 2003 und im Herbst 2004
auch in Faizabad haben wir als erste - das unterstreiche
ich - den Regionalisierungsansatz von ISAF vollzogen.
Wir wissen, dass der Wiederaufbau Afghanistans ein
sehr komplexes Unterfangen ist, in dem die einzelnen
Bereiche eng miteinander verknüpft sind. Wir haben von
Anfang an einen umfassenden zivil-militärischen Ansatz
verfolgt, der zwar von einigen NATO-Partnern anfangs
kritisch hinterfragt wurde; er hat sich jedoch als richtig
herausgestellt. Es gibt keinen Grund für die Behauptung,
dass dieser Beitrag nicht ausreichend sei. Ich finde, er ist
vorbildlich, nachhaltig und im internationalen Vergleich
überdurchschnittlich.
({2})
Ich möchte an dieser Stelle etwas ansprechen, das bei
einem Besuch der Gebirgsjägerbrigade in Bad Reichenhall vor einer Woche deutlich geworden ist und widerlegt, was Sie in Ihren Ausführungen gesagt haben, nämlich dass Soldaten, die Auslandseinsätze auf dem
Balkan, aber auch in Afghanistan hatten, festgestellt haben: Je mehr wir am Wiederaufbau beteiligt sind und je
mehr sichtbare Projekte des zivilen Aufbaus wir schaffen, desto größer ist die Akzeptanz. Diese sichtbaren Erfolge bedeuten nicht nur Sicherheit für die afghanische
Bevölkerung, sondern auch Sicherheit und Schutz für
die dort eingesetzten Soldatinnen und Soldaten. - Dies
hat jemand geschildert, der das vor Ort hautnah miterlebt
hat.
({3})
Wir haben einen klaren Fokus auf den Norden Afghanistans. Wir sind dorthin gegangen und haben den Auftrag nach besten Kräften erledigt, und wir kommen unserer Verantwortung dort auch weiter nach, was sich auch
in der Übernahme der Quick Reaction Force des Regionalkommandos Nord, das bisher von Norwegen gestellt
wurde, ab dem zweiten Halbjahr 2008 widerspiegelt.
Wir haben unsere Haushaltsmittel für die Ausbildung
der afghanischen Armee und der Polizei signifikant erhöht. Aber auch für den Gesamterfolg der Mission entziehen wir uns keinesfalls der Verantwortung. Wir - auch
das unterstreiche ich - leisten mit den Aufklärungsflügen unserer Tornados in ganz Afghanistan einen wichtigen und von unseren Partnern vor Ort hochgeschätzten
Beitrag für den Erfolg von ISAF. Unsere Partner wissen
aber auch, dass wir im Rahmen unserer Möglichkeiten in
Notsituationen helfen werden und dies bereits jetzt beispielsweise mit Lufttransportunterstützung und Fernmeldepersonal tun. Solche Solidarität in Notsituationen ist
nach Vorgaben des Bundestagsmandats zeitlich und im
Umfang befristet möglich, wenn dies für den Erfolg der
Gesamtmission unabweisbar ist.
Dies alles zeigt, dass die Bundesregierung zum bestehenden ISAF-Mandat steht. Wir können und werden unseren im Bündnis übernommenen Aufgaben im Rahmen
des bestehenden Mandates nachkommen. Für Spekulationen, wie ein zukünftiges Mandat aussehen kann, ist es
noch zu früh. Hierzu müssen wir weitere Entwicklungen
in Afghanistan, aber auch innerhalb des Bündnisses abwarten. Es ist ein sehr wichtiger Schritt, dass voraussichtlich im Juni eine internationale Afghanistan-Konferenz in Paris stattfinden wird. Auf dieser Konferenz soll
die bisherige Arbeit im Rahmen des Afghanistan-Compact im Rahmen einer Art Halbzeitbilanz kritisch überprüft werden. Die Ergebnisse dieser Konferenz werden
dann ebenfalls in die von Ihnen angemahnte Debatte
über unser weiteres Afghanistan-Engagement einfließen.
Es gibt also derzeit innerhalb der Bundesregierung
noch keinerlei Festlegungen oder Positionierung zu diesen Fragen. Das gilt auch im Hinblick auf die Mandatsdauer.
Bundesminister Frank-Walter Steinmeier hat darauf
hingewiesen - diesen Punkt hat bereits Herr Schäfer angesprochen -, dass das Ende des ISAF-Mandats in den
Oktober 2009 und damit voraussichtlich in den Zeitraum
nach der Bundestagswahl und möglicherweise vor der
Neukonstituierung von Bundestag und Bundesregierung
fallen wird. Es wäre sinnvoll, einem neuen Kabinett und
einem neuen Bundestag die Möglichkeit zu geben, die
Entscheidung über die Fortsetzung des ISAF-Engagements zu treffen. Nichts anderes wurde gesagt.
Genauso wie bei allen anderen vorangegangenen Entscheidungen über ein Mandat oder über eine Mandatsverlängerung wird sich die Bundesregierung an das bewährte Verfahren halten. Sie wird für eine Abstimmung
mit den NATO-Partnern sorgen und das Parlament rechtzeitig unterrichten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Nun hat das Wort der Kollege Hans Raidel für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich begrüße die afghanische Kollegin sehr herzlich und darf feststellen: Wenn es nach der Politik der
Linken gegangen wäre, hätte die verehrte Kollegin überhaupt keine Chance, hier zu sein. Das muss hier klar und
deutlich zum Ausdruck gebracht werden.
({0})
Sie malen den Teufel an die Wand und betätigen sich
dann als Teufelsaustreiber. Das ist keine hervorragende
Politik, weil sie mehr vernebelt als versachlicht. Ich
meine, dass wir mehr Sachlichkeit bei diesem Thema
brauchen, um die Fakten richtig beurteilen zu können.
Verehrte Frau Kollegin Homburger, es gibt keine Geheimniskrämerei. Die Auseinandersetzungen werden
nicht ständig im Bundestag ausgetragen, wohl aber in
den Ausschüssen.
({1})
- Sie haben nicht richtig zugehört oder es nicht richtig
verstanden. Dafür kann aber der Minister nichts. Wir alle
haben kapiert, worum es geht. Wir sind ausreichend informiert. Wenn Sie sich nicht ausreichend informiert
fühlen, ist das nicht unser Problem, sondern Ihr persönliches.
Wir fühlen uns in der Sache ausreichend informiert.
In jeder Ausschusssitzung wird über die hier zur Debatte
stehenden Themen diskutiert. Der Minister ist für alle
Fragen zugänglich, und das Haus ist für alle Fragen offen. Es gibt keine Geheimniskrämerei. Ich bin sehr dankbar, dass wir hier immer wieder vor der deutschen Öffentlichkeit diskutieren; denn so wird deutlich, wie sehr
uns dieses Thema berührt, wie wichtig es ist und wie
sehr der Einsatz in Afghanistan im deutschen Interesse
liegt. Meine Vorredner haben darauf bereits ausreichend
hingewiesen.
Mittlerweile ist das deutsche Konzept zu einem nachahmenswerten Modell für alle anderen Nationen geworden. Auch die NATO nimmt dieses Konzept immer mehr
an. Das von uns verfolgte Konzept sieht vor, den Terrorismus auszugrenzen und ihm den Boden zu entziehen.
Hier sind Erfolge zu verzeichnen. Wir setzen aber nicht
nur auf die militärische Karte, sondern gleichermaßen
auf Nation-Building, den Aufbau einer zivilen Verwaltung und Good Governance. Es wurde unterstellt, wir
verschwiegen, dass es sich um kritische Einsätze, um
Kampfeinsätze handle. Natürlich gilt: Wer helfen und
schützen will, muss in einer solchen Situation kämpfen
können und kämpfen wollen, wenn es darauf ankommt,
und zwar mit der notwendigen Ausrüstung und Ausbildung. Dazu sind sicherlich kritische Fragen teilweise angebracht.
({2})
Wir müssen nun unseren Blick auf das neue NATOKonzept richten. Das Gipfeltreffen der NATO in Bukarest bietet dazu eine gute Chance. Natürlich muss die
NATO mehr Wert darauf legen, dass die kollektiven Anstrengungen verbessert werden und dass neben dem militärischen Engagement das zivile stärker zum Tragen
kommt. Ich bin der Meinung, dass immer mehr Militär
nicht das richtige Konzept ist. Im Übrigen kann man mit
Verlustdebatten über tatsächlich geübte Solidarität nicht
hinwegtäuschen, wenngleich wir die Sorgen der anderen
Nationen durchaus verstehen.
Dieses einheitliche Konzept muss natürlich auch die
unterschiedlichen ethnischen Gruppen in diesem Zusammenhang berücksichtigen. Afghanistan ist groß, verschiedene Stämme mit verschiedenen Kulturen leben
dort. Wenn wir zum Beispiel zu einem Rotationsmodell
kämen und wir den Norden verlassen und in andere Regionen gehen würden, dann würde vieles, was dort aufgebaut worden ist, genau wegen dieser Fragen wieder
aufs Spiel gesetzt werden, und wir würden uns eines großen Vorteils begeben.
Deswegen sollte unser Einsatzschwerpunkt im Norden beibehalten werden. Wir sollten unsere Aufgabe dort
weiter beispielhaft lösen. Wir sollten innerhalb der
NATO darauf drängen, dass dieses Konzept weiter verfeinert und auf ganz Afghanistan ausgedehnt wird. Wir
sollten die Einzelfragen einschließlich des Drogenanbaus neu bewerten und neue Instrumente zur Bekämpfung entwickeln. Der Wiederaufbau ist notwendig, und
die Regierungs-, Polizei- und die Verwaltungsstrukturen
müssen verbessert werden. Wir wissen, dass wir gerade
im zivilen Bereich mehr Defizite als im militärischen
Bereich haben. Wir müssen dafür werben, dass hier
nachhaltige Verbesserungen eintreten.
Herr Kollege, würden Sie bitte zum Ende kommen?
Gerne. - Ich bin für den Regionalansatz. Wir müssen
die Nachbarstaaten einbeziehen; denn es kann nicht sein,
dass die NATO die Aufgaben allein bewältigt und die
Nachbarstaaten danebenstehen und nur über den Zaun
blicken.
Insgesamt - ein letzter Satz sei mir gestattet - bin ich
der Meinung, dass wir trotz aller Probleme gerade mit
dem deutschen Beitrag auf dem richtigen Weg sind. Wir
sollten aus eigenen Interessen diesen Beitrag verstärken.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Rainer Arnold,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Natürlich ist es das parlamentarische Recht der Linken,
inzwischen jede Woche eine Aktuelle Stunde zum
Thema Afghanistan zu beantragen. Ob das zeitökonomisch ist, ist eine ganz andere Frage; denn Sie erzählen
jede Woche genau dasselbe.
({0})
- Hören Sie erst einmal zu! - Sie bleiben bei Ihrer üblichen Oberflächlichkeit und bei der Verdrehung von Tatsachen. Frau Kollegin Hänsel, Sie befinden sich, wenn
es um Polemik geht, auf Augenhöhe mit Ihren Herren
Lafontaine und Gysi.
({1})
Sie sprachen die Kollegin des afghanischen Parlamentes
an, die dort oben sitzt, sagen eines aber nicht: Ohne den
Petersberg-Prozess, den Deutschland maßgeblich initiiert hat, ohne Afghanistan Compact und ohne die Anstrengungen der Vereinten Nationen zum zivilen, politischen und Sicherheitsaufbau des Landes gäbe es diese
Kollegin nicht im Parlament, weil es dann kein demokratisches Parlament in Afghanistan gäbe.
({2})
Sie fordern, die Parlamentarier in Afghanistan müssten
geschützt werden.
({3})
Sie sollten sich einmal Gedanken darüber machen, ob
freundliche Worte und Ideologie Schutz für die Menschen in Afghanistan sind oder ob es nicht auch bestimmter robuster polizeilicher und militärischer Fähigkeiten bedarf. Sie machen einen Fehler und erzählen der
deutschen Öffentlichkeit Falsches. Sie wollen den Menschen bei uns einreden, dort gehe es um Krieg zwischen
den Talibanterroristen und den internationalen Truppen.
Das ist falsch. Es geht zunächst um einen Krieg der Terroristen gegen die Menschen in Afghanistan,
({4})
gegen den Lehrer, der Mädchen ausbildet, gegen die
Krankenschwester, die Fortschritt bringt, gegen den
Straßenbauarbeiter, der die Brücke saniert, und gegen
die Familien, die auf dem Marktplatz von Talibanbomben in die Luft gesprengt werden. Wenn man dies sieht,
dann merkt man sehr schnell: Um die Menschen in
Afghanistan kümmern Sie sich nicht wirklich.
({5})
Insofern ist es wirklich schade, dass Sie Ihre Reise
nicht machen konnten. Gerade die Linken müssen nach
Afghanistan und sich die Situation dort anschauen.
({6})
Und die Herren Lafontaine und Gysi sollten, bevor sie
darüber reden, erst einmal nach Afghanistan fahren und
dort hören und sehen. Das könnte vielleicht, wenn man
gutwillig ist, hilfreich sein.
Warum nun führen wir die heutige Debatte? Herr
Gates, der amerikanische Verteidigungsminister, hat in
einem recht. Er sagte nämlich: In Deutschland sind diese
Debatten immer etwas zu aufgeregt. - Ich glaube, es gibt
dafür in der Tat überhaupt keinen Grund. Die Frage der
Ausweitung hinsichtlich der Regionen oder des Umfangs können wir in Deutschland solide und gelassen
diskutieren, aber nicht, indem Parlamentarier über Zahlen philosophieren, sondern indem wir uns ins Gedächtnis rufen, welche Aufgaben wir in Afghanistan gemeinsam bewältigen wollen. Es gibt die neue Komponente
der schnellen Eingreiftruppe. Letzte Woche hat die Regierung der NATO zugesagt. Aber man sollte der Regierung schon noch ein bisschen Zeit geben, um auszurechnen, wie sich das in der Feinplanung abbildet. Eine
Woche ist dafür sicherlich zu kurz.
Wir wollen im Deutschen Bundestag miteinander,
dass mehr Ausbildungsleistung für die afghanische Armee erbracht wird. Gestern konnten wir lesen, dass sich
bei der ANA sehr viel Positives bewegt. Die Soldaten
werden jetzt gut bezahlt und haben langfristige Perspektiven, bei der Armee zu bleiben. Das ist schon eine sehr
gute Entwicklung. Wir müssen allerdings dazusagen:
Bei der Polizei muss man dasselbe erreichen. Dieser
Prozess muss quantitativ besser werden. Alle deutschen
Innenminister sind aufgerufen, in diesem Bereich ihre
Verantwortung wahrzunehmen.
({7})
Wir wollen in Afghanistan sicherlich unsere Erkenntnisse umsetzen. Einer der wichtigen Punkte ist: Es genügt auf Dauer nicht, wenn die PRTs, die Wiederaufbauteams, nur in den Städten ihre Arbeit machen und nur bei
Patrouillen hinauskommen. Nein, das Konzept der kleinen, dezentralen PATs, der Ableger der großen PRTs, ist
richtig, und es muss implementiert werden. Jetzt muss
auch im Norden von Afghanistan eine Phase erreicht
werden, in der auch die Menschen in den abgelegenen
Tälern, in den ländlichen Regionen sehen, warum die
Staatengemeinschaft da ist, nämlich um ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Deshalb brauchen wir die
PATs.
Wenn man bedenkt, dass in Kunduz über Monate insgesamt 36 Raketen eingeschlagen sind, die nicht nur die
deutschen Soldaten bedrohen, sondern auch die Familien, die auf dem Markt einkaufen, dann liegt es doch auf
der Hand, dass die Bundeswehr darüber nachdenkt, auf
welche Art und Weise sie im Umfeld von Kunduz, wo
die Raketen abgeschossen werden, Präsenz zeigt, damit
dies verhindert wird.
Die Aufgaben liegen also auf der Hand. Sie basieren
inhaltlich zu 100 Prozent auf dem Mandat. Wenn die
Bundeswehr schließlich meint, sie braucht dazu mehr
Personal, dann ist es Sache des Verteidigungsministers,
({8})
der deutschen Öffentlichkeit und dem Deutschen Bundestag zu einem geeigneten Zeitpunkt die Planungen
vorzutragen. Dieser Prozess verdient überhaupt keine
Aufregung.
Noch in Kürze ein zweiter Punkt, weil Sie auch die
regionale Komponente angesprochen haben.
Nein, Herr Kollege, das geht auch nicht in Kürze.
({0})
Ihre Redezeit ist abgelaufen.
In der deutschen Debatte ist klar geworden: Bundestag, Regierung und dankenswerterweise auch die verantwortungsvollen Oppositionsparteien haben, was den
Einsatz im Süden betrifft, den amerikanischen Partnern
mit guten Gründen gesagt, was wir nicht tun werden.
Dabei wird es auch für die Zukunft bleiben. Ansonsten
gilt: Wir tun in Afghanistan das, was notwendig ist, und
halten immer die Balance zwischen dem, was wir politisch und gegenüber den Soldaten verantworten können
und wollen. So wird es auch bleiben.
({0})
Das Wort hat der Kollege Ruprecht Polenz für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich will mit drei Zahlen anfangen: Etwa 60 Prozent der
deutschen Bevölkerung sind für einen möglichst schnellen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan. Drei Viertel des Deutschen Bundestages haben diesem Einsatz zugestimmt und ihn für ein weiteres Jahr mandatiert.
80 Prozent der Bevölkerung von Afghanistan sind der
Meinung, dass die ausländischen Soldaten bleiben müssen, weil sonst nicht für ihre Sicherheit gesorgt ist.
Nun debattieren wir hier im Deutschen Bundestag.
Deshalb ist es notwendig, dass wir uns einmal etwas intensiver mit der Haltung und den Gründen auseinandersetzen, die zu dieser Einschätzung in der deutschen Bevölkerung führen. Ich weiß nicht, wie es Ihnen in Ihren
Veranstaltungen geht und was Sie ihrer Post entnehmen.
Ich glaube, es gibt zwei tiefer liegende Gründe für die
Skepsis gegenüber dem Einsatz. Darauf müssen wir zuerst reagieren, ehe wir über konkrete Einzelheiten des
Einsatzes sprechen können: Was klappt? Was klappt
nicht? Wie weit sind wir? Wohin wollen wir?
Aus meiner Sicht sind es vor allen Dingen die Kriegsgeneration oder diejenigen, die in der unmittelbaren
Nachkriegszeit groß geworden sind, die aus dem Zweiten
Weltkrieg zu Recht die Lektion gelernt haben: Das war
ein Verbrechen, und das darf nie wieder passieren. Aber
sie haben daraus auch eine zweite Lektion gelernt - ich
halte sie für falsch -, die lautet: Wir Deutsche sollten uns
in der Zukunft besser heraushalten; dann machen wir auch
nichts verkehrt. Mit dieser Haltung haben wir zu kämpfen.
Die Linke bedient diese Haltung. Herr Schäfer hat vorhin
davon gesprochen: Wir sollten uns nicht in Dinge verstricken. Das gibt genau diese Haltung wieder. Lassen Sie es
mich einmal so formulieren: Aus dem deutschen Überfall
aus Polen erwächst für das heutige Deutschland kein
Recht auf unterlassene Hilfeleistung.
({0})
Das Gegenteil ist richtig.
Die Forderung, sich herauszuhalten, knüpft an eine
zweite, urmenschliche Erfahrung an: Wenn man selbst
einem anderen nichts Böses tut, dann passiert einem umgekehrt in der Regel auch nichts. Im unmittelbaren persönlichen Umfeld macht hoffentlich jeder diese Erfahrung. Aber schon in der Gesellschaft allgemein trifft
diese Erfahrung nicht mehr zu, wie wir wissen; sonst
brauchten wir keine Polizei. International gesehen, ist
diese Erfahrung erst recht weder historisch noch aktuell
je richtig gewesen.
Was den Terrorismus betrifft, müssen wir doch wissen: Der Terrorismus lebt von der Unschuld der Opfer.
Das heißt, die Strategie, sich gegenüber Terroristen herauszuhalten, funktioniert nicht. Auch hier bedient die
Linke diese Haltung, indem sie quasi Ursache und Wirkung umkehrt und der deutschen Bevölkerung suggeriert: Weil wir uns engagieren, sind wir nunmehr gefährdet.
({1})
Der 11. September wurde von Leuten geplant und
durchgeführt, die alle über Wochen und Monate in Trainingscamps der al-Qaida in Afghanistan waren. Schon
vorher, Ende der 90er-Jahre, waren die Bombenanschläge auf die amerikanischen Botschaften in Afrika
von afghanischem Territorium ausgegangen. Es gab in
der Zwischenzeit die Anschläge in Madrid, London,
Istanbul, Amsterdam, Paris, Glasgow, Bali und Djerba.
Diese Anschläge haben stattgefunden - ausgeübt von alQaida. Allein das begründet schon, dass wir alles tun
müssen, damit Afghanistan nicht wieder eine sichere Zuflucht für die al-Qaida-Mitglieder wird, etwa wenn die
Taliban den Süden Afghanistans oder das ganze Land
wieder in ihre Hand bekämen, wie es in den 90er-Jahren
der Fall war.
Was wir aber gar nicht so wahrnehmen, was hier auch
einmal vorgetragen werden muss und was eben auch beRuprecht Polenz
gründet, dass wir wegen unserer eigenen Sicherheit in
Afghanistan sind, sind die vielen Anschläge, die glücklicherweise rechtzeitig entdeckt und vereitelt worden sind.
Es gab sehr konkrete Pläne der al-Qaida, eine ganze
Reihe von Flugzeugen über dem Atlantik gleichzeitig
explodieren zu lassen, in der Londoner U-Bahn Anschläge mit Rizin zu verüben, in der Metro in Paris chemische Waffen einzusetzen, mit Autobomben Anschläge
in England, Belgien und Deutschland zu verursachen
und Bombenanschläge auf Hochgeschwindigkeitszüge
in Deutschland und Spanien durchzuführen. Außerdem
war geplant, in Dänemark zwei Anschläge auszuüben.
Dort wurden in Häusern Anleitungen zum Bombenbauen und die erforderlichen Materialien gefunden.
Glücklicherweise konnten sie vereitelt werden. Gerade
vor kurzem sind in Barcelona 14 Verdächtige festgenommen worden, die Selbstmordattentate gegen Transportsysteme in Spanien, Portugal, Frankreich, Großbritannien und Deutschland geplant haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Streben nach
Autarkie ist im Zeitalter der Globalisierung eine falsche
politische Zielsetzung. Das gilt für die Ernährung, für
die Energie und erst recht für die Sicherheit.
({2})
Aus diesem Grunde haben wir auch eine Bündnisverpflichtung; denn nur darin können wir unsere Sicherheit
schützen. Ohne Frieden in Afghanistan gibt es keine Sicherheit für Deutschland.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Detlef Dzembritzki,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Polenz, Ihren richtigen Aufzählungen
möchte ich gern noch etwas hinzufügen. Das Unbehagen
in der Bundesrepublik über den Afghanistan-Einsatz
hing zum Teil auch damit zusammen, dass hier der Eindruck war: Die Menschen in Afghanistan sind mit dem,
was dort geschieht, nicht einverstanden. - Umso überraschender war es für viele, als dann durch Untersuchungen, zum Beispiel initiiert von kanadischen Zeitungen
und Universitäten oder in Deutschland von der ARD und
jetzt von der Freien Universität, endlich belastbare
Ergebnisse dazu vorlagen, wie dieser Einsatz in Afghanistan selbst gesehen wird, nämlich mit großer Zufriedenheit, mit Zustimmung. Dass man manche Dinge differenziert betrachten muss, dass es Situationen gab, wo
man mit dem Fortgang der Dinge eben nicht zufrieden
war, ist unbestreitbar. Deswegen werden wir auch weiter
diskutieren, wie wir im Zweifel besser werden können.
Wir diskutieren in unserem Parlament. Wir sind aber
in eine internationale Gemeinschaft, in ein multilaterales
Staatenbündnis eingebunden. Wir betonen zum Beispiel,
dass wir ein Stückchen stolz darauf sind, den Parlamentsvorbehalt zu haben. Wir müssen uns aber auch mit
den Erwartungen und den Vorstellungen unserer Partner
auseinandersetzen. Ich finde ausgesprochen interessant
- das will ich heute in die Diskussion einbringen -, dass
die kanadische Regierung eine Sonderkommission unter
Federführung des ehemaligen Außenministers Manley
eingesetzt hat, um sich mit der Frage zu beschäftigen,
was aus kanadischer Sicht, aus Bündnissicht eigentlich
notwendig wäre, um in Afghanistan voranzukommen.
Interessant ist zum Beispiel, dass auch in diesem Bericht als Erstes festgestellt wird: Wir glauben, dass ein
stärkeres Gewicht auf Diplomatie, Wiederaufbau und
Führungsaufgaben der Rolle Kanadas in Afghanistan
besser entspricht, während die militärische Mission sich
zunehmend auf die Schulung der afghanischen Sicherheitskräfte konzentrieren sollte.
Weiter wird gesagt, im Hinblick auf Afghanistan und
die Akteure in der Region sei eine stärkere und diszipliniertere diplomatische Position geltend zu machen. Insbesondere soll Kanada mit den wichtigsten Verbündeten
auf dem folgenden Punkt bestehen: frühzeitige Ernennung eines hochrangigen Zivilvertreters des UN-Generalsekretärs, um in Bezug auf die zivilen und militärischen Bemühungen in Afghanistan mehr Kohärenz zu
erreichen. Kollege Trittin, Sie haben dazu einiges gesagt,
was ich unterstreichen kann. Aber wie oft haben wir im
Bundestag - ich kann das jedenfalls für mich in Anspruch nehmen - diese internationale Kohärenz schon
gefordert? Damit ist ein ganz wichtiger Punkt angesprochen worden.
({0})
Die Kommission empfiehlt weiter die baldige Festlegung der NATO auf einen umfassenden politisch-militärischen Handlungsplan mit dem Ziel, auf Sicherheitsfragen und Ungleichgewichte einzugehen. Hier sei, heißt
es, besonders ein höherer Truppenbestand zur Verbesserung der Sicherheit und zur schnelleren Ausbildung und
Ausrüstung der afghanischen Sicherheitskräfte notwendig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich empfehle Ihnen
die Lektüre dieses Berichts, weil wir uns dieser Argumentation nicht entziehen können. Wir müssen uns mit
unseren Partnern zusammensetzen und mit ihnen darüber diskutieren, selbst wenn diese Kommission der
Regierung in Kanada vorschlägt, auf jeden Fall das
Mandat im Süden über 2009 hinaus fortzusetzen, allerdings mit der Erwartung, dass die NATO - es wird nicht
ein bestimmter Bündnispartner genannt - oder andere
Verbündete darüber nachdenken, wie eine Verstärkung
für die kanadischen Kräfte in diesem Bereich möglich
ist. Wenn wir uns diesem Diskussionsprozess darüber,
wie wir mehr Kohärenz und eine gemeinsame Strategie
hinbekommen, entziehen, würden wir einen entscheidenden Fehler machen.
Hier wurde immer wieder die Polizeiausbildung angesprochen, weil wir da hohe Verantwortung haben. Zur
inneren Sicherheit gehört natürlich vorrangig die Polizei,
aber auch - ich sage das immer dazu - die Justiz. Wenn
man sich da umschaut, ist man noch erschrockener.
Es liegen objektive Zahlen vor. Ich will mich jetzt
nicht darüber auslassen, dass wir durchaus Qualität geliefert haben, aber eben nicht in der notwendigen Quantität. Nur Folgendes: Derzeit sind zum Beispiel von den
195 Experten, die EUPOL stellen soll, 83 da.
({1})
- 81. Um die zwei wollen wir uns nicht streiten. - Ich
will noch etwas darlegen, damit wir einmal die Dimension erkennen und uns klarmachen, wo wir uns eigentlich bewegen und welche Erwartungen wir haben dürfen. Ich habe die heutige Meldung einmal in einen
Zusammenhang mit der Mission, die die Europäische
Union im Kosovo mit einbringen will, um dort zu helfen, gebracht. Kosovo entspricht in etwa der Größe eines
deutschen Landkreises mit 100 Kilometer Durchmesser.
Allein der Norden Afghanistans, den wir zu betreuen haben, umfasst einen Raum, der vom Bodensee bis nach
Flensburg reichen würde. Im Kosovo wollen wir
1 400 Polizisten, 250 Richter sowie 200 Beamte verteilt
über die Provinz einsetzen. Diese Zahlen sollte man sich
einmal vergegenwärtigen. Angesichts dessen muss man
doch zugespitzt fragen: Was machen wir eigentlich in
Afghanistan?
({2})
Jetzt ist der Parlamentarische Staatssekretär des Innenministeriums schon wieder weg. Wir ringen im Auswärtigen Ausschuss seit Monaten darum, dass der Innenminister einmal kommt und mit uns über die Frage der
Polizeiausbildung diskutiert.
Herr Kollege Dzembritzki, ich darf Sie an Ihre Redezeit erinnern. Sie ist deutlich überschritten.
Das ist einerseits freundlich, andererseits schade.
({0})
Trotzdem muss ich Sie an Ihre Redezeit erinnern.
Ich denke, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir
hier in aller Kooperation und kollegialer Zusammenarbeit international wie national unsere Schulaufgaben
zu machen haben; denn die Erwartungen an uns sind
hoch. Diese können wir mit den von Ihnen immer wieder
angestoßenen Diskussionen nicht erfüllen. Diplomatie
ist - so haben Sie Ihre Rede geschlossen, Herr Schäfer;
in diesem Punkt sind wir uns ja einig - notwendig. Aber
ohne Sicherheit wird das nicht machbar sein.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Gert Winkelmeier.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Gerne würde ich an dieser Stelle sagen können: Was
lange währt, ist endlich gut geworden. - Doch davon
sind wir in Afghanistan meilenweit entfernt.
Der Senlis Council, der ja nicht gerade linker Umtriebe verdächtig ist, hat schon vor einem Jahr davor gewarnt, dass die NATO mit ihrer Strategie der militärischen Aufstandsbekämpfung „Freunde verliert und sich
Feinde macht“. Heute, nach einem Jahr des „Weiter so!“,
kommt Senlis zu dem vernichtenden Urteil, dass diese
kontraproduktive Strategie die Regierung Karzai an den
Rand des Abgrunds gebracht hat und sich die Aufständischen im Süden festgesetzt haben. Karzai sagte im Interview mit der Welt am 30. Januar dieses Jahres, dass weitere Truppen nicht die richtige Antwort seien. Die
signifikant gestiegene Zahl der Anschlägt gibt ihm dabei
recht.
Anderen, auch hier in Deutschland, ist dies offensichtlich nicht klar. Die Stiftung Wissenschaft und Politik, die auch von den Steuern der 70 Prozent Kriegsgegner finanziert wird, trommelt seit Monaten für die
Umstellung des deutschen Konzeptes von CIMIC auf
Aufstandsbekämpfung. Die von der Großindustrie gesponserte Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik
({0})
forderte am 4. Februar: „Volles Engagement in Afghanistan!“. In wessen Interesse wohl? Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Die Kollegen der SPD reden öffentlich der Aufstockung des Bundeswehrkontingentes und einer Erweiterung des deutschen Kommandobereiches das Wort. Wo
soll das denn enden? Soll das bei den 400 000 Soldaten
enden, die General McNeill für eine erfolgreiche Aufstandsbekämpfung für nötig hält? Nein, wir brauchen
vielmehr eine schonungslose Bilanz, die dann in ein
politisches Gesamtkonzept münden muss. Dabei muss
der Schwerpunkt auf die zivile Aufbauhilfe gelegt werden, wie Norwegen dies gerade vorgemacht hat und wie
dies auch 78 Prozent der kanadischen Bevölkerung fordern.
({1})
Mir ist völlig unbegreiflich, wie sich die Bundesregierung diese eskalierende Ausweitungsdebatte aufzwingen
lassen konnte. Immer nur zu reagieren, ist miserables politisches Management. Anstatt proaktiv für das eigene,
als richtig erkannte Konzept zu werben und den Verbündeten klare Signale zu geben, hat sie seit Jahren scheibchenweise dem Druck derer nachgegeben, die sich
offensichtlich in Afghanistan auf Dauer militärisch festGert Winkelmeier
setzen wollen. Britische und US-Politiker sprechen von
Jahrzehnten, die der Einsatz noch dauern werde. Davor
kann man doch nicht die Augen verschließen. Das ist die
Spaltung der NATO. Die Gefahrenquelle liegt nicht zwischen Nord und Süd. Seit Rumsfeld wissen Sie auch:
Freund ist, wer gerade zur Hand ist, um US-Interessen
zu unterstützen. 1993 waren die Taliban Freund; ab 2000
hatte der Mohr seine Schuldigkeit getan. Für die Wahlen
2009 in Afghanistan wird bereits jetzt ein Karzai-Nachfolger aufgebaut; das pfeifen sogar die Spatzen in
Washington von den Dächern.
Herr Winkelmeier, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ich komme zum Ende; letzter Satz. - Wie kann man
nur eine Politik von einem derartig opportunistischen
Verbündeten abhängig machen? In Afghanistan wird ein
neokolonialer Krieg geführt. Steigen Sie aus, bevor es zu
spät ist!
Vielen Dank.
({0})
Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Gert
Weisskirchen, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Afghanistan ist ein Land, von dem wir alle hoffen - ich
denke, dass wir in diesem Punkt übereinstimmen -, dass
es so schnell als möglich aus den Wirren des Krieges
und der gewalttätigen Auseinandersetzungen herausfindet. Wenn das so ist, dann müssen wir uns überlegen:
Was ist der nächste richtige Schritt, den wir gehen müssen?
Der richtige Schritt ist meiner Meinung nach, in Bezug auf die Situation in diesem Land ehrlich zu sein. Das
Land ist in vielen Punkten von Gewalt geprägt. Es gibt
nach wie vor kriegerische Gruppen, Banden, Kriminelle,
die versuchen, das Land auszubeuten, Territorien zu besetzen, Grenzen nicht anzuerkennen. Das kann man beispielsweise an der nicht bestimmten Grenze zwischen
Afghanistan und Pakistan sehr plastisch sehen.
Wenn das die Situation ist, wenn dieses Land und die
Gewählten dieses Landes, sei es der Präsident, sei es das
Parlament, zugleich der Meinung sind, dass Afghanistan
der Hilfe bedarf, und insbesondere wenn und solange die
Vereinten Nationen ein Mandat bereitstellen, damit diesem Lande geholfen werden kann, dürfen wir uns dem
Hilferuf aus diesem Lande nicht entziehen.
({0})
Das ist der entscheidende Punkt, der uns von allen unterscheidet, die einfach über das hinweggehen, was die
Weltgemeinschaft will. Sie will, dass wir diesem Lande
helfen. Dieser Aufforderung, dieser Bitte des Weltsicherheitsrats müssen wir uns stellen.
Es muss immer wieder neu darüber debattiert werden,
wie die Mandate aussehen. Der zentrale Punkt dabei ist:
Wie kann durch Mandate, also durch Produktion von Sicherheit, bewirkt werden, dass die Menschen die eigene
Entwicklung selbst gestalten können?
Ich greife einmal einen Punkt aus dem Afghanistan
Compact - in dem sich ja 51 Staaten dieser Erde im Januar 2006 verpflichtet haben, diesem Land zu helfen heraus: Minenräumung. Dieser Punkt ist jetzt erledigt,
und zwar deshalb, weil wir alle, die internationale Staatengemeinschaft, gemeinsam dazu beigetragen haben,
dass die Minen in diesem Lande geräumt werden konnten. Das ist eine Verpflichtung, die wir übernommen haben, und wir haben diese Verpflichtung erfüllt. Ich wünsche mir, liebe Kolleginnen und Kollegen, besonders
von der Linken, dass wir jetzt versuchen, in der Sache
das abzuarbeiten, was der Afghanistan Compact von uns
gemeinsam verlangt.
Ich nenne ein zweites Beispiel. In dem Compact steht,
dass wir im Rahmen der sozialen Entwicklung des Landes mithelfen, dass am Ende 60 Prozent aller Mädchen
und Jungen gemeinsam in die Primarschule gehen können, davon hoffentlich über die Hälfte - das ist das Ziel Mädchen. Wir sind noch nicht an diesem Punkt angelangt. Es ist noch nicht gelungen, dass über 60 Prozent
aller Jungen und Mädchen in die Primarschule können.
Das ist aber, verdammt noch mal, eine Aufgabe, der wir
uns gemeinsam stellen können! Das ist doch eine Aufgabe, bei der wir gemeinsam unsere Kraft zusammennehmen können, um im Rahmen der Entwicklungspolitik mitzuhelfen, diesen jungen Menschen eine Zukunft
zu geben und die Möglichkeit zu eröffnen, ihr eigenes
Land selbst in die Hand zu nehmen! Das ist ein wichtiger Punkt des Afghanistan Compact.
({1})
Auch ein anderer Punkt hat etwas mit Sicherheit zu
tun - ich will jetzt nicht auf die Armee zu sprechen kommen; die Zahlen hierzu sind bekannt -: der Aufbau der
Polizei. Darunter versteht man nicht Verkehrspolizei in
unserem Sinne. Es handelt sich um Polizeikräfte wie
etwa die Guardia Civil in Spanien oder die Gendarmerie
in Frankreich. Auch an dieser Stelle ist es wirklich zwingend erforderlich, dass wir unsere Anstrengungen verstärken.
Ich bitte um Entschuldigung, dass ich auch diesen
Punkt anspreche - leider ist niemand aus dem Innenministerium mehr anwesend -: Wir warten im Auswärtigen
Ausschuss schon seit Monaten darauf, dass der Innenminister zu uns kommt und mit uns über diesen Punkt debattiert. Wie lange will er eigentlich noch warten? Die
Zahlen, die wir heute früh erfahren haben - der Kollege
Schmidbauer hat darüber gesprochen -, sind verheerend.
Wir haben gegenwärtig 18 deutsche Polizeibeamte in
Afghanistan, in einem Land, das Sicherheit braucht. Wir
haben uns sogar dazu verpflichtet, mitzuhelfen, eine Polizei aufzubauen. Aber wir waren bisher nur in der Lage,
18 deutsche Polizeibeamte dorthin zu schicken.
Gert Weisskirchen ({2})
Die Aufgabe, die wir uns selbst gestellt haben, müssen wir erfüllen. So können wir Afghanistan am besten
helfen.
({3})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
EU-Jahresbericht 2007 zur Menschenrechtslage
Ratsdok. 13288/07
- Drucksachen 16/7070 Nr. A.7, 16/8031 Berichterstattung:
Abgeordnete Holger Haibach
Burkhardt Müller-Sönksen
Volker Beck ({1})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Christoph Strässer,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Es ist mittlerweile gute Tradition geworden, dass der Deutsche Bundestag zu wichtigen menschenrechtlichen Publikationen der Europäischen Union Stellung bezieht. Der 9. Jahresbericht der
EU über die Menschenrechte erstreckt sich über den
Zeitraum vom 1. Juli 2006 bis zum 30. Juni 2007.
Am 21. Juni 2007 haben wir in diesem Hause über
den 8. Jahresbericht debattiert. Ich habe in dieser Debatte die Bundesregierung, die zu jenem Zeitpunkt noch
die Ratspräsidentschaft innehatte, gebeten, alles daranzusetzen, die bereits seit langem textlich existierende
Grundrechtecharta verbindlich zu machen. Als Abgeordneter einer Koalitionsfraktion kann ich nun feststellen - das kann man nicht jeden Tag sagen -: Die Bundesregierung ist diesem Wunsch in vollem Umfang
nachgekommen.
({0})
Mit der feierlichen Verkündung des Grundlagenvertrages vom 12. Dezember 2007 ist auch die Grundrechtecharta endlich für fast alle Staaten der EU verbindlich geworden. Damit sind all die widerlegt, die die
Europäische Union immer noch als ein bürgerfernes,
ausschließlich den Interessen des Großkapitals verpflichtetes und waffenstarrendes Monster diffamieren.
Das Gegenteil ist richtig: Zum ersten Mal gibt es auf
diesem Kontinent, der jahrhundertelang und noch bis
zum Ende des vergangenen Jahrhunderts von totalitären,
demokratie- und rechtsstaatsfeindlichen Systemen geprägt war, ein verbindliches Wertesystem für die in der
EU zusammengefasste Staatengemeinschaft. Dies ist ein
Wertesystem, das geprägt ist von den Grundwerten der
Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, von der
Menschenwürde, von der Rechts- und Sozialstaatlichkeit.
Vor allem: Es gibt Millionen von Menschen die Möglichkeit, zum ersten Mal diese Rechte geltend zu machen, insbesondere hinsichtlich der Verletzung von Gemeinschaftsrecht. Ich denke, dies ist ein großer Erfolg
für die Vervollständigung des Menschenrechtsschutzsystems in Europa. Es ist ein Fortschritt für alle Menschen,
die in den Staaten der EU leben, und damit ein großer
Erfolg für die deutsche und europäische Menschenrechtspolitik. Deshalb geht mein herzlicher Dank an die
Bundesregierung für ihre Bemühungen, die an dieser
Stelle sehr erfolgreich agiert hat.
Insgesamt lässt der Bericht erkennen, dass der Umfang der Tätigkeit der EU im Bereich der Menschenrechte zugenommen hat. Die Instrumente zur Förderung
von Demokratie und Menschenrechten wurden weiterentwickelt. Insbesondere die Entwicklung der fünf Leitlinien
der EU zu den Menschenrechten - zur Todesstrafe, zur
Folter, zu Kindern und bewaffneten Konflikten, zu Menschenrechtsdialogen und zu den Menschenrechtsverteidigern - war ein wichtiger Schritt zu einer zielgerichteten und kohärenten Menschenrechtspolitik der EU.
Positiv ist hervorzuheben, dass auf Initiative des deutschen EU-Ratsvorsitzes hin Leitlinien zur Förderung der
Rechte des Kindes erarbeitet und im Dezember 2007
verabschiedet wurden. Ich wünsche mir im Rahmen der
Schaffung eines zweiten Zusatzprotokolls zur Kinderrechtskonvention einen Fortgang in den Gesprächen, die
gegenwärtig begonnen haben, um so ein Individualbeschwerderecht analog zu anderen UN-Pakten einzuführen. Auch da sollten wir die Bundesregierung in ihrem
Bemühen unterstützen. Soviel ich weiß, gibt es unter den
Ressorts keine großen Meinungsunterschiede. Es wäre
gut, wenn wir in einem Jahr auch hier Erfolg vermelden
könnten.
Wir begrüßen besonders, dass die EU in ihren Strategien verstärkt menschenrechtliche Aspekte in allen Politikfeldern mitberücksichtigt. So wurden im Berichtszeitraum Menschenrechtsfragen systematischer in die
Treffen im Rahmen politischer Dialoge und in andere
hochrangige Treffen zwischen der EU und Drittländern
einbezogen. Wir treten schon lange für ein konsequentes
- ich muss diesen Begriff, der nicht der deutschen Parlamentssprache entspricht, leider aufgreifen - HumanRights-Mainstreaming in allen kohärenten Politikbereichen ein. Das bedeutet, dass wir die Menschenrechte in
sämtlichen Politikfeldern - seien sie international, seien
sie auf Deutschland ausgerichtet - umsetzen wollen. Die
Institutionalisierung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe hier in diesem Hohen
Hause hatte zum Ziel - das darf man, glaube ich, selbstChristoph Strässer
bewusst sagen -, die Menschenrechtspolitik als Querschnittsaufgabe zu verstehen und den Menschenrechten
in allen Politikbereichen ein Sprachrohr zu verschaffen.
Wir begrüßen es, wenn sich dieser Gedanke immer
stärker auch auf europäischer Ebene durchsetzt. Es wäre
sicherlich nicht verkehrt, wenn es in der nächsten Legislaturperiode des Europäischen Parlamentes nicht mehr
nur einen Unterausschuss, sondern einen Vollausschuss
für Menschenrechte gäbe, damit wir auf dieser Ebene einen adäquaten Gesprächspartner für die weitere Arbeit
haben.
({1})
Wir haben zu bewerten, dass insbesondere in zwei Politikbereichen die Arbeit auch institutionell vorangegangen ist. Ich erwähne in aller Kürze den Menschenrechtsrat
der Vereinten Nationen. Dass sich diese Institution bestimmte Strukturen und Verhandlungsmöglichkeiten gegeben hat, ist deshalb gelungen, weil insbesondere die
Europäische Union dort mit einer Stimme gesprochen
hat. Wir haben Verfahrensregeln verabschiedet, die gut
sind und auf deren Basis man arbeiten kann. Ich glaube,
es könnte gelingen, den Menschenrechtsrat endlich zu
einem wirklichen Instrument der Menschenrechtspolitik
weltweit zu machen. Auch dafür lohnen sich alle Anstrengungen.
