Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich und wünsche uns einen guten Tag und gute,
konstruktive Beratungen.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich
Ihnen mitteilen, dass interfraktionell vereinbart worden
ist, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der LINKEN
Vorschlag des Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt,
bei einer entsprechenden Entwicklung der Steuereinnahmen 2006 auf eine Erhöhung der Mehrwertsteuer zu verzichten
({0})
ZP 2 Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Warnungen vor einer Militarisierung der Auseinandersetzung um das iranische Atomprogramm
ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD
Für die Einhaltung von grundlegenden Menschenrechten
und Grundfreiheiten beim Umgang mit Gefangenen
- Drucksache 16/431 ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian Toncar,
Dr. Werner Hoyer, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für die Schließung von Guantanamo Bay und die Überführung der Gefangenen in rechtsstaatliche Verfahren
- Drucksache 16/454 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ({2}),
Jürgen Trittin, Marieluise Beck ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Rechtsstaatliche Verfahren und Menschenrechtsschutz
für die Inhaftierten in Guantanamo Bay
- Drucksache 16/443 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({4})
Auswärtiger Ausschuss
ZP 6 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({5})
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bereinigung des
Bundesrechts im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Verbrauchers4chutz, Ernährung und Landwirtschaft
- Drucksache 16/27 ({6})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({7})
- Drucksache 16/425 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Hans-Heinrich Jordan
Waltraud Wolff ({8})
Hans-Michael Goldmann
Ulrike Höfken
Die Tagesordnungspunkte 8 - Vorratsdatenspeiche-
rung - und 15 b - Entschädigungsrecht - sollen abge-
setzt werden. Außerdem ist vorgesehen, den Tagesord-
nungspunkt 11 - Abfallrecht - unmittelbar nach dem Ta-
gesordnungspunkt 9 - Änderung des Gentechnikgeset-
zes - aufzurufen. Von der Frist für den Beginn der Bera-
tungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? -
Das ist offenkundig der Fall. Dann ist das so beschlos-
sen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahreswirtschaftsbericht 2006 der Bundesregierung
Reformieren, investieren, Zukunft gestalten Politik für mehr Arbeit in Deutschland
- Drucksache 16/450 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({9})
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresgutachten 2005/06 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
- Drucksache 16/65 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({10})
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache insgesamt zwei Stunden vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Bundesminister für Wirtschaft, Michael Glos.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Jahreswirtschaftsbericht macht deutlich, wo
Deutschlands Zukunft liegt: im Bereich Bildung und
Innovation. Das sind nach meiner festen Überzeugung
die Grundlagen für zukünftiges Wachstum und damit
auch für wieder mehr Beschäftigung in unserem Land.
({0})
Die Überschrift des vorliegenden Jahreswirtschaftsberichts lautet: „Reformieren, investieren, Zukunft gestalten - Politik für mehr Arbeit in Deutschland“. Die
konjunkturelle Erholung Deutschlands hat sich, wie ich
meine, gefestigt und wird in diesem Jahr nach Überzeugung aller Institute an Breite gewinnen; darauf deuten
die aktuellen Indikatoren hin wie auch die Auftragseingänge, die Produktionsdaten und die Stimmungsindikatoren. Wie in unserem Jahreswirtschaftsbericht steht,
erwarten wir für das Jahr 2006 einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um real 1,5 Prozent. Nun kann man
streiten, wie Prognosen von Fachleuten zu werten sind.
Die offizielle Prognose, nach den statistischen Daten, die
zugrunde gelegt sind, lautet: 1,4 Prozent. Es gibt aber
auch Stimmen, nach denen der Anstieg bis 1,6 Prozent
betragen kann. Ich bleibe bei 1,5 Prozent. Ich meine,
dass das eine bewusst vorsichtige Schätzung der gesamtwirtschaftlichen Eckdaten ist. Es ist nämlich besser, vorsichtiger zu schätzen und es kommt dann günstiger, als
den Weg zu gehen, der in der Vergangenheit beschritten
worden ist. Ich meine, wir haben diesmal die Chance,
von der tatsächlichen Entwicklung positiv übertroffen zu
werden.
({1})
- Ich will die Gespräche im Plenum nicht stören, Herr
Präsident.
({2})
Als Bundestagspräsident muss ich darauf auch größten Wert legen, Herr Minister.
Mein Respekt als Bundestagsabgeordneter vor dem
Parlament ist viel zu groß.
Die außenwirtschaftlichen Impulse dürften angesichts
der robusten Weltwirtschaft erhalten bleiben. Bei einem
geschätzten Exportanstieg von 6,5 Prozent werden die
deutschen Exporteure erneut Marktanteile hinzugewinnen.
Lassen Sie mich an dieser Stelle allen Menschen danken, die mit dazu beitragen, dass wir Exportweltmeister
sind und es bleiben werden. Dazu zählen auch diejenigen, die bereit sind, ins Ausland zu gehen, um dort deutsche Anlagen zu montieren.
({0})
Sie sichern damit Arbeitsplätze in Deutschland und tragen in anderen Ländern der Welt zu einer wirtschaftlichen Entwicklung bei, was wiederum eine friedliche
Entwicklung unterstützt. Deswegen appelliere ich an die
Entführer der beiden deutschen Ingenieure im Irak, diese
freizulassen.
({1})
Auch die Binnenkonjunktur könnte allmählich - das
wünschen wir uns alle - wieder an Zugkraft gewinnen.
Darauf deuten sehr viele Umfrageergebnisse hin. Vor allem ist die Stimmung der Deutschen wieder zuversichtlicher geworden. Wir wissen natürlich, dass das wirtschaftliche Handeln der augenblicklichen Stimmung
hinterherhinkt. Wenn aber viele Menschen der Meinung
sind, es gehe aufwärts und diese Entwicklung sei stabil,
dann wird sich auch deren Kaufverhalten verbessern. Allein die Aktivitäten bei Ausrüstungsinvestitionen in unserem Land sprechen schon Bände. Das zeigt, dass der
Impuls von außen auf die Bereitschaft zu Investitionen
im Inland durchgeschlagen hat. Ich hoffe, dass das auch
für die Konsumbereitschaft gelten wird.
Es gibt viele Zahlen, die dafür sprechen, dass der
Aufschwung breit angelegt ist. Als Beispiele nenne ich
nur: die kräftige Gewinnentwicklung in den vergangenen Jahren, insbesondere bei exportorientierten Unternehmen, die fortgeschrittene Bilanzbereinigung bei
vielen Unternehmen, die lange Zeit viel Faules mitgeschleppt haben, bis man es in der Bilanz entsprechend
bereinigen konnte, und die zuletzt wieder gestiegene Kapazitätsauslastung. Auch der letzte Punkt ist wichtig;
denn erst wenn die Kapazitäten ausgelastet sind, kommt
es zu Erweiterungsinvestitionen. Ich meine, dass das
günstige Anzeichen sind.
Die Zahl der Arbeitslosen wird dieser Prognose nach
im Jahresdurchschnitt um rund 350 000 auf 4,5 Millionen Personen zurückgehen.
Wie jede Vorhersage ist auch die Jahresprojektion der
Bundesregierung mit Risiken und damit mit Unsicherheiten behaftet. Niemand vermag zum Beispiel exakt vorauszusagen, ob es erneut zu einem weltweiten Anstieg
bei den Rohstoffpreisen kommen wird, vor allem beim
Rohöl. Wir haben bei unserer Prognose schon einen hohen Rohölpreis zugrunde gelegt. Aber dieser kann natürlich noch übertroffen werden; schließlich wird Rohöl
zum großen Teil in unsicheren Gegenden der Welt gefördert. Das zeigt letztlich unsere Abhängigkeit von solchen Entwicklungen.
Niemand kann heute vorhersagen, welche Auswirkungen die globalen Ungleichgewichte haben werden.
Das gilt insbesondere für die Entwicklung des Haushalts- und Leistungsbilanzdefizits der USA. Niemand
weiß, wie das auf die Weltfinanzmärkte durchschlagen
wird.
Auf der anderen Seite bestehen durchaus Chancen für
eine günstigere Entwicklung als vorausgesagt. Es
kommt vor allem darauf an, das Vertrauen der Menschen
zu stärken. Wir werden mit unserer wirtschaftspolitischen Strategie zu einer Stärkung des Vertrauens beitragen. Das ist das Ziel der Bundesregierung.
({2})
Der Dreiklang, den wir setzen, besteht aus Sanieren,
Reformieren, Investieren. Zum ersten Punkt: Gesunde
und tragfähige Staatsfinanzen sind eine wesentliche
Grundlage für Vertrauen in die Politik. Es kann mittelund längerfristig nur dann einen Aufschwung geben,
wenn wir uns an die Sanierung der öffentlichen Finanzen
heranwagen. Um die Solidität dauerhaft zu sichern, muss
es uns gelingen, die öffentlichen Haushalte strukturell zu
konsolidieren und die Weichen für mehr Wachstum und
Beschäftigung zu stellen. Wir werden deshalb die Konsolidierung des Bundeshaushaltes und der sozialen Sicherungssysteme mit großer Entschlossenheit angehen.
({3})
Ich bitte Sie von allen Seiten des Hauses ganz herzlich
um Ihre Mitwirkung.
Ich bin mir der Problematik der Erhöhung der
Mehrwertsteuer natürlich sehr bewusst. Wenn wir aber
von einer Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozentpunkte
reden, dann müssen wir immer wieder hinzufügen, dass
1 Prozentpunkt davon direkt in die Senkung der Lohnnebenkosten fließt.
({4})
Die zu hohen Lohnzusatzkosten - so sagt man inzwischen vielleicht besser, weil es in Teilen nicht mehr nur
Nebenkosten, sondern Hauptkosten sind - sind noch
schädlicher für die Volkswirtschaft als die Steuerbelastung. Wenn wir zumindest unsere Steuerquote mit dem
Schnitt in anderen Ländern vergleichen, dann stellen wir
fest, dass wir gar nicht so schlecht liegen.
({5})
Wie gesagt: Es läuft alles nur gut, wenn es auch
Wachstum gibt. Deshalb ist es zweitens notwendig, dass
wir mit einem wirtschaftlichen Aufschwung in diesem
Jahr die notwendige Breite schaffen, damit der Zug des
Aufschwungs auch im nächsten Jahr, wenn die Mehrwertsteuererhöhung greift, so rasch auf den Gleisen
fährt, dass er nicht ohne weiteres gestoppt werden kann.
Wir wollen, dass die Sozialversicherungsbeiträge
dauerhaft unter 40 Prozent gesenkt werden. Das ist eine
der Aufgaben der großen Koalition. Ein erster Schritt auf
diesem Weg ist die Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 Prozent auf 4,5 Prozent zum
1. Januar 2007. Handlungsbedarf besteht auch am Arbeitsmarkt, um möglichst vielen Menschen eine Chance
auf Arbeit zu geben. So bedarf es des so genannten - ({6})
- Ich kann Sie schlecht verstehen. Ich empfehle Ihnen,
aufzustehen und sich zu melden, Herr Kuhn. Ihre Beiträge sind im Allgemeinen ja so intelligent, dass Sie sie
auch laut und ohne dass Störungen damit verbunden
sind, vorbringen können.
({7})
- Ich lasse mich von Ihnen trotzdem nicht aus dem Konzept bringen.
Ich sage es noch einmal: Wir bedürfen auch des so genannten Niedriglohnsektors und einer Neuregelung am
Arbeitsmarkt dergestalt, dass auch die Menschen, die
weniger qualifiziert und leistungsfähig sind und die sich
in der komplizierten Arbeitswelt oft nicht mehr gebraucht fühlen, Arbeit und Brot finden. Das ist eine der
wesentlichen Aufgaben für die Zukunft. Dafür wird eine
Kommission eingesetzt und wir werden unvoreingenommen prüfen, was man sinnvollerweise tun kann.
Neben der Haushaltssanierung und weiteren strukturellen Reformen geht es der Bundesregierung drittens
um mehr Investitionen und Innovationen. Auf unserer
Regierungsklausur in Genshagen haben wir in fünf Bereichen konkrete Impulse mit einem Volumen von insgesamt 25 Milliarden Euro bezogen auf die Legislaturperiode beschlossen.
Dazu gehört die Förderung von Forschung und Entwicklung. Dabei geht mein Appell auch an die Wirtschaft, mitzumachen und nicht infolge sich erhöhender
staatlicher Mittel möglicherweise die eigenen Forschungsmittel zu kürzen.
({8})
Das Gegenteil muss der Fall sein. Wir wollen mit dem
öffentlichen Geld, das wir einsetzen, zusätzliche Impulse
auslösen.
Zu unserem Programm gehören auch die Belebung
von Mittelstand und Wirtschaft sowie die Erhöhung der
Verkehrsinvestitionen, was nicht nur der Bauwirtschaft
direkt zugute kommt; vielmehr wirkt sich die dann vorhandene Infrastruktur natürlich auch günstig auf unsere
Wirtschaft und die Investitionen an den verkehrsmäßig
günstigen Standorten aus.
Zu unserem Programm gehört aber auch die Förderung der Familien. Das ist eine der Sorgen unseres
Landes. Ich bin vom amerikanischen Handelsminister
Gutierrez, der mich gestern besucht hat, gefragt worden,
warum wir in Deutschland schon stolz sind, wenn wir
Wachstumsraten von vielleicht 2 Prozent, wenn wir sehr
optimistisch sind, erreichen können.
({9})
Ich habe gesagt: Das hat auch etwas mit unserer Bevölkerungsentwicklung zu tun. Schauen Sie sich die Bevölkerungsentwicklung Ihres Landes an und schauen Sie
sich die Bevölkerungsentwicklung unseres Landes an.
({10})
Dann sehen Sie, wo im Grunde ein großes Stück unserer
Probleme liegt.
Ich darf die Maßnahmen, die wir konkret vereinbart
haben, weiter aufzählen: Es geht auch um die steuerliche
Abzugsfähigkeit von haushaltsnahen Dienstleistungen. Auch hier sind die Weichen entsprechend gestellt
worden.
All diese Maßnahmen sollen zur Stärkung der Wachstumskräfte beitragen und sind in unsere Projektion eingearbeitet. Natürlich ist in diese Projektion auch die Tatsache eingearbeitet, dass die Mehrwertsteuererhöhung,
die für nächstes Jahr geplant ist, in diesem Jahr zusätzliche Käufe auslöst. Es gibt selbstverständlich einen Vorzieheffekt; dieser ist gewollt.
Bereits kurzfristig erhoffe ich mir Anstöße von der
Revitalisierung der degressiven Abschreibung für bewegliche Anlagegüter auf dem alten Stand. Aber das
muss dann von einer Reform der Unternehmensbesteuerung zum 1. Januar 2008 abgelöst werden. Die nominalen sowie die effektiven Steuersätze auf unternehmerische Tätigkeit sind bei uns in Deutschland im
internationalen und auch im europäischen Vergleich zu
hoch.
({11})
Effektiv liegen sie bei 36 Prozent. Im europäischen
Durchschnitt sind es 30 Prozent, in Osteuropa unter
20 Prozent.
Unter Federführung des Finanzministers wird unter
Einbeziehung von Experten noch in diesem Jahr ein Vorschlag vorgelegt werden. Wir haben die Chance, uns zuerst mehrere Vorschläge anzusehen. Diese müssen dann
vom Finanzminister zusammen mit dem Wirtschaftsminister bewertet und möglichst bald dem parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren zugeleitet werden. Die
Menschen wollen schließlich wissen, was 2008 auf sie
zukommt.
Wachstumspolitisch besonders wichtig ist mir das
Ziel, die Ausgaben für Forschung und Technologie bis
2010 auf insgesamt 3 Prozent des Bruttosozialproduktes
zu steigern; denn in der Fähigkeit, innovativ zu sein und
zu bleiben, liegt Deutschlands Zukunft. Nur dadurch
kann unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit auf
dem hohen Niveau von Wohlstand und Sozialleistungen
aufrechterhalten werden. Mit Billiglöhnen in anderen
Ländern können wir nicht konkurrieren.
Für die Jahre 2006 bis 2009 werden aus Haushaltsmitteln 6 Milliarden Euro für Forschung und Innovation
bereitgestellt. Ich werde insbesondere bei den Forschungsmitteln, die dem BMWi zugute kommen, dafür
sorgen, dass der Schwerpunkt auf der Stärkung des innovativen Mittelstandes und der technologieorientierten
Gründer liegen wird.
({12})
Wir werden aber selbstverständlich innovative
Leuchtturmprojekte fördern, zum Beispiel das so genannte emissionsfreie Kraftwerk, um auf dem Energiesektor neue Lösungen voranzutreiben.
({13})
Alle Maßnahmen werden wir im Aktionsplan „Hightech Strategie Deutschland“ bündeln. Wir versprechen
uns von diesen Maßnahmen eine doppelte Dividende.
Mit den kurzfristigen Impulsen tragen wir dazu bei, die
aktuelle konjunkturelle Belebung zu festigen. Ich
glaube, das wollen alle. Diese kurzfristigen Impulse sind
natürlich temporär angelegt und laufen nach einer Weile
aus. Ein Beispiel: Die Verbesserung der Abschreibungsbedingungen wird in eine echte Unternehmensteuerreform münden.
