Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Vor Eintritt in die Tagesordnung zwei Mitteilungen:
Der Kollege Norbert Königshofen feiert heute seinen
65. Geburtstag. Im Namen des ganzen Hauses gratuliere
ich dazu sehr herzlich und wünsche alles Gute.
({0})
Hinsichtlich unserer heutigen Tagesordnung mache
ich darauf aufmerksam, dass die als letzter Punkt angekündigte Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
FDP zurückgezogen worden ist und deshalb entfällt.
({1})
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung
des Dritten Buches Sozialgesetzbuch und
anderer Gesetze
- Drucksache 16/7460 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Volker Schneider ({2}), Klaus
Ernst, Dr. Lothar Bisky, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des
Zweiten Buches Sozialgesetzbuch ({3})
- Drucksache 16/7459 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses
für Arbeit und Soziales ({4})
- Drucksache 16/7866 Berichterstattung:
Abgeordnete Irmingard Schewe-Gerigk
- Bericht des Haushaltsausschusses ({5})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/7869 Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Joachim Fuchtel
Carsten Schneider ({6})
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Anja Hajduk
- Bericht des Haushaltsausschusses ({7})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/7870 Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Joachim Fuchtel
Carsten Schneider ({8})
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Anja Hajduk
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({9})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Niebel,
Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Beschäftigungschancen Älterer verbessern Reformen der Agenda 2010 nicht zurücknehmen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Heinrich
L. Kolb, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Arbeit statt Frühverrentung fördern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Volker
Schneider ({10}), Klaus Ernst,
Dr. Lothar Bisky, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Beschäftigungssituation Älterer verbessern Übergang vom Erwerbsleben in die Rente
sozial gestalten
- Drucksachen 16/6644, 16/7003, 16/6929,
16/7866 Berichterstattung:
Abgeordnete Irmingard Schewe-Gerigk
Redetext
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibt
es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Parlamentarischen Staatssekretär Franz Thönnes das Wort.
({11})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die
Lage auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland ist so
günstig wie lange nicht mehr. Die Arbeitslosigkeit ist in
den letzten zwei Jahren um 1,2 Millionen zurückgegangen. Seit Dezember 2005, als wir noch bei 11,1 Prozent
lagen, ist sie auf 8,1 Prozent im Dezember 2007 gesunken.
Zum ersten Mal seit langem kommt der Aufschwung
auch den Menschen zugute, die auf dem Arbeitsmarkt
schwerer vermittelbar sind. Das gilt gerade für die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland. Die Fakten sind erfreulich. Die Zahl der älteren
Arbeitslosen sank um 18 Prozent, um 192 000. Sie ist
damit überdurchschnittlich gefallen. 35 Prozent Rückgang verzeichnen wir in den letzten beiden Jahren im
Bereich der Langzeitarbeitslosen.
Auf der anderen Seite ist die Zahl der Erwerbstätigen im gleitenden Jahresdurchschnitt 2007 um 1,7 Prozent auf knapp 40 Millionen gestiegen. Die Steigerung
der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten
fällt mit einem Plus von 2,1 Prozent auf knapp 27 Millionen noch deutlicher aus. Das sind gut 500 000 Jobs
mehr. Das sind gute Perspektiven für 500 000 Beschäftigte, ihre Familien und ihre Kinder in Deutschland.
({0})
Erfreulich ist auch der verbreitete Mentalitätswechsel.
In vielen Betrieben werden das Fachwissen, die Erfahrungen, das Prozesswissen und die Kompetenzen der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wieder höher bewertet und geschätzt. Von März 2006 bis März
2007 hat sich die Zahl der über 50-jährigen Beschäftigten um 6,2 Prozent verbessert. 363 000 Beschäftigte
über 50 Jahre sind hinzugekommen. Das sind 54 Prozent
der insgesamt Hinzugekommenen. Das ist gut so; denn
eine soziale Marktwirtschaft darf sich niemals damit abfinden, dass sich die Einstellung breitmacht: Mit 50 gehörst du zum alten Eisen. - Nein, die Älteren gehören
dazu. Wir brauchen einen gesunden Mix zwischen Jung
und Alt, zwischen den Generationen, um die Stärke unserer Volkswirtschaft bewahren zu können.
({1})
Dieser Entwicklung wollen wir weiteren Schwung
geben. Wir wollen aber auch nicht vergessen, denjenigen
zu helfen, die bei der beruflichen Wiedereingliederung
nicht so schnell zum Zuge kommen. Mit dem Gesetz,
das wir heute beschließen, erhalten ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer deshalb länger Arbeitslosengeld und auch zusätzliche Unterstützung bei der Arbeitssuche.
Die Koalition hält Wort. Am 12. November des vergangenen Jahres haben wir uns darauf verständigt, die
Höchstdauer des Anspruches auf Arbeitslosengeld
für Arbeitslose ab dem 50. Lebensjahr zu verlängern.
Wir haben damals gleichzeitig beschlossen, dass Ältere
bei der Arbeitssuche gezielt unterstützt werden sollen,
dass wir sie aber auch verstärkt dazu anhalten, sich um
Arbeitsplätze zu bemühen. Das setzen wir nun mit den
vorliegenden Entwürfen zur Änderung der Gesetze um.
Wir verlängern die Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld in drei Stufen: 50-Jährige erhalten künftig bis
zu 15 Monate, 55-Jährige bis zu 18 Monate und 58-Jährige bis zu 24 Monate Arbeitslosengeld. Die Verlängerung betrifft erstens alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die nach der Verkündung dieses Gesetzes
arbeitslos werden. Sie gilt zweitens rückwirkend aber
auch für alle, die im Januar oder im Februar dieses Jahres - also vor der Verkündung des Gesetzes - arbeitslos
geworden sind oder noch arbeitslos werden. Sie gilt drittens auch für jene, die im Januar oder Februar noch Arbeitslosengeld bezogen haben, deren Anspruch aber inzwischen oder in den nächsten Wochen nicht mehr
besteht. Die Betroffenen werden rückwirkend auch dann
Arbeitslosengeld erhalten, wenn sie inzwischen in den
Bezug des Arbeitslosengeldes II wechseln mussten oder
eine Altersrente bezogen haben. Deshalb das ganz klare
Signal: Alle Arbeitslosen werden grundsätzlich so gestellt, als wäre das Gesetz bereits im letzten Jahr verabschiedet worden und zum 1. Januar dieses Jahres in
Kraft getreten. Dies bringt mehr Sicherheit und Vertrauen, und es schafft auch mehr Gerechtigkeit.
({2})
Die Verlängerung des Bezugs von Arbeitslosengeld
trägt der manchmal eben doch schwierigeren Integration
älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Arbeitsmarkt Rechnung. Kernziel unserer Politik bleibt
weiterhin die Aktivierung von Arbeitslosen. Deswegen
verbessern wir die berufliche Wiedereingliederung für
Ältere mit dem vorliegenden Gesetz. Dem längeren Bezug von Arbeitslosengeld ist jetzt eine intensive Förderphase vorgeschaltet. Dabei sollen die Agenturen für Arbeit und die Arbeitsgemeinschaften gemeinsam mit den
Betroffenen zunächst feststellen, welche Probleme einer
erfolgreichen Vermittlung entgegenstehen und was mit
zusätzlicher Förderung und Unterstützung gezielt getan
werden kann, damit diese Betroffenen wieder in Arbeit
kommen. Dazu gehört auch der neue Eingliederungsgutschein, um hier zu helfen und für Autonomie zu sorgen.
Nach zwölf Monaten erfolgloser Vermittlung haben
ältere Arbeitslose künftig einen Rechtsanspruch darauf,
dass die Agentur einen neuen Job im ersten Jahr mit
50 Prozent des förderfähigen Lohnes unterstützt. Ältere
Arbeitslose können mit dieser Förderzusage, die ihre
Chancen am Arbeitsmarkt spürbar verbessert, künftig
selbst auf Arbeitgeber zugehen.
Natürlich können wir lediglich Anreize schaffen, um
die Einstellung Älterer zu verbessern. Dies tun wir mit
den Programmen der Weiterbildung und Integration; als
Beispiel nenne ich unsere Initiative „50 plus“. Wirksam
werden können diese Maßnahmen allerdings nur dann,
wenn die Bereitschaft der Arbeitgeber, das besondere
Können und den Wissensschatz der Älteren wieder etwas höher anzusetzen, in dieser Gesellschaft zunimmt.
({3})
Diejenigen, die das heute schon tun, handeln im
Übrigen nicht nur verantwortungsbewusst, sondern angesichts des demografischen Wandels und der Feststellung, dass jetzt schon in einigen Bereichen Facharbeitermangel zu verzeichnen ist, auch im eigenen
Interesse, wenn sie Älteren mehr Chancen geben. Deswegen mein Appell an die Wirtschaft, an die Unternehmer und die Personalverantwortlichen: Fangen Sie jetzt
damit an, denn die Zeit ist dafür günstig!
({4})
Meine Damen und Herren, der dritte Schwerpunkt des
Gesetzes ist eine Nachfolgeregelung zur sogenannten
58er-Regelung, die am 31. Dezember des letzten Jahres
ausgelaufen ist. Sie wissen, wer 58 Jahre alt war, konnte
entscheiden, ob er noch an der Vermittlung teilnehmen
will. Wenn nicht, konnte er noch so lange die Transferleistungen beziehen, bis er abschlagsfrei in Rente gehen
konnte. Ohne eine Nachfolgeregelung wäre jeder Arbeitslosengeld-II-Bezieher, der einen Anspruch auf eine
Altersrente mit Abschlägen hat, verpflichtet, diese in
Anspruch zu nehmen. Dies entspricht dem Nachranggrundsatz aller Fürsorgeleistungen: Nur wer nicht selbst
seine Existenz aus eigener Kraft gewährleisten kann und
keinen Anspruch auf andere vorrangige Leistungen hat,
kann die von den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern
erbrachte solidarische Leistung der staatlichen Fürsorge
in Anspruch nehmen. Grundsätzlich ist auch eine eigene
Altersrente mit Abschlägen eine vorrangige Leistung.
Wäre die alte 58er-Regelung ersatzlos ausgelaufen, wäre
deshalb jeder ältere Arbeitslose, der Anspruch auf eine
Altersrente mit Abschlägen hat, auch darauf verwiesen
worden. Dies verhindern wir mit der Neuregelung, die
wir heute hier beschließen.
({5})
Nun gilt: Bezieher von Arbeitslosengeld II haben damit bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres Zeit, wieder
eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen und den Verweis
auf eine Abschlagsrente zu vermeiden.
Darüber hinaus sollen auch besondere Härtefälle berücksichtigt werden. Durch Rechtsverordnung wird geregelt, in welchen besonderen Fällen man auch nach
dem 63. Lebensjahr nicht verpflichtet ist, eine Abschlagsrente in Anspruch zu nehmen. Beispielsweise
müssen wir uns mit denjenigen befassen, die einer sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit nachgehen
und ergänzend zu ihrem Erwerbseinkommen Arbeitslosengeld II beziehen.
Über die in der Verordnung zu regelnden Fälle hinaus
haben die Träger auch weiterhin einen Ermessensspielraum, ob sie für Hilfebedürftige, die keine Rente beantragen, ersatzweise selbst einen Antrag stellen.
Über den Einfluss der Nachfolgeregelung auf die
Arbeitslosenstatistik ist in diesen Tagen viel diskutiert
worden, wenn auch nicht immer sehr sachkundig.
({6})
Fakt ist: Die statistische Erfassung der Arbeitslosigkeit
älterer Menschen wird mit dem Auslaufen der 58er-Regelung verbessert.
({7})
Diejenigen, die nach dieser Regelung bislang nicht mitgezählt wurden, sind nun weitestgehend einbezogen.
Nach der Neuregelung gelten im SGB II nur diejenigen
nicht als arbeitslos, die der Arbeitsvermittlung faktisch
nicht mehr zur Verfügung stehen. Dabei wird berücksichtigt, dass in einigen Bereichen Schwierigkeiten bei
der Integration bestehen. Deswegen sollen diejenigen
nicht mehr mitgezählt werden, die nach zwölf Monaten
bei der Integration keinen Erfolg erzielt haben.
({8})
Das sollte nicht als Gleichgültigkeit gegenüber den Betroffenen verstanden werden; denn mit der Einfügung
des Abs. 2 a in § 3 SGB II wird klar geregelt, dass erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, die das 58. Lebensjahr
vollendet haben, unverzüglich Angebote zur Vermittlung
in Arbeit oder Arbeitsgelegenheiten zu unterbreiten sind.
({9})
Die Nachfolgeregelung zur bisherigen 58er-Regelung
tritt rückwirkend zum 1. Januar 2008 in Kraft. Dabei ist
hervorzuheben, dass wir in Zusammenarbeit mit der
Bundesagentur für Arbeit und durch Empfehlungen an
die Optionskommunen sichergestellt haben, dass in der
Übergangsphase bis zur Verabschiedung der Neuregelung kein Arbeitslosengeld-II-Bezieher in eine vorzeitige Altersrente mit Abschlägen verwiesen wird.
Abschließend ist festzustellen: Für Bezieherinnen und
Bezieher von Arbeitslosengeld II, die das 58. Lebensjahr
vollendet haben, bleibt unsere klare Orientierung: Wir
wollen, dass Menschen in Arbeit kommen und die verbesserten Chancen am Arbeitsmarkt aktiv genutzt werden. Die neuen Regelungen bieten hier mehr Sicherheit
und unterstützen die Integration in neue Arbeit.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat der Kollege Dirk Niebel von der FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir erleben heute den Abschluss eines aus
populistischen Gründen eingeleiteten „Roll-Beck“. Es
geht darum, die Chancen für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Arbeitsmarkt zu verschlechtern. Das muss so deutlich gesagt werden.
({0})
Vor dem Hintergrund der am Sonntag anstehenden
Landtagswahlen haben sich Union und SPD Ende letzten Jahres in einem populistischen Wettkampf darauf geeinigt, ein Gesetz auf den Weg zu bringen, das die Chancen von älteren Menschen auf dem Arbeitsmarkt
verschlechtert, die Beitragskassen der Bundesagentur für
Arbeit belastet und im Ergebnis nicht einmal etwas bewirkt, weil die Bezugsdauer im Durchschnitt schon
heute nicht erreicht wird.
Die Regelungen der sogenannten Agenda 2010 haben
dazu geführt, dass bei der Arbeitslosenversicherung das
Prinzip der Risikoversicherung wieder in den Mittelpunkt gerückt worden ist. Die Arbeitslosenversicherung
ist deshalb eine zutiefst solidarische Versicherung, weil
alle einzahlen, aber zum Glück nicht alle arbeitslos werden. Deswegen muss man das solidarische Ausgleichsprinzip der Risikoversicherung hochhalten. Es geht
ebenso wie bei einer Gebäudeversicherung nicht darum,
ob jemand zwei Monate oder 20 Jahre eingezahlt hat.
Wenn ein Haus abbrennt, dann wird dem Versicherungsnehmer der Schaden ersetzt, und wenn es nicht abbrennt,
dann hat er Glück gehabt.
Die Bundesregierung verkennt mit diesem Gesetz,
dass durch die Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes die Beschäftigungssituation Älterer deutlich
besser geworden ist. Während noch 1998 nur 37,7 Prozent der über 55-Jährigen in Arbeit waren, waren Ende
letzten Jahres 52 Prozent dieser Altersgruppe erwerbstätig. Die Beschäftigungschancen für Ältere sind durch die
Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes
deutlich gestiegen. Darin sind sich alle Forschungsinstitute einig; erst heute hat das IAB dies festgestellt, obwohl es nicht gerade als FDP-nah gilt, weil wir seine Privatisierung fordern.
({1})
Das ist logisch; denn das Arbeitslosengeld I bemisst
sich nach dem letzten Nettoeinkommen. Je länger man
arbeitslos ist, desto weniger groß ist die Chance, noch
einmal das letzte Nettoeinkommen zu erzielen. Es ist
also folgerichtig, den Leistungsbezug möglichst bis zum
Ende auszuschöpfen. Das führt im Ergebnis dazu, dass
man noch weniger Chancen auf einen Arbeitsplatz hat.
Der Weg, den die Bundesregierung gehen müsste, ist,
die Chancen auf einen Arbeitsplatz zu erhöhen. Es ist
doch keine Frage der sozialen Gerechtigkeit, ob jemand
drei Monate länger Leistungen bezieht. Eine Frage der
sozialen Gerechtigkeit ist es, ob jemand die Chance hat,
ohne Leistungen vom Staat durch seiner eigenen Hände
Arbeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
({2})
Der leider viel zu spät aus dem Amt geschiedene
Staatssekretär Andres hat am 10. Oktober 2007 hier in
diesem Haus in einer Aktuellen Stunde Folgendes deutlich gemacht - ich zitiere -:
Die durchschnittliche Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I beträgt bei den 50- bis 55-Jährigen im
Durchschnitt rund sechs Monate …, bei den 55- bis
60-Jährigen rund sieben Monate und bei den 60- bis
65-Jährigen rund elf Monate.
Das bedeutet, dass schon heute im Durchschnitt die Bezugsdauer nicht ausgeschöpft werden muss. Das bedeutet in der Konsequenz: All das, was sich hier abspielt, ist
nichts anderes als populistischer Wahlkampf von Union
und SPD, um deren Wählergruppen zu bedienen.
({3})
Der ehemalige Superminister Wolfgang Clement - er
hat nicht nur ganz aktuell einen Namensartikel geschrieben, sondern er schreibt schon längere Zeit - hat sich am
14. Oktober 2007 in der Welt am Sonntag über die Verlängerung des Bezuges von Arbeitslosengeld I geäußert.
Er stellt die Frage, ob die Verlängerung Sinn mache, und
beantwortet sie wie folgt: „Nein, das ist sachlich falsch
und politisch töricht.“ - Recht hat Herr Clement, nicht
nur bei dieser Aussage, sondern auch bei der neu gemachten Aussage.
({4})
Sie können doch nicht die Kritiker in Ihren eigenen
Reihen, diejenigen, die in der Sache wirklich profunde
Kenntnisse besitzen, auf Kosten der Menschen, um die
es hier eigentlich gehen müsste, einfach zur Seite schieben. Wir müssen die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung so weit senken, wie es irgend geht. Das bedeutet, dass man die Spielräume dazu nutzen muss, statt
die Leistungen zu erhöhen. Deswegen könnten Sie statt
der Ausweitung des Arbeitslosengeldes die Spielräume
für Beitragssenkungen bis auf 3 Prozent mit dem Ergebnis besserer Chancen auf einen Arbeitsplatz und dem Ergebnis besserer staatlicher Finanzen ausnutzen; denn die
Kassen werden nur von Menschen gefüllt, die Beiträge
und Steuern zahlen. Diese Tatsache verlieren Sie mehr
und mehr aus dem Blick.
({5})
Während aufgrund der anstehenden Finanzkrise in
den Vereinigen Staaten die Steuern gesenkt werden, damit die Menschen mehr Netto vom Brutto haben, senkt
die Bundesregierung ihre Wachstumserwartungen. Diese
Politik nützt den Menschen gar nichts. Mit einer Politik,
die den Menschen nützt, wird dafür gesorgt, dass sie
mehr Netto vom Brutto haben. Aber seit diese Bundesregierung im Amt ist, macht sie durch ständiges Abkassieren durch Steuern und Abgaben genau das Gegenteil. Es
reicht nicht, wenn die Bürger in diesem Jahr vielleicht
mit 240 Euro entlastet werden. Dies muss man vor dem
Hintergrund sehen, dass im letzten Jahr der durchschnittliche Verdiener mit 1 600 Euro mehr belastet worden ist.
Daher sagen die Menschen völlig zu Recht: Wir haben
keine Möglichkeiten, an dem Aufschwung, der fast
schon wieder verebbt ist, teilzuhaben.
Ein paar Worte zu dem Zwischenruf von Herrn Burgbacher, was Herr Struck denn zu Herrn Clement sage,
weil ich ihn damit nicht ganz allein lassen möchte. Es ist
schon bemerkenswert, welch unterschiedliche Auffassung die SPD hinsichtlich der Anschlussverwendung
ehemaliger Regierungsmitglieder hat. Der Niedersachse
Struck, der eigentlich seit seinem gestrigen
65. Geburtstag altersmilde sein sollte, erklärt,
({6})
dass Herr Clement ein Energielobbyist sei. Dabei verkennt er, dass der Niedersachse Schröder ein Gaslobbyist ist.
({7})
Im Schattenkabinett von Frau Ypsilanti ist ein Solarlobbyist als potenzieller Minister vertreten. Da muss man
schon sagen: Sie haben in Ihrem Portfolio für jede energiepolitische Frage den geeigneten Lobbyisten. Das können Sie den Menschen anbieten. Aber das ist nicht die
richtige Art und Weise, Politik zu machen.
({8})
Das Wort hat der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Große Koalition hat schon mit dem Fünften und dem
Sechsten SGB -III-Änderungsgesetz das arbeitsmarktpolitische Instrumentarium so umgestaltet, dass Menschen eine bessere Chance haben, in Beschäftigung zu
kommen, gerade auch ältere Menschen. Es ist uns gelungen, das Lissabon-Ziel der Europäischen Union einer
Beschäftigungsquote von 50 Prozent für Ältere schon
jetzt zu erreichen. Bereits im zweiten Quartal des
Jahres 2007 lag die Quote bei 52 Prozent. Das ist ein
großer beschäftigungspolitischer Erfolg dieser Bundesregierung und der Großen Koalition. Das ist die Wahrheit.
({0})
Weil wir diese Beschäftigungserfolge haben, konnten
wir genau das machen, was wir gegen den Widerstand
der gesamten Opposition durchgesetzt haben. Wir haben
die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung erneut gesenkt, und zwar in dem Wissen, dass wir für Ältere die
Leistungen ausweiten wollen. Also: Leistungsverbesserungen bei gleichzeitiger Beitragssatzsenkung aufgrund
einer guten wirtschaftlichen Entwicklung und zusätzlicher Arbeitsplätze. Das ist das, was wir erreicht haben
und was wir machen können. Darum geht es heute in
dieser Debatte.
({1})
Wir setzen das um, was wir auf Parteitagen zu diesem
Thema beschlossen haben, die Union im Jahre 2006, die
SPD im letzten Jahr. Es wird jetzt eine bessere Honorierung der Beitrags- und Lebensleistung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geben. Das ist richtig so,
und das ist ein Ausdruck sozialer Gerechtigkeit.
Bevor ich auf Menschen zu sprechen komme, um die
es uns eigentlich gehen sollte, will ich etwas zu den Prinzipien sagen, die hier gerne so hoch gehalten werden.
Natürlich ist die Arbeitslosenversicherung keine reine
Ansparversicherung, wie Kollege Lafontaine so gerne
sagt. Deswegen ist es auch Unsinn, zu sagen, jemand
zahle soundso viel ein und bekomme nur soundso viel
im Fall der Arbeitslosigkeit heraus. Abgesehen davon
zahlt diese Versicherung nicht nur passive Leistungen,
sondern sie finanziert auch aktive Arbeitsmarktpolitik.
Es ist also völliger Unsinn, zu sagen, es handele sich um
eine reine Ansparversicherung. Sie ist aber auch keine
reine Risikoversicherung. Schon in der Vergangenheit
haben Ältere mit Recht mehr Leistung bekommen. Herr
Kollege Niebel, ich will Ihr Beispiel von der Gebäudeversicherung aufgreifen. Sie sagen, auch demjenigen,
der zwei Monate eingezahlt hat, werde das Gebäude im
Schadensfall ersetzt. Das ist wahr, aber bei der Arbeitslosenversicherung war das noch nie so. Wenn Sie in Ihrer Zeit als Mitarbeiter der BA Leuten, die zwei Monate
eingezahlt haben, Arbeitslosengeld ausgezahlt haben,
dann haben Sie sich einer Amtspflichtverletzung schuldig gemacht. Das war schon immer verboten.
({2})
Ein bisschen länger musste man schon immer eingezahlt
haben, um Anspruch auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung zu haben. Also, lassen wir diese Prinzipienreiterei, und lassen Sie uns bei der Wahrheit bleiben,
Herr Kollege Niebel! Ich glaube, das hilft uns weiter.
({3})
Das zu den Prinzipien. Hier kommen mehrere Prinzipien
zusammen. Hier spielt nicht nur ein einziges Prinzip eine
Rolle.
Jetzt rede ich über die Menschen und über das Thema
der Frühverrentung. In diesem Zusammenhang will ich
an die Anhörung erinnern. Sie von der Opposition tun
immer so, als seien Sie die Sieger der Anhörung. Wahr
ist, dass Sie jeweils einen Sachverständigen gefunden
haben, der Ihre Vorurteile bestätigt hat.
({4})
Ich will nur einmal an das erinnern, was der Kollege
vom DGB in der Anhörung gesagt hat. Stellen Sie sich
den 53-jährigen Nokia-Arbeiter in Bochum vor, der jetzt
arbeitslos wird und nach dieser Regelung drei Monate
länger Arbeitslosengeld I beziehen kann. Welche Vorstellungen haben Sie eigentlich von den Leuten? Glauben Sie, diese Leute legen sich erst einmal drei Monate
auf die faule Haut, und wenn sie dann 54 sind, schauen
sie sich locker-flockig um, wie es mit Arbeit aussieht?
Das ist doch irrsinnig. Welches Menschenbild haben die,
die so etwas unterstellen, überhaupt?
({5})
Sie von den Grünen wissen das ganz genau. Es gibt nur
einen einzigen Grund, warum Sie darauf beharren. Diese
Regelung hat Ihnen damals Herr Clement aufs Auge gedrückt, und Sie meinen, Sie dürften jetzt nicht davon abweichen und zugeben, dass Sie klüger geworden sind.
Deswegen halten Sie an dieser Regelung fest, mit der
man das Kind mit dem Bade ausgeschüttet hat. Unsere
Regelung bringt mehr soziale Gerechtigkeit, und sie ist
an den Interessen der Menschen orientiert.
({6})
Es ist nicht nur das, was wir machen. Ich verstehe,
wenn sich die Menschen fragen, ob ihnen die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I um
drei Monate wirklich hilft. Wir verbinden das mit Eingliederungsmaßnahmen. Der 53-Jährige, der jetzt bei
Nokia ausscheiden muss, hat nicht nur drei Monate länger Anspruch auf Arbeitslosengeld I, sondern er hat auch
Anspruch auf einen Eingliederungsgutschein. Das heißt,
ein Arbeitgeber, der diesen Menschen einstellt, kann bis
zu 50 Prozent Zuschuss bekommen. Das ist es, was wir
mit dem längeren Bezug des Arbeitslosengeldes verbinden. Fördern und Fordern, die Aktivierung steht bei uns
im Mittelpunkt. Das ist sozial gerecht, und das ist richtig
so. Darum machen wir das.
({7})
Wir verstärken die Bemühungen, ältere Menschen in
Arbeit zu bringen. Da kann ich an das anknüpfen, was
Staatssekretär Franz Thönnes gesagt hat. Wir haben eine
vernünftige Nachfolgeregelung für die sogenannte
58er-Regelung gefunden, die nebenbei dazu führt, dass
die Statistik zu unseren Ungunsten verändert wird. Bisher war es so, dass jeder mit 58 Jahren erklären konnte,
dass er dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehen will.
({8})
Damit kam er aus der Statistik heraus.
Auch Sie, Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, wissen: Der frühere Minister für Wirtschaft und Arbeit Clement hat darauf gedrungen, dass dieses Angebot
möglichst vielen Menschen von den Arbeitsagenturen
vorgelegt wird. Da haben wir von Ihnen keinen Protest
gehört. Jetzt verpflichten wir uns, über 58-Jährigen verstärkt Angebote zu machen, um sie wieder in Arbeit zu
bringen. Dezember 2007: Die Menschen konnten sich
vom Arbeitsmarkt verabschieden. Januar 2008: Sie können es nicht mehr, und sie bekommen gleichzeitig verstärkt Angebote für den Wiedereintritt in den Arbeitsmarkt. Das ist der Unterschied. Was wir machen, ist
richtig, und deswegen gehen wir diesen Weg.
({9})
Wir haben uns in diesem Zusammenhang auch darauf
verständigt - selbst Sie haben in der Anhörung keinen
Sachverständigen gefunden, der dagegen ist -, die Hinzuverdienstgrenze für diejenigen, die eine vorgezogene
Altersgrenze in Anspruch nehmen,
({10})
auf 400 Euro zu erhöhen. Wir werden weitere Maßnahmen ergreifen, um Menschen verstärkt in Arbeit zu bringen. Dies ist erneut ein Maßnahmenpaket. Der Erfolg in
unserer Politik gibt uns Recht. Die älteren Menschen haben in großen Teilen von dem Aufwuchs an Beschäftigung profitiert. Eine überdurchschnittlich hohe Anzahl
älterer Arbeitsloser ist in Beschäftigung gekommen. Unsere Maßnahmen dienen dazu, dass dies weiterhin der
Fall ist.
({11})
Wir beraten dieses Gesetz heute abschließend. Im
letzten Jahr hat die erste Lesung stattgefunden. Wir, die
CDU/CSU-Fraktion, haben großen Wert darauf gelegt,
dass wir die Regelungen zwar rückwirkend zum
1. Januar in Kraft setzen, dass wir uns aber auch genügend Zeit für ein geordnetes Beratungsverfahren nehmen.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat
uns noch bis Montag gute Vorschläge für Änderungen an
diesem Gesetzentwurf gemacht. Wir haben das beraten
und aufgegriffen. Stellen Sie sich nur einmal vor, wir
hätten das im letzten Jahr im Eiltempo durchgezogen!
Das, was dabei herausgekommen wäre, wäre ja wie bei
Rot-Grün gewesen. Es ist also gut, dass wir uns die Zeit
genommen haben, das in einem geordneten Verfahren
ausführlich zu beraten. Wir haben ein geordnetes Verfahren gewählt. Wir haben das Gesetz im parlamentarischen
Verfahren verbessert. Die Entscheidung ist jetzt reif. Es
ist ein gutes Gesetz daraus geworden, und ich bitte dafür
um Zustimmung.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat jetzt der Kollege Oskar Lafontaine von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte mich heute für meine Fraktion mit zwei
Themen beschäftigen: einmal mit dem Thema der
Zwangsverrentung und zum anderen mit dem Thema der
Verlängerung des Arbeitslosengeldes.
Ich komme zunächst zum Thema der Zwangsverrentung. Wir werden diesen Gesetzentwurf insgesamt abOskar Lafontaine
lehnen, weil wir mit den gegenwärtigen Regelungen der
Zwangsverrentung nicht einverstanden sind.
({0})
Zur Begründung unserer Ablehnung möchten wir hier
die Stellungnahme des IAB vortragen. Diese Äußerung
stellt im Grunde genommen eine saubere Begründung
auch unseres Gesetzentwurfes dar. Die Wissenschaftler
des IAB haben in der Sachverständigenanhörung Folgendes ausgeführt:
Allerdings kommt nach dem Gesetzentwurf der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD eine Zwangsverrentung weiterhin ab der Vollendung des
63. Lebensjahrs in Frage. Daher greift der Entwurf
zu kurz. Eine Zwangsverrentung vor dem Eintrittsalter für die abschlagsfreie Altersrente sollte vielmehr generell vermieden werden, wie es bspw. im
Entwurf des Rentenabschlagsverhinderungsgesetzes der Fraktion der Linken auch vorgesehen ist.
({1})
Etwas später kommt die für uns entscheidende Aussage:
Die Begrenzung des Schutzes vor Zwangsverrentung auf die Zeitspanne bis zur Vollendung des
63. Lebensjahres trägt auch dem Ziel einer Verringerung des Risikos der Altersarmut nur unzureichend Rechnung.
Wir haben immer wieder dargestellt, dass die ganze Rentenpolitik der letzten Jahre Altersarmut programmiert.
Auch die jetzige Regelung ist - nach der Stellungnahme
der Wissenschaftler des IAB - ein Schritt hin zu mehr
Altersarmut. Man kann das nicht leugnen. Das lässt sich
auch aus den Zahlen eindeutig ableiten.
Ich zitiere weiter aus dieser Stellungnahme:
Für die große Mehrheit der von Rentenabschlägen
potentiell Betroffenen ergeben sich jedoch keinerlei
Verbesserungen gegenüber einer uneingeschränkten
Zwangsverrentung, da für die meisten Hilfebedürftigen in längerer Perspektive nur die vorgezogene
Altersrente für langjährig Versicherte in Frage
kommt, die ohnehin erst ab dem vollendeten
63. Lebensjahr bezogen werden kann. Diese
Gruppe muss demnach Rentenabschläge von zunächst maximal 7,2 % und nach der Anhebung der
abschlagsfreien Regelaltersgrenze auf 67 Jahre Abschläge von bis zu 14,4 % hinnehmen.
Das ist das Entscheidende. Angesichts dessen, dass in
der Rentenformel ohnehin Armutsrenten programmiert
sind - Sie wissen das -, sind solche Abschläge unter gar
keinem Gesichtspunkt zu verantworten.
({2})
Rechnen Sie 7,2 Prozent oder 14,2 Prozent bezogen
auf 600 Euro, 400 Euro oder meinetwegen auch 700 Euro,
und dann wissen Sie, worüber wir hier reden.
({3})
Wir haben ja dargestellt, wie sich die Rente in den letzten Jahren entwickelt hat. Wir können Ihnen nicht oft genug sagen - es kann ja sein, dass Sie in gutem Glauben
die Rentenformel umgebaut haben -: Sie haben in großem Umfang Altersarmut programmiert, und Sie wollen
diesen Weg fortsetzen. Dies können wir in keinem Fall
akzeptieren.
({4})
Nun komme ich zur Verlängerung der Bezugsdauer
des Arbeitslosengeldes. Natürlich begrüßen wir die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes. Wir
haben das ja immer wieder gefordert. Wir werden diesem Teil zustimmen. Deswegen haben wir um getrennte
Abstimmung gebeten. Insofern bedanken wir uns dafür,
dass dies möglich ist.
Aber wir weisen zugleich darauf hin, dass das Arbeitslosengeld lange Zeit, auch unter der Regierung von
CDU/CSU und FDP, sehr viel länger gezahlt worden ist.
Vor diesem Hintergrund klingt es zumindest etwas merkwürdig, wenn man jetzt die bescheidene Veränderung als
großen Erfolg feiert. Früher war es so,
({5})
dass die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
sehr viel länger einen Anspruch auf Arbeitslosengeld
hatten. Ich wollte das nur noch einmal feststellen.
({6})
Die entscheidende Frage - das wird bei dieser Diskussion ja wieder ganz deutlich - ist, durch welche
Brille man das Thema Arbeitslosengeld betrachtet.
Wenn man es aus der Sicht der Unternehmen betrachtet, dann kommt man zu all den Schlussfolgerungen, die
Sie hier vorgetragen haben. Diese sind dann im Grunde
genommen auch nachvollziehbar. Für die Unternehmen
läuft all das, was mit Arbeitslosengeld usw. verbunden
ist, unter der Rubrik Lohnnebenkosten; es handelt sich
also um Kosten.
({7})
Wenn man die Kostenbrille aufhat, dann kommt man zu
diesen Schlussfolgerungen.
Wenn man aber einmal die Frage stellt, was eigentlich
der Sinn der Arbeitslosenversicherung ist, und zu dem
Ergebnis kommt, dass der Sinn der Arbeitslosenversicherung ist, das Leben derjenigen, die arbeitslos werden,
zu erleichtern und zu verbessern, dann kommt man zu
ganz anderen Schlussfolgerungen als zu denjenigen, die
Sie hier immer wieder vortragen.
({8})
Dann kann man zum Beispiel zynisch sagen - das klingt
ja hier durch, insbesondere natürlich bei der FDP; aber
da wundert es uns auch nicht mehr -: Verkürzt doch für
die älteren Arbeitslosen möglichst die Bezugsdauer des
Arbeitslosengeldes. Dann werden sie aktiver und werden
sich um einen Arbeitsplatz bemühen. Auf diese Weise
senken wir die Arbeitslosigkeit. - Sie mögen das so sehen. Für uns ist das blanker Zynismus.
({9})
Im Übrigen will ich zur Statistik aus Zeitgründen
nicht viel sagen. Wenn Sie das näher betrachten, dann
sehen Sie auch, dass die Interpretationen nicht stimmen.
Ich verweise auf Ausführungen eines Mitglieds des
Sachverständigenrats. Aus Zeitgründen kann ich das hier
nicht vorstellen.
Wir sagen nun einmal in aller Klarheit: Die Arbeitslosenkasse enthält das Geld der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer - das ist der entscheidende Ansatzpunkt und nicht das Geld der Unternehmen. Das ist der Unterschied. Darüber muss man sich Klarheit verschaffen.
({10})
Nun haben Sie entschieden. Sie haben entschieden, in
diesem Jahr in die Kasse der Arbeitslosen zu greifen und
25 Milliarden Euro herauszunehmen, und kommen dadurch zu einem viel geringeren Arbeitslosengeld. Während nun um die Aufwendungen für die Verlängerung
der Bezugsdauer ein riesiges Theater gemacht und die
Frage gestellt worden ist, ob das überhaupt zu finanzieren wäre - in Ihrem Gesetzentwurf steht: Mehraufwendungen in 2008 755 Millionen Euro, in 2009 1,1 Milliarden Euro und dann wieder 800 Millionen Euro usw.;
manche hielten das ja für unverantwortlich und wollten
in keinem Fall mehr bezahlen -, haben Sie nicht die geringsten Skrupel, 25 Milliarden Euro aus der Kasse zu
nehmen und die Hälfte davon, also 12,5 Milliarden Euro,
den Unternehmen zu geben. Es ist einfach unglaublich,
was Sie für eine Philosophie an den Tag legen.
({11})
Deswegen habe ich Ihnen immer wieder gesagt, die
Freiburger Schule - ich führe hier nur eine renommierte
Ökonomenschule aus Deutschland an - bietet Ihnen eine
Auflösung für die Summe Ihrer Fehlschlüsse an. Dieses
Geld ist nicht Geld der Arbeitgeber. Es geht nur um
Lohn. Nur dann, wenn man endlich begreift, dass die
permanente Forderung nach Senkung der Lohnnebenkosten schlicht und einfach eine Forderung nach Senkung der Löhne ist, hat man wirklich einen Zugang zu
dem, worum es hier eigentlich geht.
({12})
- Ich weiß, Ihr Denken ist da seit vielen Jahren völlig
fehlgeleitet. Aber schauen Sie es sich noch einmal an.
({13})
- Die Ökonomen der Freiburger Schule, Herr Niebel, haben etwas mehr drauf als Sie. Das möchte ich einmal
ganz leise anmerken.
Wenn man diesen Ansatzpunkt hat, dann wird man
folgende Berechnung anstellen: Man legt die
25 Milliarden Euro, die Sie aus der Arbeitslosenkasse
nehmen, auf 2,5 Millionen - aus Gründen der Einfachheit - arbeitslose Arbeitnehmer um und kommt auf
10 000 Euro pro Kopf. Ist Ihnen eigentlich klar, was Sie
da machen, welche Chancen für Arbeitslose Sie verspielen, wenn Sie so verfahren? Und dann geben Sie das
Geld, das den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
gehört, auch noch zur Hälfte den Unternehmen. Diesen
Zusammenhang wollen Sie einfach nicht sehen; das begreifen Sie nicht.
({14})
Solange Sie nur die Kostenbrille tragen, kommen Sie
immer zu völlig falschen Vorstellungen: Obwohl letztendlich die Unternehmen nicht nur um 8 Milliarden
Euro, sondern zusätzlich um 12,5 Milliarden Euro, also
insgesamt um mehr als 20 Milliarden Euro, entlastet
worden sind, zanken Sie sich darum, ob es möglich ist,
den Arbeitnehmern 700 oder 800 Millionen Euro pro
Jahr zugutekommen zu lassen. Das sind die Zahlen, die
im Raum stehen. Es ist also zu fragen, ob der Ansatzpunkt Ihrer Politik überhaupt richtig ist.
Wir können Ihnen nur empfehlen, Ihre Betrachtungsweise aufzugeben. Die Fraktion Die Linke sagt: Man
kann Arbeitnehmer, die jahrzehntelang in die Arbeitslosenversicherung einbezahlt haben, nicht so mit Almosen abspeisen, wie Sie das jetzt tun wollen.
({15})
Bisher haben Sie keine einzige vernünftige Begründung
dafür vorgetragen, warum es zu Zeiten der Regierung
Kohl möglich war, viel länger Arbeitslosengeld zu zahlen, und es jetzt angesichts der Summen, die ich Ihnen
genannt habe, nicht möglich sein soll, ähnlich lange Arbeitslosengeld zu zahlen. Wenn Sie natürlich die Brille
der Unternehmen auf haben - ({16})
- Bei Ihnen verwundert das nicht, Herr Niebel.
({17})
Letztendlich ist die FDP doch eine Vertretungsgruppe
der größeren Unternehmen.
({18})
Es ist ja in Ordnung, wenn Sie deren Interessen hier vertreten. Die große Mehrheit der Bevölkerung besteht aber
aus Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, und es geht
um deren Geld, über das hier so nonchalant entschieden
worden ist. Dabei ist folgendes Ergebnis herausgekommen: Brosamen für die Arbeitnehmer, und der Löwenanteil fließt an die Unternehmen. Das ist Umverteilung
von unten nach oben. Deshalb ist das kein Gesetz, das
man loben kann. Im Grunde genommen handelt es sich
nämlich um ein Umverteilungsgesetz; um nichts anderes!
({19})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Irmingard ScheweGerigk von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition,
eine geordnete Gesetzgebung sieht anders aus. Erst leugneten Sie das Problem der drohenden Zwangsverrentung
für über 60-jährige Langzeitarbeitslose,
({0})
auf das wir Sie mit unserem Antrag vom Mai 2007 erst
einmal hinweisen mussten. So sprach zum Beispiel der
Kollege Brauksiepe von einem Phantomproblem. Das
Credo der CDU lautete nämlich, das betreffe ohnehin
niemanden; die Opposition betreibe Panikmache.
({1})
Nun sehen Sie das Problem offensichtlich doch, aber
erst seitdem Sie durch die vereinigte Opposition Nachhilfeunterricht erhalten haben und Verdi und die Sozialverbände eine Klage angedroht haben. Trotzdem sind
Sie noch immer auf einem Auge blind: Zwar geben Sie
jetzt zu, dass das Problem, das vorher angeblich keines
war, immerhin 25 000 Personen betrifft; aber eine angemessene Regelung, nach der kein Langzeitarbeitsloser,
der arbeiten will und arbeiten kann, gegen seinen Willen
eine lebenslange Rentenkürzung hinnehmen muss, legen
Sie nicht vor.
({2})
Sie bleiben auf halbem Wege stehen. Nach Ihrem
Vorschlag werden Arbeitslose jetzt zwar erst ab dem
63. Lebensjahr zwangsweise in Rente geschickt, das bedeutet aber immerhin noch eine Rentenkürzung von
7,2 Prozent bzw. von 14,4 Prozent für die späteren Jahrgänge, die bis 67 arbeiten müssten. Sie schaffen damit
quasi eine Zwangsverrentung light. Damit erhöhen Sie
die Altersarmut weiter.
({3})
Das sagen nicht nur wir Grüne, sondern auch das Institut
für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung warnt vor den
Risiken der Sozialbedürftigkeit im Ruhestand.
Herr Brauksiepe, an dieser Stelle möchte ich das immer wieder von Ihnen vorgebrachte Argument klarstellen, die Grünen hätten die 58er-Regelung mitbeschlossen. Ich frage Sie: Sehen Sie wirklich keinen
Unterschied darin, ob man - es geht ja um die Höhe der
eigenen Rente! - selbst entscheiden kann, eine Rente mit
Abschlägen in Kauf zu nehmen oder nicht, oder ob man
dazu gezwungen wird, in Rente zu gehen?
({4})
Wenn Sie schließlich sagen, die Langzeitarbeitslosen
hätten bei Rentenbezug meist mehr Geld in der Tasche
als bei ALG-II-Bezug, dann werfen Sie außerdem auch
noch mit Nebelkerzen; denn jemand, der 15 Jahre lang
eine Rente von 1 000 Euro bekäme, müsste in dieser Zeit
eine Rentenkürzung von insgesamt 13 000 Euro verkraften. „Ist das nichts?“, frage ich Sie. Nein, meine Damen
und Herren, wir Grüne bleiben dabei: Wer arbeiten will
und kann, darf nicht zwangsweise in Rente geschickt
werden.
({5})
Gerade vor dem Hintergrund der Erhöhung des Rentenalters leisten Sie sich hier eine arbeitsmarktpolitische
Bankrotterklärung. Aktivierung und Integration in den
Arbeitsmarkt wären das Gebot der Stunde. Stattdessen
setzen Sie weiterhin auf Zwangsverrentung, wenn auch
als Lightprodukt. Selbst hierfür haben Sie über ein halbes Jahr benötigt, während Sie die Erhöhung der Diäten
binnen kürzester Zeit über die Bühne gebracht haben.
({6})
Das hat die politische Öffentlichkeit sehr wohl verstanden. Auf ein Gesetz, das am 1. Januar 2008 in Kraft treten sollte, konnten Sie sich nicht einigen. Jetzt soll das
Gesetz rückwirkend gelten.
Ich kann Ihnen hier nicht ersparen, auf eine weitere
Peinlichkeit hinzuweisen: Sachverständige mussten in
der Anhörung vor vier Tagen das Ministerium auf die
unbedachten Folgen Ihrer Flickschusterei hinweisen.
Erst vor zwei Tagen haben Sie einen Änderungsantrag
auf den Weg gebracht, um bereits eingeleitete Rentenverfahren stoppen zu können.
({7})
Das wäre sonst gar nicht möglich gewesen. Die erhebliche Verunsicherung bei denjenigen, die Ihre Untätigkeit
ausbaden müssen, ist hingegen nicht korrigierbar.
({8})
- Warum schreien Sie jetzt so?
Ich verstehe ja, dass Teilen der Koalition und insbesondere der SPD das Thema Zwangsverrentung unangenehm geworden ist.
({9})
Deshalb haben Sie Ihren Murks hinter der Verlängerung
des Bezugs des Arbeitslosengeldes I versteckt. Hier wollen Sie sich als Wohltäter zugunsten der älteren Arbeits14748
losen darstellen. Meine Kollegin Pothmer wird dazu
noch das Entsprechende sagen.
({10})
Ich komme zum Schluss. Auch wenn ich anerkenne,
dass durch das Gesetz eine Verbesserung der bestehenden Situation erfolgt, bleibt Folgendes festzuhalten.