Ein zweiter Erfolg inhaltlicher Art - auch daran haben die EU, die Bundesregierung und wir in diesem
Parlament sehr massiv Anteil gehabt - ist die Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen
zur Ächtung der Todesstrafe, der sich über 190 Staaten
angeschlossen haben. Dies ist ein sehr wirksames Zeichen - auch wenn sie nicht verbindlich ist -, das letzte
menschenunwürdige Strafsystem endlich abzuschaffen,
und zwar überall auf der Welt, in China wie in den Vereinigten Staaten und überall dort, wo die Todesstrafe noch
existiert. Hier gilt es in der Tat, noch einige Arbeit zu
leisten.
({2})
Man kann allerdings nicht über diesen Bericht diskutieren, ohne an bestimmten Stellen ein wenig Selbstkritik zu üben. Es ist sicherlich richtig: Die EU ist eine
wichtige politische, rechtliche und moralische Instanz.
Ihre Glaubwürdigkeit leidet, wenn wir an uns selbst andere Maßstäbe anlegen als an andere Staaten. Wir müssen deshalb die Außen- und die Innenpolitik noch stärker
miteinander verzahnen. Wir müssen erkennen, dass die
Außen- und die Innenpolitik verschiedene Seiten einer
Medaille sind. Das heißt, nach innen wie nach außen
glaubwürdig zu arbeiten, ist ein wesentliches Ziel der
Politik, die wir in Europa verfolgen müssen.
Das bezieht sich unter anderem auf den Umgang mit
Flüchtlingen. Es kann nicht sein, dass wir die Menschenrechtssituation in vielen Ländern dieser Erde aufs
Schärfste kritisieren und sagen, dass die Menschen dort
unter unwürdigen Bedingungen leben, es aber zulassen,
dass der geringe Teil der Menschen, der überhaupt noch
nach Deutschland kommt, Probleme hat, hier ein Aufenthaltsrecht zu bekommen. Auch hier sollten wir eine
glaubwürdige Politik betreiben;
({3})
ansonsten wird all das, was wir gemeinsam auf den Prüfstand stellen wollen, unglaubwürdig. An dieser Stelle
müssen wir nacharbeiten und besser werden, und dann
bekommen wir in Europa eine vernünftige Menschenrechtspolitik hin.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Burkhardt MüllerSönksen, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Strässer, ich bin sehr
angetan davon, dass Sie ein wenig Selbstkritik geäußert
haben. Als Opposition wollen wir diese Selbstkritik ein
wenig ausdifferenzieren.
Einig sind wir mit Ihnen, dass der EU-Jahresbericht 2007 zur Menschenrechtslage zeigt, dass die EU
ein immer aktiverer Akteur der internationalen Menschenrechtspolitik geworden ist. Allerdings bedeutet das
nicht, dass die EU auch zu einem einflussreicheren, das
heißt effektiveren Akteur der Menschenrechtspolitik geworden ist; denn Anspruch und Wirklichkeit klaffen in
der EU-Menschenrechtspolitik an vielen Stellen leider
noch allzu deutlich auseinander.
({0})
Ein einheitlicher Kurs ist nicht erkennbar. Die EU ist
deshalb noch ein gutes Stück weg von dem selbstgesteckten Ziel, ein starker und vor allem effektiver Akteur
für die Durchsetzung von Menschenrechten zu sein.
Die EU könnte gerade in diesem Bereich weltweit
viel mehr bewegen, wenn sie nach außen mit einer
Stimme sprechen würde. Wenn es Drittstaaten gelingt,
einzelne EU-Mitgliedstaaten oder Gruppen von ihnen
gegeneinander auszuspielen, dann bleibt der Einfluss der
EU meist gering. Das Beispiel Russland zeigt das allzu
deutlich.
Ein weiteres Problem der EU-Menschenrechtspolitik
ist ihre Glaubwürdigkeit. Dieses Problem haben Sie gerade schon angesprochen. Glaubwürdigkeit lässt sich nur
dadurch herstellen, dass ein und dieselben Maßstäbe für
alle gelten. So sollte etwa die Menschenrechtslage in
Staaten, die mit der EU eng zusammenarbeiten, keinesfalls beschönigt werden. Das gilt ganz besondere für die
europäische Nachbarschaftspolitik.
Von großer Bedeutung für die Verbesserung der EUMenschenrechtspolitik ist der Ende 2007 unterzeichnete
Reformvertrag von Lissabon. Nach seinem Inkrafttreten
wird der Menschenrechtspolitik der EU mit dem Hohen
Repräsentanten für Außen- und Sicherheitspolitik ein
Gesicht gegeben. Das wird nicht nur die öffentliche
Wahrnehmbarkeit der EU-Menschenrechtspolitik stärken, sondern auch die Einflussmöglichkeiten. Ebenso
wichtig ist, dass die europäische Grundrechtecharta
durch den EU-Reformvertrag nun endlich Rechtsverbindlichkeit erlangt und damit den Grundrechtsschutz
der EU-Bürger deutlich stärkt. Nicht zuletzt wird die EU
durch den Reformvertrag endlich auch eine eigene
Rechtspersönlichkeit erhalten und dadurch der Europäischen Menschenrechtskonvention beitreten können.
Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft hat am Zustandekommen des Lissabonner Reformvertrages einen
maßgeblichen Anteil gehabt. Das muss und darf ich hier
sagen und anerkennen.
({1})
Genauso deutlich muss ich aber auch die Punkte benennen, bei denen die deutsche Ratspräsidentschaft eine
eher unrühmliche Rolle bei der Gestaltung der EU-Menschenrechtspolitik gespielt hat. Meines Erachtens ist das
eklatanteste Beispiel dafür die Lockerung der EU-Sanktionen gegen Usbekistan, die nach dem blutigen Massaker von Andischan im Mai 2005 verhängt worden waren.
({2})
Die Lockerung der Sanktionen ist maßgeblich aufgrund des Betreibens der Bundesregierung zustande gekommen. Sie erfolgte, ohne dass sich die kritische Menschenrechtssituation in Usbekistan auch nur ansatzweise
zum Besseren entwickelt hat. Auch die bei der Verhängung der EU-Sanktionen geforderte internationale und
unabhängige Untersuchungskommission zum Massaker
von Andischan hat es bisher nicht gegeben. Stattdessen
war für die Bundesregierung allein die Andeutung der
usbekischen Führung, einen Menschenrechtsdialog mit
der EU führen zu wollen, ausreichend, um die Satzungen
zu lockern.
Den Direktor von Human Rights Watch, Kenneth
Roth, veranlasste dieses Verhalten kürzlich in einem Interview zu folgender Bemerkung, der ich mich anschließe:
Wir finden, die Bundesregierung setzt zu sehr auf
Dialog, selbst wenn diese Dialoge inhaltsleer sind.
Wir wünschen uns ein härteres Herangehen mit klaren Maßstäben.
Diesem Standpunkt von Human Rights Watch kann ich
mich an dieser Stelle inhaltlich voll anschließen.
Ein weiterer menschenrechtlicher Sündenfall der
deutschen Ratspräsidentschaft war die Zustimmung zur
Errichtung der EU-Grundrechteagentur. Wofür ist sie eigentlich da? Es ist nach wie vor zweifelhaft, welchen
Nutzen diese Agentur für die Bürger Europas tatsächlich
bringen soll. Es steht zu befürchten, dass diese Agentur
in Bereiche des europäischen Grundrechtsschutzes vordringt, die durch den Europarat bereits sehr gut abgedeckt werden; der Kollege Strässer hat das positiv erwähnt. Zwischen beiden Organisationen fehlt eine klare
Arbeitsteilung - sie müsste auch von diesem Haus definiert werden -, sodass die Doppelung schon vorprogrammiert ist. Ab 2013 soll die Agentur über ein jährliches
Budget in Höhe von sage und schreibe 24 Millionen Euro
verfügen. Ich weiß, dass das für dieses Haus ein kleiner
Betrag ist. Dieses Geld wäre aber beim Europarat, insbesondere beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, weitaus besser angelegt. Denn gerade der Gerichtshof leistet im Bereich des Menschenrechtsschutzes
hervorragende Arbeit, bedarf aber dringend einer Verbesserung seiner Finanzausstattung.
({3})
Statt den Gerichtshof zu unterstützen, hat die Bundesregierung mit der Zustimmung zur Errichtung der
Grundrechteagentur einen weiteren teuren Fall von
Agenturinflation auf europäischer Ebene angeregt und
geschaffen.
Meine Fraktion lehnt aus den dargelegten Gründen
die viel zu unkritische Stellungnahme der Fraktion der
SPD - ich gehe davon aus, dass sich die CDU/CSU dem
ebenfalls relativ unkritisch anschließen wird - zum
Jahresbericht zur Menschenrechtslage ab. Es ist offensichtlich, dass in dieser Stellungnahme vor allem die
menschenrechtliche Bilanz der deutschen Ratspräsidentschaft in ein gutes Licht gerückt werden soll. Hier geht
es jedoch nicht nur um Licht, sondern auch um eine
ganze Menge Schatten.
Wir werden uns schon bald wieder an dieser Stelle
mit der Menschenrechtspolitik der Bundesregierung im
Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft befassen. Dies wird
auf Grundlage einer Großen Anfrage geschehen, welche
meine Fraktion an die Bundesregierung gerichtet hat.
Mit den Antworten der Bundesregierung werden wir kritisch umgehen.
Vielen Dank.
({4})
Ich gebe das Wort der Kollegin Erika Steinbach,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der aktuelle Jahresbericht der Europäischen
Union zur Menschenrechtslage dokumentiert deren
Engagement in diesem Bereich. Kaum ein Aspekt ist dabei ausgeblendet. Die Palette reicht von der Beobachtung der Menschenrechtslage in China oder Usbekistan
über die Generalthemen Todesstrafe, Religions- und
Glaubensfreiheit sowie Menschenhandel bis hin zum
Schutz der indigenen Völker.
Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen wird
ebenso dargestellt wie der Internationale Strafgerichtshof. Ein gravierender Mangel aber ist das Fehlen des
Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes. Er kommt
schlicht und ergreifend nicht im Bericht vor. Ich denke,
das ist ein Versehen. Ich habe ihn jedenfalls nicht gefunErika Steinbach
den. Leider lassen sich insgesamt aus dem Bericht keine
vertieften Erkenntnisse herauslesen. Die Darstellung
bleibt weitgehend an der Oberfläche; in einigen Bereichen ist sie leider zu optimistisch.
Das lässt sich am Abschnitt zur Türkei exemplarisch
belegen. Die Menschenrechtsentwicklung dieses Landes wird in dem Bericht grundsätzlich positiv bewertet,
wie der Einleitungssatz belegt, der lautet:
Der Reformprozess wurde fortgesetzt und die früheren Reformen haben weiterhin zu positiven Ergebnissen vor Ort geführt.
Das ist schlicht falsch.
({0})
Seit Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei stagnieren die Reformen, und vieles, was auf dem
Papier inzwischen an Reformen beschlossen wurde, ist
bis heute leider pure Makulatur. Die Bilanz des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes spricht eine deutliche Sprache. Im vorigen Jahr wurde die Türkei am
häufigsten von allen Ländern wegen Menschenrechtsverletzungen verurteilt. Mit 319 Neuverurteilungen führt
Ankara die traurige Liste an. Erst mit großem Abstand
folgt Russland.
Ein erheblicher Anteil der gegen die Türkei gerichteten Urteile betraf die Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung. „Assimilation ist ein Verbrechen gegen die
Menschlichkeit“, kritisierte der türkische Regierungschef Erdogan. Dazu sage ich ganz deutlich: Er sollte
vom radikalen türkischen Vorgehen gegen die alteingesessene kurdische Minderheit in seinem Lande nicht auf
die Situation in Deutschland schließen. Ich habe den
Eindruck, dass die hier lebenden Türken und türkischstämmigen Deutschen viel weiter sind, als die Verantwortlichen in Ankara es bemerken. In Deutschland gibt
es den breiten politischen Willen, niemanden auszugrenzen, sondern alle einzubeziehen.
In der Türkei allerdings - das muss man sagen - findet seit Jahrzehnten eine Zwangsturkisierung statt. In
keinem europäischen Land werden nach Erkenntnissen
der Gesellschaft für bedrohte Völker - ich glaube, Sie
alle haben die Presseerklärung von Tilman Zülch bekommen - Sprachen und Kulturen der Minderheiten im
Namen der dominierenden Staatsnation so massiv unterdrückt und verfolgt wie in der kleinasiatischen Heimat
des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan.
Erdogan fordert, hier bei uns türkische Universitäten
und Schulen für die in den letzten Jahrzehnten hergezogenen Türken zu errichten.
({1})
In der Türkei gibt es keine einzige kurdische Schule für
diesen seit Jahrhunderten dort lebenden und alteingesessenen Bevölkerungsteil. In der Türkei werden kurdische
Publikationen verboten oder drastisch behindert. Die
Pressefreiheit scheint für Erdogan ohnehin eher lästig zu
sein; diesen Eindruck gewinnt man, wenn man seine aktuellen Äußerungen dazu liest.
Christliche Minderheiten befinden sich in der Türkei
in einem mehr oder weniger rechtlosen Zustand. Wer
über den Genozid an Armeniern, Assyrern und
Chaldäern zu laut nachdenkt, der gerät bis heute unter
massiven Druck. Die Mörder von Hrant Dink sind immer noch nicht verurteilt, und wichtige Beweise sind leider verschwunden. Nach Erfahrungen von Amnesty International wird in der Türkei nach wie vor gefoltert;
meiner Meinung nach hat Europa dieses Thema voreilig
von der diplomatischen Agenda genommen.
Ich muss deutlich sagen: Der bizarre Wahlkampfauftritt des türkischen Regierungschefs in Köln war nicht
nur vor diesem Hintergrund eine Frechheit. Herr
Erdogan sollte mit den Bürgern seines Landes menschlich umgehen. Er sollte ihnen Pressefreiheit und Religionsfreiheit zugestehen. Er sollte die Folter endlich
nicht nur auf dem Papier abschaffen, sondern auch in der
Realität.
Eines ist mir wichtig: Wir werden uns auch nach diesem abstrusen Auftritt von Herrn Erdogan in unserem
Willen zu einem guten und menschlichen Miteinander in
unserem Land nicht beirren lassen. Dazu muss jeder das
Seine beitragen.
Zu guter Letzt: Trotz der Informationsmängel gibt der
vorliegende Bericht zur Menschenrechtslage im Großen
und Ganzen einen Überblick über all das, was die Europäische Union in Menschenrechtsfragen tut. Dadurch
wird dieses Thema befördert. Wo nötig, werden wir
nachhaken, entweder im Ausschuss oder im Plenum.
Denn das sind wir denen schuldig, die in ihrer Menschenwürde und ihren Menschenrechten verletzt sind.
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort hat der Kollege Michael Leutert, Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich nehme erstaunt zur Kenntnis, dass ich heute nicht alleine bin, wenn es darum geht, Kritik zu üben.
({0})
Ich möchte explizit im Namen meiner Fraktion begründen, warum wir den EU-Jahresbericht 2007 zur Menschenrechtslage nicht mit Freude und erst recht nicht zustimmend zur Kenntnis nehmen können.
Von meinen Vorrednerinnen und Vorrednern ist schon
angesprochen worden, dass darin etliche Gesichtspunkte
von Menschenrechtsverletzungen zu differenziert dargestellt werden, während andere Aspekte ausgeblendet
oder ganze Komplexe verschwiegen werden.
Die Beispiele liegen auf der Hand. An der Situation in
Russland und China wird in diesem Bericht viel Kritik
geübt. Das begrüßen wir ausdrücklich; die Kanzlerin hat
sich in dieser Frage auch im Rahmen der deutschen EURatspräsidentschaft sehr stark hervorgetan. Was die
USA betrifft, wird im Abschnitt zum Thema Todesstrafe
aber lediglich darauf hingewiesen, dass die Todesstrafe
auch in den USA existiert. Im Abschnitt zum Thema
Folter werden die USA überhaupt nicht erwähnt. Bei der
Terrorismus- und Menschenrechtsbekämpfung - ({1})
- Das war ein Freud’scher Versprecher, der bei diesem
Bericht allerdings naheliegend ist. - Beim Thema „Terrorismusbekämpfung und Menschenrechte“ spielt sie
nur noch eine untergeordnete Rolle.
Ich möchte eine Stelle des Berichts zitieren - es geht
um die EU-Menschenrechtspolitik und die Vereinigten
Staaten von Amerika -:
Die EU äußerte ihre Bedenken gegen die fortgesetzte Anwendung der Todesstrafe in den USA und
bekräftigte ihre Haltung, dass alle Maßnahmen zur
Terrorismusbekämpfung im Einklang mit den internationalen Menschenrechtsvorschriften stehen müssen.
Mehr wird dazu nicht gesagt. Dabei handelt es sich um
einen 200 Seiten starken Bericht. Dieses Thema, das uns
am meisten interessiert - im Deutschen Bundestag beschäftigt sich übrigens auch ein Untersuchungsausschuss
mit dem Thema „Menschenrechte und Terrorismusbekämpfung“ -, wird auf zwei Seiten behandelt; das entspricht gerade einmal 1 Prozent des gesamten Berichts.
In diesem 200 Seiten umfassenden Bericht steht darüber hinaus:
Wir werden den laufenden Dialog über die für unseren gemeinsamen Kampf gegen den Terrorismus
relevanten völkerrechtlichen Grundsätze, der zu einem besseren Verständnis unseres jeweiligen
Rechtsrahmens geführt hat und zur Zusammenarbeit bei der Terrorismusbekämpfung beitragen
sollte, fortführen und vertiefen.
Nichts weiter! Keine Kritik, keine Analyse und keine
Konsequenzen! Wir sprechen hier angeblich von einem
unserer Verbündeten. Wir sprechen aber auch von einem
Land, in dem die Todesstrafe existiert. Wir sprechen von
dem Land, in dem die Todesstrafe weltweit am fünfthäufigsten angewendet wird. Wir sprechen von einem Land,
das Guantánamo eingerichtet hat. Wir sprechen von einem Land, das fremde Staatsbürger - auch europäische entführt, von CIA-Flügen. Wir sprechen von Verschleppung und von den Black Sites.
Das kommt in diesem Bericht zu kurz. Völlig ausgeblendet wird, dass sich in Untersuchungsausschüssen,
als es um die Behandlung der Aktivitäten deutscher Behörden bei der Bekämpfung des Terrorismus ging, gezeigt hat, dass die Bundesregierung an Aufklärung kein
Interesse hat, dass deutsche Beamte an Befragungen mitgewirkt haben, ohne auf die offenkundige Misshandlung
bzw. Folter des Befragten zu reagieren.
Diese Frage geht uns etwas an, und Amnesty hat in
der Bewertung dieses Berichtes klare Worte gefunden.
Wir brauchen eine stärkere menschenrechtliche Kontrolle der Geheimdienste, zum Beispiel durch einen
Menschenrechtsbeauftragten in der Sicherheitsrunde im
Kanzleramt. Diesem Vorschlag müssten sich eigentlich
alle anschließen können. Doch solange in diesen Berichten Dinge, von denen man meinen könnte, dass sie bloß
Länder außerhalb der EU betreffen, ausgeblendet werden, so lange können wir diese Berichte nicht zustimmend zur Kenntnis nehmen.
Ich möchte wie der Kollege Strässer darauf hinweisen, dass auch die Flüchtlingsproblematik eine völlig untergeordnete Rolle spielt. Es wird nicht angesprochen,
dass Tausende von Flüchtlingen, die von Afrika über das
Mittelmeer zu uns zu kommen versuchen, dabei umkommen und die wenigen, die hier ankommen, keine Möglichkeit haben, einen Asylantrag zu stellen. All das wird
nicht angesprochen. Es wird zwar angesprochen, dass
wir die Richtlinien für den Export von Gerätschaften, die
für Folter und unmenschliche Behandlung geeignet sind,
verschärfen müssen. Aber es wird nicht darauf hingewiesen, dass Mitgliedstaaten der EU gegen die Richtlinien verstoßen. Daraus müssen Konsequenzen gezogen
werden.
Ich möchte an dieser Stelle betonen: Solange wir in
Menschenrechtsfragen mit dem Finger auf andere zeigen, aber nicht über unsere eigenen Defizite sprechen, so
lange untergraben wir unsere Glaubwürdigkeit. Damit
habe nicht nur ich ein Problem, auch der Kollege
Strässer hat das angesprochen. Ich kann auch auf Veröffentlichungen von Amnesty International verweisen. Wir
müssen anfangen, auch Menschenrechtsverletzungen,
die bei uns passieren, zu kritisieren. Wenn wir das nicht
tun, werden wir das Fundament des Wertesystems, das in
Europa nach Jahren der Diktatur aufgebaut worden ist,
untergraben, was den Menschenrechten sicherlich nicht
förderlich ist. Wir würden die Tür dazu öffnen, dass
Menschenrechtsverletzungen wieder an der Tagesordnung sind.
Danke.
({2})
Das Wort hat der Kollege Volker Beck, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei
Menschenrechtsdebatten muss man leider den Eindruck
bekommen, eine Wiederholung zu sehen. Die CDU/
CSU-Fraktion kommt wieder dabei heraus, dass sie eiVolker Beck ({0})
nen EU-Beitritt der Türkei ablehnt, und der Linksfraktion fällt wieder nur ein, Amerika zu kritisieren.
({1})
Konsequente Menschenrechtspolitik muss in der Tat
Menschenrechtsverletzungen, egal wo sie auftreten, mit
der gleichen Elle, den Menschenrechtspakten, messen.
Das muss für Kuba, für China, für Russland und für die
USA gelten, aber auch für uns selber.
({2})
Ich habe das Gefühl, dass es bei einigen Fraktionen in
dieser Hinsicht eine einseitige Fokussierung gibt. Das tut
der Glaubwürdigkeit unserer Menschenrechtspolitik und
unserer Außenpolitik nicht gut.
Guantánamo - das ist zu Recht angesprochen worden ist die Achillesferse des Westens, wenn er international
die Achtung der Menschenrechte anmahnt. Wohin wir
auch kommen, sei es Usbekistan, sei es Turkmenistan,
sei es Russland, überall wird uns Guantánamo vorgehalten. Das schwächt die Menschenrechtsarbeit weltweit,
ganz abgesehen davon, dass Guantánamo für sich genommen ein Skandal ist.
({3})
Deshalb ist es richtig, dass wir darauf hinweisen und in
diesem Zusammenhang unseren amerikanischen Freunden gegenüber Druck machen. Es darf aber nicht bei
wohlfeilen Erklärungen am Redepult bleiben. Konkrete
Taten und Angebote müssen folgen. In Guantánamo sitzt
eine ganze Reihe von Gefangenen ein, von denen die
Amerikaner sagen, dass sie unschuldig sind. Wir können
sie aber nicht in ihre Herkunftsländer zurückführen. Dies
gilt zum Beispiel für Uiguren aus China. Kein Land der
Welt ist bereit, sie aufzunehmen. Ich finde, wer
Guantánamo schließen will, der muss einen Teil der Verantwortung übernehmen, indem er einige dieser unschuldigen Gefangenen aufnimmt. Sonst ist das alles leeres
Geschwätz.
({4})
Meine Damen und Herren, es wurde hier viel Weihrauch in Richtung Bundesregierung in die Luft gelassen.
Ich meine, angesichts der Menschenrechtspolitik im
Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft ist das leider nicht
ganz angemessen.
({5})
- Gut, hinsichtlich der Grundrechtecharta sind wir uns
alle einig. Das war allerdings auch nicht das alleinige
Verdienst der Bundesregierung. Hier sollten wir als
Deutsche doch einmal ein bisschen bescheiden sein. Daran haben auch noch andere in Europa mitgewirkt.
Der Kollege hat vorhin schon das Thema Usbekistan
angesprochen. Es ist in der Tat kein Ruhmesblatt, dass
Deutschland in Brüssel als Lobbyist dafür eingetreten ist,
dass das Sanktionsregime gegenüber Usbekistan gelockert
wurde, ohne dass die internationalen Bedingungen von
Usbekistan erfüllt wurden - nicht eine der drei -, weil wir
Deutschen in Termes einen Militärflughafen unterhalten
und deshalb meinen, uns mit ihnen gut stellen zu müssen.
Wir waren mit dem Ausschuss in dem Land. Wir
sprechen mit dem Botschafter und wissen, wie diese
Leute ticken. Es beeindruckt sie gar nicht, wenn man erst
die Backen aufbläst und sich dann trollt, wenn sie nicht
gleich nachgeben. Das ist bei diesen autoritären Regimen eine Mentalitätsfrage. Für Leute, die sich so verhalten, haben sie nur Verachtung übrig. Deshalb werden sie
die Menschenrechte auf diese Art und Weise nicht besser
respektieren.
({6})
Nächster Punkt zum Thema Ratspräsidentschaft. Es
gibt natürlich immer noch die Malaise, dass Sie bei Ihrem Programm damals das Menschenrechtskapitel vergessen haben. Insofern war es vielleicht auch nicht ganz
zufällig, dass dieses „Ruhmesblatt“, was ich gerade zitiert habe, auf Ihr Konto geht.
Der Bericht, den die EU vorgelegt hat, ist durchaus
besser, als manche Reden es glauben machen. Frau Kollegin Steinbach, die Fundstelle zu der von Ihnen vermissten Passage zum Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte ist die Mitte der Seite 131 des Jahresberichts.
({7})
- Sie ist nicht versteckt, sondern sie steht im Fließtext
unter „Europarat“, wo sie auch hingehört. - Dort wird zu
Recht ein wichtiges Kapitel angesprochen, das wir mit
der Russischen Föderation besprechen müssen - auch
nach den Präsidentenwahlen wieder. Das 14. Zusatzprotokoll muss endlich unterzeichnet werden, weil das der
entscheidende Grund dafür ist, weshalb der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte in nutzloser Arbeit ersäuft und die Menschen kein schnelles Urteil erhalten,
sondern ewig darauf warten müssen, was den Russen
ganz recht ist. Dem müssen wir natürlich entgegenwirken.
Die FDP hat in diesem Haus wieder mit dem Ausspielen der EU-Grundrechteagentur gegen den Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte begonnen. In der Tat:
Einerseits müssen wir die Verfahren des Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte durch das Zusatzprotokoll schneller und effizienter machen, und andererseits
müssen wir etwas mehr Geld investieren und zusätzliche
Richterstellen schaffen, damit dort besser gearbeitet werden kann, weil der Mangel von der Türkei und von Russland besonders ausgenutzt wird.
({8})
Der EU-Grundrechteagentur wurde aber eine ganz
andere Aufgabenstellung hinsichtlich der Länder der Europäischen Union erteilt. Eine Einzelfallbeschwerde
setzt immer voraus, dass man den nationalen Rechtsweg
vom Amtsgericht bis zum Bundesverfassungsgericht
durchlaufen und danach den Europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte angerufen hat. Jede nationale recht14964
Volker Beck ({9})
liche Remedur muss ausgeschöpft sein. Von der EUGrundrechteagentur müssen Missstände auch dann angepackt werden, wenn sie allgemeiner sozialer Natur sind
und wenn sich die Menschen vielleicht gar nicht auf den
Rechtsweg begeben. Als Beispiele nenne ich die skandalöse Situation der Roma in Europa, die auch in dem Bericht angesprochen wird, und die Homophobie in Europa
und besonders in Polen. Das zweite Thema wird die EUGrundrechteagentur in diesem Jahr zuerst anpacken.
Herr Kollege Beck, Ihre Redezeit ist überschritten.
Bei bestimmten Problemfeldern hinsichtlich der Menschenrechte kann man die soziale Situation aufgreifen
und für die europäische Politik entsprechende Maßnahmenkataloge jenseits des Rechtlichen entwickeln und
vorschlagen.
Deshalb hat in diesem Bereich alles seine Funktion,
wodurch die Menschenrechte, wenn es sinnvoll gemacht
wird, in Europa weiter vorangebracht werden.
Vielen Dank.
({0})
Ich gebe der Kollegin Dr. Herta Däubler-Gmelin das
Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der neunte Menschenrechtsbericht aus dem
Jahr 2007 zeigt in der Tat, dass wir in Europa in der
Menschenrechtspolitik gute Schritte vorankommen. Hier
kann man die deutsche Präsidentschaft wirklich loben:
Sie hat sehr erfolgreich Schwerpunkte gesetzt. Neben allem, was schon gesagt wurde, zeigt er auch, dass wir auf
einem guten Wege hin zu einer gemeinsamen Menschenrechtspolitik sind, die auf einheitlichen inhaltlichen
Grundlagen beruht. Auf dem Weg dorthin heißt aber,
dass es noch vieles zu tun gibt. Bevor ich mich dem zuwenden werde, will ich nochmals darstellen, warum wir
die Gemeinsamkeit dieser einheitlichen Grundlagen in
der Menschenrechtspolitik als so wichtig ansehen.
Menschenrechte sind nach unserer Auffassung kein
Beruhigungsmittel für ethisch Hochstehende oder für
Sonntagsprediger, sondern die essenziellen, unverzichtbaren Pfeiler für jede friedliche und zukunftsfähige
menschliche Ordnung. Dies gilt für uns selber in unserem Lande, aber natürlich auch für die Europäische
Union, die sich mit Nachdruck und in erheblichem
Tempo aus dem Bereich der Wirtschaft in den Bereich
der Politik fortentwickelt. Dies bedeutet aber, wenn man
es ganz pragmatisch anspricht, dass Menschenrechtsfragen eben keine in einer besonderen Schublade aufzubewahrenden Fragen sind, sondern dass sie als Querschnittsfragen in jeden Sachbereich der Politik
nachprüfbar Eingang finden müssen. Auch dies gilt für
die Bundesrepublik Deutschland ebenso wie für die Europäische Union.
Was gut war an der EU-Menschenrechtspolitik, ist
zum Teil schon angesprochen worden. Eine gemeinsame
und einheitliche Menschenrechtshaltung hat es im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen in dem ersten kritischen Jahr gegeben, als es darum ging, die neuen Instrumente sowie das, was man aus dem alten Bestand
noch an Zusätzlichem präzisierend übernimmt, für die
Zukunft fortzuentwickeln. Gut war auch die Initiative
zum Moratorium bei der Todesstrafe. Wir können in Europa und gerade auch in dem Bereich, den Frau
Steinbach angesprochen hat, dem Europa des Europarates, gute Erfahrungen vorweisen, weil wir sehen, dass
die Veränderungen hinsichtlich der Todesstrafe in den
neuen Mitgliedstaaten des Europarats und zum Teil auch
der Europäischen Union eben nicht zu den befürchteten
Verwerfungen oder gar zu einer Zunahme von Schwerstkriminalität geführt haben.
Aber es gibt natürlich auch etliche Punkte, bei denen
wir noch mehr Gemeinsamkeit und mehr inhaltliche
Übereinstimmung brauchen und sich diese in der Praxis
bewähren müssen. Das ist zum einen die mehrfach angesprochene Zusammenarbeit zwischen Europäischer
Union und Europarat. Dies betrifft die Menschenrechtsagentur, weil wir Doppelarbeit nicht wollen; darüber haben wir hier schon ausführlich geredet. Dies betrifft im
Bereich des Europarats aber auch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Hier ist es mir außerordentlich wichtig, dass die Europäische Union, die für
diesen Gerichtshof ja nicht zuständig ist, wenigstens bei
ihren Mitgliedstaaten dafür sorgt, dass sie ein zuverlässiges Menschenrechtsschutzsystem auf nationaler Ebene
haben. Dies würde nämlich dazu führen, dass die hemmungslose Überlastung des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte wenigstens zum Teil vermieden
wird. Das betrifft nicht nur die Russen, sondern eben
auch - lassen Sie es mich einfach sagen - unsere italienischen Freunde.
Hinsichtlich des Internationalen Strafgerichtshofs haben wir auch noch einen Nachholbedarf, und zwar nicht
nur bei den neuen Mitgliedstaaten des Europarates.
Auch die Tschechische Republik ist noch nicht Mitglied
des Internationalen Strafgerichtshofs. Hier müssen wir
im Zuge der Gemeinsamkeit und der einheitlichen Menschenrechtsgrundlage dafür sorgen, dass die Verfolgung
schlimmster Menschheitsverbrechen durch den Internationalen Strafgerichtshof wenigstens als gemeinsames
ethisches und juristisches Minimum für alle Staaten der
Europäischen Union gilt.
({0})
Gut ist es auch, dass die Europäische Union im Bereich der europäischen Nachbarschaftspolitik den Menschenrechten einen größeren Raum einräumen wird. So
steht es in dem Bericht. Dass dies in der Praxis ganz
schwer durchzuhalten sein wird, wird uns allen sehr
deutlich, wenn wir an den Nahen Osten mit seinen unendlich schwierigen Konflikten zwischen Israel und Palästina denken. Wir werden, wie gesagt, im Bereich der
Nachbarschaftspolitik darauf achten müssen, dass Menschenrechte nicht nur auf dem Papier bestehen.
Wichtig ist, dass es im Zusammenhang mit der UN
mit Gemeinsamkeit und Klarheit weitergeht. Ich verweise dabei auf das Zusatzprotokoll zum Internationalen
Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte,
bei dem es um die Individualbeschwerde geht, die für
die Verankerung des Bewusstseins für Menschenrechte
bei den Bürgerinnen und Bürgern in dieser Rechts- und
Kulturgemeinschaft sehr wichtig ist. Wichtig ist, dass
diese Initiative, die auch von deutscher Seite einheitlich
und stark unterstützt wird, auf einer gesamteuropäischen
Grundlage stärker vorangetrieben werden kann.
Lassen Sie mich noch auf die gemeinsame Flüchtlingspolitik eingehen, die auch eine Rolle gespielt hat.
Es ist ein Skandal, was sich derzeit bei unseren Freunden
in Griechenland abspielt. Das hat zwei Aspekte, und
zwar einen europäischen, dem in einer besseren Zusammenarbeit Rechnung getragen werden muss, und einen
nationalen, nämlich dass man Flüchtlinge nicht mehr
dorthin schicken kann, solange sich die Verhältnisse
nicht verbessern.
Da wir gut daran tun, nicht nur die Balken im Auge
der anderen zu sehen, sondern auch bei uns selber weise
ich darauf hin, dass auch bei uns im Rahmen der europäischen Flüchtlingspolitik Verbesserungen zum Beispiel im Umgang mit Flüchtlingen, die Opfer von Folter
und traumatisiert sind, notwendig sind.
Was den Schutz der Menschenrechte bei der Bekämpfung des Terrorismus angeht - er ist schon angesprochen
worden -, können wir eine Menge tun. Dabei geht es um
konkrete Maßnahmen, die nicht nur die CIA-Flüge betreffen, sondern zum Beispiel auch die Möglichkeit, sich
auf europäischer Ebene gegen die unberechtigte Aufnahme in sogenannte Terrorlisten zu wehren.
Damit will ich die Aufzählung von Beispielen beenden. Ich könnte sie zwar fortsetzen, aber ich bin sicher,
dass das segensreiche Instrument des Berichts zur Menschenrechtslage dafür sorgen wird, dass wir auch im
nächsten Jahr eine Menge zu tun haben werden. Im Bereich der Menschenrechtspolitik der EU gibt es noch
viel zu tun.
Herzlichen Dank.
({1})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Holger Haibach, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt keinen
Kontinent und kein Land auf dieser Welt, wo es keine
Menschenrechtsverletzungen gibt. Das gilt auch für die
Europäische Union, die Vereinigten Staaten von Amerika und für jedes andere Land.
Derjenige aber, der wie der Kollege Leutert in der Debatte so undifferenziert angreift, tut, glaube ich, der
Wahrung der Menschenrechte genauso wenig einen Gefallen wie diejenigen, die Menschenrechtsverletzungen
innerhalb der Grenzen der Europäischen Union verschweigen. Ich finde, Sie sind unredlich, wenn Sie die
Dinge so angehen.
Ich finde es auch nicht richtig, dass Sie eine renommierte Organisation wie Amnesty International zum
Kronzeugen Ihrer Aussagen machen. Es gibt nämlich einen Unterschied: Die Berichte von Amnesty International sind sehr differenziert und gehen in genauen Abstufungen darauf ein, ob zum Beispiel Folter systematisch
oder - was auch schlimm ist - gelegentlich vorkommt
und ob sie staatlicherseits angeordnet wird oder durch
einzelne Dienststellen erfolgt. Der Unterschied zwischen
der Europäischen Union und anderen Ländern ist nicht
der, dass es das bei uns nicht gibt. Der Unterschied ist,
dass es bei uns nicht staatlich angeordnet wird und dass
wir Rechtswege haben, über die sich Menschen beschweren können. Das gilt für Deutschland, für die Europäische Union und - auch wenn Sie es nur schwer ertragen können - auch für die Vereinigten Staaten von
Amerika; dort in besonderem Maße.
({0})
In vielen Ländern - nicht nur in der Europäischen
Union, sondern auch in den USA - ist derzeit eine vitale
Debatte im Gange über die Frage, was im Kampf gegen
den Terrorismus erlaubt ist und was nicht. Der amerikanische Präsident hat sein Veto gegen den Beschluss des
Senates eingelegt, das Waterboarding bei CIA-Einsätzen
zu verbieten. Aber dass diese Diskussion stattfindet und
dass es einen obersten Gerichtshof gibt, bei dem Menschen Beschwerde einlegen können, unterscheidet die
USA und die Europäische Union von Ländern wie China
und zum Teil auch von Ländern wie Russland, Usbekistan und viele andere, die in dieser Debatte schon eine
Rolle gespielt haben. Ich bleibe dabei: Ich finde es unredlich, Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Damit wird
den Menschenrechten kein großer Gefallen getan.
({1})
Des Weiteren möchte ich die Fokussierung ansprechen. Der Kollege Beck, der leider nicht mehr da ist, hat
gesagt, es würden immer nur die USA genannt. Erika
Steinbach hat die Türkei angesprochen. Die Türkei will
genauso wie andere Staaten Mitglied der Europäischen
Union werden. Ein Mitglied der Europäischen Union hat
sich aber gewissen Regeln zu unterwerfen und zum Beispiel die Kopenhagener Kriterien zu erfüllen. Dazu gehört die Einhaltung der Menschenrechte. Wenn in einem
Fortschrittsbericht festgestellt wird, dass die Menschenrechte nicht eingehalten werden, dass es in manchen Bereichen sogar Rückschritte bei der Umsetzung gibt, dann
darf man das in dieser Debatte in aller Deutlichkeit sagen. Das heißt nicht, dass es in anderen Ländern besser
ist. Aber es ist jedenfalls ein Fakt, den wir an dieser
Stelle festhalten dürfen und festhalten müssen.
Wenn sich die oberste Organisation der Aleviten in
Deutschland zur Sache meldet und sagt, Herr Erdogan
übersehe bei seiner Kritik an der Situation in Deutschland, dass in der Türkei im Zusammenhang mit den Aleviten sehr viel Schlimmeres passiere, dann ist das keine
Kritik der CDU/CSU-Fraktion, sondern die Kritik einer
betroffenen Religionsgruppe, die deutlich macht, dass
zwar Menschenrechte nicht gegeneinander abgewogen
werden können, dass wir aber darüber reden müssen, wie
es religiösen Minderheiten zum Beispiel in der Türkei
geht. Auch das muss in dieser Debatte deutlich gemacht
werden.
({2})
Ich möchte auf den EU-Jahresbericht 2007 zur Menschenrechtslage zurückkommen. Ich finde es sehr gut,
dass der Kollege Beck ihn offensichtlich von vorne bis
hinten durchgelesen und tatsächlich die Stelle gefunden
hat, an der der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erwähnt wird. Ich finde es ebenfalls bemerkenswert, dass der Europarat als nach meiner Meinung wichtigstes Korrespondenzgremium der Europäischen Union
auf einer halben bis dreiviertel Seite abgehandelt wird.
Das zeigt, welche Bedeutung die Europäische Union
dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und
dem Europarat beimisst und welcher Wille zur Zusammenarbeit an der einen oder anderen Stelle herrscht.
Wir alle haben uns darüber gesorgt, dass die Einrichtung einer Europäischen Grundrechteagentur vor allem
in der Zusammenarbeit mit dem Europäischen Gerichtshof zu Problemen führt. Aber, Herr Kollege MüllerSönksen, wir sollten unsere eigenen Erfolge nicht
schlechtreden. Es ist das Verdienst dieser Bundesregierung, dass das Mandat dieser Agentur und ihre personelle Ausstattung deutlich eingeschränkt wurden und
dass deutlich gemacht wurde, dass es eine klare Strukturierung der Zusammenarbeit zwischen Europäischem
Gerichtshof auf der einen Seite und Agentur auf der anderen Seite geben muss. Die Tatsache, dass der Europarat inzwischen durch Berater gewissen Einfluss darauf
nehmen kann, was in der Agentur geschieht, stellt einen
Fortschritt dar. Sicherlich haben wir uns noch etwas anderes gewünscht. Aber wir sollten unseren eigenen Erfolg - das ist ein Erfolg des Bundestages; wir haben das
auf die Tagesordnung gesetzt - nicht schlechtreden.
({3})
Herr Kollege Beck hat gesagt, es sei ein Problem, dass
immer erst der nationale Rechtsweg ausgeschöpft werden
müsse, bis der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte angerufen werden könne. Ich finde, das hat seinen
guten Grund. Viele der 80 000 bis 100 000 unbearbeiteten
Fälle, die in Straßburg liegen, sind von vornherein nicht
zulassungsfähig, weil sie unbegründet sind oder weil sie
nicht dorthin gehören. Das hat etwas damit zu tun, dass
es Länder gibt, in denen der nationale Rechtsweg nicht
funktioniert; das wissen wir. Bestimmte Mitgliedstaaten
des Europarates haben den nationalen Rechtsweg so organisiert, dass er offensichtlich nicht funktioniert und
dass die Justiz nicht unabhängig, frei und fair handeln
und urteilen kann. Das müssen wir benennen. Aber zuerst muss immer der nationale Rechtsweg eingeschlagen
werden; das ist das Primat. Sonst überfordern wir den
Europäischen Gerichtshof. Wir haben uns auf unseren
Vorschlag im Rechtsausschuss des Europarates darauf
geeinigt, dass es für die Länder, in denen der Rechtsweg
nicht funktioniert, bestimmte Klauseln geben soll. Aber
das muss die Ausnahme und darf nicht die Regel sein.
Insgesamt hat die Bundesregierung während ihrer
halbjährigen Präsidentschaft unter schwierigen Bedingungen hervorragende Arbeit geleistet. Es gibt vieles,
was wir verbessern müssen, es gibt vieles, woran wir arbeiten müssen. Aber das ist anderen Präsidentschaften
vorbehalten. Ich bin der Überzeugung, dass die Bundesregierung und auch dieser Deutsche Bundestag ihren
Beitrag dazu leisten werden.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf
Drucksache 16/8031 zu der Unterrichtung durch die
Bundesregierung über den EU-Jahresbericht 2007 zur
Menschenrechtslage. Der Ausschuss empfiehlt, in Kennt-
nis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der SPD und der CDU/CSU
bei Gegenstimmen der FDP und der Fraktion Die Linke
und bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entschuldung mittelloser Personen, zur Stärkung
der Gläubigerrechte sowie zur Regelung der
Insolvenzfestigkeit von Lizenzen
- Drucksache 16/7416 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung und
Vereinfachung der Aufsicht in Insolvenzverfahren ({1})
- Drucksache 16/7251 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Kolleginnen und Kollegen! Wenn eine Rechtsmaterie wenige Jahre nach ihrer Verabschiedung schon
wieder auf der Tagesordnung steht, dann kann das verschiedene Ursachen haben. Beim Insolvenzrecht ist die
Ursache der Zuspruch, den das geltende Recht erfahren
hat. Die Länder sehen sich in einer Weise belastet, dass
sie uns aufgefordert haben, das Verfahren zu überdenken
und Vorschläge zu machen, wie man vor allen Dingen
die Durchführung des Verfahrens für die Länder kostengünstiger gestalten kann. Das war der Anlass dafür, dass
wir darüber zunächst in einer Arbeitsgruppe des Bundes
und der Länder nachgedacht haben. Dann aber haben wir
einen eigenen Vorschlag gemacht, um den Gedanken des
Sozialstaats noch mehr zu betonen.
Viele Menschen nutzen die Verbraucherinsolvenz in
diesem Lande, und auch die Restschuldbefreiung wird in
einem hohen Maße nachgefragt. Wir würden uns wünschen, es wären weniger Menschen, die dieses Angebot
nachfragen. Im vergangenen Jahr waren es rund 105 000.
Nun kann man sagen, dass es schlecht ist, dass es so
viele sind. Die gute Nachricht aber ist, dass unser
Rechtssystem überhaupt verschuldeten Individualpersonen eine Möglichkeit gibt, sich wieder zu entschulden.
Ich glaube, dass das eine wirklich gute Möglichkeit für
jeden ist, noch einmal von vorne anzufangen und den
Neustart zu wagen.