Mit den eher längerfristig wirksamen Maßnahmen
schaffen wir darüber hinaus die Voraussetzung für ein
dauerhaft höheres Wachstum. Hierzu zählen die Förderung von Forschung und Entwicklung, die ich bereits erwähnt habe, aber natürlich auch die Maßnahmen, die
strukturell und längerfristig zu einer Entlastung des
Haushaltes führen. Sie sind ebenfalls auf Dauer angelegt
und werden zur strukturellen Haushaltskonsolidierung
beitragen. Dazu gehören zum Beispiel die Ausgabenkürzungen, der Abbau von Steuervergünstigungen sowie die
Maßnahmen zur Stabilisierung unserer sozialen Sicherungssysteme.
Wir werden mit einer Mittelstandsinitiative starten,
in deren Mittelpunkt weniger Bürokratie und mehr
Flexibilität steht.
({14})
Das kostet den Staat und die öffentliche Hand kein Geld;
aber es hilft den Betrieben, die investieren und Arbeitsplätze schaffen wollen.
Beim Bundeskanzleramt wird ein Normenkontrollrat eingerichtet. Unabhängige Fachleute sollen künftig
alle Gesetzesinitiativen auf Erforderlichkeit und bürokratische Kosten überprüfen. Auf der anderen Seite wissen wir, dass nicht jede Abschaffung von Regelungen
unbedingt Beifall auslöst. Sehr viele haben sich an diese
Regelungen gewöhnt.
Lassen Sie mich ein aktuelles Beispiel anführen: Die
Wirtschaftsministerkonferenz der Länder hat Vereinfachungen im Gaststättengesetz - beispielsweise durch die
Abschaffung der Bundeskompetenz - gefordert. Sobald
solche Maßnahmen jedoch im Jahreswirtschaftsbericht
aufgeführt werden und ihre Umsetzung Gestalt annimmt, werden Stimmen laut, die sich dagegen aussprechen.
Aber zurück zu den von uns geplanten Maßnahmen:
Wir müssen - das halte ich für ganz entscheidend - auch
die Selbstständigenquote in unserem Land steigern.
({15})
Erlauben Sie mir eine letzte Bemerkung. Ein immer
noch sehr stark industriell geprägtes Land mit einer hoch
komplizierten Volkswirtschaft wie Deutschland ist in besonderem Maße in Sorge um den Energiepreis. Der
Energiepreis in Deutschland ist sehr vielen staatlichen
Belastungen ausgesetzt. Das ist bekannt und unstrittig.
Wir müssen aber dafür sorgen, dass der Wettbewerb auf
dem Energiemarkt funktioniert und die Versorgungssicherheit - auch über entsprechend gute Leitungsnetze erhalten wird. Darüber hinaus müssen ausreichend Kapazitäten vorhanden sein, um einen echten Wettbewerb
zu ermöglichen. Mit dem Energiewirtschaftsgesetz verfügen wir über ein Instrument, das den dafür zuständigen
nachgeordneten Behörden erlaubt, über den Wettbewerb
zu wachen.
Als Maßnahme zur Steigerung der Energieeffizienz
erhöhen wir das Fördervolumen für das CO2-Gebäudesanierungsprogramm auf 1,4 Milliarden Euro jährlich.
Dadurch werden auch Arbeitsplätze im Handwerk geschaffen, worum es mir in besonderem Maße geht.
({16})
Wir wollen den Energiemix ausweiten. Auf dem geplanten Gipfeltreffen mit der Bundeskanzlerin werden
wir die künftigen Leitlinien ziehen.
Wir setzen in unserer Politik auf unsere Stärken in
Deutschland: auf qualifizierte Arbeitnehmer und Arbeitsnehmerinnen bzw. wettbewerbsfähige Unternehmen
und vor allen Dingen auf den sozialen Frieden, der ein
hohes Gut ist. Ich kann nur hoffen, dass sich die Tarifpartner in den anstehenden Verhandlungen so einigen,
dass die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes nicht gefährdet wird und dass vorhandene Spielräume zugunsten
unseres Landes mit hoher Flexibilität genutzt werden.
Daran arbeiten wir.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({17})
Das Wort hat nun der Kollege Rainer Brüderle für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundeskanzlerin hat vor wenigen Wochen an dieser Stelle
ihre Politik unter das Motto „Mehr Freiheit wagen“ gestellt. Sie hat es gestern in Davos erneut als Strategie der
Bundesregierung betont. In der Realität sieht die Politik
aber leider ganz anders aus. Die Bundesregierung hat
sich allenfalls die Freiheit genommen, ihre Prognose im
Jahreswirtschaftsbericht sehr vorsichtig anzulegen.
Das prognostizierte Wachstum um 1,4 Prozent liegt
am unteren Rande dessen, was die Ökonomen vorhersagen. Auch bei den Investitionen und dem Konsum liegen
die Prognosen am unteren Rande der Expertenmeinungen. Ich kritisiere das nicht; besser wäre es aber, wenn
die Regierung bei den steuerlichen Belastungen der Bürger Zurückhaltung üben und ihnen weniger abverlangen
würde.
({0})
Herr Glos hat persönlich eine deutlich optimistischere
Prognose öffentlich geäußert. Finanzminister Steinbrück
will aber offenbar den Druck aufrechterhalten, um die
Debatte über die Mehrwertsteuererhöhung keinesfalls
weiter anzuheizen. Deshalb ist die Prognose so moderat
ausgefallen.
Die Erstellung des Jahreswirtschaftsberichts ist die
Aufgabe des Wirtschaftsministers. Man muss sich aber
ohnehin fragen, wofür Herr Glos eigentlich zuständig ist.
Wenn ich Energie höre, sehe ich Herrn Gabriel. Wenn
ich Konjunkturprognose höre, sehe ich Herrn
Steinbrück. Wenn ich Ministererlaubnis höre, sehe ich
die Herren Koch und Stoiber. Aus dem ERP-Sondervermögen sollen offenbar 2 Milliarden Euro zum Stopfen
von Haushaltslöchern herausgebrochen werden. Das
steht übrigens im Gegensatz zum Koalitionsvertrag und
auch zum Jahreswirtschaftsbericht. Herr Glos, vielleicht
nehmen Sie im Laufe der Debatte die Gelegenheit wahr,
richtig zu stellen, dass die Mittel für den Mittelstand
nicht zum Stopfen von Haushaltslöchern missbraucht
werden dürfen.
({1})
Die Union hat jedenfalls, als sie noch in der Opposition war, den Ausverkauf der Marshallplanmittel vehement kritisiert. Meine Bitte: Fallen Sie hier nicht um!
Lassen Sie die Sozialdemokratisierung der Union nicht
so weit gehen, dass Sie alle Ihre Vorstellungen, die Sie
vor der Wahl geäußert haben, wieder einsammeln.
({2})
Wo sich der Wirtschaftsminister selber äußert, geht es
hott und hü. Vor dem Jahreswechsel fordert er noch höhere Löhne, damit die Konjunktur in Gang kommt.
({3})
Nach dem Jahreswechsel fordert er Lohnzurückhaltung. Er fordert nun - das ist die neueste Variante - differenzierte Lösungen. Im Klartext heißt das betriebliche
Bündnisse für Arbeit. Aber er hat nicht den Mut, die
Konsequenzen zu ziehen, nämlich den Mitarbeitern im
Betrieb tatsächlich zu ermöglichen, mit 75 Prozent
Mehrheit eigenständig Regelungen zu treffen, und zwar
jenseits des Diktats der beiden Kartellbrüder Gewerkschaften und Arbeitgeber. Das wäre die Konsequenz einer differenzierten Lösung.
({4})
Eigentlich ist der Bundeswirtschaftsminister das ordnungspolitische Gewissen einer Regierung. Es wäre geradezu seine Pflicht, solche Öffnungsklauseln zu fordern. Ich schätze Herrn Glos persönlich als fähigen
Politiker. Aber ich muss zitieren, was zum Beispiel „Bild
am Sonntag“, eine der Regierung durchaus nicht feindlich gesonnene Zeitung, über ihn wörtlich schreibt:
Glos blamiert sich nicht nur als Fachminister, sondern lässt erste Zweifel an der Qualität und Kompetenz der neuen Bundesregierung aufkommen.
({5})
Der Minister versucht, uns den Heimaturlaub schmackhaft zu machen, um die Wirtschaft anzukurbeln. Wenn
man aber nicht über den deutschen Tellerrand hinausblickt, dann hat man es schwer, Konzepte für eine Reform des Welthandels oder für die WTO-Verhandlungsposition zu erarbeiten.
Auch das Ministerium ist noch immer nicht richtig
geordnet. Die Diskussion über Luft- und Raumfahrtkoordination offenbart, dass hier vieles noch nicht klar ist.
Ein ordnungspolitisches Gewissen ist jedenfalls in keiner Weise erkennbar.
({6})
Wenn man die Vorgaben der Bundeskanzlerin ernst
genommen hätte, dann hätte der Jahreswirtschaftsbericht
geradezu ein ökonomisches Freiheitsprogramm sein
müssen. In ihm hätten die Fundamente für mehr Wachstum und mehr Arbeitsplätze gelegt werden müssen. Der
Jahreswirtschaftsbericht ist das Schicksalsbuch der deutschen Wirtschaftspolitik. Doch statt das Schicksal der
deutschen Wirtschaft zum Besseren zu wenden, wird in
dem Bericht noch einmal der Inhalt des Koalitionsvertrages aufgelistet: reformieren, investieren, Zukunft gestalten. Das alles hört sich zwar ganz gut an.
({7})
Aber die Realität von Schwarz-Rot ist bisher: kaschieren, blockieren und Angst verwalten.
({8})
Wer mehr als die Überschriften des Jahreswirtschaftsberichts liest, merkt, dass viel zu wenig Substanz und
Freiheit drin sind. Es ist richtig, was Herr Glos sagt: Wir
brauchen ein starkes Wachstum, um den Haushalt zu sanieren und in Ordnung zu bringen, und müssen dabei
über die Ausgabeseite gehen. Aber diese wichtige Erkenntnis wird nicht umgesetzt. Die erste Maßnahme der
Regierung ist, die Ausgaben mit einem Minikonjunkturprogramm zu erhöhen. So werden die Ausgaben nicht
gesenkt und so wird der Haushalt nicht in Ordnung gebracht. Das Dutzend zusätzlicher Staatssekretäre hätten
Sie sich sparen können. Sie stören nur in der Verwaltung
und kosten Geld. Das ist kein Beitrag zum Sparen.
({9})
Statt das Wachstum durch weniger Bürokratie und
niedrigere Steuersätze zu entfesseln, wird die Mehrwertsteuer deutlich angehoben und der Spitzensteuersatz erhöht. Das ist das Gegenteil von mehr Freiheit wagen. Bei
Ihnen geht es nach dem Motto „Gib mir meine Mehrwertsteuer, ich gebe dir deine Reichensteuer“.
({10})
Aber mehr Steuern bedeuten weniger Freiheit, weil man
in geringerem Umfang über die Verwendung dessen,
was man sich selbst erarbeitet hat, entscheiden kann. Es
wird also in stärkerem Maße vorgeschrieben, wofür das
selbst Erarbeitete verwendet werden soll. Das ist das Gegenteil von mehr Freiheit. Das zieht sich wie ein roter
Faden durch Ihre Politik. Sie reden nur von Freiheit. Tatsächlich sorgen Sie aber nicht für mehr Freiheit, sondern
reduzieren die Freiheit. Das ist die falsche Politik.
({11})
Zum Ausgleich gibt es ein bisschen für Handwerker,
ein bisschen für Investitionen, ein bisschen für Familien,
ein bisschen für den Mittelstand. Übrigens hat der Haushaltsausschuss Ihr Gebäudesanierungsprogramm angehalten, weil die Finanzierung nicht nachvollziehbar ist.
Auch da ist das Motto ganz einfach: Erst nimmt man
dem Bauern das Schwein weg, dann bekommt er drei
Kotelett und soll sich auch noch artig bedanken. Das ist
keine Strategie für eine erfolgreiche Politik.
({12})
Familienförderung ist sicherlich ein wichtiges
Thema. Nur, die große Koalition zelebriert als Medienbeschäftigungstherapie geradezu täglich ihre Differenzen in der Familienpolitik. Sie machen so eine Art
Schönheitswettbewerb: Spieglein, Spieglein an der
Wand, wer ist die Sozialste im Land? Sie sollten sich lieber mit den Kernproblemen beschäftigen. Das Beste für
Familien ist, wenn ihre Mitglieder einen Arbeitsplatz haben und Geld verdienen, statt irgendwelche Wohltaten
von dieser Regierung zu erhalten.
({13})
Als wir gefordert haben, den Privathaushalt als
Arbeitgeber anzuerkennen, wurden wir beschimpft:
Typisch FDP, Dienstmädchenprivileg. Jetzt, mit
20 Jahren Verspätung, sagen Sie, Sie hätten eine Wunderwaffe entdeckt, den Haushalt als Arbeitgeber. Das
hätten Sie schon längst machen können. Es könnten
schon Hunderttausende in Arbeit sein, wenn Sie unseren
Vorschlägen früher gefolgt wären.
({14})
Das Minikonjunkturprogramm nennen Sie stolz Subvention für den Aufschwung. Das ist in sich schon Unsinn. Subventionen in einen Aufschwung hinein zu gewähren, hat sich noch nie als erfolgreich erwiesen. Sie
unterschlagen völlig, dass Sie in diesem Jahr ein
Zwangsdarlehen bei den Unternehmen, insbesondere
beim Mittelstand, aufnehmen. Die Sozialversicherungsbeiträge müssen nämlich in diesem Jahr einen Monat
früher entrichtet werden, also dreizehnmal statt zwölfmal. Damit nehmen Sie der deutschen Wirtschaft Liquidität in Höhe von 20 Milliarden Euro. Das können Sie
doch nicht mit 5 Milliarden Euro, die Sie für Wärmedämmung und Elterngeld ausgeben wollen, ausgleichen.
Der Beitrag ist viermal so hoch wie der, den Sie unsinnigerweise als Konjunkturprogramm verkaufen.
({15})
Herr Kollege Brüderle, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Dehm?
Bitte sehr.
Herr Kollege, habe ich Sie richtig verstanden, dass
nach Ihrer Definition die Deutsche Bank, Allianz, BMW
und Daimler-Chrysler überwiegend sehr frei sein müssen, weil sie in den letzten eineinhalb Jahrzehnten
summa summarum so gut wie keinen Cent Körperschaftsteuer bezahlt haben, während die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unfrei sind, weil sie überwiegend mit ihren Lohnsteuern diesen Staat finanzieren?
Sie haben das natürlich nicht richtig verstanden. Ich
will generell die Freiräume für Entscheidungen vergrößern. Ihr klassenkämpferisches Denken - sie stürzen
sich reflexartig auf Großkonzerne, die Sie früher in Ihrem alten System als Großkombinate gefördert haben ist die falsche Denkweise.
({0})
Sie sollten sich irgendwann einmal von der Vergangenheit lösen. Es ist ja schön, dass Sie sich zu Ihrem altsozialistischen Erbe bekennen, aber Sie müssen doch nicht
in jeder Sitzung deutlich machen, dass Sie von Wirtschaft nichts verstehen.
({1})
Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage, Herr Kollege?
Bitte.
Auch wenn Sie meinen, dass jemand, der wie ich drei
Jahrzehnte relativ erfolgreich Unternehmer war und einmal eine große Unternehmensorganisation geleitet hat,
von Wirtschaft nichts versteht, dann stellt sich doch die
Frage, was Sie zu meinem Kernargument sagen. Was hat
es für eine Bedeutung, wenn wir steuerpolitisch die
Deutsche Bank, Allianz, BMW und Daimler-Chrysler
über eineinhalb Jahrzehnte so schonen, dass bei ihnen
keine Großbetriebsprüfung durchgeführt wird und sie
am Ende so gut wie keinen Cent Körperschaftsteuer bezahlen?
Die Realität ist doch längst eine andere. Selbst der
Bundeswirtschaftsminister räumt ein, dass die Belastung
durch die Unternehmensteuer in Deutschland mit effektiv etwa 36 bis 37 Prozent deutlich höher als im europäischen Durchschnitt ist. Wir haben es inzwischen geschafft, dass durch die Steuerbelastung nicht nur große
Vermögen aus dem Land getrieben werden, sondern
auch kleine Vermögen. Selbst der Altbundeskanzler hat
sich entschieden, seine Rubel lieber in der Schweiz entgegenzunehmen als in Deutschland, weil dort mehr übrig bleibt.
Offensichtlich ist die Strategie ein „Investitionsvertreibungsprogramm“. Wenn die Investitionen nicht hier,
sondern woanders getätigt werden, dann entstehen hier
auch keine Arbeitsplätze. Sie müssen einmal rekapitulieren, dass Arbeitsplätze folgendermaßen entstehen:
Irgendjemand nimmt Geld in die Hand, geht in ein Geschäft, kauft etwas und zur Herstellung dessen, was gekauft wird, werden andere Menschen beschäftigt. Mit
roten Fahnen am 1. Mai können Sie die Beschäftigungsmisere in Deutschland nicht beseitigen. Das hat sich
schon früher nicht bewährt und das bewährt sich auch
heute nicht.