Erstens. Auch die Zwangsverrentung light erhöht das
Risiko der Altersarmut; denn gerade Langzeitarbeitslose
haben häufig Rentenansprüche, die knapp über dem
Grundsicherungsniveau liegen, und benötigen jetzt aufgrund der Rentenkürzung doch wieder Fürsorgeleistungen, und zwar lebenslang.
Zweitens. Durch das Gesetz entsteht ein Verschiebebahnhof der Kosten von der Rentenversicherung zu den
Kommunen, weil ja doch wieder Sozialleistungen gezahlt werden müssen.
Drittens. Es ist unglaubwürdig, das Rentenalter anzuheben und gleichzeitig Langzeitarbeitslose frühzeitig in
Rente zu schicken.
({11})
Kurz gesagt: Das Gesetz zur Zwangsverrentung light
verstärkt die Altersarmut, verschiebt Kosten auf die
Kommunen und diskreditiert das Projekt „Rente mit 67“.
Darum lehnen wir Ihre Vorschläge ab und werden dem
Rentenabschlagsverhinderungsgesetz zustimmen.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Andrea Nahles von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
gibt zwei gute Nachrichten. Die möchte ich auch für die
Menschen, die jetzt zuhören, nennen, weil es hier so
viele Mäkeleien zu hören gab.
Die erste gute Nachricht ist, dass wir den Bezug des
Arbeitslosengeldes I für Ältere verlängern, und zwar in
Schritten.
({0})
Dies geschieht nicht zulasten einer anderen Gruppe oder
einer anderen Generation.
Die zweite gute Nachricht ist, dass wir niemanden gegen seinen Willen vor dem 63. Lebensjahr in Rente schicken.
({1})
Das gilt nicht ab heute, sondern schon rückwirkend ab
dem 1. Januar 2008. Wenn nun Sie, Frau Schewe-Gerigk, hier Behauptungen aufstellen,
({2})
dann bitte ich Sie, diese zu belegen. Wir haben nämlich
die ganz klare Aussage bekommen, dass in den letzten
Wochen niemand unter 63 Jahren von den Arbeitsagenturen gezwungen wurde, in Rente zu gehen. Dem einzigen Fall, der uns aus einer Optionskommune vorgetragen wurde, wurde nachgegangen. Der Fall wurde
geregelt.
({3})
Das heißt aus meiner Sicht, dass Sie hier versuchen,
bewusst die Menschen zu verunsichern.
({4})
Das gilt im Übrigen auch für die Linkspartei. Herr
Schneider hat praktisch im Stundentakt Presseerklärungen herausgegeben, in denen stand, dass Tausende gezwungen sein werden, zum frühestmöglichen Zeitpunkt
in die Rente zu gehen. Das ist Panikmache ohne Ende.
({5})
Sie waren doch regelrecht enttäuscht, dass das ausgeblieben ist, Herr Schneider.
({6})
Ich muss Ihnen sagen, dass diese Art der Verunsicherung
der Menschen absolut nicht in Ordnung ist.
({7})
- Herr Schneider, Sie haben gleich die Gelegenheit, hier
Ihre Argumente vorzutragen. Sie stehen doch auf der
Rednerliste.
Frau Kollegin, er steht nicht auf der Rednerliste.
({0})
Er möchte gerne eine Zwischenfrage stellen. Die Frage
ist, ob Sie das genehmigen.
Natürlich. Ich dachte, er steht auf der Rednerliste; das
tut mir leid.
Bitte schön.
Frau Nahles, das ist kein Problem. Da Sie meine Zwischenfrage erlaubt haben, brauchen wir uns an dieser
Stelle nicht mehr zu streiten.
Sie haben gesagt, ich würde im Stundentakt Presseerklärungen herausgeben, in denen von Tausenden solcher Fälle die Rede sei. Ich möchte Sie an die letzte Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Soziales erinnern,
in der ich nachgefragt habe, wie viele Personen genau in
den nächsten beiden Jahren davon betroffen sein werden.
Ich habe da folgende Auskunft erhalten: Im Jahre 2008
ist mit 25 000 entsprechender Fälle zu rechnen, im
Jahre 2009 mit 30 000.
Stimmen Sie mir zu, dass es durchaus berechtigt ist,
25 000 Fälle bzw. 30 000 Fälle als Tausende dieser Fälle
zu bezeichnen - es handelt sich nämlich um 25 mal
1 000 bzw. um 30 mal 1 000 Fälle -, und dass dieser
Sachverhalt in meinen Presseerklärungen demzufolge
absolut korrekt wiedergegeben wurde?
({0})
Herr Schneider, das, was Sie jetzt machen, ist ein
Trick.
({0})
Ich wiederhole: Sie haben in Ihren Presseerklärungen
von Tausenden solcher Fälle gesprochen. Übrigens: Natürlich verstehe ich Ihre Rechnung. Ich war auf der
Grundschule in Weiler, und auch auf dieser Zwergschule
hat man das Rechnen gelernt; gar keine Frage.
({1})
Sie wissen ganz genau, dass wir für diese Tausende von
Fällen eine Lösung erarbeitet haben. Sie hingegen haben
versucht, Panik zu verbreiten
({2})
und den Leuten einzureden, dass es keine Lösung dieses
Problems gibt. Ich sage Ihnen, Herr Schneider: Es gibt
sehr wohl eine Lösung, und zwar zum 1. Januar 2008.
({3})
Demzufolge kann man ganz simpel festhalten: Das, was
Sie in Ihren Presseerklärungen geschrieben haben, hat
sich für die Betroffenen ganz einfach erledigt.
({4})
Da in diesem Zusammenhang vor der Wiederkehr der
alten Frühverrentungspraxis gewarnt wurde - das tut die
FDP ja seit geraumer Zeit -,
({5})
möchte ich diesbezüglich klarstellen, dass die Verlängerung der ALG-I-Regelung, die wir vorschlagen, mit den
Frühverrentungsprogrammen, die in der Regierungszeit
von Kohl und Blüm aufgelegt wurden, nicht zu vergleichen ist. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten - das sieht mittlerweile übrigens auch die Union so wollen keinesfalls zu dieser Form der massenhaften
Frühverrentung zurückkehren; denn das ist der völlig
falsche Weg.
({6})
Wir haben außerdem das Renteneintrittsalter für alle
einheitlich angehoben. Die von uns vorgeschlagene
Dreimonatsregelung wird so keine neue Welle der Frühverrentung zur Folge haben; das ist auch gut so. Die Arbeitslosigkeit der Älteren ist trotzdem nicht in dem Umfang gesunken, wie wir es uns gewünscht haben.
({7})
Wir haben die Erwerbstätigenquote der Älteren erhöhen können; das hat mein Kollege Brauksiepe eben zu
Recht erwähnt. Sie liegt mittlerweile über dem europäischen Durchschnitt. Nichtsdestotrotz - das ist bedrückend - ist die Arbeitslosenquote der Älteren immer
noch überproportional hoch; sie beträgt 26 Prozent.
Wenn man die Arbeitslosenquote der Älteren mit der
durchschnittlichen Arbeitslosenquote vergleicht, muss
man leider feststellen, dass wir es trotz vieler Bemühungen - als ein Beispiel nenne ich die Initiative „50 plus“ nicht geschafft haben, die überproportional hohe Arbeitslosenquote unter Älteren in dem Maße zu reduzieren, in dem dies notwendig ist.
({8})
Deswegen ist es in dieser Situation gerechtfertigt,
dass wir entsprechend auf die Realitäten reagieren.
({9})
Sowohl beim Arbeitslosengeld als auch beim Thema
Zwangsverrentung, wie Sie es nennen - es gibt im Übrigen gar keine Zwangsverrentung; hier ist nämlich ein Ermessensspielraum gegeben, Frau Schewe-Gerigk -,
({10})
müssen wir die Realitäten ehrlich anerkennen und feststellen: Hier ist noch viel zu tun.
Wir haben viele gute Programme aufgelegt. Ich will
Ihnen einige Beispiele nennen. Wir haben das
WeGebAU-Programm aufgelegt.
({11})
Dabei handelt es sich um ein eineinhalbjähriges Weiterbildungsprogramm, in dessen Rahmen hier in Berlin ältere Mechatroniker ausgebildet werden. In der Zeit, in
der sie in einem Betrieb arbeiten, bezahlt die BA ihre
Qualifizierung.
In Mönchengladbach wurde ein Programm aufgelegt,
in dessen Rahmen ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Bereich der Pflege bzw. der Altenbetreuung
weitergebildet werden. Ziel dieser Weiterbildung ist
nicht in erster Linie der spätere Einsatz im harten Pflegealltag, sondern vielmehr die Begleitung älterer Menschen.
In Berlin-Mitte werden ältere Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer im Einzelhandel mit einem speziellen Programm qualifiziert. Das alles sind Möglichkeiten zur
Qualifizierung, voll bezahlt im Job.
Jetzt kommt die schlechte Nachricht: Der Mentalitätswechsel in den Unternehmen ist noch nicht so weit gediehen, dass dieses Programm, das wirklich eine volle
Finanzierung vorsieht - diese beschwören wir in Sonntagsreden ja immer -, angenommen wird. Die Fallzahlen
bei WeGebAU sind im Verhältnis zu dem Bedarf an
Qualifizierung, den wir bei Älteren in diesem Land haben, nicht in Ordnung. Ich appelliere dringend, nicht nur
den Blick auf die arbeitslosen Älteren zu richten. Auch
die Unternehmen müssen Bereitschaft an den Tag legen,
ihnen eine Chance geben, natürlich mit unserer Hilfe.
Das ist, wie gesagt, möglich, wird aber - das ist mehr als
bedauerlich - nicht ausreichend angenommen.
({12})
Wir dürfen vor diesem Hintergrund also in unseren
Bemühungen nicht nachlassen. Wir müssen weiterhin
für Gesundheitsprävention in den Betrieben werben. Wir
müssen altersgerechte Formen der Arbeit fördern. Auch
Schichtarbeit kann man altersgerecht gestalten, zum Beispiel durch ein Fünf-Schichten-System. Arbeitsplätze in
der Produktion kann man ergonomisch anpassen. Mit
Teilrentenkonzeptionen kann man versuchen, Flexibilität
und echte Altersteilzeit zu ermöglichen und nicht nur Altersteilzeit nach dem Blockmodell. Es gibt also eine
Fülle von Möglichkeiten. Diese müssen wir nutzen.
Wir müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass wir
heute noch nicht da sind, wo wir sein wollen. Deswegen
müssen wir den älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern entgegenkommen und ihnen helfen. Wir müssen aber auch alle Beteiligten bitten, weitere Anstrengungen zu unternehmen. Ich jedenfalls bin mit der
Situation älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
in diesem Land noch nicht zufrieden. Lassen Sie uns
deswegen gemeinsam weitere Anstrengungen unternehmen!
({13})
Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte zunächst auf die Ausführungen des Staatssekretärs Thönnes eingehen, der hier für die Bundesregierung
noch einmal nicht ohne Stolz die Zahlen des Aufschwungs referiert hat.
({0})
Sicherlich, Herr Thönnes, gibt es eine große Zahl von
Menschen in unserem Lande, die arbeitslos gewesen
sind und jetzt einen Arbeitsplatz haben. Ich hoffe sehr,
dass das so bleibt. Der Aufschwung nämlich, den wir erleben durften, hat erkennbar an Kraft verloren. Dunkle
Wolken ziehen am konjunkturellen Horizont auf.
({1})
Die Frage ist, ob sich die Regierung weiter in einer schönen, lyrischen Beschreibung der Erfolge der Vergangenheit ergehen kann oder ob sie sich nicht vielmehr den
Herausforderungen der Zukunft stellen muss. Ich habe
die Befürchtung, dass Sie dabei versagen.
({2})
Die Gesetze, die Sie heute vorlegen, passen nämlich
genauso wie andere Gesetze, die noch im Verfahren sind,
zum Teil nicht mehr in die Zeit. Sie sind geprägt von
dem Geist, dass Geld da sei und man nur schauen müsse,
was man mit diesem Geld macht. Gerade in Zeiten einer
konjunkturpolitischen Verdunkelung muss man die Prioritäten neu justieren. Da müssen Sie sich fragen, Herr
Thönnes, ob es richtig ist, die Tarifautonomie abzuschaffen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung sprach in diesem Zusammenhang heute sogar völlig zu Recht in
einem Kommentar von einem „Putsch gegen die Tarifautonomie“. Dass Sie in diesem Jahr die Pflegebeiträge
erhöhen werden, ist schon beschlossen. Dass Sie in absehbarer Zeit auch die Krankenversicherungsbeiträge erhöhen werden, ist zwar noch nicht beschlossen, aber so
sicher wie das Amen in der Kirche.
({3})
Doch das ist eine Politik, die prozyklisch wirken und somit den Konjunkturabschwung verstärken wird. Deshalb
müssen Sie Ihre Prioritäten neu justieren.
({4})
Ich komme - das ist einer unserer zentralen Kritikpunkte an dem Gesetzentwurf, der heute vorliegt - zur
Frage der Zwangsverrentung. Frau Nahles, Sie haben gesagt: Niemand wird gegen seinen Willen vor dem
63. Lebensjahr in Rente geschickt. - Aber danach, Frau
Nahles, passiert genau dieses. Das Problem ist, dass das
Risiko, von dieser Regelung betroffen zu werden, eben
nicht gleich verteilt ist. Wenn man sich das genauer anschaut, sieht man, dass bestimmte Gruppen besonders
betroffen sind. Was Sie heute vorlegen, ist, ich will das
so nennen, eine Diskriminierung langjährig Versicherter.
({5})
Das Privileg, nach langer Versicherungszeit vorzeitig in
Rente gehen zu können, wendet sich jetzt nämlich gegen
die Begünstigten. Die gewerblichen Arbeitnehmer, der
Schlosser und der Maurer, die Ihnen in Ihren Reden
sonst so wichtig sind, Herr Scharf, also Personen mit
vergleichsweise niedrigen Renten, werden von Ihnen mit
Abschlägen in die Rente geschickt.
({6})
Akademiker, die erst im Alter von 29 oder 30 Jahren von
der Hochschule kommen,
({7})
ein hohes Einkommen haben und hohe Rentenansprüche
erwerben, dürfen mit Ihrer Billigung ohne Abschläge ihrem Ruhestand entgegensehen. Ich frage Sie: Ist das gerecht? Wollen Sie das wirklich? Wenn Sie das nicht wollen, dann dürfen Sie dieses Gesetz heute so nicht
beschließen.
({8})
Das ist ein Aspekt. Ein weiterer Aspekt ist, dass die
Frühverrenteten auf Dauer aus dem Erwerbsleben herausgedrängt werden. Es gibt kein Zurück, raus ist raus.
({9})
- Natürlich, Frau Nahles. Wer das Pech hat, zu Beginn
einer Rezession seinen Arbeitsplatz zu verlieren, und
dann aufgrund der schlechten Konjunktur kein Angebot
bekommt, muss der Zwangsverrentung entgegensehen.
Er kann wegen der niedrigen Zuverdienstgrenzen dann
auch in konjunkturell besseren Zeiten nicht mehr zurück.
Jemand, der erst am Ende eines Abschwungs arbeitslos
wird und dann im Aufschwung von neuen Arbeitsplatzangeboten profitieren kann, würde dagegen von einem
solchen Schicksal nicht ereilt. Auch das ist ungerecht;
das müssen Sie doch zugeben. Das kann man so nicht in
ein Gesetz hineinschreiben. Allein schon deswegen ist
dieses Gesetz heute abzulehnen.
({10})
Wir von der FDP-Bundestagsfraktion sind gegen eine
Zwangsverrentung. Wenn das Kernziel ist, wie der Herr
Staatssekretär zu Beginn seiner Rede gesagt hat, ältere
Menschen so lange wie möglich im Erwerbsleben zu
halten, dann muss man festhalten, dass diese Zwangsverrentungsregeln zur Erreichung dieses Ziels ausgesprochen kontraproduktiv sind.
({11})
Wir sind auch gegen die heutige Vorlage, weil die
Verlängerung des Arbeitslosengeldes I kontraproduktiv
ist. Dies haben in der Anhörung übereinstimmend alle
Sachverständigen gesagt. Eine längere Bezugszeit führt
auch zu einer längeren Verweilzeit in der Arbeitslosigkeit. Das wollen wir nicht. Wir wollen, dass ältere Menschen so schnell wie möglich in das Erwerbsleben zurückkommen.
Wir sind außerdem gegen dieses Gesetz, weil es statistische Manipulationen beinhaltet. Liebe Kolleginnen
und Kollegen von der SPD, auch hier gibt es wieder einen prozyklischen Effekt. In konjunkturell schlechten
Zeiten werden ältere Langzeitarbeitslose aus der Statistik ausgeblendet. Es wäre lebensfremd, wenn man das
nicht sehen würde. So werden die Bemühungen, Langzeitarbeitslose wieder in das Erwerbsleben zurückzuführen, natürlich leiden, weil in den Agenturen diejenigen
Arbeitslosen, die sichtbar sind und statistisch abgebildet
werden, vorrangig behandelt werden. Das ist doch einfach menschlich.
({12})
Die Anhebung der Zuverdienstgrenze ist nichts anderes als ein Reförmchen. Sie ist ebenso mutlos wie die
Politik der Großen Koalition insgesamt.
Ich sage Ihnen noch einmal: Der richtige Weg wäre
- darin hat Herr Adamy die FDP-Fraktion bei der Anhörung auch ausdrücklich bestärkt und bestätigt -, den
Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand flexibel
zu gestalten.
({13})
Es gilt, für über 60-Jährige flexibel einen Übergang auf
der Basis dessen, was diese in ihrem Erwerbsleben bereits geleistet haben, zu suchen, und zwar unter Wegfall
sämtlicher Zuverdienstgrenzen.
({14})
Dann kann jeder selbst entscheiden, ob und in welchem
Umfang er weiterhin erwerbstätig bleiben will. Das wäre
der richtige Weg.
Das aber, was Sie heute hier vorlegen, ist aus den genannten Gründen kontraproduktiv und abzulehnen. Das
wird auch in der jetzigen konjunkturellen Situation dazu
führen, dass sich die Probleme der Älteren eher verschärfen, als dass sie geringer werden. Deshalb ist das
der falsche Weg. Wir lehnen das ab.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat jetzt der Kollege Paul Lehrieder von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! In den letzten Monaten hat sich der
Arbeitsmarkt in Deutschland erfreulich positiv entwickelt. Ganz besonders erfreulich war, dass gerade auch
ältere Arbeitslose von dieser Entwicklung profitiert haben.
({0})
So ist die Erwerbstätigenquote der älteren Arbeitnehmer
von 37,7 Prozent im Jahr 1998 Ende 2007 auf nunmehr
52 Prozent gestiegen.
Der Kollege Oskar Lafontaine hat hier aus der Stellungnahme des IAB, des Instituts für Arbeitsmarkt- und
Berufsforschung, zur Anhörung vom letzten Montag zitiert. Herr Lafontaine, auch ich war bei dieser Anhörung.
Auch ich habe nachgefragt, wie sich die Beschäftigungssituation unserer älteren Mitbürger verändert hat. Herr
Präsident, mit Ihrem geschätzten Einverständnis darf ich
aus der Antwort des Herrn Walwei vom genannten Institut zitieren:
Wenn wir auf die Beschäftigungssituation Älterer
schauen, dann müssen wir sagen, sie sind nach wie
vor noch eine Problemgruppe des Arbeitsmarktes.
Wir haben - wenn man so will - eine unterproportionale Beschäftigungsquote und eine überproportionale Arbeitslosenquote. Die Situation hat sich
verbessert, das hat Herr Wuttke eben auch ausgeführt. Es gibt noch gar keine Veranlassung zur
Euphorie. Wir haben aber - und das ist wichtig bei den Älteren einen leicht positiven Trend, der
geht schon über etwas längere Zeit. Der ist zuletzt
einmal sicherlich durch die Konjunktur verstärkt
worden, es sind aber auch erste Effekte der Arbeitsmarktreform.
Lieber Herr Lafontaine, wenn Sie zitieren, dann sollten Sie auch sagen, dass uns das IAB recht gegeben hat.
({1})
Herr Kollege Lehrieder, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Spieth von den Linken?
Ja, bitte.
Bitte schön, Herr Spieth.
Herr Kollege Lehrieder, ich habe eine Frage.
In den Anhörungen sind auch die Statistiken und die
Erfolgsbilanz bei den Arbeitslosen - insbesondere bei
den älteren Arbeitslosen - diskutiert worden. Es wurde
auch darüber diskutiert, dass beispielsweise noch im Oktober letzten Jahres 570 000 ältere Arbeitslose aufgrund
der sogenannten 58er-Regelung nicht als Arbeitslose registriert wurden.
({0})
Gegenwärtig wird mit diesem Gesetzentwurf ja erneut der Versuch gemacht, statistische Tricks vorzunehmen, um die Öffentlichkeit zu täuschen.
Herr Kollege Spieth, Sie sollen eine Frage stellen.
Ich stelle die Frage jetzt. Manchmal muss man vorher
etwas erläutern, damit die Frage auch beantwortet werden kann.
({0})
Selbst die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände sagt, dass dies ein Statistiktrick ist, durch
den die Problematik am Arbeitsmarkt im Grunde genommen verschleiert wird. Sehen Sie das auch so?
Lieber Kollege, zunächst einmal: Vielleicht sollten
Sie sich darauf beschränken, eine Frage zu stellen. - Da
Sie jetzt hier Statistiktricks erwähnen, erwidere ich mit
einem guten Zitat: Ich glaube keiner Statistik, die ich
nicht selber gefälscht habe.
Ihnen ist bekannt, dass bei diesen Expertenanhörungen - zum Beispiel des Gesundheitsausschusses; das
wurde von meinem Kollegen Brauksiepe vorhin bereits
ausgeführt - jeder natürlich solche Zahlen heraussucht
und interpretiert, die für seine Argumentation passen.
({0})
Durch die Änderungen des Gesetzes, das den Bezug des
ALG I regelt, wollen wir hinsichtlich der 58er-Regelung
eine Verbesserung erreichen, um genau die von Ihnen
unterstellte Statistikfälschung nicht mehr entstehen zu
lassen.
Herr Staatssekretär Thönnes hat im Eingangsreferat
ausgeführt, dass die Wertschätzung von älteren Arbeitnehmern erkannt werden soll. Ich glaube, hier sind wir
auf einem wichtigen und guten Weg, den Wert eines älteren Arbeitsnehmers für einen Betrieb bzw. für ein Unternehmen anders als vielleicht noch vor etlichen Jahren zu
bewerten. Ein 50- bzw. 55-Jähriger gehört bei uns längst
nicht mehr zum alten Eisen. Genau dies spiegelt sich
durch die verstärkten Vermittlungsbemühungen gerade
für Ältere auch in dem Gesetzentwurf wider.
Frau Nahles hat auf das Projekt WeGebAU hingewiesen. Genau das ist korrekt. Wir bemühen uns um die Älteren. Wir wollen die Älteren im Arbeitsmarkt halten
und ihnen einen Lebensinhalt geben, sofern noch eine
Arbeitsmöglichkeit besteht.
Meine Damen und Herren, der Anstieg der Beschäftigungsquote Älterer ist auch eine Folge der guten Konjunktur der vergangenen Jahre, vor allem aber auch das
Resultat struktureller Verbesserungen, die wir als Große
Koalition auf dem Arbeitsmarkt erreichen konnten, und
damit das Ergebnis einer Politik des Förderns und Forderns, die weniger auf Frühverrentung setzt. Vielmehr
wollen wir gerade diejenigen unterstützen, die sonst
kaum Aussichten auf einen Arbeitsplatz haben.
Bei den guten Zahlen hinsichtlich der Vermittlung älterer Arbeitsloser sollten wir nicht vergessen, dass bei
der beruflichen Eingliederung Älterer in vielen Branchen weiterhin Probleme bestehen. Deshalb werden wir
jetzt tätig und bringen das Siebte Gesetz zur Änderung
des Dritten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze auf den Weg, mit dem wir die soziale Absicherung
älterer Arbeitnehmer und ihre Integration in den Arbeitsmarkt weiter verbessern wollen.
Gerade auf das Erfahrungspotenzial von Arbeitnehmern, die die 50 überschritten haben, können wir künftig
allein schon aus demografischen Gründen immer weniger verzichten. Die demografische Entwicklung und der
zunehmende Fachkräftebedarf sind nun einmal Tatsachen,
an denen wir nicht vorbeikommen. Auf längere Sicht
liegt deshalb in dieser Gruppe eine unserer wichtigsten
Arbeitskraftreserven in der Bevölkerung.
Deshalb verlängern wir die Dauer des Anspruchs auf
Arbeitslosengeld I in drei Stufen. Dabei werden die Vorversicherungszeiten in den letzten fünf Jahren und das
Lebensalter berücksichtigt. Künftig erhalten 50-Jährige
bis zu 15 Monate, 55-Jährige bis zu 18 Monate und 58Jährige bis zu 24 Monate Arbeitslosengeld I.
({1})
Die Verlängerung gilt für alle, die nach Inkrafttreten
des Gesetzes arbeitslos werden und Anspruch auf Arbeitslosengeld haben. Sie gilt auch für diejenigen, die
bereits arbeitslos sind und nach Inkrafttreten des Gesetzes ebenfalls Anspruch auf Arbeitslosengeld haben.
Die Verlängerung der ALG-I-Bezugsdauer ist kein
Almosen. Es geht um unsere soziale Verantwortung denen gegenüber, die viele Jahre Beiträge in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben.
({2})
Es ist wichtig, die Verlängerung der Bezugsdauer von
ALG I nicht isoliert zu betrachten. Deshalb verbessern
wir zweitens die Wiedereingliederung mit Eingliederungsgutscheinen und Eingliederungszuschüssen.
Der Eingliederungsgutschein ist an ein konkretes Arbeitsangebot gekoppelt mit dem Auftrag, sich selbst um
die Einlösung des Gutscheins zu bemühen. Er bietet den
Betroffen die Möglichkeit, mit diesem Instrument aus eigener Initiative auf mögliche Arbeitgeber zuzugehen
und so eine Förderleistung mitzuerbringen.
Zum Dritten beinhaltet der Gesetzentwurf eine Nachfolgeregelung der sogenannten 58er-Regelung. Die 58erRegelung stand in vielen Bereichen der Beschäftigung
älterer Mitarbeiter entgegen. Der neue § 3 Abs. 2 a
SGB II sieht vor, dass erwerbsfähige Hilfsbedürftige, die
das 58. Lebensjahr vollendet haben, unverzüglich in Arbeit oder in eine Arbeitsgelegenheit vermittelt werden
sollen. Dies ist eine klare Vorgabe für die Träger der
Grundsicherung für Arbeitsuchende, sich verstärkt um
die Integration gerade dieser Altersgruppe zu bemühen
und diesem Ziel im Konfliktfall Vorrang vor einer auf
betriebswirtschaftliche Effizienz ausgerichteten Arbeitsmarktpolitik einzuräumen. In den vergangenen Jahren
war dies häufig nicht der Fall, was sich nicht zuletzt
daran zeigt, dass erwerbsfähige Hilfsbedürftige, die das
58. Lebensjahr vollendet haben, eher nachrangig durch
arbeitsmarktpolitische Maßnahmen gefördert wurden.
Jugendlichen und jungen Erwachsenen wurde hier bislang ein rechtlicher Vorrang eingeräumt.
Bei der Neuregelung gilt immer der Grundsatz: Auch
ältere Menschen sind unverzüglich in Arbeit oder in eine
Arbeitsgelegenheit zu vermitteln. Gelingt dies nicht, ist
sichergestellt, dass die Träger spätestens im Abstand von
jeweils sechs Monaten zu prüfen haben, welche Maßnahmen zur Eingliederung in Arbeit erforderlich sind.
Darüber hinaus wird einheitlich für alle Hilfsbedürftigen
festgelegt, dass sie erst nach der Vollendung des 63. Lebensjahres eine Altersrente mit Abschlägen in Anspruch
zu nehmen haben. Herr Staatssekretär Thönnes hat bereits darauf hingewiesen, dass es eine Härtefallregelung
gibt. Es ist also längst nicht so, dass Scharen von 63-Jährigen in die Zwangsrente geschickt werden, wie es uns
die Linke-Partei glauben machen möchte.
({3})
- Ich komme auf den Begriff „Zwangsverrentung“ noch
zurück. Ich kenne doch längst Ihre Lieblingsausdrücke.
So wird eine frühzeitige Zwangsverrentung vermieden. Dies ist notwendig, wenn tatsächlich das Ziel verfolgt wird, erwerbsfähige Hilfsbedürftige im Alter von
mindestens 58 Jahren verstärkt in den Arbeitsmarkt zu
integrieren. Bestünde die Möglichkeit einer Zwangsverrentung erwerbsfähiger Hilfsbedürftiger bereits im Alter
von weniger als 63 Jahren, hätten die Träger der Grundsicherung auch einen geringeren Anreiz, ihre Vermittlungsbemühungen bei den über 57-Jährigen zu verstärken; darauf habe ich bereits eingangs hingewiesen. Die
neu auf 63 Jahre festgesetzte Altersgrenze als frühesten
Rentenzeitpunkt für ALG-II-Bezieher drängt zwar den
richtigen Nachrangigkeitsgrundsatz der Fürsorgeleistung
etwas zurück, wonach jeder alles ihm Mögliche tun
muss, um Hilfsbedürftigkeit zu vermeiden oder zu verringern. Für eine solche Regelung spricht jedoch, dass
eine Privilegierung im Rentenrecht für Frauen und
schwerbehinderte Menschen nicht in einen Nachteil
beim ALG-II-Bezug umschlagen darf.
({4})
Ältere Arbeitslose dürfen sich dabei allerdings nicht dem
Trugschluss hingeben, die ersten Arbeitsangebote auszuschlagen in der Hoffnung, es käme noch etwas Besseres.
Um „Fordern und Fördern“ effektiv umsetzen zu können, sind wir natürlich auf die Zusammenarbeit mit der
Bundesagentur für Arbeit angewiesen. Ich war sehr erfreut darüber, dass Herr Rudolf Knorr von der Bundesagentur für Arbeit im Verlauf der Anhörung am vergangenen Montag in diesem Zusammenhang noch einmal
klare Worte gefunden hat. Demnach legt die Bundesagentur für Arbeit mit „Beginn der Vermittlung fest,
welche Aktivitäten der Kunde selbst unternehmen soll“.
Dazu muss der, der in Arbeitslosigkeit geraten ist, natürlich auch bereit sein. Für das Gelingen unserer Reformen
sind auch die Mitarbeit der Bundesagentur für Arbeit
und die Initiative der Betroffenen unerlässlich.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist
heute so, wie wir es sehr häufig hier erleben: Vor dem
Mikrofon und den Kameras zeigen sich die Vertreter der
Großen Koalition gern in tiefer Sorge um die Beschäftigung Älterer; aber sobald die Kameras ausgeschaltet
sind, werden hinter den Kulissen die Statistiken frisiert.
({0})
Mit der Regelung, die Sie jetzt einführen, Frau Nahles, wird die Zahl der Arbeitslosen nicht mehr von der
realen Arbeitslosigkeit abhängig gemacht. Vielmehr machen Sie die Zahl der Arbeitslosen von der Arbeitsmarktlage abhängig.
({1})
Das, Frau Nahles, ist ein Konzept, mit dem Sie nicht die
Arbeitslosigkeit bekämpfen, sondern die Zahlen.
({2})
Vielleicht bekommen Sie damit eine bessere Bilanz,
aber mit Sicherheit keine geringere Arbeitslosigkeit.
Frau Nahles, auch Sie waren doch bei der Anhörung
dabei. Alle, aber auch alle Sachverständigen, die da vertreten waren, haben dieses Problem thematisiert.
({3})
Sie haben darauf hingewiesen, dass diese Manipulation
real negative Folgen für die Betroffenen haben wird. Es
waren nicht unsere Sachverständigen, die das gesagt haben. Der DGB spricht zum Beispiel davon, dass Fehlanreize geschaffen werden, die dazu führen, dass für diesen betroffenen Personenkreis keine Angebote mehr
unterbreitet werden. Das wird zur Folge haben: weniger
Vermittlungsbemühungen, mehr Arbeitslose. Der Vertreter der BDA, wahrlich nicht unser Sachverständiger, hat
gesagt, Statistiktricks würden dazu führen, dass der Reformbedarf am Arbeitsmarkt vernebelt wird. Die Bundesagentur für Arbeit selber fürchtet den Vorwurf der
Manipulation von Arbeitslosenzahlen, und zwar deswegen, weil sie diejenigen sind, die die Statistiken erstellen
müssen.
({4})
Sie haben wahrlich noch sehr gut in Erinnerung, was es
heißt, geschönte Vermittlungszahlen auf den Markt werfen zu müssen. Die Erinnerungen an das Jahr 2002 sind
bei ihnen jedenfalls noch sehr lebendig.
({5})
- Die haben was gelernt, die Große Koalition nicht.
Das IAB sagt, diese Regelung verschlechtere die Situation älterer Hilfebedürftiger und laufe den Zielen Ihres Gesetzentwurfs zuwider. Die Sachverständigen waren wohl alle zu begriffsstutzig, um zu erkennen, dass
Sie damit Wohltaten über ältere Beschäftigungslose ausschütten werden.
Meine Damen und Herren von der Großen Koalition,
tun Sie sich selbst, uns, aber auch den Steuerzahlern einen Gefallen, und beenden Sie die Farce von Anhörungen, wenn die Positionen der Sachverständigen, die dort
vorgetragen werden, in keiner Weise in Ihre Meinungsbildung und das, was Sie uns hier vorlegen, Eingang finden.
({6})
Was ich aber zusätzlich als sehr großes Problem empfinde, ist die Botschaft, die Sie mit dieser Regelung an
die älteren Arbeitslosen senden. Die Botschaft heißt
doch: Wer älter ist und keinen Job findet, ist nicht mehr
arbeitslos, sondern schlicht und ergreifend unbrauchbar.
Meine Damen und Herren, Sie predigen hier immer
wieder, dass ältere Arbeitnehmer gebraucht werden, dass
deren Integration in den Arbeitsmarkt für Sie eine zentrale arbeitsmarktpolitische Aufgabe ist. Aber wenn die
Kirche aus ist, werden die Betroffenen schlicht und ergreifend ausgemustert. Was daran christlich oder sozial
ist, müssen Sie uns einmal erklären.
({7})
Schon die Verlängerung des Bezugs des Arbeitslosengeldes I ist - das wissen Sie auch - letztlich ein
vergiftetes Geschenk. Daran ändert der Eingliederungsgutschein, von dem hier heute noch einmal die Rede
war, gar nichts. Der Eingliederungsgutschein ist ein Instrument, mit dem Sie versucht haben, die berechtigte
Kritik von Herrn Müntefering beiseitezuschieben.
({8})
In der Sache bringt dieser Eingliederungsgutschein
nichts. Wir haben bereits zwölf Kombilöhne. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass dieser 13. an irgendeiner
Stelle etwas ändern wird.
Bedenken Sie die Zeit, Frau Pothmer.
Ich komme zum Schluss. - Zur Eingliederung Älterer
in den Arbeitsmarkt trägt weder dieses Gesetz noch dieser Eingliederungsgutschein etwas bei. Das werden Sie,
wenn das Gesetz in Kraft ist, zur Kenntnis nehmen müssen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Anton Schaaf von der SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Frau Pothmer, wenn ich Sie
richtig verstanden habe, dann haben Sie eben gesagt, Sie
sind nicht damit einverstanden, dass wir den Bezug von
Arbeitslosengeld I jetzt verlängern.
({0})
Sie halten die Systematik für falsch. So habe ich es verstanden. Gleichzeitig lehnen Sie es ab, dass der betroffene Personenkreis - also ältere Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, die arbeitslos geworden sind - ab dem
63. Lebensjahr unter Umständen Rente beantragen
muss. Das heißt im Klartext: Sie wollen den Zeitraum
für den Bezug von Arbeitslosengeld II für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die keinen Job finden, schlichtweg verlängern.
({1})
Sie wollen sie aus der aktiven Arbeitsmarktpolitik vorzeitig herausnehmen; denn der Bezug von Arbeitslosengeld I ist eine Versicherungsleistung. Gleichzeitig wollen Sie aber nicht, dass die Betroffenen frühverrentet
- oder wie Sie sagen: zwangsverrentet - werden. Damit
verlängern Sie schlichtweg die Bezugsdauer von
Arbeitslosengeld II für ältere Arbeitslose. Sonst nichts.
Das ist doch völlig klar.
({2})
Übrigens ist es mir ein absolutes Rätsel, wieso die
Grünen und die FDP - ich schaue zu Herrn Kolb herüber das Einhalten des Nachrangigkeitsprinzips in unseren
sozialen Sicherungssystemen in der Art und Weise in
Misskredit bringen.
({3})
Unser Sozialstaatsprinzip beruht darauf, dass man zunächst einmal die eigene Leistungsfähigkeit in die
Waagschale wirft. Erst wenn diese nicht ausreicht, dann
greift die Solidarität der Allgemeinheit. Sie wollen dieses Prinzip an dieser Stelle grundsätzlich außer Kraft setzen. Sie setzen die Solidarität der Allgemeinheit vor die
eigene Leistungsfähigkeit.
({4})
Ich halte dies für einen völlig falschen Ansatz, der unseren Sozialstaat nachhaltig schädigen und infrage stellen
kann. Bei der FDP verwundert mich das nicht: Das, was
wir, paritätisch und solidarisch finanziert, als Sozialstaatlichkeit begreifen, ist für die FDP Teufelswerk.
Da ich gerade bei der FDP bin, will ich noch Folgendes sagen: Herr Niebel, Ihre Ausführungen hinsichtlich
des Lobbyismus waren wirklich hochspannend.
({5})
Wenn man im Glashaus sitzt, sollte man aber nicht mit
Steinen werfen. Ihr Hinweis auf Amerika und die dortige
Steuersenkung war schon bemerkenswert. Ihre klassische Klientel, nämlich die Manager bei Banken, Versicherungen und in der Maklerwirtschaft in Amerika,
({6})
hat eine massive Krise verursacht, die Millionen von
Menschen richtig viel Geld kosten wird. Diese haben in
Amerika eine Rezession heraufbeschworen. Aber Sie
feiern die amerikanische Regierung, weil sie sozusagen
als Notwehrreaktion die Steuern senkt. Es ist schon aberwitzig, wie Sie hier argumentieren.
({7})
- Nein, Herr Niebel, ich lasse keine Zwischenfrage zu.
Sie haben Ihre Wahlkampfrede schon gehalten. Ich
möchte Ihre Redezeit nicht noch verlängern.
({8})
Herr Kollege Lafontaine, die Altersarmut muss man
sicherlich auf der Agenda haben. Das ist überhaupt keine
Frage; ich widerspreche Ihnen da nicht. Im Wesentlichen
hat dieses Problem auch mit unterbrochenen Erwerbsbiografien der Menschen zu tun. Übrigens hat Rot-Grün
eine untere Auffanggrenze eingeführt, nämlich die steuerfinanzierte Grundsicherung im Alter. Man kann über
Höhen zwar immer diskutieren, aber immerhin haben
wir diese untere Grenze eingeführt, um dem Problem der
Altersarmut auf gerechte Art und Weise zu begegnen.
({9})
Dass man über die Höhe dieser Grundsicherung diskutieren kann, ist natürlich richtig.
Den Ist-Zustand bei der Altersarmut einfach in die
Zukunft so zu übertragen, dass es für die eigene Argumentation passt, würde bedeuten, dass Politik nicht mehr
handlungsfähig ist. Die Sozialdemokraten werden das
nicht tun. Wir werden die Zahl von 3,5 Millionen arbeitslosen Menschen, die aufgrund ihrer Arbeitslosigkeit
befürchten müssen, im Alter arm zu sein, nicht hinnehmen. Wir werden weiter daran arbeiten, dass die Menschen im Alter nicht arm sind, indem sie jetzt eine Arbeit
bekommen. Das ist der richtige Weg.
({10})
Nun zum Arbeitslosenversicherungsbeitrag. Auch
über dessen Höhe kann man miteinander streiten. Ich
gebe Ihnen recht, dass die Senkung dieses Beitrags bewirkt, das 25 Milliarden Euro bei denen bleiben, die die
Beiträge aufbringen. Aber wir nehmen dieses Geld nicht
aus der Kasse der Arbeitslosenversicherung. Vielmehr
bleibt es bei denen, die diese Beiträge normalerweise
aufbringen müssten.
Bei dem Arbeitslosengeld I schränken wir keine Leistung ein. Auch das muss man einmal festhalten. Der Eingliederungstitel wird nicht verändert. Es ist ja nicht so,
dass es keine aktive Arbeitsmarktpolitik mehr gibt. Aber
Sie sagen, dass wir an dieser Stelle den Unternehmen im
Lande Geschenke machen würden. Die Hälfte dieser
25 Milliarden Euro behalten die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer in diesem Land; das muss man einmal
festhalten. Das verschweigen Sie grundsätzlich.
({11})
Die Hälfte von dem, was Sie „vorenthaltenen Lohn“
nennen, bleibt bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.
({12})
Das muss man klarmachen, wenn man sich bei allen anderen Sachen andauernd darüber beschwert, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zusätzlich belastet werden. An dieser Stelle werden sie entlastet, und die
Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung werden in
keiner Weise eingeschränkt.
Man muss sich anschauen, wozu die Blüm’sche Arbeitsmarktpolitik - 32 Monate Arbeitslosengeld-I-Bezug geführt hat. Damals war alles in Ordnung; wir alle haben
es gefeiert. Im Nachhinein muss man aber feststellen,
dass diese Politik zu folgender Situation geführt hat: Die
älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, in der Regel in der Großindustrie und im öffentlichen Dienst, die
mit zunehmendem Alter teurer werden, sind von den
Unternehmen systematisch aus den Produktionsprozessen gedrängt worden. Systematisch! Dies geschah nur,
weil sie älter und teurer und an der einen oder anderen
Stelle eventuell nicht mehr leistungsfähig waren.
Diese Praxis, bei der den Älteren suggeriert wird,
dass sie in dieser Gesellschaft nicht mehr brauchbar
sind, weil sie über 50 Jahre alt sind, haben wir schlichtweg beendet. Es ist richtig, dass wir sie beendet haben.
({13})
Sie können an dieser Stelle kritisieren, wie Sie möchten. Man muss sich die Beschäftigungsquote älterer
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einmal anschauen. Wenn Sie dann sagen, dass bei den über 60-Jährigen die Verbesserung am Arbeitsmarkt noch nicht angekommen ist, gebe ich Ihnen zunächst einmal recht.
Aber bei den über 50-Jährigen sowie auch bei den über
55-Jährigen ist sie angekommen. Die über 55-Jährigen
werden dann über 60 Jahre alt, und die Verbesserungen,
die am Arbeitsmarkt tatsächlich stattgefunden haben,
werden somit auch bei ihnen ankommen. Das ist für
mich überhaupt keine Frage.
Lassen Sie mich ganz zum Schluss, weil meine Redezeit am Ende ist, Folgendes sagen - sicherlich auch im
Hinblick auf das Wochenende, da fast jeder Redner vor
mir Wahlkampf gemacht hat -: Die Art und Weise, in der
Sie mit Sachthemen den Menschen Panik gemacht haben, fällt in sich zusammen.
({14})
Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Der Kollege Schneider
hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die derzeitige Regelung zu massenhaften Zwangsverrentungen führen
könnte, wenn wir nicht zum 1. Januar 2008 einen Ersatz
für die 58er-Regelung schaffen. Herr Kollege Schneider,
so haben Sie es auch formuliert. Herausgekommen ist
dabei - das darf man einmal sagen -: Es wurden massenhaft Menschen verunsichert, die jetzt in der Situation
sind.
({15})
Ihre Prognose ist aber in keiner Weise eingetreten. - Ich
kann das in der politischen Auseinandersetzung aushalten. Aber bei den Menschen, die Sie mit der Androhung
der Zwangsverrentung zum 1. Januar verunsichert haben, sollten Sie sich entschuldigen, Herr Schneider.
({16})
Herr Kollege Schaaf, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich bin schon am Schluss.
Ich kann den Menschen in Hessen und Niedersachsen
nur sagen: Wenn Sie keine Ankündigungspolitik und
keine Panikmache haben wollen, wenn Sie wollen, dass
man Ihnen seriöse Lösungen anbietet, für die man sich
einsetzt und die man umsetzt, dann wählen Sie am
Wochenende nicht Protest; wählen Sie SPD: Jüttner,
Ypsilanti!
({0})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Dr. Heinrich Kolb.
Herr Kollege Schaaf, es war wirklich ein beeindruckendes Schauspiel, wie Sie anderen Wahlkampf vorgeworfen haben, aber selbst in einer Art und Weise überzogen haben, wie ich es in diesem Hause noch nicht erlebt
habe.
({0})
Sie sollten sich wirklich überlegen, ob das angemessen
war.
({1})
Sie haben den Grünen und uns vorgeworfen, wir hätten eine seltsame Sichtweise, was den Nachrangigkeitsgrundsatz angeht. Ich frage Sie: Darf nicht auch der
Staat, darf nicht auch ein Gemeinwesen rechnen? Ist es
wirklich sinnvoll, Menschen zwei Jahre früher mit Abschlägen in den Ruhestand zu schicken und dafür zu riskieren, dass ihnen nach dem 65. Lebensjahr für die gesamte Rentenbezugsdauer aufstockende Grundsicherung
gezahlt werden muss? Wenn Sie sich das einmal genau
anschauen, werden auch Sie zu dem Ergebnis kommen,
dass das in vielen Fällen ein Nullsummenspiel sein wird.
Weil das so ist, hat aus unserer Sicht Priorität, dass die
Menschen im Erwerbsleben bleiben. Deshalb ist dies gerechtfertigt.
({2})
Ein bisschen schwanger zu sein, wie Sie sich das vorstellen, geht außerdem nicht. Entweder gilt der Nachrangigkeitsgrundsatz - dann hätte man die Altersgrenze nicht
von 60 auf 63 Jahre anheben dürfen -, oder er gilt nicht
in dieser Schärfe. Ich glaube, das, was wir vorgetragen
haben, entbehrt nicht eines gewissen Augenmaßes.
Ich möchte Ihnen einen weiteren Punkt vorhalten. Sie
haben gesagt, amerikanische Bankenmanager seien eine
Klientel der FDP. Ich sage Ihnen: Schauen Sie sich einmal die deutschen Bankenmanager an, insbesondere die,
die für die derzeitige Finanzkrise verantwortlich sind!