Die Praxis zeigt nun allerdings, dass das bisherige
Verfahren, das generell bei allen gilt, egal ob sie Geld in
der Zukunft zu erwarten haben oder nicht, doch sehr verwaltungsaufwendig ist, insbesondere wenn ein Schuldner mittellos ist und man weiß, dass es aller Voraussicht
nach keine signifikanten Einnahmen in den nächsten
Jahren geben wird. Dann macht die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens in der jetzigen Struktur - das muss
man dazu sagen - keinen Sinn. Es ist nämlich jetzt so,
dass es öffentliche Bekanntmachungen gibt, dass es Zustellungen gibt, dass Termine einzuhalten sind, dass Termine nachgehalten werden müssen, dass der Treuhänder
bestellt wird und dass man regelmäßig nachforschen
muss, ob Geld eingegangen ist oder nicht. All das verursacht Kosten, die man sparen kann, weil, wie gesagt, ohnehin nicht davon ausgegangen werden kann, dass Geld
in signifikanter Höhe eingehen wird. Das heißt also, die
Justiz könnte das Geld, das sie im Moment ausgibt, um
das Verfahren zu kontrollieren und zu gestalten, sehr viel
sinnvoller verwenden, zum Beispiel indem sie mit den
Sozialministerien der Länder gemeinsam die Schuldnerberatungsstellen besser ausstattet und finanziert,
({0})
um Prävention zu ermöglichen; denn es ist so wie in anderen Verfahren auch: Prävention ist immer besser, als
hinterher die Folgen bereinigen zu müssen.
Wir schlagen mit unserer Reform vor, dass wir künftig auf ein Insolvenzverfahren verzichten, wenn die
Masse nicht einmal ausreicht, um die Kosten dieses Insolvenzverfahrens zu decken. In solchen Fällen soll es
künftig aus dem Stadium des Eröffnungsverfahrens direkt in das Restschuldbefreiungsverfahren gehen. Wir
wollen in diesen Fällen einen vorläufigen Treuhänder
einsetzen. Ob das in jedem Fall zwingend erfolgen muss
oder ob andere Varianten sinnvoller sind, werden wir im
Laufe des Verfahrens zu diskutieren haben.
({1})
Auf alle Fälle, Herr Manzewski, kann ein vorläufiger
Treuhänder den Schuldner unterstützen. Das dient natürlich auch dem Interesse der Gläubiger. Denn die Gläubiger wollen ja Gewissheit über die wirtschaftliche Situation des Schuldners haben. Dabei kann ein vorläufiger
Treuhänder sehr hilfreich sein.
Der Stärkung der Gläubigerposition dient auch der
zweite Schwerpunkt dieses Gesetzentwurfs. Ich will
ganz offen sagen, dass wir die öffentlich-rechtlichen
Gläubiger im Blick haben, also die Sozialversicherungsträger und die Finanzämter. Sie treffen heute bisweilen
hohe Forderungsausfälle, unter denen letztlich alle Steuerzahler und Versicherten zu leiden haben. Allerdings
- darauf lege ich aus gegebenem Anlass Wert - sieht
dieser Gesetzentwurf keine Sonderregelung für eine bestimmte Gläubigergruppe vor; denn die neuen Vorschriften sollen allen Gläubigern zugute kommen. Wir beachten also hierbei den Grundsatz der Gleichbehandlung
ganz genau. Die Position der Gläubiger im Verfahren
wird verbessert. Ich denke, damit ist dann auch die alte
und leidige Debatte um eine Einschränkung der Insolvenzanfechtung erledigt.
Der dritte Regelungsgegenstand, den wir vorsehen, ist
die Insolvenzfestigkeit von Lizenzen. Nach der Insolvenzordnung ist das bislang nicht geregelt. Das kann für
denjenigen, der eine Lizenz hat, schwerwiegende Folgen
haben. Stellen Sie sich vor, ein Unternehmen erwirbt
eine Patentlizenz und entwickelt auf Grundlage dieser
Lizenz mit einem großen finanziellen Aufwand erfolgreiche Produkte. Dann wird aber der Lizenzgeber insolvent, und der Verwalter kündigt den Lizenzvertrag. Nun
passiert das Gleiche wie bei einem Bauklötzchenturm:
Wenn auf einmal unten ein Stein herausgezogen wird,
bricht der ganze Turm zusammen. Das ist eine schwierige Situation. Deswegen wollen wir die Insolvenzfestigkeit von Lizenzen einführen, eine Regelung, die es in
den Vereinigten Staaten und Japan längst gibt.
({2})
Ich meine, auch mit Blick auf die globale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft sollte das ein Gesichtspunkt sein.
Der Vorschlag, den wir vorgelegt haben, ist ein vernünftiger Kompromiss zwischen den verschiedenen Interessen. Ich weiß natürlich, dass keineswegs alle der
Auffassung sind, dass man eine solche Regelung aufnehmen sollte.
Meine Damen und Herren, wir werden in den Beratungen, die dem Hause bevorstehen, auch den Gesetzent14968
wurf des Bundesrates anschauen, der in diesem Zusammenhang vorgelegt wurde. Auch er enthält manches
Bedenkenswerte. Ich denke beispielsweise an die Idee
eines vorläufigen Gläubigerausschusses. Mit diesem
vorläufigen Gläubigerausschuss hängt auch die Frage
zusammen, wie viel Einfluss die Gläubiger auf die Auswahl des Insolvenzverwalters bekommen sollen. Eine
falsche Personalauswahl kann erhebliche Folgen haben.
Deswegen ist die Überlegung richtig, den Gläubigern
dabei mehr Kompetenzen und Mitsprache einzuräumen
als bisher.
Das ist allerdings erst der Anfang einer größeren Debatte. Ich meine, dass wir diese Debatte im Sinne einer
vernünftigen Weiterentwicklung des Insolvenzrechtes
führen sollten. Das ist ein Rechtsgebiet, auf dem wir immer einmal wieder Veränderungen vornehmen müssen.
Ich danke Ihnen bereits im Vorgriff auf die Debatte; denn
die Beratungen zu diesem Gesetzentwurf werden sicherlich wieder mit der hinreichenden Sachkunde des Hauses, aber auch unter Beiziehung auswärtiger Sachverständiger geführt werden können.
({3})
Ich erteile der Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger von der FDP-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute erneut in kurzer
Folge über das Insolvenzrecht beraten, dann hat das zum
einen die von Ihnen, Frau Ministerin, dargelegten
Gründe. Es ist notwendig, sich mit der Ausgestaltung gewisser Verfahren zu befassen. Aber zu Beginn dieser Debatte muss einfach noch einmal ein Hinweis auf einen
Vorgang im Deutschen Bundestag im November letzten
Jahres gegeben werden.
({0})
Wie wir alle uns erinnern, fand da die zweite und dritte
Beratung des Gesetzentwurfs zur Änderung des Vierten
Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze statt. Der
Rechtsausschuss war nicht beteiligt.
({1})
Es wurde genau diejenige Regelung beschlossen, die im
Rechtsausschuss alle Fraktionen einvernehmlich abgelehnt hatten. Das war ein Vorgehen im Parlament, das
gerade uns als Rechtspolitiker nicht so gefreut hat. Mit
dem vorgelegten Gesetzentwurf und den anstehenden
Beratungen besteht jetzt die Gelegenheit, noch einmal zu
überlegen, inwieweit wir zu Korrekturen kommen können, natürlich immer unter Beteiligung aller, die da
gerne mitreden möchten. Das, was hier im November
geschehen ist, war kein gelungener Vorgang.
Jetzt, da wir uns mit dieser Vorlage und mit insolvenzrechtlichen Themen befassen, haben wir es mit einem erfreulicheren Vorgang zu tun. Ich darf für die FDP-Fraktion sagen, dass wir in dem vorliegenden Gesetzentwurf
vom Grundsatz her viele positive Ansätze sehen. Das beginnt mit dem Entschuldungsverfahren. Vielleicht ist es
Ihnen auch so ergangen, dass Sie - nach dem, was man
auch aus den Ländern gehört hatte - Befürchtungen hatten, dass möglicherweise fiskalpolitische Interessen und
Überlegungen der Länder, die selbstverständlich berechtigt sind, hier überwiegen und dass damit rechtsstaatliche Standards Schwierigkeiten haben, sich zu behaupten.
Jetzt liegt ein Entwurf vor, der eine systemimmanente
insolvenzrechtliche Entschuldungslösung klar erkennen
lässt. Wir begrüßen nach diesen Debatten die Richtung,
die eingeschlagen wird. Frau Ministerin, Sie haben zu
Recht gesagt: In den Beratungen im Bundestag wird sich
zeigen, ob das, was jetzt vorliegt, auch so beschlossen
wird. Denn die aus dem Hut gezauberte Figur des vorläufigen Treuhänders bedarf mit Sicherheit noch einmal
der genauen Betrachtung. Diese Figur ist ja ein Supermensch. Was er alles machen soll: nicht nur Formulare
ausfüllen, sondern auch Anfechtungstatbestände prüfen,
Barmittelsichtungen durchführen, Kosten prüfen, Berichte erstatten usw., und das für eine Grundvergütung
von 250 Euro. Ob das alles der bisherigen Rechtsprechung entspricht und ob es Bestand haben wird, müssen
wir - zumindest was die Vergütungsregelung für Treuhänder angeht - mit Sicherheit prüfen. Dazu gibt es
schon eine Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs.
Es ist auch zu hinterfragen, ob ein obligatorischer
vorläufiger Treuhänder auch der endgültig bestellte
Treuhänder sein soll. Wir sollten in Ruhe auch noch einmal der Frage nachgehen, ob das mit der Unabhängigkeit des Verwalters in Einklang zu bringen ist.
({2})
Eine Kostenbeteiligung des Schuldners in maßvollem
Umfang halten wir sehr wohl für angebracht. Denn wir
sind schon der Meinung, dass man dem Schuldner vor
Augen führen soll, dass er das Ergebnis einer Entschuldung - das ist schon eine Rechtswohltat, die wir auch
wollen - nicht zum Nulltarif bekommt. Allerdings erscheint es uns sinnvoll, zu prüfen, ob man die Kostenbeteiligung an der Pfändungsfreigrenze oder an der
niedrigeren Grenze der Beratungs- bzw. Prozesskostenhilfeberechtigung festmacht. Auch das ist ein Gegenstand für die Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuss zu einigen Punkten, die wir alle, wie ich glaube,
beantragen und durchführen wollen.
Der zweite Schwerpunkt des Gesetzentwurfs betrifft
die Stärkung der Gläubigerrechte; Frau Ministerin, Sie
haben das angeführt. Jetzt möchte ich einen Bogen zu
dem schlagen, was ich ganz zu Anfang bemerkt habe.
Hier geht es natürlich wieder um Finanzverwaltung und
Sozialkassen. Ich kann mich gut an die Debatten erinnern, die wir geführt haben, als uns schon einmal ein
entsprechender Entwurf vorlag. Es ging darum, wie es
mit diesen so erheblichen Verlusten tatsächlich ist, die da
erlitten werden. Wir hatten im Rechtsausschuss zu Recht
eine etwas vorsichtigere Bewertung und Betrachtungsweise, als andere sie bei diesem Punkt an den Tag legen.
Das, was jetzt vorliegt, wird doch eher als bei früheren
Versuchen dem Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung gerecht. Wir müssen jetzt aber sehr wohl sehen, wie
das zu dem passt, was im Vierten Buch Sozialgesetzbuch
beschlossen worden ist und wie weit wir hier möglicherweise zu Korrekturen kommen können.
Kurz noch zum dritten Regelungskomplex, der Insolvenzfestigkeit von Lizenzen. Das ist eine notwendige
Regelung. Insofern teilen wir die Einschätzung, die mit
der Vorlage dieses Entwurfs zum Ausdruck kommt. So
wie die Regelung jetzt angelegt ist, kann sie grundsätzlich geeignet sein, denke ich, einen angemessenen Ausgleich der Interessen aller Beteiligten herbeizuführen.
Ob man sie noch praxisgerechter formulieren kann - wir
alle haben schon entsprechende Vorschläge vonseiten
derer bekommen, die damit umzugehen haben -, werden
wir mit Sicherheit noch in Ruhe zu beraten haben. Zu
der Überlegung: „Soll man das alles im materiellen
Recht verankern?“ muss ich sagen: Das wäre natürlich
der ganz große Wurf. Aber mit den Regelungen, gerade
auch des neuen § 108 a Insolvenzordnung, ist hier der
richtige Ansatz gewählt worden.
Ein letztes Wort zur Bundesratsinitiative, die mit zur
Beratung ansteht: Dass der Grundansatz nachvollziehbar
ist, sage ich hier deutlich. Auf keinen Fall dürfen wir aber
in die Richtung gehen - wir haben uns ja gerade mit dem
Normenkontrollrat befasst -, durch Klein-Klein neue bürokratische Hemmnisse aufzubauen. Eine Pflichtversicherung muss nicht immer der richtige Schritt sein. Was das
für die Versicherungswirtschaft und überhaupt an Kostenbelastung bedeutet, bedarf bestimmt noch einer intensiven Prüfung.
Vielen Dank.
({3})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Günter Krings,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Gestatten Sie mir, mit einem negativen
Faktum anzufangen. Wir haben - nach einer Studie des
Unternehmens Creditreform - im letzten Jahr einen traurigen Rekord verzeichnen müssen, nämlich den Rekord
von 109 000 Verbraucherinsolvenzen. Die Schallmauer
von 100 000 wurde zum ersten Mal durchbrochen - trotz
guter Konjunkturdaten in unserem Land. Obwohl die
Zahl der Unternehmensinsolvenzen im gleichen Zeitraum um etwa 10 Prozent zurückgegangen ist, war bei
den Verbraucherinsolvenzen ein Anstieg um 18 Prozent
zu verzeichnen. Wir erleben in diesen Monaten also:
Verbraucherinsolvenzen sind zunehmend ein Massenphänomen.
Die Einführung des Instruments der Verbraucherinsolvenz war seinerzeit richtig. Bevor es dieses Instrument gab, traf Überschuldung den Privatmann mitunter
härter als eine Freiheitsstrafe. Während ein Straftäter
nach Verbüßung einer Strafhaft von vorn beginnen kann,
war mancher Privatschuldner de facto lebenslang in
seine Schulden verstrickt. An sich ist es eine gute Nachricht, wenn ein neues Rechtsinstitut in so hohem Maße
angenommen wird. Von einem Erfolg oder einem Erfolgsmodell will ich allerdings insofern nicht sprechen,
als sich hinter jeder einzelnen Verbraucherinsolvenz eine
Notsituation, ein Schicksal verbirgt. Hier meint ein Privatmann oder eine Privatfrau: Es gibt keinen anderen
Ausweg mehr; ich muss in die Verbraucherinsolvenz gehen.
Diese Verfahren waren in den 90er-Jahren eigentlich
für Privatschuldner entwickelt worden, bei denen - davon ging man aus - noch etwas zu holen ist und verteilt
werden kann. Es hat sich inzwischen herausgestellt, dass
das in der überwiegenden Zahl der Fälle nicht zutrifft.
Die Hauptschuldnergruppe ist die der sogenannten völlig
mittellosen Schuldner. Das sind immerhin gut 80 Prozent. Dabei sind die durchschnittlichen Verfahrenskosten
- das wurde eben schon dargestellt - immens. Sie liegen
bei etwa 2 300 Euro - und das für ein Verfahren, bei dem
am Ende doch so gut wie keine Tilgung oder gar keine
Tilgung von Schulden steht. Diese Geldverschwendung
wollen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf unterbinden.
In dem Gesetzentwurf der Bundesregierung wird deshalb ein vereinfachtes Entschuldungsverfahren für die
mittellosen Schuldner vorgeschlagen; das geltende Verfahren nach der Insolvenzordnung wird fortentwickelt,
einfacher und billiger gemacht. So weit, so gut der Ansatz der Bundesregierung, dem wir ausdrücklich beipflichten. Bei einigen konkreten Vorschlägen - das ist sicherlich nicht überraschend - müssen wir aber darauf
achten, dass wir nicht alte Probleme dadurch lösen, dass
wir neue Schwierigkeiten schaffen.
Ich will drei Beispiele für diesen Bereich der Verbraucherinsolvenz nennen:
Erstens. Problematisch ist insbesondere - das hat die
Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger schon angesprochen - das Instrument des vorläufigen Treuhänders, ein
ganz neues Element im Entschuldungsverfahren. Die Figur des Treuhänders ist deswegen problematisch, weil
nicht ganz klar ist, welche Aufgaben er im Einzelnen abdecken soll. Er soll beim Ausfüllen der Formulare helfen
- das haben Sie angesprochen -; er soll bei der Abgabe
einer eidesstattlichen Versicherung helfen und vor allem
über deren Folgen aufklären; er soll prüfen, ob die Verfahrenskosten gedeckt werden können; er soll Barmittel,
die vielleicht noch vorhanden sind, sichern. Das ist nur
ein kleiner Ausschnitt aus seinem Aufgabenbereich. Die
Liste ließe sich fortsetzen.
Brauchen wir also einen vorläufigen Treuhänder mit
so einem breiten Aufgabenspektrum? In etwa 80 Prozent
der Verfahren brauchen wir ihn garantiert nicht. Dieser
Wert entspricht in etwa der Zahl der Fälle, wo heute
schon bei den Gerichten vollständige Unterlagen eingehen. Das heißt, in diesen Fällen kann der Richter heute
schon ohne Hilfe Dritter anhand der Unterlagen ent14970
scheiden, ob der Schuldner zahlungsunfähig ist und ob
er die Verfahrenskosten aufbringen kann. Die Treuhändergebühren würden in vier von fünf Fällen also unnötige Kosten für die Staatskasse verursachen.
Auch in den übrigen Fällen gibt es eine Alternative zu
dem vorläufigen Treuhänder, nämlich den guten alten
Sachverständigen. Ich bin daher froh, dass sich die Bundesregierung hier als lernfähig und offen erwiesen hat
und in ihrer Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates die Pflicht zur Bestellung eines vorläufigen
Treuhänders ausdrücklich zur Disposition gestellt hat.
Ich glaube, das ist ein guter Ansatz, auf dessen Grundlage wir im Gesetzgebungsverfahren ins Gespräch kommen können.
Ich will einen zweiten Punkt nennen: Bereits im Vorfeld dieser Debatte ist viel darüber diskutiert worden, ob
auch dem mittellosen Schuldner ein eigener Beitrag abverlangt werden kann, durch den dann zumindest die gerichtlichen und außergerichtlichen Kosten des Verfahrens teilweise gedeckt werden können. Ich meine, man
kann diesen Beitrag abverlangen, man muss es auch. Sicherlich - das sollte man nicht verniedlichen - wird es
manchen Schuldner sehr schmerzen, auch nur kleinste
Beiträge beizusteuern.
({0})
Dennoch sollten wir das Signal geben, dass es keine Entschuldung zum Nulltarif gibt. Dem Schuldner sollte
nämlich schon vor Augen gehalten werden, dass für den
Ausweg aus seiner Misere, den ihm unsere Rechtsordnung ermöglicht, andere, nämlich die Gläubiger, Verzicht üben müssen.
({1})
Dritte müssen verzichten, damit er in den Genuss der
Befreiung von Schulden kommen kann. Eine bessere Lebensperspektive für den Schuldner wird erkauft durch
Verluste bei Dritten. Im Gegenzug muss dann auch der
Schuldner, wie ich finde, einen zumutbaren Beitrag leisten. Für die Union gilt: Dies ist eine Frage der Gerechtigkeit im Insolvenzverfahren.
({2})
Ein dritter Punkt: die Wohlverhaltensperiode. Im gemeinsamen Entwurf der Bund-Länder-Kommission - das
wissen Sie, Frau Ministerin - war von einer Wohlverhaltensperiode von acht Jahren bei mittellosen Schuldnern
die Rede. Ich empfinde, ohne mich da festlegen zu wollen, sehr viel Sympathie für diesen Vorschlag. Schließlich ist einem Gläubiger nur schwer verständlich zu machen, dass ein Schuldner nach heutigem Recht immer
die gleichen sechs Jahre auf den Schuldenerlass warten
muss, egal, ob er noch Vermögen hat, das eben verwertet
werden kann, oder ob er völlig mittellos ist und rein gar
nichts von seinen Schulden abtragen kann. Für die Gläubiger macht das sehr wohl einen Unterschied. Als
Rechtspolitiker sind wir berufen, auch die Interessen der
Gläubiger zu beachten. Schließlich ist eine solche schematische Gleichbehandlung letztlich Gift für die Zahlungsmoral und auch für den Gedanken der Eigenverantwortung in unserem Lande.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, war in der
Urfassung im Titel des vorliegenden Gesetzentwurfs nur
noch von der „Entschuldung mittelloser Personen“ die
Rede, ist nun noch zusätzlich das Stichwort „Insolvenzfestigkeit von Lizenzen“ hinzugekommen. Endlich findet damit eine alte Unionsforderung Aufnahme in das
Insolvenzrecht.
({3})
Wir erinnern uns: Vor etwa anderthalb Jahren, bei der
letzten Novellierung des Urheberrechtes, wollten wir das
schon einfügen und durchsetzen. Wir hätten die Novelle
zum damaligen Zeitpunkt sogar fast scheitern lassen
bzw. aufgehalten. Sie, Frau Ministerin, haben aber damals zugesichert, zum nächstmöglichen Zeitpunkt einen
entsprechenden Vorschlag vorzulegen. Das haben Sie
getan. Dafür bedanke ich mich. Damit ist unsere Forderung von damals erfüllt worden, und das Ministerium hat
unser Vertrauen darauf, dass es bei der nächsten Gelegenheit die Insolvenzfestigkeit der Lizenzen vorschlagen
würde, nicht enttäuscht. Herzlichen Dank dafür!
({4})
Warum ist das so wichtig? Die bisherige Rechtslage
ist für den Lizenznehmer riskant. Geht der Lizenzgeber
in die Insolvenz, so hat nach heutigem Recht der Insolvenzverwalter ein uneingeschränktes Wahlrecht; es liegt
also in seiner Hand, ob er den Lizenzvertrag weiterhin
erfüllt oder ob er ihn einfach kündigt. Dieses Wahlrecht
ist auch deshalb hochproblematisch, weil das Interesse
des Insolvenzverwalters qua Amt gerade nicht unbedingt
auf die Erfüllung des Lizenzvertrages gerichtet ist, sondern auf bestmögliche Verwertung des Schuldnervermögens. Dies kann für den Lizenznehmer fatale Folgen haben.
Ich will hier ein praktisches Beispiel nennen. Nehmen
wir die Pharmaindustrie. Kaum ein Medikament kann
heute noch entwickelt werden, ohne dass für seine Wirkstoffe erst einmal Lizenzen eingekauft werden müssen,
auf deren Grundlage man dann weiterforschen muss, um
ein Medikament auf den Markt zu bringen. Der Weg zur
Marktreife ist ein steiniger. Im Schnitt dauert er zwölf
Jahre und kostet über 500 Millionen Euro. Stellen wir
uns also vor, die Entwicklung ist in vollem Gange, und
im zehnten Jahr geht einer der Lizenzgeber - das sind ja
in der Regel mehrere - in die Insolvenz, und der Lizenzverwalter kündigt diesen Lizenzvertrag. Aufgrund der
Schäden, die den Entwicklern zum Beispiel von Medikamenten in gigantischer Höhe drohen können, haben andere Forschernationen, so die USA und Japan, längst
eine Insolvenzfestigkeit der Patentlizenzen eingeführt.
Deutschland tut gut daran, diesem Beispiel nun zu folgen. Diese Vorschrift ist wichtig für den Innovationsstandort Deutschland.
({5})
Gerade deshalb - diese Anmerkung gestatten Sie mir müssen wir aufpassen, dass wir bei der genauen Ausgestaltung in § 108 a diese neue Rechtssicherheit nicht
gleich wieder verwässern. Zu reden sein wird hier noch
über den Satz 3. Wenn der Insolvenzverwalter hier einen
Nachschlag vom Lizenznehmer fordern kann, wenn ein
auffälliges Missverhältnis zwischen vereinbarter und
marktgerechter Vergütung besteht, dann droht das zu einer Einladung an den Insolvenzverwalter zu werden, im
Zweifel immer von einem Missverhältnis auszugehen
und die Hand aufzuhalten. Über die Ausgestaltung dieser Vorschrift werden wir uns noch unterhalten.
Ich will einen weiteren Aspekt ansprechen, und zwar
die Behandlung insbesondere der öffentlich-rechtlichen
Gläubiger. Es ist ja eine nicht enden wollende Geschichte, bei der wir in der Rechtspolitik, Exekutive und
Legislative, eigentlich in relativ großer Eintracht gegen
Begehrlichkeiten der Fiskalpolitik und auch der Sozialpolitik recht gut zusammengestanden haben. Mit den
jetzt vorgeschlagenen Änderungen in § 14 und § 55 der
Insolvenzordnung kommen wir - nicht nur, aber de facto
vor allem - den öffentlich-rechtlichen Gläubigern, dem
Fiskus und der Sozialversicherung, entgegen. Allerdings
tun wir das - auch da stimme ich Ihnen ausdrücklich zu,
Frau Ministerin - in einer Form, die die Systematik der
Insolvenzordnung beibehält, also nicht durchbricht. Wir
haben uns also gegenüber den unmoralischen Angeboten, die uns seitens der Finanz- und der Sozialpolitik gemacht worden sind, verschlossen gezeigt. Und wir führen eine Änderung ein, die innerhalb des jetzigen
Systems der Insolvenzordnung bleibt.
Insbesondere die Änderung in § 14 der Insolvenzordnung dürfte zukünftig die - speziell klingende, aber sehr
praktische - Problematik der Stapelanträge zum Verschwinden bringen. Was verbirgt sich dahinter? Vor allem die Sozialversicherungen sind heute oft gezwungen,
einen Insolvenzantrag zurückzunehmen, weil ihre Forderungen im letzten Moment noch beglichen werden.
Das heißt, der Schuldner hat die letzten Euros zusammengekratzt, um sich einen Moment lang Luft zu verschaffen. Allerdings wird in der Regel schon im nächsten Quartal mangels Zahlung der nächste Antrag fällig.
Die Änderung gibt den Insolvenzgerichten nun die Möglichkeit, trotz Begleichung einer Forderung den Antrag
aufrechtzuerhalten und zu prüfen, ob es sich nur um eine
kurzfristige Zahlungsschwierigkeit handelt - dann
braucht man nicht in die Insolvenz zu gehen - oder um
eine strukturelle Krise, die schon alsbald wieder zu einem neuen Antrag führen wird.
Wir tragen gerade damit einem ganz wichtigen
Grundgedanken des heutigen Insolvenzrechts Rechnung:
Die Insolvenz soll nämlich als Chance der Restrukturierung eines Unternehmens angesehen werden. Deswegen
bringt es überhaupt nichts, ein Insolvenzverfahren um
jeden Preis hinauszuzögern. Diese Erkenntnis müssen
wir, glaube ich, noch in den Köpfen vieler Kollegen aus
anderen Ausschüssen verankern. Im Gegenteil, die
Chancen für eine Rettung in neuer Struktur nehmen für
jedes Unternehmen zu, wenn der Antrag frühzeitig erfolgt und das Insolvenzverfahren zügig betrieben wird.
Deswegen ist die Möglichkeit der Insolvenzrichter, auch
nach Zahlung in letzter Minute ein Insolvenzverfahren
einzuleiten, im Interesse nicht nur der Gläubiger, sondern auch des Unternehmers und vor allem seiner Mitarbeiter.
({6})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte
noch eine Anmerkung dazu machen, welche Zahlungsausfälle den öffentlich-rechtlichen Gläubigern denn nun
wirklich drohen. Fiskus und Parafiskus malten hier in
unseren Besprechungen in den letzten Monaten geradezu
apokalyptische Szenarien an die Wand. Alleine die Sozialversicherungsträger sprachen in der Begründung des
neuen Gesetzes zum Pfändungsschutz von mehreren
100 Millionen Euro Zahlungsausfällen. Das scheint mir
allerdings deutlich übertrieben. Ich will eine Statistik des
Instituts für Freie Berufe aus dem Jahr 2005 dagegenhalten: Hier spricht man von insgesamt knapp 80 Millionen
Euro. Es kommt allerdings noch besser: Diesen 80 Millionen Euro Miese stehen noch gezahlte Beiträge und
Abgaben nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens in
Höhe von geschätzten 134 Millionen Euro gegenüber.
Summa summarum ergibt sich nach dieser Rechnung
also ein Plus von knapp 55 Millionen Euro. Die Befürchtungen von Fiskus und Parafiskus, insbesondere
des Sozialministeriums, scheinen mir also doch stark
übertrieben zu sein.
Alles in allem ist es ein gelungener Gesetzentwurf,
der in Teilen sicherlich noch verbesserungsbedürftig ist,
weshalb es richtig ist, dass wir - das ist jedenfalls mein
Wunsch - im Rechtsausschuss eine Anhörung durchführen werden. Auch der parallel beratene Gesetzentwurf
des Bundesrates gehört in diese Anhörung. Mit ihm gibt
es etwas weniger Schwierigkeiten. Er berührt aber mit
der Aufsicht über die Insolvenzverwalter das wichtige
Thema der Qualität der Insolvenzverwaltung. Wir müssen erreichen, dass wichtige Insolvenzen nicht ins Ausland abwandern, dass, wenn es um die Restrukturierung
größerer Unternehmen geht, nach deutschem Recht verhandelt wird und dass man nicht, wie es heute teilweise
passiert, ins ausländische Recht flieht.
Ich kann mir durchaus vorstellen, dass wir im Rahmen der Anhörung auch das leidige Thema der Leasingverträge und ihrer Behandlung im Insolvenzfalle aus der
letzten Novelle noch einmal aufgreifen und die entsprechenden Erfahrungen abfragen. Denn hier sind offenbar
erhebliche Auswirkungen in der Praxis zu verzeichnen.
Ich komme zu meiner Schlussbemerkung. Das Insolvenzrecht erweckt den Eindruck einer Dauerbaustelle.
Das hängt auch damit zusammen, dass es mittlerweile
fast zehn Jahre alt ist und Regelungsdefizite in der Praxis
sichtbar werden. Es ist eines der jüngsten Kodifikationsprojekte des deutschen Rechtsstaates. Alles in allem ist
es eine Erfolgsgeschichte, die beweist, dass Kodifikationen auch heute noch möglich sind. Wir brauchen uns
nicht immer auf Detailgesetze zu beschränken, sondern
wir sind durchaus in der Lage, moderne Kodifikationsprojekte auf den Weg zu bringen.
Im Insolvenzrecht gibt es viel Licht und ein wenig
Schatten. Wir werden gemeinsam im Rechtsausschuss
für noch mehr Licht sorgen. Ich bedanke mich beim Jus14972
tizministerium und auch beim Bundesrat und freue mich
auf die Beratung.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Nešković, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Zu begrüßen ist, dass im vorgelegten Entwurf einem Ansatz der Bund-Länder-Arbeitsgruppe - das wurde ja schon gesagt - nicht gefolgt wird,
wonach die Restschuldbefreiung weitgehend aus dem
Insolvenzrecht herausgelöst werden sollte. Denn es ist
allein das Insolvenzrecht mit seinem umfassenden Vollstreckungsschutz für den Schuldner und seiner Gesamtwirkung gegenüber allen Gläubigern, das geeignet ist,
die Schuldbefreiung allseits interessengerecht zu behandeln.
Über sechs lange Jahre ist der Schuldner auf einen
umfassenden Vollstreckungsschutz angewiesen, den er
nur in einem geordneten Verfahren unter Mithilfe eines
Treuhändlers erhält. Außerdem muss das lohnenswerte
Ergebnis einer durchgehaltenen Entschuldung dann auch
gegenüber allen vorhandenen Gläubigern wirken. In dieser Perspektive liegt die Motivation für den Schuldner
zum Durchhalten.
In der insolvenzrechtlichen Ausgestaltung des Verfahrens und in dem Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung liegen Gründe für die Akzeptanz der Entschuldung durch die Gläubiger. Denn so muss niemand
befürchten, dass er zu kurz oder zu spät kommt. In diesen wichtigen Punkten macht der vorgelegte Entwurf
keine Fehler.
Die Verschlimmbesserungen liegen jedoch an anderer
Stelle. Die Entwurfsverfasser sagen, es ginge ihnen darum, die Entschuldung mittelloser Personen von einem
ebenso nutzlosen wie kostenaufwendigen Insolvenzverfahren zu befreien. Dieses Ziel teilen wir; darum geht es
uns ebenfalls.
Nötig war dazu lediglich zweierlei: Zum einen musste
ermöglicht werden, dass die Vermögensverhältnisse im
Antragsverfahren durch das Insolvenzgericht sorgsam
geprüft werden können. Zum anderen musste mittellosen
Personen auch ohne Insolvenzverfahren eine Entschuldung im Rahmen des Insolvenzrechts ermöglicht werden. Damit erschöpft sich aber das Notwendige im Entwurf, und es beginnt das völlig Unnötige und auch sozial
Ungerechte.
Sozial ungerecht ist es, vom mittellosen Schuldner zu
verlangen, er möge Mittel aufbringen, um das Entschuldungsverfahren überhaupt in Gang zu setzen und es in
Gang zu halten. Für die Verfahrenseröffnung schuldet er
aus der leeren Tasche 25 Euro. Jährlich schuldet er dann
aus derselben leeren Tasche 100 Euro Mindestbeteiligung für die Arbeit des Treuhändlers.
Sozial ungerecht ist es darüber hinaus, die anwaltliche
Begleitung von mittellosen Schuldnern in das weite Ermessen des Gerichts zu stellen und darüber hinaus Prozesskostenhilfe auszuschließen. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu lakonisch-unbarmherzig:
Das bedeutet, dass der Schuldner in der Regel seinen Prozessbevollmächtigten selbst bezahlen muss.
Und das bei einem Mittellosen!
Es hat schon etwas Zwanghaftes, dass es dieser Regierung einfach nicht gelingen will, irgendein Justizreförmchen vorzulegen, ohne gleichzeitig für neue soziale Härten zu sorgen. Es fehlen dieser Regierung das
soziale Herz und das soziale Gewissen.
({0})
Das Justizministerium scheint der Auffassung zu sein,
seine Arbeit erst dann richtig getan zu haben, wenn es
gleichzeitig den Sozialstaat und den Justizgewährungsanspruch lädiert. Ein Mensch, der in seinem Leben an
dem Punkt ist, dass er eine Restschuldbefreiung anstrebt,
ist oft froh, wenn er noch das Porto für die Gerichtspost
und die Kosten für die Bahnfahrt zum Gerichtsstandort
aufbringen kann.
({1})
Da gibt es keine übersehenen Eckchen in der Brieftasche
mit 25 Euro für alle Fälle. Da gibt es auch keine
100 Euro jährlich, die über das Jahr nicht schon dringend
gebraucht werden. Ihr Zuruf macht es deutlich: Können
Sie sich einen solchen Menschen und eine solche Situation überhaupt vorstellen?
Für die Linke sage ich Ihnen: Wenn man überhaupt
eine Kostenbeteiligung will, dann hat sich diese Kostenbeteiligung zwingend an den Pfändungsschutzvorschriften zu orientieren. Ich möchte Ihnen empfehlen, nicht
nur Ihr soziales Gewissen, sondern auch Ihren juristischen Ehrgeiz zu beleben, und verweise zum Beispiel auf
die einschlägigen Kommentierungen zu den §§ 811 ff. der
Zivilprozessordnung. Bei Zöller könnten Sie zum Beispiel nachlesen:
Konkretisiert sind mit diesem Schutz Artikel 1
Grundgesetz
- die Menschenwürde … und Artikel 2 Grundgesetz … Verwirklicht ist
damit der Schutzgedanke des Sozialstaatsprinzips.
Bei Musielak, in einem anderen Kommentar zur Zivilprozessordnung, heißt es: Deshalb
bewahren die Pfändungsverbote … den Schuldner
davor, durch staatliche Zwangsvollstreckung das zu
verlieren, was er zu einer „angemessenen, bescheidenen Lebens- und Haushaltsführung“ benötigt.
Nun besehen Sie sich einmal die Logik Ihres Entwurfes: Dort soll der mittellose Schuldner mit Mitteln, die
der Pfändung entzogen wären, für ein Verfahren mitbezahlen, das unter anderem bezweckt, ebendiesen Pfändungsschutz herbeizuführen. Das ist nicht nur widersinnig
und sozialstaatswidrig, das ist für mich auch schlichtweg
unanständig.
({2})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Jerzy Montag,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben letzte Woche vom Statistischen Bundesamt
die Insolvenzzahlen übermittelt bekommen; dies ist
schon angesprochen worden. Ich habe sie zwar etwas anders gelesen; aber wir brauchen uns über diese Zahlen
nicht zu streiten. Denn in der Tendenz ergibt sich folgendes Bild: Bei den Unternehmensinsolvenzen haben wir
einen Rückgang von ungefähr 15 Prozent zu verzeichnen; das ist sehr erfreulich. Aber auch in der Phase eines
wirtschaftlichen Aufschwungs gibt es von 2006 auf 2007
einen Anstieg der Zahl der Verbraucherinsolvenzen. Ich
habe in den Unterlagen eine Zahl von 9 Prozent gelesen.
Wir können noch verifizieren, welche Zahl stimmt.
Das bedeutet aber, dass wir in der Pflicht sind, uns
insbesondere mit der Verbraucherinsolvenz weiter zu beschäftigen. Ich will es an dieser Stelle klar sagen: Auf
der Grundlage der Reform von 1994, die wir erreicht haben und die wir eigentlich nicht konterkarieren sollten,
sollten wir schauen, dass wir Änderungen vornehmen,
die den Betroffenen auf beiden Seiten - auf der Schuldner- und auf der Gläubigerseite - das Leben erleichtern,
und sollten nicht Geld in einem unnötigen, hochkomplizierten Verfahren verschleudern. Insofern sind in den
Gesetzentwürfen, die wir jetzt vorliegen haben, gute Elemente enthalten, die wir begrüßen.
In der Kürze der Zeit will ich gleich auf die kritischen
Punkte zu sprechen kommen. Über den vorläufigen
Treuhänder ist bereits gesprochen worden. Ich teile die
Kritik, zumindest die Kritik daran, dass eine Notwendigkeit besteht, ihn in allen Fällen einzusetzen. Das ist ein
bürokratischer Vorgang, den ich nicht begreifen kann.
In der Beratungshilfe wird ein Betrag von 60 Euro für
den Anwalt festgesetzt. Dies ist eine Herabsetzung der
Gebühren. Ich begreife überhaupt nicht, warum das sein
soll. Ich kenne kaum einen Anwalt, der bereit wäre, dafür tätig zu werden. Das muss verbessert werden.
Hinsichtlich der Frage der Kostenbeteiligung völlig
Mittelloser an dem Insolvenzverfahren will ich nicht die
große Münze werfen, die Sie, Herr Kollege Nešković,
hier geworfen haben.
({0})
Ich will nur sagen: Ich halte das, was Sie, Herr Kollege
Krings, hier positiv bewerten, für ein kleinliches Erziehungsmoment. Ich erinnere Sie an die gestrige Sitzung
des Rechtsausschusses. Ein Kollege aus Ihrer Fraktion
hat darin mit Verve zum Ausdruck gebracht, dass wir
uns davor hüten sollten, gesetzliche Regelungen zu
schaffen, die der Volkserziehung dienen. Sie wollen
25 Euro von völlig Mittellosen; das ist eine Kleinigkeit,
({1})
die für das Verfahren überhaupt keine Vorzüge mit sich
bringt. Wir halten das für überflüssig und sinnlos und
plädieren dafür, dass man das lässt.
({2})
Auch die Wohlverhaltensperiode sollte überprüft werden. Sie wollen sogar acht Jahre. Wir sollten einmal
schauen, wie die anderen Staaten der Europäischen
Union das geregelt haben. Nach den mir vorliegenden
Zahlen beträgt die Wohlverhaltensperiode in den europäischen Staaten, die um uns herum liegen, zwischen
drei und fünf Jahre.
({3})
Wenn dem so ist, empfehle ich, dass wir uns vom letzten
Platz wenigstens auf einen mittleren Platz vorarbeiten.
({4})
Frau Ministerin Zypries, Sie haben erfreulicherweise
davon gesprochen, dass die Schuldnerberatung mehr
Geld bekommen muss. Leider steht das in Ihrem Gesetzentwurf so nicht drin. Auf Seite 29 Ihres Entwurfs steht
nur, dass die öffentlichen Mittel zur Förderung der
Schuldnerberatung zunehmend zurückgefahren werden;
ohne ein Wort der Kritik. Das haben Sie hier nachgeliefert. Dafür bedanke ich mich. Die Kritik hätte aber etwas
klarer ausfallen müssen.
Ich will zum Schluss noch auf ein Ärgernis zu sprechen kommen, auf das Kolleginnen und Kollegen schon
eingegangen sind. Ich muss Ihnen sagen: Ich wundere
mich wirklich über das Maß der Heimtücke, das offensichtlich in den Reihen der Bundesregierung und zwischen den Ministerien herrscht. Das Maß der Heimtücke
wird deutlich, wenn man sich Folgendes verdeutlicht: Im
Jahre 2006 hatten wir hier einen Gesetzentwurf Ihres
Hauses zu diskutieren, nämlich den „Entwurf eines Gesetzes zum Pfändungsschutz der Altersvorsorge und zur
Anpassung des Rechts der Insolvenzanfechtung“. Ihr
Haus hat vorgeschlagen, den Grundsatz der Gläubigergleichheit mit dem § 28 e SGB IV aufzuheben. Darüber
wurde im Plenum öffentlich diskutiert. Wir haben im
Rechtsausschuss eine Sachverständigenanhörung dazu
durchgeführt. Wir haben uns über alle Fraktionsgrenzen
hinweg darauf geeinigt, dass wir das nicht wollen, weil
das falsch ist. Wir haben dies dem Plenum empfohlen.
Das Plenum ist dem einstimmig gefolgt. Damit hätte die
Sache vom Tisch sein sollen.
Bereits einige Monate später hat das Finanzministerium aber, ohne Sie zu fragen oder zu informieren, im
Jahressteuergesetz 2006 diese Vorschrift wieder dem
Parlament zugeleitet. In letzter Sekunde haben die
Wolfgang NeškoviæWolfgang Nešković
Rechtspolitiker dies bemerkt und dafür gesorgt, dass das
rausgestrichen worden ist.
Nunmehr einige Monate später unterbreitet das Arbeits- und Sozialministerium in einem Gesetzentwurf
zur Änderung des Sozialgesetzbuchs dem Parlament
wiederum diesen Vorschlag. Der Rechtsausschuss wird
nicht beteiligt. In der ersten Lesung werden alle Reden
zu Protokoll gegeben, eine Beratung im Ausschuss für
Arbeit und Soziales findet nicht statt, und die zweite und
dritte Lesung finden ohne Debatte statt. Auf so heimtückische Art und Weise ist es bestimmten Kreisen tatsächlich gelungen, diesen Paragrafen wirklich ins Gesetzbuch zu bringen.
({5})
Wir sollten dafür sorgen, dass er da wieder rauskommt.
({6})
Kollege Montag, Sie haben richtigerweise angemerkt,
dass die Zeit kurz ist. Jetzt ist sie aber überschritten.
Ein letzter Satz. - Wir sollten insbesondere deswegen
dafür sorgen, weil der Kollege Schaaf von der SPD in
seiner zu Protokoll gegebenen Rede ausgeführt hat - ich
habe die zu Protokoll gegebenen Reden nachgelesen -,
dass er daran denkt, dass seitens der Sozialpolitiker in einer nächsten Stufe noch mehr Ausnahmen von der Gläubigergleichheit vorgesehen werden sollen. Da müssen
wir aufpassen.
({0})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Dirk
Manzewski das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
zahlreiche Freunde der Rechtspolitik! Wir debattieren
hier heute in erster Lesung verschiedene Aspekte des Insolvenzrechts. Soweit es um die Neuregelung zum Verbraucherinsolvenzverfahren geht, ist es meiner Meinung
nach völlig richtig, sich die Frage zu stellen, ob es für
das nach einhelliger Auffassung viel zu aufwendige und
kostenintensive bisherige Restschuldbefreiungsverfahren für mittellose und masselose Fälle nicht einen einfacheren und vor allem kostengünstigeren Weg gibt, zumal
in diesen Fällen - das ist schon gesagt worden - die
Gläubiger ohnehin meist nicht mit einer Befriedigung
rechnen können.
Wir werden uns allerdings darüber unterhalten müssen, ob der hierzu eingeschlagene Weg tatsächlich in allen Bereichen der richtige ist. Dass die missbräuchliche
Inanspruchnahme der Restschuldbefreiung zum Beispiel
bei offenkundigem Vorliegen eines Versagungsgrundes,
bei unredlichen Schuldnern oder bei mangelnder Mitwirkungspflicht erschwert werden soll, finde ich richtig.
Ich habe aber - genau wie einige Kollegen - zum Beispiel Probleme mit der Person des sogenannten vorläufigen Treuhänders, der nach dem Regierungsentwurf die
zentrale Figur des Entschuldungsverfahrens sein soll.