({0})
- Natürlich. Ich bin sogar für Meinungsfreiheit. Deshalb
lege ich Wert darauf, dass auch Sie hier noch reden dürfen. Mit einer Mehrheit von 73 Prozent wollen Sie den
politischen Wettbewerb kleinhalten. Treten Sie jetzt dafür ein, dass zumindest der wirtschaftliche Wettbewerb
offen bleibt!
Was Sie tun, ist jedenfalls das Gegenteil von „Freiheit
wagen“. Zur Belebung der Wirtschaft fehlen in diesem
Jahr 20 Milliarden Euro. Jedes Konjunkturprogramm,
das das ausgleichen soll, ist ein echter Witz.
Sie müssten das Steuersystem in Ordnung bringen.
Sie müssten es einfacher machen, damit die Menschen
es noch verstehen. Selbst die Steuerberater klagen, dass
sie mit diesem System nicht mehr umgehen können. Verfassungsrichter sagen, ein derart kompliziertes Steuerrecht sei an der Grenze der Verfassungsgemäßheit.
Die Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen, die
Sozialsysteme in Ordnung zu bringen, all dies haben Sie
im Koalitionsvertrag ausgeklammert. Weder zur Pflege
noch zum Gesundheitswesen noch zur Rente haben Sie
Vereinbarungen getroffen. Das lag nicht daran, dass Sie
keine Zeit gehabt hätten, das auszuhandeln; der Grund
war vielmehr, dass Sie sich über die ganze Themenpalette von Kopfpauschale bis Bürgerversicherung nicht
einig sind. Da kann es doch keine vernünftigen Kompromisse in der Gesundheitspolitik geben.
({1})
Wagen Sie doch endlich mehr Freiheit! Ich höre die
Ankündigung, Bürokratie abzubauen, seit Jahren.
Wolfgang Clement ging jede Woche mit einem neuen
bunten Luftballon durch die Landschaft - Stichwort
„Masterplan Bürokratieabbau“ - und am Schluss kam
ganz wenig dabei heraus. Ich bin sehr gespannt, was
diesmal herauskommt. Der beste Weg wäre, mehr Kompetenzen auf die Länder zu verlagern und den föderalen
Wettbewerb zu fördern - „race to the bottom“ zwecks
Abbau der Bürokratie -, damit es wirklich zu einem Befreiungsschlag bei uns kommt. Die Handschellen, die
wir dem Mittelstand und der Wirtschaft in Deutschland
durch zu viele Regelungen - sie verhindern, dass Arbeitsplätze entstehen - angelegt haben, müssen endlich
abgelegt werden.
Herr Glos, ich finde es ganz gut, dass Sie Änderungen
am Gaststättengesetz vornehmen wollen. Aber die Abschaffung des „Frikadellenabiturs“ allein wird die Lösung der Probleme der deutschen Volkswirtschaft nicht
bringen. Da muss schon ein bisschen mehr kommen.
Bisher ist jedenfalls festzustellen, dass die große
Koalition den Wettbewerb sträflich vernachlässigt. Ihre
Ansätze sind interventionistisch, industriepolitisch. Die
Lex Telekom, die veranlasst, die Telekom bei der Breitbandkabelkommunikation aus dem Wettbewerb herauszunehmen, ist kein Beitrag, mehr Freiheit zu wagen und
den Wettbewerb zu stärken. Im Gegenteil: Es ist geradezu eine Privilegierung.
({2})
Ihnen geht es bei Freiheit offenbar um die Freiheit
vom Wettbewerb statt um die Freiheit zum Wettbewerb.
Wir brauchen mehr Freiheit zum Wettbewerb, damit der
Wettbewerb die Wirtschaft besser steuern kann und damit es zu besseren Ergebnissen kommt.
Wir haben immer noch ein Monopol bei der Briefbeförderung. Dieses Monopol hätten wir schon längst abschaffen können. Auch Ihre Leuchtturmprojekte sind
sehr fragwürdig. Sie legen fest, was zukunftsweisend ist
- das sind die so genannten Leuchtturmprojekte -, statt
mehr Wettbewerb zuzulassen. Nur durch Wettbewerb
und nicht durch Festlegungen von Beamten kommen
wirtschaftliche Erfolge zustande.
({3})
Der europäische Steuerwettbewerb soll verhindert
werden. Die Bundesregierung will, dass die Regionalfördermittel für solche Mitgliedstaaten gestrichen werden,
deren Unternehmensteuerquote angeblich zu niedrig ist.
Das ist ein tolles System: Statt selbst besser zu werden,
werden die, die es besser machen, bestraft und sollen unsere schlechten Regeln übernehmen. So kommen wir
wahrlich nicht voran. Ein weiterer Schritt in die falsche
Richtung wäre, dass durch EU-Beschluss festgelegt
wird, dass die Wirtschaft Chinas, Indiens und anderer
Länder nicht mehr schneller als unsere wachsen darf.
Das wäre nicht „Freiheit wagen“, sondern einfach Unsinn.
({4})
Ihr neuester Vorstoß, EU-Subventionen für Arbeitsplatzverlagerer zu verbieten, ist natürlich ein interessanter Ansatz. Für mich ist das ein Ablenkungsmanöver,
weil gerade die Bundeskanzlerin die Mittel für die osteuropäischen Staaten aufgestockt hat. Diese Staaten haben
nun noch mehr Mittel, um im Wettbewerb zu bestehen.
Dennoch fordern Sie, diese Mittel zu reduzieren. Das
hätte Frau Merkel wunderbar machen können, indem sie
den Osteuropäern keine höheren Mittel für die regionale
Wirtschaftsförderung faktisch zugestanden hätte.
Europäische Dienstleistungsrichtlinie: Hierbei wird
das Herkunftslandprinzip fundamental infrage gestellt.
Wir sind ein Hochlohnland, Hochsteuerland und Hochbürokratieland. Deshalb müssen wir dort ansetzen, dies
reduzieren und mehr Freiheit wagen, um bessere Ergebnisse zu erzielen.
Das Institut der deutschen Wirtschaft hat vorgerechnet, dass wir durch einen umfassenden Bürokratieabbau 30 Milliarden Euro mehr erwirtschaften, 600 000
neue Arbeitsplätze schaffen und 1,5 Prozent mehr
Wachstum erreichen könnten. Machen Sie es doch! Niemand hat Sie gehindert. Ihr leidenschaftlicher Juniorpartner SPD hat dies in den sieben Jahren, in denen er
mit den Grünen regiert hat, nicht getan, sondern, im Gegenteil, die Bürokratie noch weiter verstärkt. Was von
der Klausurtagung in Genshagen nach außen gedrungen
ist, ist auch kein Beitrag zu dem Ziel, mehr Freiheit zu
wagen.
({5})
Wenn man die Verteilung über die Erwirtschaftung setzt,
kommt man natürlich nicht voran.
Das Kernproblem der deutschen Volkswirtschaft ist,
dass unser Wachstumspfad, die Entwicklung des Produktionspotenzials, zu schwach ist. Bei diesem Wachstumspfad - der Sachverständigenrat hat maximal
1,2 Prozent attestiert - können wir keine echte Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt erreichen. Die Bundesbank
sagt, dass wir mindestens 2 Prozent reales Wachstum
brauchen, um auf dem Arbeitsmarkt echte Veränderungseffekte zu erreichen; andere Institute sprechen von
1,8 Prozent. Aber all Ihre Prognosen - für 2007 ist Ihre
persönliche Prognose 1 Prozent, wie Sie bei Ihrer Pressekonferenz gestern dargelegt haben - liegen deutlich
unter dem, was wir bräuchten, damit wir die Wende auf
dem Arbeitsmarkt schaffen.
Ihre Strategie - wir machen in diesem Jahr nichts,
weil sieben Wahlen anstehen; wir lassen weiter ein Defizit durchlaufen; wir machen ein bisschen Konjunkturprogramm, was eine veraltete Strategie aus den 60erund 70er-Jahren ist und nicht wirken kann; das Abkassieren beginnt erst 2007, nach den sieben Wahlen; da
wird der Aufschwung hoffentlich so stark sein, dass er
über diese Hürde hinweg trägt - ist eine sehr gewagte
spielerische Strategie. Besser wäre es, das gleich richtig
zu machen, den Menschen die Wahrheit zu sagen, die
Dinge in Ordnung zu bringen, die Reformen umzusetzen, die Belastung zu reduzieren und die elementaren
Kenntnisse der Volkswirtschaft umzusetzen. Sie geben
sich stattdessen einem Wunschdenken hin: Plötzlich ist
alles schön. Die beiden Partner in der Koalition sind in
den Flitterwochen und haben sich so lieb, dass gar keine
Diskussion mehr aufkommen soll. Gesundbeten wird
aber nicht helfen.
Der Export läuft gut - Gott sei Dank -, aber die gleichen guten Produkte, die wir im Ausland gut verkaufen
können, finden im Binnenmarkt keinen Absatz, weil
kein Vertrauen da ist und weil keine Berechenbarkeit gegeben ist. Ein Steuererhöhungsprogramm, das den Menschen ab 2007 für den Rest der Legislaturperiode
120 Milliarden Euro abnimmt, ist wahrlich kein Konzept, das einen dauerhaften Aufschwung bewerkstelligen kann. Schauen Sie sich in Großbritannien, Schweden und den Niederlanden einmal an, weshalb dort die
Arbeitslosigkeit weniger als halb so hoch wie in
Deutschland ist! Das ist deshalb so, weil diese Staaten
eine andere Strategie eingeleitet haben, weil sie den
Staat ein Stück zurückgenommen haben, weil sie den
Menschen ihr Geld schneller zurückgegeben haben, weil
sie stärker dereguliert haben und weil sie ihre sozialen
Sicherungssysteme in Ordnung gebracht haben. Das sind
die Ansätze, die auch für Deutschland richtig wären.
Was wir tun müssten, wissen wir. Das sagt die Bundesbank. Das steht im Gutachten des Sachverständigenrats. Das sagen uns der Internationale Währungsfonds
und die OECD. Nur, es wird nicht umgesetzt.
Was hier halbherzig betrieben wird, wird nicht die
Lösung der Probleme bringen. Es ist kein Jahreswirtschaftsbericht, der einen überzeugenden Weg aus der
deutschen Situation aufzeigt. Er enthält ein bisschen
Wunschdenken, nennt ein bisschen hier und ein bisschen
da. Die Trippelschritte sind nicht der richtige Ansatz, um
die Probleme zu lösen. Hier gilt die alte Regel: Wenn
man wirtschaftlich etwas erreichen will, muss man klotzen und darf nicht nur kleckern. Mit Kleckern und Trippelschrittchen kann man sich ein bisschen bewegen,
wenn es kalt ist, aber man erreicht nicht die Geschwindigkeit, die notwendig ist, um zum Ziel zu kommen und
die Probleme zu lösen.
Vielen Dank.
({6})
Kollege Stiegler ist der nächste Redner für die SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Brüderle ist wirklich ein armer Tropf. Er ist eigentlich ein grundkonstruktiver Mensch. Mir tut herzlich
Leid, dass er hier für die FDP, die als einzige der früheren Oppositionsfraktionen in dieser Rolle verblieben ist,
weiter Trübsal blasen muss. Früher war das ein Orchester. Jetzt gibt es nur noch eine einsame Posaune, aber der
Resonanzboden reicht nicht, um die Stimmung in der
deutschen Wirtschaft wirklich zu beeinflussen. Herr
Brüderle, reden Sie doch so, wie Sie wirklich sind, und
lassen Sie uns gemeinsam etwas für den Aufschwung
tun!
({0})
Ihnen kann doch nicht entgangen sein, dass der IfoKonjunkturindex die 100 wieder überschritten hat. Das
heißt, die Stimmung in der Wirtschaft zeigt etwas anderes, als Sie dargestellt haben. Sie hocken wie der Frosch
bei schlechtem Wetter ganz unten, während diejenigen,
die in der Wirtschaft die Verantwortung tragen, längst
nach oben geklettert sind und sich freuen, dass die Sonne
wieder scheint. Sie sind noch wie zugefroren, während
die anderen wie die Veilchen aus der Erde kommen.
({1})
Der Ifo-Konjunkturindex - Sie wissen es doch selber,
Herr Westerwelle - zeigt die Geschäftserwartungen und
die Geschäftswirklichkeit und widerlegt damit den liberalen Pessimismus. Eigentlich müssten die Liberalen optimistisch sein, statt zu weinen und zu klagen.
({2})
Schauen Sie sich an, was die Institute sagen. Wir sind
zurzeit eher unteroptimistisch, was die amtlichen Daten
betrifft.
({3})
Auch das ist eine Methode, sich positiv überraschen zu
lassen. Machen Sie mit! Heute Morgen stellt der Sparkassen- und Giroverband seine Mittelstandsdiagnose
vor. Alle Experten sagen, dass selbst der Mittelstand, der
ja besondere Probleme hat, wieder investiert und wieder
mehr Mut hat. Ausgerechnet in Rheinland-Pfalz, wo Sie
in Einigkeit mit uns Sozialdemokraten regieren, sind die
Handwerker mit am optimistischsten.
({4})
Also, Herr Brüderle, nehmen Sie von dem Optimismus
Ihrer Handwerker in Rheinland-Pfalz etwas mit ins Plenum, dann geht es uns allen besser!
({5})
Meine Damen und Herren, der sieben Jahre dauernde
Kampf zwischen den beiden Lagern hat letztlich darin
geendet, dass die Leute depressiv wurden, weil niemand
mehr wusste, wie es vorangeht. Die Taktik des Schlechtmachens des anderen, damit man selber gut dasteht, hat
niemandem geholfen. Es ist einer der Vorteile der großen
Koalition, dass keiner mehr den anderen anschwärzen
kann, weil er sich gleichzeitig selbst anschwärzen
würde. Wir sind zum gemeinsamen Erfolg verurteilt und
wir wollen ihn gemeinsam haben.
({6})
Unsere Aufgabe in diesem Jahr ist es, den Aufschwung zu stärken, um die internen wie die externen
Belastungen zu überstehen und voranzukommen. Natürlich wissen wir, dass die Mehrwertsteuererhöhung ein
Eisbatzen im Gefäß ist; aber wir müssen die Konjunktur
so anheizen, dass die Wirtschaft das verträgt. Die deutsche Volkswirtschaft hat 2005 mit den Öl- und Energiepreissteigerungen eine vergleichbare Belastung weggesteckt und ist trotzdem gewachsen. Damals kam diese
Belastung von extern. Da haben die Scheichs und andere
das Geld kassiert; aber wir haben das weggesteckt und
Sie haben es auch nicht beklagt. In dem Moment jedoch,
wo wir zur Haushaltskonsolidierung beitragen wollen,
fangen Sie an zu jammern. Wenn wir aber den Haushalt
nicht konsolidieren würden, würden Sie hier den Weltuntergang verkünden. Das ist ja fast wie zwischen Scylla
und Charybdis, wenn man es Ihnen Recht machen will:
Wenn man das eine vermeidet, fällt man dem anderen
zum Opfer. Herr Brüderle, lassen Sie uns gemeinsam in
der Mitte bleiben, dann kommen wir auch voran!
Wir haben die Genshagener Impulse. Das Handwerk
wirbt mit dem Programm der großen Koalition bei seiner
Kundschaft. Wo hat es das je gegeben? Das Handwerk
setzt Vertrauen in uns. Mit dem CO2-Gebäudesanierungsprogramm starten wir, Herr Brüderle, am 1. Februar. Unsere klugen Haushälter haben einen Bypass gefunden, wodurch die Behinderung, die in den letzten
Wochen aufgetreten ist, symbolisch bleibt, aber keine
Wirkung entfaltet. Auch das gehört zur Regierungskunst.
({7})
Sie sollten uns darum eher beneiden, als herumzukritteln.
Die Abschreibungsverbesserung verursacht gerade im
Aufschwung einen zusätzlichen Schwung für die Investitionstätigkeit. Im Gegenzug zur Mehrwertsteuererhöhung haben wir gerade für die kleinen und mittleren Unternehmen eine ganze Menge zusätzlicher Liquidität
bereitgestellt. Die von Ihnen angesprochene zusätzliche
Beitragszahlung wird über Monate so verteilt, dass sie
von den Unternehmen verkraftet werden kann.
Die Wirkungen der Multiplikatoren unserer Maßnahmen - wir stehen zu diesen Maßnahmen - werden die
Schwierigkeiten durchaus ausgleichen. Ich hoffe sogar,
dass sie sie übertreffen werden. Sie werden im Laufe des
Jahres Mühe haben, auf den Erfolgszug aufzuspringen.
Aber wir werden Ihnen die Hand reichen, damit Sie
nicht unter die Räder geraten.
({8})
- Gucken Sie sich das ruhig an! Ich muss ja Herrn
Brüderle sozusagen pflegen; denn er regiert mit uns in
Rheinland-Pfalz. Für mich ist es also eine besonders
schwierige Situation.
({9})
Ich möchte diese Freundschaft erhalten.
({10})
- Es ist mein Schicksal, dass ich immer nach ihm reden
und daher diese depressiven Einschübe überwinden und
zum Optimismuspfad zurückkehren muss.
({11})
Das werden wir miteinander schon hinbekommen.