Ich nenne nur die Stichworte „Sachsen Landesbank“,
„KfW“ und „IKB“. Die Leute, die dort Verantwortung
tragen, haben Parteibücher der Großen Koalition, aber
doch nicht der FDP. Das muss man hier einmal deutlich
sagen.
({3})
Am bemerkenswertesten fand ich schließlich, was Sie
nicht gesagt haben. Auf meinen Vorhalt „Der Maurer
wird zwangsverrentet, der Bauingenieur nicht“ haben
Sie sich, obwohl Sie alles andere hier schön haben Revue passieren lassen, in keiner Weise bezogen. Der eigentliche Skandal ist, dass Sie auf solche Vorwürfe nicht
eingehen. Das, meine ich, sollten Menschen bedenken,
wenn sie irgendwann einmal - nicht am Sonntag - vor
Wahlentscheidungen stehen.
({4})
Danke für die Aufmerksamkeit.
({5})
Herr Kollege Schaaf zur Erwiderung.
Herr Kollege Kolb, ich bleibe bei meiner Aussage in
Bezug auf Ihre spezielle Klientel.
({0})
Ich bleibe auch dabei, dass man schauen kann, was diese
spezielle Klientel zum Teil mit Menschen anrichtet. Das
sieht man zum Beispiel jetzt in Bochum, wo skrupellos
mit der Zukunft von Menschen hantiert wird.
({1})
Dann wird von Teilen der FDP - ich habe mir da das
eine oder andere anschauen dürfen und antun müssen sogar noch gerechtfertigt, dass Unternehmen sozusagen
den Subventionen hinterherreisen und überall verbrannte
Erde hinterlassen. Ich habe mir Argumentationen anhören müssen, dass das eigentlich doch okay ist.
Aber das ist überhaupt nicht die Frage. Die Frage des
Maurers oder des Dachdeckers ist eine ganz andere. Sie
müssen sich anschauen, was die Koalition da auf den
Weg gebracht hat, zum Beispiel was die Frage von guter
Arbeit angeht, was die Frage von Qualität von Arbeit angeht. Wir werden nie verhindern können, dass Menschen
sich kaputtarbeiten. Wir können aber an dieser Stelle
präventiv arbeiten. Wenn Menschen sich kaputtgearbeitet haben, müssen wir ihnen eine vernünftige Antwort
geben. Das ist der entscheidende Punkt. Sie liefern diese
allerdings überhaupt nicht.
({2})
Sie individualisieren das Lebensrisiko Arbeitslosigkeit.
Sie individualisieren das Lebensrisiko Alter. Sie wollen
gar nicht die Solidarität des Staates und auch nicht die
Solidarität der Arbeitgeber, die jetzt mit dazu beitragen.
Daher habe ich von dem, was ich eben gesagt habe, in
keiner Weise irgendetwas zurückzunehmen.
({3})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Meckelburg von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
will dem Beispiel von Herr Schaaf im Schlusssatz seiner
Rede jetzt nicht nachkommen. Wir sind zwar irgendwo
im Wahlkampf; aber die Bürgerinnen und Bürger werden
schon wissen, wo sie am Sonntag ihr Kreuzchen machen. Ich glaube, dass unsere Debatte das nicht groß beeinflussen wird.
Ich will noch einmal festhalten: Es geht heute um die
Umsetzung der Koalitionsbeschlüsse vom November.
Der erste Teil, die Verringerung des Arbeitslosenversicherungsbeitrages, ist umgesetzt; dies haben wir bereits im letzten Jahr beschlossen. Ich will noch einmal
auf die Wirkung hinweisen: Wir haben die Arbeitslosenversicherungsbeiträge in zwei Stufen - zum 1. Januar
letzten Jahres und zum 1. Januar dieses Jahres - von
6,5 Prozent auf 3,3 Prozent verringert. Das sind 25 Milliarden Euro, die an diejenigen zurückgehen, die Beiträge zahlen. Das bedeutet für Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer im Schnitt 400 Euro Einkommen mehr im
Jahr. Ich glaube, das muss man an dieser Stelle noch einmal sagen, weil es Kosten senkt und dazu beiträgt, dass
neue Arbeitsplätze geschaffen werden, auch wenn Sie
von den Linken das ständig bezweifeln.
Im zweiten Teil geht es heute darum, die Anspruchsdauer beim Arbeitslosengeld I zu verlängern und den
Eingliederungsgutschein als neues Instrument einzuführen. Ich will es deutlich sagen: Wir wissen, dass die
Situation Älterer am Arbeitsmarkt besser geworden ist.
Wir wissen, dass die Zahlen eine positive Sprache sprechen. Dennoch wissen wir auch: Ältere brauchen nach
wie vor länger, um wieder in Arbeit zu kommen. Deswegen ist es sinnvoll, eine solche stufenweise Verlängerung
vorzunehmen. Im Einzelnen steigt die Anspruchsdauer
in drei Altersstufen - 50, 55 und 58 Jahre - auf 15, 18
bzw. 24 Monate. Als Union sind wir der Auffassung,
dass wir mit diesen Stufen vor allen Dingen diejenigen
erreichen, die lange Zeit in die Sozialversicherung eingezahlt haben. Davon sollen sie auch profitieren, und insofern stellt dies ein Stück Gerechtigkeit dar. Zugleich
geht es darum, die Chance für Ältere zu erhöhen, in Arbeit zu kommen.
({0})
Ich füge hinzu, wobei ich ein bisschen überzeichne:
Mit der Verlängerung des Arbeitslosengeldes I wollen
wir nicht erreichen, dass man sich länger in Arbeitslosigkeit wohlfühlen kann. Unser Ziel ist es, vermehrt auch
ältere Arbeitslose wieder in den Arbeitsmarkt zu bringen. Es ist das Ziel dieser Gesetzgebung, ältere Menschen noch stärker in Arbeit zu bringen, als es bereits
zurzeit der Fall ist.
({1})
In diesem Zusammenhang ist das Instrument des Eingliederungsgutscheins eine Notwendigkeit, weil er
hilft, die Zeit wirklich zu nutzen, in der man unter Bezug
von Arbeitslosengeld I nach Arbeit suchen kann. Über
die Bedingungen des Eingliederungsgutscheins werde
ich nicht viel sagen. Er bedeutet, dass man sich bewerben kann und gleichzeitig die Möglichkeit hat, ein Jahr
lang gefördert zu werden. Entweder bekommt man diesen Eingliederungsgutschein, verbunden mit einem konkreten Arbeitsangebot, von der Arbeitsagentur, oder man
bekommt - das ist neu, und das muss in die Köpfe älterer
Menschen hinein - den Auftrag, sich selbst um dessen
Einlösung zu bemühen, sich also selbstständig zu bewerben. Es geht konkret um verstärkte Eigenbemühungen.
Die Eingliederungsvereinbarung zwischen der Arbeitsagentur und dem Arbeitslosen sieht vor, dass beide Seiten alle drei Monate miteinander Kontakt haben. Auf
diese Weise wird nachjustiert werden können, um alle
Chancen zu nutzen, ältere Menschen in Arbeit zu bringen. Das ist das Hauptziel.
({2})
Dasselbe gilt für die 58er-Regelung. In diesem Zusammenhang erwähne ich, dass es im Gesetz auch einen
Hinweis auf eine Rechtsverordnung gibt, mit der Härtefälle geregelt werden. Hier soll ein Ermessensspielraum
genutzt werden können, welche Maßnahme seitens der
Arbeitsagentur in Angriff genommen werden kann.
Wir nehmen auch eine Veränderung beim Zuverdienst
vor; das ist von allen positiv bewertet worden. Wir sehen
nun eine gleichmäßige Grenze von 400 Euro vor. In der
Vergangenheit hat es hier Schwierigkeiten gegeben, weil
die Menschen gedacht haben, dies sei die Grenze. In
Wirklichkeit lag sie etwas darunter. Das ist jetzt einheitlich geregelt; auch dies ist ein Fortschritt, den wir mit
diesem Gesetz erreichen.
Dafür, dass dies alles zum 1. Januar in Kraft treten
kann, obwohl es endgültig erst Mitte Februar beschlossen sein wird - wir beschließen es heute, der Bundesrat
wird dem folgen -, haben wir Regelungen getroffen.
Dass wir dies hinbekommen haben, ist im Ausschuss
beispielsweise von der Fraktion der Grünen gelobt
worden. Das ist nicht ganz einfach; aber alle sind darauf
vorbereitet, zu wissen, dass die Fälle, die infrage kommen - ({3})
- Sie waren es, glaube ich, Frau Schewe-Gerigk.
({4})
- Okay, zumindest einer von Ihnen.
Es soll also dann, wenn man nach geltendem Recht ab
dem 1. Januar bereits im Rentenbezug wäre, die Möglichkeit bestehen, dies wieder rückgängig zu machen
und die verlängerten Arbeitslosengeld-I-Bezugszeiten zu
nutzen. Dies ist vorbereitet und wird auch relativ zügig
umgesetzt werden können, weil alle Partner bereits daran arbeiten.
({5})
Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas Kritisches
zu den Anträgen der FDP sagen. Einer Ihrer Anträge,
Herr Niebel, ist der Standardantrag, der eine Liste von
Möglichkeiten enthält, wie man Wirtschaft und Arbeitsmarkt verändern kann. Sie wissen, dass es hier dafür
nach wie vor keine Mehrheit gibt. Sie können ihn gerne
stellen; wir werden ihn ablehnen.
Die Vorstellung der FDP, bei einer Rente mit 60 unbegrenzt hinzuverdienen zu können, ist aus meiner Sicht
höchst unsozial, weil derjenige, der nur einen geringen
Rentenanspruch hat und nicht über der Mindestmarge
liegt, weiterhin arbeiten muss, da er diese Möglichkeit
nicht nutzen kann,
({6})
während derjenige, der diese Grenze erreicht hat und
über dem Mindestarbeitslosengeldbezug liegt, in Rente
gehen und tüchtig dazuverdienen kann. Das heißt, diejenigen, die vorher schon ordentlich verdient haben und
eine ordentliche Rente mit 60 bekommen, können auch
noch ordentlich dazuverdienen. Ich halte dies für höchst
ungerecht; ich sage dies in aller Deutlichkeit.
({7})
Jetzt noch ein Wort zu den Anträgen und Bemerkungen der Linken. Herr Lafontaine, wenn Sie von Abschlägen in Höhe von 14,4 Prozent reden, dann wollen Sie
damit den Menschen fürchterlich Bange machen. Sie
müssen aber auch angeben, worauf sich diese 14,4 Prozent beziehen: Sie beziehen sich auf das Jahr 2029; denn
erst dann kommt die Rente mit 67.
Das heißt, Sie machen heute den Menschen Angst mit
etwas, was erst 2029 möglicherweise ansteht.
({8})
In der Zwischenzeit wird sich der Arbeitsmarkt positiv
entwickeln. Das ist dringend notwendig. Ich bin sicher,
dass wir beide nicht mehr dem Parlament angehören,
Herr Lafontaine, wenn die entsprechenden Regelungen
anstehen.
({9})
Sie wollen - das ist Ihre Alternative - lieber lange Arbeitslosengeld zahlen. Sie wollen nicht die Menschen in
Arbeit bringen, sondern beschränken sich nur darauf,
wie man den Menschen möglichst lange Arbeitslosengeld zahlen kann. Konkret heißt das, dass Sie älteren
Arbeitslosen möglichst lange ALG I oder ALG II gewähren wollen, und zwar - je nachdem, wie die Einzahlungen waren - möglicherweise auf einem niedrigeren
Niveau. Das ist völlig falsch.
({10})
Wir als Koalition wollen, dass möglichst viele Menschen in Arbeit kommen und dadurch auch entsprechend
hohe Renten beziehen. Wir wollen höhere Einzahlungen
und höhere Renten erreichen, als mit Ihrem Modell möglich ist.
({11})
Das ist Almosenniveau. Sie haben dieses Wort ja eben
gebraucht.
Herr Präsident, gestatten Sie mir eine abschließende
Bemerkung. - Der größte Vorwurf, den man Ihnen machen muss, ist, dass Sie als gemischte Partei irgendwo in
der Nachfolge der SED stehen.
({12})
Das müssen vor allem diejenigen wissen, die neu dazugekommen sind, und damit auch Sie, Herr Lafontaine.
Dadurch, dass Sie in diese Partei eingetreten sind, stellen
Sie sich auch in die Nachfolge.
({13})
Der größte Vorwurf, den man Ihnen machen muss, ist,
dass Sie 40 Jahre lang die Menschen in einem Teil
Deutschlands von wirtschaftlicher Entwicklung, Lohnentwicklung und Wohlstand ausgeschlossen haben.
({14})
Wir sind dabei, dies auszugleichen. Sie sind die Letzten,
die das Recht haben, ständig als Ratgeber aufzutreten.
({15})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Gesetzentwurf zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze. Der Ausschuss für
Arbeit und Soziales empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7866, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD
auf Drucksache 16/7460 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Die Fraktion Die Linke hat Teilung der Frage beantragt.
Ich rufe daher zunächst Art. 1 des Gesetzentwurfes
der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD in der Ausschussfassung auf. Ich bitte diejenigen, die zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Art. 1 ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Ich rufe Art. 2 bis Art. 7 sowie Einleitung und Überschrift des Gesetzentwurfes in der Ausschussfassung
auf. Ich bitte diejenigen, die zustimmen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Art. 2 bis
Art. 7 sowie Einleitung und Überschrift sind angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Oppositionsfraktionen.
Damit ist der Gesetzentwurf in allen Teilen in zweiter
Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion
Die Linke zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/7866, den Gesetzentwurf der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/7459 abzulehnen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung gegen
die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/
Die Grünen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der FDP-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Wir setzen die Abstimmungen über die Beschlussempfehlungen des Ausschusses für Arbeit und Soziales
auf Drucksache 16/7866 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/6644 mit
dem Titel „Beschäftigungschancen Älterer verbessern Reformen der Agenda 2010 nicht zurücknehmen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen aller Fraktionen
bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion angenommen.
Unter Nr. 4 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/7003 mit
dem Titel „Arbeit statt Frühverrentung fördern“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen aller Fraktionen gegen die Stimmen
der FDP-Fraktion angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 5 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/6929 mit dem
Titel „Beschäftigungssituation Älterer verbessern Übergänge vom Erwerbsleben in die Rente sozial gestalten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen aller Fraktionen gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten CarlLudwig Thiele, Frank Schäffler, Dr. Hermann
Otto Solms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Keine Steuererhöhung bei der Erbschaftsteuer - Gesetzentwurf zur Reform des Erbschaftsteuer- und Bewertungsrechts zurückziehen
- Drucksache 16/7765 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibt
es dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als Sprecher
der antragstellenden Fraktion dem Kollegen Carl-Ludwig Thiele von der FDP-Fraktion das Wort.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Die FDP-Fraktion fordert
die Bundesregierung auf, Steuererhöhungen bei der Erbschaftsteuer zu unterlassen und den Gesetzentwurf zur
Reform des Erbschaftsteuer- und des Bewertungsrechts
zurückzuziehen.
({0})
Es ist schon erstaunlich: Wir diskutieren zurzeit darüber, ob Subventionen für Großbetriebe zur Schaffung
von Arbeitsplätzen sinnvoll sind. Dabei müssen wir feststellen, dass die Bindung zum Erhalt von Arbeitsplätzen
lediglich fünf Jahre beträgt. Zeitgleich legt die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vor, in dem der deutsche
Mittelstand für den Fall, dass er eine Stundung der Erbschaftsteuer erhält, 15 Jahre lang gebunden ist. Hiermit
wird der Mittelstand wieder einmal in einer Form benachteiligt, wie es mittlerweile leider das Kennzeichen
der Großen Koalition ist.
({1})
Es ist doch eine verkehrte Welt: Großunternehmen erhalten Millionensubventionen und sind nur fünf Jahre
gebunden, und der deutsche Mittelstand erhält keine
Subventionen, sondern wird nur dann steuerlich verschont, wenn der Betrieb 15 Jahre fortgeführt wird. Das
passt hinten und vorne nicht. Das muss diskutiert werden. Das soll der deutsche Mittelstand wissen.
({2})
Schon bei der Unternehmensteuerreform wurden ausschließlich Kapitalgesellschaften entlastet. Die Lohnund Einkommensteuerzahler und auch die mittelständischen Personengesellschaften wurden nicht entlastet.
Dieser rote Faden des praktischen Regierungshandelns
gegen den deutschen Mittelstand setzt sich bei dieser
Erbschaftsteuerreform fort.
({3})
Es gibt - auch das möchte ich einmal ansprechen - einen fundamentalen Unterschied zwischen börsennotierten Kapitalgesellschaften und dem deutschen Mittelstand. Wenn ein Aktionär verstirbt, dann werden seine
Aktien vererbt und bewertet. Um die Steuerschuld zu
zahlen, die dann festgesetzt wird, kann der Erbe Teile
der Aktien verkaufen und aus dem Veräußerungserlös
seine Steuern bezahlen. Aber kein einziges Großunternehmen in Deutschland hat jemals auch nur einen Cent
Kapital durch die Erbschaftsteuer verloren, weil es eben
an der Börse gehandelt wird.
({4})
Das ist bei familiengeführten Unternehmen grundsätzlich anders. Häufig fehlt der Kopf des Unternehmens. Da
aber für die Zukunft des Unternehmens die wesentlichen
Vermögenswerte in das Unternehmen investiert wurden,
sind entsprechende freie Mittel nicht verfügbar. Die Erben sind daher häufig gezwungen, Teile des Unternehmens zu veräußern oder dem Unternehmen selbst Kapital zu entziehen, um die Erbschaftsteuer überhaupt
zahlen zu können. Damit ist die Erbschaftsteuer im Bereich der Unternehmen eine ausschließliche Mittelstandsteuer.
({5})
Das wird überhaupt nicht berücksichtigt.
({6})
Ursprünglich ist das seitens der Großen Koalition erkannt worden. Deshalb ist, wie von der FDP schon seit
Jahren gefordert, in der Koalitionsvereinbarung erklärt
worden, dass für den Fall der Fortführung des Betriebes
die Erbschaftsteuer gestundet und diese bei Fortführung
des Unternehmens über zehn Jahre komplett erlassen
wird.
({7})
Aber der nun vorgelegte Gesetzentwurf der Regierung
sieht gänzlich anders aus.
({8})
Der Koalitionsvertrag wird gebrochen und damit auch
das Versprechen gegenüber dem deutschen Mittelstand;
({9})
denn vorab werden 15 Prozent des Wertes der Unternehmen steuerpflichtig gestellt, ob die Begünstigung greift
oder nicht. Dabei muss man wissen, dass die Werte der
Unternehmen nach der Bewertung der Regierung das
Zwei- bis Dreifache - die Wirtschaft hat das Drei- bis
Vierfache errechnet; es gibt aber auch Fälle, die darüber
hinausgehen - betragen. Auf diese erhöhten Werte sind
vorab Steuern in Höhe von 15 Prozent zu zahlen. Damit
erreicht man in Einzelfällen die Höhe der Steuerbelastung, die derzeit Unternehmen überhaupt zu tragen haben. Das ist keine Entlastung des Mittelstandes, sondern
eine Belastung des Mittelstandes, und die brauchen wir
in unserem Lande nicht.
({10})
Ich möchte noch auf einen weiteren Punkt hinweisen.
Der Staat macht auch ein schlechtes Geschäft. Derjenige,
der wegen der Erbschaftsteuer Deutschland verlässt,
zahlt Jahr für Jahr keine Steuern mehr in Deutschland.
Man muss sehen, dass wir in einem internationalen
Wettbewerb sind. Das wird überhaupt nicht berücksichtigt. In Österreich, unter einem sozialdemokratischen
Bundeskanzler, läuft die Erbschaftsteuer gerade aus und
wird in Zukunft nicht mehr erhoben. In Deutschland, unter einer Kanzlerin von der Union, wird sie verfestigt
und gegen die Interessen des Mittelstands deutlich erhöht. Das kann nicht richtig sein.
({11})
Ferner betreiben Sie eine maßlose Steuererhöhungspolitik gegenüber den Erben in der Steuerklasse II und III.
Der Freibetrag wird zwar leicht von 5 000 Euro in der
Steuerklasse II und 10 000 Euro in der Steuerklasse III
auf 20 000 Euro erhöht, aber der Eingangssteuersatz für
Geschwister, Nichten und Neffen wird von 12 Prozent
auf 30 Prozent erhöht. Das gilt in der Steuerklasse III
auch für nichteheliche Lebensgemeinschaften. Ein Beispiel: Wenn ein Haus erworben wurde, dieses Haus nach
der neuen Bewertung einen Wert von 240 000 Euro hat
und einer der Partner verstirbt, dann erhält der andere ein
Erbe im Wert von 120 000 Euro. 20 000 Euro sind steuerfrei, und die verbleibenden 100 000 Euro werden mit
30 000 Euro besteuert. Diese 30 000 Euro sind einen
Monat nach Erhalt des Steuerbescheides fällig. Viele ältere Bürger und Rentner in unserem Lande - entsprechende Briefe habe ich - fragen sich, wie sie an ihrem
Lebensabend das Geld überhaupt aufbringen sollen, um
die Steuern zahlen zu können. Auf der einen Seite wird
gefordert, zu sparen und vorzusorgen, weil die Rente alleine den Lebensstandard im Alter nicht sichert; wenn
das aber geschehen ist, dann macht der Staat Kasse zulasten dieser Personen. Ein Steuersatz von 30 Prozent
nicht auf die Bemessungsgrundlage, sondern auf den
Vermögenswert geht in Richtung einer Teilenteignung.
({12})
Wir halten es für abenteuerlich, dass die Menschen, die
Vorsorge für sich, ihre Verwandten oder auch ihre
Freunde getroffen haben, in der Form zur Kasse gebeten
werden. Das kann überhaupt nicht richtig sein.
({13})
Das Gesetz ist kompliziert, verwaltungsaufwendig
und streitanfällig. Es hat leider gute Gründe, warum es
so spät auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestags
kommt, nämlich damit es vor den Landtagswahlen in
Hessen und Niedersachsen nicht diskutiert werden kann.
({14})
Ich appelliere an Sie: Überarbeiten Sie den Gesetzentwurf, ziehen Sie ihn zurück! Denn so, wie er jetzt von
Herrn Koch und dem stellvertretenden Parteivorsitzenden der SPD, Herrn Steinbrück, auf den Weg gebracht
wurde, ist er eine reine Zumutung und bedeutet eine
Steuererhöhung. Mit der Erbschaftsteuer holen Sie sich
mehr als 4 Milliarden Euro von den Menschen, die ihr
Leben lang gearbeitet und gespart haben. So kann der
Entwurf nicht bleiben.
Herzlichen Dank.
({15})
Das Wort hat der Kollege Otto Bernhardt von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Wahlkampf lässt grüßen. Lieber Kollege
Thiele, schon die Überschrift Ihres Antrags ist falsch:
({0})
Der vorliegende Gesetzentwurf führt nicht zu einer Steuererhöhung,
({1})
sondern er ist aufkommensneutral. Das wissen Sie. Sie
haben hier gegen besseres Wissen die Unwahrheit gesagt. Das stelle ich zunächst einmal fest.
({2})
Es ist zwar richtig, dass einige Sozialdemokraten
gerne einen höheren Erbschaftsteuersatz hätten. Es ist
auch richtig, dass einige Christdemokraten möglichst gar
keine Erbschaftsteuer oder einen geringeren Steuersatz
wollen.
({3})
In dieser Zwölferkommission haben wir uns auf eine
aufkommensneutrale Lösung geeinigt. Wenn wir nichts
ändern würden, dieses Gesetz also nicht verabschiedeten, Herr Kollege Thiele, würden wir im nächsten Jahr
genauso viele Steuern einnehmen.
Das, was Sie zum Mittelstand gesagt haben, ist genauso
verkehrt wie das, was Sie zur Unternehmensteuerreform
gesagt haben. Bezüglich der Unternehmensteuerreform
hat das Europäische Zentrum für Wirtschaftsforschung
und Strategieberatung, nicht die Union, festgestellt, dass
der eigentliche Gewinner der Mittelstand ist, und zwar
ganz schlicht deshalb, weil der Mittelstand den Vorteil
der Steuersenkung hat und all die Gegenfinanzierungsmaßnahmen den Mittelstand bekanntlich nicht treffen.
Wenn Sie in dieses Gesetz jetzt einmal hineinsehen,
dann stellen Sie fest - das ist politisch gar nicht so leicht;
Sie werden es gleich sehen -: Die Entlastung des Mittelstandes beim Übergang auf die nächste Generation
- sie ist im Koalitionsvertrag vereinbart - kostet etwa
750 Millionen Euro. Das heißt, die Neuordnung ist ein
Geschenk von 750 Millionen Euro an die Wirtschaft.
Da wir uns geeinigt haben, dass am Ende das Gleiche
herauskommt, mussten wir in der Tat andere stärker belasten. Folglich standen wir vor der Frage: Wen? Wir haben uns in der Großen Koalition einvernehmlich entschieden: Die engeren Angehörigen - Ehepartner,
Kinder, Enkelkinder - wollen wir trotz der höheren Bewertung - sie ist keine Erfindung von uns, sondern eine
Auflage des Bundesverfassungsgerichts - nicht stärker
belasten. Deshalb haben wir die Freibeträge dort in erheblichem Umfang erhöht. Da wir die Wirtschaft entlasten und die engeren Angehörigen nicht stärker belasten
wollten, blieb uns nach Adam Riese nur die Möglichkeit,
die weitläufigeren Verwandten und die Nichtverwandten
stärker zu belasten. Das ist das Ergebnis.
Ich stelle fest, dass natürlich kein Gesetz den Bundestag so verlassen hat, wie es hineingekommen ist. Das hat
der ehemalige und jetzige Vorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion einmal deutlich gesagt.
({4})
Schauen Sie sich das Unternehmensteuergesetz an: Im
Rahmen der Beratungen dieses Gesetzes wurden Änderungen in Höhe von 620 Millionen Euro beschlossen.
Bei der Unternehmensteuerreform ging es um 5 Milliarden Euro, die uns zur Verfügung standen. Ich sage noch
einmal: Wir haben im Rahmen der Beratungen Änderungen in Höhe von 620 Millionen Euro beschlossen. Es ist
uns damals sogar gelungen, eine bestimmte Maßnahme
- den Übergang von EBIT zu EBITDA - durchzusetzen,
die allein 400 Millionen Euro kostet.
Meine Kollegen von Stetten und Fuchs werden noch
auf einige Änderungswünsche meiner Fraktion eingehen. Unser Veränderungswille und unsere Wünsche sind
allerdings lange nicht so umfangreich, wie es bei der Unternehmensteuerreform der Fall war. Dort haben wir sie
durchgesetzt. Wir haben aber auch hier Wünsche; das ist
völlig klar. Ich bin ziemlich sicher: Wenn das Anhörungsverfahren durchgeführt sein wird, wird noch mancher Wunsch auf den Tisch kommen.
({5})
An zwei Dingen werden wir jedoch festhalten. Es
bleibt bei den 4 Milliarden Euro; darauf haben wir uns
geeinigt. Auch wenn mancher sagt: „Arbeitet nicht so
schnell!“ - ich kenne diese Aufforderung -, sage ich genauso deutlich: Wir werden rechtzeitig ein neues Gesetz
verabschieden.
Ich gehe davon aus, dass wir schon Mitte Februar die
erste Lesung haben und im März ein Anhörungsverfahren durchführen werden. Ich hoffe, dass wir dann im
April oder Mai - es gibt noch keine abschließenden Entscheidungen - das Gesetz verabschieden. Ich bin dagegen - um das auch deutlich zu sagen -, dass es gleich
14 Tage später in Kraft tritt. Dazwischen sollten möglichst sechs oder acht Wochen liegen,
({6})
damit die Betroffenen sich mit der neuen Situation vertraut machen können und nicht alle an einem Wochenende zum Anwalt rennen
({7})
und dann Entscheidungen nur unter steuerlichen Gesichtspunkten getroffen werden, die man nachher bedauert. - Für Schenkungen gilt das Gleiche, Herr Kollege.
Ich dachte nicht an Selbstmord. Für Schenkungen gelten
die gleichen Beträge.
({8})
Dann gibt es einen weiteren Punkt in Ihrem Antrag,
Herr Kollege Thiele, bei dem Sie - was Sie sonst eigentlich nie machen - nicht ordentlich gearbeitet haben.
({9})
Sie feiern da Frankreich und weisen darauf hin, dass dort
in Zukunft 90 Prozent aller Erbschaftsfälle steuerfrei
sein sollen. Bei uns sind heute schon 92 Prozent steuerfrei. Ihnen liegt die Statistik vor. Nur 8 Prozent aller
Todesfälle oder Schenkungen führen heute in Deutschland zu Erbschaftsteuerzahlungen.
({10})
Eines unserer Anliegen bei den Verhandlungen war
- der Kollege Pronold, der mit von der Partie war, wird
mir recht geben -, die Zahl der Betroffenen möglichst
nicht zu erhöhen. Es bleiben bei uns also 7 bis 8 Prozent.
Das heißt, das, was Frankreich erreichen will, haben wir
längst verwirklicht.
Natürlich weiß auch ich, dass eine Reihe von Ländern
weniger Erbschaftsteuer erhebt oder sie gerade abgeschafft hat. Das stößt in meiner Fraktion durchaus auf
Sympathie. Nur, wir müssen natürlich darauf hinweisen:
Die Amerikaner haben eine viel höhere; die Engländer
haben eine höhere. Ich habe mir den internationalen Vergleich angeguckt. Da liegt Deutschland im Mittelfeld.
Ich sage nicht, dass das gut ist. Aber ich sage genauso
deutlich: Eine ersatzlose Streichung der Erbschaftsteuer
wird politisch nicht durchsetzbar sein, nicht einmal bei
den Finanzministern der Union in den Ländern. Es gibt
zwar den ersten Landesfinanzminister, der sagt, er könne
sich das vorstellen.
({11})
Aber ich glaube nicht, dass es dafür eine Mehrheit gibt.
Deshalb sage ich: Man muss darüber nachdenken - das
ist eine Frage, die sich in der nächsten Legislaturperiode
stellt -, ob man die Erbschaftsteuer in die Einkommensteuer einarbeitet. Aber eine ersatzlose Streichung werden wir nicht hinbekommen.
Lassen Sie mich abschließend feststellen: So, wie es
der Großen Koalition gelungen ist, eine vernünftige Unternehmensteuerreform vorzulegen, werden wir uns
auch - da können Sie sicher sein - auf eine vernünftige
und mittelstandsfreundliche Erbschaftsteuerreform einigen. Wir müssen Sie enttäuschen: Den großen Krach,
den einige erwarten, wird es auch bei dieser wichtigen
Reform nicht geben.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eben haben wir über die völlig unzureichende Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I, über die
Zwangsverrentung ab 63 und die einsetzende Altersarmut gesprochen. Herr Thiele, ich muss Ihnen sagen:
Ein Großteil der Rentnerinnen und Rentner wird froh
sein, wenn sie noch ein bisschen gespart haben, um sich
vielleicht eine neue Brille kaufen oder die dritten Zähne
reparieren lassen zu können. Wenn ein Rentner verstirbt,
erbt ja wohl nicht er und zahlt Erschaftsteuer, sondern
bestenfalls seine Frau, Kinder oder Enkelkinder.
({0})
Das zur Klarstellung.
In meiner Heimatstadt Leipzig plakatiert die FDP derzeit: Kitas sanieren. - Eine berechtigte Forderung, betrachtet man den baulichen Zustand auch des Kindergartens, den meine Tochter besucht. In Leipzig reicht das
Geld hinten und vorne nicht, auch weil wir die Armutshauptstadt Sachsens sind, eine Stadt, in der Tausende
Männer und Frauen, aber auch Kinder von Hartz IV leben müssen. Deshalb wollen nun die Leipziger Stadtverordneten der FDP, der CDU und der SPD 49 Prozent der
Leipziger Stadtwerke privatisieren.
({1})
Einem Bürgerbegehren ist es
({2})
trotz der äußerst hohen Quoren in Sachsen gelungen,
dass wir am Sonntag einen Bürgerentscheid in der Stadt
haben. Leipziger Bürgerinnen und Bürger werden über
die Verscherbelung des städtischen Tafelsilbers entscheiden können.
({3})
Städte wie Leipzig haben zu wenig Geld, um ihre Aufgaben erfüllen zu können, und auch das Land Sachsen verfügt nicht über die Mittel, um diese Aufgaben übernehmen zu können.
({4})
Sie von der FDP stellen sich heute hier hin und schlagen allen Ernstes vor, der Bundestag möge mal eben auf
Einnahmen in Höhe von 4 Milliarden Euro verzichten,
({5})
die den Bundesländern über die Erbschaftsteuer zufließen; das ist die Intention Ihres Antrages. Das ist schlicht
und einfach verantwortungslos.
({6})
Zur Begründung fällt Ihnen nichts weiter ein, als auf
den internationalen Steuerwettbewerb und Länder, in
denen keine Erbschaftsteuer erhoben wird, zu verweisen.
Sie verschweigen natürlich, dass diese Länder ganz andere Steuersysteme haben und einige beim Einkommen
ordentlich zugreifen. Sie verweisen nicht auf Länder wie
die Vereinigten Staaten von Amerika, wo den öffentlichen Kassen über die Erbschaftsteuer jährlich immerhin
rund 70 Milliarden Dollar zufließen. Sie verweisen auch
nicht auf Italien, welches die Erbschaftsteuer im Jahre
2006 - man höre und staune - wieder eingeführt hat.
In Ihrem Antrag kritisieren Sie den Gesetzentwurf der
Bundesregierung und fordern letztendlich den Verzicht
auf jegliche Erbschaftsbesteuerung. Sie fordern den Verzicht auf 4 Milliarden Euro, die wir für Kindertagesstätten, Schulen und Krankenhäuser brauchen.
({7})
Auch ich habe viel am Regierungsentwurf zu kritisieren;
darüber werden wir zu gegebener Zeit sprechen. Hier
nur so viel: Das jährlich anfallende Erbvolumen wird in
den nächsten Jahren massiv ansteigen. Seriöse Schätzungen gehen von insgesamt 130 Milliarden Euro aus.
Wenn die Regierung dabei bleibt, wie es in ihrem Gesetzentwurf steht, über die Erbschaftsteuer nur 4 Milliarden Euro einnehmen zu wollen, so ist das de facto schon
eine Senkung; und das kritisieren wir.
({8})
Erbschaften werden in Deutschland immer häufiger
zu einem wesentlichen Faktor der Vermögensbildung.
Die Regierung der Großen Koalition entlässt gerade die
wirtschaftlich Leistungsfähigen immer stärker aus ihrer
sozialen Verantwortung: Senkung des Spitzensteuersatzes, Nichterhebung der Vermögensteuer und tendenzielle Absenkung der Erbschaftsteuer - das ist keine sozial gerechte Politik.
({9})
Ich muss Ihnen den Vorwurf machen, dass Sie der Öffentlichkeit einen Gesetzentwurf vorlegen, obwohl Sie
im Dunkeln stochern. Unsere Fraktion hat nach den
Auswirkungen der Reform des Erbschaftsteuer- und
Bewertungsrechts gefragt. Was haben Sie geantwortet?
Die Fragen 5 bis 12 werden zusammenhängend wie
folgt beantwortet: Zu den erfragten Werten zur
durchschnittlichen Erbschaftsteuerbelastung liegen
keine Angaben vor.
Ich frage mich, wie Sie Ihre Gesetze machen, wenn Sie
uns, dem Parlament, nicht einmal sagen können, welche
Auswirkungen dieses Gesetz hätte. Das kann doch wohl
nicht sein.
({10})
Werden wir konkret: Eine Erbschaft oder eine Schenkung ist aus Sicht des Empfängers immer ein Vermögenszuwachs. Allerdings sind die Chancen der Bürgerinnen und Bürger, in den Genuss einer Erbschaft und
damit zu Vermögen zu kommen, äußerst ungleich verteilt. Zwei Drittel der Bevölkerung über 17 Jahren verfügen in der Bundesrepublik Deutschland über kein oder
ein sehr geringes Nettovermögen. 1 Prozent der Bevölkerung verfügt allein über 20 Prozent des Vermögens.
Fasst man das etwas weiter, stellt man fest, dass 10 Prozent der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland
über 60 Prozent des Nettovermögens verfügen. Da Vermögen bekanntlich zum überwiegenden Teil in den Familien bleibt, erbten in den Jahren 2001 und 2002 knapp
10 Prozent aller Haushalte, denen eine Erbschaft zugute
kam, mehr als 250 000 Euro. Knapp 60 Prozent der
Haushalte erhielten Erbschaften von weniger als
51 000 Euro und 30 Prozent aller Haushalte weniger als
13 000 Euro. Der Volksmund sagt: Der Teufel scheißt
immer auf den größten Haufen. - Das hat nichts, aber
auch gar nichts mit Chancengleichheit zu tun.
Die Prinzipien Chancengerechtigkeit und Leistungsgerechtigkeit halten doch gerade Sie von der FDP als
Verfechter der Marktwirtschaft immer hoch. Erinnern
Sie sich zufällig noch an Walter Eucken, der gesagt hat,
dass die Erbschaftsteuer die notwendige Korrektur ist,
um die Marktwirtschaft in Gang zu halten? Er argumentierte, dass die Menschen sich nicht auf ihren großen
Erbschaften ausruhen sollen, sondern selber aktiv sein
müssten. Daraus könnte man rein theoretisch - was auch
ich nicht will - eine Erbschaftsbesteuerung in Höhe von
100 Prozent ableiten. Natürlich müsste es dann einen ordentlichen Freibetrag geben, sodass sichergestellt ist,
dass selbstgenutztes Wohneigentum in normaler Größe
verschont bleibt.
Das muss man vor dem Hintergrund betrachten, dass
die erbenden Kinder meistens nicht erst im Erbfall in den
Genuss von Vorteilen kommen, sondern bereits ganz andere Bildungschancen haben. Der Tochter oder dem
Sohn eines Millionärs ist der bauliche Zustand einer
städtischen Kindertagesstätte meistens egal; für sie gibt
es Kindermädchen oder private Einrichtungen, die top
ausgestattet und saniert sind. Nicht ohne Grund hat die
PISA-Studie 2006 erneut belegt, dass der Bildungserfolg
in Deutschland wie in kaum einem anderen Land von der
sozialen Herkunft abhängt.
In Punkto Chancengleichheit hat Deutschland noch
große Defizite abzubauen ...
So die OECD. Eine entsprechend ausgestaltete Erbschaftsteuer kann ein Mittel sein, um die Ungleichheiten
beim Vererben etwas abzubauen und mehr Generationengerechtigkeit herzustellen.
Nun einmal konkret zu den Punkten, die der FDP-Antrag enthält. Sie beklagen die angebliche Schlechterstellung der Immobilien. Das Bundesverfassungsgericht hat
uns den Auftrag gegeben, möglichst alle Vermögensarten gleich zu behandeln. Darüber jetzt zu jammern, ist
doch einfach unehrlich.
({11})
Wir sehen die Möglichkeit und die Notwendigkeit, die
Erbschaftsbesteuerung zu reformieren, und zwar so, dass
mehr Geld in die öffentlichen Kassen kommt. Unserer
Meinung nach besteht ein Potenzial, 6 bis 8 Milliarden
Euro jährlich einzunehmen.
Klipp und klar gesagt: Auch für uns als Linke ist es
wichtig, dass jeder und jede die Sicherheit hat, im Todesfall eines Angehörigen das selbstgenutzte Eigenheim
weiter nutzen zu können, ohne sich aufgrund der Erbschaftsteuer zu verschulden. Das kann man über Freibeträge sicherstellen. Es ist aber notwendig, endlich einmal
der Lebensrealität ins Auge zu sehen. Wir müssen uns
von der absoluten Privilegierung nach Verwandtschaftsgraden lösen. Es gibt nun einmal auch viele Menschen,
die zusammenleben, aber nicht die Möglichkeit haben,
zu heiraten, die nicht verwandt sind, aber eine ähnliche
Behandlung bei der Erbschaftsteuer brauchen. Ich finde
es gut, dass sich die CDU/CSU da etwas bewegt hat, zumindest was Partnerschaften angeht. Aber da gilt es weiterzudenken.
Auch beim Betriebsvermögen gibt es Möglichkeiten,
wenn man an den sachlichen Wirtschaftsgütern im Betrieb anknüpft und nicht einfach allgemein sagt: Der Betrieb soll die nächsten zehn Jahre weiterbestehen. Denn
das ist eine Überforderung durch das Steuerrecht.
Wir haben konkret diesen Vorschlag vorgelegt: Wir
müssen das Erbschaftsteuerrecht so ändern, dass mehr
soziale Gerechtigkeit in der Bundesrepublik Deutschland hergestellt wird.
Ich danke Ihnen.
({12})
Das Wort hat nun die Parlamentarische Staatssekretärin Nicolette Kressl.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lassen Sie mich zunächst in Ergänzung des
Redebeitrags von Herrn Bernhardt, der Herrn Thiele
schon auf einige falsche Bewertungen in Sachen Unternehmensbesteuerung hingewiesen hat, daran erinnern,
dass vor einigen Jahren die Anrechenbarkeit der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer eingeführt worden
ist, was zu einer deutlichen Entlastung der mittelständischen Unternehmen, die der Einkommensteuer unterliegen, geführt hat. Dies war bereits ein ganz wichtiger
Schritt. Ich finde, das hätten Sie beim Thema „Einkommensbesteuerung bzw. Unternehmensbesteuerung des
Mittelstandes“ nicht unterschlagen sollen.
({0})
Zur Sache selbst. Die Bundesregierung hat am
11. Dezember des vergangenen Jahres den Entwurf des
Gesetzes zur Neuordnung des Erbschaftsteuer- und Bewertungsrechts im Kabinett beschlossen. Derzeit liegt er
dem Bundesrat zur Stellungnahme vor. Er wird zügig in
den Bundestag eingebracht werden; Herr Bernhardt hat
das schon angesprochen. Auch ich gehe davon aus, dass
der Gesetzentwurf den Fraktionen in der nächsten Sitzungswoche zur Beratung vorliegen wird.
Ich finde es etwas unangebracht, dass manche schon
jetzt, vor der parlamentarischen Beratung dieses Gesetzentwurfes, behaupten, zu wissen, dass alles zurückgezogen werden muss und wie die Beratungen verlaufen werden.
({1})
Ich lege nämlich sehr großen Wert darauf, dass die Fraktionen im parlamentarischen Verfahren auch die Ergebnisse der Anhörungen bewerten.
Zur Zielsetzung. Die Bundesregierung hat sich zwischen zwei wichtigen Anforderungen bewegt. Zum einen war der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts
vom 7. November 2006 zur Erbschaftsteuer umzusetzen.
Wie Sie wissen, genügt das bestehende System insoweit
nicht der Verfassung, als bei den Vermögensarten bei
einheitlichem Steuersatz unterschiedliche Wertansätze
zugrunde gelegt werden. Das bedeutet, wir müssen dafür
sorgen, dass sich die Bewertung in Zukunft in allen Fällen am gemeinen Wert orientiert. Zum anderen hat sich
die Große Koalition bereits zu Beginn dieser Legislaturperiode zum Ziel gesetzt, Unternehmensnachfolgen erbschaftsteuerlich zu erleichtern. Da die detaillierte Beratung noch aussteht, will ich im Folgenden unsere
Leitlinien darlegen.
Die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, künftig
vom gemeinen Wert auszugehen, würde ohne anderweitige Veränderungen - das muss man betonen - zu einem
deutlich höheren Aufkommen führen. Dieses theoretische Mehraufkommen soll nach unserem gemeinsamen
Willen bei den Erben verbleiben, indem einerseits der
engste Familienkreis entlastet und andererseits die Generationenfolge von Betrieben begünstigt wird.
Dazu einige Details. Angehörigen, die in Steuerklasse I sind, werden künftig kräftig angehobene persönliche Freibeträge eingeräumt: 500 000 Euro für
Ehegatten, 400 000 Euro für Kinder und 200 000 Euro
für Enkel. Dies gilt, wohlgemerkt, pro Erwerber. Unser
Ziel war immer - es ist auch politisch so formuliert worden -, den Wert eines durchschnittlichen Einfamilienhauses abzudecken. Dass dieser Wert regional sehr unterschiedlich sein kann, ist in der politischen Debatte,
wie ich glaube, immer deutlich geworden.
({2})
Die entfernteren Verwandten und die Nichtverwandten, die in den Steuerklassen II oder III sind, werden, wie
Herr Bernhardt erwähnt hat, stärker belastet; das ist richtig. Ich bin aber ganz sicher, dass wir in den parlamentarischen Beratungen noch darüber diskutieren können, ob
es möglich ist, eine Differenzierung zwischen verwandten und nichtverwandten Erben vorzunehmen.
Zum Betriebsvermögen. Was das Betriebsvermögen
angeht, haben wir gerade für den Mittelstand wichtige
Erleichterungen vorgesehen. Er profitiert zunächst von
einem großzügigen Verschonungsabschlag. 15 Prozent
der Bemessungsgrundlage werden pauschal als nichtbe14766
günstigt bestimmt. Im Übrigen erfolgt eine vollständige
Freistellung. Zusätzlich ist im Gesetzentwurf vorgesehen, einen sogenannten gleitenden Abzugsbetrag in
Höhe von 150 000 Euro zu gewähren. Dies führt im Ergebnis dazu, dass Betriebsvermögen im Gesamtwert von
1 Million Euro steuerfrei gestellt wird. Bis zu einem Gesamtwert des Betriebsvermögens in Höhe von 3 Millionen Euro wird der Abzugsbetrag abgeschmolzen. Herr
Thiele, auch diesen Hinweis habe ich in Ihrer Rede vermisst. Sie haben nämlich unterstellt, dass jede Vererbung
von Unternehmen automatisch versteuert wird.
Im Gegensatz dazu muss sichergestellt sein, dass die
Verschonung von Betriebsvermögen zielgenau ausgestaltet ist; mir ist wichtig, auch das deutlich zu machen.
Diese Vorgabe entspricht nicht nur unserer politischen
Auffassung, sondern erfolgt auch - das muss hinzugefügt werden - aus dem verfassungsrechtlichen Grund,
dass Verschonungen sehr genau begründet werden müssen. Wenn man sich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts genau durchliest, sieht man nämlich sehr
deutlich: Wenn verschont wird, muss diese - ich setze
das in Anführungszeichen - „Privilegierung“ begründet
sein, zum Beispiel durch Nutzen für das Allgemeinwohl.