Zunächst einmal stelle ich mir die Frage, warum dieser
Treuhänder eigentlich obligatorisch für jedes Verfahren
bestellt werden soll. Bei einfach gelagerten Fällen macht
das meiner Auffassung nach relativ wenig Sinn, zumal
die Vorarbeiten in der Regel schon von den Schuldnerberatungsstellen gemacht worden sind. Ich teile da die
Auffassung des Kollegen Krings; ich meine, die Kosten
könnte man einsparen. Ist der Sachverhalt wiederum
komplizierter, wird man sich die Frage stellen müssen,
ob der hierfür angesetzte Kostensatz für einen Fachmann
tatsächlich auskömmlich ist. Auch hier habe ich Bedenken.
Noch ein Wort in diesem Zusammenhang zu den
Schuldnerberatungsstellen. Abgesehen davon, dass ich
die Abgrenzung des Tätigkeitsfelds von Schuldnerberatungsstelle und Treuhänder nicht ganz zu erkennen mag,
soll den Schuldnerberatungsstellen nach der Begründung
des Gesetzentwurfes eine größere Bedeutung im angedachten Verfahren zukommen. Hintergrund hierfür ist,
dass der außergerichtliche Vergleich gestärkt und das
nun vorgerichtliche Schuldenbereinigungsverfahren
nicht mehr vom Richter, sondern vom Schuldner selbst
und - als eine Möglichkeit - den ihn unterstützenden
Schuldnerberatungsstellen betrieben werden soll.
Das kann aber nur funktionieren, wenn die Schuldnerberatungsstellen quantitativ und qualitativ so ausgestattet sind, dass sie dem gerecht werden können. Bereits
derzeit gibt es aber insoweit Anzeichen für Probleme,
denn schon jetzt müssen Schuldner häufig monatelang
auf einen Termin bei ihrer Schuldnerberatungsstelle warten. Man muss es deutlich sagen: Man kann nicht einerseits die Justiz aus der Verantwortung nehmen, ohne andererseits das Alternativverfahren zu sichern.
({0})
Wir werden uns auch darüber unterhalten müssen - darüber ist hier schon debattiert worden -, ob es in Ordnung ist, den Schuldner an den Kosten des Verfahrens zu
beteiligen. Einerseits halte ich das für richtig, um den
Schuldner zur Mitwirkung anzuhalten und deutlich zu
machen, dass eine Entschuldung keine Larifariveranstaltung ist. Denn wir dürfen ja nicht vergessen, dass ein
Schuldner unter Umständen um einen vier-, fünf-, sechsoder sogar höherstelligen Betrag entlastet wird. Hierbei
ist zu beachten, dass es Personen gibt, die auf diesen Beträgen sitzen bleiben. Andererseits ist es nicht richtig,
wenn es in der Gesetzesbegründung lapidar heißt, dass
er diese Beteiligung ohne große Mühe aufbringen kann.
Denn für jemanden, der nichts hat, sind 4 Prozent seines
Einkommens nicht wenig, zumal diese Menschen ja gerade wegen ihrer ausweglosen finanziellen Situation das
Insolvenzverfahren betreiben.
Lassen Sie mich zum nächsten Aspekt kommen. Soweit durch das Gesetz Lizenzverträge insolvenzfest gemacht werden sollen, Kollege Krings, habe ich damit erhebliche Probleme.
({1})
Ich kann zwar durchaus nachvollziehen, dass sich zum
Beispiel die Pharmaindustrie dies wünscht, weil sie aufgrund von hohen Investitionen gerne auf die Gültigkeit
der Lizenzverträge vertrauen würde. Aber diese Begründung kann im Grunde genommen für jeden noch nicht
erfüllten Vertrag gelten, der mit dem Schuldner geschlossen worden ist. Negative wirtschaftliche Auswirkungen sind leider die typischen Folgen von Insolvenzen
und treffen alle Vertragspartner. Um es noch einmal
deutlicher zu machen: Mit jeder Bevorzugung von Gläubigern werden andere Gläubiger benachteiligt.
({2})
Das hat man alles gewusst und auch so gewollt, als
man mit der Insolvenzordnung die alte Konkursordnung
abgelöst hat. Das Ziel war damals die Gläubigergleichbehandlung. Ich meine, diese hat sich bislang bewährt.
Wir haben derzeit ein in sich schlüssiges Insolvenzverfahren, um das uns viele in der Welt beneiden. Durch
jede Ausnahmeregelung werden wir dieses aufweichen
und komplizierter machen. Wenn erst einmal die Stringenz verlorengegangen ist, dann werden wir irgendwann
ein Gesetz haben, das genauso undurchsichtig und unübersichtlich ist wie zum Beispiel das Urheberrecht.
({3})
Schon jetzt haben Lobbyverbände übrigens weitere Begehrlichkeiten angemeldet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann nur raten: Wehret den Anfängen!
Zum nächsten Punkt. Im Zusammenhang mit dem
vorletzten Jahressteuergesetz haben wir uns auch Gedanken darüber gemacht, wie wir das Insolvenzverfahren effektiver gestalten können. Ich bin froh, dass einige der
hierbei entwickelten Lösungsansätze tatsächlich Eingang in den Gesetzentwurf gefunden haben. Ausgangspunkt war die Erkenntnis - auch darauf hat Kollege
Krings zu Recht hingewiesen -: Je früher ein Insolvenzfall erkannt wird, desto größer sind die Chancen auf Sanierung des Unternehmens und desto geringer fällt in der
Regel der Schaden aus.
Ich finde es daher richtig, dass zum einen versucht
werden soll, die sogenannten Stapelanträge zu vermeiden, damit der Insolvenzantrag nicht immer gleich bei
Zahlung der entscheidenden Forderung quasi erlischt,
selbst wenn der Insolvenzgrund - das ist das Entscheidende - weiterhin vorliegt. Das hat in der Vergangenheit
nämlich dazu geführt, dass bei eigentlich abzusehenden
neuen Forderungsausfällen immer wieder neue Anträge
gestellt werden mussten und die Chancen, dem betroffenen Unternehmen wirklich zu helfen, immer geringer
wurden.
({4})
Zum anderen sollen diejenigen, die einen Insolvenzantrag hätten stellen müssen, dies aber nicht rechtzeitig getan haben, nun stärker in die Verantwortung genommen
werden.
Um die Effizienz der Insolvenzverfahren zu steigern,
sehe ich persönlich bei der Auswahl der Insolvenzverwalter durch das Gericht noch ein erhebliches Potenzial.
Hierzu liegen einige Lösungsvorschläge vor, die bislang
leider noch keinen Eingang in den Gesetzentwurf gefunden haben. Ich hoffe aber, dass sich daran noch etwas ändert.
Soweit der Bundesrat die Aufsicht der Insolvenzverwalter verbessern möchte, halte ich die vorgeschlagenen
Maßnahmen eigentlich für nicht notwendig und in einigen Bereichen sogar für nicht praktikabel; das sage ich
ganz deutlich. Im Hinblick auf die Forderung nach einer
Berufshaftpflichtversicherung für Insolvenzverwalter
teile ich die Auffassung der Bundesregierung, dass diese
Versicherung in der Regel ohnehin vorhanden ist, dass
sie aber insbesondere bei vorsätzlichen Schädigungshandlungen - das ist ganz wichtig - überhaupt nicht weiterhelfen dürfte.
Ich komme zum Schluss. Meine Damen und Herren,
wie Sie sehen, erwartet uns ein interessantes Gesetzgebungsverfahren. Ich jedenfalls würde mich freuen, wenn
Sie sich daran aktiv und vor allen Dingen, Kollege
Nešković, konstruktiv beteiligen würden.
Ich danke Ihnen.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 16/7416 und 16/7251 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das
ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen
Trittin, Winfried Nachtwei, Kerstin Müller
({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für einen sicherheitspolitischen Kurswechsel
in Afghanistan - Nebeneinander von ISAF
und OEF beenden
- Drucksachen 16/5587, 16/6497 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernd Schmidbauer
Gert Weisskirchen ({2})
Vizepräsidentin Petra Pau
Dr. Norman Paech
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Gert Weisskirchen für die SPD-Fraktion.
Liebe Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, es wäre viel wichtiger, über andere Themen
zu debattieren als darüber, ob bzw. inwieweit die Mandatsstrukturen im Hinblick auf den Einsatz in Afghanistan verändert werden sollten.
Ich nenne Ihnen ein einfaches Beispiel, das uns selbst
betrifft. Ich fände es sehr gut, wenn der Vorschlag von
Detlef Dzembritzki, eine deutsch-afghanische Parlamentariergruppe einzurichten, endlich realisiert werden
könnte; ich bitte das Präsidium, darüber nachzudenken.
Ich halte diesen Vorschlag für sehr wichtig. Denn es
wäre klug, mit den Kolleginnen und Kollegen aus dem
gewählten Parlament in Afghanistan enge Arbeitsbeziehungen aufzubauen, damit wir voneinander lernen und
erfahren können, wie das, was wir im Rahmen unserer
Mandate tun, von den Kolleginnen und Kollegen im afghanischen Parlament wahrgenommen wird.
({0})
Wir müssen mit ihnen an gemeinsamen Projekten arbeiten und uns fragen: Entspricht das, was wir laut Afghanistan Compact machen, ihren Interessen? Können
sie die sogenannte Counterinsurgency-Strategie akzeptieren, oder lehnen sie sie ab? Ich finde, dass ein solches
offenes und freies Gespräch zwischen Abgeordneten unterschiedlicher Parlamente immer weiterhilft. Warum
machen wir das nicht? Wir debattieren heute darüber, ob
ISAF und OEF - in welcher Weise auch immer - voneinander getrennt werden. Das mag ein sehr wichtiges
Thema sein; aber diese praktischen Dinge der direkten
Zusammenarbeit zwischen Abgeordneten bzw. zwischen
Regierungen sind viel wichtiger und praxisnäher.
({1})
Durch so etwas würden wir den Menschen in Afghanistan mehr helfen. Ich würde mir wünschen, dass wir uns
damit befassen und nicht mit einem solchen, doch sehr
theoretischen Antrag.
({2})
- Ja. Aber Winni, du weißt doch genauso gut wie wir:
Wenn man Mandatsstrukturen ändern will, kann man das
natürlich auf dem parlamentarischen Weg machen. Viel
wichtiger ist aber, dass wir diese Mandate auf den Prüfstand stellen, schauen, was davon sinnvoll ist und was
entwickelt werden muss. Dann können wir bewerten,
welche Schlussfolgerungen wir daraus ziehen müssen.
({3})
Nehmen wir das Beispiel OEF. Die Soldatinnen und
Soldaten, die wir mit unseren Mandaten beauftragt haben, nehmen gar nicht an OEF teil, seit Monaten nicht.
Was würde es also bedeuten, wenn man jetzt apodiktisch
und überfallartig „Weg mit OEF!“ sagte?
({4})
Das würde uns nicht weiterbringen. Denn die Probleme,
lieber Kollege Trittin, die wir gemeinsam zu lösen haben, liegen auf ganz anderen Ebenen. Könnte es nicht
sein - ich stelle einmal die Frage an uns selbst -, dass,
wenn wir bestimmte Anteile aus der Mandatsstruktur
nähmen, wenn wir OEF vollständig herausnähmen,
ISAF militärisch aufgestockt werden müsste?
({5})
Ich stelle einfach einmal diese Frage. Ich meine, wir
müssen nach den Aufgaben, nach den Funktionen fragen. Dann können wir uns überlegen, wie die Mandate
aussehen müssen.
Der Parteitag der SPD hat beschlossen, dass wir versuchen sollten, den Anteil von OEF Schritt für Schritt
abzubauen, dass wir uns Wege überlegen sollten, wie
man beispielsweise die Ausbildungsanteile, die andere
Länder bei OEF haben, in das ISAF-Mandat überführen
kann. Das halte ich für einen klugen Gedanken.
({6})
Das würde natürlich bedeuten, dass die merkwürdige,
für uns fremde Struktur der Befehlszusammenhänge bei
OEF - im Unterschied zu ISAF - herausgenommen werden könnte. Das ist ein Punkt, der in Ihrem Antrag eine
große Rolle spielt und der richtig ist.
({7})
Solche Dinge muss man tun: nach den Funktionen
fragen und danach, wie sie verändert werden müssen,
damit das Ziel besser erreicht werden kann. Wir wissen
doch alle: Wir können die Taliban allein mit militärischen Mitteln nicht überwinden. Wir brauchen andere,
neue, politische Instrumente, um Afghanistan dabei zu
helfen, einen eigenständigen Weg in eine selbstbestimmte Freiheit zu gehen. Wenn das unser gemeinsames
Ziel ist, dann sollten wir uns bitte schön nicht auf solche
publikumsheischenden Anträge kaprizieren.
Gert Weisskirchen ({8})
({9})
Kollege Weisskirchen, ich störe Sie ungern bei Ihrem
Gespräch mit den Kollegen Trittin und Nachtwei; aber
Sie müssen es an anderer Stelle fortsetzen. Ihre Redezeit
ist überschritten.
Liebe Frau Präsidentin, danke für den Hinweis. - Wir
sollten stattdessen dafür sorgen, dass die Probleme gemeinsam besser gelöst werden.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Werner Hoyer für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist schon ein genialer Schlag der Parlamentsorganisation, dass wir uns anderthalb Stunden nach einer Aktuellen Stunde mit dem gleichen Thema befassen, wenn
auch unter einem anderen Gesichtspunkt. Ich finde das
bedauerlich.
Die meisten Kollegen, die vorhin gesprochen haben,
sind jetzt nicht da. Jetzt machen wir eine Neuauflage.
Deswegen konzentriere ich mich zunächst auf das, was
in dem Antrag steht.
Herr Kollege Weisskirchen, ich habe dem im Auswärtigen Ausschuss widersprochen, aber nicht, weil ich das
für völlig hirnrissig halte. Man muss nämlich schon sagen: Bei dem, was jetzt von der Bundeswehr mit übernommen werden muss - Quick Reaction Force -, kommt
es sehr auf die präzise Definition des Auftrages an, um
nicht unmittelbar in die OEF hineinzurutschen.
({0})
Hier zeigt sich, dass die Dinge sehr nahe beieinander
liegen und dass es im Sinne einer einheitlichen Operationsführung durchaus auch gute Argumente dafür gibt,
das zusammenzuführen. Ich will das nicht von vornherein vom Tisch wischen, ich glaube nur, dass wir gegenwärtig ein anderes Problem haben und deshalb mit diesem Antrag jetzt zu kurz springen. Ich glaube aber, dass
wir irgendwann darauf zurückkommen werden.
Wir haben in München bei der großen verpassten
Chance an diesem Wochenende festgestellt,
({1})
dass wir alle im Bündnis und darüber hinaus ganz offensichtlich keine gemeinsame Strategie für Afghanistan
haben. Angesichts der Länge dieser Auseinandersetzung, die wir in Afghanistan beobachten, ist das schon
ein bisschen verwunderlich.
Man versteht unter einer Strategie ein längerfristig
ausgerichtetes planvolles Anstreben einer vorteilhaften
Lage oder eines Zieles. - Von Clausewitz könnte das
noch schöner sagen, aber das ist der Kern dessen, worum
es geht. Man muss sagen, dass uns weder durch den Afghanistan Compact - zumindest in der Ausprägung, in
der er jetzt entwickelt wurde - noch durch die Vereinten
Nationen noch durch die NATO die Zieldefinition an die
Hand gegeben wurde, anhand derer wir die Zielerreichung messen können. Ich halte es deswegen für eine
ziemliche Bankrotterklärung, dass wir auch in München
vorwiegend wieder über militärische Forderungen, über
Kontingentzahlen und über Zahlen von Toten geredet
und dies aufgerechnet haben. Das kann es nicht sein.
({2})
Es kann nicht sein, dass wir Deutschen den anderen zumindest unterschwellig den Vorwurf machen, dass sie
nicht ein solches Konzept wie wir haben, was wir für
überlegen halten, weil wir vernetzte Sicherheit organisieren wollen - das heißt, die militärischen Anstrengungen
sollen mit den polizeilichen, den justiziellen, den administrativen und den kommunalpolitischen Anstrengungen
systematisch verbunden werden; weiß der Himmel, welchen Anstrengungen noch -, um dem dann in der Realität
selber nicht gerecht zu werden.
Ich freue mich immer über den Begriff „vernetzte Sicherheit“. Ich glaube, dass die Staatssekretäre der verschiedenen Häuser das Thema mit den besten Absichten
diskutieren, wenn sie zusammenkommen. Wenn das
dann aber auf die ganz konkrete Arbeit auf der mittleren
und unteren Ebene heruntergebrochen wird, dann geschieht das nicht.
({3})
Deswegen ist zum Beispiel die Bilanz hinsichtlich der
Polizeiarbeit so ernüchternd.
({4})
Uns Obleuten des Innen- und des Auswärtigen Ausschusses wurde heute Morgen seitens der zuständigen
Staatssekretäre vom AA und vom BMI eine Information
zu diesem Thema gegeben. Ich muss Ihnen ganz ehrlich
sagen: Ich bin dort ernüchterter herausgekommen, als
ich hineingegangen bin.
({5})
- Ich war da schon nüchtern; das kann ich Ihnen sagen.
Wir müssen bei diesen Themen den Quantensprung
schaffen und mit unseren Partnern im Bündnis auch Vereinbarungen darüber treffen. Ich finde es absurd, dass
uns der Generalsekretär der NATO sagt, dass die NATO
keine Entwicklungsagentur ist und nicht dem Auftrag
nachkommen kann, dem gerecht zu werden, was man
einfach folglich als schlichte Logik bezeichnen kann:
Wenn das Erreichen des militärischen Ziels, des Erfolges
unserer militärischen Anstrengungen, davon abhängt,
dass wir auch mit unseren zivilen Anstrengungen Erfolg
haben, dann muss man das Anstreben der zivilen Ziele
koordinieren. Genau dafür hat unser Bündnis, die
NATO, kein Konzept. Wer sich dabei auf den Afghanistan Compact verlässt, der wird verlassen sein. Danach
wird nämlich wieder nur eine Pledging-Konferenz
durchgeführt, es wird viel Geld gezahlt, und es werden
tolle Ideen diskutiert. Nach den Erfahrungen mit dem
Afghanistan Compact werden wir aber keinen entscheidenden Schritt vorangehen.
Wir müssen das im Rahmen der NATO weiter diskutieren. In diesem Rahmen darf es dann auch keine Berührungsängste zwischen den verschiedenen militärischen und zivilen Autoritäten geben.
Vielen Dank.
({6})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Jürgen
Herrmann das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wie Herr Hoyer eben
festgestellt hat, diskutieren wir das Thema Afghanistan
bereits zum zweiten Mal. Das ist sicherlich auch Ausdruck dafür, wie wichtig dieses Thema in der jetzigen
Zeit ist und wie sehr es uns auch in Zukunft beschäftigen
wird. Es ist notwendig, dass wir deutlich machen, welche Auswirkungen das Thema Afghanistan für Deutschland hat. Wir müssen in den Diskussionen verdeutlichen,
was es bedeutet, wenn wir auf terroristische Anschläge
vorbereitet sein müssen, die eben aus diesem Bereich
kommen. Dabei sollten wir aber darauf achten, dass wir
bei dieser Diskussion auch die Menschen in diesem
Land mitnehmen. Ich kritisiere es zutiefst, dass wir heute
davon ausgehen müssen, dass mehr als 50 Prozent der
Bürgerinnen und Bürger unseres Landes mit dem Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan nicht einverstanden
sind. Da hat Politik versagt. Wir müssen deutlicher erklären, warum wir in Afghanistan sind und welche Ziele
wir dort verfolgen.
({0})
Wenn wir über den Einsatz sprechen, müssen wir
auch die guten Ergebnisse der Arbeit der Bundeswehr
betonen, die insbesondere im Norden des Landes geleistet wird. Dies ist nicht immer gelungen. Aber die Diskussion in den letzten zwei Wochen hat dazu geführt,
dass wir endlich aus der Defensive herausgekommen
sind und die Erfolge nach außen tragen konnten, die die
Bundeswehr im Norden des Landes zu verzeichnen hat.
Es dürfen nicht immer nur die negativen Dinge herausgestellt werden, meine Damen und Herren. Es gibt vieles, wozu wir Ja sagen und wo wir Erfolge aufweisen
können. Auch Franz Josef Jung hat dies auf der Münchener Sicherheitskonferenz bei der Tagung der Verteidigungsminister verdeutlicht. Ich bin froh, dass die Parteienvertreter, die auf dem Münchener Gipfel dabei waren,
diese Haltung unterstrichen haben. Das ist vor allem im
Hinblick auf die Außenwirkung wichtig.
Ich komme mit einem an die Fraktion Die Linke gerichteten Einwurf auf die Diskussion zurück, die wir
vorhin zu diesem Thema hatten. Ich glaube nicht, dass
Ihr Ansatz dazu beiträgt, dass wir Sicherheit in Afghanistan bekommen. Wir haben eben schon gehört, dass
die Parlamentarierin aus Afghanistan, die heute hier zu
Besuch gewesen ist, niemals die Chance erhalten hätte,
hier zu sein, wenn wir wie Sie nur auf zivile Aufbauarbeit gesetzt hätten. Sicherheit bedingt in diesem Fall
auch militärisches Vorgehen.
({1})
In Afghanistan sind wir mit zwei Mandaten vertreten,
zum einen bei OEF mit einem sehr geringen Einsatz,
worauf der Kollege Weisskirchen eben schon hingewiesen hat. In letzter Zeit sind wir dort überhaupt nicht mehr
mit Spezialeinheiten vertreten, umso mehr aber bei der
ISAF-Truppe, bei der zurzeit circa 3 300 deutsche Soldaten Dienst tun. Beide Mandate - dies sollte man an
dieser Stelle auch noch einmal erwähnen - sind mit großer Mehrheit in diesem Hause bestätigt und verlängert
worden. Das ist ein wichtiges Zeichen insbesondere für
die Soldatinnen und Soldaten, die fern der Heimat ihren
Dienst für die Bundesrepublik leisten.
Ich bin schon verwundert, dass wir von dem Thema,
auf das Sie in Ihrem Antrag abzielen, in den letzten Tagen
von Ihnen nichts gehört haben. Herr Trittin hat das Thema
der Trennung von OEF und ISAF oder der Aufhebung des
OEF-Mandats am heutigen Tage angesprochen. Auf der
Münchener Sicherheitskonferenz aber - zumindest ist es
mir dort nicht aufgefallen - und im Verteidigungsausschuss, obwohl wir am Mittwoch darüber knapp zwei
Stunden lang diskutiert haben, ist dieses Thema nicht aufgegriffen worden. Nichtsdestotrotz macht Ihr Antrag, den
wir wie schon in den Ausschüssen ablehnen, weil er einfach nicht weit genug trägt, in einigen Punkten nachdenklich. In der Tat ist einiges zu hinterfragen. Ich denke hier
etwa an die zivilen Opfer bei einer OEF-Bodenoffensive.
Das ist schlimm, und man darf das nicht verharmlosen.
Gleichzeitig muss man aber darauf hinweisen, dass wir es
aufgrund der internationalen Intervention im letzten Jahr
erreicht haben, dass die Zahl dieser Vorfälle deutlich zurückgegangen ist.
({2})
- Doch, Herr Trittin, das ist so. Man muss auch einmal hinterfragen, warum es zu solchen Kollateralschäden - das ist
ein schlimmes Wort für menschliches Leid - kommt. Sie
haben es in Ihrem Antrag richtig dargestellt: Die Terroristen, die Taliban, benutzen die afghanischen Bürgerinnen
und Bürger, um sich unter sie zu mischen und von dort aus
ihre Aktionen zu starten. Das sind schlicht und ergreifend
Kriegsverbrechen, die wir bekämpfen müssen.
({3})
Ich glaube nicht, dass OEF und ISAF unkoordiniert
nebeneinander herlaufen. Es gibt Absprachen, und die
internen Fragen werden miteinander geklärt. Die Kritik
an den OEF-Kräften kann man zwar zur Kenntnis nehmen, aber ich frage Sie - die Frage wurde schon angesprochen -, wie es weitergehen soll, wenn wir den OEFBeitrag beenden. Wer übernimmt dann die Kernaufgaben in Afghanistan? Denn die terroristischen Strukturen,
die es dort nach wie vor gibt, müssen bekämpft werden.
Das wäre wohl die Aufgabe von ISAF. Etwas anderes
wäre der Sache sicherlich nicht zuträglich. Denn - auch
das muss ehrlicherweise festgestellt werden - wer kann
schon unterscheiden, wer in Afghanistan welche Aktion
durchführt? Die Einheimischen werden dies nicht können, und selbst Militärbeobachter werden sich schwer
tun mit der Zuordnung, wer dort welche Aufgabe wahrnimmt.
({4})
Wir müssen weiter gehende Ansätze in der Politik generell finden. Das ist nicht leicht. Man muss dabei sowohl den zivilen als auch den militärischen Bereich im
Blick behalten. Beides gehört zusammen. Der Begriff
„vernetzte Sicherheit“ ist sehr dehnbar, Herr Hoyer. Das
gilt ohne Wenn und Aber. Die Bundesrepublik hat aber
- damit sollten wir nicht hinter dem Berg halten - mit ihren Ansätzen insbesondere im Norden - Umfragen der
Freien Universität Berlin belegen eindeutig, dass wir
dort erfolgreich sind - erreicht, dass sich die Menschen
sicher fühlen. Ich glaube, das sollten wir in den Vordergrund stellen.
Kollege Herrmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Trittin?
Ja, bitte.
Herr Kollege Herrmann, würden Sie mir erstens angesichts der Tatsache, dass jüngst zehn afghanische Polizisten - es waren keine Zivilpersonen - in einer markierten Polizeistation Opfer eines OEF-Einsatzes geworden
sind, zustimmen, dass dies keine wirkliche Verbesserung
der Situation darstellt? Würden Sie es zweitens nicht
auch als problematisch ansehen, dass die afghanische
Bevölkerung - wie Sie zu Recht festgestellt haben nicht zwischen den Operationen von OEF und ISAF unterscheiden kann, aber Operationen stattfinden, von denen die für diese Region zuständigen ISAF-Kommandeure nichts wissen? Ist dies nicht auch und gerade für
die Erfolgsträchtigkeit von ISAF ein Problem?
Erstens. Ich glaube, Anschläge bzw. Unfälle, wie Sie
sie dargestellt haben ({0})
- wenn Sie von Kollateralschäden sprechen, dann werde
ich diesen Begriff aufgreifen; ich wollte ihn eigentlich
nicht verwenden, aber wenn das Ihre Sprachregelung ist,
dann werde ich sie übernehmen -, werden sich auch in
Zukunft, glaube ich, nicht verhindern lassen. Egal wie
vorsichtig ein Einsatz erfolgt, wird es sicherlich in allen
Einsatzszenarien durch Friendly Fire immer wieder zu
Personenschäden kommen. Wenn dort Aktionen parallel
verlaufen, die nicht abgestimmt sind, dann sollte dies
- da gebe ich Ihnen recht, Herr Trittin - abgestellt werden. Aber Sie werden es auch innerhalb einer einzigen
Mission nicht verhindern können, dass es solche Fehlschläge gibt. Daran muss gearbeitet werden, und ich bin
der festen Überzeugung, dass sich das mit entsprechenden Absprachen auch bewerkstelligen lässt.
Wir müssen also, wie gesagt, einen Ansatz finden,
wie es in Afghanistan weitergehen soll, und zwar zum
einen auf der militärischen Seite, um Stabilität zu schaffen, und zum anderen beim zivilen Wiederaufbau. Trotz
allem sollten wir den Begriff der vernetzten Sicherheit
im Blick behalten.
Eine wichtige Frage ist aber, wie wir das in ein Gesamtkonzept für Afghanistan umsetzen können. Das ist
im Norden mit unserem Konzept der PRTs möglich, die
hervorragend und sehr effektiv arbeiten. Im Süden ist
vielleicht eine andere Strategie notwendig. Wir sind in
den nächsten Konferenzen aufgefordert, eine gemeinsame Strategie zu finden, was nicht ganz leicht sein
wird. Das gebe ich ohne Weiteres zu. Wir sollten aber
die Fähigkeiten, die die NGOs und die GOs gemeinsam
aufbringen, dazu nutzen, die Effektivität deutlich zu erhöhen. Sollte uns das nicht gelingen, dann werden wir
auch in Zukunft vor Probleme gestellt, die wir nicht so
schnell abstellen können.
Wir sind gefordert - das ist das Entscheidende -, in
Zukunft eine gute und stabile Regierung in Afghanistan
zu ermöglichen. Daher ist es notwendig, die nächste Parlamentswahl - das wird ein Knackpunkt bei der weiteren
Arbeit in Afghanistan werden - zu unterstützen. Wir
müssen aber auch die in Afghanistan massiv vorhandene
Korruption beenden. Ein wirtschaftlicher Aufschwung,
aber auch die generelle Sicherheit im Land müssen gewährleistet sein.
({1})
Erste Erfolge sind zu verzeichnen - das wurde schon
erwähnt -, zum Beispiel im Bildungssystem. Aber ich
gebe den Kritikern durchaus recht: Das ist noch nicht
ausreichend. Wir müssen deutlich mehr tun. Wo sind in
Zukunft Ansatzpunkte? Auf dem kommenden Gipfel in
Bukarest muss man seitens der NATO davon abgehen,
nur noch über Truppenstärken zu sprechen. Vielmehr
muss man sich Gedanken darüber machen, wie sich die
NATO in ein besseres Licht setzen kann und wie man effektiver arbeiten kann. Auf der angekündigten Afghanistan-Konferenz in Paris werden die Uhren neu gestellt
werden müssen, wenn wir wesentlich mehr Erfolg in Afghanistan haben wollen.
Mit unseren PRTs, wie wir sie im Norden Afghanistans eingerichtet haben, werden wir Erfolg haben. Mein
Dank geht daher an alle Soldatinnen und Soldaten, die
tagtäglich schwere Arbeit insbesondere im Einsatzgebiet
in Afghanistan leisten. Das ist nicht hoch genug zu bewerten. Ohne ihren Einsatz wären wir bei weitem noch
nicht so weit, wie wir es heute sind.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gehrcke für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mich treibt immer die Hoffnung um, dass die von uns
geführten Debatten nicht ganz vergebens sind und dass
man vielleicht das eine oder andere Argument des anderen aufnimmt, prüft und abwägt. Ich finde, heute sind
bemerkenswerte Erkenntnisfortschritte festzustellen. Ich
finde es völlig richtig, was Kollege Hoyer gesagt hat:
Die NATO hat keine gemeinsame Strategie. Das ist nicht
mehr zu leugnen. Das sollten wir öffentlich sagen. Wir
ziehen sicherlich unterschiedliche Schlussfolgerungen
daraus. Ich finde es auch richtig, was Kollege
Weisskirchen gesagt hat: Der Krieg ist militärisch nicht
zu gewinnen. Das kann ich nur unterstreichen. Sagen Sie
das aber auch der Bevölkerung, und zwar laut und deutlich!
({0})
Sie ziehen wahrscheinlich eine andere Schlussfolgerung
daraus. Ich finde es richtig, dass der Vertreter der Bundesregierung im Auswärtigen Ausschuss gesagt hat, dass
sich die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert
hat. Auch das ist nicht zu leugnen. Angesichts der Tatsache, dass sich die Sicherheitslage verschlechtert hat
- nur damit lässt sich der Einsatz von mehr Militär begründen -, dass der Krieg militärisch nicht zu gewinnen
ist und dass es keine gemeinsame NATO-Strategie gibt,
muss man darüber nachdenken, ob nicht andere Strategien - solche sind bislang nicht angewandt worden vernünftiger und erfolgsträchtiger wären.
({1})
Ich will den Antrag der Grünen vor Vereinnahmung
schützen. Ich vereinnahme ihn nicht; denn er ist konträr
zu meiner Position. Das will ich nicht verschweigen.
Aber die Grünen haben gar nicht beantragt, OEF zu beenden. Sie haben nur beantragt, sie mit ISAF zusammenzulegen. Das ist etwas ganz anderes. Kollege Nachtwei,
wenn ich euren Antrag überschreiben müsste, dann
würde ich die Überschrift „Krieg effektiver und besser
führen“ wählen.
({2})
Mein Ziel ist aber, den Krieg zu beenden; denn ohne einen Rückzug aus Afghanistan wird kein Prozess der nationalen Versöhnung in Gang zu bringen sein. In diesem
Kernpunkt unterscheiden wir uns.
({3})
Vieles, was euer Antrag enthält, ist bereits gängige
Praxis oder wird zunehmend gängige Praxis. Vieles, was
OEF übernommen hatte, wird nun von ISAF erledigt. Es
ist völlig klar: Die ISAF-Einsätze sind Kampfeinsätze.
Das leugnet niemand mehr. ISAF führt Krieg in Afghanistan und bestreitet die Kämpfe dort. Daher kann man
das durchaus zusammenlegen. Aber damit hat sich der
Charakter von ISAF grundsätzlich verändert. Man muss
die Folgen einer solchen Strategie ansprechen. Ich verstehe den Hintergrund eures Antrages. Der Druck bei
euch Grünen wächst. Ihr schafft es nicht mehr, auf eurem
Parteitag eure Politik zu vermitteln. Deswegen müsst ihr
ein bisschen Puderzucker darüber streuen. Das wird auf
Dauer nicht helfen.
({4})
Ihr werdet eines nicht aus den Augen verlieren können
- und die Frage hat hier keiner beantwortet -: Sind denn
86 Prozent der deutschen Bevölkerung so doof, dass sie
nicht begreifen, dass die Truppen dort bleiben müssen,
oder sind 86 Prozent der Bevölkerung klüger als die
Mehrheit hier im Parlament?
({5})
Ich behaupte, Letzteres ist der Fall.
({6})
- Das sind die bisherigen Angaben. - Es kann Ihnen
auch nicht verborgen geblieben sein, dass Sie in der
Friedensbewegung nicht mehr auch nur ein müdes Lächeln auslösen; vielmehr hat die Friedensbewegung mit
dieser Politik der Grünen nichts zu tun, und sie will damit nichts zu tun haben. Das entwickelt politischen
Druck.
({7})
Wir haben noch keine Chance gehabt, ein Konzept des
Rückzuges politisch griffig zu machen, weil die Losung
immer mehr Soldaten und nicht weniger Soldaten ist.
({8})
Wir können beweisen, dass Ihr Konzept nicht den Erfolg
bringt, den Sie wollen. Wir können gute Argumente
bringen, warum eine politische Kurswende sinnvoller
für die Menschen in Afghanistan wäre.
Noch ein letzter Satz: Ich prophezeie Ihnen hier, dass
Sie in regelmäßigen Abständen immer mehr Truppen für
Afghanistan beantragen werden und beantragen müssen.
Kollege Gloser hat das schon sehr deutlich gesagt. Es
wird Runde für Runde weitergehen, und es werden mehr
Soldaten gefordert werden. Mehr Soldaten bedeuten
aber weniger Sicherheit und mehr Opfer. Der Friedensschluss wird immer schwieriger. Deswegen muss man
eine Kurswende vornehmen. Das erreicht ihr mit eurem
Antrag aber nicht.
Danke sehr.
({9})
Das Wort hat der Kollege Winfried Nachtwei für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der Öffentlichkeit wird das Thema Afghanistan viel
zu viel und oft fast nur unter Militärgesichtspunkten diskutiert. Ausschlaggebend ist doch Folgendes: Wenn es in
Afghanistan vorangehen soll, dann muss es mit der politischen Konfliktlösung vorangehen. Ich merke auch jetzt
wieder, dass die meisten völlig übereinstimmen. Das
wird auch immer wieder hier im Haus betont. Allerdings
sollten wir über diese richtige Feststellung nicht den
heiklen Militärfragen ausweichen. Das ist meine Erfahrung, auch bei den Debatten zu „Enduring Freedom“.
Die Mehrheit spricht lieber über ISAF und über die Herausforderungen des Aufbaus, aber nicht über „Enduring
Freedom“, welches eine ganz besonders problematische
Operation ist.
Hier muss man näher hinschauen. Die Bundesregierung leistet dazu nichts. Seit Jahren leistet sie nichts hinsichtlich genauerer Information und praktisch nichts,
was Stellungnahmen betrifft. Deshalb muss man selbst
versuchen, an Informationen zu kommen. Ich male hier
kein Schwarz-Weiß-Bild. Ich weiß sehr wohl, dass
„Enduring Freedom“ inzwischen auch große und nützliche Ausbildungsanteile hat. Was aber ist der Kern dabei?
Der Kern ist etwas anderes. Bei genauerem Hinsehen
stellt sich für uns tatsächlich heraus, dass diese Operation in keiner Weise mehr zu rechtfertigen ist. Sie ist inzwischen ausgesprochen schädlich für den ganzen Aufbauprozess. Sie ist weiterhin eine ausdrücklich national
geführte Operation der USA. Sie steht damit im Widerspruch zum Unterstützungsansatz der Staatengemeinschaft für die afghanische Regierung,
({0})
und sie ist eigentlich auch ein Affront gegen die Bündnisloyalität, die in den letzten Wochen so stark von der
Bundesrepublik gefordert wurde. Eine solche Separatoperation hat doch mit Bündnisloyalität absolut nichts zu
tun.
({1})
Der harte Kern von „Enduring Freedom“ sind mehr
als tausend Spezialsoldaten, und diese sind Speerspitze
einer offensiven Bekämpfung des Aufstands und Terrors
der Taliban. Sie sind praktischer Ausdruck des „War
against Terrorism“. Sie sind damit Ausdruck der illusionären Vorstellung, man könnte eine solche Art von Aufstandsbewegung militärisch besiegen. Das ist eine Illusion. Auch hierbei zeigt sich wieder: Die USA bringen
eine beispiellose militärtechnologische Überlegenheit
zum Ausdruck.
({2})
Ständig werden taktische Siege gemeldet. In Wirklichkeit müssen wir aber feststellen, dass der Einfluss der
Taliban am Boden immer mehr zunimmt und dass dabei
immer mehr Köpfe und Herzen der Menschen verloren
gehen. Diese Art der Kriegsführung ist auch unter Verbündeten im Süden umstritten. Allerdings wird sie im
Rahmen der NATO praktisch nicht thematisiert. Die
Bundesregierung darf sich nicht länger damit begnügen,
auf die eigenen unbestreitbaren Erfolge im Norden zu
verweisen. Sie muss diese Strategiedebatte in der NATO
offensiv führen, damit es zu einem Strategiewechsel
kommt.
({3})
Es reicht auch nicht, dass sich die Bundesrepublik
nicht mehr an dieser Operation beteiligt - das ist ja das
Mindeste -, sondern die Bundesregierung muss sich dafür einsetzen, dass diese Separatoperation insgesamt eingestellt wird - sie ist, wie sich beim näheren Hinsehen
herausgestellt hat, ein Irrweg - und dass Ausbildungen
und sicherheitspolitische Unterstützungen in Afghanistan nur noch unter dem Dach von ISAF und eindeutig im
Rahmen von Völkerrecht und Menschenrecht stattfinden. Wenn dieses nicht geschieht, dann ist absehbar, dass
die Eskalation gerade im Süden weitergeht und auch den
noch relativ sicheren Norden nicht unbeschadet lässt.
Deshalb: Aufbauoffensive einerseits, Strategiewechsel
andererseits. Beides gehört untrennbar zusammen.
Herr Kollege Nachtwei, kommen Sie bitte zum
Schluss!
Ich habe Sie gehört und höre sofort auf.
Danke.
({0})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Sascha
Raabe das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wenn ich mit Menschen in Deutschland
über den Afghanistan-Einsatz diskutiere, dann werde ich
als entwicklungspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion
oft gefragt: Warum zieht ihr eure Soldaten nicht ab und
steckt die dafür vorgesehenen Mittel zusätzlich in den
Wiederaufbau und die Entwicklungszusammenarbeit?
({0})
So ähnlich argumentiert ja auch die Linkspartei bzw. der
Kollege Gehrcke.
Als Parlamentarier und Entwicklungspolitiker, der
Verantwortung trägt und der natürlich wie alle Kolleginnen und Kollegen äußerst ungern und immer mit einem
Unwohlsein das Leben von Soldaten im Ausland riskiert, muss ich auch die Frage stellen: Kann ich es verantworten, Entwicklungshelfer von unseren staatlichen
Organisationen, aber auch von Nichtregierungsorganisationen, die wir finanziell unterstützen, mit dem Wissen
nach Afghanistan zu schicken, dass sie voraussichtlich
mit ihrem Leben dafür bezahlen müssen, wenn sie dort
ohne Schutz tätig sind?
Man muss diese Diskussion ehrlich miteinander führen. Wer sagt, dass die deutschen Truppen und das USamerikanische Militär aus dem Nordosten Afghanistans
abziehen sollen, der muss dazu sagen, dass das bedeuten
würde, dass wir von heute auf morgen alle Entwicklungshelfer abziehen müssten und dass all das gefährdet
wird, was wir in den letzten Jahren erreicht haben: Wir
haben 3 500 Schulen aufgebaut, und jetzt können 6 Millionen Schülerinnen und Schüler in die Schule gehen;
wir haben 2,5 Millionen Menschen mit Strom und fast
1 Million Menschen mit Trinkwasser versorgt. All das
würde gefährdet; denn wenn die US-Amerikaner und die
Deutschen Afghanistan verlassen, dann werden die Taliban - anzunehmen, dass das anders wäre, ist ein großer
Trugschluss - nicht sagen: Schön, es werden weiter
Schulen gebaut, und die Frauen können sich weiterhin
am Leben beteiligen. - Ganz im Gegenteil: Die Taliban
sind doch gegen diese Ziele, die wir mit der Entwicklungszusammenarbeit erreichen wollen. Sie wollen doch
gar nicht, dass alle Menschen, also auch Frauen, ein Anrecht auf selbstbestimmte Bildung und freie Meinungsäußerung haben. Deswegen ist es den Menschen gegenüber, denen wir helfen wollen, verantwortungslos, so zu
argumentieren wie die Linkspartei.
({1})
Die Wahrnehmung der Regierungsarbeit ist natürlich
in jedem Land unterschiedlich. Wenn man die Menschen
und Parteien in Deutschland über die Arbeit der Regierung und die Lage in Deutschland befragen würde, ergäben sich ganz verschiedene Bilder. Auch in Afghanistan
gibt es natürlich verschiedene Meinungen. Aber Sie von
der Linkspartei zitieren immer nur eine afghanische Abgeordnete als Kronzeugin. Im Rahmen einer Untersuchung der Freien Universität Berlin wurden die Menschen im Nordosten Afghanistans gefragt, wie sich aus
Ihrer Sicht die Sicherheitslage in Afghanistan verbessert
habe. 99 Prozent der Befragten sagen, dass sich die Sicherheitslage durch die ausländischen Truppen, insbesondere durch die Präsenz der Deutschen, verbessert hat.
Zwei Drittel der Menschen, die dort leben - es wurde
nur nach den letzten zwei Jahren gefragt -, gaben an,
dass sie gespürt haben, dass sich ihre Lebenssituation
durch Straßenbau und Trinkwasserversorgung konkret
verbessert hat. Immerhin in der Hälfte aller Gemeinden,
die über die letzten zwei Jahre befragt wurden, haben die
Menschen gesagt: Bei uns können die Kinder jetzt wieder in die Schule gehen. Wir haben gesehen, dass
Deutschland Schulen bei uns baut und dass Entwicklungsorganisationen uns helfen. - Diese Menschen finden das also sehr positiv.
({2})
Herr Gehrcke, Sie müssen den Kollegen
Weisskirchen richtig zitieren. Er hat nicht gesagt, dass
der Krieg militärisch nicht zu führen ist, sondern er hat
gesagt: Der Krieg ist nicht allein militärisch zu führen.
Da hat Herr Weisskirchen recht. Dieser Unterschied ist
wichtig. Das, was wir mit den Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit dort machen - wir geben Eltern die
Möglichkeit, ihre Kinder in die Schule zu schicken, sodass sie nicht in die Koranschulen der Islamisten, der Taliban, gehen müssen -, ist der beste Schutz, die beste
Prävention davor, dass Menschen sich diesen Terroristen
anschließen. Wir brauchen eben beides: Entwicklungszusammenarbeit und militärische Absicherung.
Es muss die Möglichkeit geben, dass unsere Entwicklungshelferinnen und Entwicklungshelfer diese Arbeit
leisten. Wenn das der Fall ist, werden wir relativ schnell,
in einigen Jahren, unsere Soldaten abziehen können. Die
Afghanen wünschen sich nichts mehr als das: Die Afghanen wollen selbst mit eigener Polizei, mit eigenem
Militär, mit ihren eigenen Möglichkeiten und mit ihren
eigenen Lehrerinnen und Lehrern, die wir ebenfalls ausbilden, ihr Land gestalten. Sicherlich ist es deshalb wichtig, dass wir ihnen dabei helfen.