Im Mittelpunkt stehen die kleinen und mittleren Unternehmen. Die „Diagnose Mittelstand“ des Deutschen
Sparkassen- und Giroverbands zeigt: Es ist besser geworden; wir sind aber hinsichtlich der Eigenkapitalausstattung und anderer Dinge noch längst nicht dort, wohin
wir wollen. Wir müssen uns gemeinsam um die Finanzierungsfragen kümmern und die Eigenkapitallücke mit
den mezzaninen Instrumenten überwinden helfen. Wir
werden mit der KfW reden, dass die Mittelstandsförderprogramme an das neue Ratingsystem, an Basel II, entsprechend angepasst werden.
Wir werden uns gemeinsam auch um die Möglichkeiten der Beteiligung an kleinen und mittleren Unternehmen kümmern. Das gilt für die Arbeitnehmerbeteiligung genauso wie für die Beteiligung von Menschen an
der Finanzierung der kleinen und mittleren Unternehmen
in ihrer Region. Es ist doch verrückt, dass wir in Forschung und Entwicklung viel Geld investieren, aber
wenn es um Seed Capital und um Wachstumskapital
geht, dann brauchen wir die Private Equity, also die amerikanischen Rentner. Dieses Land kann das für seine
Volkswirtschaft selbst organisieren. Das müssen wir miteinander anpacken.
({12})
Wir werden daher gemeinsam das Unternehmensbeteiligungsgesetz verbessern.
Die Risiken 2006 sind Rohstoffpreise und Energiekosten. Das ist eine schwere Hypothek. Die Nachfrage
nach Rohstoffen nimmt zu. Wir haben in den letzten Jahren erlebt, was hohe Rohstoffpreise bedeuten. In Bezug
auf die Energiekosten und Sicherheit bei der Energieversorgung gibt es Fragen. Unsere Antwort ist Effizienzsteigerung durch Technik und, Herr Brüderle, auch durch
Wettbewerb. Wir werden bei der Energieversorgung die
Anreizregulierung mithilfe des Ministeriums und der
Regulierungsbehörde durchsetzen. Ihr Beitrag ist dabei
durchaus erwünscht. Aber daneben geht es, wie gesagt,
auch um die Technik.
Das Unwort des Jahres heißt Entlassungsproduktivität. Wir setzen den Managern entgegen: Der Fortschritt
wird nicht durch Entlassungsproduktivität hervorgebracht, sondern durch eine kostenentlastende Effizienz
und durch kostenentlastende Rohstoffproduktivität. Für
ihre hohen Einkommen sollen die Manager ihr Gehirnschmalz auf die Weiterentwicklung in diesen Bereichen
einsetzen. Das ist unsere gemeinsame Forderung.
({13})
Ich stimme Sigmar Gabriel und Michael Müller ausdrücklich zu, dass die Energie- und Rohstoffintelligenz
die Zukunftsfragen sind, vor denen wir stehen. Deshalb
müssen wir die neuen Potenziale der erneuerbaren Energien erkennen und beherzt nutzen. Vor dem Hintergrund
der aktuellen Preisentwicklung tun sich völlig neue Horizonte auf. Wir müssen die Übergangsenergien bis hin
zu den Null-Emission-Kraftwerken voranbringen. Die
große Koalition wird deshalb schwerpunktmäßig die
Forschung und Entwicklung stärken sowie Bildung,
Ausbildung und Weiterbildung vorantreiben. Herr
Brüderle, das ist der Pfad, auf dem Sie uns begleiten
sollten. Sagen Sie Ja!
({14})
- Er verhält sich sehr sperrig.
2006 bietet also gute Aussichten auf mehr Wachstum
und Beschäftigung, beispielsweise auch im Bereich des
Tourismus. Wir wollen die Fußballweltmeisterschaft
nutzen und dabei wollen wir uns nicht von einer schlechten Seite zeigen. Wir wollen weder Militär vor den Stadien sehen
({15})
noch wollen wir, dass die Gastwirte ihre Monopolstellung nutzen und zu hohe Preise verlangen. Wir müssen
uns nachhaltig auf den Incoming-Tourismus ausrichten,
damit sich Deutschland dauerhaft als Zielland für Reisen
etabliert. Dafür müssen wir die Weltmeisterschaft nutzen. Das ist ein ganz wichtiger Faktor.
({16})
Der Tourismus schafft Arbeitsplätze in der Fläche, in
den strukturschwachen Regionen.
Wir wollen auch das nutzen, was der Arbeitsminister
jetzt angestoßen hat: ein Kurzarbeitergeld in schwierigen
Tourismusstandorten, die nur eine kurze Saison und in
diesem Bereich noch Schwierigkeiten haben. Auch diese
Beschäftigungsprobleme wollen wir angehen.
({17})
Wir wollen gemeinsam den Standort fördern. Es ist
Musik in meinen Ohren, wenn Michael Glos, der noch
vor einem Jahr in seinen Reden den Weltuntergang gepredigt hat,
({18})
jetzt ganz anders spricht. Insofern setzt Herr Brüderle
das fort, was früher
({19})
die beiden Wunschpartner für eine Alternativkoalition,
die nicht gewählt worden ist, gemeinsam verkündet haben. Dies ist jetzt nur noch eine zarte Stimme und klingt
nicht mehr nach einem Kontrabass.
Wir haben jetzt den Standortvorteil „große Koalition“. Wir können das gemeinsame Projekt „Fuchs und
Rappe vor dem Staatswagen“ durchführen. Sie werden
uns nicht dazu bringen, dass wir uns gegenseitig verbeißen. Wir werden vielmehr klar vorausgehen.
Entscheidend ist aber, dass wir die bei den Menschen
bestehende Angst vor Veränderungen überwinden, dass
wir Zukunftsangst in Zukunftsvertrauen umwandeln
und dass wir den Menschen den Glauben an die Handlungsfähigkeit zurückgeben. Dazu gehört ein verlässlicher Sozialstaat und nicht Ihre Vorstellung von Freiheit,
Herr Brüderle - die der Vogelfreiheit nahe kommt -,
sondern Freiheit für alle durch soziale Sicherheit und das
Vertrauen, dass man in schwierigen Umständen Geborgenheit findet.
({20})
Darum werden wir zusammen mit unseren schwarzen
Brüdern und Schwestern
({21})
die europäische Dienstleistungsrichtlinie so gestalten
- wir werden uns gemeinsam anstrengen -, dass der Sozialstaat nicht gefährdet wird.
Zum Zukunftsvertrauen gehört, dass wir die Menschen an Bildung teilhaben lassen, dass wir Bildung als
Zukunftsvorbereitung verstehen, dass auch diejenigen,
die aus prekären Verhältnissen kommen, die Chance haben, in den Zug einzusteigen, und dass wir keine Talente
zurücklassen. Das ist ein Stück Geborgenheit. Zukunftsvertrauen besteht zum Beispiel für den Mittelstand darin,
Zugang zu Finanzierungselementen zu haben, die bisher
nicht zur Verfügung standen.
Herr Brüderle, die Liberalen vergessen gelegentlich:
Auch der Sozialstaat ist eine Produktivkraft. Sie sehen
etwa an dem verrückten Verhalten von Electrolux in
Nürnberg, welche Krisen daraus erwachsen. Sie haben
bei Conti in Hannover gesehen, in welche Krisen man
Unternehmen führt, weil die Manager mit Entlassungsproduktivität arbeiten. Sie sollten neue Produkte, neue
Verfahren, neue Effizienzen suchen und die Menschen
mitnehmen. Das wäre die richtige Antwort.
({22})
Zu einem guten Sozialstaat gehört auch, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mitgenommen werden. Wir wissen, dass die Tätigkeit der Unternehmer diesen mehr Vermögen und mehr Einkommen gebracht hat
als die Tätigkeit der Arbeitnehmer den Arbeitnehmern.
Deshalb muss die differenzierte Tarifrunde dazu beitragen, dass die Arbeiternehmerinnen und Arbeitnehmer einen fairen Anteil am wirtschaftlichen Erfolg bekommen.
Wir haben also einerseits die Aufgabe, Marktdynamik
zu entfalten, und andererseits die Aufgabe, das Gemeinwohl zu sichern. Markt und Gemeinwohl müssen im
Gleichgewicht bleiben. Das ist das, was Ludwig Erhard
mit Wohlstand für alle gemeint hat.
({23})
Das ist unser Auftrag.
Steigen Sie also ein! Machen Sie mit! Mit Trübsalblasen kommt man zu keinem Fortschritt. Lasst uns dieses
Jahr mit Zukunftsvertrauen angehen! Wir fangen zu Beginn des Jahres mit Anstößen an und bezahlen, wie in
der Vergangenheit oft geschehen, nicht mehr am Ende
des Jahres den Verlust, der durch mangelnde Aktivität
zustande kommt. Wir fangen gleich richtig an.
Glückauf!
({24})
Ich erteile dem Kollegen Oskar Lafontaine für die
Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin heute in der außergewöhnlichen Situation,
meinen Beitrag zum Jahreswirtschaftsbericht mit einem
ausdrücklichen Lob der Bundesregierung beginnen zu
können. Dieses Lob spreche ich deshalb aus, weil selten
eine Regierung in so eindrucksvoller Klarheit die
Früchte ihrer Arbeit im Jahreswirtschaftsbericht dargestellt und prognostiziert hat wie diese Regierung. Ich bin
sicher, dass auch die Abgeordneten der Koalition interessiert sind, zu hören, was die Bundesregierung von
diesem Jahr erwartet. Ich weiß aus eigener Erfahrung,
dass man nicht immer dazu kommt, alle Unterlagen bis
zum Ende zu lesen, und trage daher jetzt die wichtigsten
Sätze vor.
Die Regierung sagt auf Seite 96:
Die Summe der Nettolöhne und -gehälter stagniert
in diesem Jahr erneut.
Dort heißt es weiter:
Die Selbständigen- und Vermögenseinkommen
dürften … in diesem Jahr kräftig zunehmen …
Die Regierung geht von 7,25 Prozent aus. Ich möchte
das noch einmal verdeutlichen: Die Arbeitnehmer erhalten nichts und die Vermögenden und diejenigen, die über
Gewinneinkommen verfügen, erhalten wie im vergangenen Jahr einen Zuwachs in Höhe von 7,25 Prozent. Das
stellt die Regierung als Ergebnis ihrer Wirtschaftspolitik
richtigerweise fest.
({0})
Im Bericht heißt es weiter,
dass sich die monetären Sozialleistungen des Staates insgesamt leicht vermindern
werden. Das heißt, der Staat wird weniger soziale Leistungen erbringen.
Am Schluss dieser eindrucksvollen Zukunftsbilanz
heißt es:
Ferner werden angesichts einer stagnierenden
Lohnentwicklung im vergangenen Jahr die Renten
erneut nicht steigen.
Das alles ist richtig, aber ich habe selten ein Resümee
gelesen, in dem in solch beeindruckender Klarheit von
einer Regierung festgestellt wird, dass weiter von unten
nach oben umverteilt wird und dass diese Regierung
dazu steht. Ich möchte in aller Deutlichkeit sagen: Wir
halten das für eine katastrophale Bilanz.
({1})
Ich habe hier bereits darauf hingewiesen - und muss
mich wundern, dass es nicht aufgegriffen wurde -, dass
sich eine Schlüsselgröße der Volkswirtschaft, nämlich die
Löhne, in Deutschland beängstigend entwickelt. Wir haben im letzten Jahr zum ersten Mal nach dem Krieg sinkende Bruttolöhne verzeichnet. Ich wiederhole das, weil
auch in der Berichterstattung immer wieder von sinkenden Netto- oder Reallöhnen die Rede war. Wir hatten erstmals sinkende Bruttolöhne! Es war nicht nur so, dass die
Gewinn- und Vermögenseinkommen deutlich gestiegen
sind, sondern gleichzeitig hat man den Arbeitnehmern,
wie die Wirtschaftsabteilungen der Gewerkschaften ausgerechnet haben, brutto 6 Milliarden Euro genommen.
Ich kenne keinen vergleichbaren Industriestaat, der
eine solche Entwicklung verzeichnet. Trotzdem hat ein
Redner in diesem Hause gesagt: Die Sonne scheint. Ich
will mich mit ihm gar nicht persönlich auseinander setzen, darf aber für die große Mehrheit der Bevölkerung
feststellen, dass die Sonne nicht scheinen wird, weil die
Renten trotz steigender Preise nicht steigen werden und
weil die Bruttolöhne trotz steigender Preise sinken oder
stagnieren werden. Das heißt, die große Mehrheit des
Volkes wird in diesem Jahr weiterhin Verluste hinnehmen müssen. Das ist eine beängstigende Bilanz, zu der
man doch Stellung nehmen müsste!
({2})
In dieser Situation ist das Hauptanliegen der Regierungsparteien und auch konkurrierender Parteien, die
Lohnzusatzkosten zu senken. Die hohen Lohnzusatzkosten seien das wichtigste Problem unserer Volkswirtschaft. Aus Unternehmersicht sind Lohnzusatzkosten
Löhne. Angesichts der Tatsache, dass die Bruttolöhne
sinken, ist es ganz merkwürdig, wenn man davon
spricht, dass das Hauptanliegen unserer Volkswirtschaft
darin bestehe, die Lohnzusatzkosten zu senken; das sei
vor allem wichtig, weil wir sonst international nicht
mehr wettbewerbsfähig seien.
Welch ein gigantischer Schwachsinn - ich muss das
hier so deutlich sagen - wird täglich abgesondert, wenn
davon gesprochen wird, dass wir international nicht
mehr wettbewerbsfähig seien!
({3})
Wir sind die wettbewerbsfähigste Industrienation der
Welt! Kein anderes Land exportiert so viele Waren wie
die Bundesrepublik Deutschland. Weder die Chinesen
noch die Inder, noch die Japaner oder die US-Amerikaner exportieren so viel wie wir; dennoch heißt es immer
wieder, wir seien international nicht wettbewerbsfähig.
Wenn die Realität nach wie vor so geleugnet wird, wie
es zurzeit geschieht, wird es niemals möglich sein, in
Deutschland zu Wachstum und Beschäftigung zu kommen.
({4})
Nun hat der Bundeswirtschaftsminister gesagt, wir
stünden bei der Steuerquote doch nicht schlecht da. Es
wurde insoweit eine gewisse Korrektur all der Beiträge
vorgenommen, die in den letzten Monaten geleistet worden sind, als immer wieder darauf hingewiesen worden
ist, dass die Steuerquote bei uns vielleicht nicht ganz so
hoch, die Abgabenquote aber beträchtlich sei.
Insofern ist es verdienstvoll, dass für all diejenigen,
die sich falsch geäußert haben - ich will niemanden persönlich ansprechen -, im Jahreswirtschaftsbericht wieder einmal die Steuer- und Abgabenquote nach der
OECD-Statistik für Deutschland im internationalen Vergleich dargestellt worden ist. Jeder, der willens ist, nachzulesen, kann auf Seite 23 nachlesen, dass wir bei der
Steuerquote Großbritannien um circa 9 Punkte nach unten übertreffen. Bei der Abgabenquote liegt Deutschland
bei 34,6 Prozent und Großbritannien bei 40,6 Prozent.
Das sind - bezogen auf unser Bruttosozialprodukt - weit
über 160 Milliarden Euro, die den öffentlichen Haushalten in Großbritannien zusätzlich zur Verfügung stehen,
und Großbritannien hat keine Einheit zu finanzieren.
Ist denn immer noch nicht klar, dass es mit einer solchen Steuer- und Abgabenpolitik unmöglich ist, einen
modernen Industriestaat zu verwalten?
({5})
Kein Industriestaat der Welt leistet sich eine solch katastrophale Fehlentwicklung.
Ich wiederhole für das geschätzte Plenum die Durchschnittszahlen: Während der europäische Durchschnitt
bei der Steuerquote bei 28,9 Prozent liegt, liegt er bei
uns bei 20,4 Prozent. Während der europäische Durchschnitt bei der Abgabenquote bei 40,5 Prozent liegt, liegt
er bei uns bei 34,6 Prozent. In einer solchen Situation
muss man natürlich dazu kommen, dass man die sozialen Leistungen kürzt. In einer solchen Situation muss
man natürlich dazu kommen, dass man für die Rentner
nichts mehr übrig hat. Aber ein solcher Weg kann immer
nur zu demselben Ergebnis führen: Im Export sind wir
stark, weil eine solche Politik den Export nicht gefährdet, sondern eher noch leicht unterstützt. Aber auf dem
Binnenmarkt wird es sein wie immer in den vergangenen Jahren: kein Wachstum und damit auch keine Unterstützung für Beschäftigung, was wir in diesem Lande jedoch dringend bräuchten.
({6})
Weder mit einer Politik der Umverteilung von unten
nach oben, die Sie in eindrucksvoller Weise hier dargelegt haben,
({7})
noch mit einer Steuerpolitik, die angesichts der beabsichtigten Mehrwertsteuererhöhung weiter von unten
nach oben umverteilt, ist irgendeine vernünftige Wirtschaftspolitik zu machen.
Um das auch Herrn Kuhn von den Grünen noch einmal zu sagen: Die Alternative zu einer drastischen
Mehrwertsteuererhöhung ist nun einmal eine Vermögensteuer, für die ich hier nachdrücklich werben
möchte.