Deshalb hat sich die Regierung dafür entschieden, eine
Lohnsummenregelung sowie eine Behaltensfrist vorzusehen. Ich vermute, auch darüber werden wir nach der
Anhörung diskutieren. Es gilt allerdings, um das noch
einmal deutlich zu machen, der Grundsatz, dass Verschonungen gut begründet sein müssen, damit die Regelung verfassungsgemäß bleibt. Wir wollen im Parlament
einen sauberen, verfassungsfesten Gesetzentwurf verabschieden.
({3})
Auch bei der Bewertung werden wir den Besonderheiten der verschiedenen Branchen Rechnung tragen. Im
Regierungsentwurf wird kein bestimmtes Bewertungsverfahren vorgeschrieben; auf diese Weise können die
Besonderheiten der maßgeblichen Wirtschaftskreise berücksichtigt werden.
({4})
Einzelheiten sollen - das haben Sie von der FDP in Ihrem Antrag geschrieben, und das ist richtig - in einer
Rechtsverordnung geregelt werden. Ein entsprechender
Entwurf wird erstellt. Wir planen, diesen Entwurf dem
Deutschen Bundestag rechtzeitig vor Beginn seiner Beratungen zur Verfügung zu stellen.
({5})
Vorhin hat es geheißen, es gebe einen Wortbruch in
Bezug auf die Koalitionsvereinbarung.
({6})
- Nein, es ist kein Wortbruch. Sie haben entweder unterschlagen oder nicht bemerkt, dass wir zu einem anderen
System übergegangen sind.
({7})
Sie sind von einem anderen technischen Weg, von einem
Abschmelzungsmodell ausgegangen, das nur für das unternehmerische Vermögen - das sogenannte produktive
Vermögen - gilt. Gegenstände, die typischerweise der
privaten Lebensführung dienen, waren nach diesem Entwurf von der Begünstigung ausgeschlossen.
Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts haben wir politische Diskussionen darüber geführt
und uns für das vorliegende Konzept entschlossen, mit
dem wir einerseits eine sehr weit gehende und großzügige Lösung für Unternehmensübergänge bereitstellen
und andererseits die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts dadurch erfüllen, dass nicht mehr zwischen den
beiden Vermögensarten unterschieden werden muss. So
etwas hätte sicherlich zu schwierigen Debatten geführt.
({8})
Gestatten Sie mir einen wichtigen Hinweis - Steuerpolitik wird ja meist als sehr trockener Bereich angesehen -: In diesem Gesetzentwurf spiegeln sich auch gesellschaftliche Veränderungen wider. Wir erreichen mit
dem Regierungsentwurf auch für die eingetragenen Lebenspartnerschaften ein Stück mehr Gleichstellung.
({9})
Für eingetragene Lebenspartner gilt künftig der gleiche Freibetrag wie für Ehegatten. Es ist wichtig, dass der
Staat, wenn sich zwei Menschen rechtlich gegenseitig
zur Übernahme von Verantwortung bekennen, dies positiv anerkennt.
({10})
Eine Anmerkung zur Frage des Aufkommens. Das
Aufkommen der Erbschaftsteuer soll - das ist mehrfach
betont worden - dem derzeitigen Niveau von ungefähr
4 Milliarden Euro entsprechen. Die Berechnungen, bei
denen konkrete Fälle zur Erprobung herangezogen wurden, wurden - es ist wichtig, das deutlich zu machen zusammen mit den Ländern erstellt, übrigens auch mit
Ländern, in denen die FDP an der Regierung beteiligt ist.
({11})
Lassen Sie mich zusammenfassen: Die Regierung hat,
ausgehend von den vereinbarten politischen Eckpunkten, einen ausgewogenen Gesetzentwurf vorgelegt. Die
Große Koalition hat von Anfang an deutlich gemacht,
dass Erbschaften und Schenkungen in Deutschland weiterhin besteuert werden sollen. Der Deutsche Bundestag
hat dies in seiner Entschließung vom 25. Mai 2007 noch
einmal deutlich gemacht. Es ist für die Bundesregierung
selbstverständlich, sich nun konstruktiv an den Beratungen im Parlament zu beteiligen, und ich gehe davon aus,
dass dies auch für die Oppositionsfraktionen gelten wird.
Vielen Dank.
({12})
Nun hat Kollege Gerhard Schick, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte zu dem Thema Erbschaftsteuer und dem Antrag
der FDP-Fraktion drei Fragen ansprechen. Erstens. Welche Rolle hat die Erbschaftsteuer, und was heißt das für
das Aufkommen, vielleicht auch für die Frage der Zuordnung zwischen Bund und Ländern? Zweitens. Welche Bürokratielasten entstehen daraus? Drittens. Was
heißt dies in Bezug auf die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen? Frau Kressl hat diesen Punkt eben
auch angesprochen.
Wenn man sich anschaut, was in den letzten Jahren in
Deutschland passiert ist, dann ist eine Sache bemerkenswert, jedoch meines Erachtens in der gesellschaftlichen
Diskussion völlig unterbelichtet. Es ist das Faktum, dass
sich die Zahl der überschuldeten Haushalte in den letzten
15 Jahren verdoppelt hat. Es gibt also ein größeres Volumen an Erbschaften, weil es ein größeres Geldvermögen
gibt und das ist auch nicht verwunderlich, wenn man
weiß, dass Vermögenspositionen und Schulden aus ökonomischer Sicht etwas miteinander zu tun haben -, es
gibt eine große Anzahl von überschuldeten Haushalten,
übrigens nicht nur im Osten unseres Landes, sondern
auch im Westen, und zwar aus ganz unterschiedlichen
Gründen. Das heißt, wir haben eine Auseinanderentwicklung zwischen Haushalten, die Vermögen akkumulieren können, und Haushalten, die sich immer stärker
verschulden.
Es gibt eine Steuer, die versucht, hier eine Klammer
zu setzen, die Erbschaftsteuer; das ist ihre Rolle im Steuersystem. Wir in Deutschland meinen, es uns leisten zu
können, diese Steuer nicht weiterzuentwickeln und unter
den Anteilen vermögensbezogener Steuern anderer Staaten zu bleiben, obwohl wir hier ein deutliches Auseinanderklaffen haben. Ich glaube, das ist falsch.
({0})
Wir müssen auch sehen, dass es sich hierbei nicht nur
um eine personenbezogene Verteilungs- und Ausgleichswirkung handelt, also um eine Klammerwirkung, die verhindert, dass unsere Gesellschaft auseinanderfällt - ich fand das Eucken-Zitat von Frau Höll hier
sehr gut platziert -, sondern natürlich auch um eine regionale Wirkung. Wir versuchen, mit der Erbschaftsteuer sicherzustellen, dass Bildung nicht nur in einigen
sehr reichen Bundesländern im Süden unseres Landes finanziert werden kann, sondern auch in MecklenburgVorpommern, in Niedersachsen, in Brandenburg, in
Sachsen etc.
Ich finde es schon interessant, dass die Kolleginnen
und Kollegen der FDP-Fraktion sagen: Ignorieren wir
faire Bildungschancen für die Menschen in diesen Ländern; sie interessieren uns nicht. - Das geschieht vor
dem Hintergrund, dass die Studierendenzahlen in den
nächsten Jahren steigen und dass der Wissenschaftsrat
und die Kultusministerkonferenz für die nächsten Jahre
eine deutliche Steigerung der Ausgaben in diesem Bereich prognostizieren.
Ein weiterer Punkt ist besonders lustig. Hören Sie einmal genau zu, wie Sie argumentieren, und überlegen Sie
einmal, ob Sie hier auf der richtigen Spur sind. Sie argumentieren in Ihrem Antrag, dass der europäische Steuerwettbewerb dazu führt, dass unser Steueraufkommen
sinkt. Wörtlich heißt es:
Hierdurch wird das deutsche Steueraufkommen
Jahr für Jahr geschmälert.
Das könne der Deutsche Bundestag doch nicht akzeptieren.
({1})
Sie schlagen uns vor, das zu beschließen. - Nach Beschlusslage Ihrer Partei beinhaltet Ihr Vorschlag, dass
wir nicht nur einen europäischen Steuerwettbewerb haben, sondern auch noch einen deutschlandinternen Wettbewerb zwischen den Bundesländern, damit das Steueraufkommen weiter geschmälert wird. Damit schaffen Sie
die Erbschaftsteuer de facto ab. Sie schaffen damit genau die Klammer ab, die unser Land zwingend benötigt.
Das ist genau der falsche Weg.
({2})
Ich komme zum zweiten Punkt, zu den bürokratischen Belastungen. Herr Bernhardt, Sie haben gesagt,
es werde wie bei der Unternehmensteuerreform auch bei
der Erbschaftsteuerreform eine vernünftige Lösung geben. Ich möchte Sie daran erinnern, dass es bei der Unternehmensteuerreform nur aufgrund eines großen Kraftakts gelungen ist, die Bürokratielasten zu mildern. Ich
erinnere Sie an die geringwertigen Wirtschaftsgüter. Ich
hoffe, dass es uns auch bei diesem Gesetzentwurf mit
vereinten Kräften gelingt - vor allem auch mithilfe des
Drucks aus der Opposition -, dass Sie nicht weitere bürokratische Lasten aufbauen.
({3})
Steuerexperten sprechen hier von einem weltfremden
bürokratischen Monster. Ich glaube, das sollten Sie sich
zu Herzen nehmen. Ich erinnere im Zusammenhang mit
der Unternehmensteuerreform daran, dass wir schon wenige Monate nach der Verabschiedung im Jahressteuergesetz die ersten Korrekturen vornehmen mussten, weil
es nicht gut gemacht war. Ich hoffe, dass das bei der Erbschaftsteuer besser läuft.
({4})
Kleinbetriebe werden natürlich begünstigt; Sie haben von der Entlastung gesprochen. Ich glaube aber,
dass Sie sich zu Herzen nehmen müssen, dass ein 15jähriger Zeithorizont einfach zu lang ist. Die Schwankungen bei der Lohnsumme führen dazu, dass sich ein
Betrieb 15 Jahre lang Gedanken darüber machen muss,
ob er durch Veränderungen im Betrieb nicht plötzlich zu
einer Nachzahlung gezwungen wird, zum Beispiel im
Insolvenzfall. 15 Jahre sind eine sehr lange Zeit. Ich
frage Sie, ob die Entlastung dieser Betriebe aufgrund bürokratischer Lasten, verringerter Gestaltungsmöglichkeiten und der Verkomplizierung der unternehmerischen
Entscheidungen nicht sehr teuer erkauft ist. Ich glaube,
dass Sie hier in die falsche Richtung gehen und dass unser Vorschlag, höhere Freibeträge einzuführen, damit
erst gar keine Bewertung der Betriebe erfolgt, der bessere ist. Lassen Sie ihn sich noch einmal durch den Kopf
gehen.
({5})
Eines zu Frau Kressl. Die Einzelheiten der Bewertung
müssten ja eigentlich ins Gesetz. Sie haben gesagt, dass
Sie die Verordnung gleichzeitig vorlegen wollen.
({6})
Das ist ein guter Vorschlag. Eines aber ist wichtig: Der
Normenkontrollrat muss alles, auch das Bewertungsverfahren, überprüfen. Dann erst wissen wir wirklich, welche bürokratischen Lasten damit verbunden sind. Wenn
Sie das tun und wenn wir eine ehrliche Diskussion darüber führen, dann lassen wir uns darauf ein. Ich glaube
aber, dass es in der Koalition ein böses Erwachen geben
wird, weil Sie merken werden, dass die bürokratischen
Lasten immens sind.
({7})
Letztes Stichwort: Modernisierung. Frau Kressl, Sie
haben die gesellschaftliche Veränderung angesprochen. Schauen Sie sich einmal an, wie viel sich in unserem Land verändert und wie sich die Familien heute zusammensetzen. Wahlverwandtschaften spielen eine viel
größere Rolle. Gerade bei älteren Menschen gibt es häufig ein Zusammenleben ohne Trauschein. In Frankreich
wurde jetzt eine interessante Zahl veröffentlicht, die das
Land bewegt hat. 2007 war die Zahl der Kinder, die
nichtehelich geboren wurden, zum ersten Mal größer als
die Zahl der Kinder, die in Ehen hineingeboren wurden.
Ich habe mir daraufhin einmal die Zahl in Deutschland
angeschaut. Auch hier gab es in den letzen Jahren eine
deutliche Entwicklung, nämlich ein Plus von über
60 Prozent.
Ich glaube, angesichts dieser Veränderungen ist Ihre
Fixierung auf die engen Erbschaftsverhältnisse nicht
überzeugend.
({8})
Das ist ein Beispiel für die Veränderung der gesellschaftlichen Beziehungen. Hier springen Sie insgesamt zu
kurz.
Sie haben gesagt, dass Sie bei den Lebenspartnerschaften einen Schritt nach vorne gehen. Sie haben nur
die eine Seite der Medaille erwähnt. Sie haben gesagt,
dass Sie den Freibetrag erhöhen. Bei den Steuerklassen
ändert sich nichts: Hier werden die Lebenspartner nach
wie vor wie fremde Menschen behandelt.
Erlauben Sie mir an dieser Stelle eine persönliche Bemerkung. Nach meinem Kenntnisstand bin ich der einzige Abgeordnete dieses Hauses, der eine Lebenspartnerschaft eingegangen ist.
({9})
Allerdings habe ich sie nicht nach deutschem Recht gewählt, sondern nach dem Recht unseres Nachbarlandes
Frankreich, weil Homosexuelle dort nicht diskriminiert
werden.
Ich glaube, man sollte sich einmal klarmachen, wie
die Situation in Deutschland ist. Menschen in diesem
Lande, die Verantwortung füreinander übernehmen wollen, schauen mit Neid auf unsere europäischen Nachbarländer, wo es einen diskriminierungsfreien Zugang zu
diesem Recht gibt: in Spanien, in Frankreich, in den Niederlanden, in Dänemark und in Schweden.
({10})
In Deutschland aber schaffen wir es wegen einer bornierten gesellschaftlichen Diskussion und wegen des
Widerstandes der Ministerpräsidenten aus der Union in
den Ländern - mit Unterstützung der FDP - nicht, diese
Modernisierung zu erreichen. Ich fordere Sie auf: Geben
Sie sich einen Ruck und schaffen Sie es, dass hier endlich Gleichberechtigung herrscht.
Danke schön.
({11})
Ich erteile Kollegen Christian Freiherr von Stetten,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
15. Februar 2008 werden wir den von der Bundesregierung erarbeiteten Entwurf eines Gesetzes zur Erbschaftsteuerreform hier im Plenarsaal beraten. Heute, drei Wochen vor Beginn der parlamentarischen Sacharbeit, also
eigentlich zum völlig falschen Zeitpunkt,
({0})
beraten wir diesen Antrag der FDP-Fraktion. Man darf
sich die Frage stellen, was die FDP damit eigentlich erreichen will.
Ihr Antrag lautet: „Keine Steuererhöhung bei der Erbschaftsteuer - Gesetzentwurf zur Reform des Erbschaftsteuer- und Bewertungsrechts zurückziehen“. Abschaffen will die FDP die Erbschaftsteuer also scheinbar
nicht. Denn auf Ihrem Parteitag haben Sie etwas anderes
beschlossen. Auch in Ihrem Antrag ist von einer Abschaffung der Erbschaftsteuer keine Rede.
({1})
Wenn Sie an der Erbschaftsteuer festhalten wollen,
Herr Thiele, dann bleibt von Ihrem Antrag eigentlich nur
noch die Teilüberschrift „Keine Steuererhöhung bei der
Erbschaftsteuer“ übrig. Damit sind Sie - der Kollege
Otto Bernhardt hat das schon angesprochen - von dem,
was wir wollen, gar nicht weit weg. Das steht übrigens
explizit in unserem Kabinettsbeschluss, den Sie kritisieren. Das Erbschaftsteueraufkommen beträgt etwa
4 Milliarden Euro. Genau diese Summe ist Beschlusslage der Großen Koalition. Was soll also Ihr Antrag kurz
vor den Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen?
Ich schlage vor - das hat die Staatssekretärin vorhin angemahnt -: Wir warten den ordnungsgemäßen Gesetzgebungsprozess ab, bis der Regierungsbeschluss am
15. Februar das Parlament offiziell erreicht. Nach der
ersten Lesung im Parlament wird es eine Anhörung mit
den betroffenen Bürgern und Verbänden geben. Dann
können wir auch über die sachlichen Vorschläge der
FDP diskutieren. Ich sage ganz deutlich an die Adresse
des Finanzministeriums: Frau Staatssekretärin, es wird
Änderungen an diesem Gesetzentwurf geben müssen.
({2})
- Genau deswegen melden wir Änderungsbedarf an,
Herr Pronold. Bei diesem Gesetz gilt das Gleiche wie bei
allen anderen: Laut dem nach Ihrem Fraktionsvorsitzenden Peter Struck benannten Struck’schen Gesetz kommt
kein Gesetz aus dem Bundestag so heraus, wie es von
der Regierung eingebracht wurde.
({3})
Das wird schon deswegen passieren, weil die Bundesländer Änderungsanträge einbringen und beschließen
werden. Heute Morgen sind in meinem Büro 13 Änderungsanträge von unterschiedlichen Bundesländern eingegangen, übrigens auch von Bundesländern, in denen
die FDP an der Regierung beteiligt ist. Auf Landesebene
beteiligt sich die FDP konstruktiv an der Beratung des
Gesetzentwurfs.
({4})
Eine Verweigerungshaltung reicht jedenfalls nicht aus.
Die Kommission unter Roland Koch, dem Ministerpräsidenten von Hessen,
({5})
und Bundesminister Steinbrück hat sicherlich gute Arbeit geleistet. Aber die Beschlüsse der Koch/SteinbrückKommission haben für mich keinen Verfassungsrang.
Herr Spiller, Sie haben die Koch/Steinbrück-Kommission bestimmt noch nicht in unserem Grundgesetz gefunden. Dort sind der Bundestag, der Bundesrat und andere Organe als Verfassungsorgane aufgeführt.
({6})
Wir werden am 15. Februar mit der Arbeit beginnen,
über die Neuregelung beraten und dann Beschlüsse fassen; denn wir sind das zuständige Verfassungsorgan. Daran darf kein Zweifel bestehen.
({7})
Herr Thiele, wir werden in den Beratungen Ihre
Punkte aufgreifen. Ich bin völlig Ihrer Meinung: Eine
15-jährige Haltefrist ist nicht akzeptabel. Einen entsprechenden Änderungsantrag werden wir in die Beratungen einbringen. Ich sage unserem Koalitionspartner
ganz klar: Das steht nicht in unserem Koalitionsvertrag.
({8})
Wenn wir unterschiedlicher Auffassung sind, müssen
wir den Koalitionsvertrag zurate ziehen, Herr Pronold.
({9})
Ich weiß, dass der Urteilsspruch des Bundesverfassungsgerichts unsere Arbeit nicht gerade vereinfacht.
Aber alle am Gesetzgebungsprozess Beteiligten sollten
sich daran erinnern, wie die Diskussion über eine Reform der Erbschaftsteuer gestartet ist. Es war der
17. März 2005, also vor fast genau drei Jahren, als der
damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder von der
SPD, der damalige Vizekanzler Joschka Fischer vom
Bündnis 90/Die Grünen, die CDU-Vorsitzende Angela
Merkel und der damalige CSU-Vorsitzende Edmund
Stoiber in einer gemeinsamen Sitzung zum Jobgipfel
eine Änderung der Erbschaftsteuergesetzgebung
beschlossen haben. Es wurde beschlossen, die Unternehmensübertragung zu erleichtern und das Erbschaftsteuerrecht entsprechend zu ändern. Danach soll die Erbschaftsteuerschuld für jedes Jahr der Betriebsfortführung
gestundet und das Betriebsvermögen völlig erbschaftsteuerfrei auf die nächste Generation übertragen werden,
wenn der Betrieb zehn Jahre fortgeführt wird. Das ist die
Ausgangslage unserer Beratungen. Darüber bestand ein
großer, parteiübergreifender Konsens. Herr Thiele, obwohl die FDP bei den damaligen Gesprächen im Kanzleramt nicht dabei war, unterstützte sie - so habe ich
zumindest Ihren Parteivorsitzenden Westerwelle verstanden - diese Initiative. Wir wollten das gemeinsam
im Bundestag verabschieden.
({10})
Dieses Ziel sollten wir bei den Beratungen nicht aus
den Augen verlieren.
({11})
Die Bundesregierung hat den Betroffenen entsprechende
Zusagen gegeben. Wir werden es nicht zulassen, dass
Familienunternehmen ins benachbarte erbschaftsteuerfreie Ausland getrieben werden.
({12})
Das sind Leistungsträger unserer Gesellschaft, die wir in
unserem Land behalten wollen.
({13})
Zum Abschluss darf ich Ihnen als Baden-Württemberger noch sagen: Es gibt sicherlich kein Land in
Deutschland, das über diese einmalige Struktur von großen, mittleren und kleinen Familienunternehmen verfügt. Die außergewöhnlich positive Entwicklung, die
Baden-Württemberg in den letzten Jahrzehnten genommen hat, hat sicherlich mit diesen erfolgreich geführten
Familienbetrieben und ihren engagierten Mitarbeitern zu
tun. Unser Land wird nicht mehr wiederzuerkennen sein,
wenn eine ideologisch geprägte Erbschaftsteuerreform,
wie sie gerade wieder von den Linken vorgetragen
wurde, die Abwanderung dieser Familienbetriebe ins
Ausland zur Folge hat. Das werden wir nicht zulassen.
Ich freue mich auf die gemeinsame Diskussion in den
nächsten Wochen und Monaten im Ausschuss und bin
mir sicher, dass wir zur Mitte des Jahres ein vernünftiges
Erbschaftsteuergesetz vorlegen werden, mit dem den Interessen der Familienunternehmen Rechnung getragen
wird.
Herzlichen Dank.
({14})
Das Wort hat nun Kollege Hermann Otto Solms,
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich will in der Kürze der Zeit noch auf einige
Fakten hinweisen.
Zunächst einmal, Herr Kollege Schick, haben wir
nicht die Abschaffung der Erbschaftsteuer gefordert,
sondern wir haben gefordert, dass der Gesetzentwurf des
Kabinetts zurückgenommen wird.
({0})
Dass wir darüber heute diskutieren, liegt daran, dass das
Kabinett im Dezember darüber beschlossen hat. Es war
natürlich klar, dass wir möglichst zeitnah die Debatte
dazu führen wollen. Es ist auffallend, dass die Koalitionsfraktionen den Kabinettsbeschluss bislang nicht
übernommen haben.
({1})
Deswegen wollen wir als Opposition in diese Diskussion
eingreifen.
Das Zweite, was ich sagen will: Wir halten uns besser
an die Fakten.
({2})
In den letzten zehn Jahren betrug das Erbschaftsteueraufkommen im Schnitt 3,2 Milliarden Euro. Sie haben
4 Milliarden Euro beschlossen, ohne zu wissen, wie die
Situation im nächsten Jahr überhaupt sein wird.
({3})
Deswegen bedeutet dieser Beschluss eine Steuererhöhung.
({4})
- Lassen Sie mich doch bitte ausreden; ich habe nur wenig Zeit.
({5})
In Ihrem Koalitionsvertrag haben Sie beschlossen,
dass die Erbschaftsteuer ganz entfallen soll, wenn das
Unternehmen nach der Übergabe mindestens zehn Jahre
weitergeführt wird. Davon ist das Kabinett jetzt in zwei
wesentlichen Punkten abgewichen: zum einen 15 Jahre
statt 10 Jahre Haltefrist, zum anderen nicht 100 Prozent,
sondern nur 85 Prozent. Wenn Sie jetzt davon ausgehen,
dass die Bewertung des Betriebsvermögens sich etwa
vervierfachen wird, dann heißt das, dass die Erbschaft
im Vergleich zu früher immer noch zu 60 Prozent besteuert wird.
({6})
Für die Betroffenen klingt das jedenfalls so, als hätten
Sie ihnen etwas Falsches versprochen. Dieses Versprechen geht noch auf die Kanzlerschaft von Gerhard
Schröder zurück. Die Vereinbarung ist damals auf dem
Jobgipfel getroffen worden, und Sie haben sie übernommen.
Es ist wichtig, darauf hinzuweisen; denn die älteren
Unternehmer, gerade die Mittelständler, sind dabei, ihren
Nachlass zu regeln. Sie müssen wissen, woran sie sind.
Zweieinhalb Jahre sind sie am Nasenring durch die
Arena geführt worden und wissen nicht, wie sie ihren
Nachlass regeln sollen.
({7})
Das Gleiche gilt für die Notare, die unsicher sind und bis
heute nicht wissen, was sie machen sollen, und jetzt
fürchten, dass sie hinter die Fichte geführt werden sollen.
({8})
Lassen Sie mich noch etwas dazu sagen, warum wir
auf unserem Parteitag beschlossen haben, daraus ein
Landesrecht zu machen. Die Erbschaftsteuer ist eine
Landessteuer.
({9})
Das wissen auch Sie, Herr Schick. In einem Föderalstaat
ist es richtig, dass man die Gebietskörperschaften bei
Einnahmen und Ausgaben so trennt, dass wir dem Verfassungsauftrag, dass das Demokratieprinzip zur Wirkung kommt, Rechnung tragen können. Die Bürger, die
Wähler können doch nur entscheiden, wenn sie wissen,
wer wofür verantwortlich ist.
({10})
Dass die Landesfinanzminister das nicht wollen, ist klar.
Sie wollen sich hinter dem Bundestag verstecken, aber
kassieren. Deswegen stimmen auch die Berechnungen,
denen die Landesfinanzminister zugestimmt haben,
nicht, weil die natürlich Kasse machen wollen.
({11})
Das liegt aber in deren Verantwortung. Sie sollen selbst
entscheiden, wie hoch die Erbschaftsteuer sein soll.
Dass das funktioniert, zeigt das Beispiel Schweiz, wo
es sich um eine Kantonalsteuer handelt. Es gibt Kantone,
die keine Erbschaftsteuer erheben, und es gibt Kantone,
die eine Erbschaftsteuer erheben, und zwar jeweils in
unterschiedlicher Höhe und in unterschiedlicher Art und
Weise. Wenn man es so machen würde, hätte man einen
Wettbewerbsföderalismus, der dem ganzen Land nur gut
täte.
Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung machen.
Was ist die Wirkung der Erbschaftsteuer? Mit der Erbschaftsteuer wird das Prinzip der Nachhaltigkeit, das ja
die Grünen immer im Munde führen, beschädigt. Denn
die Menschen, die Vorsorge betreiben, sparen, auf Konsum verzichten und für sich, ihre Kinder und Enkel etwas aufbauen,
({12})
werden bestraft. Aber diejenigen, die das Geld ausgeben,
verschwenden
({13})
und sich zum Schluss darauf verlassen, der Staat werde
im Alter schon für sie sorgen, werden sozusagen belohnt.
({14})
Wenn Sie das Prinzip der Nachhaltigkeit, das gesellschaftspolitisch von größter Relevanz ist, nicht strapazieren wollen, dann müssen Sie die Erbschaftsteuer so
gestalten, dass sie maßvoll ist, möglichst wenig Unterschiede macht und nur wenige trifft. Dann brauchten sie
auch weniger Freibeträge mit niedrigen Steuersätzen.
Damit würden Sie dieses Prinzip erhalten.
(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Dann legen Sie doch einen solchen Vorschlag vor!
Sie hätten dann auch nicht das Problem, das heute besteht, nämlich dass einige sehr hoch - und das auch noch
in Abhängigkeit von den Verwandtschaftsverhältnissen und andere gar nicht besteuert werden.
Ich befürchte, dass diese Fehlentwicklung noch weiter geht, als sie sich schon bisher gezeigt hat, wenn Sie
diesem Gesetzentwurf im Großen und Ganzen folgen.
({15})
Das Wort hat nun Florian Pronold, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Solms, das, was Sie hier als Bild zeichnen, ist eine Verzerrung der Wirklichkeit. Wir haben einen Entwurf für die Erbschaftsteuer vorgelegt, nach dem
der Freibetrag zwischen 400 000 und 500 000 Euro bei
Kindern und Ehepartnern liegt. In der Regel vererben
zwei Elternteile. Das bedeutet: Für ein Kind beträgt der
Freibetrag 800 000 Euro. Wenn dieser Betrag angespart
wird, kann er ohne die Zahlung auch nur eines Cents
Erbschaftsteuer vererbt werden.
Schauen Sie sich bitte einmal die Realität in diesem
Land an, wie viele Menschen es schaffen, in ihrem Leben 800 000 Euro pro Kind auf die hohe Kante zu legen.
Das sind nicht die Kleinsparerinnen und Kleinsparer, die
Sie eben für Ihren Klassenkampf von oben in die Verantwortung nehmen wollten.
({0})
Die FDP führt in jeder politischen Debatte das
Schwert des Bürokratieabbaus. Jetzt legt sie aber einen
Vorschlag vor, der dem widerspricht. Dabei würde sie
die Erbschaftsteuer genauso gerne abschaffen wie Herr
von Stetten aus Baden-Württemberg. Er sagt es aber wenigstens offen, wenn auch nicht heute. Die FDP traut
sich aber nicht, ehrlich zu sein, sondern sagt: Wir wollen
einen Wettbewerbsföderalismus in dieser Frage. Jedes
Land soll selber festlegen, ob und wie viel Erbschaftsteuer es überhaupt erheben will.
Jetzt haben wir ein Riesenproblem. Denn das Eigentum von Menschen in Deutschland beschränkt sich nicht
auf ein Bundesland. Daraus folgt: Wir brauchten
144 Doppelbesteuerungsabkommen zwischen den einzelnen Ländern,
({1})
um simple Erbfälle regeln zu können. Einen solchen Bürokratieaufbau würde ich dem ansonsten von Ihnen immer gelobten Normenkontrollrat vorlegen.
({2})
- Natürlich, es sei denn, die Erbschaftsteuer würde komplett abgeschafft. Aber das wollen Sie angeblich nicht.
Sie müssen schon wissen, was Sie eigentlich wollen.
Herr Thiele, Herr Bernhardt hat vorhin deutlich gemacht, dass auch zukünftig 90 Prozent der Erbfälle,
wenn nicht sogar mehr, nicht der Besteuerung unterliegen werden. Wir haben wie vereinbart eine Regelung für
den Mittelstand getroffen.
In der Koalitionsvereinbarung steht übrigens noch ein
kaum zitierter Teilaspekt: Es ist ein Abschmelzmodell
im Lichte des Bundesverfassungsgerichtsurteils umzusetzen. Es ist von Nicolette Kressl angesprochen worden, dass wir - wir kommen jetzt zur Geschichte dieses
Entwurfs - bereits ein Abschmelzmodell hätten,
({3})
über zehn Jahre mit der kompletten Abschmelzung.
Wir saßen beim Jobgipfel zusammen. Wir waren uns
sogar bereits einig. Damit wäre eine komplette Abschmelzung erfolgt.
({4})
- Falsch. Fragen Sie den Herrn Bernhardt, der saß mit
dabei.
({5})
Er kann Ihnen sagen, warum es gescheitert ist. Erstens. Wir haben dort die Arbeitsplatzklausel vereinbart.
Es war Herr Glos, der das gestoppt hat - so viel zur
Wahrheit. Zweitens. Wir haben dort zwischen produktivem und unproduktivem Vermögen getrennt.
({6})
Dann kam überwiegend aus der Union die Kritik, dass
man das nicht machen kann. Nun haben wir eine Regelung, und deswegen ist es keine Abweichung.
({7})
Der Professor Crezelius hat seinerzeit behauptet: Die
damals so gelobte Regelung mit der kompletten Abschmelzung, 100 Prozent, aber nur bei produktivem Vermögen, führt dazu, dass viele Unternehmen steuerlich
stärker belastet werden als ohne die 100-prozentige Entlastung, weil es eben auch sogenanntes nichtproduktives
Vermögen - Beispiel: Pachtflächen in der Landwirtschaft - gibt. - Deswegen haben wir eine Regelung getroffen, die auch diesen wirtschaftlichen Gegebenheiten
in den Unternehmen Rechnung trägt
({8})
und die 85 Prozent der eigentlichen Steuerschuld abschmelzen kann.
({9})
Darin ist auch noch sogenanntes unproduktives Vermögen enthalten, das sonst komplett der Besteuerung unterworfen wird. Das ist eine wirklich mittelstandsfreundliche und gute Regelung.
({10})
Ich darf Sie daran erinnern, was der Ausgangspunkt
der Debatte war: Wir wollten etwas für Familienunternehmen tun, die den Betrieb fortführen. Wir wollten
nichts für diejenigen tun, die einen Betrieb erben, ihn
möglichst schnell weiterverkaufen, um dann steuerbegünstigt das Erbe zu verjubeln.
Wenn wir Betriebsvermögen begünstigen, gebieten es
der politische Sachverstand wie auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, an die hohe Privilegierung des
Mittelstands und der Landwirtschaft die Bedingung zu
knüpfen, dass der Betrieb fortgeführt wird und die Arbeitsplätze erhalten werden. Das ist für uns als Sozialdemokraten das A und O. Die Gemeinwohlverpflichtung
dieser Eigentumsrechte ist so stark ausgeprägt, dass wir
das Vermögen im Erbfall bei der Besteuerung besserstellen als andere Vermögensarten. Nur mit dieser Kopplung
wird das verfassungsrechtlich halten.
Natürlich kommt es im Laufe eines Gesetzgebungsverfahrens - Herr von Stetten, wenn Sie nicht telefonieren würden, könnten Sie hier zuhören - zu Änderungsanträgen.
({11})
Ich habe von der Länderseite heute einen ganzen Berg
Änderungsanträge erhalten.
({12})
- Schön. - Über diese Änderungsanträge können wir reden.
({13})
Ich habe überhaupt kein Problem damit. Nur, Sie haben
hier mit beschlossen: 4 Milliarden Euro Aufkommen.
Wenn man dann einen Änderungsantrag einbringt, der
Geld kostet, muss man zum Ausgleich einen anderen
einbringen, der wieder Geld einbringt.
({14})
Man kann draußen nicht immer nur etwas verkünden,
was den Staat Geld kostet, den Leuten also etwas bringt,
um dann zu sagen: Aber die Sozis sind dafür zuständig,
dass das Geld an anderer Stelle wieder hereinkommt.
({15})
Das kann nicht die Arbeitsteilung in der Großen Koalition sein.
Ich bin wirklich überrascht, Herr von Stetten, dass Sie
so wenig Zutrauen zum hessischen Ministerpräsidenten
Koch haben. Sie haben in Ihrem Redebeitrag eine Wahlempfehlung für Hessen gegeben, die ich von CDU-Seite
nicht erwartet hätte. Eine so große Übereinstimmung
zwischen uns beiden hätte ich nie vermutet. Auch ich
finde, dass Andrea Ypsilanti eine bessere Erbschaftsteuerreform aushandeln würde. Am Sonntag ist eine gute
Gelegenheit, im Hinblick auf eventuelle Nachgefechte in
dieser Frage dafür zu sorgen, dass sie die Möglichkeit
dazu erhält. Wenn aus der CDU entsprechende Unterstützung kommt, indem man Herrn Koch kritisiert,
({16})
dann überrascht und freut mich das.
({17})
Wir haben - Herr Schick, darauf will ich gerne eingehen - eine ganze Menge Aspekte, die Sie angesprochen
haben, in dem Verfahren behandelt, zum Beispiel auch
Bürokratie. Das Abschmelzmodell ist an sich bürokratisch, weil man 10 oder jetzt 15 Jahre lang
({18})
immer wieder überprüfen muss, ob der Betrieb fortgeführt wird. Wer auf ein solches Modell setzt, der nimmt
einen Bürokratieaufwuchs bewusst in Kauf. Gerade wir
als SPD waren übrigens in den Debatten schon weiter
und hätten uns auch andere Modelle vorstellen können,
die einfacher gewesen wären und diesen Bürokratieaufwuchs nicht gebracht hätten.
Aber in der Frage des Bewertungsrechtes, die Sie
auch angesprochen haben, haben wir uns auf Maßstäbe
geeinigt, die ohne große zusätzliche Bürokratie herangezogen werden können. Maßstab bei den Grundstücken
sollen die Vergleichspreise sein. Wir haben einen riesigen Grundstücksmarkt, sodass eine ganze Menge von
Vergleichswerten vorliegt, die man heranziehen kann,
ohne Gutachter oder andere groß beschäftigen zu müssen. Beim Betriebsvermögen haben wir uns darauf geeinigt, die in der Branche üblichen Verfahren heranzuziehen. Bei einem Betriebsübergang muss das Vermögen
ohnehin ermittelt werden. Es entsteht also kein zusätzlicher Aufwand für die Bewertung im Rahmen der Schenkung- bzw. Erbschaftsteuer. Das neue Bewertungsrecht
soll also zu einem Bürokratieabbau führen.
Letzter Punkt. Ich bin wirklich stolz darauf, dass es
uns mit dem Regierungsentwurf gelungen ist, die gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften endlich de
facto den Ehen gleichzustellen.
({19})
Das ist ein großer Erfolg. Herr Schick, ich verstehe, dass
Sie es schön fänden - auch ich habe dafür gekämpft -,
wenn man es geschafft hätte, von der Steuerklasse III auf
die Steuerklasse I umzustellen. Aber ich bitte, zu registrieren, dass es wirklich kein kleiner, sondern ein Riesenschritt ist, wenn der Freibetrag von 10 200 Euro jetzt
auf 500 000 Euro erhöht wird und der Versorgungsfreibetrag von 400 000 Euro im Bürgerlichen Gesetzbuch
hinzukommt. Im Ergebnis werden dann 95 Prozent der
Lebenspartnerschaften genauso wie Ehen behandelt werden. 95 Prozent werden keine Erbschaftsteuer zahlen.
Das ist gut so, weil die Lebenspartner füreinander Verantwortung übernehmen. Wer Pflichten hat, der soll auch
Rechte haben.
({20})
Ich gebe zu, es wäre schön gewesen, wenn wir uns
auch auf eine Änderung der Steuerklasse hätten einigen
können. Aber ich glaube, das ist nur noch eine Frage der
Zeit. Moderne Entwicklungen setzen sich in den Ansichten politischer Gruppierungen unterschiedlich schnell
durch. Aber die Zeichen der Zeit sind eindeutig. Die
Möglichkeit zur Änderung der Steuerklasse wird noch
kommen. Ich bitte aber darum, den bereits jetzt erreichten großen Erfolg nicht kleinzureden, nur weil man zugegebenermaßen noch einen - kleinen - Pferdefuß findet.
Sie haben es angesprochen: Wir Sozialdemokraten
hätten gern deutlich mehr Erbschaftsteuer,
({21})
weil wir damit Bildung und Forschung sowie Kinderbetreuung in den Ländern finanzieren wollen. Es hätte
durchaus Möglichkeiten dazu gegeben. Die Union war
dazu nicht bereit. Viele wollten sogar gar nichts. Nun haben wir uns auf diesen Kompromiss geeinigt. Die Eckpunkte, die wir versprochen und die Sie hier im Bundestag mitbeschlossen haben, haben wir sehr gut umgesetzt.
Die werden wir auch so vor der Sommerpause ins Bundesgesetzblatt bringen.
Herzlichen Dank.
({22})
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kollegen Michael Fuchs, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Pronold, vieles von dem, was Sie gesagt haben, findet unsere Zustimmung; wir haben das
Ganze ja gemeinsam vereinbart. Aber wir wollen auch
die Dinge herausstellen, bei denen wir deutlich unterschiedlicher Meinung sind. Sie wollten bei dem
Abschmelzmodell unbedingt bei 30 Prozent und nicht
bei 15 Prozent landen. Gott sei Dank hat sich die Union
hier durchgesetzt; denn das ist der richtige Weg.
({0})
Es ist auch richtig, dass wir festgelegt haben, dass diese
15 Prozent die Diskussion über produktive und unproduktive Vermögen überflüssig machen; denn das wäre
Bürokratie im Quadrat gewesen.
({1})
Wir wissen auch, wie so etwas abläuft. Es wäre äußerst
schwierig gewesen, hier klar zu differenzieren. Das ist
der richtige Weg; den sollten wir weitergehen.
({2})
Ich erlaube mir eine kurze Bemerkung zu Ihren Äußerungen zum Kollegen Koch aus Hessen: Hier halte ich
es, Herr Pronold, doch lieber mit Ihrem Kollegen, dem
früheren Bundeswirtschaftsminister Clement, der uns
ganz klare Hinweise gegeben hat, was wir am Sonntag
tun sollten. Das gefällt mir schon besser. Nehmen Sie es
mir bitte nicht übel, dass ich das so sehen muss.
({3})
Wenn ich nun noch etwas zur Sache sagen darf, dann
fällt mir als Erstes das Geburtstagskind von gestern ein,
Herr Pronold. Ich möchte ihm auch nachträglich von
dieser Stelle aus gratulieren. Peter Struck hat ja das
Struck’sche Gesetz in dieses Hohe Haus eingeführt - so
wollen wir es auch bei der Erbschaftsteuerreform halten -:
Kein Reformentwurf ist so in den Deutschen Bundestag
hineingegangen, wie er herauskommt. Wir haben eben
noch eine Menge zu verändern.
Hier halte ich es auch mit meinem lieben Kollegen
Ramsauer, der gesagt hat: Dieses Reformpaket ist ein
Rohling, und nun wollen wir diesen Rohling schleifen
({4})
und in die Richtung bringen, dass wir ein vernünftiges
Gesetz machen, das der Wirklichkeit und vor allem der
Situation der Familienbetriebe gerecht wird. Es muss
unsere Aufgabe sein, die Unternehmen, denen wir helfen
wollen, nämlich gerade den deutschen Familienunternehmen, möglichst weitgehend steuerfrei zu stellen;
denn sie belassen die Arbeitsplätze in Deutschland und
wandern nicht so schnell ab. Viele von ihnen haben „lebenslänglich Deutschland“. Unsere Aufgabe besteht darin, dafür zu sorgen, dass deren Arbeitsplätze in
Deutschland erhalten bleiben.
({5})
Durch das Bundesverfassungsgericht sind wir in einer
relativ schwierigen Situation, weil es uns vorgegeben
hat, eine Gleichstellung hinzubekommen und eine klare
Begründung vorzulegen, warum wir die Unternehmen
weitgehend von der Erbschaftsteuer freistellen wollen.
Aber ich denke, dass wir hier auf dem richtigen Wege
sind.
({6})
Für total falsch halte ich die Haltefrist von 15 Jahren.
Ich bin selber Unternehmer gewesen; ich sage Ihnen:
Das muss geändert werden.
({7})
Ich will das begründen. Wir haben noch zwei Jahre vorher eine Haltefrist; insgesamt geht es also um 17 Jahre.
Das sind, auf Unternehmensebene gerechnet, zwei Generationen. Es muss möglich sein, in einer so langen
Frist etwas mehr und deutlicher zu verändern.
Falsch ist auch, dass in der letzten Verhandlungsrunde
die Pro-rata-temporis-Abschmelzmethode herausgenommen wurde. Es ist angebracht, dass man, wenn jemand
beispielsweise acht oder neun Jahre sein Unternehmen
weitergeführt hat, dies dann aber etwa aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr kann, ihm entsprechend
80 Prozent oder 90 Prozent erlässt.
({8})
Es kann nicht angehen, dass wir jemanden zwingen, über
zehn Jahre durchzuhalten, wenn er es vielleicht physisch
nicht mehr kann. In meinen Augen ist es nicht gerecht,
dass er nach neun Jahren die volle Erbschaftsteuer zahlen muss, wenn er das letzte Jahr nicht mehr durchhält.
Dies kann nicht angehen.
In dem anstehenden Verfahren ist es unsere Aufgabe
- ich lade alle Kolleginnen und Kollegen dazu ein -,
auch darüber nachzudenken, wie wir den Nachweis des
Unternehmenserhalts regeln. Wie es organisiert werden soll, die 70 Prozent Personalkosten zu indexieren,
weiß ich nicht. Dafür müssen wir noch eine vernünftige,
praktikable und bürokratiearme Regelung finden; der
Normenkontrollrat hat uns zwischenzeitlich ohnehin
schon ins Stammbuch geschrieben, dass hier noch Veränderungen vorgenommen werden müssen.
Auf jeden Fall gehört für mich hundertprozentig dazu,
dass wir hier die Verordnung zur Bewertung diskutieren
können.
({9})
Es muss für uns klar sein, dass wir, bevor wir über ein
solches Gesetz entscheiden, wissen, wie die Verordnung
aussieht, mit der die einzelnen Unternehmensteile bewertet werden.
({10})
Darauf sollten wir gemeinsam hinwirken.
({11})
Darin sind wir uns sicherlich einig. Ich bitte die Staatssekretärin, uns den Verordnungsentwurf so bald wie
möglich zuzuleiten, damit wir ihn diskutieren oder die
entsprechenden Regelungen sogar noch in das Gesetz
einbauen können. Ich halte das für sinnvoll.
({12})
Kollege Fuchs, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Thiele?
Lieber Herr Kollege, Sie ermöglichen mir eine längere Redezeit. Das ist schön.
Das ist nicht primär meine Absicht. Ich habe eine
Frage an Sie, Herr Kollege Fuchs: Wenn die Erbschaftsteuer auf dem Bewertungsrecht aufbaut, dann wäre es
das Selbstverständlichste von der Welt, dies wie bisher
in einem Gesetz zu regeln statt in einer Verordnung.
Denn unabhängig davon, wie die Verordnung inhaltlich
ausgestaltet wird, gilt, dass der Bundestag nicht an einer
Änderung der Verordnung beteiligt werden muss. Da es
aber um eine elementare Frage für die Bemessungsgrundlage der Erbschaftsteuer geht, halte ich es für richtig, von vornherein eine entsprechende gesetzliche Regelung vorzusehen. Denn nur dann ist gewährleistet,
dass Änderungen nur vom Gesetzgeber vorgenommen
werden können. Denn die Gesetzgebungskompetenz
liegt nicht bei irgendeiner Verwaltung, sondern beim
Deutschen Bundestag.
({0})
Verehrter Herr Kollege, manchmal hilft es, zuzuhören. Ich habe eben deutlich gemacht, dass wir das eventuell in das Gesetz aufnehmen,
({0})
um zu einer klaren Regelung zu kommen, über die wir
jederzeit die parlamentarische Kontrolle ausüben. Es tut
mir leid, wenn Sie das nicht mitbekommen haben, weil
Sie sich mit dem geschätzten Kollegen Solms ausgetauscht haben.