Ich sage zum Schluss: Wir sollten allen Entwicklungshelferinnen und Entwicklungshelfern genauso wie
unseren Soldaten dafür danken, dass sie diese Arbeit machen. Wir sollten sie nicht gegeneinander ausspielen. Ich
glaube, dass unser Engagement in diesem Sinne gut ist.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen mit dem Titel „Für einen sicherheitspolitischen Kurswechsel in Afghanistan - Nebeneinander von
ISAF und OEF beenden“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/6497,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/5587 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der
FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Vizepräsidentin Petra Pau
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das Instrument der Wahlbeobachtungen
durch die OSZE darf nicht geschwächt werden - ODIHR muss handlungsfähig und unabhängig bleiben
- Drucksache 16/8048 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Markus Meckel für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir wollen in dieser Debatte deutlich machen,
dass Wahlbeobachtung ein zentrales und wichtiges Instrument ist zur Stärkung von Demokratien, insbesondere in solchen Ländern, in denen Demokratie noch eine
Aufgabe ist und in denen es wichtig ist, Prozesse zur Demokratie hin entsprechend zu unterstützen.
({0})
Wahlbeobachtung soll Vertrauen in demokratische Institutionen stärken, durch Transparenz und durch Kontrolle. Wie wir alle wissen, wird in manchen Ländern - ich
selber habe in einem solchen Land gelebt, in der DDR manches Wahl genannt, was keine Wahl ist. Aus dieser
Erfahrung heraus gab es 1990, das heißt in den Zeiten
der großen Umbrüche in Europa, die Initiative, für Wahlbeobachtungen eine eigene Institution zu schaffen. Diese
Initiative kam - nicht ganz zufällig - aus Polen. Sie ging
von dem ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten, Tadeusz Mazowiecki, aus. Er hat damals nach Warschau eingeladen.
Ich war damals, in dieser kurzen Umbruchzeit, als
Außenminister der DDR an den dortigen Diskussionen
beteiligt. Es ging darum, wie Wahlbeobachtungen stattfinden und wo die entsprechenden Institutionen angesiedelt werden sollten. Ich glaube, dass es ein ganz wesentlicher Schritt war, dass in jener Umbruchzeit damals
diese Initiative gestartet wurde. Heute können wir sagen:
ODIHR ist ein Erfolg. ODIHR ist ein europäischer
Erfolg. ODIHR ist ein Erfolg für die Demokratie in
Europa.
({1})
Der Erfolg dieser Institution - ich beschränke mich in
meiner Aussage ganz klar auf diese Institution, die wir in
Warschau haben - hängt ganz wesentlich an ihrer Unabhängigkeit; dies ist auch im Antrag mit Recht sehr deutlich ausgesprochen worden. Die Mitgliedstaaten der
OSZE und andere Institutionen sollen keine Möglichkeit
haben, unmittelbar auf die Beschreibung des Wahlergebnisses einzuwirken. - Das ist das eine, was für die Zukunft unbedingt festgehalten werden muss.
Das Zweite, was hier festgehalten werden muss: Es
bedarf der langfristigen Wahlbeobachtung. Viele Kollegen, gerade auch von uns, die wir uns mit diesem Thema
beschäftigen, haben in der Vergangenheit an Wahlbeobachtungen teilgenommen, an solchen durch die
OSZE, durch den Europarat, durch die NATO-Versammlung oder durch andere parlamentarische Versammlungen. Es ist wichtig, dass wir als Parlamentarier an solchen Wahlbeobachtungen teilnehmen. Jeder, der dies
getan hat, weiß, dass die Anreise kurz vorher und das Erleben am Wahltag - kurz danach reist man wieder ab dazu dienen, dem, was durch Langzeitbeobachtung festgestellt wurde, Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit zu
verschaffen. Diejenigen, die Langzeitbeobachtung vor
Ort machen, haben die eigentliche Erfahrung. Das ist der
Kern wirklicher Wahlbeobachtung.
({2})
Wir brauchen eine langfristige Wahlbeobachtung. Es
muss beobachtet werden, wie die Kandidatenaufstellung
läuft, wie der Zugang zu den Medien ist, ob die Bürger
im Vorfeld das Recht haben, wirklich freie Wahlen vorzubereiten, sodass sie wissen, welche Kandidaten es
gibt, was bzw. wen sie wählen können. Diese Differenzierung ist dringend notwendig. Sie ist mit einer Kurzzeitbeobachtung nicht zu leisten.
({3})
In diesen Kontext gehört auch die Zahl der Wahlbeobachter. Eine Beschränkung, wie manche sie vorschlagen, ist kontraproduktiv. Das Ergebnis wäre eine
Wahlbeobachtung, die nicht wirklich offen ist und die
die Dinge nicht entsprechend untersuchen kann. Sie
führte zu einer Legitimation von Wahlen, die eben nicht
fair abgelaufen sind, was das ganze Instrument diskreditieren würde.
Wir brauchen sogar noch einen Fortschritt gegenüber
dem, was bisher ist. Wahlbeobachter sollten für die Zeit,
in der sie diese Tätigkeit ausüben, den Diplomatenstatus
erhalten. Dieser Status ist wichtig für die Akzeptanz im
Land. In einem Land, in dem man lieber verhindern
würde, dass die Wahlbeobachtung allzu intensiv wird,
würde so ein Schutz für die Wahlbeobachter geschaffen.
({4})
In jüngster Zeit sind von Russland und anderen Ländern leider Versuche unternommen worden, die Balance,
die wir gerade erreicht haben, zu zerstören, indem man
die Unabhängigkeit verhindert. Der Ministerrat sollte
entscheiden, Staatengruppen innerhalb der OSZE sollten
Einfluss gewinnen, damit ein politischer Streit über die
Bewertung einer Wahl stattfinden kann. Solchen Versuchen müssen wir widerstehen. Eher sind die Instrumente
zu schärfen, als dass wir politischen Einfluss zulassen
dürfen.
({5})
Leider hat es in der Vergangenheit so manche Diskussion und Spannung zwischen der Parlamentarischen Versammlung der OSZE und ODIHR gegeben. Ich glaube,
dass solche Spannungen ausgesprochen kontraproduktiv
sind
({6})
und wir als Parlamentarier in aller Klarheit den Wert von
ODIHR wie eine Perle hochhalten sollten; denn die
Kernkriterien von wirklicher Wahlbeobachtung sind
Langfristigkeit, Transparenz und Unabhängigkeit.
({7})
Diese Kriterien sollten wir als Parlamentarier unterstützen und öffentlich immer wieder ihren Wert deutlich machen.
Das heißt, Versuche von Parlamentariern, parallel zu
den Berichten von ODIHR eigene Berichte zu schreiben,
sind kontraproduktiv und helfen uns nicht. Vielmehr
schaden sie unserem Image. Von gemeinsamer unabhängiger Wahlbeobachtung kann dann nämlich keine Rede
mehr sein. Ich halte es deshalb für ausgesprochen wichtig, dass diese Kriterien beibehalten werden und wir als
deutsche Parlamentarier uns gemeinsam innerhalb der
Parlamentarischen Versammlung dafür einsetzen, diesen Streit zu beenden, und zwar so, dass die genannten
Kriterien nicht angetastet werden.
Ein letztes Wort zu früheren Wahlbeobachtungen. Mir
bereitete es große Sorge, wie etwa die Wahlbeobachtung
in Georgien vonstatten gegangen ist. Wenn Wahlbeobachter, seien es auch Parlamentarier, bei der Vorstellung von Kandidaten auftreten und sehr deutlich machen, dass sie für einen bestimmten Kandidaten
besondere freundschaftliche Gefühle hegen, dann wird
damit die Neutralität der Wahlbeobachtung, die dringend
nötig ist, verletzt. Dies schadet der gemeinsamen Wahlbeobachtung. Ich denke, dass wir darauf achten müssen,
dass die Neutralität strikt gewahrt wird. Es muss immer
der Grundsatz gelten: Wir als Parlamentarier nehmen an
Wahlbeobachtung teil, um die professionelle Wahlbeobachtung von ODIHR entsprechend zu unterstützen.
({8})
Ich bedaure sehr, dass keine Beobachtung bei den
jetzt anstehenden Wahlen in Russland möglich ist. Ich
begrüße aber, dass ODIHR seinen Prinzipien treu geblieben ist und deutlich gemacht hat, dass man sich nicht erpressen lässt.
({9})
Wenn es nur einer sehr begrenzten Zahl von Wahlbeobachtern von russischer Seite gestattet wird, einige wenige Tage vor der Wahl nach Russland zu reisen, wird
die Wahlbeobachtung konterkariert - faktisch mit dem
Ziel, eine Legitimation für eine nicht fair durchgeführte
Wahl zu bekommen. Das können wir nicht zulassen und
müssen in dieser Frage ODIHR den Rücken stärken. Ich
hoffe sehr, dass wir dies hier gemeinsam tun.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat der Kollege Markus Löning für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Wir
mussten heute Morgen den Spott des lupenreinen Autokraten Wladimir Putin zur Kenntnis nehmen, der über
eine Agentur verbreitet hat,
die OSZE verzichte in einigen Ländern auf die Entsendung von Wahlbeobachtern, damit diese zu
Hause ihren Frauen das Kochen der russischen
Kohlsuppe … beibringen könnten.
Das ist eine politische Sichtweise gegenüber Wahlbeobachtung, die absolut inakzeptabel ist.
({0})
Das ist eine Herangehensweise, die die Axt an die Wurzel der OSZE legt.
Die OSZE basiert auf Zusammenarbeit und Vertrauen. Wer die OSZE und ihre Wahlbeobachtungsmissionen in dieser Art und Weise verspottet, zeigt, wes
Geistes Kind er ist und was er von Wahlbeobachtung
und von Demokratie hält. Es steht nämlich dem Präsidenten von Russland, das ja Mitglied der OSZE ist, nicht
zu, sich so zu äußern. Er muss sich auch die Frage gefallen lassen, welche Wirkung das auf andere Länder hat,
wenn er in so spöttischem Ton über die OSZE spricht.
Dies stellt die verbale Materialisierung dessen dar, was
wir bei dem Drama der Beobachtung der Duma-Wahlen
erlebt haben. Sie, Herr Meckel, haben gerade in Bezug
auf die Präsidentschaftswahlen geschildert, wie Russland hier versucht, sich einen schlanken Fuß zu machen
und die Wahlbeobachtung durch Hinhaltetaktiken und
unmögliche Auflagen zu verhindern und letzten Endes
den anderen Ländern dafür die Schuld in die Schuhe zu
schieben. Das ist nicht akzeptabel. ODIHR ist ein absolut wichtiges Mittel für die Vertrauensbildung und die
Zusammenarbeit in Europa. Vertrauen braucht Transparenz, und Wahlbeobachtung durch die ODIHR schafft
Transparenz und dadurch Vertrauen.
({1})
Lassen Sie mich etwas zum Thema Langfristbeobachtung sagen, weil das hier in Bezug auf Russland eine
große Rolle gespielt hat. Jeder von uns hat selber schon
Wahlkampf geführt und weiß, dass die korrekte Durchführung im Wahllokal selbstverständlich von entscheidender Bedeutung ist, dass wichtig ist, dass dort nicht
betrogen wird. Aber jeder von uns weiß genauso gut,
dass es auch auf die vier bis acht Wochen vorher ankommt und auf die Fragen: Welchen Zugang zu den Medien habe ich? Wie kann ich für meine Position Wahlkampf betreiben und auf mich aufmerksam machen?
Habe ich Zugang zu den Bürgern? Habe ich Zugang zu
den Medien? Kann ich mich in den öffentlichen Medien
darstellen? Oder ist diese Darstellung auf die eine oder
andere Staatspartei beschränkt, wie wir das in Russland
erlebt haben? - Es ist von höchster Wichtigkeit, dass die
Langzeitbeobachtung durch ODIHR weiter fortgesetzt
wird. Anders werden wir keine Neutralität und keine
echte Darstellung dessen bekommen, was in den Wahlkämpfen wirklich geschieht.
({2})
Lassen Sie mich an der Stelle einen Satz einflechten,
Herr Meckel, weil Sie Georgien angesprochen haben:
Ich kann Ihnen da nur voll beipflichten. Das, was ich
dazu gelesen habe, geht nicht; das will ich auch für die
Delegation des Europarates sagen. Wir demontieren unsere eigenen Instrumente, wenn wir dort die falschen
Leute hinschicken und sich diese so verhalten, wie Sie es
gerade hier geschildert haben. Auch wir haben die
Pflicht, darauf zu achten, dass Europarat und OSZE die
richtigen Leute dort hinschicken und ordentlich beobachten lassen.
({3})
Meine Damen und Herren, wir senden mit diesem
Antrag ein klares Signal für eine vernünftige Fortführung der Arbeit von ODIHR, für eine Stärkung und die
Unabhängigkeit von ODIHR aus. Wir können nicht wollen, dass die Minister sich im Ministerrat über die politische Bewertung einer Wahl unterhalten. Die Wahlbeobachtung muss unabhängig erfolgen. Es ist essenziell,
dass die ODIHR, auch in der Bewertung, ihren
unabhängigen Status behält. Ich glaube, dass es ein gutes, ein starkes Signal des Deutschen Bundestages in
Richtung Russland ist, wenn wir das mit vier Fraktionen
gemeinsam beschließen. Ich hoffe, dass die Bundesregierung sich dem anschließt und dieses Signal des Deutschen Bundestages auch im OSZE-Ministerrat weitergibt.
Vielen Dank.
({4})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Eckart
von Klaeden das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! In unserem interfraktionellen Antrag fordern wir
die Kolleginnen und Kollegen in der russischen Staatsduma auf, sich dafür einzusetzen, dass die Zahl internationaler Wahlbeobachter bei kommenden Wahlen in
Russland wieder deutlich erhöht wird. Das bezieht sich
vor allem auf die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen am 2. März. Aber aufgrund des Verhaltens der russischen Regierung muss diese Aufforderung leider als obsolet betrachtet werden.
Eine ähnliche Situation, wie wir sie jetzt vor den Präsidentschaftswahlen erleben, haben wir vor zwei Monaten schon einmal erlebt, als es um die Duma-Wahlen gegangen war. Auch jetzt hat die russische Regierung
wieder die Beobachtung des Wahlkampfes in den letzten
Wochen vor dem Wahltermin unmöglich gemacht und
die Anzahl der Wahlbeobachter reduziert. Deswegen war
es eine konsequente und richtige Entscheidung sowohl
des für Wahlbeobachtungen zuständigen OSZE-Büros
für demokratische Institutionen und Menschenrechte,
abgekürzt ODIHR, als auch der Parlamentarischen Versammlung der OSZE, die jeweils geplanten Missionen
abzusagen.
Das russische Verhalten ist insbesondere vor dem
Hintergrund bedauerlich, dass Russland im Jahre 1994
den Beschluss der OSZE unterstützt hatte, ODIHR eine
größere Rolle bei der Beobachtung von Wahlen einzuräumen, und mit dieser Entscheidung auch eine Selbstverpflichtung eingegangen ist.
({0})
Wir sprechen hier und auch in der deutschen Öffentlichkeit viel über die Frage, wie wir unser Verhältnis zu
Russland gestalten sollen. Ich will ganz deutlich sagen:
Wie sich Russland im Rahmen der OSZE und im Europarat verhält, ist ein Lackmustest dafür, wie europafreundlich Russland ist und ob Russland ein guter Nachbar sein will.
({1})
Unter der Bezeichnung „Organisation für Sicherheit
und Zusammenarbeit in Europa“ wurde am 1. Januar
1995 die „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit
in Europa“ institutionalisiert. Die KSZE leistete einen
wichtigen und nicht wegzudenkenden Beitrag zum Frieden in Europa. Die Konferenz war die einzige Organisation, die über die Blöcke hinweg Mitgliedstaaten der
NATO, des Warschauer Paktes sowie neun weitere neutrale und blockfreie Staaten Europas zusammenführte.
In der Schlussakte von Helsinki aus dem Jahre 1975
wurden drei Themenbereiche, die sogenannten Körbe,
festgelegt: erstens militärisch-politische Fragen, zweitens
Fragen der wirtschaftlichen Kooperation sowie drittens
die menschliche Dimension, das heißt die Verpflichtung
zur Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten.
Dabei stand die Idee, dass es in Europa nur eine gemeinsame und nicht eine zweigeteilte Sicherheit geben kann,
im Mittelpunkt. Deswegen ist diese Idee im Rahmen der
OSZE nach wie vor wichtig und aktuell. Wer sich diesem
Gedanken verpflichtet fühlt, der muss sich im Rahmen
dieser Organisation auch konstruktiv verhalten.
Immer wieder gingen von den KSZE-Treffen wichtige Impulse aus. Die Schlussakte von Helsinki aus dem
Jahre 1975 habe ich schon genannt. Aber auch die
Charta von Paris aus dem Jahre 1990 und die Europäische Sicherheitscharta von Istanbul aus dem Jahre 1999
sind wichtige und bedeutende Dokumente dieses europäischen Friedens- und Entspannungsprozesses.
In der Charta von Paris verpflichteten sich die KSZEStaaten, „die Demokratie als die einzige Regierungsform
unserer Nationen aufzubauen, zu festigen und zu stärken“. Demokratie wurde definiert als auf den Volkswillen gegründet,
der seinen Ausdruck in regelmäßigen, freien und
gerechten Wahlen findet. Demokratie beruht auf
Achtung vor der menschlichen Person und Rechtstaatlichkeit. Demokratie ist der beste Schutz für
freie Meinungsäußerung, Toleranz gegenüber allen
gesellschaftlichen Gruppen und Chancengleichheit
für alle.
Menschenrechte und Grundfreiheiten wurden als allen
Menschen von Geburt an eigen bezeichnet. Sie seien unveräußerlich und durch das Recht gewährleistet.
Die Festlegung dieser gemeinsamen Standards war
ein Meilenstein in der Geschichte des Nachkriegseuropas. Doch leider war dem in der Pariser Charta angekündigten Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der
Freiheit keine allzu lange Dauer beschieden. Nur wenige
Jahre später brachen alte Divergenzen wieder auf, die
leider nie vollständig ausgeräumt waren. Russland
wollte zu den Erklärungen der Schlussakte von Helsinki
zurückkehren und damit die „alten Reviere“ wiederbeleben, während die meisten anderen OSZE-Staaten mit der
Entwicklung nach dem Ende des Kalten Krieges aus guten Gründen zufrieden waren und sind.
Der Kern dieses Konflikts in der OSZE zwischen den
westlichen Staaten und Amerika sowie der Mehrheit der
früher zur Sowjetunion gehörenden Staaten einerseits
und Russland andererseits besteht in der unterschiedlichen Interpretation der Konvention. Während der Westen und die genannten Staaten die KSZE/OSZE-Dokumente als Basis für die Verbreitung von gemeinsamen
Werten betrachten, sieht Russland darin eine Auseinandersetzung um geopolitische Einflusssphären. Es stellt
sich daher die Frage, wie vor diesem unterschiedlichen
Hintergrund weiter vorzugehen ist.
Russland behauptet, am Bestand der OSZE weiterhin
ein Interesse zu haben. Diese Aussage muss man angesichts des russischen Verhaltens der letzten Monate allerdings in Zweifel ziehen. Auch für Moskau gelten die
Selbstverpflichtungen im Rahmen der OSZE. Die OSZE
ist eben nicht nur eine Plattform, die man zur Durchsetzung der eigenen Interessen benutzt. Sie ist ein Forum,
in dem alle 56 Mitgliedstaaten gleichrangig und gleichberechtigt Fragen diskutieren können, aber auch Entscheidungen treffen müssen.
Dass Beschlüsse einstimmig gefasst werden müssen,
macht die Arbeit der Organisation allerdings nicht einfacher. Wichtig ist jedoch, dass die OSZE glaubwürdig
bleibt und an ihren Prinzipien festhält. Das gilt im Übrigen auch für die Parlamentarische Versammlung der
OSZE, die das Ziel verfolgt, die parlamentarische Beteiligung an den OSZE-Aktivitäten zu begleiten und zu fördern.
Eine enge Zusammenarbeit zwischen den beiden organisatorisch völlig unabhängig arbeitenden Institutionen ist daher nicht nur wünschenswert, sondern auch
notwendig. Es ist somit nur folgerichtig, dass sich nun
nach ODIHR auch die OSZE-PV entschlossen hat, keine
Beobachter zu den russischen Präsidentschaftswahlen zu
entsenden, wie sie dies noch zur Duma-Wahl getan hatte.
Wollen wir die Werte und die Interessen, die dem Gedanken der OSZE zugrunde liegen, hochhalten und verbreiten, so müssen deren Institutionen an einem Strang
ziehen. Gegenseitige Eitelkeiten sind hier absolut fehl
am Platze. Damit würde man nur das Geschäft derjenigen betreiben, die einen Keil zwischen diese beiden Einrichtungen treiben wollen.
({2})
Eine ähnliche Entwicklung wie in der OSZE ist bedauerlicherweise im Europarat festzustellen. Sichtbar
wurde das erst vor einigen Wochen bei der anstehenden
Wahl des neuen Präsidenten der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. Gemäß dem ungeschriebenen Gesetz der Rotation zwischen den fünf politischen
Gruppierungen hätte der Vorsitzende eigentlich von
Russland gestellt werden müssen.
({3})
- Von der bürgerlichen Gruppe, die dann wiederum den
Repräsentanten von Putins Partei „Einiges Russland“
vorgeschlagen hatte. - Die anderen Gruppierungen hielten aber eine solche Wahl zu Recht mit den Prinzipien
des Europarates für unvereinbar.
({4})
- Exakt; davon habe ich ja gesprochen, Frau Kollegin.
Zu wenig entspricht die politische Situation in Russland - dabei nehme ich nicht nur Bezug auf die keineswegs fair verlaufenen Duma-Wahlen, sondern auch auf
die düstere Lage in Tschetschenien, die zunehmende
Einschränkung der Bürger- und Freiheitsrechte, die Gängelung unabhängiger Journalisten und die Behandlung
von Vertretern ausländischer Institutionen, zum Beispiel
des British Council usw. - den Standards des Europarates. Hinzu kommt: Das russische Parlament hat bis heute
das Abkommen zur Abschaffung der Todesstrafe nicht
ratifiziert, obwohl Russland seit 1996 Mitglied des Europarates ist und damit für Russland der Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention sowie ihrer Zusatzprotokolle verbindlich ist.
Bedauerlicherweise blockiert Russland auch die Reform des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, weil Moskau nicht das 14. Zusatzprotokoll ratifiziert, das eine Reform des Gerichtshofes so möglich
machen würde, dass er tatsächlich seiner Aufgabe wieder nachkommen und sich auf die wesentlichen Fälle
konzentrieren kann.
Abschließend will ich betonen: Es gibt in der Frage
unseres Verhältnisses zu Russland, in der Energiesicherheit, bei Pipelineprojekten, in der Raketenabwehr und
der Nachbarschaftspolitik, sicherlich Punkte, über die
man streiten kann und bei denen wir in diesem Haus unterschiedlicher Ansicht sind. Dass uns die OSZE und der
Europarat wichtig sind, steht aber außer Zweifel und ist
der Lackmustest für die Europafreundlichkeit und die
Frage, ob Russland ein guter Nachbar in Europa sein
will.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Monika Knoche für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und
Damen! Mit der Gründung der KSZE vor 30 Jahren waren die Vereinbarung über vertrauensbildende Maßnahmen im militärischen Bereich und die gegenseitige Zusicherung der territorialen Integrität verbunden, aber auch
- daran erinnere ich mich gut und gern - die große Hoffnung auf Anerkennung der Menschenrechte durch die
damalige Sowjetunion. Der Geist von Helsinki gab Zuversicht, dass ein gewisses Maß an Demokratie, Weltoffenheit sowie an kulturellen und politischen Freiheiten
auch innerhalb des Warschauer Vertragsstaatenbündnisses möglich werden könnte. Es ist schade, dass man mit
Blick auf das Russland von heute diese Leistung von
Breschnew damals wenig sieht.
({0})
Es ist aber auch schade, dass das heutige Russland seinem historischen Anteil an dieser wichtigen Tradition so
wenig Beachtung schenkt.
Die OSZE wurde zum Begleiter des Transformationsprozesses, zum Wahlbeobachter in ehemaligen Sowjetrepubliken. Heute stellen wir fest, dass, wenn es um die
Beurteilung des demokratischen Prozesses geht, viel zu
sehr danach gefragt wird, wie stark die Westausrichtung
und die Öffnung zur NATO sind und wie erfolgreich die
orangenen Revolutionen waren. Das wird quasi als Demokratiesiegel bewertet. Das kritisieren wir, die Linken.
({1})
Die Absage der Wahlbeobachtung der OSZE anzulasten, wie Russland das derzeit tut, kann die Zustimmung
der Linken nicht finden.
({2})
Die Präsidentenwahlen in Russland werden stattfinden,
ohne dass die Bürgerinnen und Bürger eine wirkliche
Wahlmöglichkeit haben. Dass der Wahlprozess demokratischen Standards entsprechen oder genügen würde,
behauptet noch nicht einmal die KP Russlands. Der zu
erwartende Wahlsieg von Medwedew wird aber kaum
auf Wahlmanipulation, sondern wohl doch auf überwältigende Zustimmung für Putin und seinen Kandidaten
zurückzuführen sein.
({3})
Man möchte meinen, dass es im Eigeninteresse Russlands läge, das Büro für demokratische Institutionen und
Menschenrechte der OSZE zu stärken. Angesichts bestimmter Bedrohungen, denen sich Russland durch
NATO-Ausdehnung und Raketenstationierungen zurzeit
ausgesetzt sieht, versteht man durchaus, dass es Stärke
demonstrieren will.
({4})
Die OSZE darf aber nicht Schaden nehmen. Wir halten
die rigide Haltung Russlands in der Frage der Wahlbeobachtung für nicht angebracht.
({5})
In Ihrem Antrag wird - ein wenig versteckt - Russland aber doch in gewisser Art und Weise angegriffen.
Es wird behauptet, die Kernelemente der KSZE/OSZEVereinbarung würden von Russland nicht mehr verfolgt.
Meiner Ansicht nach wird zu stark betont, dass sich
Russland außerhalb dieses Bekenntnisses stellt. Auch
die Worte von Herrn von Klaeden waren ziemlich gewagt. Er hat sich weit vorgewagt, was die Beurteilung
der zukünftigen Zusammenarbeit zwischen Europa und
Russland angeht. Ich darf sein Wort „Lackmustest“ in
Erinnerung rufen.
({6})
Ich weiß nicht, ob das mit der Politik der strategischen
Partnerschaft, die Außenminister Steinmeier betreibt, in
Einklang zu bringen ist. Vielleicht sollten Sie sich einmal abstimmen, wie Sie sich zu Russland äußern wollen.
({7})
Sie bilanzieren die Fehlleistungen der OSZE-Wahlbeobachter in Georgien nicht wirklich.
({8})
Ich könnte hier einen Kollegen der CDU zitieren: Die
OSZE musste mit ihrer Einschätzung, dass Saakaschwili
dort demokratisch gewählt wurde, zurückrudern.
({9})
Wie dem auch sei, Sie hätten bei der Formulierung Ihres gemeinsamen Antrages meines Erachtens etwas
mehr maßhalten sollen. So richtig die Forderungen an
und für sich sind und so autoritär die Gesten Russlands
sind, so reflexartig reagieren Sie in alter Manier auf die
aufstrebende Macht Russland.
({10})
Deshalb können wir dem Antrag so nicht zustimmen,
wenngleich wir das Anliegen nachdrücklich unterstützen, dass das Instrument der Wahlbeobachtung durch die
OSZE zu stärken ist, und auch wir der Auffassung sind,
dass die Aktivitäten Russlands dem nicht helfen.
({11})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Marieluise Beck das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte unseren Blick einen Moment von
der Frage abwenden, wie es Russland mit der Demokratie hält, und ihn stattdessen zurücklenken auf die Institutionen OSZE-Parlamentarierversammlung und ODIHR,
diese Perle, wie der Kollege Meckel sie genannt hat. Wir
Parlamentarier haben uns bei der Aufgabe, diese beiden
Organisationen zusammenzuhalten, was eine Gratwanderung ist, manchmal nicht ausreichend gut verhalten.
({0})
Im Vorfeld der Duma-Wahlen gab es eine klare Entscheidung von ODIHR, nachdem den Wahlbeobachtern
in Russland die für eine Langfristbeobachtung und -bewertung notwendige Zeit nicht gegeben worden war.
Dann gab es vonseiten der Parlamentarischen Versammlung leider eine abweichende Entscheidung, die in der
Konsequenz bedeutet: Russland konnte mit dem Prinzip
„divide et impera“ durchkommen und sagen: Ihr Kurzzeitbeobachter, die ihr am Samstag einfliegt, wunderbar
geführte Wahlkabinen und frische Räume seht und am
Montagmorgen wieder abfliegt, könnt gern einmal einen
oberflächlichen Blick nehmen.
({1})
Euch lassen wir gern kommen.
Aber die, die wirklich in die Tiefe schauen, sind nicht
willkommen. Da, Frau Kollegin Knoche, entscheidet
sich die Frage, ob Wahlen fair und frei sind. Tiefe heißt
nämlich Medienzugang. Können die Kandidaten überhaupt an die Öffentlichkeit gehen? Können Parteien
überhaupt registriert werden? Gibt es die freie Presse?
Gibt es das Recht auf das freie Wort? All das können wir
Parlamentarier als Kurzzeitbeobachter nicht bewerten.
Das kann in der Tat in professioneller Weise nur das
ODIHR-Büro in Warschau mit einem harten Benchmarking-System und mit gut ausgebildeten Mitarbeitern.
({2})
Unsere Aufgabe als Parlamentarier ist, dass wir unseren parlamentarischen Vertretern und ODIHR sehr deutlich die Sicherheit vermitteln, dass wir nicht damit einverstanden sind, wenn Entscheidungen dieser beiden
Teilorgane, der Parlamentarischen Versammlung und
ODIHR, auseinanderfallen. Denn wir wissen, dass selbst
in dieser Institution Mitglieder sind, die sie nach dem
Prinzip „divide et impera“ von innen aushöhlen wollen.
Ich glaube, jetzt ist sehr klar geworden, worum es in der
Vergangenheit ging.
Mit der OSZE waren große Hoffnungen auf eine
Blocküberwindung verbunden. Sie hat unendlich viele
Schwächungen und Kränkungen hinnehmen müssen. Ich
denke nur an das Ausscheiden unseres Kollegen Duve
als Medienbeauftragter. Er hat resigniert, weil die
Durchsetzungsfähigkeit der OSZE sehr begrenzt ist. Sie
ist begrenzt, weil sie ausschließlich mit Dialog und Konsens arbeitet. Das erfordert eine unendliche Geduld und
Zähigkeit. Die Durchsetzungsmittel sind die Kraft der
Wahrheit, die Macht der Moral, der Ethik und der Glaubwürdigkeit. Deswegen müssen wir mit diesem Instrument sehr sorgsam umgehen.
Glaubwürdigkeit bedeutet niemals Einäugigkeit.
Glaubwürdigkeit bedeutet, sich nicht verführen zu lassen, parteilich zu sein, und weiterhin um die Standards
zu ringen, auf die wir uns alle gemeinsam verpflichtet
haben, und dann die beim Wort zu nehmen, die Teil der
Institutionen sind, aber die Standards nicht erfüllen.
Schönen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 16/8048 mit dem Titel „Das
Instrument der Wahlbeobachtungen durch die OSZE
darf nicht geschwächt werden - ODIHR muss handlungsfähig und unabhängig bleiben“. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? ({0})
Vizepräsidentin Petra Pau
Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen
der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen einige
Stimmen der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung einiger Mitglieder der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Gisela Piltz, Ina Lenke, Patrick Döring, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Lage der Kommunen in der Bundesrepublik
Deutschland
- Drucksachen 16/1457, 16/5032 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre
zu dieser Vereinbarung keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz für die FDP-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Kommunen sind das Fundament unseres Staates.
Hier wurzelt die Demokratie. Hier findet das Leben der
Menschen jeden Tag statt. Hier arbeiten sie, hier gründen
sie Familien, und hier verbringen sie ihren Lebensabend.
Kommunen sind aber auch das Fundament von Bürgertum und Gesellschaft, etwas, auf das wir alle Wert legen.
Hier sind die Menschen ehrenamtlich engagiert, hier
werden Kunst und Kultur geschaffen, und hier ist bürgerschaftliche Hilfe aktuell.
Leider bereitet uns die Situation der Kommunen seit
Jahren große Sorgen. Die Folgen spüren Sie alle jeden
Tag in Ihren Städten und Gemeinden. In Schulen und
Kindergärten tropft es hinein, Büchereien und Schwimmbäder werden geschlossen, die Straßen sind holprig und
vieles andere. Das heißt - das ist jedem von uns klar -:
Den Kommunen fehlt vielerorts der finanzielle Handlungsspielraum, um ihren Aufgaben noch nachkommen
zu können.
({0})
Wo selbst für das Nötigste das Geld fehlt, fehlen erst
recht die Mittel, um die Grundlage für die Zukunft zu
schaffen. Das wäre die Aufgabe der Gemeinden; sie
können sie aber nicht erfüllen. Das allein wäre aus meiner Sicht schon Grund genug dafür, dass sich der Deutsche Bundestag mit der Lage der Kommunen beschäftigt. Was aber hat die Große Koalition gemacht, als wir
einen entsprechenden Antrag gestellt haben? Sie hat ihn
abgelehnt. Die Kommunen waren Ihnen offensichtlich
egal.
({1})
Wir haben deshalb eine Große Anfrage gestellt - die
Bundesregierung hat übrigens sehr lange gebraucht, um
sie zu beantworten -, über die wir hier und heute debattieren. Ich habe mit Interesse zur Kenntnis genommen,
dass die kommunalpolitischen Sprecher der Koalitionsfraktionen heute nicht zu diesem Thema sprechen;
({2})
das finde ich interessant. Vielleicht haben Sie die Möglichkeit, uns über die Gründe aufzuklären. Ich persönlich
finde das enttäuschend, weil ich gedacht habe, dass diejenigen, die sich in der Großen Koalition mit Kommunalpolitik beschäftigen, zu diesem Thema Stellung nehmen.
({3})
Wenn ich das einmal so sagen darf: Was den Bundestag
angeht, heißt das für die Kommunen in den nächsten
zwei Jahren nichts Gutes.
({4})
Die nächsten Probleme sind bereits am Horizont zu
sehen. Der demografische Wandel wird die Kommunen
in unterschiedlichem Ausmaß treffen. Keine Kommune
wird davon unbeeinflusst bleiben. Die Herausforderungen stellen sich schon jetzt; denn Städte, Gemeinden und
Kommunen zu verändern, das ist nicht von heute auf
morgen möglich. Schon heute ist abzusehen, dass vom
demografischen Wandel in besonderem Maße die Kommunen in den neuen Bundesländern betroffen sein werden.
Bis zum Jahre 2050 wird die Gesamtbevölkerung
Deutschlands auf circa 68,5 Millionen Bürger sinken.
Drei von vier deutschen Kreisstädten werden bereits im
Jahr 2020 weniger Einwohner haben als jetzt. Noch stärker fällt diese Entwicklung außerhalb der Städte aus. Zugleich wird der Anteil der Personen, die aktiv am Arbeitsleben teilnehmen, immer geringer. Auch das wird
die Kommunen und Städte vor große Probleme stellen
und insbesondere Städte und Regionen in strukturschwachen Gebieten treffen. Diese Trends dürften sich durch
die zunehmende Abwanderung noch verstärken. Die
Kommunen müssen gewappnet sein, um diese Herausforderungen bewältigen zu können. Dabei muss jede
Kommune selbst entscheiden, was sie tut. Wir können
den Kommunen keine Ratschläge erteilen. Eines können
wir allerdings tun: Wir können für ausreichende finanzielle Handlungsspielräume sorgen;
({5})
denn die finanzielle Situation der Kommunen ist nach
wie vor dramatisch.
Die Bundesregierung hat auf unsere Große Anfrage
geantwortet, dass die Kassenkredite weiter steigen. Dabei handelt es sich im Grunde genommen um die eigentliche Verschuldung der Gemeinden. Es ist eben nicht so,
wie Sie es gerne darstellen, dass es den Gemeinden besser als Bund oder Land geht. Wenn ich mir die Situation
in den Kommunen vor Augen führe, frage ich mich, wo
Sie zu Hause sind. Denn den meisten Kommunen geht es
nicht besser als Bund oder Land.
Damit die Kommunen aus der Schuldenfalle herauskommen können, haben wir vorgeschlagen, die Gewerbesteuer abzuschaffen und sie durch eine sichere Basis
zu ersetzen. Sie haben das immer wieder abgelehnt. Im
Rahmen Ihrer vermeintlichen Steuerreform haben Sie einen Vorschlag gemacht, der den Kommunen letztlich
mehr schadet als nutzt. Ihre Entscheidung, Mieten in Zukunft anders zu behandeln,
({6})
wird mittelfristig zur Folge haben, dass viele mittelständische Betriebe die Innenstädte verlassen. Das ist nicht
im Sinne des Erfinders. Letztlich werden die Einnahmen
aus der Gewerbesteuer sinken.
Kurzfristig werden die Kommunen ein weiteres großes Problem bekommen. Dabei geht es um ein Thema,
mit dem wir uns in dieser Woche an vielen Stellen beschäftigen: die Bankenkrise.
({7})
Da die Sparkassen geringere Einnahmen erzielen, zahlen
sie weniger Gewerbesteuer. Dieses Problem wird auf die
Kommunen zukommen.
({8})
Ich kann nicht erkennen, dass Sie etwas unternehmen,
um dieses Problem zu lösen.
Im Rahmen der Föderalismusreform I haben wir beschlossen, das Aufgabenübertragungsverbot im Grundgesetz zu verankern. Wir fordern, dass diese Regelung
zurückgenommen wird; denn wir haben festgestellt, dass
sie sich nicht bewährt hat. Dieses Verbot gilt entgegen
dem, was uns versprochen wurde, nicht für bestehende
Leistungsgesetze. Zum Beispiel hat der Bundestag - haben Sie - beschlossen, die Weihnachtsbeihilfe zu erhöhen. Wer bezahlt das? Die Kommunen. Das sind bestehende Leistungen, die Sie mal eben ausweiten. Das ist
nicht das, was uns in den Anhörungen versprochen worden ist. Deshalb werden wir uns bei der Föderalismusreform II dafür einsetzen, dass das Konnexitätsprinzip im
Grundgesetz verankert wird.
Das wäre auch in Ihrem Sinne. Sie suchen ja im Moment nach Hilfskonstruktionen, weil es keine Aufgaben
mehr gibt, die Sie an die Kommunen übertragen können.
Ich nenne nur die Kinderbetreuung. Wir werden genau
darauf achten, dass sich Frau von der Leyen nicht mit etwas brüstet, was letztendlich die Kommunen bezahlen
müssen. So kann man mit den Kommunen nicht umgehen.
({9})
Die Kommunen können vieles besser, weil sie näher
am Bürger sind. Das zeigt sich zum Beispiel an der Arbeit der Optionskommunen. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes werden wir uns dafür einsetzen,
dass diese Aufgabe kommunalisiert wird.
({10})
Wir sind sehr gespannt, wie die Große Koalition das
sieht. Wir wissen, dass es hier große Unterschiede gibt.
Wir sind jedenfalls der Ansicht, dass kommunale
Selbstverwaltung keine leere Worthülse mehr sein darf.
Wir müssen uns im Deutschen Bundestag öfter mit diesem Thema beschäftigen. Selbstverwaltung heißt aus unserer Sicht Freiheit und Verantwortung. Die Verantwortung wollen und können die Kommunen übernehmen;
die Freiheit dazu müssen wir ihnen geben.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Christoph Bergner.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Kollegin Piltz! Zunächst einmal zur Behandlung der
Großen Anfrage, die bereits am 10. Mai 2006 eingereicht wurde. Die 165 Einzelfragen spiegeln das breite
Spektrum der kommunalen Arbeit wider: Finanzlage,
Wirtschaftsfragen, demografischer Wandel, Ehrenamt,
Städtebau, Kultur und Sport, Integration, Familienpolitik
und anderes mehr.
An der Beantwortung dieser Großen Anfrage waren
fast alle Ressorts der Bundesregierung aktiv beteiligt.
Ich finde, derjenige, der die Antwort fair beurteilt, muss
feststellen, dass wir uns bemüht haben, auf die Fragen
zur Lage der Kommunen in sorgfältiger Weise Antwort
zu geben.
({0})
In dieser Antwort bekennt sich die Bundesregierung
zu einer kommunalfreundlichen Politik,
({1})
die der nach Art. 28 Abs. 2 Grundgesetz garantierten
Selbstverwaltung Rechnung trägt, nämlich dem Recht,
alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft
… in eigener Verantwortung zu regeln.
Dieser Grundsatz zieht sich durch die Antwort der Bundesregierung.
Frau Kollegin Piltz, wenn Sie die Situation beurteilen
wollen, brauchen Sie nur die Ausgangslage - die Lage,
die Sie in der Vorbemerkung zu Ihrer Großen Anfrage
zutreffend geschildert haben - mit der Lage zum Zeitpunkt der Beantwortung - das war der Mai 2007 - bzw.
mit der Lage zum jetzigen Zeitpunkt zu vergleichen.
Dann werden Sie feststellen, dass es bei dem Problem,
das Sie angesprochen haben, der Finanzlage der Kommunen, eine Entwicklung gibt, deren positive Tendenz
auch aus der Perspektive der Opposition nicht geleugnet
werden kann.
({2})
Erinnern wir uns: Sie haben in der Vorbemerkung zu
Ihrer Großen Anfrage zu Recht strukturelle Defizite angemahnt: die Höhe der Kassenkredite, die insgesamt negative Finanzierungsbilanz der kommunalen Haushalte.
Wenn Sie die jüngsten Zahlen, die uns vorliegen - das ist
die Gemeinschaftsprognose der kommunalen Spitzenverbände, die der Deutsche Städtetag am 29. Januar auf
einer Pressekonferenz vorgestellt hat -, zu Rate ziehen,
so können Sie feststellen, dass die kommunalen Haushalte im Jahr 2007 einen Finanzierungsüberschuss von
insgesamt 6,4 Milliarden Euro hatten.
({3})
Wie gesagt: Zu dem Zeitpunkt, als Sie Ihre Große Anfrage gestellt haben, hatten wir noch ein dickes Minus
im Gesamtsaldo. Für 2008 erwarten die kommunalen
Spitzenverbände weitere Milliardenüberschüsse. Die Investitionsausgaben der Kommunen haben im Jahr 2007
um 7,3 Prozent zugenommen. Für das Jahr 2008 erwarten die kommunalen Spitzenverbände einen Anstieg der
Investitionsausgaben der Kommunen von 6,6 Prozent.
({4})
Verehrte Frau Kollegin Piltz, ich nenne die Zahlen
nicht, weil ich den Eindruck erwecken will, als sei die
Situation völlig problemlos. Wir wissen, dass sich hinter
diesen Zahlen ein sehr vielfältiges und sehr differenziertes Bild verbirgt. Wir wissen auch - das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist von Ihnen erwähnt worden -,
dass sich für die Kommunalpolitik und für die Bundespolitik immer wieder neue Aufgaben mit kommunalpolitischen Auswirkungen stellen.
Eines sollten Sie bei der Betrachtung der Antwort der
Bundesregierung auf die Große Anfrage aber fairerweise
feststellen: Die Handlungsspielräume der Kommunen
haben sich während der Regierung von Angela Merkel
in dieser Wahlperiode nachweisbar verbessert.
({5})
Diese Entwicklung dürfen wir bei allen Problemen, die
niemand leugnen sollte, nicht ignorieren.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Katrin Kunert für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe kommunale Mandatsträger der Zukunft in Ingolstadt und Umgebung!
({0})
Mit Verlaub, Herr Dr. Bergner: Die Bundesregierung
malt sich die Welt, wie sie ihr gefällt.
({1})
Befragt man die Bundesregierung zur Entwicklung und
zu den Problemen im Land, dann bekommt man Antworten, die in der Schule ein „Ungenügend“ wert wären.
({2})
In Ihrer Antwort auf die Große Anfrage machen Sie
durch Ihre Grundsatzpositionen sehr deutlich, dass Sie
auch in Zukunft kein verlässlicher Partner mehr für die
Kommunen sein werden. Einige Minister und Abgeordnetenkollegen unterstreichen auf wichtigen kommunalpolitischen Veranstaltungen ihre Verbundenheit mit den
Kommunen. Wenn es aber hier im Bundestag darum
geht, sich für die Kommunen einzusetzen, dann spielt
diese Verbundenheit keine Rolle mehr.
({3})
Ich will Ihnen das an drei Beispielen erläutern. Erstes
Stichwort: verbindliches Mitwirkungsrecht der Kommunen durch ihre Spitzenverbände bei Gesetzgebungsverfahren. In der Antwort der Bundesregierung wird der gesamte kommunalpolitische Katalog der Leistungen
abgehandelt. Auf diese Weise wird die Bedeutung der
Leistungen der Kommunen unterstrichen.
({4})
Das Leben findet in den Kommunen statt. Schon aus diesem Grund wäre also eine stärkere Einbeziehung der
Kommunen in die Gesetzgebungsverfahren berechtigt.