({8})
Ich will noch einmal die Zahlen dazu nennen: Das
Geldvermögen der Deutschen beläuft sich auf über
4 000 Milliarden Euro. Von diesen 4 000 Milliarden
Euro - einfach zum Nachrechnen - haben die obersten
Zehntausend 2 000 Milliarden Euro. Hätte irgendjemand
den Mut, nur das Geldvermögen der obersten Zehntausend mit 5 Prozent zu besteuern, käme man in die Nähe
der durchschnittlichen europäischen Abgabenquote und
hätte in den öffentlichen Haushalten 100 Milliarden Euro mehr zur Verfügung.
({9})
Stattdessen kürzen Sie Renten, soziale Leistungen und
drücken auf Löhne.
Ich möchte noch etwas zur Lohnentwicklung in
Deutschland sagen. Sie kommt nicht von ungefähr und
es ist auch nicht so, dass man sich zurücklehnen und sagen kann, dafür seien die Tarifparteien in der Verantwortung. Nein, die große Koalition oder die Allparteienkoalition, die in den letzten Jahren hier gewirkt hat, hat
erheblichen Anteil an diesem Ausnahmezustand, dass
die Bruttolöhne in Deutschland fallen. Wer Freiheit versteht, Herr Kollege Brüderle - das muss ich hier einmal
sagen -, als Freiheit von Tarifverträgen, wer Freiheit
versteht als Freiheit von Kündigungsschutz, wer Freiheit
versteht als Freiheit von sozialer Sicherung - ich denke
dabei an das Streichen der Arbeitslosenhilfe und das
Kürzen des Arbeitslosengeldes -, der setzt die Arbeitnehmer einer Situation aus, in der sie leichter erpressbar
sind, in der sie es nicht wagen, kräftig für ihre Interessen
einzutreten, aus Angst, dann Hartz-IV-Bezieher zu werden. Deshalb sinken die Löhne und deshalb ist diese perverse Arbeitsmarktpolitik endlich zu revidieren.
({10})
Vor dem, was Sie hier selbst bilanziert haben, kann
doch niemand die Augen verschließen. Sie bilanzieren
eine Umverteilung von unten nach oben. Schrecklich!
Früher hätte es von bestimmten Gruppen bei einer solchen Bilanz Aufstände gegeben. Sie sagen hier dann
noch fröhlich: Die Sonne scheint.
({11})
- Es ist so. Leider ist es aber so, dass die Sonne hier im
Reichstag nur auf eine gewisse, ausgewählte Körperschaft scheint. Das ist bekanntlich nicht eine Versammlung von Hartz-IV-Empfängern, Rentnern oder Arbeitnehmern, die im Niedriglohnbereich tätig sind. Das ist
das Problem.
({12})
Ich möchte noch einen Satz - meine Redezeit ist leider gleich zu Ende ({13})
zu Ihrer Bemerkung, Herr Kollege Brüderle, auf die
Zwischenfrage des Kollegen Diether Dehm zur Deutschen Bank sagen. Sie hätten schon etwas dazu sagen
können, warum die Einkommen der Schwächsten systematisch fallen und die großen Betriebe keine Steuern
mehr zahlen. Dazu kann man doch etwas sagen! Sie
meinten dann, auf die Kombinate in der ehemaligen
DDR verweisen zu müssen.
Erlauben Sie mir dazu noch diese Bemerkung: Ich
habe in der Presse gelesen, dass der Vorsitzende des Verwaltungsrates der BaFin - des Gremiums, das die Geschäftspraktiken der Banken kontrollieren soll -, Herr
Staatssekretär Caio Koch-Weser, jetzt zur Deutschen
Bank wechselt. Vielleicht haben Sie das gemeint.
({14})
Ich möchte Ihnen dann aber sagen: Wenn das Kombinatswirtschaft ist, dann sitzt das Politbüro nicht mehr in
der Regierung, sondern in der Deutschen Bank. Das
scheint ein Problem unserer Wirtschaft zu sein.
({15})
Ich fasse zusammen: Bei dieser Art von Wirtschaftsund Finanzpolitik werden Sie im Export kein Unheil anrichten. Insofern können Sie da einen gewissen Beitrag
erwarten. Aber auf dem Binnenmarkt wird es wie in all
den letzten Jahren sein: Die Umverteilung wird das
Wachstum bremsen und die Arbeitslosigkeit wird tendenziell auf hohem Niveau bleiben. Das heißt, Sie selbst
kündigen schon den Fehlschlag an, für den Sie dann alle
verantwortlich sein werden.
({16})
Nächster Redner ist der Kollege Matthias Berninger,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! So war es
in der Vergangenheit immer: Es gab zum Teil ermutigende Signale in der Wirtschaft und es ging in bestimmten Bereichen aufwärts. Die Regierung hat das besonders betont und die Opposition - damals übrigens oft
unter tatkräftiger Führung von Michel Glos - hat jedes
zarte Pflänzchen, das gezeigt hat, dass es aufwärts geht,
gleich wieder zertreten. Auch heute Morgen haben wir
das erlebt. Ich als Grüner bin ganz froh, dass sich dieses
Bündnis von FDP und Linkspartei noch nicht in der
Wirtschaftspolitik abbildet. Aber was kam von links wie
von rechts? Nur Mäkelei.
Ich finde, wir sollten eines erst einmal feststellen:
Dass es in Deutschland ganz offenkundig wirtschaftlich
aufwärts geht, ist eine gute Nachricht, und zwar unabhängig davon, wer im Einzelnen die Verantwortung dafür trägt.
({0})
Ich halte überhaupt nichts davon, dass wir in der alten
Tradition fortfahren und dieses Land schlechterreden, als
es ist. Wir sind ein Land, das jedes Jahr über
80 Milliarden Euro dafür aufbringt, die neuen Bundesländer an die westdeutschen Lebensverhältnisse heranzuführen. Keine andere Volkswirtschaft der Welt schafft
das. Besucher, die nach Berlin kommen, jubeln darüber,
wie die Situation hier seit der deutschen Einheit ist. Aber
was passiert in Deutschland? Über diesen Zustand wird
nur gemäkelt. Auch das ist ein Beispiel dafür, wie man
dieses Land kaputtreden kann.
({1})
Wir sind inzwischen Exportweltmeister und - auch
wenn die CDU/CSU das erst sehr spät gemerkt hat - wir
waren es auch schon in der Zeit von Rot-Grün. Wir haben es geschafft, eine Dynamik in Gang zu setzen. Wir
haben es geschafft, Weltmarktanteile im Export in den
letzten Jahren zu gewinnen. Wer wäre ich, wenn ich
mich nicht darüber freuen würde, dass diese Entwicklung weiter vorangeht? Ich finde, das ist kein Grund zum
Mäkeln, sondern zeigt, dass dieses Land Stärken hat, auf
die wir alle gemeinsam stolz sein sollten.
({2})
Jetzt ist innerhalb der Bundesregierung ein interessanter Streit in Gang gekommen, nämlich der Streit über
die Frage: Ist das Wachstum mit 1,4 Prozent vielleicht
zu knapp berechnet? Wird das Wachstum im Jahr 2006
nicht vielleicht größer sein? Ich hätte mir gewünscht,
dass wir diesen Streit in den letzten Jahren rot-grüner
Zusammenarbeit geführt hätten. Wahrscheinlich würde
die rot-grüne Regierung dann auch noch bestehen. Aber
es ist ein interessanter Streit. Denn ich glaube, dass es in
diesem Streit darum geht, ob wir es auch ohne Mehrwertsteuererhöhung schaffen können, dieses Land auf
den Erfolgspfad zurückzuführen, oder nicht. Je größer
das Wachstum ist, je größer die Staatseinnahmen sind,
desto richtiger ist es, auf die Erhöhung der Mehrwertsteuer zu verzichten. Ich glaube, auch das ist der Grund,
warum die Regierung die Wachstumsrate jetzt niedrig
einschätzt. Sie möchte von der geplanten Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozent nicht abweichen. Das ist ein
schwerwiegender Fehler.
({3})
Der Bundeswirtschaftsminister hat sich heute geäußert. Ich bin davon überzeugt, dass Michel Glos in der
Zeit in der Opposition lieber im Bundestag gesprochen
hat. Aber auch diese Rede wird den Aufschwung in
Deutschland nicht verhindern.
({4})
Gestern in der Pressekonferenz hat er deutlichere Worte
gefunden; übrigens auch der Bundesfinanzminister im
Finanzausschuss hinter verschlossener Tür. Darüber
steht in der heutigen Ausgabe der „Financial Times
Deutschland“ die schöne Überschrift: „Glos erwartet
2007 Wachstumsdämpfer“. Der Umfang dieses Wachstumsdämpfers - so die Schätzung des Wirtschaftsexperten Michel Glos - beträgt 1 Prozentpunkt. Ich finde, das
ist eine richtige Einschätzung, Herr Bundeswirtschaftsminister. Die Mehrwertsteuererhöhung wird uns 1 Prozentpunkt unseres Wirtschaftswachstums kosten. Wir
werden den Anschluss an die Wachstumsraten der anderen Länder in Europa aber nicht schaffen, wenn wir einfach sehenden Auges in Kauf nehmen, dass das Wachstum unserer Wirtschaft um 1 Prozentpunkt geringer
ausfällt.
Die Steuermindereinnahmen, die dadurch entstehen,
und die Arbeitsplätze, die wir dadurch gefährden, kosten
den Staat mehr Geld, als er durch die Mehrwertsteuererhöhung einnimmt. Das war, glaube ich, die Sorge, die
Michel Glos bewogen hat, auf der gestrigen Bundespressekonferenz Tacheles zu reden. Ich finde, diesen Aspekt
hätte er auch hier im Deutschen Bundestag durchaus ansprechen können.
({5})
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat
beschlossen, in den nächsten vier Jahren 25 Milliarden
Euro in ein Investitionsprogramm zu stecken. Nun
kann man über die Wirkung von Investitionsprogrammen streiten. Wenn wir aber angesichts eines Bruttoinlandsprodukts von 2,2 Billionen Euro nur ungefähr
6 Milliarden Euro pro Jahr in die Hand nehmen, dann
muss man schon sehr optimistisch und sehr hoffnungsfroh sein, wenn man glaubt, dass das ausreicht, um unsere Wirtschaft wirklich voranzubringen.
({6})
Dennoch halten wir Grüne viele Elemente dieses Investitionsprogramms für durchaus vernünftig. Ein Beispiel ist
das Gebäudesanierungsprogramm, das Teil dieses Investitionsprogramms ist.
Warum ist das Gebäudesanierungsprogramm so
wichtig? Die Mietnebenkosten sind in Deutschland um
ein Drittel gestiegen. Die Gas- und Energiepreise belasten die Haushalte, vor allem die Bezieher kleiner und
mittlerer Einkommen. Das Gebäudesanierungsprogramm ist nicht nur für die Umwelt gut, sondern es ist
auch angewandte Sozialpolitik. Diese galoppierenden
Kosten müssen wir nämlich in den Griff bekommen. Zudem sichert dieses Programm Arbeitsplätze im Handwerk.
Aber das, was in den letzten Wochen passiert ist,
sollte uns doch zu denken geben. Ludwig Stiegler sagte,
im Haushaltsausschuss sei ein Bypass gelegt worden.
Das ist nicht die Dynamik, die wir uns wünschen. Im
Klartext: Das, was dort geschehen ist, ist Gemurkse; es
geht hin und her, vor und zurück. Die Leute, die sich
heute entscheiden wollen, ein Haus zu bauen oder zu sanieren, wissen nicht genau, woran sie sind.
({7})
Das klare Signal, dass dieses Programm sofort in Gang
kommt und wir in Schwung kommen, wäre besser.
({8})
Diese Regierung hat folgendes Problem: Ihr Investitionsprogramm krankt daran, dass im Deutschen Bundestag erst nach den Landtagswahlen über den Bundeshaushalt diskutiert werden soll. Dadurch sind viele
Maßnahmen auf die lange Bank geschoben. Aber die
Menschen, die in diesem Bereich investieren wollen,
brauchen jetzt Verlässlichkeit und Planungssicherheit.
({9})
Wenn man Zeitungen und Zeitschriften aus dem Bereich Bauen durchblättert, dann ist das wie die bunte
Illustration eines Programms der Grünen: Es geht um
Themen wie Holzpelletheizungen, Wärmedämmung,
Solarzellen auf den Dächern und Solarthermie. Alle
möglichen Bestandteile eines zum einen Wachstum
schaffenden und zum anderen die Arbeitsplätze im
Handwerk sichernden Programms sind darin enthalten.
Ich bin froh darüber, dass die Bundesregierung dieses
Investitionsprogramm um die Gebäudesanierung ergänzt
hat. Ich würde mir allerdings wünschen, dass Sie jetzt
Tempo machen, damit die Arbeitsplätze, um die es hier
geht, auch tatsächlich entstehen. Es darf nicht bei bunten
Bildern in sehr fortschrittlichen Zeitungen zum Bauen
und Wohnen bleiben.
({10})
Beim Thema Planungssicherheit komme ich auf ein
zweites Beispiel zu sprechen: die Biokraftstoffe. Die
rot-grüne Bundesregierung hat das klare Signal gesetzt,
dass die Produktion von Biokraftstoffen in Deutschland
gefördert wird. In den sieben Jahren der rot-grünen Regierungszeit ist Deutschland, was die Produktion von
Biokraftstoffen betrifft, zum Spitzenreiter geworden.
Was ist durch Ihre Koalitionsvereinbarung passiert?
({11})
- Ludwig Stiegler sagt: „Das bleiben wir auch!“ ({12})
Jeder, der sich mit diesem Thema beschäftigt - dort sitzt
zum Beispiel der Kollege Schindler, der wahrscheinlich
ein Lied davon singen kann -, weiß: Der Markt ist verunsichert. Diejenigen, die investieren wollen, fragen
sich: Wird es noch eine Steuerbefreiung geben oder
nicht? Wird es zu einem Einspeisezwang kommen? Was
wird geschehen? All das wissen sie nicht.
({13})
Herr Bundeswirtschaftsminister, ich bitte Sie: Nehmen
Sie sich dieses Themas an, sorgen Sie für Klarheit und
lassen Sie uns in Alternativen zum Öl investieren! Denn
die Ölpreisentwicklung ist ausgesprochen besorgniserregend.
({14})
Ludwig Stiegler hat gesagt, die Mehrwertsteuererhöhung würde schon irgendwie verkraftet werden. Ich sage
noch einmal: In den nächsten vier Jahren wollen Sie den
Leuten 75 Milliarden Euro aus der Tasche ziehen,
25 Milliarden Euro wollen Sie in Form eines Investitionsprogramms zurückgeben. Das ist der Unterschied
zwischen dem Kotelett und dem Schwein, den der wirtschaftspolitische Sprecher der FDP vorhin angesprochen
hat.
Aber das Grundproblem, Herr Kollege Stiegler, ist,
dass die Mehrwertsteuererhöhung und der Anstieg der
Energiepreise nicht alternativ, sondern kumulativ zu betrachten sind; denn die Energiepreise steigen in diesem
Jahr genauso wie im letzten Jahr.
({15})
Das bedeutet: Die Mehrwertsteuererhöhung kommt zu
den galoppierenden Energiepreisen noch hinzu. Das
wird unsere Binnenkonjunktur endgültig zum Erlahmen bringen.
({16})
Der Kollege Lafontaine hat ein klares Bild, wie man
das mit der Binnenkonjunktur hinkriegen kann; es wird
ja hier gebetsmühlenartig vorgetragen.
({17})
Es gibt ein Problem mit der berühmten Wettbewerbsfähigkeit über Lohnstückkosten, über das man, wie ich
finde, reden muss. Was die Lohnstückkosten angeht,
sind wir in Deutschland wahnsinnig erfolgreich: In den
letzten beiden Jahren sind die Lohnstückkosten bei allen
unseren Wettbewerbern gestiegen - bei uns sind sie um
8 Prozent gesunken. Das ist eine Erklärung dafür, warum
wir Exportweltmeister sind.
({18})
Es gibt nur ein Problem: Die Senkung der Lohnstückkosten beruhte zum einen auf Sozialreformen, das heißt,
wir haben Einsparungen machen müssen, die zum Teil
schmerzhaft waren. Ein zweiter Grund, warum wir so
niedrige Lohnstückkosten haben, ist die gestiegene Arbeitslosigkeit. Diese gestiegene Arbeitslosigkeit, die
Massenentlassungen bei vielen Unternehmen haben uns
zwar wettbewerbsfähig gemacht, aber vielen Menschen
die Existenz geraubt. Deshalb finde ich es unredlich, zu
argumentieren, man müsse im Bereich der Lohnkosten
gar nichts machen, weil die Lohnstückkosten ja so niedrig sind. Das Gegenteil ist richtig: Wenn wir davon wegkommen wollen, dass Rationalisierung nur über den
Faktor Arbeit stattfindet, dann müssen wir uns stärker
um die Senkung der Lohnnebenkosten kümmern.
({19})
Herr Kollege Berninger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lafontaine?
Ja.
Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, dass sich angesichts
der Entwicklung der Lohnstückkosten in Deutschland
- ich nenne das „das deutsche Lohndumping“ - Spanien,
das ja an der Währungsunion teilnimmt, hinsichtlich der
Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Deutschland bereits
um 20 Prozent verschlechtert hat? Eine ähnliche Zahl
wird für Portugal gemeldet, und auch in Italien ist eine
solche Entwicklung zu verzeichnen. Ist Ihnen auch bekannt, dass der Chefvolkswirt der Deutschen Bank gesagt hat, da Italien ja nicht mehr abwerten kann, müssten
dort die Löhne um bis zu 20 Prozent gekürzt werden? Ist
Ihnen bekannt, dass aufgrund der törichten Politik in
Deutschland viele Stimmen in Europa mittlerweile sagen, wir legten den Sprengsatz an das europäische
Währungssystem, weil sich die anderen nicht mehr
durch Abwertung zur Wehr setzen können?