({1})
Ich möchte noch zwei weitere Punkte anführen. Vor
kurzem habe ich dem Kollegen Steinbrück einen Brief
geschrieben, verehrte Frau Staatssekretärin, in dem ich
ihn gebeten habe, mir mitzuteilen, welche höheren Steuereinnahmen er aus der Kündigung des Doppelbesteuerungsabkommens mit Österreich erwartet. Ich warte
noch auf eine Antwort. Ich habe ihm meinen Brief schon
vor vier Wochen geschickt; ich sollte vielleicht nachfragen, ob er in dem großen Haus verloren gegangen ist. Ich
verspreche mir von Herrn Steinbrücks Maßnahme zusätzliche Einnahmen, Herr Pronold, die wir dann in anderen Bereichen einsetzen können, um die Steuersätze
etwas zu korrigieren.
({2})
Denn wenn der Kollege Steinbrück das Doppelbesteuerungsabkommen mit Österreich kündigt - das kommt
fast einer Kriegserklärung gleich -, dann müssen wir davon ausgehen, dass er sich davon hohe Einnahmen verspricht. Aber meines Wissens sind diese Einnahmen bisher nicht in das Aufkommen von 4 Milliarden Euro
eingerechnet. Das heißt, wir erhalten höhere Einnahmen,
die wir dann beispielsweise dafür verwenden können,
um zwischen den Steuerklassen II und III zu differenzieren und Korrekturen an den Steuersätzen vorzunehmen,
was ich für richtig halte.
Lassen Sie mich zum Abschluss feststellen: Es muss
unser Ziel sein, die mittelständischen Unternehmen weitestgehend von der Erbschaftsteuer freizustellen. Dadurch können Arbeitsplätze in Deutschland gesichert
werden, und wir können dafür sorgen, dass die Gemeinwohlverpflichtung, durch die diese Arbeitsplätze in
Deutschland erhalten bleiben, auch belohnt wird. Das
war unsere gemeinsame Absprache, die im Koalitionsvertrag festgehalten ist. Dieser gemeinsamen Absprache
wollen wir nachkommen. Das werden wir auch verwirklichen.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7765 zur federführenden Beratung an
den Finanzausschuss und zur Mitberatung an den Aus-
schuss für Wirtschaft und Technologie vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a bis 21 e auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Vierten Gesetzes zur Änderung des Gentechnikgesetzes
- Drucksache 16/6814 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Ersten Gesetzes zur Änderung des EG-Gentechnik-Durchführungsgesetzes
- Drucksache 16/6557 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Christel Happach-Kasan, HansMichael Goldmann, Dr. Edmund Peter Geisen,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
FDP eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes
zur Änderung des Gentechnikgesetzes
- Drucksache 16/4143 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
- Drucksache 16/7868 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Bleser
Dr. Christel Happach-Kasan
Ulrike Höfken
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({1}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken,
Cornelia Behm, Nicole Maisch, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Schutz von Mensch, Umwelt und gentechnik-
freier Produktion im Gentechnikrecht bewah-
ren
- Drucksachen 16/6943, 16/7868 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Bleser
Dr. Christel Happach-Kasan
Ulrike Höfken
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({2}) zu
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken,
Bärbel Höhn, Cornelia Behm und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einfuhrverbot für Produkte aus dem gentech-
nisch veränderten Mais MON863 anordnen
- Drucksachen 16/4905, 16/5948 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Max Lehmer
Dr. Christel Happach-Kasan
Ulrike Höfken
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({3}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken,
Cornelia Behm, Nicole Maisch, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Kennzeichnung gentechnikfreier Fütterung
bei tierischen Produkten ermöglichen
- Drucksachen 16/6944, 16/7283 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Max Lehmer
Dr. Christel Happach-Kasan
Ulrike Höfken
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Cornelia Behm, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einfuhrverbot für den gentechnisch veränderten Mais MON810 anordnen und den Verkauf
von MON810-Saatgut stoppen
- Drucksache 16/7835 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({4})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Gentechnikgesetzes liegt ein Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister Horst Seehofer das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal freue ich mich, dass wir nach langer und sorgfältiger Diskussion heute endlich klare Regeln für die Entwicklung und Sicherheit der Grünen
Gentechnik in Deutschland beschließen werden. Ich
denke, dass die Regierungskoalition damit ein wichtiges
Signal setzt, wie man verantwortungsvoll - ohne Angstmache auf der einen Seite oder Populismus auf der anderen Seite - mit der Grünen Gentechnik umgehen kann.
({0})
Die Grüne Gentechnik ist bekanntlich eine noch sehr
junge Technologie. Sie ist in vielen Bereichen der Welt
etabliert. Bei uns in Europa bzw. in Deutschland findet
die Anwendung in eher bescheidenem Maße statt. Damit
man die Dinge, die sicherlich in der nächsten Stunde diskutiert werden, richtig einordnen kann, muss man darauf
hinweisen, dass es im Moment in Deutschland ausschließlich um die Nutzung von Genmais geht und dass
die Fläche, die für den Anbau von Genmais in Deutschland zurzeit genutzt wird, deutlich unter 1 Prozent liegt.
Wie bei jeder jungen Technologie gibt es auch hier
viele unerforschte Fragen. Die Aussage, es sei alles
schon erforscht, ist so nicht zutreffend. Deshalb ist es der
Wille der Koalition und auch der Regierung, dass wir Ja
zur Forschung vor allem in Deutschland sagen.
({1})
Das betrifft die Sicherheitsforschung, um vor allem auch
langfristige Entwicklungen zu erkennen. Das betrifft
aber auch die Entwicklungsforschung, zum Beispiel für
die nächste Generation von möglichen Nutzungen, etwa
bei Energiepflanzen.
Wir wollen die Forschung, und wir wollen sie hier in
Deutschland. Wir wollen nicht, dass uns Länder wie
China oder Indien Nachhilfestunden in der Grünen Gentechnik geben, weil die Forschung eben nicht hier, sondern im Ausland betrieben wird. Ein Land, das so wie
wir in der Wissensgesellschaft lebt und hoch entwickelt
ist, darf sich nicht künstlich unwissend stellen. Deshalb
möchte ich hier noch einmal ein eindeutiges Bekenntnis
zur Forschung formulieren. Dabei steht auch in der Forschung das Vorsorgeprinzip, also der Schutz von Mensch
und Umwelt, an vorderster Stelle. Damit machen wir
deutlich, dass es nicht um einen blinden Fortschritt, sondern immer um einen ethisch verantwortlichen Fortschritt geht.
Ich stelle Wissenschaftlern in Deutschland, ob im öffentlichen Dienst, in Universitäten oder in der Wirtschaft
beschäftigt, immer die Frage: Wo können Sie in Europa
auf diesem Feld besser als in der Bundesrepublik
Deutschland forschen? Nennen Sie mir bitte ein einziges
Projekt, das Sie in Deutschland wegen der rechtlichen
Rahmenbedingungen, die wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sogar noch verbessern, nicht verwirklichen
können. - Ich muss Ihnen sagen: Da herrscht Fehlanzeige. Deshalb ist die ständige Behauptung, die
Bedingungen in Deutschland seien nicht so, um unter
zumutbaren Voraussetzungen forschen zu können, unzutreffend.
Ich darf das Parlament davon unterrichten, dass im
Moment 38 gültige Freisetzungsanträge - Freisetzung ist
die Genehmigung für ein Forschungsvorhaben unter
Freilandbedingungen - laufen. Meine erste Feststellung
im Rahmen eines verantwortlichen Umgangs mit dieser
jungen Technologie ist, dass wir die Forschung wollen,
wir sie ermöglichen und unter verantwortlichen Bedingungen in Deutschland nutzen.
({2})
Wie jede neue Technologie wird auch die Gentechnik
von Ängsten und Ablehnungen begleitet. Es gibt darüber
eine sehr heterogene Diskussion. Wer im Lande unterwegs ist, wird sie nicht ausblenden können. Deshalb
möchte ich hier für die Regierung deutlich sagen, dass
das, was die Koalition im Koalitionsvertrag vereinbart
hat, in dem Gesetzespaket, das heute zur Abstimmung
steht, seinen Niederschlag gefunden hat. Trotz unseres
Bekenntnisses zu Forschung, Entwicklung und einer
weiteren Nutzung lautet das oberste und wichtigste Prinzip bei der Nutzung der Grünen Gentechnik: Der Schutz
von Mensch und Umwelt bleibt bestehen. Das ist hier
berücksichtigt worden.
({3})
Das war für uns bei der Definition der Forschungsbestimmungen und bei der Aufstellung der Regeln zur
Koexistenz, also der Wahlfreiheit für die Landwirte, und
vor allem auch bei der Wahlfreiheit für die Verbraucher
beim Einkauf von Lebensmitteln maßgeblich.
Man hört immer wieder Äußerungen wie „Die anderen machen das doch auch“, „Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten müssen wir in jedem Fall die Chancen
nutzen, unabhängig davon, wie wir die Risiken bewerten“ oder - das ist in den letzten Wochen besonders in
den Mittelpunkt gerückt - „Wir müssen die Gentechnik
schon deshalb anwenden, weil sonst die Futtermittelversorgung in der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr
gewährleistet ist“. Ich sage hier ganz deutlich für die Regierung, dass wirtschaftliche Überlegungen das Vorsorgeprinzip nicht außer Kraft setzen dürfen.
({4})
Ich habe mich seit vielen Jahren auf verschiedenen
Feldern mit der Gentechnik beschäftigt. Früher war ausschließlich der Gesundheitsminister für die Gentechnik
zuständig. Ich fühle mich an manche Diskussionen über
die Rote und die Weiße Gentechnik erinnert. Ich erlaube
mir hier den Satz, dass die Akzeptanz einer Technologie
oft mit dem Wissen um ihre fachlichen Zusammenhänge
wächst. Deshalb werden wir noch viel mit der Bevölkerung, mit den Betroffenen kommunizieren müssen. Ich
kann mich daran erinnern, wie die Debatte über die Rote
Gentechnik in der Medizin in Deutschland Anfang der
90er-Jahre begonnen hat.
({5})
Viele möchten heute an diese Diskussion und die damals
gebrauchten Argumente nicht mehr erinnert werden.
({6})
Über die Rote Gentechnik in der Medizin ist durch die
ethischen und rechtlichen Regeln, die wir in den 90erJahren gefunden haben, ein hohes Maß an Konsens herbeigeführt worden.
({7})
Ich möchte darauf hinweisen, dass die Regierung in
den nächsten Wochen sehr nachdrücklich für eine Reform des Verfahrens der Zulassung von gentechnisch
veränderten Organismen eintreten wird. Die Zulassung
erfolgt auf europäischer Ebene und ist für alle Mitgliedsländer der Europäischen Union verbindlich. Heute ist
das Verfahren ein politischer Vorgang, der von den Zufälligkeiten der politischen Zusammensetzung der verschiedenen Räte abhängig ist. So, Wolfgang Zöller, kann
das nicht bleiben. Ich mache da eine Anleihe bei der Zulassung der Hightecharzneimittel. Deren Zulassung erfolgt durch die Arzneimittelagentur in London auf wissenschaftlicher Basis, sie ist transparent und rechtlich
überprüfbar und basiert auf allen, auch unterschiedlichen
Denkrichtungen der Wissenschaft. Es ist ganz wichtig,
dass wir dieses Zulassungsverfahren objektivieren und
auf eine wissenschaftlichere Grundlage stellen.
({8})
Ich denke, wir haben eine Reihe von guten Regeln für
die Koexistenz in der Landwirtschaft gefunden. Das
friedliche Nebeneinander von verschiedenen Nutzungsprofilen - biologischer Anbau, konventioneller Anbau
und Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen - ist gegeben. Wir haben jetzt Regeln für den Transport, für die
Ernte und für die Lagerung gentechnisch veränderter
Pflanzen. Die gab es vorher nicht. Es sind Regeln über
die Abstände festgelegt worden. Der Abstand von Feldern, auf denen sich gentechnisch veränderte Organismen befinden, zu denen, auf denen konventioneller Anbau stattfindet, beträgt jetzt 150 Meter, der Abstand zu
Feldern eines Biobauern 300 Meter.
({9})
Vorher betrug der Abstand mangels Regelungen null; somit haben wir jetzt gegenüber früher 300 Meter mehr.
Das möchte ich hier festhalten. Ich bin froh, dass wir
diese Regelungen gefunden haben. Es sind Nachbarschutzregeln, und sie haben zum Ziel, dass derjenige, der
anders anbauen möchte, im Regelfall vor der Auskreuzung geschützt wird. Mit den Abständen, mit denen wir
im europäischen Mittelfeld liegen, können wir uns
durchaus präsentieren. Ich sage denjenigen, die dieses
Gesetz besonders kritisieren, obwohl sie in den letzten
Jahren für diesen Bereich Verantwortung getragen haben, dass diese Regelung deutlich klarer und strenger ist
als die, die ich übernommen habe.
({10})
Deshalb ist die Koexistenz gewährleistet.
Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zur Kennzeichnung machen. Auch hierüber gibt es eine eigenartige Diskussion. Es gibt eine verpflichtende Kennzeich14778
nung, und die gilt europaweit. Diese Kennzeichnung ist
dann verpflichtend, wenn ein Lebensmittel gentechnisch
veränderte Organismen enthält. Nun ist eigenartig, dass
diejenigen, die mir vorwerfen, dass die Kennzeichnung
unklar oder sogar täuschend ist, verschweigen, dass bei
der jetzt gültigen Regelung zur Gentechnikkennzeichnung Spuren von gentechnisch veränderten Organismen
enthalten sein können, weil europaweit die Kennzeichnung erst bei einem Schwellenwert von 0,9 Prozent notwendig ist. Somit können Spuren von gentechnisch veränderten Organismen im Lebensmittel enthalten sein,
ohne dass dieses gekennzeichnet sein muss.
Wer mich - wie die FDP-Fraktion - auffordert, es bei
der gegenwärtigen Kennzeichnungsregelung zu belassen, der muss wissen, dass er dafür eintritt, dass Lebensmittel in den Regalen stehen können, die gentechnisch
veränderte Spuren enthalten und nicht kennzeichnungspflichtig sind. Deshalb sage ich Ihnen: Wer die jetzige
Kennzeichnungsregelung beibehalten möchte, der informiert die Verbraucher falsch. Unsere Regelung ist
eindeutig: Ein Produkt mit der Kennzeichnung „ohne
Gentechnik“ darf keine Gentechnik enthalten. „Ohne
Gentechnik“ bedeutet, dass das Produkt - ganz gleich,
ob tierischen oder nichttierischen Ursprungs, also Eier,
Milch, Wurst oder anderes -, das der Verbraucher kauft,
ohne jede gentechnische Substanz sein muss. Wenn das
der Fall ist, dann kann es mit der Aufschrift „ohne Gentechnik“ gekennzeichnet werden. Dies ist eine ehrliche
Kennzeichnung.
({11})
Wir verabschieden heute ein Gesetzespaket, das klare
und sichere Regeln für alle Anwender, auch für die Verbraucher, beinhaltet. Damit ist die Debatte um die Grüne
Gentechnik nicht abgeschlossen. Was wir tun, ist ein gesetzgeberischer Zwischenschritt. Ich empfehle uns, die
weitere Debatte in einem Dialog zu führen, auch mit der
Bevölkerung, mit den Verbrauchern. Niemand sollte sich
einbilden, dass er dieses Thema der Bevölkerung einfach
überstülpen kann. Wir müssen uns um diesen Dialog mit
allen Pros und Kontras bemühen.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich manchen, die hier
direkt vor mir sitzen, sagen: Wenn man sich der
Kant’schen Empfehlung beugt, nämlich sich seines Verstandes zu bedienen, dann ist man gut beraten. Eines
geht nicht: dass ich zum gleichen Thema am gleichen
Tag, sogar in der gleichen Stunde, von Frau Künast
„dreistes Täuschungsmanöver“ höre, um dann von Frau
Höhn, die der gleichen Fraktion angehört, „Diese Regelung mit der Kennzeichnung ist längst überfällig“ zu hören.
({12})
Ich bitte um Sachlichkeit und Dialog.
Ich bedanke mich.
({13})
Das Wort hat nun Kollegin Christel Happach-Kasan,
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Minister, in einem Punkt stimme ich Ihnen voll zu - das möchte ich Ihnen gleich am Anfang sagen -: Zulassungsverfahren müssen rein fachlich entschieden werden und nicht politisch.
({0})
Danke schön, das ist eine sehr wichtige Klarstellung. Ich
bin Ihrer Meinung.
In einem anderen Punkt bin ich allerdings nicht Ihrer
Meinung: Seit inzwischen elf Jahren werden weltweit
gentechnisch veränderte Pflanzen angebaut. Ich finde,
ein Kind, das elf Jahre alt ist, gehört nicht mehr in den
Kinderwagen und auch nicht mehr in den Kindergarten.
Ich weiß ganz genau: Diese Kinder wollen in die Schule
und wollen sich weiterentwickeln. Daher scheint mir,
dass es sich um eine falsche Einschätzung handelt, wenn
man nach elfjähriger Anwendung von einer neuen Technologie spricht.
({1})
Ich war mit einigen Personen auf der Grünen Woche;
wir haben uns da getroffen. Es gab Veranstaltungen.
Zum Beispiel hat der Evangelische Entwicklungsdienst
eine Diskussionsveranstaltung „Essen global - Produktion egal? Experten werfen einen Blick über den Tellerrand: Welche Folgen hat unser Konsum für Kleinbauern
in Nord und Süd?“ organisiert. Dort fand eine wichtige
Diskussion statt.
Eine Buchautorin stritt in dieser Diskussion erregt für
das Verbot der Grünen Gentechnik und nebenbei auch
für ihr Buch; doch keine einzige Hand regte sich. Es
herrschte Stille, obwohl die Zuschauerreihen voll besetzt
waren. Die 70 Prozent der Bevölkerung, die angeblich
gegen Gentechnik sind, hatten wohl gerade Pause, oder
sie waren indisponiert; auf jeden Fall waren sie nicht da.
Das regt an zu den Fragen: Wie kommen entsprechende
Umfragen zustande, und welche Aussagekraft haben
sie? Können sie wirklich Maßstab für politisches Handeln sein?
({2})
Ich will an Folgendes erinnern: 1978 wurde Louise
Brown, das erste Retortenbaby, geboren. 70 Prozent
lehnten die damit verbundene Technologie ab. Inzwischen haben wir Hunderttausende von Kindern, die dank
dieser Technologie geboren wurden.
Im letzten Herbst fragte David Harnasch in der Fußgängerzone von Freiburg nach Dihydrogenmonoxid. Die
befragten Freiburger wollten den Stoff sofort verbieten.
Nach einer repräsentativen Umfrage, vorgetragen auf der
Fünfjahresfeier des Bundesinstituts für Risikobewertung, lehnten 70 Prozent unserer Bevölkerung Dihydrogenmonoxid ab. Warum? Dihydrogenmonoxid ist Wasser.
({3})
Wenn man etwas komisch fragt, dann will die Mehrheit sogar Wasser verbieten, genauso wie die Gentechnik, obwohl niemand von uns mit Produkten der Grünen
Gentechnik oder der Weißen Gentechnik je schlechte Erfahrungen gemacht hat. Die Beispiele zeigen: Es ist ein
gravierender Politikfehler, Verbraucherumfragen zum
Maßstab für politisches Handeln zu machen.
({4})
- Liebe Kollegin Tackmann, das hat im Übrigen auch
nichts mit Demokratie zu tun.
({5})
Wir entscheiden im Deutschen Bundestag nicht, was auf
den Tellern unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger ist,
({6})
sondern wir entscheiden, welche Voraussetzungen diese
Produkte zu erfüllen haben, und das machen wir gut.
({7})
Ich finde es bedenklich, dass auf der linken Seite des
Hauses ein derartig verqueres Politik- und Demokratieverständnis vorhanden ist. Bei der Vorstellung der ersten
Novelle zum Gentechnikgesetz 2004 hat Renate Künast
gesagt, dass es keine Anhaltspunkte für eine Gefährdung
der Gesundheit der Verbraucherinnen und Verbraucher
gebe.
({8})
- Natürlich, Sie haben das gesagt, und ich zitiere Sie.
Das mache ich doch gerne. Das mache ich doch auch
gut, wenn Sie so etwas sagen. Sie haben sich auf die
Feststellungen des Bundesinstituts für Risikobewertung
berufen, und damit hatten Sie recht.
({9})
Ihr Nachfolger, Bundesminister Seehofer, folgt ihr auf
dem Fuße und kopiert sie perfekt. Er erklärt vor der Verabschiedung des Gesetzes, er sehe keine Gefahren für
Verbraucher und Umwelt. Völlig zu Recht verbürgen
sich beide, die abgewählte Ministerin und ihr Nachfolger, für die Unbedenklichkeit der Produkte der Züchtungsmethode Grüne Gentechnik.
({10})
Aber trotz dieser Erklärung tun beide alles, um den
Erfolg der Züchtungsmethode zu verhindern. Warum?
Es sind ihre vordergründigen parteipolitischen Interessen, die sie motivieren.
({11})
Da es keine Gefahr gibt, muss auch niemand geschützt
werden.
({12})
Es ist der mangelnde Mut, politische Führungskraft zu
beweisen und den Menschen zu sagen, dass diese Produkte sicher sind.
Vor zwei Jahren noch hat Minister Seehofer für mehr
Offenheit gegenüber modernen Technologien plädiert.
Das ist vergessen. Jetzt schlingert er von Aussage zu
Aussage. Im April, nach der Aussaat des Bt-Maises, erfolgte ein Betriebsverbot von MON810. Das war vor der
Wahl zum CSU-Landesvorstand. Im Dezember wurde
der Erlass aufgehoben. Das war nach der Wahl zum
CSU-Landesvorstand. Diese Sorte ist sicher. Spanien ist
das Land in Europa, das am meisten Erfahrung mit dieser Sorte hat. Ihm können wir vertrauen.
Die Bundesregierung hat mit ihrer Initiierung der
Hightech-Strategie richtig erkannt, dass der Erhalt und
die Schaffung neuer Arbeitsplätze für die Zukunft der
Menschen in diesem Land von entscheidender Bedeutung sind. Zur Umsetzung der Strategie ist ein innovationsfreundliches Gentechnikgesetz von Bedeutung.
Die Anhörung hat ergeben, dass Max-Planck-Institut,
Deutsche Forschungsgemeinschaft, Bundesverband
Deutscher Pflanzenzüchter und Deutsche Industrievereinigung Biotechnologie die Gesetzesnovelle als innovationsfeindlich scharf kritisieren.
({13})
Herr Minister Seehofer, Ihre Aussagen zur Forschung
werden durch die Realität in Deutschland konterkariert.
Freisetzungsversuche werden zerstört - in Gießen
konnte nicht ein einziger ausgewertet werden -, sie werden nach wie vor abgelehnt.
({14})
Das ist nicht Geschichte, sondern wir haben nach wie
vor die Situation, dass Gentechnikgegner mobilisieren,
um Felder zu zerstören.
({15})
Es ist ungewöhnlich, dass bei einem Gesetz sowohl
die Unternehmerseite als auch die Gewerkschaftsseite
eine Position vertreten. Europa verliert seine Wettbewerbsfähigkeit, so der Geschäftsführer der BASF.
({16})
Ich appelliere an die Mitglieder aus Rheinland-Pfalz.
Die Bundesregierung hat ihr Versprechen, die Spitzenposition in einer Zukunftstechnologie anzustreben,
nicht gehalten, so der Vorsitzende der DIB. Minister
Seehofer vollzog eine Kehrtwende und knickte vor der
Lobby der Gentechnikgegner ein, so IG-BCE-Chef
Hubertus Schmoldt. Eine beschämende Bilanz.
Der Bt-Mais-Anbau in Deutschland im vergangenen
Jahr hat gezeigt, dass die Koexistenz ohne Mühe organisiert werden kann.
({17})
Es ist schon bemerkenswert, liebe Kolleginnen und
Kollegen, dass Gentechnikgegner sich einen rechtskräftig verurteilten Landwirt aus Kanada ins Land holen,
({18})
damit er mit unwahren Geschichten die Menschen gegen
die Gentechnik mobilisiert. Landwirte, die ihm widersprechen wollen, werden daran gehindert. Damit erweisen sich einige Gentechnikgegner als Mitglieder einer
Sekte. Und genau diese Sekte bedient die Große Koalition mit dem vorliegenden Gesetzentwurf.
({19})
Die CDU/CSU hat einen Wahlbetrug begangen. Sie hat
sukzessive nahezu jede Position geräumt:
({20})
Rechtssicherheit? Nicht vorhanden. Förderung des Anbaus und der Forschung? Nicht vorhanden. Einziger
Lichtblick ist die Möglichkeit von nachbarschaftlichen
Absprachen. Mit den neuen Bestimmungen zur „OhneGentechnik“-Kennzeichnung betreibt Minister Seehofer
die Aufweichung seiner eigenen Verordnung. Bauernpräsident Sonnleitner kommentiert: „Scheinheiligkeit
hoch drei“, und Renate Künast sagt: „dreistes Täuschungsmanöver“; aber in der Protokollerklärung sagen
die Grünen, dass sie die Kennzeichnung begrüßen.
Liebe, arme Grüne, bei Ihnen ist kein innerer Kompass
vorhanden. Sie flattern wie ein Fähnlein im Wind. Wo
sind die Verbände?
({21})
- Frau Künast, stellen Sie doch eine Zwischenfrage. Die in Deutschland über die Grüne Gentechnik geführte
Debatte gleicht Don Quichottes Kampf gegen die Windmühlen.
({22})
- Es freut mich, dass ich den Nerv getroffen habe, Kollege Kelber. Vielen Dank, das war eine Anerkennung.
({23})
Wir können in Europa keinen Sonderweg gehen. Als
Wissenschaftsstandort sind wir vielmehr gefordert, vermehrt in Züchtung zu investieren und die kommenden
Herausforderungen zu meistern: den Klimawandel, die
Ernährung einer wachsenden Weltbevölkerung und die
energetische Nutzung von Biomasse. Dafür brauchen
wir gentechnische Züchtungsverfahren.
({24})
Liebe Kollegin, Sie müssen zum Ende Ihrer Rede
kommen. Halten Sie das Bild also bitte nicht zu lange
hoch.
- Letzter Satz.
({0})
- Kartoffeln, die gegen die Krautfäule resistent sind und
auch bei uns wachsen können.
({1})
Sie enthalten ein Kartoffelgen, das ihnen mit gentechnischen Methoden eingepflanzt wurde. Das halten wir für
gut. Diese Kartoffelpflanzen sind besser als solche, die
der Phytophtora erlegen sind.
({2})
Diese Krankheit hat dazu geführt hat, dass in Irland damals Millionen von Menschen gestorben oder ausgewandert sind.
({3})
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt die Gesetze der
Bundesregierung als innovationsfeindlich ab, ebenso
den Entschließungsantrag der Linken und die Anträge
der Grünen. Wir verweisen auf unseren eigenen Gesetzentwurf, der die Zukunft beschreibt.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Ich erteile das Wort Kollegin Elvira Drobinski-Weiß,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
versuche, wieder zur Sachlichkeit bzw., wie einige Kolleginnen und Kollegen es gerne formulieren, zur Wahrheit und Klarheit zurückzukehren.
Mit dem Gentechnikgesetz und dem dazugehörigen
Durchführungsgesetz bringen wir die Novellierung des
Gentechnikrechts zu einem guten Ende. Das ist ein Ergebnis, für das sich beide Koalitionspartner aufeinanderzubewegt haben und Kompromisse eingegangen sind.
Vor allem die Verbraucherinnen und Verbraucher in
Deutschland haben dabei gewonnen. Damit meine ich
auch die 80 Prozent, die Kollegin Happach-Kasan auf einer Veranstaltung vermisst hat, wie sie vorhin gesagt hat.
Die neue „Ohne-Gentechnik“-Kennzeichnungsregelung
kann einen unhaltbaren Zustand beenden; denn die Regelung schafft die Grundlage dafür, dass Verbraucherinnen und Verbraucher beim Einkauf endlich die Wahl haben.
Ich bedanke mich bei Herrn Minister Seehofer dafür,
dass wir diese Regelung gemeinsam auf den Weg bringen konnten. Die Kennzeichnung liegt meiner Fraktion
und mir ganz besonders am Herzen; denn nach unserer
Ansicht haben Verbraucher ein Recht auf Information
und ein Recht auf die Möglichkeit, zu wählen.
Wer diese Wahlmöglichkeit nutzen will, muss wissen,
was die „Ohne-Gentechnik“-Kennzeichnung aussagt.
Herr Minister Seehofer hat das vorhin schon kurz dargestellt. Gestatten Sie mir, dass ich etwas ausführlicher
darauf eingehe. Wenn man in den letzten Tagen die Berichterstattung zu diesem Thema verfolgt hat, konnte
man ein gewisses Durcheinander feststellen. Das eigentliche Problem ist wohl, dass es an dieser Regelung einfach nichts zu kritisieren gibt. Seien wir ehrlich: Das
bringt uns alle offensichtlich ein wenig durcheinander.
Die Gräben sind aufgebrochen. Nicht nur ehemalige Kritiker werden zu Unterstützern, sondern auch umgekehrt.
Auch die Argumente wechseln die Seite. Wer sich
ansonsten gern der Transparenz verweigert und die
Überlastung der Verbraucher durch ein Zuviel an Informationen anprangert, fordert plötzlich brutalstmögliche
Deklaration bis ins kleine Mikrodetail. Es ist kein Wunder, dass die Öffentlichkeit verwirrt ist.
Sicher ist, dass die „Ohne-Gentechnik“-Kennzeichnung ein enormer Fortschritt für die Verbraucher ist.
Ohne diese Kennzeichnung müssen sie zurzeit damit
rechnen, dass Fleisch-, Eier- und Milchprodukte von
Tieren stammen, die mit gentechnisch veränderten
Pflanzen gefüttert wurden; denn tierische Erzeugnisse
sind nach EU-Recht nicht kennzeichnungspflichtig. Einzig bei ökologisch erzeugten Produkten ist das ausgeschlossen. Denn diese werden ohne Gentechnik erzeugt.
Verbraucher, die den Anbau gentechnisch veränderter
Pflanzen ablehnen, sind also gezwungen, mit ihrem Einkauf diesen Anbau zu unterstützen. Auch die Anbieter,
die auf solche Futterpflanzen verzichten, haben bisher
keine praktikable Möglichkeit, ihre Produkte auszuloben. Das ist ein unhaltbarer Zustand, der jetzt beendet
wird.
({0})
Wer eine Regelung kritisieren will, die so eindeutig
und unzweifelhaft im Interesse der Verbraucherinnen
und Verbraucher ist, muss die Argumente gegen die
„Ohne-Gentechnik“-Kennzeichnung schon ziemlich an
den Haaren herbeiziehen. Ich möchte hier vier Punkte
richtigstellen.
Erster Punkt. Die neue Regelung zur „Ohne-Gentechnik“-Kennzeichnung wird im Vergleich zur alten Kennzeichnungsverordnung verschärft. Denn nach der alten
Regelung konnten auch Erzeugnisse mit einem Anteil
gentechnisch veränderter Organismen von bis zu 0,9 Prozent mit „Ohne Gentechnik“ gekennzeichnet werden.
Jetzt liegt die Grenze bei 0,1 Prozent. Die Behauptung,
die Kennzeichnungsregelung sei hier aufgeweicht worden, ist also falsch.
Zweiter Punkt. Die „Ohne-Gentechnik“-Kennzeichnung ist für alle verarbeiteten Produkte gleich geregelt,
egal ob es sich um Lebensmittel pflanzlichen oder tierischen Ursprungs handelt. Wenn auf den Produkten
„Ohne Gentechnik“ steht, dann ist keine Gentechnik
drin.
({1})
Auch Zusatzstoffe bzw. Enzyme, die mithilfe gentechnischer Verfahren gewonnen wurden, selbst aber keine
GVO enthalten, sind bei Produkten mit der „Ohne-Gentechnik“-Kennzeichnung nicht erlaubt, und zwar unabhängig davon, ob es sich hier um pflanzliche oder um
tierische Erzeugnisse handelt. In diesem Zusammenhang
ist die Behauptung, pflanzliche Lebensmittel würden
diskriminiert, falsch. Der Käse mit gentechnisch hergestelltem Chymosin darf genauso wenig die „Ohne-Gentechnik“-Kennzeichnung tragen wie die vegetarische
Pizza mit gentechnisch gewonnenen Zusatzstoffen.
Der dritte Punkt, den ich nennen möchte, ist, dass die
unverarbeiteten Produkte unterschiedlich behandelt werden. Die Ursache dafür ist die europäische Kennzeichnungspflicht für GVO-Produkte. Pflanzliche Produkte
werden von der Kennzeichnungspflicht erfasst. So
müsste zum Beispiel ein gentechnisch veränderter Apfel
- den es, Gott sei Dank, nicht gibt - auch als gentechnisch verändert gekennzeichnet werden. Der herkömmliche Apfel darf also keine „Ohne-Gentechnik“-Kennzeichnung tragen, weil diese überflüssig ist. Es ist
selbstverständlich, dass er gentechnikfrei ist.
Bei Milch, Eiern und Fleisch ist das anders. Denn für
die gibt es keine EU-Kennzeichnungspflicht. Sie gilt für
gentechnisch veränderte Futtermittel. Sie läuft aber ins
Leere, weil tierische Produkte ja nicht der Kennzeichnungspflicht unterliegen. Damit haben Verbraucherinnen
und Verbraucher keine Möglichkeit, zu erfahren, ob
diese Produkte von Tieren stammen, die mit gentechnisch veränderten Pflanzen gefüttert wurden.
Durch die Regelung zur „Ohne-Gentechnik“-Kennzeichnung - Sie merken, ich wiederhole es immer wieder, damit es wirklich alle verstehen - bekommen Verbraucher demnächst die Information darüber, ob Milch,
Eier und Fleisch von Tieren stammen, die keine kennzeichnungspflichtigen und damit keine gentechnisch
veränderten Futtermittel bekommen haben.
({2})
Mein letzter Punkt. Entsprechend den EU-Vorschriften für ökologische Erzeugung gibt es hier allerdings die
Möglichkeit einer Ausnahme: Wenn ein Zusatzstoff bzw.
ein Enzym unverzichtbar und nur noch durch gentechnische Verfahren hergestellt werden kann und nur noch so
verfügbar ist, dann darf dieser Stoff sowohl für ökologische Produkte als auch für Ohne-Gentechnik-Erzeugnisse eingesetzt werden. Ob es eine Alternative gibt,
wird im Einzelfall genau geprüft. Bisher gibt es keine
Ausnahmen.
Gerade der letzte Punkt, die Ausnahme, von der wir
nicht wissen, ob sie jemals eintreten wird, wird von den
Kritikern aufgegriffen, von denen, die unter dem Vorwand, totale Transparenz schaffen zu wollen, nach Möglichkeiten suchen, die „Ohne-Gentechnik“-Kennzeichnung zu verhindern. Sie haben jahrelang in Kauf
genommen, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher
gezwungen waren, ohne ihr Wissen mit jedem Kauf den
Anbau und die Verfütterung von gentechnisch veränderten Pflanzen zu unterstützen. Entweder ist der plötzliche
Schrei nach totaler Transparenz scheinheilig, oder es findet hier tatsächlich ein Umdenken statt, und den Verbraucherinnen und Verbrauchern soll endlich das Recht
auf mehr Information eingeräumt werden. Wir werden es
sehen.
Wir werden das weiter kritisch beobachten: bei der
Diskussion über Kennzeichnungsschwellenwerte für
Saatgut, bei der Diskussion über Toleranzwerte für in
Europa nicht zugelassene GVO, aber auch dann, wenn es
zu einem neuen Verunreinigungsskandal kommen sollte.
Ich hoffe sehr, dass Sie diese Unterscheidung verstanden haben.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Kollegin Kirsten Tackmann, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Werte Gäste! Herr Minister, Sie haben auf der
Grünen Woche gesagt, die Entscheidung über die Gentechnik dürfe sich nur nach der Frage richten, ob sie zu
verantworten sei. Das Zitat lautet:
Es darf niemals unter dem Diktat beantwortet werden, weil wir wirtschaftlich dazu gezwungen sind.
Diese Aussage haben Sie vorhin dankenswerterweise
wiederholt. Ich verstehe bloß nicht, warum Sie den Entwurf eines Gentechnikgesetzes vorlegen, durch den die
Anwendung dieser Risikotechnologie noch gefährlicher
wird.
({0})
Zugegeben, die Gentechnikdebatte ist nicht einfach.
Verschiedene Argumente müssen gegeneinander abgewogen werden. Gerade deshalb hat die Politik eine besondere Verantwortung. Es sind sehr komplexe Fragen
zu beantworten: ethische Fragen, wissenschaftliche Fragen, Fragen nach Nutzen und Risiko und die Frage nach
Gewinnern und Verlierern.
Dabei macht die Linke einen ganz deutlichen Unterschied: Rote und Weiße Gentechnik werden in einem
Labor oder in einer Industrieanlage angewandt; auch das
ist riskant, aber dieses Risiko ist beherrschbar. Im Gegensatz dazu werden im Rahmen der Grünen Gentechnik
Pflanzen auf einem Acker angebaut; das ist ein offenes
System und deutlich riskanter. Das liegt aber nicht nur
an dieser Risikotechnologie. Das Risiko wird durch die
handfesten Profitinteressen der Saatgutkonzerne verstärkt.
({1})
Internationale Erfahrungen belegen massive Verdrängungseffekte aufgrund aggressiver Marktstrategien der
Saatgutmultis. Wie man die Agrogentechnik auch bewertet, eines steht fest: Ein bisschen Agrogentechnik
gibt es genauso wenig wie ein bisschen schwanger. Deshalb muss am Ende dieser Debatte immer die Frage gestellt werden: Auf welcher Seite stehen wir eigentlich?
Für die Linke ist klar: Erstens. Wir stehen auf der
Seite der gentechnikfreien Landwirtschaft und der Imkerei. Zweitens. Wir stehen auf der Seite der Verbraucherinnen und Verbraucher.
({2})
Sie sollen mitentscheiden können, ob Genpflanzen auf
dem Acker wachsen sollen oder nicht. Deswegen hätten
wir die Kennzeichnung „Agrogentechnikfrei gefüttert“
für viel sinnvoller gehalten. Der Kennzeichnungsvorschlag, der jetzt vorliegt, ist aber zumindest ein Schritt in
die richtige Richtung.
Das Gentechnikgesetz muss aus der Sicht der Linken
eines leisten: den Schutz der gentechnikfreien Landwirtschaft und der Imkerei vor Verunreinigung. Genau das
leistet der Gesetzentwurf der Regierung nicht. Durch ihn
wird sogar der Koalitionsvertrag gebrochen, in dem die
Sicherung der Koexistenz von Anwendern und Nichtanwendern versprochen wird. Deshalb stellt sich die Frage:
Wessen Interessen verteidigt die Koalition? Um die Interessen der großen Mehrheit, die keine Agrogentechnik
will, geht es ihr offensichtlich nicht.
Warum ist der Linken der Schutz der agrogentechnikfreien Landwirtschaft so wichtig? Erstens. Die Agrogentechnik kann die Gesundheit von Tieren und Menschen
gefährden. Zweitens. Die Landwirte geraten in eine immer größere Abhängigkeit, insbesondere über den Patentschutz. Drittens. Es gibt keine vertrauenswürdigen EUVerfahren zur Zulassung von Genpflanzen. Sie schließen
Gefahren nicht aus, sind intransparent und undemokratisch. Viertens. Ökologische Schäden sind nicht rückholbar. Fünftens. Die Verunreinigungsrisiken sind so vielfältig, dass selbst durch strengste Regeln keine Sicherheit
garantiert werden kann.
Ein Beispiel: Im Jahre 2006 gab es einen Skandal im
Hinblick auf den Reis LL 601, der sich aus einem kleinen US-Forschungsanbau weltweit verbreitete, sogar bis
in deutsche Supermärkte. Daran wurde deutlich, dass der
Anbau von Genpflanzen auf Dauer nicht beherrschbar
ist.
({3})
Wer anderes behauptet, ignoriert diese Realität oder lügt.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird dieses kaum
mehr ernsthaft bestrittene Verunreinigungsrisiko nicht
reduziert:
Beispiel eins. Mit den Abstandsregelungen sollen Verunreinigungen des Nachbarfeldes durch Pollen verhindert werden. Aber der vorgeschlagene Abstand ist viel zu
gering. Die Bienen halten sich auch nicht an von uns beschlossene Sicherheitsabstände. Sicherheitszonen für
ökologisch sensible Gebiete werden nicht geregelt. Folgende Verunreinigungsrisiken werden gänzlich ignoriert:
Erstens. Es bleibt immer Resterntegut auf dem Acker.
Zweitens. Die Landwirtschaftstechnik kann nicht so gesäubert werden, dass es keine Vermischung gibt. Drittens. Verarbeitungs- und Lagerkapazitäten müssen, um
eine Vermischung zu vermeiden, vollständig getrennt
werden; das geben selbst Befürworter zu. Viertens. Illegaler Handel mit Saat- und Erntegut kann nicht ausgeschlossen werden. Trotz dieser Sicherheitslücken behauptet die Koalition, vor allen Dingen die CDU/CSU,
die Koexistenz könne mit diesem Gentechnikgesetz gesichert werden. Ich sage: Genau das ist nicht der Fall.
({4})
Beispiel zwei. Nachbarn sollen sich auf einen noch
geringeren Sicherheitsabstand einigen dürfen. Das sind
aus unserer Sicht Absprachen zulasten Dritter und wird
auch nicht dadurch geheilt, dass man so etwas in das
Standortregister aufnimmt.
Aus der Sicht meiner Fraktion haben die Änderungen
des Gentechnikgesetzes eine verheerende Wirkung. Sie
gefährden das gerade wieder gewachsene Vertrauen der
Verbraucherinnen und Verbraucher in die Landwirtschaft.
Unsere Agrarwirtschaft hat aber national wie international nur dann eine Chance, wenn sie verbraucherorientiert
produziert. Der Verbraucherwille ist aber eindeutig: Lebensmittel sollen bezahlbar sein, Lebensmittel sollen
gesund sein, sie sollen tierschutzgerecht und umweltschonend produziert werden. Für die Mehrheit der Verbraucher gehört das Freisein von Agrogentechnik dazu.
({5})
Ein gesundes Image unserer Agrarwirtschaft und eine
schleichende Verunreinigung durch genetisch veränderte
Pflanzen passen nicht zusammen. Deshalb kann ich dem
Deutschen Bauernverband nur zustimmen, wenn er den
Landwirtinnen und Landwirten rät, diese Risikotechnologie besser nicht anzuwenden.
({6})
Die Linke hat in ihrem Entschließungsantrag zu diesem Gesetzentwurf die dringendsten Änderungen, die
nötig sind, formuliert: Erstens. Jeder Freisetzungsversuch, auch Forschungsanbau, muss für den jeweiligen
Standort geprüft werden, und zwar unter demokratischer
Mitsprache der Betroffenen. Das heißt, dass das vereinfachte Verfahren nicht zur Regel gemacht werden darf.
Zweitens. Die gentechnikfreie Imkerei muss dringend
geschützt werden.
Drittens. Wir lehnen private Absprachen zur Verringerung der Mindestabstände ab.
({7})
Der vorliegende Gesetzentwurf ist aus unserer Sicht
Verrat an den Interessen der gentechnikfreien Landwirtschaft und Imkerei wie auch an den Interessen der Verbraucher. Wer konsequent an der Seite der Verbraucherinnen und Verbraucher und der einheimischen
Landwirtschaft stehen will - die gentechnikfrei arbeiten
möchte -, muss diesen Gesetzentwurf ablehnen. Die
Linke tut das, und sie geht noch einen Schritt weiter: Sie
wird weiter gentechnikfreie Zonen und Regionen unterstützen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat nun Kollegin Ulrike Höfken, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Happach-Kasan, Ihre Rede sollte man schnell in
Niedersachsen und Hessen verteilen, damit die Leute
wissen, was Sie von den Bürgerinnen und Bürgern halten: König ohne Volk.
({0})
Frau Tackmann, ich kann vieles, was Sie gesagt haben, teilen. Aber das ist ein interessanter Wandel gegenüber dem, was wir bei den Linken in Mecklenburg-Vorpommern erlebt haben. Wir haben versucht, die
gentechnikfreie Produktion zu schützen. Doch das war
partout nicht gewollt.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Die
Kollegin Tackmann drängt es.
Nein. Ich will jetzt auf etwas anderes eingehen, und
das wäre ein Nebenkriegsschauplatz.
({0})
Frau Kollegin Drobinski-Weiß hat gesagt, die Öffentlichkeit sei verwirrt. So ein Zufall. Herr Minister
Seehofer kommt so soft daher. Das ist aber kein softes
Thema. Agrogentechnik ist eine aggressive Technologie.
Jens Katzek als Vertreter der Agrogentechnik sagt selbst:
Koexistenz ist nicht möglich. Das sagen wir auch. Agrogentechnik beinhaltet unheimliche Abhängigkeit, ist ein
Angriff auf das Recht auf Eigentum und möglicherweise
auf die körperliche Unversehrtheit und die Gesundheit.
({1})
Es handelt sich hierbei also um eine Technologie, über
die die Auseinandersetzung hart geführt werden muss.
Minister Seehofer macht einen auf Helden der bayerischen Bauern, auf Bewahrer der Schöpfung; doch hinten
macht er die Tür weit auf. Das wollen wir nicht mitmachen.
({2})
Auch wenn das sicher nicht im Sinne der Kolleginnen
und Kollegen gerade von der SPD ist, so ist es leider so,
wie es die Bundesregierung auf dem Vorblatt ihres Gesetzentwurfs schreibt: Das deutsche Gentechnikrecht ist
so auszugestalten, dass Forschung und Anwendung der
Gentechnik in Deutschland gefördert werden. So sieht
das Gesetz aus. Wir wollen den Schutz der gentechnikfreien Erzeugung. Dass Vorsorge vernünftig ist, zeigt
nicht nur die Rote Gentechnik. Unsere Diskussion hat
doch dazu beigetragen, dass Gesetze erlassen wurden,
die dies regeln. Alles andere wäre unverantwortlich gewesen.
({3})
Ich nenne hier nur Asbest, Contergan, Atomtechnik,
DDT oder FCKW.
({4})
Es ist keinesfalls so, dass man sagt: Lasst doch die
Vorsorge beiseite. Vielmehr haben wir die Verantwortung dafür und müssen sie auch wahrnehmen.
({5})
Ich will deutlich machen, dass das Gentechnikgesetz
die Schutzstandards massiv verschlechtert, die von RotGrün gemeinsam gesetzt wurden. Ich nenne nur die Privatabsprachen, die Ausnahmeregelungen für die Forschung oder die Verwertungsmöglichkeiten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben ja noch versucht,
Protokollnotizen und Erklärungen zu machen. Ich habe
sie mir angeguckt; sie haben das leider nicht verbessert.