({5})
Wovor hat die Bundesregierung Angst? Hat sie Angst
vor öffentlichen Debatten über ihre Politik und deren
Folgen
({6})
oder davor, dass ihre Gesetzentwürfe eventuell besser
werden würden? - Wenn Sie Redezeit haben, dann nutzen Sie sie bitte nachher dafür. ({7})
Die Linke fordert: Nutzen Sie die Föderalismusreform II
und verankern Sie ein verbindliches Mitwirkungsrecht
der Kommunen im Grundgesetz.
Zweites Stichwort: Finanzausstattung der Kommunen. Auf die Frage, welche Möglichkeiten die Bundesregierung zur Verbesserung der Einnahmemöglichkeiten
für die Kommunen sieht, antwortet sie:
… eine von den Kommunen immer wieder geforderte Mittelumverteilung von Bund und Ländern
auf die kommunale Ebene scheidet … aus …
Wenn man in Betracht zieht, dass der Anteil der Kommunen am Gesamtsteueraufkommen circa 14 Prozent
beträgt, und wenn man die Leistungen berücksichtigt,
die in den Kommunen erbracht werden, dann muss dieser Anteil aus unserer Sicht auf 40 Prozent erhöht werden.
({8})
Die skandinavischen Länder machen es uns vor; denn
dort liegt der Anteil zwischen 40 und 60 Prozent.
Nun schwärmen viele hier im Hause von den sprudelnden Gewerbesteuereinnahmen. In einigen Städten
und Gemeinden ist das bestimmt auch so. Man muss
aber feststellen, dass es auch Kommunen gibt, in denen
schon früher kaum Gewerbesteuerzahler lebten und in
denen auch heute kaum welche leben. Die Schere zwischen armen und reichen Kommunen geht immer weiter
auseinander. Außerdem sind die Sozialausgaben seit der
Einführung von Hartz IV stetig gestiegen. Dies können
Sie nicht vom Tisch wischen.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Problem, das
aus unserer Sicht völlig vernachlässigt wird, sind die
Landkreise. Außer der Kreisumlage, die - höflich ausgedrückt - sehr unsolidarisch gegenüber den kreisangehörigen Städten und Gemeinden ist, haben sie keine eigene
Einnahmequelle. Der Krug der finanziellen Belastung
wird also nur weitergereicht. Deshalb brauchen auch die
Landkreise einen eigenen Anteil am Gesamtsteueraufkommen. Darüber müssen wir hier reden.
Hinsichtlich der Investitionen antwortet die Bundesregierung buchhalterisch mit Tabellen, ohne eine Wertung vorzunehmen. Sie sagt kein Wort zu Entwicklungen
und Aussichten, und es gibt erst recht kein Eingeständnis, dass durch die Mehrwertsteuererhöhung auf 19 Prozent automatisch auch Bauleistungen und Sachsubventionen verteuert wurden.
Die Linke fordert ein kommunales Investitionsprogramm des Bundes für strukturschwache Regionen, um
die Kommunen im Investitionsbereich nachhaltig zu
unterstützen. So manches Sonderprogramm der Ministerien wäre nicht nötig, wenn generell bessere Investitionsmöglichkeiten für die Kommunen geschaffen würden.
({10})
Drittes Stichwort: Aufgabenübertragung. In einer
Sammelantwort zu den finanziellen Mehrbelastungen
der Kommunen durch Einführung neuer Sozialhilfeleistungen erkennt die Bundesregierung die Kosten für
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
nicht als zusätzlich an. Das ist falsch. Der Bund hat die
Grundsicherung im Alter den Kommunen 2003 als neue
Aufgabe übertragen, und es gab ganz klare Verabredungen zu deren Finanzierung. Die Kosten haben sich seitdem mehr als verdoppelt. Die Ursachen hierfür liegen
unter anderem in gravierenden Einschnitten in die Renten- und Sozialversicherungssysteme. Die Linke fordert
auch hier, dass sich der Bund mit mindestens 20 Prozent
an den Kosten der Grundsicherung im Alter beteiligt.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, haben Sie sich
schon einmal gefragt, warum bei Kommunalwahlen die
Wahlbeteiligung immer nur bei etwa 30 Prozent liegt?
Die Menschen vor Ort merken, dass kommunale Mandatsträger zunehmend weniger zu entscheiden haben.
Kollegin Kunert, Sie müssen jetzt bitte zum Schluss
kommen.
Wenn nämlich kein Geld für Kultur und Sport zur
Verfügung steht, dann ist kommunale Selbstverwaltung
de facto nicht mehr möglich.
Schönen Dank.
({0})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Maik Reichel
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir beschäftigen uns heute nicht zum ersten
Mal mit der Lage der Kommunen. Die FDP hat bereits
mehrere Anträge zu diesem Thema gestellt, und wir haben mehrfach in diesem Hause darüber diskutiert. Wir
haben uns diesem Thema nicht verweigert; denn die
Kommunen sind - das steht auch für unsere Fraktion fest ein wichtiges Glied unserer verfassungsmäßigen Organisation. Dies sind die Kommunen nicht nur, weil es in
Art. 28 und an anderer Stelle unseres Grundgesetzes
steht, sondern auch deswegen, weil sie die eigentlichen
Mittler zum Bürger sind, wie heute schon festgestellt
wurde. Politik kommt eben bei den Bürgerinnen und
Bürgern direkt und konkret an. Viele von uns kommen
aus der Kommunalpolitik oder sind noch kommunalpolitisch tätig. Dies ist aus den Reden hervorgegangen, und
das ist auch bei mir der Fall.
Kommunen leisten viel für die allgemeine Daseinsvorsorge. Feuerwehr, Kultur, Sport, das Ehrenamt in seiner gesamten Breite und Integration sind nur einige wenige kommunale Aufgaben. Deshalb ist es immer
wichtig und notwendig, sich mit den Kommunen zu befassen, und zwar auf allen Ebenen, also auch hier im
Deutschen Bundestag. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP-Fraktion, haben sich die Mühe gemacht,
165 Fragen in zehn inhaltlichen Kapiteln zu stellen, und
die Bundesregierung hat - hier gebe ich dem Herrn
Staatssekretär recht - diese Fragen mit noch größerer
Sorgfalt beantwortet.
Wenn wir dieses umfangreiche Papier mit insgesamt
168 Seiten richtig studieren und bewerten, erkennen wir
die verbesserte Gesamtlage der Kommunen, auch wenn
davon nicht alle Kommunen profitieren und nicht alle
Probleme in diesem Papier gelöst werden. In der mir
verbleibenden Redezeit habe ich allerdings nicht die
Möglichkeit, auf alle Schwerpunkte Ihrer Fragen einzugehen.
Die Finanzen sind wohl immer eines der schwerwiegendsten Themen, die nicht nur die Kommunen drücken.
Aber wie sieht es denn nun hinsichtlich der
Finanzsituation der Kommunen aus? Sie haben es angesprochen, Frau Kollegin Piltz: Eine der wichtigsten Einnahmequellen bildet noch immer die Gewerbesteuer, die
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, gern
abgeschafft sähen.
({0})
- Ja, aber ohne genau zu sagen, wie es denn aussehen
sollte. - Im Jahr vor Ihrer Großen Anfrage, also noch in
der 15. Legislaturperiode, haben Sie in einem Antrag davon gesprochen, dass die Gewerbesteuer eine „unzuverlässige Einnahmequelle“ für die Städte und Gemeinden
sei, für eine seriöse Haushaltsplanung ungeeignet. Die
Zahlen sprechen aber andere Worte. Über 38 Milliarden
Euro Einnahmen aus der Gewerbesteuer waren 2006 zu
verzeichnen, im vergangenen Jahr mit leichtem Zuwachs. Mit Ihrer Einwilligung, Frau Präsidentin, zitiere
ich aus einer Mitteilung des Bundesfinanzministeriums
vom 31. Januar dieses Jahres:
In den ersten neun Monaten
- gemeint ist das Jahr 2007 nahm allein der Anteil der Kommunen an den Gewerbesteuereinnahmen um 5,2 Prozent auf 23,4 Milliarden Euro zu ({1})
so viel, wie im gesamten Jahr 2002 für Bund, Länder und Kommunen gemeinsam anfiel.
Die Finanzierungssalden sind - der Staatssekretär hat es
bereits erwähnt - bereits seit 2006 wieder mit 3 Milliarden Euro im Plus. 2003 waren es noch minus 8,4 Milliarden Euro.
Höhere Gewerbesteuereinnahmen kommen sicherlich nicht allen Gemeinden zugute. Meine Kommune ist
davon betroffen, und zwar mit einem stetigen und erfreulich hohen Anstieg seit 2005. Es fällt mir sichtlich
schwer, mir vorzustellen - das geht auch anderen so -,
wie eine so hohe Summe zu ersetzen wäre, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP.
({2})
Allein durch die Beteiligung über die Gewerbesteuerumlage würden beträchtliche Einnahmen beim Bund und
auch bei den Ländern wegbrechen.
Mit den höheren Gewerbesteuereinnahmen der vergangenen Jahre ist aber nicht jedes Problem gelöst. Die
Gestaltungsspielräume sind teilweise immer noch eng.
Nicht jede Gemeinde profitiert in gleichem Maße von
dem Anstieg der Gewerbesteuereinnahmen. Die unterschiedlichen Entwicklungen in den Kommunen sind ein
Grund dafür.
Die kommunale Selbstverwaltung ist ein hoch zu
schätzendes Gut. Aber hier - das sage ich deutlich kommen auch die Länder ins Spiel. Diese müssen eine
Ausgleichsfunktion erfüllen. Das Grundgesetz kennt,
wie Sie wissen, nur den Bund und die Länder; die Kommunen sind ein Teil der Länder. Aus diesem Grund fällt
den Ländern eine besondere Aufgabe hinsichtlich der
Gemeinden zu. Dies sollte - gerade wenn es um die
Finanzierung der Kommunen geht - nicht vergessen
werden, wenn man einseitig auf den Bund schaut.
Die FDP ist in drei Ländern in der Regierung vertreten - es kann schon bald eine vierte hinzukommen, wenn
Sie sich entsprechend entscheiden ({3})
und kann dort ihre kommunalfreundliche Politik direkt
und konkret unter Beweis stellen. Ich selbst kenne das
noch aus der Zeit zwischen 2002 und 2006, als es in meinem Heimatland Sachsen-Anhalt einen FDP-Finanzminister gab
({4})
- ja, das war ein guter Mann -, der den Kommunen teilweise sozusagen das Weiße aus den Augen gedrückt
hatte.
Liebe Kollegin Piltz, werfen wir noch einen Blick in
ein anderes Land, das Sie sehr gut kennen, nämlich
Nordrhein-Westfalen, wo ein FDP-Innenminister mit am
Kabinettstisch sitzt.
({5})
Die FDP hätte dort die Möglichkeit, die Kommunen im
Bemühen um die Sanierung der Haushalte deutlich zu
unterstützen,
({6})
aber Fehlanzeige. Mein Kollege Bernd Scheelen würde
sicherlich noch einiges hinzufügen, was ich nur kurz und
knapp ansprechen würde.
({7})
Ich will nur einige Stichpunkte nennen: die Übertragung
von Landesaufgaben auf die Kommunen ohne Finanzausgleich, Stichwort Umweltverwaltung. Sie sprachen
vorhin vom Konnexitätsprinzip, das Sie gerne im Grundgesetz verankern würden. Auf Landesebene ist das
schon möglich.
Weitere Stichworte sind die Verschiebung von weiteren Lasten auf die Kommunen seit 2006 in Ihrem Land
und die Kürzung der finanziellen Zuweisung durch neue
Berechnungsgrundlagen für das GFG. Der Anteil der
Grunderwerbsteuer wurde bei der Berechnung für die
Kommunen herausgenommen. Fazit ist, dass den Kommunen in Ihrem Land 2007 165 Millionen Euro weniger
zur Verfügung stehen.
Bei der Krankenhausfinanzierung wurde der Kommunalanteil von 20 Prozent auf 40 Prozent erhöht. Die Mittel für Städtebauförderung wurden rückgeführt. 2006 erfolgte eine Änderung des Kindergartengesetzes zulasten
der Träger. So geht es weiter. Ich denke zum Beispiel
auch an die 1 Milliarde Euro, die Sie noch für die Jahre
2006 und 2007 zurückzahlen müssen.
({8})
- Sie wissen, worüber ich rede und was Sie Ihren Kommunen noch schuldig sind. Kollege Scheelen würde
wohl gerade in Ihrem Fall noch einiges hinzuzufügen,
weil Sie vom Bund noch vieles fordern, was Sie in den
Ländern ausführen könnten, in denen Sie in der Regierung sind.
Ich komme noch einmal auf die Bundesebene zurück,
und zwar zunächst auf die Städtebauförderung des Bundes. Seit 1998 ist die dafür bereitgestellte Summe von
etwa 307 Millionen Euro auf 546 Millionen Euro, also
auf über eine halbe Milliarde Euro, in 2006 gestiegen.
Neben dem Programm „Stadtumbau Ost“ verzeichnet
auch das Programm „Stadtumbau West“ steigende Zuschüsse durch den Bund. Auch das ist wichtig, wenn es
um die kommunalen Investitionen geht, die Sie angesprochen haben. Die Kommunen tätigen mit 60 Prozent
die meisten Investitionen der öffentlichen Hand, auch
wenn das Investitionsvolumen nicht mehr so hoch ist
wie vor zehn Jahren und früher.
Ein weiteres Thema, das mir neben vielen anderen am
Herzen liegt, ist das Ehrenamt, das auch bereits angesprochen wurde. Das ist vor allen Dingen in den Kommunen stark ausgeprägt, weil es vor Ort sehr gut wirkt.
Der Bund hat in den vergangenen Jahren viel Gutes auf
den Weg gebracht: Übungsleiterpauschale, Erhöhung der
Steuerbefreiung von Aufwandspauschalen, das Projekt
„Hilfe für Helfer“ und Mehrgenerationenhäuser. Auch
dazu hat Ihnen die Regierung Antwort gegeben. Dabei
sind wir von Bundesseite noch nicht am Ende. Das gilt
sicherlich auch für die Länder und Kommunen. Wir stehen also nicht am Anfang.
Ich denke in diesem Zusammenhang zum Beispiel an
die Kameradinnen und Kameraden der freiwilligen Feuerwehr und des Technischen Hilfswerks, die unendlich
viel und sehr Kräftezehrendes tun, um zu helfen, zu
schützen, zu retten, zu löschen und zu bergen. Dafür
brauchen wir aber das gesamtgesellschaftliche Bekenntnis von Bund, Ländern und Kommunen sowie der Zivilgesellschaft. Ein herzliches Dankeschön an alle, die dort
ehrenamtlich tätig sind.
({9})
Allen in Sport und Kultur sowie in sozialen, kirchlichen und sonstigen Bereichen ehrenamtlich Tätigen sage
ich: Wir brauchen euch und unterstützen euch. - Es ist
wichtig, dass wir den Worten Taten folgen lassen. Dies
werden wir in den nächsten Jahren auch tun, egal in welcher Regierung wir sind.
Ich bedanke mich recht herzlich.
({10})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Britta Haßelmann das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich beginne mit dem Positiven und Verbindenden. Sicherlich besteht weitgehend Einigkeit in den Fraktionen
darüber, dass wir viele politische Herausforderungen
ohne die kommunale Ebene nicht bewältigen können.
Das gilt für nachhaltiges Wirtschaften ebenso wie für soziale Sicherheit und den demografischen Wandel. Wir
brauchen aus meiner Sicht eine föderale Kraftanstrengung, um die Politikfähigkeit der Kommunen zu stärken.
Damit hört die Einigkeit aber auf; denn in der
Föderalismusreform II sehen Sie die Rolle der Kommunen nicht ausreichend berücksichtigt.
Eine nüchterne Bestandsaufnahme wäre als erster
Schritt notwendig. Sie ist auch in der Antwort der Bundesregierung vorgesehen. Herr Staatssekretär, anders als
Sie, der Sie in Ihren Reden nur darüber philosophieren,
wie gut es den Kommunen mittlerweile geht, ist der
Blick dort - das ist wohltuend - etwas differenzierter.
Ihre Botschaft ist eindeutig: Da die Kommunen enorme
Mehreinnahmen haben, geht es allen Kommunen in
Deutschland gut. Ich bin froh, dass der Deutsche Städtetag weiter ist. Selbst Herr Ude beklagt, dass die Schere
zwischen armen und reichen Städten und Gemeinden
immer weiter auseinandergeht. Mit dieser Herausforderung sollten Sie sich einmal befassen.
({0})
Die Bundesregierung stellt fest, dass die kommunalen
Investitionen seit 1992 um 40 Prozent gesunken sind.
Sie beschreibt einen sprunghaften Anstieg der Kassenkredite. Das ist keine Erfindung der Grünen, sondern die
Aussage der Bundesregierung. Sie rechnet vor, dass sich
die Kosten der Grundsicherung im Alter in zwei Jahren
mehr als verdoppelt haben. Das alles ist richtig. Herr
Staatssekretär, einer nüchternen Bestandsaufnahme
muss aber auch zielgerichtetes politisches Handeln folgen. Sie müssen sagen, was geschehen soll, was Sie vorhaben. Aber hier haben Sie wenig anzubieten. So zeichnet sich ab, dass die Kommunen nicht länger um
2,5 Milliarden Euro jährlich entlastet werden sollen. Sie
kürzen den Zuschuss für die Kosten der Unterkunft. Sie
interessieren sich nicht dafür, ob die Länder die eingesparten Mittel beim Wohngeld an die Kommunen weiterleiten. All denjenigen, die gestern nicht in der Fragestunde waren, rate ich: Sehen Sie sich die Ausführung
des Finanzstaatssekretärs dazu an! Die gestiegenen KosBritta Haßelmann
ten bei der Grundsicherung im Alter werden zu einem
rein kommunalen Problem erklärt.
Der Höhepunkt Ihrer Antwort ist allerdings der Ratschlag an die Städte und Gemeinden, Vermögen zu
veräußern und Privatisierungen vorzunehmen. Die Botschaft lautet also: Tafelsilber verkaufen und Notprivatisierungen vornehmen. Das ist genau die Politik, die aus
meiner Sicht Städte und Gemeinden eher ruiniert denn
stärkt. Union und SPD haben seit Jahren vor Ort vieles
falsch gemacht.
({1})
Es zeigt sich, dass Ihnen ein politischer Kompass und
eine klare Linie in der kommunalen Daseinsvorsorge
völlig fehlen, einer Daseinsvorsorge, die demokratische
Kontrolle vor privaten Profit, aber auch fiskalische Vernunft vor blinde Ideologie stellt. So praktizieren Sie von
der FDP, Frau Piltz, das gerade in NRW. Ich erinnere an
das, was Sie vorhaben und was Sie in Bezug auf die
Kommunalwirtschaft bisher eingeleitet haben.
Eine föderale Umschichtung von Finanzmitteln zugunsten der Kommunen schließen Sie in Ihrer Antwort
interessanterweise völlig aus. Dabei sind es die Kommunen, die jetzt, wo wir über die Föderalismusreform II beraten, ein klares Signal brauchen und für die wir etwas
tun müssen.
({2})
Ich komme aus NRW,
({3})
einem Land mit hochverschuldeten Kommunen, deren
Realität eine andere als die des Staatssekretärs ist. Ich
dekliniere Ihnen einmal durch, was es heißt, Prioritäten
zu setzen: Kürzen wir bei der Wirtschaftsförderung oder
kürzen wir bei den Ausgaben für Theater und Kultur?
Schließen wir ein Schwimmbad oder was tun wir sonst?
({4})
Kollegin Haßelmann, das können wir jetzt nicht mehr
zu Ende deklinieren.
Frau Präsidentin, ich komme sofort zum Schluss. Das ist die politische Realität vieler Kommunen. Das
wissen Sie, und deshalb jaulen Sie jetzt so auf.
In Richtung FDP will ich sagen: Jemand, der in Nordrhein-Westfalen eine so kommunalfeindliche Politik betreibt wie die FDP
({0})
- Frau Piltz, warten Sie! -, sollte nicht auf die Idee kommen, die Konnexität als Lösung vorzuschlagen.
Kollegin Haßelmann, die Debatte zu NRW müssen
Sie woanders führen. Ich bitte Sie, jetzt wirklich zum
Schluss zu kommen.
Zwei Ihrer Ausführungsgesetze in NRW verstoßen
gegen das Konnexitätsgesetz, und Sie haben in Nordrhein-Westfalen Klagen am Hals, weil Sie als Regierung
dagegen verstoßen.
({0})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Klaus
Hofbauer das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und
Herren! Ich als Bayer möchte mich nicht in den inneren
Streit einmischen, möchte aber feststellen, dass wir der
FDP-Fraktion sehr dankbar sind, dass sie diese Große
Anfrage eingereicht hat,
({0})
weil wir auf diese Art und Weise erneut darstellen können, welche hervorragende Arbeit unsere Bundesregierung und die Große Koalition für die Kommunen leisten.
({1})
Es ist noch nie so gut für die Kommunen gearbeitet
worden. Meine Damen und Herren von der FDP-Fraktion, wenn Sie in Ihrer Großen Anfrage unter anderem
feststellen, dass die Lage der Kommunen besorgniserregend ist, dann muss ich Sie fragen: Wo leben Sie denn
eigentlich? Dass es Unterschiede gibt, wollen wir gar
nicht bestreiten, aber insgesamt hat sich die Situation der
Kommunen verbessert. Ich möchte klar und deutlich
feststellen: Die Große Koalition und insbesondere die
CDU/CSU-Fraktion sind ein verlässlicher Partner der
Kommunen. Ich glaube, das können wir sagen.
({2})
Die finanzielle Situation hat sich auch schon deshalb
verbessert, weil es dieser Bundesregierung gelungen ist,
die Arbeitsmarktsituation in Deutschland zu verbessern.
Wenn wir heute über 1 Million weniger Arbeitslose und
fast 800 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte
mehr haben, dann spüren die Kommunen das. Zurzeit
werden in den Kommunen die Haushalte beraten. Wenn
man selber dabei ist und sieht, wie sich die Situation bei
der Einkommensteuer verbessert - von der Gewerbesteuer möchte ich gar nicht reden -, dann weiß man, dass
sich diese Politik für unsere Kommunen auszahlt.
({3})
Ich möchte klar und deutlich sagen: Mit der
Föderalismusreform I sind klare Akzente für die Kommunen gesetzt worden. Das Durchreichen ist nicht mehr
möglich. Wir haben uns sehr kommunalfreundlich ver14996
halten, und wir sollten diesen Weg fortsetzen. Ich könnte
eine ganze Menge von Beispielen aufzählen, die zeigen,
was diese Koalition für die Kommunen getan hat. So
wurden bei der Unternehmensteuerreform die Kommunen nicht belastet.
({4})
Ich darf an die Vereinfachung des Bebauungsplanverfahrens erinnern, das der Kollege Götz in hervorragender
Form gestaltet hat. Die Gestaltungsmöglichkeiten und
Entscheidungsspielräume in den Kommunen sind gestärkt worden. Wir reden von Subsidiarität nicht nur,
sondern wir setzen sie auch um.
Der Kollege der SPD-Fraktion hat es schon gesagt:
Die Programme Stadtumbau West und Stadtumbau Ost
wurden gestärkt. Das alles passiert doch in den Kommunen. Das ist, glaube ich, auch gut so. Die Kommunen
werden beim Ausbau der Kinderbetreuung unterstützt,
und auch beim Gebäudesanierungsprogramm ist einiges
für die Kommunen getan worden.
Erlauben Sie mir auch eine Bemerkung zur europäischen und nationalen Strukturpolitik. Diese Mittel gehen
doch an die Kommunen. Es gibt Fördermittel für die Unternehmen, die Erschließung von Industriegebieten wird
gefördert. Vor Ort werden Netzwerke gebildet. Ich
glaube, das ist von entscheidender Bedeutung.
Als einen weiteren Punkt der Leistungen der Großen
Koalition möchte ich in diesem Zusammenhang den EUVertrag ansprechen. Auf europäischer Ebene ist es zum
Beispiel gelungen, im EU-Reformvertrag von Lissabon
die kommunalen Rechte in der Europäischen Union zu
stärken. Das Recht auf kommunale Selbstverwaltung
wird darin ausdrücklich betont. Es ist auch ein Verdienst
unserer Bundeskanzlerin gewesen, dass dieses Recht im
Reformvertrag mit aufgenommen wurde. Wir wollen
eine durchgängige Politik von der europäischen Ebene
bis hinunter zu den Kommunen machen.
Die FDP-Fraktion hat zu Recht das Thema „Mitwirkung der kommunalen Spitzenverbände“ angesprochen.
Das ist für mich ein ganz entscheidender Punkt. Dabei
geht es nicht nur dann um ein Mitspracherecht, wenn
Gesetze verabschiedet werden.
({5})
Auch in der Praxis werden die kommunalen Spitzenverbände gehört. Die Fraktionen hören die Spitzenverbände
doch an. Lieber Peter Götz, wir sind ja permanent in unserer AG Kommunalpolitik beisammen. Ohne Anhörung
der kommunalen Spitzenverbände wird doch nichts entschieden, was sich in den Kommunen auswirkt. Sie dürfen nicht bloß theoretische Forderungen stellen, sondern
Sie müssen auch die praktische Politik beurteilen. Die
Fraktionen der Großen Koalition arbeiten in diesem Bereich in hervorragender Art und Weise.
Erlauben Sie mir auch eine Bemerkung zum kommunalen Finanzausgleich in Bayern. Ich sage klar und deutlich: In Bayern wird über den kommunalen Finanzausgleich nicht ohne die kommunalen Spitzenverbände
entschieden. Die Spitzenverbände werden nicht nur gehört und reden mit, sondern sie entscheiden auch mit.
Das ist eine kommunalfreundliche Politik, die sich vom
Bund über die Länder weiter nach unten durchzieht.
({6})
- Wir entscheiden ja nicht unmittelbar über Mittel für
die Kommunen, sondern im Rahmen des kommunalen
Finanzausgleiches. Wir haben die Länder auch gestärkt.
In den Ländern können die Kommunen mitentscheiden.
So ist es jedenfalls bei uns in Bayern. Wenn das bei Ihnen nicht funktioniert, dann dürfen Sie das nicht mir
zum Vorwurf machen.
({7})
- Natürlich reden wir über Bundespolitik. Aber Kommunalpolitik spielt sich nicht alleine in der Bundeshauptstadt ab, sondern auch in den Ländern und Kommunen.
Diese Durchgängigkeit, die wir von der CDU/CSU als
große Partei praktizieren, gibt es in anderen Parteien
vielleicht gar nicht.
({8})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte
zum Schluss noch einmal klar und deutlich feststellen:
Die Kommunen spielen eine große Rolle in unserer gesamten Arbeit. Die Kommunen sind eine wichtige Säule
der gesamten Zusammenarbeit. Ich kann nur zusammenfassend feststellen: Die Große Koalition, insbesondere
die CDU/CSU-Fraktion, ist ein verlässlicher Partner der
Kommunen. Das werden wir auch bleiben.
Herzlichen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 c auf.
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD
Ermäßigung der Visumgebühr für Bürgerinnen und Bürger aus Belarus
- Drucksachen 16/5909, 16/7170 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Grund
Harald Leibrecht
Marieluise Beck ({1})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({2}) zu dem Antrag der Fraktionen FDP und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Demokratiebewegung in Belarus unterstützen
- Drucksachen 16/1977, 16/3709 Berichterstattung:
Abgeordnete Eckart von Klaeden
Gert Weisskirchen ({3})
Kerstin Müller ({4})
Dr. Norman Paech
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Marieluise Beck ({6}), Volker Beck ({7}),
Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der
Abgeordneten Michael Link ({8}), Harald
Leibrecht, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Ermäßigung der Visumgebühr für Menschen
aus Belarus
- Drucksachen 16/5905, 16/7188 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Grund
Harald Leibrecht
Marieluise Beck ({9})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich gebe das Wort der Kollegin Uta Zapf, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Uns liegen drei Anträge vor; zwei davon - die
Anträge zur Visumvergabe - sind bis auf den letzten
Satz praktisch wortgleich. Der letzte Satz des einen Antrags ist nicht umsetzbar, weil er gegen europäisches
Recht verstößt. Deshalb werden wir - leider nicht gemeinsam - dem Antrag der Koalition zustimmen. Der
dritte Antrag ist ein uraltes Relikt vom Juni 2006 und
wird wahrscheinlich im Bermudadreieck verschwinden.
Ich finde, der Antrag ist nicht einmal abstimmungsfähig,
weil wir uns mittlerweile ganz anders mit dem Problem
auseinandersetzen müssen.
({0})
Es geht um Erleichterungen bei der Visumerteilung.
Wir möchten, dass bestimmten Gruppen - jungen Menschen, Studenten, Künstlern, Journalisten, Menschenrechtlern und Wissenschaftlern - ermöglicht wird, ins
europäische Ausland zu reisen, ohne dass hohe Kosten
für ein Schengen-Visum anfallen;
({1})
denn wer nur sein eigenes Land kennt und keine Möglichkeit zur Orientierung im restlichen Europa hat, der
wird kein richtiges Bild der Welt gewinnen. Darüber haben wir auch im Zusammenhang mit den Balkanstaaten
diskutiert.
Wir wollen mehr Menschen die Möglichkeit geben,
Europa kennenzulernen. Kennenlernen bedeutet auch
Dialog; Europa bietet Belarus diesen Dialog an, und
zwar im Rahmen der Nachbarschaftspolitik. Im November 2006 ist den Belarussen ein Papier vorgelegt worden.
Dieses Papier bietet ihnen eine Verbesserung der Lebensbedingungen, eine Erleichterung der Reisebedingungen, die Unterstützung der ökonomischen Entwicklung, Hilfe bei der Entwicklung des Gesundheitswesens,
Unterstützung bei sozialen Problemen, bei Bildung und
Ausbildung, bei der Reform der Administration, beim
Aufbau von Rechtsstaatlichkeit, bei Transport und Energie und bei der Umweltpolitik an. Dies birgt für Belarus
eine enorme Chance zur Integration in europaweite Kooperationsnetze. Finanzhilfen aus Programmen der Europäischen Union würden möglich werden.
Die volle Einbindung in das Nachbarschaftskonzept
scheitert allerdings an den mangelnden Reformen in
Belarus und an dem repressiven Regime, das seinen Bürgern und Bürgerinnen die grundlegenden bürgerlichen
Rechte und Freiheiten der Akte von Helsinki verwehrt.
Deshalb fordert das Papier freie und demokratische
Wahlen, Meinungs- und Informationsfreiheit, freie Medien, Rechtsstaatlichkeit, Koalitionsfreiheit für Gewerkschaften und Parteien und ungehinderte politische Betätigung.
({2})
Der Jahresbericht 2008 von Human Rights Watch stellt
fest, dass staatliche Autoritäten in Belarus oppositionelle
Aktivitäten praktisch unmöglich machen.
Eine weitere Bedingung für die volle Einbindung, die
die Europäische Union, zuletzt auch Javier Solana, gestellt hat, ist die Freilassung von politischen Gefangenen. Ich möchte ausdrücklich erwähnen: Ich empfinde es
als eine erfreuliche, positive Geste, dass seit November
2007 eine Reihe politischer Gefangener vorzeitig aus der
Haft entlassen worden ist. Wir hoffen, dass weitere Gefangene entlassen werden und dass es zu keinen weiteren
Verhaftungen und Verurteilungen kommen wird. Wir
sollten an dieser Stelle ausdrücklich fordern, dass auch
Alexander Kosulin und Andrej Klimov entlassen werden.
({3})
Dies wäre ein wichtiger und gewichtiger Schritt.
Europa streckt Belarus in der Tat die Hand entgegen.
Die Erklärung der slowenischen Präsidentschaft vom
17. Januar 2008 wiederholt das Angebot, Belarus in die
Nachbarschaftspolitik einzubinden. Ich hoffe, dass Belarus diese Hand ergreift; vielleicht kommt es ja so. Es
gibt ein paar positive Zeichen, und die sollten wir auch
als positiv zur Kenntnis nehmen.
Gerade heute war in den Tickermeldungen zu lesen,
dass nun endlich die EU-Delegation in Minsk genehmigt
ist und das Büro eröffnet werden kann. Der neue OSZEBotschafter ist im Minsker Büro angekommen, ohne
dass es darum große Auseinandersetzungen gegeben hat.
Der Besuch des Außenministers Martynow auf der Sicherheitskonferenz und die anschließenden Gespräche in
Berlin haben durchaus die Dialogbereitschaft des Landes
signalisiert. Martynow hat gesagt: It takes two to tango. Richtig, aber im Moment ist das, was zwischen Europa
und Belarus stattfindet, eher ein Cha-Cha-Cha oder etwas in der Art der Echternacher Springprozession.
({4})
Belarus muss seine Interessen analysieren. Ich habe
den Eindruck, dass es im Moment dabei ist. Warum?
Weil es wirtschaftlich ein Erfordernis ist, die Zusammenarbeit mit Europa zu verstärken. Der Handel mit
Europa wächst, während der Handel mit Russland
schrumpft. Die Probleme mit Öl und Erdgas sind uns allen bekannt.
Prodemokratische Reformen würden für Belarus den
Zugang zu ökonomischer Entwicklung und Kooperation
ermöglichen, zur Verbesserung der Lebensbedingungen
auf vielen Feldern und zum Durchbrechen seiner selbstgewählten Isolation führen. Ich glaube, dass die Parlamentswahl, die im September 2008 stattfindet - wir hatten gerade die Diskussion um die Wahlbeobachtungen -,
ein Lackmustest für den Willen der Belarussen ist, sich
den Bedingungen, die wir ihnen abverlangen, anzupassen.
({5})
Ich finde es sehr positiv, dass Frau Yermoshina, die für
die Wahlen in Belarus zuständig ist, ODIHR und die
OSZE bereits zur Wahlbeobachtung eingeladen hat, und
zwar mit dem Hinweis, man wolle es besser machen als
in Russland, nämlich eine volle Wahlbeobachtung ermöglichen.
Auch die Bundesrepublik ist Belarus immer verbunden gewesen. Sie hat sehr frühzeitig diplomatische Beziehungen aufgenommen, eine deutsch-belarussische
Parlamentariergruppe gebildet und das Minsk-Forum,
das jetzt zum zehnten Mal stattgefunden hat, als ein Dialogforum etabliert. Das sollten wir auch nutzen und uns
daran beteiligen. Die Beteiligung war in letzter Zeit sehr
erfreulich.
Die Zusammenarbeit mit der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung der OSZE ist manchmal etwas konfliktbehaftet. So kann das Büro in Minsk eigentlich eher Projekte im Wirtschafts- und Umweltbereich,
also im dritten Korb, durchführen. Die Projekte im Bereich der Menschenrechte sind schwierig. Auch die Working Group on Belarus - ich bin deren Vorsitzende -, die
ebenfalls einen Dialog mit den Belarussen führen will,
hat Schwierigkeiten gehabt. Wir werden noch einen Anlauf unternehmen. Vielleicht dauert es diesmal nicht drei
oder vier Jahre, bis das nächste erfolgreiche Seminar
stattfinden kann.
Kolleginnen und Kollegen, Deutschland streckt
ebenso wie die EU Belarus die Hände entgegen. Der
heute vorliegende Antrag zur Visumgebührenerleichterung ist ein Mosaikstein in diesem Prozess. Er ist auch
eine Aufforderung zum Dialog, eine Aufforderung zum
Tanz. Aber diesmal bitte Tango!
({6})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Michael Link, FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Liebe
Frau Zapf, es ist etwas schwierig, die Analogien zum
Tanzen fortzusetzen. Wenn überhaupt, würde ich an eine
Eisbärenpolka denken; die könnte man mit Lukaschenko
noch vollführen.
({0})
Sagen wir es einmal so: Wir sollten uns zunächst einmal
an das halten, was tatsächlich auf dem Tisch liegt.
({1})
Auf dem Tisch liegen heute drei Anträge. Aber Sie haben natürlich recht: Natürlich steht der zweite, der etwas
ältere Antrag, heute nur der Vollständigkeit halber auf
der Tagesordnung. Wichtiger sind die Anträge zur der
Reduzierung der Visumgebühren.
Die jetzige Debatte ist genauso wie die OSZE-Debatte von vorhin besonders aktuell geworden, weil Herr
Lukaschenko vor wenigen Wochen angekündigt hat,
dass er im September dieses Jahres in Belarus Parlamentswahlen abhalten lassen wolle. Dabei hat er großzügig angekündigt, dass er Wahlbeobachter einladen will,
und zwar „so viele, wie die internationalen Organisationen für sinnvoll halten“. Danke, Herr Lukaschenko, für
die Einladung! Wir werden Sie beim Wort nehmen, und
zwar insbesondere Ihre Aussage: „so viele, wie die internationalen Organisationen für sinnvoll halten“.
Wir wundern uns natürlich schon, dass er nicht
gleichzeitig seine Unterschrift unter den russischtadschikisch-weißrussisch-armenisch-kirgisischen Antrag
an die OSZE, die Zahl der Wahlbeobachter auf 50 zu reduzieren, zurückzieht. Das passt nicht zusammen, wie so
vieles beim Genossen Lukaschenko nicht zusammenpasst. Praxis und Theorie fallen völlig auseinander. Das
Michael Link ({2})
ist nicht nur in diesem Punkt der Fall, sondern trifft insgesamt auf seinen Umgang mit den Idealen der OSZE
zu, die er als OSZE-Teilnehmerstaat unterschrieben hat,
aber dennoch verletzt. Journalisten, Studenten und Oppositionelle werden verhaftet und körperlich misshandelt. Vor allem die sogenannten Wahlen vom März 2006
sind uns in lebhafter Erinnerung. Aus all diesen Gründen
nehmen wir gerne die Einladung zur Wahlbeobachtung
im September an.
Insbesondere vergessen wir nicht - Frau Zapf hat völlig recht - den Fall Kosulin. Kosulin steht aber zugleich
für viele Namenlose, die wir hier gar nicht erwähnen
können und von denen wir oft gar nichts wissen. Deshalb vergessen wir, wenn wir an den Fall Kosulin erinnern, nicht die vielen anderen; er steht stellvertretend für
die vielen anderen.
({3})
Der weißrussische Präsident unternimmt alles, um
seine Macht zu zementieren, und lässt sich dabei offensichtlich von anderen „lupenreinen Demokraten“ leiten.
Er hat offensichtlich ein mittelasiatisches Demokratieideal, wenn er sich an den von Islam Karimow, aber natürlich auch an den von Wladimir Putin gelenkten Wahlen orientiert. Nicht nur in diesem Punkt gibt es Probleme in Belarus.
Belarus hat auch - das ist gerade für Außenpolitiker
ein echtes Problem - besondere Beziehungen zu Staaten
wie Simbabwe, Iran und Nordkorea.
({4})
Man braucht nicht einmal den Begriff von den Schurkenstaaten zu verwenden, um zu sehen, was hier vor sich
geht.
({5})
- Genau, gleich und gleich gesellt sich gern. Das beschreibt das, was hier vor sich geht. - Auch deshalb
kann uns Belarus nicht egal sein.
Selbst innenpolitisch geht Belarus weiter in Richtung
starker autoritärer Staat. Als Beispiel nenne ich nur die
neu gegründete „Belaja Rus“-Organisation, die dem Putinschen Ideal dieser sehr nationalistischen Massenorganisation „Naschi“ nacheifert. Auch insofern gibt es neue,
besorgniserregende Entwicklungen in Belarus.
Ganz aktuell ist auch - das muss man erwähnen - die
am 5. Februar vollstreckte Todesstrafe. Da hilft alles
nichts, auch nicht, wenn Lukaschenko sagt, das seien
Banditen und Gewaltverbrecher gewesen. Nein, Kolleginnen und Kollegen, die Todesstrafe darf in Europa keinen Platz haben.
({6})
Aus all diesen Gründen, den außenpolitischen, den innenpolitischen, und zur Bewahrung unserer europäischen Ideale müssen wir uns um Belarus kümmern, nicht
weil wir in dieses Land hineinregieren wollen, sondern
weil dieses Land die gemeinsamen europäischen Ideale,
die es in der OSZE selbst unterschrieben hat, mit Füßen
tritt. Deshalb müssen wir, Kolleginnen und Kollegen, die
zivilgesellschaftlichen Kräfte in Belarus unterstützen.
Deshalb müssen wir versuchen, diejenigen zu fördern,
die im Lande etwas ändern wollen. Das tun wir am Besten dadurch, dass wir ihnen die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland erleichtern. Angesichts der selbstgewählten Isolation von Belarus ist das wahrscheinlich die
nachhaltigste, die am einfachsten einsetzbare und auch
die friedlichste Waffe, die uns zur Verfügung steht, um
am autoritären Staat Belarus etwas zu ändern.
({7})
Die Antragsteller von FDP und Bündnis 90/Die Grünen - ein Vertreter von den Grünen wird ja gleich noch
reden - begrüßen es, dass auch die Koalitionsfraktionen
einen entsprechenden Antrag gestellt haben. Wir finden
aber, Sie sind dabei sehr kurz gesprungen, und Ihre Aussage, das, was wir fordern, sei europarechtlich nicht haltbar, entspricht nicht unserer Rechtsauffassung. Selbst
wenn dem so wäre, wäre doch die Frage: Wie können
wir es gemeinsam schaffen, das europarechtlich hinzubekommen? Denn es muss doch unser gemeinsames Ziel
sein, dass mehr junge Leute bei uns grundsätzlich ohne
Visumgebühren einreisen dürfen. Die Gefahr, dass dabei
einzelne Problemfälle mit einreisen, ist doch viel geringer als die Gefahr, dass Belarus insgesamt ein Problemfall bleibt, wenn wir weiterhin nur Lippenbekenntnisse
abgeben.
Vielen Dank.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Manfred Grund,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Bevor ich auf die heute zu beratenden Anträge
näher eingehe, möchte ich etwas zur aktuellen Entwicklung in Belarus sagen. Es ist zwar schon gesagt worden,
aber ich möchte das gern wiederholen, weil es für uns
wichtig ist. In den letzten Wochen sind einige politische
Häftlinge aus belarussischen Gefängnissen entlassen
worden. Darunter waren zwei Aktivisten der belarussischen Jugendbewegung, Artur Finkevich und Zmitser
Dashkevich, für deren Freilassung sich auch Kollegen
aus diesem Hause ganz besonders eingesetzt haben. Wir
begrüßen, dass es zu diesen Freilassungen gekommen
ist, und hoffen, dass auch andere, von denen hier schon
die Rede war, demnächst aus belarussischen Gefängnissen entlassen werden können.
({0})
Belarus hat damit einen Schritt in die richtige Richtung getan. Wir sollten dies anerkennen, gerade weil wir
weitere Schritte erwarten. Damit wird aber auch die
Frage aufgeworfen, welche Strategie und vor allem welchen Umgang wir mit dem Regime in Belarus pflegen
wollen und welche Form der Kontakte und gegebenenfalls eines Dialoges wir wählen sollten.
Darüber müssen wir grundsätzlich nachdenken, und
zwar nicht etwa deshalb, weil wir jetzt unsererseits ein
Entgegenkommen zeigen sollten, sondern weil mit der
Frage, ob und wie wir mit den Vertretern des Regimes
reden oder nicht reden, auch unsere Chancen verbunden
sind - sie können dadurch erhöht oder auch geschmälert
werden -, unsere Intentionen zu vermitteln.
Selbstverständlich muss unsere Unterstützung auch
weiterhin uneingeschränkt den demokratischen Kräften
gelten. Wenn wir zugleich aber die Kontakte gegenüber
dem Regime strikt einschränken, birgt das die Gefahr,
dieses in seiner repressiven Politik noch zu bestärken.
Wir haben auch deshalb Anlass, über die Vermittlung
unserer Ziele nachzudenken. Umso weniger Grund haben wir jedoch, unsere Ziele selbst infrage zu stellen. In
dieser Hinsicht muss klargestellt werden, dass die Voraussetzungen für politische Konzessionen an Belarus
durch die jetzt erlassenen Haftstrafen noch nicht erfüllt
sind.
({1})
Das Regime von Präsident Lukaschenko ist nach wie
vor das autoritärste in Europa. Die Meinungsfreiheit
wird unterdrückt. Unabhängige Medien existieren nicht.
Die Zivilgesellschaft hat kaum Entfaltungs- und Entwicklungsspielraum. Nichtregierungsorganisationen unterliegen staatlicher Kontrolle oder werden verboten.
Das Regime versucht, sich nach außen abzuschotten,
und rechtfertigt dies mit antiwestlicher Propaganda.
Einen Eindruck von pluralistischen, demokratischen
und rechtsstaatlichen Verhältnissen können die Bürger
von Belarus nur im Ausland erlangen. Umso wichtiger
ist es, dass gerade junge Belarussen die Chance erhalten,
Reisen in die Europäische Union zu unternehmen.