Nun kommen wir von den Lohnstückkosten zur Währungspolitik. Herr Kollege Lafontaine, zum einen denke
ich, über die Frage „Euro, ja oder nein?“ brauchen wir
hier nicht mehr zu diskutieren - der Euro ist eingeführt.
Ich bin ein überzeugter Europäer, ich glaube, dass es
richtig ist, auf den europäischen Binnenmarkt zu setzen. Er ist ein weiterer Grund, warum wir Exportweltmeister sind.
({0})
Wir haben nämlich für Deutschland sowohl in den alten
EU-Ländern als auch in den Beitrittsländern enorme
Märkte. Vor diesem Hintergrund will ich mich, was den
Populismus zum Euro angeht, eher zurückhalten.
Zum Zweiten: Der Grund, warum wir gegenüber diesen Ländern durch niedrigere Lohnstückkosten einen
Wettbewerbsvorteil errungen haben, hängt weniger mit
dem Euro zusammen als vielmehr damit, dass Deutschland ein hohes technologisches Rationalisierungspotenzial hat, dass die in Deutschland ansässigen Unternehmen sehr innovativ waren, mehr Güter mit weniger
Arbeit zu produzieren - auch, weil über unser soziales
Sicherungssystem die falschen Anreize gesetzt worden
sind. Dass wir so erfolgreich waren, führt dann eben
dazu, dass andere Länder ein Problem haben. Aber lassen Sie uns nicht in einen Populismus verfallen, den
Euro infrage zu stellen und den europäischen Binnenmarkt als einen zerfallenden Binnenmarkt anzusehen,
dessen Teilnehmer untereinander lediglich konkurrieren.
({1})
Damit bin ich bei einer interessanten Anmerkung von
Michel Glos vom gestrigen Tag. Der Bundeswirtschaftsminister hat gestern gesagt: Lassen Sie uns einmal darüber nachdenken - er hat einen Brief nach Brüssel
geschrieben -, die Strukturförderung für die Beitrittsländer künftig an die Frage zu koppeln, ob dadurch vielleicht auch Wettbewerber entstehen und ob damit
Arbeitsplatzverlagerungen von Deutschland nach
Tschechien oder Polen oder sonst wohin verbunden sind.
Hintergrund sind die Arbeitsplätze, die bei Continental
in Hannover, bei der AEG und anderswo in Gefahr sind.
Aus drei Gründen finde ich diese Form von Populismus falsch: Grund Nummer eins ist, dass die Bundeskanzlerin während der Verhandlungen über den Finanzrahmen der EU bis 2013 Gelegenheit hatte, dieses
Thema zur Sprache zu bringen. Sie hat es, wohlverstanden, nicht gemacht, weil die Abgrenzung, wann eine
Strukturförderung arbeitsplatzverlagernd ist oder nicht,
so schwierig ist.
Grund Nummer zwei - ich sagte es schon -: Deutschland hat schon jetzt von der Erweiterung der EU profitiert: Die Wachstumsraten unserer Wirtschaft auf diesen
neuen Märkten - ob das Ungarn ist, ob das Polen ist, ob
das Tschechien ist - sind so groß, dass wir uns auch hier
nicht schlechtreden müssen. Deutschland ist auf diesen
Märkten erfolgreich. Dann müssen wir aber umgekehrt
auch diesen Ländern eine Chance geben. Deshalb teile
ich die Einschätzung, dass der Bundesfinanzminister mit
Brandbriefen bezüglich der Steuersätze für Unternehmen in diesen Ländern nur ein mildes Lächeln ernten
wird.
Der dritte Grund. Die Regelungen zur deutschen Einheit wurden von uns nicht anders gestaltet. Von den
80 Milliarden Euro, die von West nach Ost transferiert
werden, fließen viele Mittel in die Strukturförderung.
Das führt dazu, dass Betriebe von Westdeutschland nach
Ostdeutschland abwandern. Nehmen Sie als Beispiel die
Firma Müller Milch. Müller Milch hat in Niedersachsen
seine Molkereien zugemacht und dort mehr Menschen
entlassen, als in Sachsen beim Neuaufbau eingestellt
wurden. Allerdings muss man anmerken, dass sich die
neuen Länder in einem Aufholprozess befinden. Den
sollten wir unterstützen.
({2})
Ich glaube, dass die Arbeitslosigkeit nur mit einer
Kombination aus mehr Wachstum und Strukturförderung - dazu müssen wir den Mut haben - bekämpft werden kann.
Die Regierung hat in diesem Punkt, wie ich meine,
ein großes Defizit, über das hier noch gesprochen werden muss. In unserem Land besteht ein enger Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Qualifizierung.
Probleme gibt es bei uns, anders als in anderen Ländern,
vor allem bei den niedrigqualifizierten Menschen, bei
den Menschen im niedrigen Einkommensbereich.
In diesem Zusammenhang will ich etwas zu der
aktuellen Tarifdebatte sagen: Über die Frage, ob die
Forderung der IG Metall nach 5 Prozent mehr Lohn richtig ist oder nicht, sollen die Tarifpartner entscheiden. Dabei haben sie bisher immer große Weisheit an den Tag
gelegt. Ich finde, wir sollten uns nicht an dem Aushandlungsprozess beteiligen. Was mich aber freut, ist, dass
die IG Metall, nach Verdi die größte Einzelgewerkschaft
in Deutschland, in diesen Tarifverhandlungen erstmals
das Thema Weiterbildung ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt hat. Das hätte auch der Bundeswirtschaftsminister in seiner Rede positiv unterstreichen können
und er hätte die IG Metall einmal loben können, ohne
befürchten zu müssen, danach im CSU-Präsidium geprügelt zu werden. Das ist der richtige Weg.
({3})
Wir müssen mehr im Bereich Qualifizierung tun, wenn
wir die Arbeitslosigkeit senken wollen.
Nun hat der Bundeswirtschaftsminister gestern etwas
gemacht, was ich sehr bedenklich finde. Letzte Woche
haben wir mit großem Konsens die Angleichung des
Arbeitslosengeldes II im Osten an das Westniveau beschlossen. Gestern ist in den Veröffentlichungen der
Agenturen zu lesen gewesen, der Bundeswirtschaftsminister stehe Subventionen im Niedriglohnbereich
skeptisch gegenüber. Herr Bundeswirtschaftsminister,
ich teile zwar diese Ihre Einschätzung; denn so etwas
führt zu Mitnahmeeffekten und zu so genannten Drehtüreffekten. Unternehmen werden davon profitieren, sie
werden Menschen Arbeit geben, andere dafür aber entlassen. Das ist der falsche Weg.
Weiter haben Sie gesagt, man müsse die Sozialtransfers bei den unteren Einkommen absenken, so wie uns
das Herr Sinn aus München empfiehlt. Wir können aber
nicht in der einen Woche beschließen, das ALG II im
Osten an das Westniveau anzugleichen, und in der
nächsten Woche die Menschen noch stärker verunsichern, die in den letzten Jahren real Einkommensverluste zu erleiden hatten. Das ist - Herr Lafontaine, da
sind wir wieder einer Meinung - der falsche Weg.
Deswegen machen wir Ihnen den Vorschlag, die notwendige Senkung der Lohnnebenkosten und somit der
Arbeitskosten auf die kleinen und mittleren Einkommen
zu konzentrieren. Das ist der richtige Weg. Wenn wir es
schaffen würden, die Lohnnebenkosten im unteren
Einkommensbereich stärker zu senken und die Steuerfinanzierung der Lohnnebenkosten dort zu konzentrieren, dann hätten wir eine Chance, die Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit wirksam in Gang zu setzen. Das könnte
diese Regierung auf den Weg bringen. Das würde mehr
Zuversicht geben. Das würde auch mehr Investitionen
nach sich ziehen. Vor allem würde es Menschen Beschäftigung geben, die schon viel zu lange auf einen Arbeitsplatz warten.
Ich danke Ihnen.
({4})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Michael
Meister für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundeswirtschaftsminister hat heute den Jahreswirtschaftsbericht der neuen Bundesregierung, den ersten in seiner
Amtszeit, vorgelegt. Die Tendenz ist klar erkennbar: Es
geht aufwärts in Deutschland. Nach fünf Jahren Stagnation kommt die deutsche Volkswirtschaft wieder in
Gang. Daran kann man sehen: Der Eintritt der Union in
die Regierung macht sich bemerkbar.
({0})
Der Ifo-Geschäftsklimaindex ist - er wurde schon
mehrfach erwähnt - auf dem höchsten Stand seit fünf
Jahren.
({1})
Der Dax liegt auf einem Vierjahreshoch. Die Unternehmen schauen wieder mit Zuversicht in das Jahr 2006.
Immer mehr Ökonomen heben ihre Prognosen für das
vor uns liegende Jahr an.
Der Opposition möchte ich mit den Worten unseres
ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss sagen: „Der
einzige Mist, auf dem nichts wächst, ist der Pessimist.“
Deshalb bitte ich Sie, den allgemeinen Optimismus in
Ihren Reihen aufzunehmen und konstruktiv daran mitzuwirken,
({2})
dass es in Deutschland mit der Wirtschaft und dem Arbeitsmarkt wieder aufwärts geht.
({3})
Der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit hat die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt zum Jahreswechsel dargestellt. Ich darf ihn zitieren:
Die Entwicklung der letzten Monate gibt uns Zuversicht für das … Jahr 2006.
Das ist die großartige Botschaft zu Beginn dieses Jahres.
Im Jahreswirtschaftsbericht wird deshalb zu Recht
festgestellt: Der Aufschwung ist in Gang gekommen.
Das Wirtschaftsklima verbessert sich branchenübergreifend. - Es bestätigt sich wieder einmal der Lehrsatz von
Ludwig Erhard: „Konjunktur ist zu 50 Prozent Psychologie“. An dieser Stelle hat die neue Bundesregierung einen neuen Pflock eingeschlagen und Vertrauen geschaffen. Sie ist verlässlich und berechenbar und schafft
damit Vertrauen für die Akteure in der Wirtschaft. Diesen Kurs müssen wir in Ruhe und Gelassenheit weiter
verfolgen.
({4})
Ich möchte die Kollegen der Opposition einladen,
sich nicht darauf zu beschränken, den Kurs und die Strategie dieser Regierung zu kritisieren, wie das heute Morgen geschehen ist, sondern eine alternative Strategie vorzulegen.
({5})
- Herr Brüderle, ich habe das in dieser Debatte vermisst.
Wo ist Ihre konstruktive Alternative?
({6})
Man löst keine Probleme, indem man nur Bedenken vorträgt. Sagen Sie doch einmal, wie Sie den Haushalt sanieren wollen! Sagen Sie, wie Sie mehr Beschäftigung
schaffen wollen! Sagen Sie, wie Sie konkret die Sozialsysteme reformieren wollen!
({7})
Dann können wir darüber streiten, wer die richtige Strategie in diesem Lande verfolgt.
({8})
Ich glaube, diese Regierung hat den richtigen Schwerpunkt gesetzt. Wir werden das Notwendige tun, um die
Anstrengungen für Wachstum und Beschäftigung voranzubringen. Wir haben uns darauf verständigt, die Reformen an unserem Standort einzuleiten, die notwendig
sind, um uns den Weg in die Wissensgesellschaft zu
bahnen. Deutschland kann sich besser auf die Herausforderungen der Zukunft vorbereiten. Wir werden den Menschen in Deutschland mehr Freiheit geben, damit sie sich
auf diese neuen Rahmenbedingungen einstellen können.
({9})
Mit neuen Leistungsanreizen werden wir den Menschen
die Chance geben, diese Freiräume eigenverantwortlich
auszufüllen. Zudem wollen wir die Marktkräfte dauerhaft stärken, damit die vorhandenen Wachstumspotenziale genutzt werden können.
Wir sollten den Menschen hier nichts Falsches einflüstern. Der Kollege Lafontaine hat eben die Bruttolohnsumme angesprochen und den Menschen sozusagen
unterschwellig suggeriert, wir müssten unsere Probleme
mit massiven Lohnerhöhungen lösen. Das ist ein vollkommen falscher Ansatz. Die Bruttolohnsumme besteht
aus der Summe aller Individuallöhne. Unser Problem
liegt doch darin, dass die Beschäftigtenzahl in den vergangenen Jahren massiv zurückgegangen ist. Wir müssen daran arbeiten, dass die Beschäftigtenzahl steigt.
Dann werden die Menschen auch wieder mehr Einkommen haben und mehr Geld in die Hand nehmen. Deshalb
müssen wir uns mit der Frage beschäftigen, wie wir
mehr Menschen in eine sozialversicherungspflichtige
Beschäftigung bekommen. Dort müssen wir den
Schwerpunkt setzen. Wir sollten keine Vorschläge auf
den Tisch bringen, die dazu führen, dass die Beschäftigtenzahl noch weiter nach unten geht und wir noch weiter
in dieses Dilemma schlittern, Herr Lafontaine.
({10})
Diese Bundesregierung hat einen Dreiklang festgeschrieben: Wir wollen den Haushalt sanieren, wir wollen
Investitionsanreize setzen und wir wollen langfristige
Strukturreformen auf den Weg bringen. Ich glaube, dass
dieser Dreiklang der richtige Ansatz ist, um die Lage unseres Landes zu verbessern und mehr Wachstum und Beschäftigung zu erreichen.
Es ist gelegentlich sinnvoll, zu schauen, wie andere,
die uns von außen betrachten, unsere Strategie kommentieren. Die Europäische Kommission hat gestern gesagt:
Deutschland verfolgt eine kohärente, integrierte und angemessene Strategie, um zu mehr Wachstum und Beschäftigung zu kommen. - Ein besseres Gütesiegel der
Wirtschaftspolitik dieser neuen Regierung hätten wir uns
gar nicht wünschen können. Deshalb: Nehmen Sie diese
positive Beurteilung doch einmal auf und orientieren Sie
sich daran!
({11})
Der Bundeswirtschaftsminister hat den Dreiklang
dargestellt. Die Haushaltskonsolidierung ist ein zentrales Ziel in dieser Legislaturperiode. Ich möchte hier auf
den Chefökonomen der Europäischen Zentralbank,
Otmar Issing, hinweisen. Er hat in einem Interview in
den vergangenen Tagen gesagt:
Keine Regierung wird auf Dauer bestehen können,
wenn sie den Haushalt nicht konsolidiert.
Damit hat er absolut Recht. Konsolidierung ist kein
Selbstzweck. Alle wissenschaftlichen Untersuchungen
zeigen, dass die Konsolidierung der Staatsfinanzen per
se eine wachstumssteigernde Wirkung hat. Deshalb werden wir über einen verlässlichen Konsolidierungspfad
dazu kommen, das Wachstum in Deutschland längerfristig anzureizen.
Wir müssen uns im Zuge der Haushaltskonsolidierung auch auf die Herausforderungen der noch zu erwartenden Lasten durch die demografische Entwicklung
vorbereiten. Die Tatsache, dass heute ein neugeborenes
Kind mit 18 000 Euro Schulden zur Welt kommt, ist
nicht akzeptabel. In Zukunft müssen wir weniger Schulden machen und unseren Staatshaushalt ausgleichen.
({12})
Die neue Bundesregierung packt das Problem der
Haushaltskonsolidierung entschlossen an. Ich möchte allen Kritikern sagen: Sie bieten keine Alternative an. Wir
würden uns gerne mit Ihnen über eine Alternative streiten. Legen Sie sie doch einfach vor! Diejenigen, die Sie
nach vorne geschickt haben, sind, als sie die Möglichkeit
hatten, das Problem zu lösen, bei Nacht und Nebel durch
die Hintertür geflohen und jetzt stellen sie sich hier hin
und treten als die großen Ratgeber auf.
({13})
Sie hatten doch damals die Möglichkeit, die Probleme zu
lösen. Warum haben Sie es nicht getan? Warum sind Sie
einfach verschwunden?
Der Konsolidierungsbedarf ist enorm. Ein Viertel der
Ausgaben des Bundes sind nicht durch laufende Einnahmen gedeckt. Deshalb werden wir in den kommenden
Jahren massiv und eisern sparen müssen, um die Vorgaben in Art. 115 des Grundgesetzes und des europäischen
Stabilitätspaktes, die Einhaltung der Maastrichtkriterien,
zu erreichen.
Heute Morgen ist schon intensiv darüber diskutiert
worden, wie wir das Wirtschaftswachstum für 2006
einschätzen. Ich bin sehr froh, dass wir mit einer realistischen, aber auch konservativen Wachstumseinschätzung
in dieses Jahr gehen. Wir haben in den vergangenen Jahren oft erlebt, dass die Erwartungen nicht übertroffen,
sondern unterlaufen wurden. Jetzt haben wir die Chance,
dass sich die Erwartungen, die wir wecken, auch wirklich erfüllen werden und dass wir durch die Basiseffekte
für die kommenden Jahre einen positiven Schub erreichen, statt Defiziten hinterherzulaufen. Deshalb werbe
ich dafür, diese neue Strategie in den Folgejahren fortzusetzen und in Zukunft mit realistischen, aber konservativen Einschätzungen Wirtschaftspolitik zu gestalten.