Zusammen mit den unzureichenden Feldabständen,
der ungeregelten Lagerung und dem ungeregelten Transport wird etwas passieren, was vielleicht nicht intendiert
war: Es wird Krieg in die Dörfer kommen.
({6})
Es ist eine Frechheit, dass sich Minister Seehofer damit brüstet, schärfere Regeln zu schaffen. Er hat den
Mais MON810 zugelassen. Dann ließ er diesen Mais
zwei Jahre lang ohne die notwendigen Anbauvorschriften anbauen. Damals war der Bundesrat noch massiv dagegen, dass die gute fachliche Praxis geregelt wurde.
Das heißt, er ließ ein Fahrzeug zu, doch die Verkehrsregeln kamen erst zwei Jahre später und dann auch noch
mangelhaft.
({7})
Ich komme zu den Privatabsprachen. Sie wurden
schon von verschiedenen Seiten angesprochen. Letztlich
ist dies trotz aller Verbesserungsaktivitäten der Sozialdemokraten ein Freibrief zur Verunreinigung. Das hört sich
nett, freiwillig und autonom an. Wenn man sich das aber
konkret vergegenwärtigt, dann sieht man doch das Folgende: Da schreibt ein Bauer seinen Nachbarn an und
sagt ihm: Ich möchte jetzt Genmais anbauen. Innerhalb
eines Monats soll der Nachbar antworten, ob er auch
Mais anbauen will. Vielleicht aber bekommt der Nachbar den Brief gar nicht. Vielleicht geht der Brief auch an
den Eigentümer, der vergisst, ihn an den Pächter weiterzuleiten. Der Nachbar weiß vielleicht noch gar nicht,
was er im nächsten Jahr anbauen will. Er hätte ja noch
ein Dreivierteljahr Zeit. Seit wann haben wir hier eine
Planwirtschaft?
({8})
Seit wann ist es in Ordnung, dass Anbauvorschläge den
Nachbarn schon Wochen oder Monate vorher offenzulegen sind? Was ist das für eine Art und Weise freien Unternehmertums? Ich finde, das ist ein Skandal.
Das Problem ist damit aber noch nicht zu Ende, dass
man seine eigenen Anbaupläne plötzlich Gott und der
Welt offenlegen muss.
({9})
Wenn der Bauer nun doch keinen Mais anbauen will,
weil zum Beispiel die Witterung nicht ganz richtig ist,
dann ist die Frage, was passiert. Das ist sehr ernst zu
nehmen. Der Bauer hat dann plötzlich auf die Sicherheitsabstände verzichtet. Wenn er sagt, ich will jetzt
doch keinen Mais anbauen, dann ist er auf einmal in
Haftungsregelungen verstrickt.
({10})
Das ist eine völlig praxisferne Regelung, die im Prinzip mit der Rechtswirklichkeit nichts zu tun hat und die
zu massiven Auseinandersetzungen führen wird. Übrigens wird sie den Behörden auch die Kontrollmöglichkeiten erschweren.
({11})
Ein weiterer Punkt ist der Freifahrtschein für die Forschung. Man muss deutlich sagen, dass es sich hierbei
um die Forschung mit ungenehmigten Produkten handelt. Hier werden die Sicherheitsanforderungen ganz locker einfach heruntergefahren. Die Regelungen sind so
weit gehend, dass darunter sogar der Forschungsanbau
von Gentechnikpflanzen auf mehr oder weniger schlecht
mit einem Zaun abgesicherten Institutsfeldern fallen
könnte. Das heißt, der kommerzielle Anbau könnte unter
Umständen besser geschützt sein als der Forschungsanbau mit den ungenehmigten Produkten. Auch hier ist
die Überwachung durch die Behörden fast unmöglich.
({12})
Es gäbe noch einiges über die thermische Verwertung
zu sagen, nämlich über ein In-den-Verkehr-Bringen,
ohne dass die Überwachungsmöglichkeiten dieser neuen
gentechnischen Anlagen überprüfbar wären.
Ganz klar ist auch: Minister Seehofer hat in der Frage
der Gentechnik ein langes Sündenregister.
({13})
- Ja, wir sind ja über die Besuche des Ministers im Kloster unterrichtet. - 2007 hat er im Bundestag gesagt, er
habe noch keine einzige gentechnisch veränderte Pflanze
zugelassen. Das stimmt nicht. Das hat er als Gesundheitsminister getan.
({14})
Das war keinesfalls Renate Künast. Als erste Amtshandlung ließ er auch den Verkauf von Saatgut wieder zu mit all den Folgen, die es heute gibt.
Es geht weiter: Zu neuen Zulassungen von Gentechnik auf der EU-Ebene hat er Ja gesagt. Es gab Verunreinigungsskandale mit nicht zugelassenen GVOs: Raps,
Mais und Zucchini. Er sagte, es gibt keine Gefahr für die
Verbraucher; die Behörden sollen schnell reagieren. Was
passiert jetzt? Es gibt Neuregelungen, wonach nicht zugelassene GVOs plötzlich verwertet werden dürfen.
Zu den Imkern: Es gab die Zusage, die Belange der
Imker sollten berücksichtigt werden. Was steht im Gesetz? Die Probleme der Imker sind überhaupt nicht gelöst.
Eben wurde es noch einmal angesprochen: Die Forschung soll nach Minister Seehofer immer nur nach dem
obersten Prinzip des Schutzes von Mensch und Umwelt
und ohne Risiken erfolgen. Wir sehen aber ganz deutlich
ein ungeheures Anwachsen der Zahl problematischer
Freisetzungen. Im Jahre 2007 wurden 78 Freisetzungsexperimente in Deutschland durchgeführt, 2001, in der
Amtszeit von Ministerin Künast, waren es noch 46.
Daneben nenne ich die problematischen Versuche in
Gatersleben. Ich erinnere auch an das, was in Rostock
passiert ist - Stichwort: Kartoffelpflanzen - und zukünftig mit dem Weizen passieren soll. Das alles sind nicht
verantwortbare Versuche.
({15})
Ganz klar ist auch die weitere Aussage, dass er Raps ablehnt. Trotzdem soll er angebaut werden.
({16})
Nur ein Satz zur Gentechnikkennzeichnung. Wir finden das in Ordnung. Das ist aber nur ein Punkt in einem
Gesamtpaket. Es ist kein Wunder, dass man sagen muss:
99 Prozent dieses Paketes sind miserabel, und wir lehnen
sie ab. Dieses eine kleine Prozent ist in Ordnung. Man
muss auch sagen: Dass die Futtermittelindustrie hier
schäumt, zeigt ja nur, dass sie vor jeder kleinen Transparenz und Wahlmöglichkeit der Verbraucher Angst hat.
Zum Schluss zu MON810, dem Genmais. Wir stehen
wieder vor einer neuen Anbausaison. Darum müssen wir
uns mit dem Gentechnikgesetz auch so beeilen. Minister
Seehofer hat das Ganze wieder zugelassen. Ich sage
dazu nur: Es wird eine heftige Auseinandersetzung darüber geben. Diese Wiederzulassung hat sich Monsanto
erschlichen.
Sie können Ihren Kollegen Borchert, den ehemaligen
Landwirtschaftsminister, fragen, was er als Vorsitzender
des Jagdverbandes davon hält, dass von Monsanto zum
Beispiel Daten der Imker und der Umweltverbände genutzt werden. Daneben erschleicht es sich mit tatkräftiger Unterstützung Ihres Bundesamtes, des BVL, Zulassungen. Das ist nicht in Ordnung.
Wir fordern - auch in dem heute vorliegenden Antrag den sofortigen Stopp von MON810 und keine weitere
Aussaat von Genmais.
Danke schön.
({17})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat Kollegin
Kirsten Tackmann.
Sehr verehrte Kollegin Höfken, ich glaube, Sie tragen
jetzt zum vierten Mal das Argument hinsichtlich Mecklenburg-Vorpommern vor. Ich erkläre das jetzt auch zum
vierten Mal. Vielleicht erreichen wir ja einen Erkenntnisfortschritt.
Sind Sie bereit, zu akzeptieren, dass wir es durchaus
kritisieren, dass in Groß Lüsewitz, Mecklenburg-Vorpommern, nach wie vor beispielsweise Raps angebaut
wird, dass der Landwirtschaftsminister zu der Zeit, als
die PDS Mitglied der Landesregierung war, Till
Backhaus hieß und von der SPD kam und dass sich der
Umweltminister - er hieß Wolfgang Methling und kam
von der PDS - in Person sehr deutlich und explizit gegen
die Anwendung der Agrogentechnik positioniert hat?
({0})
Sind Sie auch bereit, anzuerkennen, dass während dieser
Zeit Rot-Grün die Bundesregierung stellte und die Bundesgesetzgebung zu verantworten hatte?
Ich bitte doch, das noch einmal zu kommentieren.
({1})
Kollegin Höfken.
Nur ganz kurz; das ist ja jetzt nicht das Hauptthema.
Der Minister der Linken bzw. PDS, wie sie damals
noch hieß, hat diesen Aktivitäten und Zulassungen eindeutig zugestimmt.
({0})
Problematischerweise ging es dabei auch um den Raps.
Gleiche Erfahrungen haben wir in Sachsen-Anhalt gemacht.
Ich werte ja jeden Erkenntnisgewinn als Fortschritt.
Das gilt auch für die Tatsache, dass sich zumindest die
Haltung Ihrer Person geändert hat. Das ist vielleicht das
Gute daran.
Danke.
Nun hat Kollege Peter Bleser, CDU/CSU-Fraktion,
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Mit dem heutigen Gesetz hat die Koalition ein
wichtiges Ziel in dieser Legislaturperiode und für unser
Land erreicht. Mit diesem Gesetz bleibt Deutschland Innovationsland. Wir lösen die Blockade beim Einsatz der
Grünen Gentechnik. Mit diesem Gesetz erleichtern wir
die Forschung, und wir schaffen mehr Wahlfreiheit für
die Verbraucher. Mit diesem Gesetz regeln wir endlich
den sicheren und praxisnahen Anbau von gentechnisch
veränderten Pflanzen. Damit haben wir das Gentechnikgesetz der Vorgängerregierung deutlich verbessert.
({0})
Was haben wir im Einzelnen gemacht? Wir haben die
Forschung erleichtert. Forschungsvorhaben mit nachgewiesen sicheren Organismen müssen nur noch angezeigt
werden. Dann kann mit der Forschung sofort begonnen
werden. Das ist Entbürokratisierung. Das ist Kernaufgabe dieser Koalitionsregierung.
Wir haben des Weiteren die Koexistenz zwischen
dem Anbau von gentechnisch verändertem Mais und
konventionellem Maisanbau. Durch die Definition der
guten fachlichen Praxis geben wir den Landwirten endlich die Möglichkeit zur praxisnahen Handhabung dieser
Technologie. Die Wissenschaft empfiehlt uns: 50 Meter
Abstand reichen vollkommen aus, um eine Vermischung
sicher zu vermeiden. Wir haben diesen Sicherheitsabstand um den Faktor 3 vergrößert und ihn beim konventionellen Anbau auf 150 Meter festgelegt. Beim Ökolandbau sieht der Koalitionskompromiss 300 Meter
Abstand vor. Das hat keine große Bedeutung, weil beim
Maisanbau kaum Ökolandbau stattfindet.
Für uns ist entscheidend, dass die praktische Handhabung verbessert wird. Deswegen haben wir im Gesetz
die gute fachliche Praxis aufgegriffen, wonach der Abstand null sein kann, wenn das eine nachbarschaftliche
Vereinbarung zulässt. Voraussetzung ist aber, dass der
Nachbar sein Produkt als gentechnisch verändert kennzeichnet und diese Vereinbarung im Standortregister
angezeigt wird. Damit haben wir im Wesentlichen alle
Voraussetzungen geschaffen, gentechnisch veränderte
Pflanzen anzubauen, wenn es die ökonomischen Bedingungen ratsam erscheinen lassen.
({1})
Wir haben beim Standortregister nichts verändert.
Dort bleiben wir bei der parzellenscharfen Nennung des
Grundstückes. Jeder, der es möchte, kann erfahren, wo
welche Pflanzen von wem angebaut werden. Wir wollten
das eigentlich anonymer machen.
({2})
Aber das hätte lediglich eine halbe Stunde Zeitverzögerung zur Folge gehabt, bis Gentechnikgegner - diese Gesetzesbrecher, die Bestände zerstören - das entsprechende Grundstück gefunden hätten.
({3})
Ich bin zuversichtlich, dass die Kraft dieser Leute
schnell erlahmen wird, wenn die Zahl der Anbauflächen
zunimmt.
Wir haben bei der Haftung nichts verändert. Es bleibt
bei der Regelung des Bürgerlichen Gesetzbuches, wonach die Haftung nicht eingeschränkt ist.
({4})
- Das haben wir gerne gemacht, Frau Tackmann; denn
wir haben in Übereinstimmung mit der guten fachlichen
Praxis das Ganze so geregelt, dass die Technik auch in
der Praxis Anwendung finden kann.
({5})
Unter Rot-Grün betrug der Abstand null. Wir haben das
geändert und die Abstände im Gesetz geregelt.
Bei der Kennzeichnung gibt es Verwirrung. Ich will
mit dem Einfachsten beginnen, um es zu erklären. Jeder
hat bislang mit seinen täglichen Mahlzeiten Stoffe oder
Produkte aufgenommen, die in der Produktion mit gentechnisch veränderten Organismen in Kontakt getreten
sind. Bei fast 80 Prozent der Milch- und Fleischprodukte
ist das der Fall, weil die Futtermittel gentechnisch verändert sind. Das müssen wir den Menschen sagen. Wir wären bereit gewesen, für eine entsprechende Kennzeichnung zu sorgen, damit der Verbraucher weiß, was er zu
sich nimmt. Nun haben wir uns darauf verständigt, dass
nach der Ökoverordnung die Kennzeichnung „Ohne
Gentechnik“ auch dann verwendet werden darf, wenn
Zusatzstoffe in der Produktion zum Einsatz kommen, die
gentechnisch verändert sind, und nichts anderes auf dem
Markt verfügbar ist. Bei Futtermitteln gilt das nicht. Das
ist eine Änderung im Vergleich zu den bisherigen Kennzeichnungsmöglichkeiten. Aber das ist ehrlich, weil wir
die Definition von Grüner Gentechnik entsprechend vorgenommen haben. Ich sage ganz offen: Da waren nicht
wir die Treiber, sondern das war unser Koalitionspartner.
({6})
Es bleibt also jetzt dem Verbraucher überlassen, mit
der Kenntnis, was hinter der Kennzeichnung „ohne Gentechnik“ steht, zu entscheiden, welche Produkte er kauft.
({7})
Dann wird sich herausstellen, welche Linien sich am
Markt durchsetzen und welche nicht. Aufgabe des Gesetzgebers ist es, die Wahlfreiheit zu ermöglichen. Das
tun wir mit diesem Gesetz in exzellenter Weise.
({8})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich das gleich
zu beschließende Gesetz bewerten. Ich glaube, es gibt
kaum eine Technologie, die so emotional diskutiert wird
wie die Grüne Gentechnik. Aber ich hoffe sehr, dass es
- das ist mehrfach angesprochen worden - gelingt, dass
die Grüne Gentechnik in der Bevölkerung genauso akzeptiert wird, wie es vorher die Rote und später die
Weiße erlebt hat. Ich bin der festen Überzeugung, dass
die Grüne Gentechnik viel mehr Potenzial im Sinne des
Umweltschutzes und auch im Sinne der Anwendungen
in der Nahrungsmittelerzeugung hat, als heute viele
wahrhaben wollen.
Ich will ein paar Beispiele nennen. So hat der Einsatz
von gentechnisch veränderten Pflanzen in den Vereinigten Staaten zu einer Rückführung des Einsatzes von
Pflanzenschutzmitteln seit 2003 in Höhe von 34 Prozent
beigetragen. Ist das kein Ergebnis?
({9})
Wir werden in den nächsten Jahren neue Nutzungsmöglichkeiten für diese Pflanzen haben. Frau HappachKasan hat das Beispiel Kartoffel genannt, wo sechs bis
sieben Pflanzenschutzspritzungen eingespart werden
können, wenn man die phytophthoraresistenten Sorten
anbaut, wo das Gen übrigens aus der Kartoffel stammt,
nicht aus irgendeiner anderen Pflanze.
({10})
Wir werden dadurch auch neue Resistenzen gegen
Trockenheit haben. Das wird bei der zunehmenden Klimaveränderung und Wasserknappheit von Bedeutung
sein. Wir werden damit Möglichkeiten schaffen, die
wachsende Erdbevölkerung und den durch die Änderung
des Konsumverhaltens steigenden Nahrungsmittelbedarf
in Zukunft abzudecken. Dieser wird in den nächsten
30 Jahren um 50 Prozent steigen, ungeachtet der Verwendung zur Erzeugung von Energie und als Rohstoff
für die technische Anwendung.
Die Grüne Gentechnik ist eine Chance, die wir unter
Berücksichtigung der Risiken - die wollen wir nicht außer Acht lassen - nutzen wollen. Wir haben die Ängste
aufgegriffen und sie in diesem Gesetz nach unserer Auffassung ausreichend berücksichtigt.
Wenn 10,3 Millionen Landwirte in 22 Ländern auf
über 100 Millionen Hektar Grüne Gentechnik anwenden, dann müssen wir uns fragen: Sind die alle dumm?
Sind die alle verantwortungslos?
({11})
Oder sind sie nur zukunftsgewandter als wir? Ich meine,
das Letztere ist der Fall.
({12})
Meine Damen und Herren, wir haben mit diesem Gesetz den Rahmen dafür geschaffen, dass die Verbraucher
und die Landwirte entscheiden können. Damit haben wir
auf Innovation mit Risikoabschätzung gesetzt. Ich bin
davon überzeugt, dass eine Technologie, die so viele
Chancen bietet und zum Wohle der Menschen und der
Umwelt genutzt werden kann, auch nicht durch Denkverbote aufgehalten werden kann.
Herzlichen Dank.
({13})
Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Miersch von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Happach-Kasan, was ich Ihnen empfehle, ist eine
Woche Kloster Plankstetten; vielleicht kommen Sie da
einmal zum Nachdenken.
({0})
- Das kriegen wir schon hin. Wenn die Mönche das gehört haben, werden sie Frau Happach-Kasan aufnehmen,
um sie auf den richtigen Weg zu bringen.
({1})
Denn das, was Sie hier gesagt haben, ist von vorne bis
hinten falsch. Das fängt schon damit an, dass der Deutsche Bundestag aufgerufen ist, Politik für die Bevölkerung zu machen und sehr wohl wahrzunehmen, dass
über 70 Prozent gegen Grüne Gentechnik sind.
({2})
Ihre Aufregung in diesem Haus zeigt mir, dass das
Gesetz, das wir hier vorlegen, ein gutes Gesetz ist. Das
spricht für die heutige Verabschiedung dieses Gesetzes.
({3})
Frau Höfken, für Sie war es ein schwieriger Drahtseilakt, das rot-grüne Gesetz, das uns als Grundlage
diente, mit dem heute zu verabschiedenden Gesetz zu
vergleichen. Natürlich waren Sie während der Zeit von
Rot-Grün gezwungen, europarechtliche Vorgaben zu beachten. Diesen Punkt lassen Sie aber einfach außer Acht.
Ganz nebenbei sagen Sie, die Kennzeichnung sei in Ordnung. Alle, die mit Grüner Gentechnik zu tun haben,
wissen, dass die Kennzeichnung ein Riesenfortschritt für
die Erhaltung der gentechnikfreien Landwirtschaft ist,
weil sie die Nachfrage der Verbraucherinnen und Verbraucher nach gentechnikfreien Produkten stärkt.
({4})
Sie sagen, bei der Haftung habe sich viel geändert.
Wenn Sie dem Kollegen Bleser zugehört hätten, dann
hätten Sie einen Eindruck davon bekommen, was alles
zur Disposition gestanden hat. Ich kann Ihnen sagen:
Wir haben an der Haftung nichts geändert. Wir haben am
Standortregister nichts geändert. Das ist ein wichtiger
Erfolg angesichts der Gentechniklobby, die in diesem
Bereich massive Veränderungen angemahnt hatte.
Es ist wichtig, bei den nachbarschaftlichen Absprachen ein wenig die Tatsache zu berücksichtigen, dass bei
all dem die Rechte Dritter zu beachten sind. Insofern haben wir notwendige Vorkehrungen getroffen, die es dem
Landwirt unter Umständen schwer machen, eine entsprechende Vereinbarung zu treffen. Das ist gewollt.
Wenn der Deutsche Bauernverband sagt, er rate vom Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen ab, dann ist das
ein wichtiges Signal. Damit können wir zufrieden sein.
({5})
Ich warne davor, sich zurückzulehnen und zu denken,
damit sei es jetzt gelaufen. Im Gegenteil! Ich glaube, wir
sind aufgerufen, dieses Thema im Deutschen Bundestag
auch weiter zu beraten,
({6})
irgendwann vielleicht mit anderen Mehrheitsverhältnissen.
Es ist auch wichtig, dass wir die Herausforderungen,
die mit der Grünen Gentechnik verbunden sind, realistisch bewerten. Wir müssen erkennen, dass es heute
schon Pflanzenarten gibt, die schlichtweg nicht koexistenzfähig sind. Ich würde mir wünschen, dass wir beispielsweise über ein Verbot für die Ausbringung von
Raps sowohl in der Forschung wie auch im kommerziellen Bereich nachdenken.
({7})
Ich würde mir wünschen, dass der Deutsche Bundestag sehr deutlich dafür eintritt, dass die sogenannte Terminatortechnologie, also das „Totmachen“ der Ernte
durch gentechnisch veränderte Pflanzen, verboten wird
und niemals Anwendung findet.
({8})
Herr Kollege Miersch, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Happach-Kasan?
Selbstverständlich.
Bitte schön, Frau Happach-Kasan.
Herr Kollege Dr. Miersch, es ist Ihnen sicherlich bekannt, dass auch in Deutschland die Koexistenz beim
Raps organisiert wird. Ich nenne beispielsweise den
Raps, der für die Lebensmittel- und Futtermittelindustrie
sowie für die Herstellung von Biodiesel angebaut wird.
Der Raps, der für die chemische Industrie angebaut wird,
enthält Erucasäure, die für die Tensidproduktion verwendet wird. Dieser Raps ist für die Lebensmittelproduktion nicht geeignet, weil er schlecht schmeckt und in
geringem Maße giftige Bestandteile enthält. Deswegen
können die Rückstände auch nicht als Futtermittel verwendet werden.
Ist Ihnen bekannt, dass diese Organisation beim Raps
reibungslos und mit großer Zufriedenheit der Landwirte
in Deutschland betrieben wird?
({0})
Liebe Frau Kollegin Happach-Kasan, mir ist bekannt,
dass gentechnisch veränderter Raps in Deutschland augenblicklich überhaupt nicht zugelassen ist. Jeder Verbraucher weiß, dass Raps über eine Distanz von vielen
Kilometern auskreuzt. Wenn man in den Vegetationsperioden an entsprechenden Regionen mit dem Auto vorbeifährt, sieht man, was Raps anrichten kann. Daher
bleibe ich dabei: Ein gentechnisch veränderter Raps
muss verboten bleiben.
({0})
Es ist auch wichtig, dass wir die Imkerproblematik
noch einmal sehr sorgfältig beraten. Aber auch da gehört
es zur Ehrlichkeit, Frau Kollegin Höfken, anzuerkennen,
dass Rot-Grün in diesem Punkt an Grenzen gestoßen ist.
Auch da ist Europa gefordert. Ich glaube, dass es gut ist,
Monitoring-Programme aufzulegen und diese Problematik, die eine ganz besondere ist und die unter Umständen
auch die Frage der Grünen Gentechnik noch einmal ganz
anders aufwerfen kann, hier im Hause in den zuständigen Gremien zu beraten.
Ein letzter Punkt: Wir sind gut beraten, wenn wir der
Bevölkerung genau zuhören und ihr die Möglichkeit geben, sich vor allen Dingen vor Ort zu entscheiden, ob sie
gentechnikfreien Anbau oder GVO-Anbau will. Die
gentechnikfreien Regionen sind ein wirksames Mittel,
um dem Willen der Bevölkerung Ausdruck zu verleihen
und Rechtsverbindlichkeit sicherzustellen. Ich wünsche
mir, dass es möglich sein wird - gerade auf kommunaler
Ebene, wo wir ja eine Bauleitplanung haben -, in den
Kommunalparlamenten tatsächlich Beschlüsse dazu zu
fassen. Wir sollten daran arbeiten, dass es verbindliche
gentechnikfreie Regionen in Deutschland geben kann.
Insofern warne ich davor, jetzt die Hände in den Schoß
zu legen. Die Arbeit an den offenen Fragen, die diese
Technologie aufwirft, muss jetzt eigentlich erst anfangen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Ulrich Kelber von der SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das heute vorliegende Gesetzespaket ist vor allem
aus zwei großen Bestandteilen zusammengesetzt: der
Frage der Kennzeichnung und der Frage des Anbaus.
Ich möchte am Anfang die Einschätzung des Zusammenschlusses der Umwelt- und Verbraucherschutzverbände, Campact, zitieren, der für eine gentechnikfreie
Landwirtschaft eintritt. Dort sagt man: Die neue Kennzeichnung ist ein großer Durchbruch für die gentechnikfreie Landwirtschaft und für die Wahlfreiheit der Verbraucherinnen und Verbraucher. - Dem ist nichts
hinzuzufügen, und die Glaubwürdigkeit ist auch an dieser
Stelle besonders hoch.
Die Einschätzung zum restlichen Gesetzespaket ist in
den Details nicht immer von Begeisterung und zum Teil
von Widerspruch geprägt. Sie lautet: Der Durchmarsch
der Grünen Gentechnik in Deutschland wird nicht stattfinden. - Das ist die Einschätzung der Verbraucher- und
Umweltschutzverbände.
({0})
Ich stimme Herrn Minister Seehofer zu, der gesagt
hat: Dieses Gesetz ist in diesen Fragen strenger als das
Recht, das noch aus rot-grünen Zeiten stammt. - Das ist
eine Sachfeststellung, kein Vorwurf an die damalige
Mehrheit. Sie wollte nämlich mehr erreichen, ist mit einigen zusätzlichen Vorlagen - daran muss man hier noch
einmal erinnern - aber am CDU/CSU-dominierten Bundesrat gescheitert.
„Ja zur Forschung - große Skepsis gegenüber der Anwendung“, das ist die Haltung an dieser Stelle. Ich unterstütze da die Einschätzung des Deutschen Bauernverbands. Meine Bewertung der derzeit angebotenen
gentechnisch veränderten Pflanzen ist die: Sie haben keinen ökologischen Vorteil. Sie haben keinen gesellschaftlichen Vorteil. Sie vernichten wirtschaftliche Chancen,
die wesentlich größer sind, nämlich im Bereich der konventionellen Züchtung, im Bereich der gentechnikfreien
Landwirtschaft und des Ökolandbaus, wo durch die
mangelnde Koexistenzfähigkeit sehr viel mehr Arbeitsplätze und sehr viel mehr Geld gefährdet sind. Von daher: Ja zur Forschung und so viel Nein wie möglich zur
Anwendung auf den Feldern.
Sie haben gesagt, die Koalition habe sich bei der Gentechnik auf Forschungs- und Anwendungsförderung geeinigt. Zur Ehrlichkeit gehört dazu: Das war eine Aussage zu allen Formen, also zur Roten, Weißen und
Grünen Gentechnik, und war nicht allein auf die Grüne
Gentechnik bezogen. Selbstverständlich wollen wir die
Anwendung der Weißen und Roten Gentechnik in
Deutschland befördern, weil sie wirklich viel Nutzen
bringt. Da danke ich für die differenzierte Einschätzung,
Frau Kollegin Tackmann.
Frau Happach-Kasan hat uns empfohlen, von den
Spaniern zu lernen. Sie hat gesagt, die hätten mehr Erfahrung mit Mais. Ich habe die Möglichkeit genutzt, aus
der ersten Reihe zu telefonieren, und habe mich nach
den Abstandswerten beim Maisanbau in Spanien erkundigt. Ich weiß nicht, ob sie das auch vorher getan hat.
Bei uns gilt jetzt: 150 Meter bei konventionellem und
300 Meter bei ökologischem Landbau. Die Werte in
Spanien sind: ebenfalls 300 Meter beim ökologischen
Landbau, aber 220 Meter plus vier Reihen Mantelsaat
beim konventionellen Landbau. Also sind die Werte in
Spanien strenger.
({1})
Die spanische Regierung hat zudem angekündigt, sie
weiter zu verschärfen.
({2})
Liebe Frau Happach-Kasan, bitte bringen Sie einen
Antrag ein mit dem Ziel, dass sich Deutschland bei den
Abständen beim Maisanbau an Spanien orientiert, weil
man das dort besser weiß! Wir unterstützen den dann
gern.
({3})
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Happach-Kasan?
Natürlich; ich habe eine solche Bitte noch nie abgelehnt.
({0})
Bitte schön.
Herr Kollege Kelber, es macht doch immer wieder
Spaß.
Das weiß ich erst nach der Frage.
Ich dachte, das wissen Sie auch vor der Frage. Ein
bisschen Voraussehen können Sie sich, glaube ich,
durchaus leisten.
Sicherlich wissen Sie wie ich, dass Spanien das Land
ist, das am meisten Bt-Mais anbaut. Das liegt auch daran, dass gerade Katalonien sehr viele Erfahrungen mit
dem Maiszünsler hat und diese Sorten sich dort hervorragend bewährt haben. Deswegen haben wir dort
jedes Jahr sehr große Zuwächse. Im vergangenen Jahr ist
Bt-Mais auf 75 000 Hektar angebaut worden. Das ist,
glaube ich, eine ganz gute Sache. Vor diesem Hintergrund hat der spanische Landwirtschaftsminister wohl
zu Recht erklärt - ich hoffe, das haben auch Sie gelesen -, dass sich Spanien - ({0})
- Entschuldigen Sie bitte, Herr Minister. Sie haben völlig recht.
Eine sehr charmante Kollegin übrigens.
Trotzdem darf er nicht von der Regierungsbank Zwischenrufe machen.
({0})
Tut mir leid, Herr Minister. Ich habe versucht, Sie zu
schützen.
({0})
Herr Kelber, Sie wissen, dass in Spanien auf
75 000 Hektar Bt-Mais angebaut wird. Sie wissen, dass
gerade Spanien sagt: Wir richten uns voll nach der
EFSA. Sie wissen, dass Spanien sagt: Wir wollen keine
Importverbote. Sicherlich wissen Sie auch, dass Koexistenz in Spanien zu der Zeit, als mit dem Anbau begonnen wurde, überhaupt nicht organisiert wurde. Ich hoffe,
Sie haben auch das gelesen.
Frau Happach-Kasan, es gibt manchmal Augenblicke,
in denen man lieber keine Zwischenfragen stellen sollte.
Sie haben vorhin gesagt, wir sollten bei den Anbauregeln von Spanien lernen. Ich habe Ihnen beigebracht,
dass die gesetzlichen Regelungen in Spanien bereits
heute strenger sind und dass die Spanier sie weiter verschärfen wollen. Damit, dass Sie das nicht verneint haben, haben Sie diese Aussage sozusagen bejaht. Von daher bedanke ich mich für die Zwischenfrage an dieser
Stelle.
({0})
Nun aber noch ein Punkt zu den Grünen. Man hat
schon die Bemühung bemerkt, das Gesetz zu kritisieren.
Originalzitat: 99 Prozent des Gesetzes sind Mist. - Das
hat Uli Höfken gerade gesagt, und das bei einem Gesetz,
das zu 99 Prozent identisch mit den Regelungen aus rotgrüner Zeit ist.
({1})
Zu den privatrechtlichen Absprachen. Meiner Meinung nach wären privatrechtliche Absprachen nicht nötig. Aber man muss sich wirklich anschauen, was heute
und was in Zukunft möglich ist.
Heute ist es möglich, dass zwei Nachbarn - einer
möchte Genmais anbauen; dem anderen ist es egal - mit
einem Fingerschnipp eine Genossenschaft gründen. Für
die gemeinsamen Felder gelten dann keinerlei Abstandswerte.
In Zukunft können sie eine privatrechtliche Absprache treffen. Dafür muss zunächst ein Einschreiben unterwegs sein. Das kann nicht verloren gehen oder irgendeinem anderen gegeben werden. In diesem Schreiben
muss auf die Rechtsfolgen hingewiesen werden. Die
Ernte des Nachbarn muss ebenfalls gekennzeichnet werden. Er muss alle Dritten, mit denen er Maschinen, Lagerflächen und Ähnliches gemeinsam nutzt, informieren
und fragen, ob es Konflikte gibt. Dann wird diese Absprache noch ins Standortregister eingetragen. Das ist
schärfer als die heutigen Möglichkeiten und keine Aufweichung. Das muss man einfach akzeptieren.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Höfken?
Ja, natürlich.
({0})
Bitte schön.
Ich gebe zu: Auch ich muss weg. Trotzdem will ich
aufmerksam bleiben und natürlich auch fragen.
Erstens. Die unternehmerische Freiheit der Landwirte, vor allem derjenigen, die nicht Gentechnik anbauen wollen, wird durch die Offenlegungszwänge, die
hinter dieser Regelung stehen, erheblich eingeschränkt.
Fragezeichen.
({0})
Zweitens. Die Haftungsanforderungen sind völlig ungeklärt. Fragezeichen natürlich.
Drittens. Ebenso sind die Kontrollmöglichkeiten völlig ungeklärt. Auch dahinter mache ich natürlich ein Fragezeichen.
Sie weisen auf mögliche privatrechtliche Umgehungen durch Betriebsteilungen oder -zusammenführungen
hin, die heute möglich sind. Das ändert aber nichts daran, dass Ihr Gesetzentwurf zu einer drastischen Drängelei und zu einer unternehmerischen Einschränkung derjenigen führt, die gentechnikfrei wirtschaften. Das finde
ich nicht in Ordnung.
({1})
- Fragezeichen.
Ich nehme das als Frage. - Es sind zwei Punkte zu unterscheiden.
Zur Haftung. Die Einschätzung von Campact, die
Pressemitteilung des BUND von gestern und die Mitteilung des Bundes Ökologische Lebensmittelwirtschaft
von vor drei Tagen stimmen darin überein, dass die Haftungsfragen gegenüber dem bisherigen Gesetz völlig unverändert bleiben - so die Expertinnen und Experten.
({0})
Bei dem anderen Punkt haben Sie zwei Sachen vermischt, nämlich die privatrechtlichen Absprachen, die
freiwillig sind, und die Frage, ob man auf die Information seines Nachbarn antwortet, der sagt: Ich will Genmais anbauen; was machst du auf deinen Grundstücken,
die in dem entsprechenden Radius - 150 oder 300 Meter - liegen? - Auch dort bekommt man ein Einschreiben mit Rechtsfolgenhinweis, und diese Auskunft muss
zu einem Zeitpunkt gegeben werden, wo jeder Landwirt
bereits entschieden und disponiert haben muss, was er
tut. Wenn sie nicht gegeben wird, kommt etwas gegenüber dem heutigen Recht Zusätzliches ins Spiel: Es wird
nämlich dann in das Grundstücksregister eingetragen,
dass nicht klar ist, ob die entsprechenden Abstandswerte
eingehalten worden sind. Die Kontrollbehörde kann das
dann kontrollieren. Von daher gibt es aus meiner Sicht
auch hier eine Klarstellung und eine Rechtsverbesserung
gegenüber der aktuellen Situation.
({1})
Ich freue mich, Herr Minister Seehofer, dass am Ende
die von uns vorgeschlagene Form der Kennzeichnung
sehr fair aufgenommen wurde. Sie sind ja auch in den
letzten Tagen von vielen Verbänden auf der Grünen Woche für die neue Kennzeichnung öffentlich gelobt worden, ebenso für die Beibehaltung des Bundesprogramms
Ökologischer Landbau, das wir von Ihnen gewollt haben. Diese Arbeitsteilung sollten wir beibehalten: Sie
übernehmen sozialdemokratische Inhalte und werden
dafür öffentlich gelobt. Ich habe für die Zukunft noch einige weitere Beispiele: die Umschichtung von Agrarsubventionen, die Nährwertkennzeichnung, die Erweiterung
des Verbraucherinformationsgesetzes. Lassen Sie es uns
so machen: Sie übernehmen es und lassen sich dann in
der Öffentlichkeit dafür loben. Das reicht uns als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten.
({2})
Es gibt ein paar Punkte, die für die nationale Politik
auch nach heute wichtig sind. Erstens müssen wir uns in
der Tat um einige Fragen der Belange der Imker in unserem Land kümmern, die nicht beantwortet sind und auf
die es auch noch nicht an allen Stellen Antworten gibt.
Von daher meine Bitte an Sie, Herr Seehofer: Lassen Sie
uns eine nationale Imkereikonferenz einberufen, auf der
wir über sämtliche Fragen sprechen, die die Imker in
Deutschland betreffen - dabei wird es auch um Fragen
des Nachwuchses und der Organisation gehen -, weil
wir die Imkereiwirtschaft und ihre Bedeutung für die
deutsche Landwirtschaft stärken müssen.
({3})
Zweitens werden wir uns um das europäische Recht
kümmern müssen; dort ist im Hinblick auf die Grüne
Gentechnik einiges im Argen. Es geht sowohl um die
stärkere Wissenschaftlichkeit des Zulassungsverfahrens
als auch um eine demokratische Beurteilung. Es geht
eben nicht nur darum, ob eine Pflanze für sich genommen für Organismen und die menschliche Gesundheit
ungefährlich ist, sondern auch darum, ob sie Anbaukulturen, Formen der Wirtschaftlichkeit anderer Kulturen
gefährdet. Auch dies muss geklärt werden, und das ist
eine gesellschaftliche und keine isolierte wissenschaftliche Entscheidung. Wir brauchen die Möglichkeit der
Verbindlichkeit von gentechnikfreien Regionen. Wir
brauchen eine klare Kennzeichnung von Saatgut in der
Form, dass Saatgut nur einen besonders geringen Anteil
haben darf, der praktisch an der Nachweisbarkeitsgrenze
liegt, damit sich der Gentechnikanteil auf den Feldern
nicht hochschaukelt. Die Kennzeichnung, die wir jetzt
national auf den Weg bringen, brauchen wir europaweit
ebenso verbindlich. Die SPD wird bis zur Sommerpause
einen Vorschlag für eine solche gemeinsame Initiative
des Deutschen Bundestages auf den Tisch legen.
({4})
Auch mein dritter Punkt stellt eine Bitte an Sie dar,
Herr Seehofer. Sowohl das gültige Recht als auch das,
das wir heute verabschieden und das hoffentlich bald im
Bundesgesetzblatt stehen wird, erlaubt Ihnen, in der
Verwaltungspraxis über das Problem mit Genmais
MON810 zu entscheiden. Die Fragen sind gewichtig genug, dass wir es nicht zulassen sollten, dass zum
Beispiel in Unterfranken in der nächsten Saison auf
110 Hektar diese Sorte angebaut wird. Ich fordere Sie
auf, Ihre Möglichkeiten auszuschöpfen, anderen Ländern in der Europäischen Union zu folgen und den Anbau von MON810 wegen der ungeklärten Fragen auf
Grundlage unserer bestehenden Gesetze zu untersagen.
Das ist die klare Bitte der SPD an Sie.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Bevor wir zur Abstimmung kommen, teile ich Ihnen
mit, dass zwei Erklärungen zur Abstimmung nach § 31
der Geschäftsordnung von den Kollegen Michael Brand
und Josef Göppel aus der CDU/CSU-Fraktion vorlie-
gen.1)
1) Anlage 2
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/7868, den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/6814 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen hat Teilung der Frage beantragt. Ich
rufe daher zunächst Art. 1, Art. 4 und Art. 5 Abs. 1 so-
wie Einleitung und Überschrift des Gesetzentwurfes der
Bundesregierung in der Ausschussfassung auf und bitte
diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Art. 1, Art. 4, Art. 5
Abs. 1 sowie Einleitung und Überschrift sind angenom-
men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Oppositionsfraktionen.
Ich rufe jetzt Art. 2, Art. 3 und Art. 5 Abs. 2 des Ge-
setzentwurfes in der Ausschussfassung auf. Ich bitte dieje-
nigen, die zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Ge-
genstimmen? - Enthaltungen? - Art. 2, Art. 3 und Art. 5
Abs. 2 sind mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die
Stimmen der FDP-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke angenommen. Damit ist der Gesetzentwurf in
allen Teilen in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei einer
Gegenstimme aus den Reihen der CDU/CSU-Fraktion
und gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen ange-
nommen. Der Kollege Göppel hatte, wie ich bereits er-
wähnt habe, zuvor eine persönliche Erklärung zur Ab-
stimmung abgegeben.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs-
antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/7887.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegen-
stimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag
ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der FDP-Fraktion bei Zustimmung der Fraktionen
Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen.
Abstimmung über den von der Bundesregierung ein-
gebrachten Gesetzentwurfes zur Änderung des EG-Gen-
technik-Durchführungsgesetzes. Der Ausschuss für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz emp-
fiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/7868, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 16/6557 anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung ange-
nommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen
gegen die Stimmen der FDP-Fraktion.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion
der FDP zur Änderung des Gentechnikgesetzes. Der
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 16/7868, den Gesetzentwurf der
Fraktion der FDP auf Drucksache 16/4143 abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
abgelehnt mit den Stimmen aller Fraktionen bei Zustim-
mung der FDP-Fraktion. Damit entfällt nach unserer Ge-
schäftsordnung die weitere Beratung.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernäh-
rung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem An-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel
„Schutz von Mensch, Umwelt und gentechnikfreier Pro-
duktion im Gentechnikrecht bewahren“. Der Ausschuss
empfiehlt unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/7868, den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/6943 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegen-
stimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Frak-
tionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernäh-
rung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem An-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel
„Einfuhrverbot für Produkte aus dem gentechnisch ver-
änderten Mais MON863 anordnen“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/5948, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 16/4905 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-
Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke
und Bündnis 90/Die Grünen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernäh-
rung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem An-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel
„Kennzeichnung gentechnikfreier Fütterung bei tieri-
schen Produkten ermöglichen“. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/7283, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 16/6944 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-
Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke
und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7835 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b
auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Bundespolizeigesetzes und
anderer Gesetze
- Drucksachen 16/6291, 16/6569 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 16/7871 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ralf Göbel
Dr. Dieter Wiefelspütz
Petra Pau
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({1}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Silke Stokar von
Neuforn, Volker Beck ({2}), Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einrichtung einer Polizeireformkommission
- Drucksachen 16/3704, 16/4837 Berichterstattung:
Abgeordnete Clemens Binninger
Wolfgang Gunkel
Petra Pau
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Damit eröffne ich die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Parlamentarischen Staatssekretär
Dr. Christoph Bergner von der Bundesregierung das
Wort. - Bitte schön.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Novelle des Bundespolizeigesetzes, die wir zu dieser nachmittäglichen Stunde nach intensiver Beratung sowohl in
den Gremien der Koalition wie auch im Fachausschuss
beschließen wollen, ist ein wichtiger Bestandteil der
Neuorganisation der Bundespolizei.
Als Ergebnis dieser Neuorganisation wird die Bundespolizei die wachsenden Anforderungen besser bewältigen können. Wir reagieren damit nicht nur auf die Erweiterung des Schengen-Raums. Die Neuorganisation
stellt auch eine Antwort dar auf weitere veränderte sicherheitspolitische Herausforderungen wie die zunehmende terroristische Bedrohung, die dynamischen Entwicklungen der Verkehrsströme und die Bekämpfung
illegaler Migration.
Dieser Gesetzentwurf ist Bestandteil der Neuorganisation, aber eben nur ein Bestandteil. Weitere wesentliche Bausteine liegen im ausschließlichen Verantwortungsbereich des Bundesministeriums des Innern. Dazu
gehören etwa die Festlegung von Zahl und Sitz der
Bundespolizeibehörden und -dienststellen, deren Personalausstattung sowie die sachliche und örtliche Zuständigkeit der Behörden. Diese zuletzt genannten Entscheidungsfelder zählen - darauf haben die Vertreter der
Koalitionsfraktionen in der Beratung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages zu Recht gemeinsam
verwiesen - zur Organisationsgewalt des zuständigen
Fachministers.
Unter der Vielzahl der Zuschriften zu diesem Gesetzentwurf - diese Erfahrung konnten wir in unserem
Hause machen - dominieren eindeutig die Äußerungen
zu diesem zweiten, in der Organisationsgewalt des Ministeriums liegenden Komplex. Das zeigt das besondere
Interesse an Dingen aus einem Bereich, der nicht unmittelbar Gegenstand des Gesetzentwurfes ist. Das unterstreicht auch das Spannungsfeld der Kompetenzverteilung zwischen Ministerium und Parlament, das diese
Gesetzesberatung aus unserer Sicht in besonderer Weise
prägte.
Ich darf Ihnen versichern, dass wir um die regionalen
Verpflichtungen und Erwartungen wissen, mit denen der
einzelne Abgeordnete konfrontiert wird. Natürlich wissen wir auch, dass der eine im Ergebnis glücklicher und
der andere weniger glücklich sein wird. Aber dies darf
uns nicht daran hindern, ein Gesamtkonzept zu vertreten,
und dies darf das Parlament nicht daran hindern, das vorliegende Gesetz nach eingehender Beratung zu beschließen.
Mit dem heute hier zu beschließenden „Entwurf eines
Gesetzes zur Änderung des Bundespolizeigesetzes und
anderer Gesetze“ wird der Weg freigemacht, um erstmals eine Oberbehörde zur einheitlichen polizeilichen
Steuerung der gesamten Bundespolizei zu schaffen. Damit wird ein ganz zentraler Bestandteil der Neuorganisation der Bundespolizei umgesetzt. Aus dem Ministerium
werden dabei konsequent nichtministerielle Aufgaben
abgeschichtet, die diese Oberbehörde künftig übernehmen wird. Die bisherigen regionalen Bundespolizeipräsidien und die zentrale Bundespolizeidirektion gehen in
dieser Oberbehörde auf. Außerdem werden die Bundespolizeiämter zu Bundespolizeidirektionen aufgewertet.
Sie werden mehr Verantwortung tragen und in der Regel
auch über einen größeren Personalkörper verfügen.