({2})
Die Erfahrungen, die sie dabei gewinnen, werden über
die Zukunft ihres Landes mitbestimmen. Dies ist auch
eine Frage von Sicherheit und Stabilität an den heutigen
Außengrenzen der Europäischen Union. Aus diesem
Grund liegt die Eröffnung von Reisemöglichkeiten vor
allem für junge Belarussen auch im Interesse Deutschlands.
Hinzu kommt ein weiteres Motiv, das ich nicht unerwähnt lassen möchte. Es betrifft die Besuchs-, Erholungs- und Behandlungsmöglichkeiten für TschernobylKinder in Deutschland.
({3})
- Vielen Dank für den Beifall; denn kaum ein anderes
europäisches Land bemüht sich derart intensiv um die
Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl bei Kindern und Heranwachsenden wie unser Land. - Diese
Tschernobyl-Kinder und ihre Betreuer werden bislang
von Gebühren befreit, und daran soll sich auch in Zukunft nichts ändern.
({4})
Die bisherige Visapolitik hat unserem Interesse Rechnung getragen. So wurden 2006, gemessen an der Einwohnerzahl Belarus’, dreimal so viele Schengen-Visa erteilt wie zum Beispiel in der Ukraine. Allerdings - auch
das ist heute Gegenstand der Beratung - wurden zu Beginn des Jahres 2007 die Gebühren für Schengen-Visa
von 35 auf 60 Euro deutlich erhöht. Gemessen am
durchschnittlichen Monatseinkommen in Belarus ist dies
eine erhebliche Hürde. Die beiden Anträge, die wir heute
beraten, zielen darauf ab, diese Hürde abzusenken.
Mit anderen Ländern Osteuropas wurden oder werden
Visaerleichterungsabkommen geschlossen, die entsprechende Gebührenermäßigungen vorsehen. Mit Belarus
ist eine solche Vereinbarung auf absehbare Zeit wahrscheinlich nicht zu erreichen.
({5})
Für uns stellt sich damit die Frage, ob wir eine Abschottung von Belarus nicht unfreiwillig unterstützen, wenn
wir in diesem Fall nicht auch zu einseitigen Schritten in
der Lage sind.
Die vorliegenden Anträge sollen eine Antwort auf
diese Problematik geben.
({6})
Ihre Formulierungen sind über weite Strecken deckungsgleich, weil sie das Ergebnis interfraktioneller Abstimmungen sind. In der grundsätzlichen Intention stimmen
beide Anträge überein. Wenn wir dem Antrag der Fraktionen des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP trotzdem nicht zustimmen können, so hat dies rechtliche,
europarechtliche Gründe.
({7})
Maßgeblich ist hier nun einmal das Schengen-Recht.
Beide Anträge nehmen deshalb Bezug auf eine Entscheidung des Ministerrats, der Gebührenermäßigungen zulässt, dabei aber ausdrücklich von Einzelfällen spricht.
Ein Einzelfall ist aber sicher nicht eine generelle Gebührenermäßigung für ganze Personengruppen. Genau das
sieht aber der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und
FDP vor. Insbesondere ist vorgesehen, die Visumgebühr
grundsätzlich zu ermäßigen, wenn Antragsteller nur über
ein geringes Einkommen verfügen.
({8})
Was Sie fordern, ist eine pauschale Einzelfallregelung. Doch das ist ein Widerspruch in sich und mit dem
Schengen-Recht einfach nicht vereinbar. Daran ändert
auch die Vergabepraxis anderer EU-Staaten nichts. Möglicherweise kommt das noch zur Sprache. Deshalb müssen wir Ihrem Antrag die Zustimmung versagen. Kollege Link, ich glaube nicht, dass wir zu kurz gesprungen
sind. Denn die Möglichkeiten, die wir zusätzlich eröffnen, bedeuten einen Schritt nach vorne. Zugleich legen
wir einen eigenen Antrag vor, der die gemeinsam abgestimmten Formulierungen aufgreift, die Forderungen jedoch an die bestehende Rechtslage anpasst.
Aus dem Antrag haben wir erstens die Forderung herausgenommen, pauschal die Gebühren für alle Personen
mit niedrigem Einkommen zu ermäßigen. Widersprüchlich ist zweitens die Formulierung, nach der alle unter
26-Jährigen, Künstler und Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen im Einzelfall von Gebühren befreit
werden sollen. Dies haben wir in unserem Antrag durch
die in unseren Augen rechtskonforme Aufforderung ersetzt, solche Personen besonders zu berücksichtigen.
Drittens haben wir auch die Angehörigen kirchlicher Organisationen mit einbezogen. Ich glaube aber, dies wäre
kein strittiger Punkt unter uns gewesen.
Wir sind uns einig in dem Ziel, großzügige Gebührenerlasse zu gewährleisten. Aber wir müssen dabei Formulierungen finden, die rechtlich Bestand haben. Unser Antrag erfüllt beide Vorgaben. Ich verbinde damit nicht nur
die Erwartung, dass die Menschen in Belarus weiterhin
wie bisher die Möglichkeit haben, unser Land und die
anderen europäischen Länder zu besuchen, sondern auch
die Hoffnung, dass sie von dieser Möglichkeit zahlreich
Gebrauch machen.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gehrcke, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich finde es nur vernünftig, dass man Visumgebühren
senkt und dann, wenn man kann, gänzlich darauf verzichtet, um die Begegnung insbesondere mit jungen
Menschen - in diesem Fall aus Belarus, aber auch aus
anderen Ländern - möglich zu machen. Deswegen werden wir dem Antrag der FDP und der Grünen zustimmen. Denn ich halte es für ausgesprochen gut, dass in
diesem Antrag bestimmte Personengruppen genannt
werden, die man besonders dazu einlädt, Gäste zu sein.
Ich halte es auch nicht für unvernünftig, darauf aufmerksam zu machen, dass Geringverdienende eine größere
Hilfe erwarten können. Das ist der Vorteil an diesem Antrag. Dass das einmal ausgesprochen wird, ist doch nur
vernünftig.
({0})
An diesem Beispiel sieht man aber auch - das hat
mich schon ein bisschen geärgert -, dass solche interfraktionellen Anträge eine Fraktion aus dem Dialog ausgrenzen und gar nicht erst mit einbeziehen. Das geschieht nach dem Motto: Wir wollen eure Meinung gar
nicht wissen. - Wir sollten angesichts dessen, dass man
in diesem Parlament von Dialog redet, den Umgang untereinander in dieser Art und Weise irgendwann einmal
überwinden.
({1})
Dazu gibt es dann auch die Reaktion, dass man sagt:
Wenn ihr uns so kommt, dann können wir auch einmal
gegenhalten. - Nehmen Sie dies zur Kenntnis. In der Sache sind wir uns einig; wir werden dem Antrag der FDP
und der Grünen zustimmen.
Ich möchte Sie bitten, an diesem Beispiel einmal zwei
Dinge zu durchdenken. Für mich steht außer Frage, dass
es sich bei dem Regime Lukaschenko um ein autoritäres
Regime handelt, das mit den Bürgerrechten im eigenen
Land sträflich umgeht. Verunsichern wir solche Regime
eher, wenn wir mehr Kontakte schaffen, uns selber öffnen und einen lebendigen Dialog führen, oder glauben
wir eher, mit Sanktionen unsererseits gegen solche Regime das richtige Mittel gefunden zu haben, um Veränderungen herbeizuführen? Da plädiere ich für Öffnung,
für Dialogfähigkeit, für Gespräche miteinander. Gespräche miteinander zu führen, heißt immer, dass man die
streitigen Punkte klar und deutlich von Aug zu Aug
- um das einmal so zu formulieren - ansprechen muss.
Ich erlebe es viel zu oft - im Rahmen der Außenpolitik ist man ja hin und wieder mit Kollegen aus den verschiedenen Fraktionen in anderen Teilen der Welt unterwegs -, dass Kollegen, die hier sehr markige Reden
halten, dann, wenn man im Ausland um einen runden
Tisch herumsitzt, doch keine harte Kante zeigen. Dann
kommt immer nur: „Wir sind solidarisch“, „Wir sind
freundlich“, „Wir wollen einen guten Umgang miteinander haben“. Ich frage mich manchmal: Sind die Linken
die Einzigen - wir sind es mit Sicherheit nicht -, die
auch in Gesprächen mit anderen das, was wir hier sagen,
ansprechen?
({2})
- Ich habe Sie nicht angeschaut, Herr von Klaeden. Aber
ich hätte gerne in diese Richtung gesehen. Ich schaue
jetzt einmal absichtlich zur anderen Seite. Es weiß ja jeder, was damit gemeint war.
Allzu viel von dem, was hier im Parlament gesagt
wird, wird in Gesprächen mit den Partnern aus anderen
Ländern nicht angesprochen bzw. nicht klar genug angesprochen. Das halte ich für einen Nachteil; denn sie lesen sowieso, worüber hier diskutiert wird. Außerdem
muss man, wenn man eine Auseinandersetzung führt,
diese mit eigenen Positionen führen.
Man kann den Fall Belarus zum Ausgangspunkt machen, um darüber nachzudenken, ob eine Politik der Isolierung, also eine Politik der Sanktionen, Veränderungen
besser fördert oder ob eine Politik der Öffnung, des lebendigen Dialoges nicht sehr viel vernünftiger ist und zu
Veränderungen führen kann. Das ist zumindest meine
Erfahrung.
Dann habe ich eine letzte Bitte - dann ist meine Redezeit zu diesem Tagesordnungspunkt zu Ende -: Ich
glaube, das kann man nur machen, wenn man allen gegenüber gleiche Standards an den Tag legt. Ich habe einmal verglichen, wie scharf wir uns bei Wahlen mit Belarus auseinandergesetzt haben und wie weniger scharf wir
mit Georgien umgegangen sind. Wenn andere das Gefühl haben, dass unterschiedliche Standards angewandt
werden, dann ist man selber nicht glaubwürdig. Bitte
durchdenken Sie auch das einmal. Wenn dieses Gefühl
aufkommt, haben wir weniger Chancen, als wenn man
mit allen gleichermaßen umgeht.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich gebe das Wort der Kollegin Marieluise Beck,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vor etwa einem Jahr sind der Kollege Pofalla
und ich nach Belarus gefahren und haben dort gelernt,
dass die Franzosen allen jungen Belarussen unter
25 Jahren die Visumgebühren vollständig erlassen, weil
sie das Interesse haben, dass möglichst viel Austausch
stattfindet, Bewegung da ist und gerade die nächste Generation westliche Werte wie Freiheit, Demokratie, Lebendigkeit und kulturelles Leben kennenlernt. Wir fanden, dass das eine gute Idee ist. Wir haben verabredet,
dass wir das in Deutschland auch machen.
Ab da begannen zehnmonatige, zähe Verhandlungen
zwischen den Koalitionsparteien, dem Auswärtigen
Amt, den Innenpolitikern und ich weiß nicht wem sonst
noch. Herausgekommen ist ein Antrag. Die FDP und wir
Grünen haben den Text eingebracht, der von den Koalitionären wortgleich übernommen worden ist. An der
Stelle, wo es Ernst wird, wo es darum geht, dass das Parlament eine Vorgabe macht - nach dem Motto: wir wollen, dass von unter 25-Jährigen keine Gebühren und von
Beziehern geringer Einkommen ermäßigte Gebühren genommen werden -, hat man die Sache weggedrückt und
eine Empfehlung gemacht. Damit ist faktisch nicht mehr
übrig geblieben als die Entscheidungs- und Ermessensfreiheit, die die Konsulate schon derzeit haben.
Nun haben wir eben gehört, dass das Ganze angeblich
nicht gehe. Das würde bedeuten, dass Frankreich als
Schengen-Staat gegen das Schengen-Abkommen verstößt.
({0})
Ich habe noch nicht gehört, dass sie dafür gerügt worden
sind.
({1})
- Man könnte ja einmal fragen, ob Frankreich in irgendeiner Art und Weise sanktioniert werden müsste.
Der zweite Aspekt sind die Visumerleichterungen insgesamt. Wir alle haben am 21. Dezember die Erweiterung des Schengen-Raumes gefeiert. Es ist ja wunderbar,
dass er sich nach Osten ausdehnt. Diese Medaille hat
aber eine zweite Seite: An der Grenze zu den Menschen
in Weißrussland ist eine Mauer hochgezogen worden.
Das ist dramatisch. Früher gab es einen kleinen Grenzverkehr. Für 5 Euro bekam man ein Visum. Jetzt müssen
die Menschen aus Belarus Schengen-Visa für 60 Euro
pro Visum beantragen. Das heißt: Wir sperren die Menschen von unserer Seite aus ein, behaupten aber, wir
wollten alles tun, um Dialog, Freiheit und Auseinandersetzung zu ermöglichen und die zivilgesellschaftlichen
Kräfte zu stärken, die versuchen, gegenüber dem Regime Lukaschenko etwas Neues aufzubauen. Das ist ein
Widerspruch in sich.
({2})
Nun wird hier behauptet, dass Belarus im Gegensatz
zu anderen GUS-Staaten die Absenkung der Visumgebühren auf 35 Euro nicht beantragt hat. Das ist aber
nachweislich falsch. Wie die Bundesregierung in ihrer
Antwort auf eine Kleine Anfrage, die uns gestern zugegangen ist, zugibt, hat Belarus in den Jahren 2004 und
2007 die Ermäßigung der Visumgebühren auf 35 Euro
beantragt. Von der Europäischen Union ist das aber abgelehnt worden. Jetzt wird es spannend: Was passiert in
der Europäischen Union? Sie sagt: Belarus ist kein demokratischer Staat, also müssen wir ihn sanktionieren,
also reduzieren wir die Visumgebühren nicht. Damit
trifft die Europäische Union aber genau die Falschen.
({3})
Das ist eine so irrwitzige Politik, dass man sich wünscht,
dass das Auswärtige Amt und die Bundesregierung dagegen intervenieren. Das haben sie aber nicht vor, wie in
der Antwort auf unsere Kleine Anfrage nachzulesen ist.
Liebe Kollegen, lieber Kollege Grund, ich weiß, dass
Sie absolut guten Willens sind. Frau Zapf, es gibt da etwas zu tun. Die Europäische Union geht von einer idiotischen Logik aus. Sie meint zwar, dass sie das Regime
trifft, aber sie trifft die kleinen Leute. Das ist ein Unsinn,
den wir nicht mittragen können.
({4})
Marieluise Beck ({5})
Krempeln Sie also die Ärmel hoch und seien Sie so
mutig wie Frankreich. Setzen Sie sich innerhalb der EU
dafür ein, dass die Gebühren reduziert werden, wie es
bei der Ukraine und anderen Staaten der Fall ist. Lassen
Sie uns weiterhin im Auge behalten, ob sich Belarus
wirklich bewegt. Nächste Woche steht der Prozess gegen
fünf junge Menschen von der Malady-Front an. Der
Staatsanwalt hat eine zweijährige Haftstrafe beantragt,
nur weil sie Mitglied einer nicht registrierten Organisation sind. Herr Klimov und Herr Kasulin sind bereits erwähnt worden; es gibt noch viele andere.
Es gibt noch sehr viel zu tun, ehe wir das Gefühl haben können, dass es in Belarus ein winziges Zeichen des
Frühlings gibt. Wir alle wünschen uns das. Die falschen
Menschen dafür zu bestrafen, dass sie in ihrem Land ein
autoritäres Regime haben, das passt nun wirklich nicht
zu unserer Logik und unseren demokratischen Vorstellungen.
Schönen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und SPD mit dem Titel „Ermäßigung der
Visumgebühr für Bürgerinnen und Bürger aus Belarus“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 16/7170, den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/5909 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit
den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die
Linke angenommen.
Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Antrag der Fraktionen der FDP und Bündnis 90/
Die Grünen mit dem Titel „Demokratiebewegung in
Belarus unterstützen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3709, den
Antrag der Fraktionen der FDP und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 16/1977 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenommen.
Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Antrag der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen
und FDP mit dem Titel „Ermäßigung der Visumgebühr
für Menschen aus Belarus“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7188,
den Antrag der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und
FDP auf Drucksache 16/5905 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Die Beschlussempfehlung ist ebenfalls mit den Stimmen
der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Kipping, Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Beratungsqualität für Erwerbslose verbessern Personal der Grundsicherungsträger qualifizieren und ihm Zukunftsperspektiven geben
- Drucksache 16/8045 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Katja Kipping, Fraktion Die Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im letzten Jahr ist die Zahl der Sanktionen in den Jobcentern
um 60 Prozent gestiegen. Das bedeutet, dass der ohnehin
niedrige Hartz-IV-Regelsatz um mindestens 30 Prozent
gekürzt wird bis hin zur kompletten Streichung. Nach
Aussage einer Sprecherin der Bundesagentur für Arbeit
liegt das daran, dass - jetzt zitiere ich - die Ämter zunehmend professioneller arbeiten. Das nenne ich ein
sehr eigenartiges Verständnis von Professionalität, das
an der Spitze der Bundesagentur herrscht. Dieses Verständnis von Professionalität würde bedeuten, die Arbeit
der Jobcenter bestünde darin, Erwerbslose besonders
hart abzustrafen. Dieses Verständnis von Professionalität
kann ich nicht teilen. Denn ich meine: Die Aufgabe der
Jobcenter besteht nicht im Bestrafen, sondern darin, Arbeitsuchenden zu helfen. Da gibt es noch viel zu tun.
({0})
Zum Beispiel mangelt es in vielen Jobcentern an einer
qualifizierten Unterstützung von Menschen mit Behinderungen. Vor einigen Wochen kam in meine Sprechstunde eine behinderte Frau mit Rückenproblemen, in
der Sprache der Behörde: mit einer anerkannten Teilerwerbsunfähigkeit. Trotz ihrer Behinderung wurde
diese Frau in eine Wäscherei vermittelt, wo sie schwer
heben und tragen musste. So sieht doch keine sinnvolle
Arbeitsvermittlung aus. Glauben Sie nicht, dass das ein
Einzelfall ist! Deswegen fordern wir, die Linke, eine gezielte Qualifizierung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern gerade für die Probleme von Menschen mit Behinderungen.
({1})
Zu einer professionellen Beratung der Jobcenter
würde auch gehören, dass die Menschen umfassend über
ihre Rechte aufgeklärt werden. Doch viel zu oft wird in
den Jobcentern die Inanspruchnahme der Rechte nicht
befördert, sondern sogar noch behindert. Ich möchte Ihnen ein Beispiel aus einer Fallsammlung einer Fraueninitiative vortragen. Einer schwangeren Alleinerziehenden wird nach ihrer Ausbildung gekündigt. Sie ist also
auf Arbeitslosengeld II angewiesen. Sie möchte in eine
kleine Zweizimmerwohnung in die Nähe einer Kindertagesstätte umziehen, damit sie sich nach der Geburt wieder auf Jobsuche begeben kann.
Frau Kollegin, der Kollege Straubinger hätte gerne
eine Zwischenfrage gestellt.
Mit Vergnügen.
Frau Kollegin Kipping, Sie haben gerade gefordert,
dass im Interesse der Beratung der Erwerbslosen besser
qualifiziert werden muss. Soll diese Beratung dann so
praktiziert werden, wie es jüngst in einer ZDF-Sendung
zum Ausdruck kam: dass Beratungsstellen, die Ihrer Partei nahestehen, den Betroffenen zum Missbrauch der Sozialleistungen
({0})
bzw. zum Abschluss von Scheinverträgen geraten haben,
um auf diesem Wege sicherzustellen, dass sie soziale
Unterstützung erhalten?
({1})
Herr Straubinger, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie
mir Gelegenheit geben, außerhalb meiner Redezeit auf
dieses Thema einzugehen. Denn hinter all dem steht ein
elementares Problem, dem wir uns stellen müssen.
({0})
Die Leute bekommen in den Argen überhaupt keine qualifizierte Beratung, sodass sie darauf angewiesen sind,
sich bei anderen Stellen zu informieren. In ihrer Not suchen sie nach Unterstützung. Die Fälle, die Sie genannt
haben, zeigen doch, wie wichtig es ist, unabhängige Beratungsstellen mit qualifiziertem Personal zu unterstützen.
({1})
Ich möchte noch ein Zweites sagen - ich bin Ihnen
sehr dankbar, dass Sie darauf hingewiesen haben -:
Wenn es um ein Gesetz geht, das so schlecht ist wie dieses, und wenn gerade von Ihrer Partei eine Ideologie verfolgt wird, die darauf abzielt, dass Erwerbslose mit Füßen getreten werden, ist unser Platz an der Seite der
Erwerbslosen. In diesem Fall unterstützen wir sie. Das
gebe ich gerne zu.
({2})
- Herr Straubinger, wenn Sie gestatten, würde ich jetzt
gerne meine Rede fortsetzen.
({3})
- Ich glaube, dass sehr häufig Rechtsbruch stattfindet,
gerade dann, wenn es um die Rechte derjenigen geht, die
besonders wenig haben. Diesen Leuten muss man helfen, damit sie ihre Rechte durchsetzen können.
({4})
Zurück zu dem Beispiel, das ich angeführt habe. Die
schwangere Frau, von der ich sprach, wollte in eine
kleine Wohnung neben einer Kita ziehen, um ihre Jobsuche nach der Geburt fortsetzen zu können. Eigentlich
müsste man meinen, dass ein Amt einen solchen Umzug
nach besten Kräften unterstützt. Doch anstatt Unterstützung zu erfahren, hat diese Frau von einem Mitarbeiter
des Jobcenters zu hören bekommen, sie hätte doch abtreiben können, dann wäre sie nach ihrer Ausbildung
übernommen worden. Meine Damen und Herren, das ist
Verhöhnung und Beleidigung von Menschen, die ein
Recht auf Unterstützung haben.
Nun können Sie einwenden, die Bundesregierung
dürfe nicht für die Fehler einzelner Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter in Haft genommen werden. Ich allerdings
meine, dass sie für den Einspardruck, der auf jedem einzelnen Mitarbeiter lastet, mitverantwortlich ist. Deswegen darf sich die Bundesregierung nicht hinter den Beschäftigten der Jobcenter verstecken.
Wie sieht es denn in der Praxis aus? Die regionalen
Jobcenter müssen mit der Spitze der Bundesagentur für
Arbeit eine Leistungsvereinbarung treffen. Dadurch verpflichten sich die regionalen Jobcenter zu Einsparungen,
und zwar um mindestens 8 Prozent.
({5})
Genau dieser Vorgang wird von der Bundesregierung abgesegnet. Das, meine Damen und Herren, muss sich ändern.
({6})
Ich habe noch eine Minute Redezeit, die ich gerne
nutzen würde, um die Zwischenfrage zu beantworten.
({7})
Da sie aber nicht zugelassen wird, kann ich nicht auf
Ihre Frage eingehen.
Ich fasse zusammen: Ich habe zwei Beispiele genannt, die verdeutlicht haben, dass die Qualität der Beratung in den Argen, in den staatlichen bzw. amtlichen
Stellen, deutlich verbessert werden muss. Dazu unterbreiten wir Ihnen eine ganze Reihe von Vorschlägen.
Ich möchte drei unserer Vorschläge erwähnen:
Erstens. Wir müssen sicherstellen, dass es einen ausreichenden Personalstamm von Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern gibt, die nicht befristet, sondern unbefristet
beschäftigt sind.
Zweitens. Die Trennung in zwei Regelkreise, nach
dem Sozialgesetzbuch II und nach dem Sozialgesetzbuch III, muss beendet werden. Bei der Vermittlung von
Erwerbslosen darf es kein Zweiklassensystem geben.
Drittens. Wir müssen unabhängige Beratung, die von
unten gewachsen und aus der Selbstorganisation und
Selbstvernetzung der Erwerbslosen entstanden ist, unterstützen. Da in den letzten Tagen das Wort von der kooperativen Arge, die sich der Minister wünscht, die Runde
machte, sage ich Ihnen: Meine Fraktion streitet für Argen, in denen eine wirkliche Kooperation mit den Erwerbslosen praktiziert wird, und zwar eine Kooperation
auf Augenhöhe.
Danke schön.
({8})
Frau Kollegin Kipping, ich habe die Zwischenfrage
deshalb nicht zugelassen, weil die Kollegin Pothmer
noch zu diesem Tagesordnungspunkt sprechen wird.
Das Wort hat der Kollege Karl Schiewerling, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Kipping, um es vorwegzunehmen: Die
Antwort, die Sie auf die Frage des Kollegen Straubinger
gegeben haben, war im doppelten Sinne entlarvend. Sie
haben zu Rechtsbruch aufgerufen.
({0})
Sie heißen diesen Rechtsbruch gut, solange er den Menschen dient. Dahinter steht ein Menschenbild, demzufolge es nur darauf ankommt, jemanden als Benachteiligten zu definieren, und dann kommt - im Falle Ihrer
Person - Robina Hood und kämpft für die Entrechteten,
die im schwarzen Wald leben, und sagt: Leute, wir tun
alles, wir brechen Recht, um euch zu schützen. Ein
höchst spannendes Bild! Sie sollten lieber zusehen, dass
die Leute aus dem Wald herausfinden, damit sie eine
Perspektive für eine ordentliche Zukunft bekommen.
({1})
Kaum eine Sitzungswoche vergeht, ohne dass der
Deutsche Bundestag über Detailregelungen des SGB II
diskutiert. Mit der Grundsicherung für Arbeitsuchende
- lassen Sie mich das noch einmal in aller Deutlichkeit
sagen, weil es immer wieder angesprochen wird - ist
2005 eine völlig neue Regelung eingeführt worden, bei
der die Prinzipien von Fordern und Fördern gelten, mit
dem Ziel, die Menschen wieder in Erwerbsarbeit zu
bringen, damit sie sich ihren Lebensunterhalt mit ihrer
eigenen Hände Arbeit verdienen können. Das ist die arbeitsmarktpolitische Komponente dieses Gesetzes.
Gleichzeitig hat dieses Gesetz einen sozialpolitischen
Teil: die Grundsicherung aus der alten Sozialhilfe. Das
macht das Neue aus.
Genau daraus - das will ich nicht verheimlichen - ergeben sich an der einen oder anderen Stelle Probleme.
Wenn nämlich Personen mit mehreren Kindern in einer
Bedarfsgemeinschaft leben, erhalten sie so viel Leistungen nach dem SGB II, dass es manchem schwer einsichtig zu machen ist, dass es, selbst wenn er aufstocken
muss, selbst wenn er nicht wesentlich mehr hat als vorher, in jedem Falle besser ist, eine Erwerbsarbeit aufzunehmen, schon deswegen, weil man leichter wieder eine
reguläre Beschäftigung findet.
Wir tun bei dieser Diskussion immer so, als sei das
SGB II ein statisches Gebilde und als bliebe, wer einmal
drin ist im dunklen Wald, für immer dort. Das ist aber
nicht der Fall. Es gibt gewaltige Bewegungen in diesem
Bereich. Zwar gibt es Menschen, die reingehen; aber es
kommen deutlich mehr heraus. Dank der Konjunktur haben wir deutlich weniger Arbeitslose als in der Zeit vor
2005, bevor das SGB II geschaffen wurde.
Lassen Sie mich an dieser Stelle noch einen weiteren
Punkt ansprechen. Wir haben zurzeit 3,66 Millionen Arbeitslose. Eigentlich müssten wir noch die dazuzählen,
die in der Zeit vor 2005 in der alten Sozialhilfe waren. In
der heutigen Arbeitslosenzahl sind nämlich diejenigen,
die früher in der Sozialhilfe steckten, enthalten. Wenn
man also die Arbeitslosenzahl von heute mit der von früher vergleicht, fällt die Bilanz noch deutlich günstiger
aus.
Ich glaube, das Zweite Buch Sozialgesetzbuch ist und
bleibt ein lernendes System. Das betrifft natürlich besonders diejenigen - jetzt komme ich auf den Antrag der
Linken zu sprechen -, die unmittelbar mit den von Langzeitarbeitslosigkeit betroffenen Menschen zu tun haben:
Das sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Arbeitsgemeinschaften und Optionskommunen. Die Behauptung in Ihrem Antrag, die Einführung des Arbeitslosengeldes II habe zu einer „Spaltung der Erwerbslosen“
geführt, ist falsch und in seiner Diktion verräterisch, und
zwar deswegen, weil Sie so tun, als ob Sie es bei den Arbeitslosen mit einem Block zu tun hätten und alle diejenigen, die sich differenziert um sie kümmern, Spalter
wären. Das ist eine Denkweise, das ist eine Herange15006
hensweise des Kalten Krieges. Ich dachte, die hätten wir
überwunden. Ihren Antrag unter diesem Gesichtspunkt
zu lesen, ist höchst spannend; dann wird einem deutlich,
welche Intention Sie haben.
Meine Damen und Herren, die Erwerbslosen bewegen
sich in unterschiedlichen Rechtskreisen. Erwerbslose in
unterschiedlichen Situationen müssen auch unterschiedliche Antworten bekommen. An die Berater, die im Bereich des Arbeitslosengeldes I arbeiten, werden andere
Anforderungen gestellt als an die Berater, die im Bereich
des Arbeitslosengeldes II arbeiten.
({2})
Die im Bereich des Arbeitslosengeldes II Tätigen
müssen verschiedene Probleme beachten. Sie brauchen
Kompetenzen für die Bereiche Verschuldung, Suchtberatung, Jugendhilfe und Wohnungshilfe. Dies müssen sie
in Hilfeplänen zusammenbringen, die sie dem Einzelnen
angedeihen lassen, der über einen längeren Zeitraum
- viele Jahre lang - keinem Erwerb mehr nachgegangen
ist. Ich will Ihnen in aller Deutlichkeit sagen - und das
müssen wir auch hier im Haus akzeptieren -: Das erfordert eine andere Herangehensweise.
Der im Antrag unterschwellig geäußerte Vorwurf,
qualifiziertes Personal finde man nur unter den Mitarbeitern, die im Bereich des SGB III, also im Bereich des
Arbeitslosengeldes I arbeiten, weise ich ausdrücklich zurück. Dieser Vorwurf ist falsch und für all diejenigen diffamierend, die sich seit vielen Jahren in diese Dinge einarbeiten.
({3})
Richtig ist sicherlich, dass es 2005 beim Beginn der
Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe
Anfangsschwierigkeiten gegeben hat. Das lag primär daran, dass viele Mitarbeiter übernommen wurden, die vorher im Bereich der Sozialhilfe tätig waren. Diese hatten
zunächst keine Erfahrung im Bereich der Berufsberatung
und der Berufsvermittlung. Sicherlich arbeitete man in
den Kommunen mental auch anders als in der Bundesagentur für Arbeit. Ich sage Ihnen aber: Durch meine
vielen Besuche in den Argen habe ich festgestellt, dass
sich hier vieles zu einem Guten gewendet hat. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in den Arbeitsgemeinschaften tätig sind, sind gut und geben sich alle erdenkliche Mühe, den Menschen weiterzuhelfen.
Ich finde es ebenfalls frappierend, dass in Ihrem Antrag detailliert beschrieben ist, wie die Argen und die
Optionskommunen die Weiterbildung ihrer Mitarbeiter
zu organisieren haben, so als müsste der Bund vorschreiben, wie die Weiterbildung vor Ort erfolgt. Das wissen
die Leute vor Ort wesentlich besser. Wir brauchen keinen Gleichschritt von der Bundesebene hinunter bis in
die letzte Arge zu verordnen. Sie sollen ihre Verantwortung vor Ort wahrnehmen.
({4})
Richtig ist, dass seit der Einführung der Grundsicherung viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Arbeitsgemeinschaften nur befristete Verträge erhalten haben. Daran hat sich viel verändert. Im letzten
Haushaltsjahr haben wir 4 000 neue Stellen geschaffen.
Für dieses Jahr sind 3 000 weitere Dauerstellen vorgesehen. Gemäß einem Haushaltsvermerk ist vorgesehen,
dass dort bis 2010 weitere 5 000 Kräfte tätig werden.
Auch hier erwähne ich allerdings wieder, dass wir es
mit einem System zu tun haben, das in Bewegung ist.
Die Langzeitarbeitslosigkeit wird abgebaut. Deswegen
brauchen wir auch nicht alle Mitarbeiter an den alten
Stellen. Dank der guten Konjunktur und des Abbaus der
Arbeitslosigkeit gehen wir mittlerweile auch an die verhärtete Langzeitarbeitslosigkeit heran. Hier müssen wir
mit anderer Kraft und Intensität arbeiten, um auch den
davon betroffenen Menschen eine Perspektive zu geben.
({5})
Wir haben 3,66 Millionen Arbeitslose. 625 000 Menschen haben im letzten Jahr eine Beschäftigung gefunden. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten ist auf 27,4 Millionen angestiegen. Die Zahl
der offenen Stellen - das halte ich für wesentlich - ist
vom letzten Monat bis jetzt um 131 000 gestiegen. Das
halte ich für ein wichtiges Indiz und ein hoffnungsvolles
Zeichen. Es gibt 933 000 offene Stellen, die wir besetzen
können.
Ich wünsche mir für die Zukunft mehr Mut vor Ort
und mehr Eigenverantwortung. Das bedeutet aber auch,
dass der Bund akzeptieren muss, dass vor Ort bei allem
guten Willen auch einmal Fehlentscheidungen getroffen
werden können. Das müssen auch der Bundesrechnungshof und die internen Prüfer in Rechnung stellen. Ich
möchte gerne, dass die Sachbearbeiter vor Ort angstfrei
eine Entscheidung treffen können, ohne dass ihnen möglicherweise jedes Mal gesagt wird, dass sie einen Fehler
gemacht haben, und ohne dass sie zitiert werden. Jeder,
der das nicht darf und der keine Initiativen ergreifen
kann, hat hinterher keine Lust mehr, Eigeninitiative zu
zeigen.
({6})
Ich komme zum Schluss. Wenn das deutsche Recht
und die Europagesetze dagegen sprechen und wenn die
nötige Flexibilität nicht gegeben ist, dann müssen wir
überprüfen, inwieweit wir im Gesetzgebungsverfahren
mehr Flexibilität ermöglichen können. Ich glaube nämlich, dass wir ohne diesen Ansatzpunkt die eigentlichen
Probleme nicht lösen werden.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. - Gleichzeitig sind wir dabei - das ist keine Frage -, aus der Entscheidung des
Verfassungsgerichts vom 20. Dezember die Konsequenzen zu ziehen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einen letzten Satz sagen: Von welcher Motivation auch immer getragen, schnelle Entscheidungen dürfen nicht wieder unter Macht- und Zuständigkeitsgesichtspunkten zu
Ergebnissen führen, die den Menschen nicht dienen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich der Kollegin Kipping.
({0})
Es ist soeben behauptet worden, in unserem Antrag
sei die Rede davon, dass man nur im Rahmen von
SGB III qualifizierte Mitarbeiter findet. Diese Unterstellung muss ich zurückweisen; dies ergibt sich einfach
nicht aus dem Text unseres Antrags. Im Gegenteil, unser
Antrag spricht zum einen das Problem an, dass es von
den arbeitsmarktrechtlichen Instrumenten her zwei Regelkreise gibt, die wir auflösen wollen. Das ist keine absurde Forderung, sondern das ist eine Forderung, die in
Gewerkschaften, Sozialverbänden usw. breit diskutiert
wird. Zum anderen geht es uns in unserem Antrag eben
nicht darum, mit dem Finger auf die einzelnen Mitarbeiter zu zeigen, wenn bei der Beratung Mängel auftreten,
sondern darum, die Lösung der strukturellen Probleme
anzugehen. Wir dürfen hier nicht bloß so schön von
Angstfreiheit reden, sondern müssen den Beschäftigten
die Sicherheit geben, Beratung im Interesse der Betroffenen anstatt unter dem Dogma des Einspardrucks
durchführen zu können.
Danke.
Herr Kollege Schiewerling.
Frau Kollegin Kipping, Sie sprechen in Ihrem Antrag
dezidiert davon, dass es unterschiedliche Beratungsqualifikationen und -qualitäten gibt, und Sie sprechen in Ihrem Antrag bewusst von Spaltung. Sie weisen darauf
hin, dass es unterschiedliche Beratungen im Bereich
SGB II und SGB III gibt. Das steht in Ihrem Antrag; ich
habe ihn tatsächlich gründlich gelesen. Aber dies ist eine
Position, die so nicht durchzuhalten ist. Ich weiß, dass
Fachleute es für eine Achillesferse der Arbeitsmarktpolitik halten, dass es im Bereich SGB III und SGB II unterschiedliche Beratungen gibt. Dies mag man so sehen.
Aber ich sage Ihnen, dass man auch mit einer Achillesferse, die nicht verwundet ist, gut laufen kann. Daher
werden wir weiterhin die detaillierte und auf die Problemgruppen abgestimmte Beratung durchführen.
Ich glaube nicht, dass dies das eigentlich Anliegen Ihres Antrags war. Ihr Antrag lief eher darauf hinaus, eine
Qualifikation so zu gestalten, dass nur die Mitarbeiter
qualifiziert sind, die die Menschen, die Sie als Ihr Wählerpotenzial im Blick haben, so beraten, dass sie im System weiter gut leben können. Das ist nicht unsere Intention.
({0})
Der Kollege Dirk Niebel, FDP-Fraktion, hat seine
Rede zu Protokoll gegeben.1) Deshalb gebe ich das Wort
Katja Mast von der SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen,
die hier sind, um Gesetze zu verabschieden, die auch
eingehalten werden sollen! Das ist wieder einmal ein typischer Antrag der sogenannten Linken: Erfolge beim
Abbau der Arbeitslosigkeit kleinreden, skandalisieren
und dann auch noch einen Antrag vorlegen, der mit
schneller Hand gestrickt ist. Keine Überraschung also!
({0})
Natürlich sind wir beim Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit noch nicht am Ziel. Dies behauptet auch niemand. Wir haben einiges erreicht. Allein, dass wir es tatsächlich geschafft haben - Kollege Schiewerling hat es
eben gerade gesagt -, Langzeitarbeitslosigkeit zu verringern, ist ein Erfolg. Die sogenannte Sockelarbeitslosigkeit ging von 2006 auf 2007 um 192 000 Langzeitarbeitslose zurück. Das sind stolze 16 Prozent.
({1})
Für jeden Einzelnen heißt das, morgens wieder aufzustehen, einen Job zu haben, dazuzugehören und Anerkennung zu bekommen - 192 000-mal.
({2})
Das reicht nicht, aber es zu verschweigen wird
192 000 Menschen nicht gerecht.
({3})
Wodurch wurde der Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit erreicht? Erstens. Seit den Reformen am Arbeitsmarkt und der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und
Sozialhilfe 2005 haben sich die Bundesagentur für Arbeit und die Kommunen in den Argen Schritt für Schritt
verbessert.
({4})
1) Anlage 3
Der Start verlief holprig - das wissen wir alle -, aber
nachdem sich alle zusammengerauft hatten, waren es die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ihren Leistungen,
die die Angebote für Langzeitarbeitslose zur Aktivierung gesteuert haben. Allein im Jahr 2007 befand sich
jeder fünfte zu aktivierende Arbeitslosengeld-II-Empfänger in einer Eingliederungsmaßnahme; 2005 war es
nur jeder achte.
Zweitens. Auch die Angebotsmöglichkeiten, Langzeitarbeitslosen wieder einen Job zu vermitteln, sind
treffsicherer geworden. Dazu hat unser jüngst in Kraft
getretenes Gesetz zu den Jobperspektiven beigetragen.
Aber auch die Zahl der Förderungen im Bereich der beruflichen Weiterbildung - auch der beruflichen Weiterbildung von Menschen mit Behinderungen - hat stark
zugenommen.
Drittens. Die weiteren Leistungen, die oft ergänzend
und auf den Einzelfall abgestimmt erbracht werden, sind
2007 immens gestiegen. Als wichtige Schritte sind beispielsweise die verbesserte Schuldnerberatung, die psychosoziale Betreuung, das Einstiegsgeld und die Suchtberatung zu nennen.
Viertens. Fakt ist auch, dass wir besonders für Jugendliche sehr viel erreicht und sie überdurchschnittlich
gefördert haben. Denken Sie nur an den neuen Qualifizierungskombilohn oder die Einstiegsqualifizierung.
Keine Frage: Wir können noch besser werden. Aber
Sie sollten nicht immer so eine miese Stimmung verbreiten.
({5})
Bei der Stellenbefristung der Mitarbeiter der Argen
muss zunächst einmal der Istzustand festgehalten werden. Selbstverständlich ist es unser Ziel, möglichst vielen Beschäftigten eine verlässliche Perspektive zu bieten. Zeitverträge haben nur dort ihre Berechtigung, wo
dies für die Flexibilität vor Ort notwendig ist. Bei den
festen Stellen gehen wir Jahr für Jahr einen Schritt weiter. 2007 standen 4 000 Stellen zusätzlich zur Verfügung.
2008 werden es weitere 3 000 sein. Das reicht zwar
nicht, aber es zu verschweigen, wird 7 000 Menschen
nicht gerecht.
Tun Sie bitte nicht immer so, als hätten wir es bei den
Mitarbeitern in den Jobcentern mit Amateuren zu tun!
Jeder Einzelne hat viel erreicht und verdient nicht nur
unseren Respekt, sondern auch unser Vertrauen.
({6})
Sie sind qualifiziert, und es ist Aufgabe der Träger vor
Ort, zu entscheiden, wie sie ihre Mitarbeiter aufgrund
der spezifischen Bedürfnisse weiter qualifizieren. Was
im internationalen, großstädtischen Mannheim mit vielen Migranten richtig ist, muss in Isny im Allgäu noch
lange nicht richtig sein. Die Akteure vor Ort wissen
schon selbst, was zu tun ist.
Übrigens sollten Sie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht als nebensächlich abtun. Denn
danach ist die Zusammenarbeit in den Argen nicht mit
der Verfassung vereinbar. Der Übergang muss bis 2010
erfolgen.
({7})
Wir brauchen Planungssicherheit und haben diese für
die Leistungen der Arbeitslosengeldempfänger bereits
gewährleistet. Auch das ist das Verdienst der engagierten
Mitarbeiter in den Argen und der Bundesagentur. Wir
brauchen aber auch Planungssicherheit für die qualifizierten Mitarbeiter der Argen. Sie wollen wissen, wohin
die Reise geht. Klar ist: Je länger der Zeitraum der Unsicherheiten nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts anhält, desto stärker werden die Mitarbeiter und insbesondere auch die Hilfeempfänger - im
Übrigen auch durch solche Anträge - verunsichert.
({8})
Je länger die Debatte dauert, desto weniger Planungssicherheit gibt es.
Deshalb kann es nur eine Lösung geben, die ohne eine
erneute Gesetzesänderung auskommt. Wir wollen keine
Situation wie 2003, als ein endloses Vermittlungsverfahren zwischen Bundesrat und Bundestag sowie Städten
und Landkreisen alle - nicht zu vergessen die Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit - über das erträgliche
Maß hinaus belastet hat.
({9})
Fazit ist: Politische Polarisierung nutzt nicht den
Langzeitarbeitslosen, sondern nur den Demagogen.
({10})
Weder eine reine Bundeslösung noch eine vollständige
Kommunalisierung der Arbeitsvermittlung ist sinnvoll.
({11})
Die Arbeitsvermittlung muss in den Händen des Bundes liegen. Eine Kommunalisierung des Risikos Arbeitslosigkeit kann ich mir nicht vorstellen. Die Solidarität
zwischen wirtschaftlich schwachen und starken Kommunen wollen wir nicht zerstören. Im Rahmen der Arbeitsmarktpolitik findet schon heute der stärkste Finanzausgleich zwischen den Kommunen statt. Jene mit
höherer Arbeitslosigkeit, die von Krisen stärker betroffen sind, bekommen mehr. Nimmt man nur die Ausgaben für die Grundsicherung, dann stellt man fest, dass es
um 35 Milliarden Euro geht. Wollen wir zurück zum
Flickenteppich der alten Sozialhilfe? Das lehnt zum
Glück die Mehrheit der Städte und Kommunen ab. Eine
Kommunalisierung bedeutet einen neuen Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern sowie endlose Verhandlungen zwischen den Ebenen. Das ist das genaue
Gegenteil von Planungssicherheit. Doch darum allein
geht es nicht. Für die Überwindung der Hürde einer
Grundgesetzänderung gibt es ebenfalls keine Mehrheit.
({12})
Unser Bundesarbeitsminister Olaf Scholz hat in dieser Situation das einzig Sinnvolle gemacht. Er hat zügig
einen ersten Vorschlag für ein neues kooperatives JobKatja Mast
center vorgelegt. Das sorgt für Planungssicherheit. Auf
der Basis einer freiwilligen Kooperationsvereinbarung
arbeiten Kommunen und die Agentur für Arbeit weiterhin zusammen. Alles kann wie bisher unter einem Dach
erfolgen. Die geleistete Aufbauarbeit war nicht umsonst.
Die Arbeitsvermittlung bleibt beim Bund. Die örtliche
Ebene spielt eine tragende Rolle. Das ist gut und richtig.
Nur so können Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik reibungsfrei und in hoher Qualität betrieben werden.