Das Impulsprogramm, das die Regierung vorgelegt
hat, dient dazu, kurzfristig Investitionsanreize zu setzen.
Es ist richtig, Herr Brüderle, dass wir nicht nur fordern,
den Privathaushalt als Arbeitgeber zu entdecken, sondern dies auch schlicht und ergreifend tun. Genau das
machen wir mit diesem Programm. Freuen Sie sich doch
mit uns gemeinsam, dass dadurch neue legale Beschäftigung in Deutschland entsteht und mehr Menschen in Beschäftigung kommen!
({14})
Freuen Sie sich darüber, dass wir den Unternehmen nicht
sagen, dass sie warten müssen, bis wir eine ausgereifte
Unternehmensteuerreform auf den Weg gebracht haben,
was wir uns bis zum 1. Januar 2008 vornehmen, sondern
dass wir diese zwei Jahre mit Abschreibungsbedingungen überbrücken, die Investitionen am Standort Deutschland auch in diesem Zeitraum attraktiv machen.
Entscheidend aber ist natürlich die Frage: Können wir
Strukturreformen umsetzen? Hier sind wir - lassen Sie
mich das an dieser Stelle sagen - in einer komfortablen
Lage. Die Koalition hat den klaren politischen Willen,
dieses Problem zu lösen. In Bundestag und Bundesrat
haben wir die dafür notwendigen Mehrheiten. Darüber
hinaus steht uns der komplette steuerpolitische Sachverstand dieser Republik zur Verfügung, der an Lösungen
für dieses Problem mitwirkt. Diese einmalige Situation
sollten wir nutzen, nicht nur kleine Veränderungen vorzunehmen, sondern eine Strukturveränderung, die langfristig dazu führt, dass unser Standort attraktiv ist.
({15})
Das Thema Föderalismusreform wird mittlerweile
seit Jahren diskutiert. Die Regierung und die Koalition
haben sich vorgenommen, diese Reform in den ersten
sechs Monaten dieses Jahres umzusetzen. Die Strukturveränderung, die wir auf den Weg bringen, wird dazu
führen, dass in unserem Land schneller entschieden wird
und Kompetenzen klarer geregelt sind.
Auch das Thema Bürokratieabbau haben wir uns
vorgenommen. Ich glaube, hier können wir diesmal tatsächlich etwas verändern. Wir diskutieren zwar schon
seit Jahren über Bürokratieabbau, aber ehrlicherweise
sind wir dabei nicht vorangekommen. Jetzt werden wir
den Bürokratieaufwand an einzelnen Bestimmungen
transparent machen, indem wir anfangen, Bürokratie zu
messen. Beim Bundeskanzleramt wird ein Rat eingerichtet - damit wird das Thema Chefsache -, der sich damit
beschäftigt, die Bürokratie dort, wo sie wirklich nachweisbar ist, zurückzuführen. Damit hört die Debatte zu
diesem Thema, das in jeder Sonntagsrede vorkommt,
auf, Herr Brüderle. Diese Regierung fängt an, in der Tagespolitik entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, um
zu weniger Bürokratie in Deutschland zu kommen.
({16})
Anhand vieler Großprojekte haben wir erkannt, dass
Entscheidungen in unserem Land zu lange dauern. Sie
als Rheinland-Pfälzer kennen den Frankfurter Flughafen. Wir alle wundern uns, wie lange die Entscheidungen
über neue Landebahnen und über die Werft des A380
dauern. Wir haben uns vorgenommen, dafür zu sorgen,
dass Planungs- und Genehmigungsverfahren in überschaubarer Zeit abgeschlossen werden können. Das
heißt nicht, alles zu genehmigen und alles kritiklos hinzunehmen. Menschen, die in unserem Land zu Unternehmungen bereit sind, müssen aber in überschaubarer
Zeit eine klare Auskunft erhalten, was sie tun können
und was nicht. Ich glaube, dass davon ein positiver Impuls für den Standort Deutschland ausgeht.
Ich möchte in dieser Debatte zum Jahresbeginn 2006
alle einladen, sich bei der Frage, wie wir unser Land
wieder in Gang bringen können, konstruktiv einzubringen. Lassen wir den Missmut beiseite und sorgen wir dafür, dass mehr Menschen in Deutschland Beschäftigung
finden und dass sie wieder Vertrauen und Optimismus
entwickeln, damit es mit unserem Land aufwärts gehen
kann! Deutschland kann es besser und wir wollen dafür
sorgen, dass es auch besser wird.
Vielen Dank.
({17})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Rainer Wend für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eine große Koalition ist nicht immer einfach. Der
Kollege Meister hat uns ein wenig gekitzelt, indem er
die besseren Wirtschaftsdaten - vorsichtig ausgedrückt ein wenig einseitig vorträgt und sich darauf beruft, dass
sie durch den Eintritt der Union in die Bundesregierung
begründet seien. Es trifft sich gut, dass ich einen kurzen
Text des Sachverständigenrates bei mir habe, in dem
festgestellt wird, dass die große Koalition eine gute Basis für mutige und umfassende Politikmaßnahmen und
die Fortsetzung des von Rot-Grün eingeschlagenen Reformkurses sein könne.
({0})
Herr Kollege Meister, das war sozusagen eine kleine
boshafte Retourkutsche zu Ihrer Anmerkung.
Die große Koalition ist aber auch deshalb nicht einfach, weil die FDP kaum eine Gelegenheit auslässt, Ihnen vorzuhalten, was Sie noch vor einigen Wochen und
Monaten gemeinsam auf den Weg bringen wollten und
welche Position die Union jetzt vertritt. Die Grünen machen es uns auch nicht leichter, weil sie im Bundestag
Anträge vorlegen, die wir in der letzten Legislaturperiode noch mit ihnen gemeinsam eingebracht haben.
({1})
Dennoch muss sich die große Koalition in der gegenwärtigen Situation ihrer großen Verantwortung bewusst werden. Warum ist ihre Verantwortung so groß? Wir kommen nicht daran vorbei, zu erkennen, dass wir in der
Ökonomie unseres Landes - übrigens nicht nur in
Deutschland, sondern auch im übrigen Kerneuropa dramatische Veränderungen zu verzeichnen haben. Mit
der Öffnung Chinas, Indiens und der Länder Osteuropas
konkurrieren weltweit circa 2 Milliarden Menschen zusätzlich um Investitionen und Arbeitsplätze.
Die Frage ist, wie wir diese große Herausforderung,
vor der wir stehen, meistern können. Dafür müssen wir
zwei Aufgaben bewältigen. Was die eine Aufgabe angeht, muss ich dem Kollegen Lafontaine widersprechen.
Angesichts der zusätzlichen Konkurrenz auf den Weltmärkten bleibt es uns nicht erspart, uns diesem Wettbewerb zu stellen, sei es durch Verbesserungen in Bildung und Forschung - diesen Weg würden wir sicherlich
gemeinsam gehen -, sei es über das Steuersystem oder
die Frage, wie die Arbeit in den Bereichen zu organisieren ist, in denen die Beschäftigten weniger gut qualifiziert sind.
Als große Koalition haben wir aber auch eine zweite
Aufgabe, auf die der Kollege Stiegler zu Recht hingewiesen hat. Wir werden nur dann Erfolg haben, wenn es
uns gelingt, neben der Wettbewerbsfähigkeit auch die
soziale Ausgestaltung unseres Landes beizubehalten.
Es kann auch unter den veränderten Wettbewerbsbedingungen nicht richtig sein, wenn sich das Lohnniveau in
einer Weise entwickelt, dass wie im Bewachungsgewerbe in Thüringen Tariflöhne von 4 Euro gezahlt werden.
({2})
Wir müssen der ständigen Abwärtsspirale bei den Löhnen entgegenwirken. Deswegen richte ich an die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen die Bitte: Wir
müssen einen Weg finden, diese Abwärtsspirale zu beenden. Wir müssen über Instrumente wie den Mindestlohn
diskutieren und klären, wie wir denjenigen helfen, die
aufgrund ihrer Qualifikation auch zu den gesetzlichen
Mindestlöhnen keine Arbeit finden würden. Ein solches
Instrument ist beispielsweise der Kombilohn; er käme
für diejenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer infrage, die aufgrund fehlender Qualifikation oder anderer
Probleme im persönlichen Bereich keine Beschäftigung
finden.
Lassen Sie mich auf ein Thema eingehen, das mir
große Sorgen bereitet und das bislang nur am Rande eine
Rolle gespielt hat. Das ist das Thema Europa. Es ist
bereits vom Bundeswirtschaftsminister und auch in unserer Koalitionsvereinbarung angesprochen worden. Ich
glaube nicht, dass wir folgende zwei Dinge, die miteinander zusammenhängen, hinnehmen können. Das eine
Problem ist: Wir fördern in manchen Ländern nicht das
Entstehen von neuen Arbeitsplätzen, sondern die Verlagerung von bestehenden Arbeitsplätzen aus dem Land X
in das Land Y. Man wird keinem Steuerzahler in
Deutschland klar machen können, warum er Steuern
zahlen soll, mit deren Hilfe Arbeitsplätze aus unserem
Land wegsubventioniert werden. Das ist ein Thema, dem
sich die Bundesregierung widmen muss.
({3})
Der Vorwurf, dass die Bundeskanzlerin sogar für zusätzliche Mittel zugunsten Osteuropas gesorgt hat, trägt jedoch nicht; denn dass die Strukturen in Osteuropa - auch
mit Hilfe von EU-Mitteln - verbessert werden, ist richtig. Dafür ist zusätzliches Geld notwendig. Aber das darf
nicht zur Subventionierung von Arbeitsplatzverlagerungen in die osteuropäischen Staaten führen. Vielmehr
müssen dort neue Strukturen und Arbeitsplätze entstehen.
({4})
Das andere Problem ist das Steuerdumping. Ich weiß
nicht, ob darüber Konsens herrscht. Ich stelle jedenfalls
fest, dass manche Länder nach meiner Wahrnehmung die
Mindeststeuerquote unterschreiten. Wenn diese Mitgliedstaaten auf tragfähige Finanzierungsgrundlagen
verzichten, dann ist das ihr gutes Recht. Wir werden ihnen kaum etwas anderes vorschreiben können. Dann
dürfen aber diese Länder im Gegenzug nicht erwarten,
dass andere Länder die Finanzierung ihrer staatlichen
Leistungen übernehmen. Diese Diskussion werden wir
in Europa führen müssen.
({5})
Herr Kollege Lafontaine, in diesem Zusammenhang
möchte ich auf Ihre Argumente eingehen; denn ich
finde, dass man sich auch mit dem sehr ernsthaft auseinander setzen sollte, was Sie gesagt haben. Ich habe
mich an einer Stelle Ihrer Rede über einen klassischen
Populismus geärgert. Sie sagen: Führten wir nur 5 Prozent Vermögensteuer für die Reichsten ein, dann stünden uns 100 Milliarden Euro zusätzlich im Haushalt zur
Verfügung.
({6})
Man kann mit mir sicherlich über Steuern und Lenkungswirkungen diskutieren. Wenn aber im Gesetzblatt
steht, dass 5 Prozent Vermögensteuer zu erheben sind,
bedeutet das noch lange nicht, dass sich die Steuereinnahmen erhöhen. Meine Sorge ist: Uns stehen dann
letztlich weniger Einnahmen zur Verfügung, weil eine
Erhöhung der nominalen Steuersätze dazu führt, dass
das Geld, das Sie besteuern wollen, nicht mehr vorhanden ist. Es steht dann auch nicht mehr zur Verfügung,
um in Deutschland investiert zu werden, die Produktivität zu erhöhen und für Wachstum und Beschäftigung zu
sorgen. Aus diesem Grund bin ich im Hinblick auf die
Einführung einer Vermögensteuer sehr zurückhaltend
und werfe Ihnen ein Stück weit Populismus vor.
({7})
Ich möchte noch etwas zum Thema Bürokratieabbau sagen. Ich finde, es ist gut, dass die Bundeskanzlerin dieses Thema in den Mittelpunkt ihrer Rede in Davos gestellt hat. Wir müssen selbstkritisch einräumen
- das geht übrigens allen Bundesregierungen der letzten
30 Jahre so -: Wir haben den Bürokratieabbau ständig
als Aufgabe benannt. Jeder von uns hat gesagt, dass die
ausufernde Bürokratie ein zentrales Problem ist. Das ist
sie auch. Wir haben aber letztendlich nicht den richtigen
Dreh, den richtigen Ansatzpunkt gefunden, um dieses
Problem nachhaltig in den Griff zu bekommen. Wir haben hier und da Verbesserungen vorgenommen. Das
Ende vom Lied war allerdings, dass wir mehr Gesetze
und Verordnungen als vorher hatten und dass unser Beitrag zum Bürokratieabbau - um es zurückhaltend auszudrücken - sehr begrenzt war.
Es lohnt sich aber, darüber zu reden. Wir wollen einen
neuen Anlauf wagen. Der Ansatz lautet: Wir messen die
Bürokratiekosten, die Unternehmen nur dadurch entstehen, dass sie bestimmte Dokumentations- und Berichtspflichten staatlichen Stellen gegenüber haben - wir reden gar nicht über das materielle Recht, sondern nur
über die Dokumentations- und Berichtspflichten -, und
wir wollen uns Zielvorgaben setzen, aus denen hervorgeht, in welchem Umfang diese Kosten zu reduzieren
sind.
Vielen sind die Zahlen bekannt; ich nenne sie dennoch noch einmal. Die Niederländer haben über den
Daumen 20 Milliarden Euro Kosten für die Bürokratie
errechnet. Auf unser BIP übertragen sind das etwa
80 Milliarden Euro, wenn ich einmal unterstelle, dass
wir nicht viel weniger bürokratisch sind als die Niederlande. Wenn es uns gelänge, diese Summe nur um ein
Viertel zu reduzieren, würden wir in unserer Volkswirtschaft 20 Milliarden Euro freisetzen, die nicht mehr für
Bürokratie, sondern für Investitionen und für Innovationen zur Verfügung stünden. Das ist ein Ansatz zum
Bürokratieabbau, über den ich sage: Das lohnt sich. Die
große Koalition muss diesen Schritt unternehmen.
({8})
Wir können keine Wunder versprechen, aber wahr ist
doch: Reformen einerseits und Sicherung unserer sozialen Systeme andererseits müssen die Grundlage bilden,
ergänzt durch positive Stimmungen, die diese große Koalition erzeugt hat und auch in Zukunft erzeugen kann.
Wenn uns dies auch weiterhin gelingt, dann wird es zwar
immer noch nicht einfach mit der großen Koalition, aber
dann wird sie ihrer Aufgabe gerecht, die Herausforderungen in unserem Land anzunehmen und dafür zu sorgen, dass es mit Wirtschaftsentwicklung und Arbeitsplätzen aufwärts geht.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Herbert Schui,
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung und die Koalition haben ihren jüngsten
Jahresstagnationsbericht vorgelegt,
({0})
wenngleich mit außerordentlich optimistischem Unterton, optimistisch präsentiert, mit einer ganzen Menge
von Beschwörungsformeln, mit gegenseitigem Schulterklopfen und vielem anderen mehr. Die Zukunft wollen
Sie gestalten. Das bedeutet dechiffriert: Trotz steigender
Arbeitsproduktivität soll der Bruttolohn und damit der
Lebensstandard der großen Mehrheit der Bevölkerung
sinken. Damit haben Sie gesagt, welche Zukunft Sie für
die meisten von uns vorgesehen haben.
Das von Ihnen prognostizierte Wirtschaftswachstum
in Höhe von 1,4 Prozent beruht auf zwei Ursachen: zum
einen auf der Zunahme der Ausrüstungsinvestitionen,
zum anderen auf dem Wachstum der Exporte. Sie werden mit mir sicherlich darin übereinstimmen, dass die
Zunahme der Ausrüstungsinvestitionen nicht anhalten
wird. Zum einen sind es - das ist schon häufig gesagt
worden - nichts weiter als vorgezogene Ersatzinvestitionen, die ohnehin irgendwann einmal fällig geworden
wären, zum anderen ist die Zinspolitik der Europäischen
Zentralbank nicht gerade geeignet, einen Investitionsschub auszulösen. Schließlich gibt es gegenwärtig keine
revolutionären Produktionstechniken, die Motiv für eine
wirkliche Investitionskonjunktur sein könnten.
Es bleibt also nichts weiter als der Export. Dieser Export ist aber deswegen sehr gefährdet, weil der Export
Deutschlands Handelsbilanzdefizite bei unseren Handelspartnern hervorruft. Dieser Export könnte dann dauerhaft sein, wenn Deutschland so viel importieren
würde, wie es exportiert; er könnte dann dauerhaft sein,
wenn die Inlandseinkommen, die Bruttolöhne und Gehälter, so hoch wären, dass so viele Importgüter gekauft
würden, dass keiner unserer Handelspartner ein Defizit
mit Deutschland realisiert.