({0})
Dies alles muss sich auch in der Besoldungsstruktur
widerspiegeln. Deshalb sind wir den Koalitionsfraktionen sehr dankbar, dass sie über einen Änderungsantrag
den notwendigen dienst- und besoldungsrechtlichen
Rahmen schaffen, um den betroffenen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern schnell eine Perspektive zu eröffnen,
künftig auch entsprechend dem Mehr an Verantwortung,
das sie zu übernehmen haben, honoriert zu werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Umsetzung
wird natürlich eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen.
Der Gesetzentwurf enthält daher auch ganz bewusst eine
mit den Gewerkschaften und Interessenvertretungen abgestimmte Übergangsregelung,
({1})
damit den Beschäftigten auch in der Übergangsphase Interessenvertretungen zur Verfügung stehen. Bundesminister Schäuble hat immer wieder betont, dass mit der
Neuorganisation - dies zitiere ich hier gern - nicht nur
das polizeilich Erforderliche, sondern auch das sozialverträglich Mögliche erreicht werden muss.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang kurz auf
den ebenfalls auf der Tagesordnung stehenden Antrag
zur Einrichtung einer Polizeireformkommission eingehen, der bereits in der Sitzung vom 20. März 2007 durch
den Innenausschuss zu Recht abgelehnt wurde. In diesem Zusammenhang ist nicht nur darauf zu verweisen,
dass man aufpassen muss, die Zuständigkeiten der Exekutive und die Kontrollpflichten und die Kontrollverantwortung des Parlaments nicht zu verwischen, sondern
auch darauf, dass wir den Faktor Zeit bei den Beratungen im Blick haben sollten.
Im Rahmen der öffentlichen Anhörungen wurden materiellrechtliche Änderungen bei den Aufgaben und Befugnissen der Bundespolizei gefordert. Auch Grundsatzfragen wurden gestellt. Für beides gilt: Natürlich bietet
eine so weitgehende Reform breiten Diskussionsstoff,
aber es gilt eben auch: Die Beschäftigten der Bundespolizei werden dem Gesetzgeber dankbar sein, wenn der
derzeit andauernde Schwebezustand bald beendet wird.
Alle Beteiligten brauchen jetzt schnell Klarheit über die
künftige Struktur.
Unser Dank gilt den Beschäftigten, die sich auch in
dieser Phase der Veränderung loyal und verlässlich gezeigt haben. Sie haben den Prozess der Neuorganisation
aktiv beobachtet und mitgestaltet. Artikulationen eigener
Interessenlagen sind legitim. Unzählige wertvolle Anregungen und gute Vorschläge sind eingegangen und in die
Feinplanung eingeflossen.
Selbstverständlich wird das Bundesministerium des
Innern bei der Umsetzung der Neuorganisation ein besonderes Augenmerk auf die Sozialverträglichkeit und
auch auf die anderen Punkte richten, die in dem Entschließungsantrag vom 23. Januar vom Innenausschuss
an uns herangetragen wurden.
({2})
Herr Kollege Bergner, ich bitte, zum Schluss zu kommen.
Ein kontinuierlicher Evaluierungsprozess soll natürlich eine Reform wie diese begleiten.
Angesichts der begrenzten Redezeit möchte ich
- nicht zuletzt mit Blick auf die Beschäftigten - meiner
Hoffnung Ausdruck verleihen, dass mit der heutigen
parlamentarischen Beratung der Abschluss gefunden
und Klarheit geschaffen wird, damit wir zügig in die
Umsetzungsphase eintreten können.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz von der FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
1 000 Bundespolizisten mehr im operativen Bereich das ist ein lobenswertes Ziel, keine Frage.
({0})
- Das ist aber wahrscheinlich das einzige Mal, dass ich
nett zu Ihnen bin.
({1})
- An Ihrer Stelle wäre ich ruhig. Sie trifft es voll. ({2})
Natürlich bietet sich die Verlagerung der SchengenGrenzen an, um über eine neue Aufgabenverteilung
nachzudenken.
In der Anhörung wurde jedoch - nicht nur uns - einiges deutlich: Es fehlt belastbares Material, zum Beispiel
eine Bestandsanalyse. Es fehlt eine Bewertung der letzten großen Reform, der von 1998, damit Ihre Pläne für
uns voll und ganz nachvollziehbar sind. Transparenz in
der Entscheidungsfindung haben Sie zwar angekündigt;
aber im wirklichen Leben sieht es anders aus.
Herr Staatssekretär, ich wundere mich eigentlich, dass
Sie auf diese Hängepartie hinweisen, der die Beschäftigten immer noch ausgesetzt sind. Sie haben doch diese
Hängepartie herbeigeführt. Jetzt beenden Sie sie und tun
auch noch so, als ob das eine Leistung wäre. Was das
Verfahren angeht, hätte ich mir das wirklich anders vorgestellt.
({3})
Eine konsequente Neuorganisation, um mehr Sicherheit für unsere Bürgerinnen und Bürger zu schaffen, hätten wir mittragen können. Die Flughäfen werden aber
nur am Rande erwähnt. Die Bundespolizei im Ausland
- der sogenannte Auslandsverwendungspool - wird gar
nicht erwähnt. Wir hätten uns zum Beispiel auch gewünscht, dass man die Ausbildung in der Akademie erwähnt. Das alles haben Sie nicht getan.
Das Gesetz, das wir hier heute beschließen sollen, regelt nur den Führungsaufbau der Bundespolizei. Konsequenzen reichen aber bis zu jeder Dienststelle. Gleichzeitig findet damit eine Neuorganisation der gesamten
Bundespolizei statt, die Konsequenzen für die Laufbahn
vieler Beamtinnen und Beamter hat.
Der Gesetzentwurf kann aus unserer Sicht nicht unabhängig von der Neuorganisation betrachtet werden. Das
war in der Anhörung klar und ist in der letzten Woche,
spätestens am Dienstagabend, auch den Koalitionsfraktionen klar geworden. Da haben sie nämlich einen
Entschließungsantrag formuliert, mit dem sie - ein charmanter Vorgang - ihr eigenes Gesetz kommentieren.
Wenn Sie möchten, dass die im Entschließungsantrag
angeführten Punkte Gesetz werden: Warum sorgen Sie
nicht dafür? Warum stellen Sie einen Entschließungsantrag und bringen diesen nur in den Innenausschuss ein?
Sie haben nicht den Mut, diesen Antrag heute hier zu beraten, sondern Sie haben den Antrag klammheimlich im
Innenausschuss gestellt und damit der Öffentlichkeit entzogen. Sind Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, nun
Mitglieder der die Regierung tragenden Fraktionen, oder
sind Sie es nicht? Das muss man sich angesichts dessen
fragen.
({4})
Jetzt zur SPD. Herr Körper, ich habe gesehen: Heute
darf nur einer reden. Weder darf der Berichterstatter
noch dürfen Sie sprechen. Das lässt schon tief blicken.
Ich möchte Sie, Herr Körper, deshalb gern einmal zitieren:
Wir möchten noch einmal grundsätzlich über die
Neuorganisation der Bundespolizei reden - das
sage ich ganz deutlich -;
- das haben Sie gesagt, nicht ich denn die Auswirkungen, wie sie sich darstellen
können, sind unserer Auffassung nach nicht geeignet, polizeiliche Arbeit zu effektivieren und zu forcieren.
({5})
Was ist daraus geworden? Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie waren es, die den Bundespolizistinnen und Bundespolizisten begründete Hoffnung gemacht haben, weil Sie hier mit der CDU/CSU die
Mehrheit stellen. Sie wollten sich für jeden Einzelnen
einsetzen. Sie haben Versprechungen gemacht und medienwirksam Schlüsselübergaben verweigert. Was ist dabei herausgekommen?
({6})
Im Prinzip überhaupt nichts!
({7})
Wenn Sie das unter „Ausübung von Regierungsverantwortung“ und „Einsatz für die Bundespolizei“ verstehen,
dann bin ich mehr als enttäuscht. Das gilt nicht nur für
mich, sondern mit Sicherheit auch für viele in der Bundespolizei.
Ich möchte auf diesen Entschließungsantrag zurückkommen, der hier so gelobt wird. Sicherlich haben ihn
einige nicht gelesen. In Punkt 1 steht:
Der Innenausschuss des Deutschen Bundestages
geht davon aus, dass die Sozialverträglichkeit unter
Berücksichtigung der bereits erzielten Ergebnisse
besonders beachtet wird.
Das bringt dem Einzelnen nicht wirklich etwas, oder?
Unter Punkt 4 heißt es in diesem Entschließungsantrag:
Der Innenausschuss des Deutschen Bundestages
begrüßt die vorgesehene konsequente Abschichtung nicht-ministerieller Aufgaben auf das künftige
Bundespolizeipräsidium.
Schauen Sie sich die Aufteilung einmal an: Es sind nur
zehn Planstellen davon betroffen. Das ist für mich keine
konsequente Aufteilung, sondern, im Gegenteil, eine
Aufblähung.
({8})
Wenn die Bundesregierung im Haushaltsausschuss sagen muss, dass sie noch keine abschließende Bewertung
vorgenommen hat, dann frage ich mich, warum Sie diese
Reform hier heute einbringen.
({9})
Besonders schön finde ich persönlich die Ziffer 6:
Die Umsetzung und Ergebnisse der Neuorganisation der Bundespolizei werden vom Bundesministerium des Innern überprüft.
Das kann man so machen, wenn man es aus der Hand
geben will. Das Schöne dabei ist aber, dass es bis zum
1. März 2010 einen Bericht geben soll. Ich bin sicher,
Sie zusammen werden da gar nicht mehr regieren.
({10})
Darüber hinaus ist auch klar: Das fällt unter die Diskontinuität des Parlaments. Das heißt, das ist das Papier
nicht wert, auf dem es steht. Das finde ich besonders bedauerlich.
({11})
Apropos „wert“: Was soll das Ganze kosten? Nach
dem Gesetzentwurf kosten die Beschilderung einzelner
Liegenschaften 25 000 Euro und neues Papier, neue
Stempel usw. 165 000 Euro. Dann steht im Gesetzentwurf: „Weiterer Vollzugsaufwand entsteht nicht.“ Darüber, glaube ich, können wir hier lang und breit streiten.
({12})
- Das ist zwar kein parlamentarischer Ausdruck, aber
ich würde Ihnen nicht widersprechen, Herr Kollege.
({13})
In einem Bericht an den Haushaltsausschuss sind an
Kosten für Umzüge und Trennungsentschädigungen insgesamt knapp 100 Millionen Euro, verteilt auf die nächsten drei Jahre, aufgeführt worden. Ist das nichts?
Sie überlegen, ein neues Bundespolizeipräsidium in
Potsdam zu bauen. Sie ziehen einmal um, Sie ziehen
zweimal um. Übrigens finde ich, es ist ein Unding, dass
eine Schlüsselübergabe stattfindet - da gebe ich Ihnen
Recht; aber das ist auch das einzige Mal, Herr Körper -,
bevor der Bundestag überhaupt eine Entscheidung getroffen hat. Sie ziehen um, bevor wir das entschieden
und genehmigt haben. Ich finde, so geht man mit dem
Parlament nicht um.
({14})
Das kann man nicht machen. Auch dafür sind noch einmal mindestens 100 Millionen Euro fällig. Das entspricht ja wohl nicht dem, was im Gesetz steht.
Dann komme ich noch auf eine hübsche Sache, nämlich darauf, wie viele B-Stellen eigentlich neu geschaffen werden. Deren Zahl erhöht sich - ein Schelm, wer
Böses dabei denkt - von 12 auf 26.
({15})
Wenn Sie einmal den Bundesrechnungshof dazu befragen, dann wird er Ihnen sagen, dass es erhebliche Hebungen im Vergleich zu anderen Ämtern und ein
Ungleichgewicht bei der Bewertung der jeweiligen Leitungsfunktionen gibt. Er sagt: Wir können für die regionalen Bundespolizeidirektionen die Notwendigkeit eigenständiger Vizepräsidentenfunktionen nicht erkennen. Und: Das BMI hat in dem vorliegenden Bericht die Erforderlichkeit einer zusätzlichen Funktion „Stellvertreter“ zum Beispiel nicht nachgewiesen.
Das ist aus meiner Sicht eine Ohrfeige für die neue
Stellenbewertung in Ihrem Haus. Es ist mitnichten so,
dass das üblich ist, wie es uns in der Anhörung vorgegaukelt worden ist, sondern das ist aus unserer Sicht einfach Geldverschwendung, nur damit Menschen befördert werden. Das freut mich für jeden persönlich. Aber
das hat mit Bundespolizeireform nichts zu tun.
({16})
Wir sehen diese Bundespolizeireform nicht als singuläre Maßnahme, sondern sie bestätigt unseren Eindruck,
dass es immer mehr Zentralisierung in diesem Land gibt.
Das macht uns Sorge; denn eines ist doch klar: Nicht alles, was im Bund und zentral geregelt wird, wird auch
besser geregelt. Wir haben den Eindruck, dass Sie die Sicherheitsarchitektur komplett umbauen wollen. Da
kommt Ihnen der Umbau der Bundespolizei sehr entgegen. Für Liberale gibt es bei diesem Thema kein
„Anything goes!“ Was für den Architekten eines Gebäudes die Statik ist, ist für den Sicherheitsarchitekten die
Verfassung. So, wie die Statik nicht im Belieben des Architekten steht, steht die Verfassung nicht im Belieben
des Innenministers. Wir Liberale wissen das. Wir hoffen,
dass das Parlament insgesamt das irgendwann auch begreift.
Herzlichen Dank.
({17})
Das Wort hat der Kollege Michael Hartmann von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Frau Piltz, ich zittere zwar immer noch ein
wenig ob Ihrer Aussage, dass es die SPD voll treffen
werde. So richtig wahrgenommen habe ich das nicht. Ich
wage es allerdings dennoch, hier ans Pult zu treten, um
Ihnen wenigstens in einem Punkt zu entgegnen.
({0})
Frau Piltz, in der Opposition zu sein, ist nun einmal
wirklich doof: Man meckert, man mäkelt, aber man
bringt nicht einen Vorschlag ein, wie zum Beispiel die
Bundespolizei - darum geht es in diesem Fall - perspektivisch entwickelt werden kann. Wenn Sie glauben, dass
Ihre Kritik berechtigt ist, dann dürfen wir auch erwarten,
dass Sie einen Vorschlag machen, wie die Bundespolizei
für die Zukunft aufgestellt werden soll.
({1})
Dazu kam an diesem Freitagnachmittag nicht ein Satz
von Ihnen; das ist sehr schade.
({2})
- Lieber Herr Wieland, keine Angst, ich gehe mit unserer Lebenszeit sorgsam um. Die Drohung, 19 Minuten
zu reden, werde ich nur dann wahrmachen, wenn Sie
mich weiter durch Zwischenrufe ärgern.
({3})
Unsere Bundespolizei bildet einen zentralen Eckpfeiler der Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik
Deutschland. Die Zeiten ändern sich, und damit gibt es
auch andere Herausforderungen für die innere Sicherheit. Sie unterliegen dem Wandel, und diesem Wandel
kann und will sich auch die Bundespolizei nicht entziehen. Mit dem Fall der Mauer, der Wiederherstellung der
deutschen Einheit und dem Ende des Ost-West-Konflikts
hat sie viele Veränderungen erlebt. Auch heute gibt es
Veränderungen: Die Grenzen des Schengen-Raums haben sich verschoben. Wir haben neue Herausforderungen zu bewältigen, die sich aus dem internationalen TerMichael Hartmann ({4})
rorismus ergeben. Und unsere Flughäfen - das ist ein
ganz wichtiger Punkt im Zusammenhang mit der Reform
unserer Bundespolizei - werden als Grenzübergänge immer wichtiger.
({5})
Die rund 40 000 bei der Bundespolizei Beschäftigten,
die sich nie ihrer Pflicht entzogen haben und auch jetzt
nicht ihrer Pflicht entziehen, wissen das. Sie sind Bundesbeamte und wissen, dass sie davon ausgehen müssen,
dass sie nicht immer und ewig an einem Standort bleiben
werden.
Seit 1990 wurden bereits zwei große Reformen
durchgeführt; nun steht die dritte an. Frau Piltz, die SPD
hat es sich als Regierungspartei mit dieser Reform in der
Tat nicht leicht gemacht. Die SPD ist der Bundespolizei
und all ihren Beschäftigten spätestens seit der Ära Otto
Schily in besonderem Maße verpflichtet und bleibt das
auch. Wir werden immer darauf achten, dass die Belange
der Beschäftigten der Bundespolizei angemessen berücksichtigt werden. Wenn es sein muss, legen wir uns
da und dort auch mit dem Koalitionspartner an.
({6})
Der Bundesinnenminister hat eine Organisationsentscheidung getroffen. Herr Staatssekretär Bergner, Sie haben mit Recht - das ist der juristisch korrekte Terminus von der Organisationsgewalt gesprochen. Aber gelegentlich haben wir den Eindruck, dass das Wort „Gewalt“ im
Ministerium sehr genau genommen wird.
({7})
Wir sprechen in diesem Zusammenhang lieber von der
Organisationshoheit des Ministers in bestimmten Bereichen. Wie dem auch sei: Dem Ministerium sei zugestanden, dass Organisationsentscheidungen und Reformen
bei einem so großen Personalkörper nie einfach sind.
Die Kritiker sind laut, die Befürworter im Regelfall
leise. Die Versuchung für uns als Abgeordnete, quasi lokalegoistisch zu argumentieren, ist immer groß. Das mag
da oder dort zwar sachlich-fachlich begründet sein,
grundsätzlich versucht aber jeder von uns, seine Pflicht
wahrzunehmen und sich für die Interessen des eigenen
Wahlkreises einzusetzen, während dem Ministerium die
Gesamtabwägung obliegt.
Der SPD ging es bei der Kritik an den Plänen des
Bundesinnenministeriums nicht um lokalegoistische Belange. Uns ging es nicht darum, standortegoistisch zu
agieren. Es ging uns aber sehr wohl darum, strukturkritisch die Reform anzugehen. Das wäre uns allerdings
leichter gefallen und besser möglich gewesen, wenn der
Diskussion über die Reform der Bundespolizei eine
nachvollziehbare Aufgabenkritik vorausgegangen wäre.
({8})
Die SPD trägt gerne all das mit, was polizeifachlich
gerechtfertigt ist. Wir wissen dabei sehr genau, wo die
Grenzen des parlamentarischen Einflusses liegen. Vor
diesem Hintergrund werden wir dem Gesetz, das nicht
die Details, über die in der Öffentlichkeit besonders
stark diskutiert wird, regelt, grundsätzlich zustimmen.
Wir werden auch den Grundsätzen des Gesetzes zustimmen. Ich sage Ihnen aber deutlich: Wir stimmen nicht
leichten Herzens zu, sondern sehr schweren Herzens und
an einzelnen Stellen voller Zweifel.
({9})
Manches schmerzt bitter, was infolge der Änderungen
des Bundespolizeigesetzes geschehen wird. Wir hätten
gern mehr und Besseres für diese Mannschaft, die gut ist
und es verdient hätte, erreicht. Aber es war nicht möglich. Letztlich spielte - ich gebe dies gerne zu - auch die
Koalitionsräson bei der ganzen Geschichte eine große
Rolle.
Damit eines klar ist: Das Ziel des Bundesinnenministeriums, Herr Staatssekretär Dr. Bergner, nach dem Wegfall der Schengen-Grenzen für mehr Polizeipräsenz in
der Fläche zu sorgen und Strukturen effizienter zu gestalten, zu verschlanken und gewinnbringender einzusetzen, teilen wir. Da stehen wir beieinander. Wir haben allerdings unsere Zweifel, ob dieses Ziel durch diese
Reform tatsächlich überall erreicht wird. Wir erlauben
uns, diese Zweifel in sachlicher Kritik
({10})
und nicht in einem boshaften Angriff auf den Koalitionspartner zu äußern.
Sie wissen - Herr Staatssekretär, Sie haben das erwähnt -, dass die Mannschaft in hohem Maße verunsichert ist.
({11})
Es handelt sich um persönliche Schicksale von ganz
ohne Zweifel guten und treuen Beamtinnen und Beamten und weiteren Beschäftigten. Wir reden hier über einen Personalkörper, der wahrhaftig nicht überbezahlt ist
und in dem hohe Gehalts- und Lohnstrukturen keineswegs überwiegen. Deshalb lautet unsere erste, wichtigste
und dringendste Bitte an den Bundesinnenminister: Gehen Sie sorgsam und pfleglich mit den Beschäftigten und
deren Interessen um, wenn diese Reform umgesetzt
wird.
({12})
Die Sozialverträglichkeit der Entscheidungen darf
nicht Überschrift bleiben, sondern muss Inhalt werden.
Nichts wäre nämlich fataler als eine Demotivation und
Lähmung dieser im Übrigen größten Behörde im Bereich
der inneren Sicherheit infolge der Standortentscheidungen. Beamtinnen und Beamte tun dort oft mehr als ihre
Pflicht; das wissen wir. Deshalb sind wir froh und keineswegs kleinmütig oder enttäuscht, dass wir wenigstens
oder immerhin - das überlasse ich Ihrer Bewertung - einen Entschließungsantrag mit der Union verhandeln
konnten, der sechs sehr relevante Punkte enthält.
Erstens. Die Sorgsamkeit in der Umsetzung wird zugesichert. Die Sozialverträglichkeit wird garantiert. Herr
Michael Hartmann ({13})
Staatssekretär Dr. Bergner, wir vertrauen Ihnen, dem
Bundesinnenminister und dem ganzen Haus, dass das
keine leeren Worte sind, die zu Papier gebracht wurden
und dann einfach abgeheftet werden. Wir werden darauf
achten, ob Sie den Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen so ernst nehmen, wie er es verdient. Wir gehen aber auch davon aus, dass Sie ein eigenes Interesse
daran haben, dass diese Punkte so abgearbeitet werden,
wie wir vereinbart haben.
Zweitens geht es um den Einsatz von Verwaltungspersonal in befristet einzurichtenden Servicestellen. Das
ist ein Punkt, der für die betroffenen Beschäftigten von
erheblicher Bedeutung ist und den ich hier deshalb noch
einmal hervorheben möchte.
Dritter Punkt - ein wirklicher Schwerpunkt -: Die
Personalausstattung der Flughäfen muss in unserem gemeinsamen Sicherheitsinteresse liegen. Der Frankfurter
Flughafen ist mittlerweile der größte deutsche Grenzübergang; dies bringt enorme Belastungen für das Personal mit sich. Dort gibt es nämlich viele Kriminalitätsund Deliktsfelder. Deshalb muss es dort eine gute und
gescheite Personalausstattung geben. Wir wollen darauf
achten, dass das tatsächlich geschieht.
Viertens wollen wir darauf achten - auch das sollte im
Interesse der Reform und von uns allen liegen -, dass
keine Doppelstrukturen entstehen, indem ein zentrales
Polizeipräsidium geschaffen wird, aber zugleich eine
Bundespolizeiabteilung im Ministerium bestehen bleibt.
Es kann nicht sein, dass die eine Stelle das tut, was die
andere besser täte. Die Reform wäre ad absurdum geführt, wenn es zu diesen Doppelstrukturen käme.
({14})
Der fünfte Punkt ist ein Punkt, der unbedingt umgesetzt werden muss. In Bayern muss die Bundespolizei
bei der Wahrnehmung ihrer gesetzlichen Aufgaben die
volle Kompetenz erhalten.
({15})
Für uns ist es ohnehin ein Anachronismus, dass sich
Bayern in Zeiten eines zusammenwachsenden Europas
zusätzlich eine eigene Grenzpolizei hält. Hoffentlich
wird das nicht schlimmer, sondern besser durch die Vereinbarung, die jetzt zwischen dem Bundesinnenministerium und dem Land Bayern erzielt wurde.
Sechstens fordert der Innenausschuss in dem gemeinsam vereinbarten Entschließungsantrag das Bundesinnenministerium auf, bis Anfang 2010 festzustellen, ob
eines der wesentlichen Ziele, nämlich mehr Polizeipräsenz in der Fläche, tatsächlich erreicht wurde. Wenn das
nicht geschieht, muss man offen und mutig genug sein,
darüber nachzudenken, ob man die eine oder andere Entscheidung entweder zurücknimmt oder anders strickt.
Auf jeden Fall erwarten wir, dass auch dieser Punkt nicht
nur rhetorisch zugestanden, sondern auch ernsthaft geprüft wird.
Lassen Sie mich eines am Rande sagen.
({16})
- Nein, am Rande. Herr Kollege Wieland, ich habe Ihnen gesagt: Wenn Sie Zwischenrufe machen, dann rede
ich länger. Zwingen Sie mich nicht dazu, meine Drohung
wahrzumachen.
({17})
- Ich habe sogar so viel Zeit, dass ich mir in Ruhe Ihre
Zwischenrufe anhören und eine Pause einlegen kann.
({18})
Aber auch ich möchte meine Termine im Wahlkreis
wahrnehmen.
Lassen Sie mich noch einmal den Versuch unternehmen, eine Anmerkung am Rande zu machen - sie ist mir
wichtig, und sie ist ausdrücklich an die Kolleginnen und
Kollegen der Unionsfraktion gerichtet -: Unsere Bundespolizei leistet immer mehr und immer wichtigere
Einsätze im Ausland. Gemeinsam mit der Bundeswehr
erfüllt sie dort eine zentrale Aufgabe, die friedensstiftend und friedenssichernd wirkt. Deshalb müssen wir
diesen Sachverhalt gesetzlich genauer und besser regeln,
als es derzeit der Fall ist, und zwar sowohl im Interesse
der Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten, die im Ausland tätig sind, als auch im Interesse der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern.
Wir sollten den Mut haben, uns diesem Thema zuzuwenden, auch wenn es umstritten ist und wir von vielen
Seiten kritisiert werden. Die Herstellung von Planungssicherheit und die Gewährleistung von Sicherheit für die
Beamtinnen und Beamten im Ausland sollten gemeinsame Ziele der Koalition sein. Ich biete an und schlage
vor, dass wir uns über diese Frage unterhalten sollten;
denn das ist dringend notwendig.
({19})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Polizeiberuf ist kein Beruf wie jeder andere; das wissen wir. Er
erfordert große Einsatzbereitschaft, die die Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten auch erbringen. Viel Idealismus gehört dazu, diesen Beruf zu ergreifen. Er prägt die
Menschen, die diesen letztlich lebensgefährlichen und
lebensbedrohlichen Beruf im Interesse unserer gemeinsamen Sicherheit ausüben. Daher verdienen sie für das,
was sie jeden Tag in komplizierten Schichtdiensten leisten, Dank und Anerkennung, und sie haben einen Anspruch auf Fürsorge. Lassen Sie uns das bei allen Entscheidungen, die wir hier und anderswo treffen, immer
bedenken. Herr Wieland, ich schenke Ihnen sechs Minuten meiner Redezeit.
Herzlichen Dank.
({20})
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau von der Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
dem Gesetzentwurf, der heute zu beschließen ist, soll
eine Reform der Bundespolizei legitimiert werden, die
auch ohne Gesetz bereits eifrig vorangetrieben wurde.
Ich nenne diese Praxis eine grobe Missachtung des
Parlaments. Denn der Bundestag ist keine Vollzugsabteilung des Bundesinnenministeriums, und das Bundesinnenministerium schwebt nicht über den Dingen, jedenfalls nicht nach dem parlamentarischen Verständnis der
Fraktion die Linke.
({0})
Vor elf Tagen fand eine Expertenanhörung zum vorliegenden Gesetzentwurf statt. Drei von fünf Experten,
also die Mehrheit, kritisierten den Gesetzentwurf und
das Verfahren. Das Protokoll dieser Anhörung ist noch
nicht einmal autorisiert und rechtskräftig. Trotzdem wollen die Unionsfraktion und die SPD diesen Gesetzentwurf heute ungeachtet aller Kritik beschließen. Ich
nenne das abgehobenen Hochmut, übrigens auch gegenüber den betroffenen Bundespolizisten und Bundespolizistinnen.
Einer der Experten kritisierte die Geheimhaltungspolitik der Bundesregierung. Wer gute Sachargumente
habe, könne sich auch Transparenz leisten, sagte er. Das
war eine höflich formulierte Ohrfeige. Es war übrigens
nicht der Sachverständige, den die Linke bestellt hatte,
sondern der Experte der SPD, Berlins Polizeipräsident
Dieter Glietsch.
({1})
Trotzdem forciert auch die SPD das Gesetzeswirrwarr.
Ich frage mich immer wieder, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD: Wer hat bei Ihnen eigentlich das
Sagen: Ihr eigener Sachverstand, der durchaus vorhanden ist, wie ich aus Erfahrung weiß, oder der Wille der
Union?
Als wir im Dezember zum ersten Mal über den Entwurf dieses Reformgesetzes sprachen, kritisierte ich das
Verfahren und beschrieb die Sorgen der Bediensteten der
Bundespolizei. Dafür erntete ich von Bundesinnenminister Schäuble von der Regierungsbank den Zwischenruf:
Alles gelogen! Ich hätte diesen Zwischenruf rügen lassen können. Nun ist er protokolliert. Das Protokoll kursiert inzwischen bei der Bundespolizei, sodass sich die
Polizistinnen und Polizisten ihren eigenen Reim darauf
machen können. So viel zum Umgang mit den Briefen,
die auch Sie erreicht haben. Alles gelogen?
Übrigens haben nur zwei Sachverständige das Reformwerk grundsätzlich für gut befunden. Der eine war
Herr Seeger, der Beauftragte des Bundesinnenministeriums für die Umsetzung der Reform. Der andere war
Herr Ziercke,
({2})
der Chef des Bundeskriminalamtes. Er ist als solcher offenbar in froher Erwartung, dass für das BKA bei alledem ordentlich etwas abfällt.
Damit wäre ich beim Kern unserer Kritik. Mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf soll dieses und jenes
geregelt werden; der Beantwortung der entscheidenden,
politischen Frage - „Wie passt diese Reform der
Bundespolizei in die neue Sicherheitsarchitektur, die
Bundesinnenminister Schäuble vorschwebt?“ - weicht
er jedoch verlässlich aus. Diese Frage wäre einer Bundestagsdebatte würdig. Diese Debatte fand bisher nicht
statt. Das nährt Spekulationen, für die allein die Große
Koalition verantwortlich ist.
Im Gesetzentwurf ist zum Beispiel von einem Stellenpool für Auslandseinsätze der Bundespolizei die Rede.
Das Bundesinnenministerium bezeichnet diesen Pool als
rein technische Lösung. Doch letztlich geht es um konkrete Auslandseinsätze mit konkreten Polizeibediensteten unter konkreten Einsatzbedingungen. Darüber wäre
zu sprechen, und darüber wäre nicht irgendwo, sondern
hier im Deutschen Bundestag zu entscheiden. Deshalb
erinnere ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, an
eine aktuelle Forderung der Linken, die wir in Form eines Antrages parlamentarisch auf den Weg gebracht haben: Wir wollen endlich einen Parlamentsvorbehalt für
alle Auslandseinsätze der Bundespolizei und der Länderpolizeien.
({3})
Es kann doch nicht sein, dass der Bundestag über Auslandseinsätze der Bundeswehr zu entscheiden hat, während Bundespolizistinnen und Bundespolizisten nach
Gutdünken in alle Welt geschickt werden können, möglicherweise auch in paramilitärische Einsätze. Wir haben
erst am Mittwoch im Innenausschuss über die Polizeimission in Afghanistan debattiert. Diese Praxis ist eine
Missachtung des Parlaments und zugleich eine Missachtung der Bundespolizistinnen und Bundespolizisten.
Das Gleiche gilt dafür, dass der Bund und der Freistaat Bayern klammheimlich ein Sonderabkommen abschließen, ohne dass der Bundestag über die Inhalte in
Kenntnis gesetzt wird. Nach allem, was man bisher lesen
konnte, muss man sich ernsthaft die Frage stellen, ob
Bayern noch zur Bundesrepublik gehört
({4})
oder ob die Bundespolizistinnen und Bundespolizisten
dort in einen Auslandseinsatz geschickt werden. Ich
warte wieder auf den Zwischenruf: Alles gelogen!
({5})
Fazit: Die Fraktion Die Linke wird diesem Gesetzentwurf zur Reform der Bundespolizei nicht zustimmen,
vor allem weil zweierlei nicht geht: erstens, dass das
Parlament dummgehalten wird, während Tatsachen geschaffen werden, und zweitens, dass zugleich an einer
Sicherheitsarchitektur gebastelt wird, die möglicherweise oder wahrscheinlich dem Grundgesetz widerspricht.
Danke.
({6})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Silke Stokar von Neuforn von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Reform der Bundespolizei kann von Anfang an nur als
missglückt bezeichnet werden. Ich möchte noch einmal
daran erinnern: Nicht nur wir, sondern auch die Bediensteten der Bundespolizei haben erst durch die Medien erfahren, dass im Bundesinnenministerium von Staatssekretär Hanning - der vom BND, wo er die
Geheimhaltung verinnerlicht hat, ins Innenministerium
gewechselt ist - ohne Beteiligung und ohne Information
der Bediensteten, wie bei einer geheimen Kommandosache, diese Reform erarbeitet wurde. Auch von den
Grundzügen der Reform erfuhren die Polizisten aus den
Medien.
Werter Herr Staatssekretär Bergner, hier zu behaupten, die Gewerkschaften, die Bundespolizei, die Bediensteten seien beteiligt gewesen, ist ein schlechter
Witz. Man muss nur auf die Internetseiten der Gewerkschaften gehen, um die geballte Kritik an der Nichtbeteiligung nachlesen zu können.
Herr Staatssekretär, ohne Ihnen zu nahe zu treten,
möchte ich eine Bemerkung machen: Ich finde, es ist bedauerlich und es ist auch ein schlechter Stil, dass wir hier
und heute von einer Bundespolizeireform reden, die für
die Betroffenen Umzüge von Ost nach West, die Aufgabe der eigenen Wohnung und Gespräche in der Familie bedeutet, in denen klar wird, dass die Familie umziehen wird und dass die Kinder die Schule wechseln
müssen - die Reform ist mit erheblichen Eingriffen in
das persönliche Leben der Bundespolizeibeamten verbunden -, und die in Abwesenheit des Bundesinnenministers verabschiedet wird. Ich finde, das ist ein verdammt schlechter Stil.
({0})
Ich weiß, dass der Bundesinnenminister heute an der
Innen- und Justizministerkonferenz in Slowenien teilnimmt. Es ist aber an Ihnen, mit Ihrer Mehrheit die Geschäftsordnung zu nutzen, diesen Tagesordnungspunkt
an einem Tag im Plenum zu behandeln, an dem der Bundesinnenminister selbst Zeit hat, die Inhalte der Reform
vor den Bediensteten zu vertreten und an dem er nicht
die dritte Ebene, den Staatssekretär, an die Front schickt.
Ich finde, das ist ein schlechter Stil.
Lassen Sie mich etwas zu einigen inhaltlichen Kritikpunkten sagen, die in der Anhörung zu Recht angesprochen worden sind.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Herrn Kollegen Bosbach?
Immer gern, Herr Kollege Bosbach, ich sage auch
nicht mehr „Bossbach“.
({0})
- Ich wusste, dass ich Sie damit ärgere.
({1})
Deshalb habe ich mich nicht zu Wort gemeldet. Frau Kollegin, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass diese Debatte eigentlich gestern stattfinden sollte
und dass sie auf Ihren Wunsch hin auf heute vertagt
wurde,
({0})
dass sich der Bundesinnenminister förmlich entschuldigt
hat, weil er an dem Europäischen Rat der Justiz- und der
Innenminister teilnehmen muss? Sind Sie nicht der Auffassung, dass man ihm daraus keinen Vorwurf machen
kann?
({1})
Herr Kollege, mir ist bekannt, dass sich Herr Bundesinnenminister Schäuble und auch Herr Staatssekretär
Altmaier heute in Slowenien aufhalten. Das kritisiere ich
auch gar nicht. Ich kann Ihnen aber etwas zu den Abläufen sagen, was Ihnen eigentlich bekannt sein sollte. Ich
habe - genauso wie es Frau Pau eben gesagt hat - bereits
im Innenausschuss ganz massiv kritisiert, dass plötzlich
in einem Affentheater - ({0})
- Herr Körper und andere haben in der Öffentlichkeit für
die SPD verkündet: Wir lassen uns von der CDU keine
Ultimaten setzen. Wir werden - wie auch von uns gefordert - in Ruhe die Stellungnahmen der Fachanhörung
auswerten.
Dann aber wurde sozusagen im Schnelldurchlauf ein
Wortprotokoll erstellt. Das haben wir am Freitagabend
spät bekommen. Sie von der Großen Koalition haben
darauf bestanden, dieses Thema in dieser Woche im Innenausschuss und sofort im Plenum zu behandeln. Es
hätte überhaupt nichts dagegen gesprochen, sich für die
parlamentarische Beratung Zeit zu nehmen und dieses
Thema in der nächsten Sitzungswoche in Anwesenheit
des Bundesinnenministers zu behandeln. Schieben Sie
das jetzt bitte nicht auf die Linksfraktion. Sie haben die
Geschäftsordnungsmehrheit. Sie hätten einen angemessenen Termin, an dem der Bundesinnenminister selbst
seine Reform im Parlament vertreten kann, finden können. Ich denke, das reicht als Antwort aus.
({1})
- Ja, genau. Frau Kollegin, Sie erinnern mich an das
Stichwort Bayern. Auch hierzu muss noch etwas gesagt
werden. Viele wissen das gar nicht. Warum hat der Bundesinnenminister dieses Verwaltungsabkommen mit
Bayern nicht einfach auslaufen lassen? Warum wird dieses Verwaltungsabkommen mit Bayern nicht gekündigt?
Wir haben mittlerweile europäische Standards zur
Grenzsicherung, wir haben FRONTEX. Nun gibt es das
Bundesland Bayern, das meint, dass seine Grenzjäger
die eigenen Landesgrenzen schützen müssen.
({2})
Bayern weigert sich hier, Bundesrecht anzuerkennen.
Bundesinnenminister Schäuble spielt sonst gern den
Hardliner. Hier ist er nicht konfliktfähig und nicht in der
Lage, Herrn Beckstein zu sagen: Die Bundespolizei hat
auch in Bayern volle Kompetenz. Wem wollen Sie das
erklären? Wir haben die Umsetzung einer EU-Luftsicherheitsrichtlinie. Am Münchener Flughafen ist die
Bundespolizei zuständig, in Nürnberg und in Augsburg
ist die bayerische Landespolizei zuständig. Das ist hier
doch eine Kleinstaaterei, die zu Sicherheitsrisiken führt.
Ich bin der Meinung, hier sollte sich der Bundesinnenminister tatsächlich einmal durchsetzen und sagen, dass
das Bundesrecht auch in Bayern gilt.
({3})
Lassen Sie mich zum Bundespolizeipräsidium kommen. Herr Körper, Sie hatten mit Ihrer inhaltlichen Kritik ja recht. Ich vermisse hier den Kollegen Gunkel, der
ja Berichterstatter der SPD war. Aus guten Gründen hat
er gesagt, dass er sich das hier heute nicht antut. Er hat
eine schriftliche Erklärung abgegeben, wonach er dieser
Bundespolizeireform nicht zustimmen wird. Ich verstehe
diesen Kollegen sehr gut, weil Sie sich aufgrund der
Koalitionsräson, wie Kollege Hartmann das hier gesagt
hat, wider besseres Wissen in diese Ecke haben drängen
lassen und weil Sie das Ultimatum akzeptiert haben.
Ein Massenumzug eines Bundespolizeipräsidiums
mit 709 Stellen nach Potsdam - die meisten werden aus
Koblenz kommen - ist nicht vernünftig, zumal diese
Aufgaben im BMI als Doppelaufgaben wahrgenommen
werden. Warum jetzt eine IT-Abteilung von Koblenz
nach Potsdam umziehen soll, ist für niemanden nachzuvollziehen. Dahinter steckt nur die Idee von Bundesinnenminister Schäuble, sich zentrale polizeiliche
Machtzentren in der Nähe des BMI zu schaffen. Das hat
mit Sicherheit im Land und in der Fläche überhaupt
nichts zu tun.
({4})
Ein letzter inhaltlicher Punkt, weil meine Redezeit abläuft.
({5})
Sie wollten ja Inhalte hören. In den ostdeutschen Bundesländern sind die stationären Grenzkontrollen nach
Osten wegfallen. In einer solchen Situation hätten wir
nicht gleichzeitig an die 2 000 Bundespolizeibeamte aus
diesem Grenzraum abgezogen und damit eine negative
Botschaft an die Bevölkerung gesendet. Das ist die falsche Botschaft, und das ist auch die falsche Entscheidung.
Wir hätten es begrüßt, wenn es zum Beispiel eine Untersuchung der Aufgaben der Bereitschaftspolizeien der
Bundesländer, die ja in Konkurrenz zu den Landespolizeien stehen, und eine Umgruppierung des Personals gegeben hätte. In einer Situation, in der die Bevölkerung
durch den Wegfall der stationären Grenzkontrollen sowieso schon verunsichert ist, zeitgleich mit der Bundespolizeireform auch noch einen Massenumzug von Ost
nach West durchzuführen, ist genau das falsche inhaltliche Signal.
Ihre Polizeireform ist deswegen von Anfang an in den
Sand gesetzt worden, weil Sie unserem Antrag, am Anfang der Reform eine Expertenkommission einzusetzen
- am Beginn einer Reform stehen die Definition der
Aufgaben und die Aufgabenkritik -, nicht gefolgt sind.
Sie haben die Organisationsreform in einen inhaltlich
luftleeren Raum gesetzt. Deshalb ist das eine verfehlte
Reform.
Verfehlte Reformen sind wir unter dieser Großen Koalition aber gewohnt. Im Grunde genommen haben Sie
jedes Reformvorhaben mit Ihrem Dauerstreit und am
Ende mit sinnlosen Kompromissen in den Sand gesetzt so, wie dieses.
Danke.
({6})
Das Wort hat der Kollege Stephan Mayer von der
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen! Geehrte Kollegen! Die Novellierung des Bundespolizeigesetzes und die damit verbundene Strukturreform der
Bundespolizei sind polizeifachlich notwendig und sachgerecht. Ich möchte an dieser Stelle insbesondere den
Bundesinnenminister Dr. Schäuble ausdrücklich dafür
loben, dass er diese Bundespolizeireform angegangen
ist.
({0})
Natürlich ist es als Politiker immer einfacher, nichts
zu tun. Damit tritt man niemandem auf die Füße. Es war
aber richtig, diese Strukturreform anzugehen, weil sie
Stephan Mayer ({1})
überfällig ist. Sie ist deshalb überfällig, weil sich die Sicherheitslage in Deutschland insbesondere nach dem
11. September 2001 grundlegend geändert hat und weil
am 21. Dezember letzten Jahres die stationären Grenzkontrollen zu Tschechien und Polen wegen des Beitritts
der beiden Länder zum Schengen-Raum weggefallen
sind. Wir haben - analog zum deutlich angestiegenen
Passagieraufkommen - einen erhöhten Bedarf an Polizeikräften an deutschen Flughäfen zu konstatieren. Wir
sind nach wie vor im Fokus des internationalen und insbesondere des islamistischen Terrorismus. Deswegen ist
es richtig, diese Strukturreform anzugehen. Mit dieser
Strukturreform wird die Mittelbehördenstruktur überwunden. Es wird eine Zentralisierung in einer Oberbehörde, in einem Bundespolizeipräsidium, erreicht. Die
Bundespolizei kann sich endlich auf ihre Kernaufgaben
konzentrieren.
({2})
Insgesamt wird die Bundespolizei effektiver und zielgenauer an der aktuellen Sicherheits- und Gefährdungslage in Deutschland ausgerichtet. Als außerordentlich
positiv ist festzustellen, dass aufgrund dieser Strukturreform zusätzlich 1 000 Polizeivollzugskräfte im operativen Geschäft eingesetzt werden können.
({3})
Das Hauptziel muss eine möglichst effektive und optimale Gewährleistung der inneren Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland sein. Bei aller
durchaus notwendigen Kritik muss nach wie vor die
oberste Maxime sein, dass wir das hohe Sicherheitsniveau, das wir in Deutschland haben, erhalten. Dabei
dürfen Animositäten zwischen unterschiedlichen Behörden und Polizeien keine Rolle spielen.
Was das Personalkonzept angeht, liegt die Strukturreform nicht in der Hand des Parlaments, des Gesetzgebers. Dennoch ist es eine notwendige Aufgabe, dass wir
uns mit dem neuen Personalkonzept auseinandersetzen.
In diesem Zusammenhang möchte ich vor allem auf
Bayern eingehen, das schon einige Male von den Vorrednern genannt wurde. Die Entscheidungen bezüglich
der Bundespolizeiabteilung in Rosenheim und des Bundespolizeiamtes in Schwandorf waren herbe und
schmerzliche Einschnitte und waren vor Ort nur schwer
vermittelbar. Dennoch ist es meines Erachtens insbesondere durch den starken Einsatz der CSU-Landesgruppe
und der Wahlkreisabgeordneten Daniela Raab und Klaus
Hofbauer gelungen,
({4})
zu einigermaßen akzeptablen und vertretbaren Ergebnissen zu kommen. Ich danke dem Bundesministerium für
die Zusage, dass es zu einer sozialverträglichen Umsetzung der Strukturreform kommen wird, dass ein
Dienstortwechsel der betroffenen Bundespolizeibeamten
nur dann ansteht, wenn er wirklich unumgänglich ist,
und dass keine Verwaltungsangestellten entlassen werden. Außerordentlich erfreulich ist ebenfalls, dass es in
Zukunft befristet eingerichtete Servicestellen geben
wird, in denen die Verwaltungsangestellten untergebracht werden, die von der Strukturreform betroffen
sind.
Meine sehr verehrte Kollegin Pau, Sie haben gefragt,
ob Bayern überhaupt noch in Deutschland liegt.
({5})
Ich möchte festhalten: Sie können froh sein, dass Bayern
in Deutschland liegt; denn insbesondere das Bundesland
Berlin, das Sie hier mitvertreten, profitiert im Rahmen
des Länderfinanzausgleichs von dem überproportional
starken Steueraufkommen Bayerns. Um es klar zu sagen: Bayern liegt nicht nur in Deutschland, sondern bekennt sich auch zu Deutschland. Frau Kollegin Stokar,
natürlich richtet sich Bayern nach dem Bundesrecht. Die
Wahrnehmung grenzpolizeilicher Aufgaben ist durch die
bayerische Landespolizei bislang hervorragend und außerordentlich erfolgreich gewährleistet worden.