Konkret heißt das, die Zusammenarbeit von Kommunen und der Agentur für Arbeit wird fortentwickelt. Die
Arbeitsuchenden haben möglichst eine Anlaufstelle sowie eine abgestimmte Bescheiderteilung und Auszahlung. Im Kooperationsausschuss arbeiten Kommunen
und Agentur zusammen. Dort wird das Arbeitsmarktund Integrationsprogramm für Langzeitarbeitslose vor
Ort festgelegt. Die Entscheidungen über die lokale Arbeitsmarktpolitik, die Gestaltung der Geschäftsprozesse,
die Kommunikation und die Abstimmung mit den Handelnden vor Ort erfolgen dezentral. Es wird nicht vorgegeben, was gemacht wird. Leitlinien sind vereinbarte
Ziele.
Jedes Jobcenter ist nur so gut wie seine Mitarbeiter.
Die kommunalen Beschäftigten in den Argen, die schon
heute Aufgaben der Agentur für Arbeit erledigen, erhalten daher ein Beschäftigungsangebot der Bundesagentur
für Arbeit. Auch die Kompetenz der kommunalen Geschäftsführer der Argen muss erhalten bleiben. Sie werden ebenfalls ein Weiterbeschäftigungsangebot erhalten.
Die Mitarbeiter haben eine verlässliche Perspektive.
Ich hätte mir hierzu mehr von Ihrem Antrag erwartet.
Er bietet keine Überraschung, auch nicht am Valentinstag.
({13})
Ich gebe das Wort der Kollegin Brigitte Pothmer,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Kipping, sind Sie sicher und wissen Sie ganz genau, dass
ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin eines Jobcenters
zu einer schwangeren Frau gesagt hat, sie hätte doch abtreiben können?
({0})
- Dann sagen Sie uns bitte, um welches Jobcenter es sich
handelt. Ich bin sehr dafür, dass wir dem nachgehen. Ich
finde es ungeheuerlich, wenn so etwas stattgefunden hat.
({1})
Wenn Sie sich aber auf Hörensagen verlassen haben,
ohne es nachzuprüfen, dann finde ich das gleichfalls ungeheuerlich.
({2})
Denn auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines
Jobcenters sind Menschen und haben ein Anrecht darauf, vor Verleumdungen geschützt zu werden. Ich bitte
Sie, hier nachzuarbeiten.
({3})
Falls das, was Sie sagen, stimmt, sind wir alle aufgefordert, alles zu tun, damit das für den betreffenden Mitarbeiter oder die betreffende Mitarbeiterin nicht ohne
Folgen bleibt.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Kipping?
Ja.
Um auf Ihre direkte Ansprache mit einer Frage zu
antworten - ich kann Ihnen jetzt nur in dieser Form antworten -: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass
das von mir genannte Beispiel aus einer Fallzusammenstellung einer Rechtsanwältin stammt, die eine sehr anerkannte Fraueninitiative berät und die sich mit der Bitte
an mich gewandt hat, Öffentlichkeit für solche Probleme
herzustellen? Aber diese Rechtsanwältin hat im Interesse
ihrer Mandantin und in Rücksprache mit ihrer Mandantin den Namen anonymisiert. Es handelt sich aber um
eine ordentliche, offizielle Zusammenstellung.
Frau Kipping, ich bin bereit, das zur Kenntnis zu nehmen. Aber dann wird es umso eher möglich sein, mindestens herauszubekommen, um welches Jobcenter es
sich handelt.
({0})
Ich bin gerne bereit, mit dieser Rechtsanwältin Kontakt
aufzunehmen.
({1})
Das kann diese Rechtsanwältin nur wollen; denn das
Ziel der Rechtsanwältin kann doch nur sein, dass solche
Missstände - um das ganz deutlich zu sagen - abgestellt
werden. Frau Kipping, ich erwarte von Ihnen, dass ich
dazu Material bekomme.
({2})
Ich verspreche Ihnen meinerseits, dass ich das nicht auf
sich beruhen lassen werde. - Ich danke Ihnen.
Lassen Sie mich jetzt kurz zu dem Antrag kommen.
Ich will doch sagen, Frau Mast, Herr Schiewerling: Es
ist nicht ganz falsch, was in diesem Antrag steht. Da
nützt auch kein Gesundbeten. Sie kennen doch alle eine
ganze Reihe von Beispielen, die zeigen, dass die Beratungsqualität in den Jobcentern zu wünschen übrig lässt.
({3})
Wir wissen seit langem, dass der Schlüssel, den wir den
Menschen versprochen haben, als dieses Gesetz gemacht
wurde, nämlich dass ein Berater bzw. eine Beraterin nur
eine bestimmte Anzahl von Klienten zu betreuen und zu
beraten hat, bei weitem noch nicht eingehalten wird.
({4})
Insoweit gibt es da tatsächlich Handlungsbedarf. Das
Verhältnis zwischen Fordern und Fördern ist seit Regierungsantritt dieser Großen Koalition leider nicht besser
geworden; im Gegenteil: Sie haben die Schraube des
Forderns angezogen, und das Fördern haben Sie vernachlässigt.
({5})
Das hat etwas mit der Personalsituation in den Jobcentern zu tun. Wenn diejenigen, die Arbeitslose beraten
sollen, selber permanent um ihren Job fürchten müssen,
weil sie einen befristeten Arbeitsvertrag haben, dann ist
das eine ungute Situation, die sich selbstverständlich auf
die Beratungsqualität auswirkt. Ein Viertel aller Beschäftigten der Argen arbeitet nach wie vor auf befristeten Stellen. Die Fluktuationsrate - die ist ein Hinweis
darauf, wie es in einem Laden läuft - liegt bei 20 Prozent. Dass es Handlungsbedarf gibt, die Situation zu verbessern, werden Sie nicht leugnen können.
Ich will kurz auf das eingehen, was Frau Mast gesagt
hat. Die Situation in den Jobcentern ist nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts natürlich
nicht besser geworden. Die Verunsicherung ist noch größer geworden. Da ist die Befristung von Stellen richtig
Gift.
Frau Mast, Sie sagen, der Vorschlag von Olaf Scholz
habe zur Folge, dass dort Sicherheit eintritt. Sagen Sie
einmal, Frau Mast, lesen Sie eigentlich keine Zeitung?
Erstens. Dieser Vorschlag ist vor allem eines: Er ist in
Wirklichkeit eine astreine Bundeslösung. Wer kooperieren will, der darf, und es wird ihm nicht verboten.
({6})
Aber da, wo es Schwierigkeiten gibt - und dafür gibt es
eine Menge Beispiele -, wird das natürlich so überhaupt
nicht funktionieren. Zweitens. Nichts, aber auch gar
nichts deutet darauf hin, dass diese Lösung Wirklichkeit
werden wird; denn Ihr Koalitionspartner hat doch schon
lautstark verkündet, dass er auf keinen Fall mitziehen
wird.
Mit anderen Worten: Die Unsicherheit bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Jobcenter ist keineswegs vom Tisch. Da kann ich nur sagen: Da sind befristete Jobs und hohe Fluktuationsraten Gift für die
Beschäftigten und damit leider auch für die, die sie beraten sollen.
Ich danke Ihnen.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/8045 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten Michael
Kretschmer, Ilse Aigner, Katherina Reiche ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten René
Röspel, Jörg Tauss, Nicolette Kressl, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Nichtkommerzielle klinische Studien in
Deutschland voranbringen
- Drucksachen 16/6775, 16/8061 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Kretschmer
Patrick Meinhardt
Priska Hinz ({2})
Die Kollegen Michael Kretschmer, Dr. Rolf
Koschorrek, René Röspel und die Kolleginnen
Dr. Marlies Volkmer, Cornelia Pieper, Dr. Petra Sitte und
Priska Hinz haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1)
Wir kommen deshalb zur Abstimmung. Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/8061, den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/6775 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Dann ist
die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU und der FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
Stimmenthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({3})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip
Winkler, Omid Nouripour, Claudia Roth
({4}) und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Für eine Initiative der Bundesregierung mit
dem Ziel einer humanitären, kohärenten
1) Anlage 4
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
und nachhaltigen Ausrichtung der europäischen Flüchtlingspolitik
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke,
Petra Pau, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft für
eine grundlegende Wende der europäischen
Migrations- und Flüchtlingspolitik nutzen
- Drucksachen 16/3541, 16/5109, 16/6910 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Rüdiger Veit
Hartfrid Wolff ({5})
Ulla Jelpke
Josef Philip Winkler
Es ist vereinbart, dass die Reden der folgenden Kolle-
ginnen und Kollegen zu Protokoll gegeben werden:
Reinhard Grindel, Rüdiger Veit, Florian Toncar, Sevim
Dağdelen und Omid Nouripour.1)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 16/6910. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 16/3541. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Fraktionen Die Linke, der SPD, der CDU/CSU bei
Stimmenthaltung der Fraktion FDP und gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5109.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen
der SPD, der CDU/CSU und der FDP bei Gegenstimmen
der Fraktion Die Linke und Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Modernisierung der Aufsichtsstruktur der
Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht ({6})
- Drucksache 16/7078 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({7})
- Drucksache 16/8083 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Leo Dautzenberg
Nina Hauer
Frank Schäffler
1) Anlage 5
Es ist vereinbart, die Reden der folgenden Kollegin-
nen und Kollegen zu Protokoll zu geben: Leo
Dautzenberg, Nina Hauer, Frank Schäffler, Dr. Axel
Troost, Dr. Gerhard Schick.2)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8083, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 16/7078 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Fraktionen der SPD und der CDU/CSU gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
und bei Stimmenthaltung der Fraktionen Die Linke und
der FDP angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetz zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit demselben
Stimmergebnis wie in zweiter Beratung angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({8}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Horst Friedrich ({9}),
Jan Mücke, Patrick Döring, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der FDP
Mehr Park- und Stellplätze für Lkw auf Bun-
desautobahnen
- Drucksachen 16/5278, 16/7146 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Renate Blank
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-
mentarische Staatssekretär Achim Großmann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit seiner zentralen Lage ist Deutschland das größte
Transitland in Europa. Das zeigt sich auch in der Infra-
struktur: Wir haben ein Netz von 12 600 Kilometern
Bundesautobahn aufgebaut.
Was ist in den letzten Jahren passiert, und was wird in
den kommenden Jahren passieren? Es gibt neue Entwick-
lungen in den Logistik- und Produktionsketten - Stich-
wort „Just-in-Time“ und „Just-in-Sequence“ -, es gibt
die EU-Osterweiterung. Der Güterverkehr auf den Bun-
desautobahnen nimmt zu, die Zahl der Lkw nimmt zu.
Im Jahr 2007 wurden zudem neue Lenk- und Ruhezeiten
2) Anlage 6
eingeführt. Das bedeutet, dass wir mehr Rast- und Parkplätze für Lkw und Lkw-Fahrer brauchen.
({0})
Das hat etwas mit Verkehrssicherheit zu tun: Wir müssen
dafür sorgen, dass die Lkw-Fahrer ihre Ruhezeiten einhalten können, weil das zu mehr Sicherheit auch für den
gesamten Pkw-Verkehr führt.
({1})
Derzeit gibt es an den Autobahnen ungefähr 430 bewirtschaftete und 1 520 unbewirtschaftete Rastanlagen.
Dort stehen 21 000 Parkplätze für Lkw zur Verfügung.
Zudem stehen an den Autohöfen 18 500 Parkplätze zur
Verfügung. Derzeit sind dies also ungefähr 39 500 Parkplätze; das ist schon eine ganze Menge. Wir wissen dennoch, dass das nicht ausreicht. Die Gründe dafür habe
ich eben genannt.
Bereits in den 90er-Jahren wurde ein mit 250 Millionen Euro unterlegtes Zehnjahresprogramm für den Bau
neuer Parkplätze aufgelegt. Wir haben dieses Programm
fortgeschrieben: Seit 2005 stehen für die darauffolgenden Jahre insgesamt 250 Millionen Euro - 25 Millionen
Euro pro Jahr - zur Verfügung. Der Haushaltsausschuss
hat mit Unterstützung des Finanzministers die Tranche
für 2008 von 25 Millionen Euro auf 35 Millionen Euro
aufgestockt. Das heißt, wir können in diesem Jahr noch
mehr Rastanlagen ausbauen.
Eine weitere positive Entscheidung ist getroffen worden: Wir werden nicht nur die bewirtschafteten, sondern
auch die unbewirtschafteten Rastanlagen ausbauen.
Grund dafür ist das Verhalten vieler Lkw-Fahrer: Während ein Teil der Lkw-Fahrer gerne Raststätten anfährt,
weil sie die dortigen Einrichtungen in Anspruch nehmen
wollen, ist ein anderer Teil mit einem Parkplatz auf den
unbewirtschafteten Rastplätzen sehr zufrieden, weil sie
im Grunde genommen alles an Bord haben und sich
selbst verpflegen können.
Was ist nun geplant? Was ist in der Mache? Derzeit
sind 125 Neu- und Ausbaumaßnahmen in Planung. Dabei sollen rund 11 000 zusätzliche Parkplätze auf den
Rastanlagen des Bundes entstehen. Damit erhöht sich
die Zahl um über 50 Prozent; das kann sich sehen lassen.
Um der entsprechenden Kritik der Opposition zu begegnen - wir werden sie gleich hören -, möchte ich bei
dieser Gelegenheit daran erinnern, welches Verfahren
wir zu bewältigen haben. Die Planung ist gemäß der föderalen Struktur unseres Landes Aufgabe der Länder.
Das heißt, wir können nur das bauen, was in den Ländern geplant wird. Damit wir das, was von den Ländern
kommt, schnell abarbeiten können, haben wir eine Projektgruppe eingerichtet, die auch die Aufgabe hat, weitere Innovationen - beispielsweise den Einsatz von Telematiksystemen, die den Lkw-Fahrern signalisieren, wo
freier Parkraum zur Verfügung steht - voranzubringen.
Wir setzen also auch hier auf Innovationen.
Im Moment müssen viele Lkw-Fahrer ihre Pause auf
Rastplätzen verbringen, die der Autobahn zugewandt
sind. Dort kommt man, wenn man schlafen will,
schlichtweg nicht zur Ruhe. Deshalb versuchen wir,
wenn Rastanlagen neu- oder umgebaut werden, dafür zu
sorgen, dass die Stellplätze für Lkw-Fahrer hinten angelegt werden, damit die Fahrer etwas mehr Ruhe haben.
Dank einer Initiative unseres Hauses, die vom Parlament
dankbar aufgenommen und vom Finanzministerium unterstützt worden ist, haben wir ab 2008 erstmals die Gelegenheit, Lärmschutzwände zwischen der Fahrbahn und
den Rastplätzen zu bauen.
({2})
Wir bringen damit eine weitere Innovation voran. Bis
jetzt gab es Lärmschutz für Wohngebäude; jetzt gibt es
einen Lärmschutz, der mit Arbeitsschutz zu tun hat.
({3})
Ich glaube, das ist ganz wichtig. Sie sehen also: Wir sind
dabei, den vorliegenden Mangel an Parkplätzen auszugleichen.
Ich komme zu einem letzten Appell an die Kolleginnen und Kollegen. Es werden heute wieder Reden gehalten, in denen es heißt: Wir brauchen mehr Parkplätze.
Viele Kolleginnen und Kollegen kommen aber zu mir
und sagen, dass sie einen Ausbau des Rastplatzes in ihrem Wahlkreis nicht wollen. Wir müssen dafür werben,
dass die Widerstände in den Regionen weniger werden,
({4})
und wir müssen deutlich machen, dass Verkehrssicherheit für Lkw-Fahrer und damit auch für Pkw-Fahrer unverzichtbar ist.
Vielen Dank.
({5})
Für die FDP-Fraktion gebe ich das Wort dem Kollegen Horst Friedrich.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Staatssekretär, Sie haben vieles Richtige gesagt. Allerdings hat man den Eindruck: Die Osterweiterung, die
Zunahme des Lkw-Verkehrs, die nicht ausreichenden
Parkplätze, alles das ist über Nacht und völlig überraschend gekommen. Die Auswirkungen der gesetzlichen
Maßnahmen, der Verschärfung der Lenk- und Ruhezeiten, die Konsequenzen aus dem Einsatz von digitalen
Tachografen, die Zunahme des Verkehrs waren langfristig vorhersehbar und prognostizierbar. Wir haben rechtzeitig darauf aufmerksam gemacht, dass die ausgewiesenen Parkplätze an der Autobahn bei weitem nicht
ausreichen, wenn die von Ihnen beschlossenen gesetzlichen Vorgaben, die unter Sicherheitsgesichtspunkten
richtig sind, erfüllt werden sollen. Diese Vorgaben müssen auch sozial abgefedert werden.
Das Problem hat sich noch dadurch verschärft, dass
Autohöfe, die außerhalb des Systems an der Autobahn
errichtet worden sind und kurzfristig für eine gewisse
Entspannung sorgen konnten, jetzt zum Teil dazu überHorst Friedrich ({0})
gehen, ihre Parkplätze zu bemauten, was dazu führt, dass
man auf die Systeme an der Autobahn zurückkommt.
Wer nachts mit offenen Augen durch die Gegend fährt
oder sich einmal, wie ich es getan habe, die Zeit nimmt,
mit der Verkehrspolizei nachts unterwegs zu sein, wird
feststellen, dass Lkws an allen möglichen und auch unmöglichen Stellen parken, teilweise bis in die Fahrbahn
der Autobahn hinein, weil sie keinen anderen Platz mehr
finden.
Das schwächste Glied in der Kette ist der Lkw-Fahrer.
Den haben Sie völlig alleingelassen.
({1})
Er hat nur die Wahl zwischen Pest und Cholera. Wenn
seine Lenkzeit abgelaufen ist und er halten muss, aber an
der Stelle keinen Parkplatz findet, kann er entweder stehen bleiben - dann hat er ein Problem mit der Polizei,
weil er dort nicht halten darf - oder weiterfahren; dann
hat er ein Problem mit den nachgeordneten Behörden,
weil er die Lenkzeit überschreitet. Nach der Verschärfung der Bestimmungen zu den Lenk- und Ruhezeiten
- insbesondere ist hier die maximale Lenkzeit von
56 Stunden in der Woche zu nennen - kann nicht sichergestellt werden - das ist völlig offensichtlich -, dass jeder, der im Fernverkehr unterwegs ist, immer seinen
Zielort, also sein Zuhause oder seinen Arbeitsplatz, erreicht. Sie zwingen die Lkw-Fahrer geradezu, ihre neun
Stunden Ruhezeit auf Rastanlagen zu verbringen - in aller Regel unter aus meiner Sicht nicht gerade hervorragenden hygienischen Bedingungen.
Das Ganze wird noch dadurch begleitet, dass man die
Spesensätze für Kraftfahrer und die Absetzbarkeit derselben für die Unternehmer noch stärker begrenzt hat.
Das alles trägt nicht dazu bei, dass ein Kraftfahrer mit
großer Verve Umsatz auf Rastanlagen macht.
Ein Konflikt ist in der Tat wegen der Länder nicht gelöst worden - da stimme ich Ihnen völlig zu, Herr
Großmann -, nämlich die Zuständigkeit für die Errichtung von Parkplätzen. Es wäre aus unserer Sicht sehr
viel sinnvoller - einen entsprechenden Antrag haben wir
damals in Zusammenhang mit der Privatisierung von
Tank & Rast gestellt -, wenn die ganze Anlage von einer
Hand geplant werden könnte. Es ist ein völliger Anachronismus, dass der Bund als Eigentümer des Grundes
in aller Regel mit Tank & Rast als Erbauerin und Betreiberin der Anlage noch das jeweilige Land braucht, um
die Parkplätze zu errichten.
({2})
Das kann in aller Regel nicht funktionieren. Das ist am
Egoismus der Länder gescheitert. Das sollte man ändern.
Die FDP hat mit ihrem Antrag, der immerhin schon
vom Mai letzten Jahres stammt, wenigstens erreicht,
dass das Thema diskutiert worden ist. Nun werden Sie
sagen: Es ist alles in trockenen Tüchern; wir haben das
Ganze erledigt. Okay, wir alle freuen uns darüber, dass
es im Verkehrshaushalt mehr Geld gibt. Wenn ein Teil
des Programms dazu führt, dass an den Autobahnen
mehr Parkplätze entstehen, sollte uns das nur recht sein.
Das Problem aber wird sein, lieber Herr Staatssekretär: Wie zügig kann das Ganze umgesetzt? Wir zweifeln
daran, dass das bei 11 Millionen Lkw-Fahrten täglich
21 000 Parkplätze - das ist der Istzustand - ausreichen.
Ob der Zielwert von 32 000 irgendwann den zusätzlichen Zuwachs auf den Autobahnen überhaupt abdeckt,
ist mit Sicherheit mit einem Fragezeichen zu versehen ganz zu schweigen davon, dass Sie die Planfeststellungsverfahren durchführen und auch das Problem, das Sie
schon angesprochen haben, bewältigen müssen, damit
überhaupt gebaut werden kann. Die Zeit muss auch noch
dazugerechnet werden.
Der eigentliche Hauptvorwurf, den wir Ihnen machen, lautet: Sie wussten lange Zeit vorher, dass die Regelungen für die Lenk- und Ruhezeiten verschärft werden. Ihnen liegen schon lange Zeit Prognosen vor, aus
denen hervorgeht, dass der Verkehr zunimmt. Sie haben
lange Zeit vorher gewusst, dass die EU-Osterweiterung
kommt. Es ist seit langer Zeit völlig klar, dass Deutschland dadurch immer mehr zu einem Haupttransitland
wird. Aber erst als das Kind in den Brunnen gefallen
war, begann das Nachdenken, dass man für die LkwFahrer, um ihnen die Einhaltung der verschärften Sicherheitsvorschriften zu ermöglichen, noch weitere Parkplätze schaffen muss.
Aus unserer Sicht ist es problematisch, in welcher
zeitlichen Reihenfolge all dies abgelaufen ist. Wir sind
nun gespannt, wie Sie Ihr Programm umsetzen. Wir werden Sie in dieser Hinsicht weiterhin kritisch beobachten.
({3})
Ich gebe das Wort der Kollegin Renate Blank, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Kollegen von der FDP, es ist schon das gute Recht der Opposition, über einen Tagesordnungspunkt zu diskutieren und
das Angebot, die Reden zu Protokoll zu geben, auszuschlagen. So reden wir jetzt vor einer riesigen Öffentlichkeit.
({0})
Es besteht natürlich die Notwendigkeit, das Thema zu
beachten. Ich glaube, schon dadurch, dass im Verkehrshaushalt 10 Millionen Euro mehr für die Schaffung von
Parkplätzen an Autobahnen zur Verfügung stehen werden, wird es ernst genommen. Das Anliegen, Herr Kollege Friedrich, ist also berechtigt; aber man kann Geld
nur einmal ausgeben.
({1})
Gerade die FDP fordert aber in vielen verschiedenen
Anträgen immer etwas Neues. Ich denke da zum Beispiel an Forderungen, Geld für die Sanierung von Eisenbahnbrücken zur Verfügung zu stellen usw. Irgendwann
müssen Sie sich einmal entscheiden, wofür Sie das vorhandene Geld ausgeben wollen. Wir besitzen keine
Geldvermehrungsmaschine.
({2})
- Gut.
Nun zu dem Antrag der FDP, Kollege Friedrich. Ich
habe ihn extra dabei.
({3})
Der Titel lautet: „Mehr Park- und Stellplätze für Lkw auf
Bundesautobahnen“.
({4})
Die Grünen würden sich wahrscheinlich darüber freuen,
wenn die Parkplätze auf den Autobahnen und nicht an
den Autobahnen errichtet würden. Wir wollen aber keine
Parkplätze auf den Autobahnen, sondern an den Autobahnen.
({5})
Dementsprechend sollte man auch auf richtige Wortwahl
achten.
({6})
- Gut, aber man steht dann nicht auf Parkplätzen, sondern im Stau.
({7})
Dieser löst sich dann ja auch irgendwann auf.
({8})
Auch das Thema Sicherheit, Herr Kollege Friedrich,
ist natürlich ein wichtiges Thema. Es wurde ja schon erwähnt - damit komme ich wieder zum Antrag -, dass
aufgrund der Parksituation die Sicherheit durch parkende Lkws gefährdet wird und es auch schon zu Unfällen gekommen ist. Das ist bedauerlicherweise der Fall.
Nun frage ich mich: Wenn die von der FDP so stark favorisierten Gigaliner zugelassen werden, wo sollen die
dann noch parken?
({9})
- Vielleicht auf den Autobahnen. - Hier ergibt sich also
ein gewisses Problem. Man muss sich also, wenn man
etwas anleiert und kritisiert, dass zu wenig Parkplätze da
sind, schon vorher überlegen, wie das Ganze weitergeht.
({10})
Wir geben ja zu, dass 21 000 Parkplätze zu wenig
sind. Es ist aber nicht so, dass nur die FDP darauf hingewiesen hat. Es gab auch - vielleicht erinnern Sie sich
noch daran, Kolleginnen und Kollegen - eine Große Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu der Situation auf den Autobahnraststätten.
({11})
- Sie stammt aus dem Jahre 2004 und ist 2005 beantwortet worden.
({12})
Da ist die ganze Situation eindeutig beschrieben worden.
Es konnten leider keine Konsequenzen mehr gezogen
werden.
({13})
- Kollege Friedrich, wir könnten auch gemeinsam dazu
beitragen und dafür werben - Staatssekretär Großmann
hat das ja erwähnt -, dass die Akzeptanz für den Ausbau
von Autobahnraststätten und -parkplätzen bei den Bürgerinnen und Bürgern wächst. Allein in Mittelfranken
gibt es zwei entsprechende Fälle von Bürgereingaben;
Sie kennen beide, Herr Staatssekretär. Im einen Fall
konnte deswegen keine ausreichend große Anlage gebaut werden, und im anderen Fall wurde der Bau einer
Anlage sogar ganz verhindert. Hier müssen wir etwas
unternehmen, im Interesse nicht nur der Lkw-Fahrer,
sondern zum Beispiel auch der Caravan- und Pkw-Fahrer, die einen Rastplatz anfahren wollen.
Warum muss eigentlich immer der Bund die Rastanlagen bauen? Es gibt private Autohöfe, und es muss auch
Raum für private Investoren geben.
({14})
- Außerhalb. - Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Unlängst
hat ein US-Rastplatz- und Mineralölmulti - ich sage den
Namen jetzt nicht - ein Grundstück an der A 7 bei
Egestorf-Evendorf, 50 Kilometer vor Hamburg, gekauft.
Auf der Fläche von zwölf Fußballfeldern soll dort die
erste europäische Travel-Plaza des Unternehmens mit
300 Lkw-Stellplätzen, Restaurant und Kasino entstehen.
Ich gehe davon aus, dass dieser Mineralölmulti dort auch
seinen eigenen Sprit verkaufen wird.
Dieser US-Mischkonzern, zu dessen Kerngeschäft
mehr als 170 Lkw-Autohöfe in den USA und Kanada
gehören, will - so ist auch den Medien zu entnehmen auf dem europäischen Markt Fuß fassen. Der Konzern
plant den Bau von 8 bis 10 Lkw-Rastanlagen der Superlative in Deutschland, Österreich, der Schweiz und
Polen.
({15})
Es gibt natürlich Befürchtungen, dass sich das Unternehmen über den Preiswettbewerb Marktmacht verschafft. Diese Befürchtungen sind durchaus ernst zu
nehmen; denn die deutschen Autohof- und Raststättenpächter sind durchweg Mittelstandsbetriebe. Dafür haben wir bei der Privatisierung mit gesorgt.
Meine Bitte an das Bundesverkehrsministerium ist,
dass man diese Dinge einmal genau prüft.
({16})
- Natürlich ist das etwas anderes, Kollege Friedrich. Denn ich bin der Überzeugung, dass man bei Autohöfen
und Rastanlagen, die an oder auch jenseits der Autobahn, in der Nähe von Abfahrten, entstehen, durchaus
private Investoren einspannen könnte, um dem Ganzen
etwas mehr Schwung zu geben
({17})
und mehr Lkw- und Pkw-Parkplätze zur Verfügung stellen zu können.
Im Übrigen, Herr Staatssekretär, warten wir auf den
Bericht, den Sie dem Verkehrsausschuss vorlegen wollen. Ich gehe davon aus, dass in diesem Bericht die besonders gravierenden Punkte dargestellt werden. Dann
kann, eventuell auch unter Einsatz von privaten Investoren, gehandelt werden.
Den Antrag der FDP werden wir, weil er teilweise
überholt ist und sich als Schaufensterantrag herausgestellt hat, ablehnen.
({18})
Das Wort hat die Kollegin Dorothée Menzner, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Erneut debattieren wir über eine Fleißarbeit der FDP in
Sachen Verkehrspolitik. Auf den ersten Blick sieht das
alles ganz gut aus; bei näherem Hinsehen allerdings entpuppt sich das Ganze streckenweise als Nebelkerze.
Uns soll hier die Medizin „mehr Autobahnparkplätze“ verordnet werden. Dass die Autobahn leidet,
dass es zu viel Verkehr und zu wenig Stellplätze auf den
Autobahnen gibt, wissen wir alle. Aber es gibt auch eine
Statistik, die ein Bild zu dieser Krankheit liefert. 1991
wurden im Güterverkehr 246 Milliarden Tonnenkilometer auf der Straße erbracht. Im Bahnverkehr waren es
82 Milliarden, ein Drittel. 2006 rollten auf den Straßen
432 Milliarden Tonnenkilometer, und die Bahn brachte
es auf 107 Milliarden - nur noch ein Viertel. Der Anteil
der Bahn hat sich also verringert.
Mehr Lkw-Fahrten bedeuten natürlich mehr Bedarf
an Parkplätzen. Wir haben eben schon über die zu Recht
verschärften Lenk- und Ruhezeiten geredet. Kein
Mensch will, dass diese Ruhezeiten auf Standstreifen
verbracht werden. Da haben wir eine Fürsorgepflicht im
Rahmen des Arbeitsschutzes und müssen uns den bestehenden Problemen stellen.
Staatssekretär Großmann hat bereits vorhin auf die erfolgte Mittelaufstockung hingewiesen. Aber ein Herumdoktern am Parkplatzbau hat nun einmal Nebenwirkungen. Kommunen und Anwohner sind berechtigterweise
nicht unbedingt begeistert, wenn Land am Autobahnrand
weiter für Verkehr geopfert werden soll, selbst wenn sie
einsehen, dass diese Stellplätze unter Umständen nötig
sind - aber bitte nicht bei ihnen vor der Haustür! Das alles ist nur ein Laborieren an Symptomen.
({0})
1994 wurde eine Bahnreform auf den Weg gebracht.
Seitdem wird fraktionsübergreifend postuliert: Mehr
Verkehr auf die Schiene! Die Zahlen sprechen aber eine
andere Sprache.
({1})
Der Anteil der Gütertransporte auf der Straße ist um
75 Prozent gewachsen, der auf der Schiene jedoch nur
um 30 Prozent. Die Lkw-Flut wächst, die Straßen sind
verstopft. Aber mehr Parkplätze lösen das Problem
nicht.
({2})
Wir müssen auch die Kapazitäten von Tankstellen
und von Rastplätzen erhöhen. Aber nachdem Tank &
Rast, die ehemalige Gesellschaft für Nebenbetriebe an
Autobahnen, privatisiert worden ist, werden die Betreiber einen Teufel tun, ihre Anlagen zu erweitern; denn
das könnte ihren Profit schmälern.
({3})
- Es ist aber sehr wohl nötig, weil der Ausbau der Parkplätze allein nur ein Teil der Medizin ist.
Es war ein Fehler, Tank & Rast zu verhökern. Das
wird hier deutlich. Genauso wird es ein Fehler sein,
wenn man die Bahn kapitalprivatisiert.
({4})
Eine Bahn, die Profitinteressen unterliegt, wird nicht dafür sorgen, dass die Verkehrsprobleme gelöst werden,
sondern sie wird nur noch das machen, was ihr selber
Profit verspricht.
Wir brauchen die Eisenbahn, um die Autobahnen
wirksam von dem zu entlasten, was auf der Schiene besser aufgehoben ist. Das würde den Bedarf an Parkplätzen und damit die Kosten für den Steuerzahler mindern.
Insgesamt würde ein verringerter Straßenverkehr oder
zumindest einer, der nicht mehr so ungebremst wächst,
der Umwelt und dem Menschen zugutekommen.
({5})
Deshalb gilt: Fürsorgepflicht für Lkw-Fahrer geht
vollkommen in Ordnung. Wir wissen alle, wie übel die
Arbeitsbedingungen für viele dieser Menschen sind. Es
werden teilweise Löhne gezahlt, die jeder Beschreibung
spotten. Daher haben wir natürlich Verständnis dafür,
dass mehr Parkplätze benötigt werden - aber bitte nur an
den Strecken, an denen es wirklich nötig ist. Da geht der
Antrag der FDP zu weit. Deswegen können wir ihm
keine Zustimmung geben.
Danke.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Anton Hofreiter,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Renate, Deine Rede war amüsant; sie
hat mir in weiten Teilen gefallen.
({0})
Es ist immer wieder lustig, dir zuzuhören.
Wir haben ein reales Problem, nämlich eine teilweise
Überlastung der Autobahnen. Das wurde bereits erwähnt. Es gibt Sicherheitsprobleme, wenn die Standstreifen genutzt werden usw. Darüber brauchen wir uns
nicht groß zu streiten.
Es stellt sich die Frage, wie man diese Probleme am
geschicktesten löst. Man könnte beispielsweise die Autobahnen ausbauen. Aber dafür ist kein Geld vorhanden.
Inzwischen gibt es auch Ideen, wie man diese Probleme
auf technische Weise lösen kann. Man kann zum Beispiel durch den Einsatz der Telematik die vorhandene Infrastruktur weitaus besser auslasten. Man kann - auch
das ist schon gesagt worden - auf Autohöfe ausweichen.
Bezeichnend ist aber, wie das Bundesverkehrsministerium mit dem Problem des stark wachsenden Güterverkehrs umgeht. Wir wissen seit vielen Jahren, dass die
vorhandenen Bahntrassen und die Autobahnen nicht ausreichen. Aber was macht das Ministerium? Es laboriert
herum - manches hat der Staatssekretär dargestellt -,
duckt sich weg und gibt keine Antworten beispielsweise
im Zusammenhang mit dem Hafenhinterlandverkehr. Es
weiß nicht genau, wie es mit dem Problem umgehen
soll. Wir sind Exportweltmeister und Transitland. Was
passiert? Es wird nichts Vernünftiges in die Wege geleitet. Man baut an dieser und jener Stelle. Man belastet die
Bürger, aber man hat kein Entlastungs- und Umsteuerungskonzept.
Wunderschön sieht man das am Beispiel des Güterverkehrs. Der Güterverkehr auf der Schiene müsste eigentlich stark wachsen. Aber was passiert? Inzwischen
gibt es einen Stau auf der Schiene. Warum haben wir
diesen Stau auf der Schiene? Weil die entsprechenden
Maßnahmen nicht ergriffen worden sind.
Eigentlich gäbe es ein schönes Konzept zur Entlastung der Bürger
({1})
durch die Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf
die Schiene. Aber was passiert? Man hält sich bei lustigen, unsinnigen Projekten auf, wie zum Beispiel bei der
Y-Trasse, wie hier zugerufen wurde. Vor kurzem war im
Infrastrukturausschuss ein Professor, der uns die Situation dargestellt hat. Das Ergebnis war - dies haben auch
andere Teilnehmer zugestanden -, dass die Y-Trasse kein
einziges Problem löst.
({2})
Dann hat der Staatssekretär gesagt: Das wissen wir eigentlich auch; sie löst kein einziges Problem. Aber mit
der Planung sind wir schon sehr weit; jetzt machen wir
einfach weiter, weil wir nichts Besseres wissen. - Das
heißt, Sie haben keine Lösungen. Sie belasten die Bürger; Sie belasten die Lkw-Fahrer. Auch der Antrag der
FDP hilft uns nicht groß weiter.
Wie soll es weitergehen? Wir hätten eine Lösung: einen vernünftigen Ausbau der Schiene - ({3})
- Einen vernünftigen Ausbau der Schiene!
({4})
Das sollten Sie wissen. Schienen irgendwohin zu bauen,
wo sie kein Problem lösen, darum geht es nicht. Das hat
die Verkehrswissenschaft ganz klar bestätigt.
Deshalb noch einmal: Wir sind für einen vernünftigen
Ausbau der Schiene, für die Verlagerung des Verkehrs
auf die Schiene und den Einsatz moderner Technik, wie
zum Beispiel für das Parken mithilfe der Telematik. Da,
wo es unbedingt nötig ist, muss ausgebaut werden. Es
muss Rücksicht auf die Bürger genommen werden. Mit
all dem hätten wir ein Gesamtkonzept.
Aber, wie gesagt, was macht das Bundesverkehrsministerium? Schienenverkehrsträgerübergreifende Planungen - Fehlanzeige! Die Straße wird einzeln geplant;
die Schiene wird einzeln geplant; die Häfen werden einzeln geplant. Wer ist das Opfer des Ganzen? Opfer ist
der Bürger durch Lärmbelastung und Schadstoffe. Opfer
ist die Umwelt. Opfer sind die Lkw-Fahrer, die davon
betroffen sind. Opfer ist die Wirtschaft. Opfer sind die
Spediteure, die nicht mehr sauber planen können. Was
soll das Ganze?
Die Lösung ist ganz einfach: Wir brauchen endlich
ein Verkehrsministerium, das vernünftig planen kann.
Oder sagen wir es ganz einfach: Wir brauchen dringend
einen anderen Verkehrsminister.
({5})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Rita Schwarzelühr-Sutter, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Hofreiter, wir brauchen eine vernünftige Planung.
({0})
Ich denke, das Ministerium hat sich mit dem Masterplan
Logistik auf einen guten Weg gemacht; denn damit erhält die Lösung dieser Probleme genau den Stellenwert,
den sie verdient - auch heute Abend.
Herr Friedrich, der Bedarf, den Sie hier so salopp ermittelt haben, ist doch Kaffeesatzleserei.
({1})
Ich finde es schon wichtig, dass die Mittel, die man einsetzt, effizient verwandt werden. Dazu braucht man erst
einmal die Feststellung des Istzustandes und eine Bedarfsermittlung. Man plant nicht einfach so ins Grüne.
({2})
Im Übrigen haben wir mit dem Modal Split einen sehr
guten Erfolg. Mehr Güterverkehr wird über die Schiene
abgewickelt; das sollten wir festhalten. Natürlich wird
auch in Zukunft der Güterverkehr auf der Straße von Bedeutung sein, und natürlich brauchen wir aufgrund der
neuen Lenk- und Ruhezeiten für unsere Lkw-Fahrer
mehr Parkplätze.
Vorhin wurde gesagt: Wir haben 21 000 Parkplätze,
und zwar nicht auf der Autobahn, sondern an der Autobahn. Wenn man etwas abseits der Autobahn fährt, stellt
man fest, dass es eine Menge Autohöfe gibt. Diese stellen 20 000 Stellplätze zur Verfügung. Der eine oder andere Autohof wäre froh, würden Lkws dort tatsächlich
parken. Aber am liebsten parkt man natürlich fast auf der
Autobahn.
Vor diesem Hintergrund ist der Schwerpunkt der zuständigen Arbeitsgruppe richtig gesetzt. Man muss die
Mittel effizient einplanen. Man muss die Baumaßnahmen koordinieren. Es wurde schon angesprochen: Die
Länder sind für die Planung mit zuständig. Einige haben
sich schon auf den Weg gemacht. Niedersachsen plant,
wenn ich es richtig in Erinnerung habe, 2 000 zusätzliche Stellplätze. Das Ganze läuft also richtig gut an.
Auch in der Telematik gibt es einen Ansatz. Dies ist
der richtige Weg. Der Lkw-Fahrer weiß damit genau, wo
es freie Plätze gibt und wie er seine Lenk- und Ruhezeiten einhalten kann. Im Übrigen gibt es an der A 3 bei
Montabaur einen Modellversuch, ein sogenanntes Kolonnenparken, zu dem man sich anmeldet. Anschließend
sagt man, wann man wieder startet. Das Ganze wird
dann so arrangiert, dass möglichst wenig Rangierfläche
benötigt wird und ein zügiges Abfahren möglich ist.
Auch das ist ein kleiner, aber sinnvoller Beitrag.
Herr Friedrich, es ist wieder einmal typisch: Sie unterhalten sich und hören gar nicht zu, was die Redner sagen. Darum sind Sie auch nie ausgeschlafen. Nehmen
Sie sich einmal ein Beispiel an einem Lkw-Fahrer.
({3})
- Darüber wollen wir uns nicht streiten.
Wir kennen die Ausgangssituation. Dem Ministerium
kann nicht vorgeworfen werden, dass es erst jetzt handelt. Seit 1995 gibt es das Ausbauprogramm, das um
zehn Jahre verlängert wird. Die Mittel wurden aufgestockt. Ich denke, die Arbeitsgruppe und der Masterplan
Logistik sind die richtigen Ansätze. Wir sind ausgeschlafen und bringen das zu einem guten Ende.
Danke.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem
Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Mehr Parkund Stellplätze für Lkw auf Bundesautobahnen“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/7146, den Antrag der Fraktion der FDP
auf Drucksache 16/5278 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalition bei Enthaltung von Bündnis 90/
Die Grünen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Beschluss des Rates vom 7. Juni 2007 über das
System der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften
- Drucksache 16/7686 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({0})
Haushaltsausschuss
Finanzausschuss
Es ist vereinbart, dass die Reden der folgenden Kolle-
ginnen und Kollegen zu Protokoll gegeben werden:
Michael Stübgen, Hans Eichel, Michael Link, Alexander
Ulrich und Rainder Steenblock.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/7686 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die
Vorlage federführend beim Ausschuss für die Angele-
genheiten der Europäischen Union beraten werden soll.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
1) Anlage 7
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({1}) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Dr. Herbert Schui, Werner Dreibus,
Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Für ein Europäisches Kartellamt
- Drucksachen 16/5360, 16/7239 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Joachim Pfeiffer
Die Kollegen Dr. Georg Nüßlein, Reinhard Schultz,
Martin Zeil, Dr. Herbert Schui und Kerstin Andreae ha-
ben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7239, den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5360 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU
und FDP bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen
und Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({2}) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Siebenunddreißigste Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes
({3})
- Drucksachen 16/7605, 16/7793 Nr. 2.2, 16/7942 Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung ({4})
Detlef Müller ({5})
Michael Kauch
Lutz Heilmann
Sylvia Kotting-Uhl
Es ist vereinbart, dass die Reden der folgenden Kolle-
ginnen und Kollegen zu Protokoll gegeben werden:
Andreas Jung, Detlef Müller, Michael Kauch, Lutz
Heilmann, Sylvia Kotting-Uhl sowie der Parlamentari-
schen Staatssekretärin Astrid Klug.2)
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/7942, der Verordnung auf
Drucksache 16/7605 zuzustimmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
1) Anlage 8
2) Anlage 9
men von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen
von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Frak-
tion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Brigitte Pothmer, Irmingard Schewe-
Gerigk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Arbeitslosengeld II unbürokratisch berech-
nen und auszahlen - Rechts- und Planungs-
sicherheit für Leistungsbeziehende schaffen
- Drucksache 16/7838 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Die Kollegen Stefan Müller, Angelika Krüger-
Leißner, Dirk Niebel, Katja Kipping und Markus Kurth
haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.3)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7838 an den Ausschuss für Arbeit und
Soziales vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten MarieLuise Dött, Katherina Reiche ({6}), Michael
Brand, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dirk
Becker, Marco Bülow, Dr. Axel Berg, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Das Erneuerbare-Energien-Gesetz darf nicht
durch europäische Vorgaben für einen Zertifi-
katehandel unterlaufen werden
- Drucksache 16/8047 -
Die Kolleginnen und Kollegen Dr. Maria Flachsbarth,
Dirk Becker, Michael Kauch, Hans-Kurt Hill und Hans-
Josef Fell haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.4)
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/8047 mit dem Titel „Das Erneuerbare-Energien-Gesetz darf nicht durch europäische Vorgaben für
einen Zertifikatehandel unterlaufen werden“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Der
Antrag ist bei Gegenstimmen der FDP mit den Stimmen
des Rests des Hauses angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({7}) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Dr. Herbert Schui, Dr. Barbara Höll,
3) Anlage 10
4) Anlage 11
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Werner Dreibus, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Arbeitsplatzabbau bei Airbus verhindern -
Staatliche Sperrminorität bei EADS herstellen
- Drucksachen 16/4308, 16/4879 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Ditmar Staffelt
Die Kollegen Dr. Heinz Riesenhuber, Dr. Ditmar
Staffelt, die Kolleginnen Ulrike Flach und Dr. Thea
Dückert sowie der Kollege Dr. Herbert Schui haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben.1)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be-
1) Anlage 12
schlussempfehlung auf Drucksache 16/4879, den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/4308 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses bei
Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 15. Februar 2008,
9 Uhr, ein.
Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen und
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern noch einen schönen
Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.