({6})
Das Verwaltungsabkommen, das von Ihnen als Geheimabkommen diskreditiert wird, ist alles andere als
ein Geheimabkommen, es ist ein Verwaltungsabkommen
zwischen der Bayerischen Staatsregierung und dem
Bundesinnenministerium. Ich bin guter Hoffnung und
vertraue darauf, dass dieses Verwaltungsabkommen, das
nun fortgeschrieben wird, gute Rahmenbedingungen für
die Verstetigung der bislang hervorragenden Zusammenarbeit zwischen der bayerischen Landespolizei und der
Bundespolizei bieten wird.
({7})
Die Präsenz der Bundespolizei vor Ort wird auch in
Zukunft entscheidend sein. Wir müssen feststellen: Die
Bürgerinnen und Bürger insbesondere im Grenzbereich
sind angesichts des Wegfalls der Grenzkontrollen teilweise verängstigt. Da wird natürlich befürchtet, dass die
illegale Migration und damit auch die Begleitkriminalität zunehmen. Deswegen wird es unsere Aufgabe sein da vertraue ich wirklich auf die Zusagen des Bundesinnenministers und des Bundesinnenministeriums -, die
starke Präsenz der Bundespolizei vor Ort weiter zu erhalten.
({8})
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja, Herr Präsident, ich komme jetzt zum Ende.
Ich bin zuversichtlich, dass es möglich sein wird, unter Einbeziehung aller Beschäftigten, der Personalvertretungen vor Ort und des Parlaments sozialverträgliche
Lösungen zu finden. In diesem Sinne kann ich uns allen
nur empfehlen, dieser Novellierung des Bundespolizeigesetzes zuzustimmen.
({0})
Das Wort hat jetzt der fraktionslose Kollege Henry
Nitzsche.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Grenzöffnung nach Osteuropa ist ein historischer Moment.
Das sagte die Bundeskanzlerin am 21. Dezember 2007
in Zittau. Recht hat sie. Ein historisch einmaliger Moment ist es allerdings auch für die Menschen, die bisher
durch die festen Grenzkontrollen zurückgehalten wurden. Ich meine nicht die Schnäppchenjäger, die zum
Görlitzer Weihnachtsmarkt gehen, sondern zum Beispiel
illegal Einreisende. Die Bundespolizeigewerkschaft
meldete, dass es bis zum 13. Januar 564 Fälle gab. Das
ist eine Steigerung um 150 Prozent im Vergleich zum
vorigen Jahr. Polizeiexperten gehen sogar davon aus,
dass die Dunkelziffer zehnmal so hoch liegt; denn nur jedes 2 000. Fahrzeug wird kontrolliert.
Zum Thema Kriminalität. Im grenznahen Raum Görlitz sind an einem einzigen Wochenende zehn Autos gestohlen worden. Die Landespolizei vermutet, dass die
Diebe die Wagen nach Polen bringen. Es könnte sich um
Auftragskriminalität handeln.
Wie ist die Lage der Bevölkerung? Ich zitiere den
Sachsenspiegel vom 22. Januar dieses Jahres:
Mit Bürgerwehr, Stacheldraht, Alarmanlagen und
einfachen Waffen sind die Bewohner der Grenzregion … aktiv … Die Kleingärtner aus Ebersbach
meinen, jene, die früher über die grüne Grenze kamen, nutzen nun die Straßen an den Grenzübergängen. Das geht schneller, und dort hält sie jetzt keiner mehr auf.
Gestern gab es in MDR Info eine Abstimmung über
die Frage: War der Wegfall der Grenzkontrollen richtig?
54 Prozent sagen: Nein, die Grenzkontrollen haben vor
Kriminalität aus diesen Ländern geschützt.
Für den Bundesvorsitzenden der Gewerkschaft der
Polizei, Konrad Freiberg, kommt es ganz dick:
Es ist das eingetreten, was wir befürchtet haben.
Wir haben vor der vorzeitigen Grenzöffnung gewarnt. Nun gilt es gegenzusteuern, um die Menschen vor illegaler Einwanderung zu schützen.
Es dürften keinesfalls Kräfte der Bundespolizei aus den
Grenzregionen abgezogen werden.
Was geschieht jetzt durch diesen Gesetzentwurf?
Josef Scheuring, Vorsitzender der Gewerkschaft der
Polizei, Bezirk Bundespolizei, sagt: Dieses Gesetz bewirkt keine Effizienzsteigerung, weder durch die Verschlankung der Behörde noch durch den fehlenden Abgleich mit den anderen Sicherheitsbehörden.
Gerade an den östlichen Grenzen Deutschlands kann
nur ein enges Netz von Dienststellen die Flächenpräsenz
gewährleisten. Durch die geplanten neuen Bundespolizeidirektionen und der gleichzeitigen Reduzierung von
nachgeordneten Dienststellen wird aber genau das Gegenteil erreicht.
Die Effizienz der Bundespolizei wirklich steigern
würde die räumliche Erweiterung ihres Handlungsspielraumes. Aber der derzeitige Handlungsstreifen von
30 Kilometern wird ihren jetzigen Anforderungen nicht
gerecht.
In diesen Zeiten eine Reform der Bundespolizei mit
knappen Haushaltsmitteln zu begründen und an solchen
auszurichten, ist eine Bankrotterklärung des Staates. Nur
eines steigt wirklich, nämlich die Zahl der B-Stellen von
12 auf 26.
Bundespolizisten sind keine gewöhnlichen Arbeitnehmer. An ihrer Arbeitsmoral hat das gesamte Volk ein
enormes Interesse. Eine Demoralisierung dieser Menschen durch unsinnige Reformen können wir uns in diesen Zeiten einfach nicht leisten.
Im Übrigen, Herr Präsident, ist das Plenum nicht beschlussfähig.
Ich erteile als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt dem Kollegen Ralf Göbel von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn der Kollege Nitzsche an der Anhörung zum Bundespolizeigesetz teilgenommen hätte, hätte er den größten Teil seiner Rede so nicht halten können.
({0})
Ich will eingangs auch auf Sie, Frau Piltz, eingehen.
Dem Innenausschuss liegt seit einiger Zeit ein Antrag
der FDP vor, der sich mit der Neuordnung der Sicherheitsstrukturen der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt. Dort sind alle Ziele genannt, die auch bei dieser Reform eine Rolle spielen. Es gibt aber keinen
Vorschlag seitens der FDP, wie man diese Neuorganisation schaffen könnte.
({1})
- In Nordrhein-Westfalen hat Ihre Partei das Innenministerium. Sie könnten dort erst einmal üben, bevor Sie sich
auf Bundesebene versuchen.
({2})
Kollegin Pau hat viele Experten erwähnt; das fand ich
ganz nett. Aber Sie haben den Experten Wimber vergessen, der im Übrigen die Ziele der Reform teilt.
({3})
Mich hat gewundert, dass Sie auf Ihren eigenen Experten nicht eingegangen sind. Er hat nämlich den interessantesten Beitrag geliefert, indem er gesagt hat: Wir lösen die Bundespolizei auf und verteilen alle Beamte auf
die Länder. Bei der Bahn lassen wir uns noch etwas einfallen. - Dann machte er den wirklich genialen Vorschlag, der in diesem Haus eigentlich von niemandem
geteilt wird, die GSG 9 dem Bundeskriminalamt zu unterstellen. Es wäre sehr sinnvoll gewesen, wenn Sie auf
diesen Experten, den Sie benannt haben, in Ihrer Rede
eingegangen wären.
({4})
Wir sind uns darüber einig, dass für diese Reform
eine Notwendigkeit besteht. Das ist auch von den Vorrednerinnen und Vorrednern gesagt worden. Worüber
gestritten wird - es ist auch richtig, dass wir darüber
streiten -, ist die Frage, ob das Modell, das der Bundesinnenminister gewählt hat, von uns akzeptiert werden
sollte. Hier gibt es unterschiedliche Auffassungen. Das
ist völlig normal. Das gibt es in den Ländern bei jeder
Polizeireform, dass nämlich unterschiedliche Auffassungen über die Ausgestaltung der Reform bestehen.
Ich bin der Auffassung, dass sich aus der Sachverständigenanhörung ergeben hat, dass das vorgeschlagene
Modell des Bundesinnenministers richtig ist. Dennoch
will ich - wie im Innenausschuss auch - noch einmal
deutlich machen - es ist ja auch Publikum anwesend -,
was wir im Parlament überhaupt zu entscheiden haben.
({5})
Wir entscheiden nicht über Standorte, über Dienstpläne
oder über die Einrichtung von Inspektionen. All das ist
der parlamentarischen Entscheidung entzogen, weil dies
in der Organisationsgewalt des Ministers liegt. Das Parlament setzt nur den groben Rahmen. Das tun wir heute,
indem wir entscheiden: Es gibt ein Bundespolizeipräsidium, es gibt Bundespolizeidirektionen, und es gibt die
Bundespolizeiakademie.
({6})
Der Rest der Ausgestaltung ist Angelegenheit des Ministers. Dafür hat er die Verantwortung übernommen.
Angesichts der Kritik der Grünen, warum der Gesetzentwurf so grob gerastert ist, muss ich Sie ernsthaft fragen, warum Sie bei der letzten Änderung des Bundespolizeigesetzes im Jahre 2005 der Regelung zugestimmt
haben, dass die Festlegung auf eine bestimmte Anzahl
von Polizeidienststellen im Gesetz gestrichen wird. Damals lautete die Begründung, dass der Minister eine größere Flexibilität braucht, um auf Veränderungen bei der
Sicherheitslage flexibel reagieren zu können.
({7})
- Das war damals eine kluge Position. Was Sie aber damals von diesem Rednerpult verteidigt haben, sammeln
Sie heute wieder ein, indem Sie sagen: Bis zur letzten
Dienststelle muss im Gesetz geregelt sein, wie die Bundespolizei organisiert ist. Das ist nicht in Ordnung.
({8})
Aus Sicht unserer Fraktion sind die Ziele richtig definiert. Der Minister ist mit seiner Entscheidung darüber,
wie er die Organisationsreform durchführen will, auf einem richtigen Weg.
Ich will hier dem Eindruck widersprechen, die Bediensteten seien nicht beteiligt gewesen. Es wurde eine
Projektgruppe eingerichtet, in der Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter der Bundespolizei und die Personalvertretungen beteiligt waren. Das ist vom Vorsitzenden des
Bezirks Bundespolizei der GdP, Herrn Scheuring, in der
Anhörung des Innenausschusses sogar ausdrücklich gelobt worden.
Es gab hier ein Novum; Sie erinnern sich an die Sitzung des Innenausschusses, bei der der Minister den Abgeordneten des Deutschen Bundestages zugesagt hat, auf
eine interne Homepage des Ministeriums zugreifen zu
können. Das ist in der Tat ein Novum. Noch nie hat ein
Minister so offen den Zutritt zum Ministerium und damit
eine Teilnahme an der Diskussion ermöglicht.
Die Einrichtung des neuen Bundespolizeipräsidiums
ist von vielen Sachverständigen als ein richtiger Weg betrachtet worden, die Polizei zentral zu steuern. Zum Vorwurf der Zentralisierung, den Frau Piltz erhoben hat: Natürlich ist es richtig. Aber wer hat denn bisher zentral
gesteuert, wenn Angelegenheiten mehrerer Präsidien betroffen waren? Das war das Ministerium.
Jetzt wollen wir eine Behörde, die die unteren Strukturen und Direktionen im Bundespolizeidienst strategisch steuert und die polizeiliche Arbeit von dort vorbereitet. Das ist ein guter Ansatz in der Reform, weil er
gleichzeitig ermöglicht, dass die anderen Bundessicherheitsbehörden mit dem Ansprechpartner Bundespolizeipräsidium noch besser zusammenarbeiten können, als
sie es bisher schon tun. Herr Ziercke hat dies in der Anhörung sehr eindrucksvoll bestätigt.
Straffung der Organisation heißt natürlich auch, dass
Einschnitte gemacht werden müssen. Ich habe gesagt:
Wir entscheiden nicht über die Standorte, aber selbstverständlich kümmern wir uns um die Auswirkungen, die
mit Standortentscheidungen verbunden sind.
Wir kennen dieses Problem aus den Organisationsentscheidungen des früheren Bundesverteidigungsministers Dr. Struck, der die Bundeswehr ebenfalls neu geordnet hat. Dabei sind in verschiedenen Wahlkreisen
Standorte weggefallen, auch in meinem Wahlkreis. Ich
finde es völlig legitim - das ist auch richtig -, dass sich
die Kolleginnen und Kollegen aus den betroffenen
Wahlkreisen genauso für den Erhalt dieser Standorte einsetzen, wie dies die Kommunalpolitiker vor Ort in ihren
Resolutionen getan haben.
({9})
Das ist in Ordnung. Ich bitte aber auch, zu verstehen
und zu akzeptieren, dass der Minister die Gesamtverantwortung für die Organisation trägt,
({10})
die Organisation insgesamt im Bundesgebiet stimmig
sein muss und deshalb auch auf die eine oder andere aus
regionaler Sicht berechtigte Kritik nicht eingegangen
werden kann. Uns ist die Sozialverträglichkeit der Umsetzung wichtig, und wir nehmen anerkennend zur
Kenntnis, dass mit den Personalvertretungen in diesem
Sinne bereits beraten worden ist.
Ich will am Ende meiner Rede die Gelegenheit nutzen, mich für meine Fraktion bei allen Beschäftigten der
Bundespolizei für die Arbeit zu bedanken, die sie in der
Zeit geleistet haben. Ich hoffe, dass wir jetzt mit dieser
Entscheidung über das Gesetz wieder die notwendige
Ruhe in die tägliche Arbeit bringen. Ich bin optimistisch,
dass wir in zwei Jahren in diesem Hause über die erfolgreiche Umsetzung der Bundespolizeireform debattieren
können.
Vielen Dank.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-
rung des Bundespolizeigesetzes und anderer Gesetze.
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/7871, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksachen 16/6291 und
16/6569 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegen-
stimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfrak-
tionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen an-
genommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem
Stimmenverhältnis angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs-
antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/7888.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegen-
stimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zu-
stimmung der Oppositionsfraktionen abgelehnt.
Ich darf noch bekannt geben, dass es eine Reihe von
Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 der Geschäfts-
ordnung gegeben hat, die wir zu Protokoll nehmen. Es
handelt sich um die Erklärungen der Kollegen Michael
Brand und Dr. Eva Möllring von der CDU/CSU-Frak-
tion sowie Maik Reichel, Wolfgang Gunkel, Sabine
Bätzing, Gesine Multhaupt und Hubertus Heil von der
SPD-Fraktion1).
Tagesordnungspunkt 4 b: Beschlussempfehlung des
Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Einrichtung einer
Polizeireformkommission“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4837,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/3704 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen sowie der FDP-Fraktion bei
Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul
Schäfer ({0}), Monika Knoche, Inge Höger,
Oskar Lafontaine und der Fraktion DIE LINKE
Für ein sofortiges Verbot von Streumunition in
Deutschland
- Drucksache 16/7767 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. Gibt es
Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Inge Höger von der Fraktion Die
Linke das Wort.
({2})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! 100 000 Opfer
hat der Einsatz von Streubomben bis heute schon gefordert. 98 Prozent waren Zivilistinnen und Zivilisten.
27 Prozent waren Kinder. Streubomben sind Waffen, mit
denen angeblich militärische Ziele getroffen werden sollen; faktisch aber wird mit Streumunition Krieg gegen
die Bevölkerung geführt. Streubomben töten noch lange
nachdem die eigentlichen Kriegshandlungen vorbei sind.
Die Blindgänger wirken wie Landminen, heimtückisch
und verheerend. Der Einsatz von Streubomben muss daher genauso wie der von Landminen geächtet und verboten werden.
Die Linke fordert in dem hier vorliegenden Antrag
das vollständige Verbot der Produktion, der Lagerung,
des Handels und des Einsatzes von Streumunition.
({0})
1) Anlage 3
Leider spricht sich die Bundeswehr bis heute gegen eine
konsequente Abrüstung von deutscher Streumunition
aus. Die Bundesregierung behauptet, es gebe zwei Sorten von Streumunition. Eine Sorte sei für die Zivilbevölkerung gefährlich, eine andere vermeintlich zuverlässig
und dadurch ungefährlich.
Als zuverlässig gilt für die Bundesregierung Streumunition mit einer Blindgängerrate von unter 1 Prozent. Bei
Hunderttausenden oder gar Millionen Stück verstreuter
Submunition stellt jedoch auch 1 Prozent noch eine beachtliche Gefährdung dar. Vor allem aber machen Expertinnen und Experten regelmäßig die Erfahrung, dass die
Blindgängerraten deutlich höher liegen. Die viel gepriesenen Selbstzerstörungsmechanismen, die verhindern
sollen, dass die Submunition über Jahre hinweg explosionsbereit bleibt, funktionieren häufig nicht. Diese Erfahrungen von Expertinnen und Experten ignoriert die
Bundesregierung standhaft.
Warum schafft es die Bundesregierung nicht, sofort
und vollständig auf Minen zu verzichten? Warum
schließt sie sich nicht wenigstens dem Moratorium des
EU-Parlaments an? Andere Länder sind hier deutlich
konsequenter: Belgien hat bereits 2006 und Österreich
im Dezember 2007 auf den Einsatz, die Produktion und
die Lagerung von Streumunition verzichtet. Warum
schließt sich Deutschland dem nicht an?
Der Erhalt bestimmter militärischer Fähigkeiten ist
der Bundeswehr und der Bundesregierung offensichtlich
wichtiger als humanitäre Erwägungen. Das Verteidigungsministerium erklärt klar, dass vor der Vernichtung
von Streumunition Alternativen mit der gleichen militärischen Wirkung gefunden werden müssten. Bis zu diesem Zeitpunkt soll Streumunition weiterhin eingesetzt
werden können.
Wer den Ausstieg aus dieser Technologie lediglich zu
einem langfristigen Ziel erklärt, der meint es nicht ernst
mit einem Ausstieg.
({1})
Wer an militärisch zweckmäßigen Alternativen arbeitet,
denkt nicht an den Schutz der Zivilbevölkerung. Die
Position der Bundesregierung ist aus Sicht der Linken
inkonsequent und unglaubwürdig.
Die Linke begrüßt zwar, dass die Bundesregierung
bei der Waffenkonferenz der Vereinten Nationen auf
eine völkerrechtlich verbindliche Lösung hinwirken
will. Doch wir verstehen nicht, warum es notwendig sein
soll, bis dahin eigene Streumunition zu behalten. Misstrauisch macht uns, dass die Bundesregierung keine
Auskünfte über die Testbedingungen gibt, nach denen
die vorhandene Streumunition nur eine Blindgängerrate
von 1 Prozent hat. Auch die Menge der in Deutschland
gelagerten Streumunition wird schamhaft verschwiegen.
Es hilft nicht, unangenehme Wahrheiten kurzerhand zur
Verschlusssache zu erklären. Nur Länder, die ihre Munition weiter einsetzen wollen, schweigen. Österreich und
Belgien haben die Größe ihrer Bestände offengelegt.
Durch Schweigen und Ausflüchte wird die angebliche
Abrüstungsabsicht nicht glaubwürdiger.
Der Weg zum weltweiten Ausstieg aus dieser gefährlichen Technologie ist sicher schwierig. Aber was
spricht dagegen, hier und heute damit zu beginnen?
Schließen Sie sich dem Vorbild Österreichs und Belgiens
an und verzichten Sie auf den Einsatz von Streumunition! Unterstützen Sie die Initiative Norwegens und setzen Sie sich im Rahmen des Oslo-Prozesses für eine
konsequente und verbindliche Vertragsform gegen
Streumunition ein! Ächtung und Verbot von Streumunition sind möglich, ein Verbot von Streubomben ist vor
allem dringend nötig. Dies kann hier und heute beginnen. Mit diesem Ziel hat die Fraktion Die Linke den vorliegenden Antrag eingebracht.
({2})
- Wir bitten trotz alledem um Ihre Unterstützung für diesen Antrag.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Hans Raidel von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Antrag der Linken ist abzulehnen, weil er
wie so oft wirklichkeitsfremd ist. Damit hier keine Missverständnisse entstehen: Das Thema Streubomben und
Splitterbomben insgesamt ist für uns alle wichtig. Wir
wollen die Abschaffung und das Verbot erreichen. Aber
die Wege sind verschieden; wir gehen einen realistischen
Weg.
({0})
Der Bundestag hat sich 2006 letztmalig mit dieser
Thematik befasst und das sogenannte Achtpunkteprogramm der Bundesregierung ausdrücklich begrüßt. Danach wird Deutschland voraussichtlich bis 2015 einseitig
auf Streumunition verzichten. Darüber hinaus beschafft
die Bundeswehr jetzt schon keine Streumunition mehr.
Es wurde bereits mit der Vernichtung solcher Streumunition begonnen, die über der Blindgängerrate von 1 Prozent liegt. Die Bundesregierung ist damit gut aufgestellt,
und sie verdient auch Lob für ihre Handlungsweise.
Wenn Sie bedenken, dass Staaten wie die USA, Russland, China, Indien, Pakistan, Israel und Brasilien bis
jetzt internationale Regelungen verweigern und gar nicht
erst an Prozessen - zum Beispiel dem Oslo-Prozess Hans Raidel
teilnehmen, dann sehen Sie, wie schwierig und komplex
dieses international wichtige Thema ist.
Wir beteiligen uns im Rahmen des Oslo-Prozesses, wie
auch Sie wissen. Aber noch mehr setzen wir auf die UNOKarte. Hier arbeiten wir sehr aktiv am Zustandekommen
eines Verbots bzw. eines Beseitigungsabkommens mit.
Deswegen haben wir und hat die Bundesregierung einen
Dreistufenplan zum UN-Waffenübereinkommen vorgelegt. Dieser Vorschlag ist mittlerweile als Gesprächsgrundlage akzeptiert. Deutschland greift mit diesem Vorschlag auch die Initiative des EU-Parlaments aus dem
Jahre 2006 auf - es stimmt also nicht, was Sie gesagt haben -, in der gefordert wird, Maßnahmen zu verlangen,
um die Herstellung, die Lagerung, die Verbreitung und
den Einsatz von Streumunition und Splitterbomben jeder
Art zu unterbinden. Das ist die wörtliche Formulierung
aus diesem Protokoll.
Der deutsche Plan unterscheidet sich deutlich vom
Oslo-Konzept. Mit dem Dreistufenplan soll ein gangbarer Weg aufgezeigt werden, wie mittelfristig weltweit
auf Streumunition verzichtet werden kann. Kernziel ist
es, in einem ausgewogenen Ansatz den Schutz der Zivilbevölkerung vor Streumunition nachhaltig zu erhöhen,
ohne dabei notwendige militärische Fähigkeiten zu vernachlässigen.
Die drei Stufen sind erstens das sofortige Verbot von
besonders gefährlicher Streumunition und die restriktive
Regulierung des Einsatzes anderer Arten zum Schutz der
Zivilbevölkerung, zweitens der mittelfristige Verzicht
auf alle Arten von Streumunition und drittens der Ersatz
der Streumunition durch alternative Munition, durch die
die Gefährdung Dritter auf ein Minimum reduziert wird,
während sie zugleich die militärisch notwendige Bekämpfung von Punktzielen erlaubt. Im deutschen Vorschlag werden ergänzend auch die Produktion und der
Export gefährlicher Streumunition verboten und deren
Vernichtung gefordert.
Die mit dem deutschen Entwurf klar definierte Linie
zur Streumunition entspricht - das ist sehr wichtig - sowohl den Empfehlungen des Internationalen Roten
Kreuzes in Genf als auch dem Grundsatz des UN-Waffenübereinkommens, humanitären Schutz zu gewähren,
ohne militärische Notwendigkeiten zu ignorieren. Wir
sind damit in bester Gesellschaft und müssen uns von
niemandem etwas vorwerfen lassen. Unser Ansatz wird
auch von EU- und NATO-Partnern mehrheitlich geteilt.
Eine Vereinbarung im Rahmen der UNO würde auch
Staaten mit besonders großen Beständen von Streumunition einbinden und wäre sicherlich ein großer Erfolg.
Der Oslo-Prozess - um auch darauf einzugehen - hat
einen sehr anspruchsvollen Zeitplan. Der vor wenigen
Tagen - am 21. Januar 2008 - veröffentliche Entwurf
soll bis zum Jahresende 2008 in Oslo zur Zeichnung aufgelegt werden. Das Ziel ist klar formuliert: Es wird ein
sofortiges, bedingungsloses und umfassendes Verbot
von Streumunition als ganze Waffenkategorie gefordert.
Bei einigen EU- und NATO-Partnern gilt das jedoch als
unangemessen, weil die militärische Bedeutung von
Waffenwirksamkeit in der Fläche nicht berücksichtigt
wird. Viele Staaten signalisieren zudem, dass sie nur im
Rahmen der UNO mitarbeiten wollen.
Ob sich das Oslo-Konzept durchsetzen wird, ist also
derzeit mehr als fraglich. Ohne zeitliche Stufenlösung
- von der auch heute Vormittag im Unterausschuss „Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung“ die
Rede war - hat es sicherlich keine Chance. Als Diskussionsgrundlage, auch bei der UNO, halte ich es allerdings für nützlich und wertvoll.
Der Antrag der Linken entspricht nicht dem Weg, den
die Bundesregierung mit ihrem Dreistufenplan vertritt.
Notwendige Bündnisfähigkeiten wie die Landesverteidigung gemäß Art. 5 des NATO-Vertrages werden ebenso
vernachlässigt wie die Fähigkeiten für Operationen gemäß Kapitel VII der UN-Charta für friedenserzwingende
Maßnahmen.
({1})
Bei der Bundeswehr würde eine Fähigkeitslücke entstehen, die so nicht verantwortet werden kann. Der Dreistufenplan der Bundesregierung ist aus meiner Sicht national geboten und international wünschenswert.
Wir begrüßen diese Initiative der Bundesregierung.
Ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg. Wir sind
- wie häufig in Abrüstungsfragen - Motor, Schrittmacher und Impulsgeber und gehen mit unserem Vorschlag
und auch, was das Verhalten der Bundeswehr in dieser
Frage angeht, sehr verantwortungsvoll mit dem Thema
um. Wir gehen auch gemessen an den internationalen
Vorgaben mit einem guten Beispiel voran. Wir unterstützen diesen Weg, und ich sage: Weiter so!
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Harald Leibrecht von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Wir beraten mit dem Verbot
von Streumunition heute ein Thema, das aus humanitären Gründen von großer Bedeutung ist. Streumunition
wird durch Bomben, Artillerie oder Raketen verschossen, die über dem Ziel Hunderte von sogenannten kleinen Bomblets verteilen und großflächig zur Explosion
bringen.
Diese Flächenwaffe unterscheidet dabei nicht zwischen zivilen und militärischen Zielen und tötet daher
unterschiedslos. Das Problem dabei ist, dass ein großer
Teil der Bomblets beim Aufschlag nicht detoniert, sondern als Blindgänger am Boden liegen bleibt.
Diese Blindgänger, die man durchaus mit Antipersonenminen, die auch wir ablehnen, vergleichen kann, stellen noch Jahre nach dem Ende von Kampfhandlungen
für die dort lebenden Menschen - oftmals sind es spielende Kinder - eine riesige Gefahr dar. Die Rüstungsindustrie hat es bis heute nicht geschafft, die Blindgängerrate auf 0 Prozent zu reduzieren. Wenn zum Beispiel
ein Bauer weiß, dass auf seinem Feld Streubomben niedergingen, interessiert es ihn reichlich wenig, ob die
Blindgängerrate bei 30 Prozent liegt, wie es heute bei
mancher Streumunition der Fall ist, ob bei 20 Prozent,
5 Prozent oder bei 1 Prozent. Dieser Bauer wird auf
Jahre hinweg sein Feld nicht bewirtschaften und seine
Familie nicht ernähren können.
Da wir die Folgen von Streumunition kennen, hat sich
meine Fraktion, die FDP-Fraktion, bereits im
September 2006 für die Ächtung dieser Waffe ausgesprochen, und wir hatten seinerzeit auch eine sehr intensive Debatte hier im Bundestag. Neben der FDP legten
damals auch die Grünen sowie die CDU/CSU und die
SPD entsprechende Anträge vor. Seitdem finden Diskussionen über dieses Thema hier im Haus, in den Ausschüssen und in den Fraktionen, statt. Die Linken hatten
damals diese politische Entwicklung offensichtlich verschlafen, zumindest war von ihnen damals nichts zu hören. Jetzt, über ein Jahr nach der entscheidenden Debatte
im Bundestag, kommen sie quasi wie die alte Fastnacht
mit ihrem Antrag und spielen sich als Retter der Nation
auf.
({0})
Viele Kolleginnen und Kollegen im Bundestag beschäftigen sich aus echter Überzeugung mit der Problematik
der Streubomben und setzen sich seit langem und glaubwürdig für deren Ächtung ein. Dass die Linken nun meinen, bei diesem Thema die Meinungsführerschaft übernehmen zu müssen, macht sie wenig glaubhaft. Das
muss hier deutlich gesagt werden.
Aber auch inhaltlich weist der Antrag der Linken
Schwächen auf. Sicher, eine weltweite Ächtung dieser
schrecklichen Waffe ist wünschenswert, und auch wir
wollen, dass die Bundesregierung sich bei unseren Verbündeten dafür stark macht. Aber zu meinen, dass sich
unsere NATO-Partner von uns vorschreiben lassen, welche Waffen sie zur Verteidigung ihrer Soldaten, die hier
im Land stationiert sind, haben dürfen und welche nicht,
ist realitätsfern. Die mit Deutschland verbündeten Staaten, deren Truppen bei uns im Land auf unsere Einladung hin hier sind und die für die Sicherheit in Europa
sorgen, werden auch in Zukunft selbst darüber entscheiden, ob sie auf Streumunition verzichten oder nicht.
Wie gesagt, wir müssen für unsere Position der Ächtung der Streubomben werben, wir sollten uns aber nicht
als moralische Lehrmeister aufspielen. Gerade diese Art
von Arroganz gegenüber den Verbündeten würde eher
das Gegenteil erreichen. Mit unserem Antrag von 2006
geht es uns, der FDP, um die Ächtung einer schrecklichen Waffe und nicht, wie es beim Antrag der Linken
der Fall ist, darum, NATO-feindlichen Ressentiments ein
Podium zu bieten. Glaubhafte Abrüstungspolitik sieht
anders aus als der Antrag der Linken.
Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Andreas Weigel von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich wünsche mir manchmal, dass die Welt
einfacher wäre, als sie es tatsächlich ist. Es ist nur
leider nicht so.
So hat unser Außenminister Frank-Walter Steinmeier in
der vergangenen Woche während der Debatte über den
Jahresabrüstungsbericht seine Rede beendet. Dass die
Welt der Abrüstung nicht so einfach gestrickt ist, wie wir
uns das manchmal wünschen, ist eine Einsicht, die bisher bedauerlicherweise die Fraktion der Linken noch
nicht hat.
Ihr Antrag, den Sie heute vorlegen, zeugt von einer
sehr vereinfachten Weltsicht. Er zeichnet im Übrigen ein
düsteres Bild. Die Bundeswehr wirft bei Auslandseinsätzen offenbar mit Streumunition wild um sich, wenn ich
den Antrag richtig lese. In Wirklichkeit ist die Bundeswehr im Rahmen ihrer Einsätze bisher noch nie in der
Situation gewesen, und zwar kein einziges Mal,
({0})
dass sie Streumunition eingesetzt hat.
({1})
Sie unterstellen der Bundeswehr Beschaffungsvorhaben
für neue Streumunition. Das ist nicht der Fall. Der Regierungsbeschluss von 2006 legt fest, dass die Bundeswehr keine Neubeschaffung von Streumunition vornimmt.
Sie sagen: Die internationalen Verhandlungen zur
Ächtung von Streumunition treten auf der Stelle. Die
Wahrheit ist, dass durch die Verhandlungen seit November letzten Jahres große Fortschritte erzielt worden sind.
Sie behaupten, Deutschland verweigere sich bei diesen
Verhandlungen. Das stimmt ebenfalls nicht. Deutschland
nimmt eine Vorreiterrolle ein.
({2})
2007 hat die Bundesregierung auf internationaler Ebene
das erste Mal konkrete Handlungsvorschläge vorgelegt.
Der deutsche Dreistufenplan - mein Kollege Raidel hat
ihn schon angesprochen - entspricht den Empfehlungen
des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz und den
Vorgaben des Waffenübereinkommens der Vereinten Nationen.
Liebe Frau Höger, ich halte Ihren Antrag für ziemlich
fragwürdig, weil Sie, erstens, Tatsachen verdrehen,
zweitens, falsche Behauptungen aufstellen und, drittens,
weltfremde Lösungen präsentieren - und das alles auf
anderthalb Seiten. Ihr Antrag ist darüber hinaus respektlos gegenüber den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, die von Ihnen in diesem Antrag in ein, wie ich
meine, übles Licht gerückt werden, und respektlos gegenüber den deutschen Diplomaten, die sich insbesondere in den vergangenen Monaten in zähen Verhandlungen sehr engagiert dafür eingesetzt haben, dass es zu
einer Ächtung von Streumunition kommt.
Im Übrigen erweisen Sie mit diesem Antrag, den Sie
heute, eine Woche nachdem wir dieses Thema zu prominenter Stunde im Bundestag behandelt haben, in das Parlament einbringen, dem Eintreten für die Ächtung von
Streumunition einen Bärendienst: zum einen wegen des
Inhalts des Antrags, zum anderen wegen des Zeitpunkts,
an dem Sie diesen Antrag einbringen. Erst vor einer Woche haben wir hier über diesen Gegenstand diskutiert.
Unter anderem hat die Fraktion der Grünen einen Antrag
zum Thema „Verbot von Streumunition“ vorgelegt. Fast
alle Redner haben auf dieses Thema substanziell
reagiert. Von Ihnen haben wir leider Gottes nichts gehört.
({3})
Wir haben in der letzten Woche auch gesagt, dass wir
Abrüstungspolitik grundsätzlich wieder stärker in den
Fokus des Parlamentes rücken sollten. Aber das heißt
doch nicht, dass wir darüber nur eine Woche später erneut diskutieren - vor fast leerem Haus -, sondern das
heißt, dass wir dieses Thema dann auf die Tagesordnung
setzen, wenn es neue Entwicklungen gibt. In der vergangenen Woche hat es weder neue Entwicklungen gegeben
noch mitteilenswerte Neuigkeiten. Wenn wir mit diesem
Thema so umgehen, verbessern wir auch nicht die öffentliche Wahrnehmung. Es ist schade, dass wir es zu
dieser Zeit diskutieren. Diejenigen, die uns heute zuschauen, meinen womöglich, dass dieses Thema es nicht
wert sei, zu prominenter Stunde im Bundestag diskutiert
zu werden.
Ich will in meiner Rede nicht noch einmal das aufgreifen, was ich vorige Woche gesagt habe. Ich will lediglich einige wenige Dinge, die mir in diesem Zusammenhang wichtig sind, ansprechen.
Es wird behauptet, die Große Koalition betreibe mit
ihrer Unterscheidung zwischen gefährlicher und ungefährlicher Streumunition Augenwischerei.
({4})
Ich will hier klarstellen: Die SPD-Fraktion ist für ein
umfassendes Verbot von Streumunition. Wir sind dafür,
dass die Herstellung, Verbreitung und Verwendung von
Streumunition in Zukunft sanktioniert wird.
({5})
Der militärische Nutzen von Streumunition, von
Bomben und Granaten, die eine Vielzahl von kleinen
Sprengkörpern freisetzen, ist ohnehin zweifelhaft. Dies
gilt im Übrigen auch für moderne Munition mit einer
vermeintlich niedrigen Blindgängerrate. Die Koalitionsfraktionen haben die Bundesregierung 2006 aufgefordert, Schritt für Schritt auf eine völkerrechtliche Ächtung von Streumunition hinzuarbeiten.
Wir fordern klare Einschränkungen bezüglich der Zulassung auch von alternativer Munition. Alternative Munition ist aber eben keine Streumunition. Sie ist damit
nicht gleichzusetzen. Es handelt sich dabei auch nicht
um einen semantischen Trick.
({6})
Es gibt klare Unterscheidungskriterien: Streumunition
dient der Flächenbekämpfung und erscheint aus heutiger
Sicht militärisch verzichtbar; übrigens ist das Verbot aus
humanitären Gründen ohnehin dringend notwendig.
({7})
Alternative Munition - sie ist leider notwendig - bekämpft Punktziele mit maximal zehn Sprengkörpern;
herkömmliche Streumunition hat über 1 000 Sprengkörper. Im Gegensatz zur Unzuverlässigkeit von Streumunition muss alternative Munition eine hohe technische Zuverlässigkeit vorweisen. Ich gestehe allerdings ein, dass
es da noch allerhand Klärungsbedarf gibt. Die Sachverständigen, die wir im Unterausschuss „Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung“ im Rahmen einer
Anhörung im Dezember letzten Jahres gehört haben, haben darauf hingewiesen, dass es derzeit wenig gesicherte
Erkenntnisse über diese Zuverlässigkeit gibt.
Im Vergleich zu den von Ihnen angesprochenen Ländern ist die Vernichtung und Abschaffung von Streumunition in Deutschland aber nicht nur unter qualitativen,
sondern auch unter quantitativen Gesichtspunkten zu sehen. Nicht zuletzt aufgrund unserer geostrategischen
Position zu Zeiten des Kalten Krieges lagern wir hier
weit mehr Munitionsarten, als das in anderen Ländern
der Fall ist. Die Bundeswehr verfolgt das Ziel, einen völligen Verzicht von Streumunition zu erreichen. Im zweiten Halbjahr 2007 ist mit der endgültigen Entsorgung
von Streumunitionsmodellen begonnen worden. Dieses
Jahr wird Weiteres in Angriff genommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sorge bereiten mir
insbesondere diejenigen Staaten, die sich bisher kaum
oder nur sehr widerwillig an den internationalen Verhandlungen zu Streumunition beteiligt haben.
({8})
Das sind insbesondere Staaten mit umfangreichen Streumunitionsarsenalen. Dazu gehören die Vereinigten Staaten, China, Russland, zudem Indien, Pakistan, Israel und
Brasilien.
Wichtig ist, dass bei den Verhandlungen im Rahmen
der Vereinten Nationen nach langem Stillstand wieder
Fahrt aufgenommen wurde. Das ist auch ein Verdienst
der deutschen Bundesregierung. Im November 2007 haben sich die Vertragsstaaten bei einer Beratung einhellig
bereit erklärt, erstmals in den Verhandlungen die Fortschritte aufzuzählen und insbesondere Definitionen von
Streumunition vorzunehmen. Vor einer Woche sind bemerkenswerte Fortschritte erzielt worden, die an dieser
Stelle auch erwähnt werden sollten. Bei einem Treffen
im Rahmen der UN-Verhandlungen haben sich die Vereinigten Staaten erstmals unmissverständlich dafür ausgesprochen, bis Ende dieses Jahres ein völkerrechtlich
verbindliches Abkommen zur Ächtung von Streumunition zu verabschieden. Es ist erfreulich, dass sich insbesondere die Amerikaner an dieser Stelle so deutlich positioniert haben. Wir hoffen, dass wir in diesem Jahr ein
konkretes Ergebnis erzielen werden. Ich denke, wir sind
auf dem richtigen Weg. Wir werden im Frühjahr, vor der
Konferenz in Dublin, hier sicherlich noch einmal darüber diskutieren können, dann hoffentlich vor breiterem
Publikum.
Vielen Dank.
({9})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich dem Kollegen Thilo Hoppe vom Bündnis 90/
Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
werde noch darauf zurückkommen, ob der Antrag realistisch oder unrealistisch ist. Lassen Sie mich zunächst
aber noch an Folgendes erinnern: Kurz vor Weihnachten
gab es im Paul-Löbe-Haus eine Ausstellung mit vielen
Fotos zur Streubombenproblematik. Mich haben diese
Fotos, Fotos von verstümmelten Kindern, wirklich schockiert. Makabererweise gibt es viele Bomblets, die wie
Spielzeug aussehen und bei der leisesten Berührung detonieren.
Bis zu 20 000 Menschen sind in einigen Jahren durch
Streubomben und Landminen ums Leben gekommen.
Mit Streubomben, die mit Tausenden von Bomblets, mit
Minibomben, gefüllt sind, können auf einen Schlag viele
Menschen getötet und große Flächen unpassierbar gemacht, also quasi vermint werden. Streubomben töten
unterschiedslos Soldaten und Zivilisten. Sie stellen eine
große Gefahr für die Zivilbevölkerung dar, oft noch
Jahre, manchmal Jahrzehnte nach den kriegerischen
Auseinandersetzungen. Ich meine, Streubomben sind besonders brutale, grausame Waffen, die ohne Wenn und
Aber geächtet und aus der Welt geschafft werden müssen.
({0})
Ich rede heute als Entwicklungspolitiker zu diesem
Thema, weil weltweit 200 000 Quadratkilometer Flächen mit Landminen und Streubomben kontaminiert
sind, in Laos beispielsweise 20 Prozent aller anbaubaren
Ackerflächen. Streubomben und Landminen sind ein
ganz großer Hungerfaktor und verschärfen in sehr vielen
Ländern das Hungerproblem. Es gibt also sehr viele
plausible, gute Gründe - das haben mehrere Rednerinnen und Redner heute gesagt -, sich für ein umfassendes
Verbot von Streubomben einzusetzen.
Bei uns in Deutschland gibt es ein großes Bündnis:
„landmine.de“. Die Kirchen, Brot für die Welt und die
Kindernothilfe haben sich diesem Bündnis angeschlossen. Viele Prominente unterstützen die Aktion: Anne
Will, Ulrike Folkerts, Marius Müller-Westernhagen und
Günther Jauch; ich könnte noch eine ganze Reihe weiterer Prominenter aus allen Bereichen der Gesellschaft anführen.
Auf internationaler Ebene gibt es zwar den Oslo-Prozess und Bemühungen der Bundesregierung, aber bisher
nur zwei Staaten, Belgien und Österreich, die sich ohne
Wenn und Aber ganz klar für ein striktes Verbot von
Streubomben jeder Art ausgesprochen haben. Belgien ist
sogar so weit gegangen, dass den Banken die Finanzierung von Geschäften mit Streubomben untersagt wurde.
Banken, die in solche Geschäfte verwickelt sind, können
dort vor Gericht gebracht werden.
Im September 2006 haben wir einen Antrag eingebracht, der die Zielsetzung hat, dem belgischen Beispiel
- jetzt auch dem österreichischen Beispiel - zu folgen.
Heute kommt Die Linke mit einem sehr ähnlichen Antrag, den wir von der Zielsetzung her voll und ganz unterstützen. Sie hätten 2006 aber auch unseren Antrag unterstützen können.
Ich überspringe einige Punkte meiner Rede; denn die
Gefahren und die Grausamkeit, die von diesen Waffen
ausgehen, wurden hier schon von mehreren Rednern
verdeutlicht.
Ich möchte auf das Argument eingehen, die Beispiele
Österreich und Belgien seien unrealistisch und nicht von
dieser Welt, Kollege Weigel. Ich war im Dezember, kurz
vor Weihnachten, als einziger Parlamentarier des Deutschen Bundestages auf einer Konferenz in Wien. Die österreichische Parlamentspräsidentin hat zu einer begleitenden Parlamentarierkonferenz eingeladen. Auf dieser
Konferenz waren Österreich und Belgien natürlich die
Stars, weil sie ein umfassendes Verbot durchgesetzt haben. Ich möchte Ihnen sagen, welche Rückmeldung
Deutschland bekommen hat - nicht ich persönlich oder
die Grünen, sondern der Antrag der Koalitionsfraktionen -:
Ein Vertreter des britischen Oberhauses hat es nicht als
Schritt in die richtige Richtung, sondern als gefährliche
Entwicklung bezeichnet, wenn man beginnt, zwischen
gefährlichen und im Gegenzug angeblich ungefährlichen
Streubomben - so werden die Streubomben bezeichnet,
die eine Blindgängerquote von 1 Prozent oder weniger
haben - zu unterscheiden; Kollege Leibrecht hat das
schon deutlich gemacht. Ich habe das anhand des Libanons einmal ausgerechnet: Dort sind in den letzten
72 Stunden des vergangenen Krieges so viele Streubomben geworfen worden, dass, wären das die neuen, angeblich intelligenten, ungefährlichen Streubomben gewesen,
immer noch 40 000 Blindgänger im Libanon liegen würden. Das ist also kein Ausweg.
Mehrere Redner, auch Redner von der ÖVP, konservative und liberale Politiker, Politiker aller Couleur, haben gesagt: Wenn wir diese Debatte jetzt aufmachen und
zwischen gefährlichen und ungefährlichen Streubomben
unterscheiden, dann konterkarieren wir alle BemühunThilo Hoppe
gen, zu einem umfassenden Verbot von Streubomben zu
kommen.
Es wurde auch ein Verdacht geäußert, den ich jetzt
nicht unterstreichen, über den ich aber referieren
möchte: Es gibt deutsche Firmen, die Streubomben produzieren, die an der Produktion dieser angeblich weniger
gefährlichen Streubomben beteiligt sind. Einige Redner
haben den Antrag sogar als Marketingstrategie angesehen, weil man jetzt nicht mehr dazu aufrufen müsste, alle
Streubombenbestände zu vernichten, sondern dazu aufrufen könnte, die alten Streubomben durch neue Streubomben mit einer geringeren Blindgängerquote zu ersetzen.
Herr Kollege Hoppe, ich muss Sie trotzdem an Ihre
Redezeit erinnern.
Danke schön. - Das führt in die falsche Richtung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe Sie auf,
dem österreichischen und dem belgischen Beispiel zu
folgen. Dort haben die Parlamentarier es geschafft, sich
über das gesamte Parteienspektrum hinweg für eine
Ächtung von Streubomben einzusetzen, und zwar ohne
Wenn und Aber und ohne diese unsinnigen Unterscheidungen.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7767 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Silke
Stokar von Neuforn, Grietje Bettin, Volker Beck
({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Datenschutz bei der Verwendung von RFIDChips sicherstellen
- Drucksache 16/7138 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Zu diesem Tagesordnungspunkt ist vereinbart, die Re-
den zu Protokoll zu nehmen. Es handelt sich um die Re-
den der Kolleginnen und Kollegen Beatrix Philipp,
CDU/CSU, Manfred Zöllmer, SPD, Gisela Piltz, FDP,
Karin Binder, Die Linke, Silke Stokar von Neuforn,
Bündnis 90/Die Grünen, sowie des fraktionslosen Kolle-
gen Gert Winkelmeier.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7138 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heuten Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 13. Februar 2008, 13 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.