({1})
Weil diese Defizite realisiert werden, müssen die Defizitländer über kurz oder lang eine wachstumsdämpfende
Politik einleiten. Wenn sie ihr Wachstum bremsen, um
weniger im Ausland zu kaufen, dann bedeutet das natürlich, dass diese Exportstütze, diese Wachstums- und
Konjunkturstütze, endgültig perdu ist. Sie glauben doch
wohl nicht im Ernst, dass die Vereinigten Staaten in der
langen Frist ihr Außenhandelsdefizit von mehr als
600 Milliarden US-Dollar aufrechterhalten werden. Sie
werden vorher eine wachstumssenkende Politik einleiten, damit die Importe aus den starken Exportländern
wie Deutschland zurückgehen.
Insgesamt ist die Konzeption propagandistisch, falsch
und ideologisch. Wenn nämlich der Export die einzige
Konjunkturstütze ist, dann, so wird stets argumentiert,
müssen wir wettbewerbsfähig im Ausland bleiben. Wettbewerbsfähig im Ausland können wir nur bleiben - so
argumentiert man weiter -, wenn die Löhne niedrig sind.
Das bedeutet aber, dass die Vorteile einer internationalen
Arbeitsteilung, von denen in den Lehrbüchern die Rede
ist und die auch in Ihren Sonntagsreden hervorgehoben
werden, sich in der allgemeinen Wahrnehmung als Bedrohung durch den Weltmarkt darstellen. Der internationale Warenaustausch und die internationale ArbeitsteiDr. Herbert Schui
lung sind eben so organisiert, dass der Einzelne nicht
davon ausgehen kann, dass wir alle davon profitieren.
Das, was Sie Globalisierung nennen, ist in der Tat bedrohlich.
({2})
In einer überschaubaren Frist wird es also nicht zu einer Verbesserung der Lage kommen. Damit Ihr nächster
Jahreswirtschaftsbericht wirklich wieder ein Stagnationsbericht wird, haben Sie mittlerweile beschlossen,
die Mehrwertsteuer zu erhöhen. Erhöhung der Mehrwertsteuer bedeutet, dass dem privaten Sektor zunächst
rund 24 Milliarden Euro entzogen werden. Über die Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung werden
ihm 8 Milliarden Euro zurückgegeben. Dem privaten
Sektor werden unter dem Strich also 16 Milliarden Euro
genommen. Diese 16 Milliarden Euro gibt der Staat aber
nicht zusätzlich aus; denn es ist das erklärte Ziel, dass
die Ausgaben nicht wachsen und die Neuverschuldung
die 3-Prozent-Grenze nicht überschreitet. Infolgedessen
haben Sie ein Nachfragesenkungsprogramm aufgelegt.
Dieses Nachfragesenkungsprogramm wird nach überschlägigen Rechnungen in einer ersten Runde einen
Wachstumsverlust von wenigstens 0,8 Prozentpunkten
bedeuten. Das heißt, wenn Sie zurzeit für das Jahr 2007
von 1,5 Prozent Wachstum ausgehen, dann werden Sie
bei 0,7 Prozent Wachstum landen. Diese Minderung der
Ausgaben hat Folgewirkungen: Wenn weniger ausgegeben wird, nehmen andere Leute weniger ein und geben
auch weniger aus. Das verstärkt die negativen Wirkungen. Nach etwa 18 Monaten werden sich diese kumulierten negativen Wirkungen auf das Wachstum auf ungefähr 1,2 Prozentpunkte belaufen.
Sie werden dann irgendwelche mythischen Argumente finden müssen, um dennoch neuen Optimismus
zu verströmen. Ich bin gespannt, welche Beschwörungsformel dann an der Reihe ist. Herr Bundesminister Glos
hat vorhin eher beiläufig gesagt, das niedrige Wachstum
in Deutschland liege an der niedrigen Geburtenrate.
Wahrscheinlich werden Sie die künftige Argumentation
mehr darauf stützen. Alle, die bei der so genannten bürgerlichen Mitte und rechts davon anzusiedeln sind, neigen nicht zur Analyse, wohl aber zu biologistischen Erklärungen.
Vielen Dank.
({3})
Herr Kollege Schui, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratuliere,
({0})
verbunden mit allen guten Wünschen für die weitere parlamentarische Arbeit.
Nächster Redner ist nun der Kollege Alexander
Dobrindt für die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Bundeswirtschaftsminister hat einen Jahreswirtschaftsbericht vorgelegt, der zum ersten Mal wieder Visionen
enthält. Er hat Prognosen abgegeben, die - wie bei gutem
Wirtschaften üblich - konservativ sind. Das heißt, dass
wir eine realistische Chance haben, diese Prognosen sogar zu übertreffen. Das ist neu. Nach der Vorlage der Jahreswirtschaftsberichte in der Vergangenheit mussten die
Eckpunkte vierteljährlich nach unten korrigiert werden.
Im Übrigen war das an der schlechten Stimmung im
Land maßgeblich schuld - das ist das Entscheidende -,
dass Verlässlichkeit und Planbarkeit von politischen Entscheidungen für die Verbraucher und die Wirtschaft verloren gegangen sind.
Politik, die unter dem Motto „Nachbessern“ betrieben
wird, kann kein Vertrauen schaffen und sie ist deswegen
Teil des vielästigen Problemgestrüpps in unserem Land.
Ich bin froh darüber, dass wir das Vertrauen der Menschen nicht abermals mit zu optimistischen Zahlen auf
die Probe gestellt haben.
({0})
Politik wirkt natürlich maßgeblich auf die Emotionen
der Menschen ein. Ich glaube, es gibt in unserem Land
kein emotionaleres Thema als die hohe Arbeitslosigkeit, wobei insbesondere die Langzeitarbeitslosigkeit
immer stärker zunimmt und die Arbeitslosigkeit insgesamt inzwischen in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen ist. Wohl jeder kann heute sagen, dass er in seiner Verwandtschaft oder Bekanntschaft auch mit Angst
vor Arbeitslosigkeit oder mit Arbeitslosigkeit konfrontiert ist. Deswegen ist es gut, dass der Jahreswirtschaftsbericht einen positiven Ausblick in Bezug auf den Abbau der Arbeitslosigkeit geben kann. Das ist das zentrale
Thema, über das wir hier reden müssen.
Reformieren und investieren zugleich ist der Schlüssel für langfristige und kurzfristige Maßnahmen, damit
Wachstum und Beschäftigung in unserem Land geschaffen werden können. Anders formuliert: Es gilt, Ausgaben zu reduzieren, gezielte Wachstumsimpulse zu geben
und gleichzeitig die Einnahmesituation zu verbessern.
({1})
Darin stecken große Herausforderungen, aber damit sind
natürlich auch umso mehr Chancen für die Menschen
verbunden.
Der Vorwurf, der hier formuliert worden ist, dass ein
Teil dieser Wachstumsimpulse ein Konjunkturprogramm
der alten Prägung sei, greift schlichtweg nicht. Es geht
vielmehr darum, den marktwirtschaftlich günstigsten
Weg zu finden, notwendige Projekte zu realisieren.
Ein Beispiel ist das CO2-Gebäudesanierungsprogramm, das den Zweck hat, die Energieeffizienz zu erhöhen, das heißt im Wesentlichen natürlich Energie zu
sparen. Das ist eine wichtige umweltpolitische und wirtschaftspolitische Maßnahme, die zusätzlich gerade der
mittelständischen Wirtschaft und den Handwerkern zugute kommt, Arbeitsplätze schafft und Arbeitsplätze sichert.
({2})
„Reformieren, investieren, Zukunft gestalten“ heißt
natürlich auch, die Probleme jetzt zu lösen und nicht in
die Zukunft, auf die nächste Generation, zu verschieben.
Anders formuliert: Politik muss endlich wieder das Zukunftsinteresse vor das Gegenwartsinteresse stellen. Das
ist für die meisten Menschen in unserem Land überhaupt
nichts Unübliches. Der viel strapazierte Satz „Ich will,
dass es meinen Kindern einmal besser geht“ ist genau
der Kern der Aussage „Zukunftsinteresse vor Gegenwartsinteresse stellen“.
({3})
Das heißt, die Politik muss mit den Rahmenbedingungen
dafür sorgen, dass Wachstum und Beschäftigung ein
Niveau erreichen, das weiterhin breitestmöglich Wohlstand und Sicherheit garantiert.
({4})
Deswegen ist ausdrücklich zu begrüßen, dass der
Wirtschaftsminister die Förderpraxis der EU kritisiert.
Arbeitsplatzverlagerung innerhalb Europas, mit Steuergeldern finanziert, hat nichts mit Wettbewerb zu tun,
sondern ist das genaue Gegenteil davon.
({5})
Der Bundesminister hat in seiner Rede die Energiepolitik thematisiert. Er hat vom ausgewogenen Energiemix gesprochen und zu Recht auf die Erwartung der Verbraucher hingewiesen, dass Versorgungssicherheit und
wettbewerbsfähige Energiepreise von der Politik mit zu
garantieren sind. Gerade die jüngsten Erfahrungen, die
auch in Deutschland einen neuen Prozess des Nachdenkens über die hohe Importabhängigkeit Deutschlands bei
Energieträgern angestoßen haben, sollten uns dazu veranlassen, über die getroffene Entscheidung zum Ablauf
des so genannten Atomausstiegs, das heißt über das Ob
und das Wie, neu nachzudenken. Denkverbote dürfen
hier nicht erteilt werden. Deswegen ist es sinnvoll, zum
kommenden Energiegipfel alle Chancen und Risiken,
auch die der bisher getroffenen Entscheidungen zum
Energiemix, neu zu überprüfen.
({6})
- Herr Kollege Dr. Wend, ich will nicht auf die Ausführungen Ihrer europäischen Kollegen zurückgreifen; aber
wir können bei Gelegenheit über das diskutieren, was
darüber heute im „Handelsblatt“ steht.
Der Jahreswirtschaftsbericht nimmt umfassend zur
Situation im Mittelstand Stellung. Das BMWi hat eine
Mittelstandsinitiative angekündigt, die für weniger Bürokratie und mehr Flexibilität sorgen soll - eine Maßnahme, die der Mittelstand in Deutschland dringend erwartet. Nach Berechnungen des Instituts der deutschen
Wirtschaft kann Entbürokratisierung bis zu 600 000 neue
Stellen schaffen und einen enormen Wachstumsimpuls
geben.
Auf der Rangliste der ökonomischen Freiheit liegt
Deutschland nur auf Platz 19, weit hinter Ländern wie
England, Holland und Österreich. Gerade die ökonomische Freiheit ist aber wesentlich, um die Chance auf
Selbstständigkeit zu eröffnen. Deshalb ist außerordentlich zu begrüßen, dass die Bundesregierung eine Gründeroffensive startet mit dem Ziel, eine Selbstständigenquote von über 10 Prozent zu erreichen. Darin liegt eine
echte Chance, neue Beschäftigung zu schaffen. Nur Arbeit schafft nämlich Arbeit; die Verteilung von Arbeit
schafft keine Arbeit.
Meine Damen und Herren, der Kollege „roter
Freund“ Stiegler
({7})
- es sind schwarze Brüder und Schwestern und rote
Freunde - hat auf das Unwort des Jahres 2005, „Entlassungsproduktivität“, hingewiesen. Das ist in der Tat
ein Begriff, der auf traurige Weise die Tendenz ausdrückt, dass Unternehmen ihre Produktivität oder ihren
Mehrwert durch Entlassungen steigern.
({8})
Was wir in unserem Land aber brauchen, ist Einstellungsproduktivität. Darum muss es gehen. Denn nur
durch neue Arbeitsplätze wird es wieder stabiles und
langfristiges Wachstum in Deutschland geben. Daran
müssen wir die Rahmenbedingungen ausrichten. Das
Wort des Jahres 2006 muss „Wachstum“ sein.
({9})
Der vorgelegte Jahreswirtschaftsbericht zeigt deutlich
die Anstrengungen des Bundeswirtschaftsministers und
der Bundesregierung. Die Wirtschaft blickt wieder optimistisch in die Zukunft. Die Menschen gewinnen wieder
Vertrauen in die Politik. Ich denke, zusammen sind das
gute Voraussetzungen für mehr Wachstum und Beschäftigung in diesem Jahr.
Danke schön.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Ute Berg, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach den wirtschaftspolitischen Rundumschlägen meiner Vorredner möchte ich mich jetzt auf einen wichtigen
Bereich für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung
Deutschlands konzentrieren, und zwar den Bereich Forschung und Innovationen.
Als Henry Ford junior nach dem Kriegsende 1945 angeboten wurde, das Volkswagenwerk kostenlos zu übernehmen, hat er geantwortet: Nein danke, dieses Auto ist
eine Fehlkonstruktion. - Ich kann nur vermuten, dass er
sich über diese grobe Fehleinschätzung später sehr geärgert hat. Jedenfalls zählt Volkswagen zu den größten Erfolgsgeschichten der deutschen Wirtschaft und die deutsche Automobilindustrie gehört weltweit zu den
innovationsträchtigsten Industrie- und Forschungsbereichen. Wir alle wissen, dass es von unserer Innovationsfähigkeit abhängt, ob wir weiterhin wirtschaftlich erfolgreich und international wettbewerbsfähig sein werden.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat
letztes Jahr eine Studie zur Innovationsfähigkeit
Deutschlands veröffentlicht. Ergebnis: Wir sind gut. Im
Vergleich mit den weltweit führenden Industrieländern
liegen wir im oberen Mittelfeld. Das heißt natürlich, es
gibt noch bessere, auch in Europa. Hier bilden Schweden, Finnland und die Schweiz die Innovationselite. Sowohl bei den Ausgaben für Forschung und Entwicklung
als auch bei der Umsetzung in marktfähige Produkte
sind sie Spitze. Wir müssen also noch zulegen. Wenn wir
unseren hohen Lebensstandard im Vergleich zum Beispiel zu Ländern wie China oder Indien halten wollen,
die ja immerhin mit uns konkurrieren, dann geht das nur
durch die ständige Entwicklung neuer Verfahren, Dienstleistungen und Produkte.
({0})
Was tut die Bundesregierung nun, um die Innovationskapazität der deutschen Wirtschaft zu stärken? Erstens, sie investiert gezielt in Forschung und Entwicklung. Zweitens, sie fördert innovative Unternehmen und
den Austausch zwischen Wissenschaft und Wirtschaft.
Drittens, sie unterstützt eine gute Ausbildung des Nachwuchses.
Wir halten an dem Ziel fest, bis 2010 3 Prozent des
Bruttoinlandsproduktes in Forschung und Entwicklung
zu investieren. Das wurde vorhin schon mehrfach gesagt
und zu den Maßnahmen wurde einiges ausgeführt. Deshalb kann ich das jetzt beiseite lassen.
Wichtig ist aber auch: Wir unterstützen nicht nach
dem Gießkannenprinzip, sondern fokussieren unsere
Forschungsförderung auf bestimmte zukunftsträchtige
Schwerpunkte wie zum Beispiel Verkehr und Raumfahrt, Energie und Nachhaltigkeit sowie Nanotechnologien, um hier nur einige Beispiele zu nennen. Damit
setzen wir die erfolgreiche Forschungspolitik der Vorgängerregierung fort.
So wichtig es nun ist, dass geforscht wird, so wichtig
ist es aber auch, dass die Erkenntnisse aus der Forschung
ihren Weg in die Wirtschaft finden.
Ein Beispiel. Die Firma Sto AG aus Stühlingen in Baden-Württemberg hat eine Wandfarbe entwickelt, die
Gerüche und Schadstoffe aus der Raumluft herausfiltert,
und zwar einfach durch die Einwirkung von Licht. Diese
Entwicklung wäre nicht möglich gewesen ohne die Zusammenarbeit der Firma mit der Uni Erlangen-Nürnberg, die jahrelang an Pigmenten geforscht hat, die organische Stoffe umwandeln können. Bedarf für diese Farbe
besteht an vielen Orten, beispielsweise in Kinderzimmern und in Krankenhäusern. Ich könnte noch weitere
Beispiele nennen.
Innovative Entwicklungen dieser Art als Ergebnis einer guten Zusammenarbeit von Wirtschaft und Wissenschaft werden von der Bundesregierung seit Jahren intensiv gefördert. Zu nennen sind beispielsweise
Programme wie Pro Inno, durch das seit 1999 über 5 000
kleine und mittelständische Unternehmen unterstützt
wurden. Herr Lafontaine, in unserem Land gibt es doch
noch ein bisschen Sonne, was die Wirtschaft angeht.
({1})
Speziell für die neuen Länder hat die letzte Bundesregierung die Programme Inno-Watt und NEMO ins Leben
gerufen. Eines von vielen erfolgreichen Beispielen ist
das Innovationsnetzwerk Augenoptik Rathenow in Brandenburg, das im Rahmen von NEMO gefördert wird.
Dort haben sich 15 kleinere Firmen der Optikbranche
zusammengeschlossen, um gemeinsam technische Entwicklungen voranzubringen. Sie arbeiten zusammen mit
einem Fraunhofer-Institut und mit Fachhochschulen aus
der Region. Sie stellen gemeinsame Systemkataloge zusammen, vermarkten Brillengläser, Mikroskope und Präzisionsmaschinen. Mitte der 90er-Jahre gab es dort
250 Beschäftigte. Inzwischen sind dort über 1 000 zusätzliche Arbeitsplätze entstanden.
({2})
Dieses Beispiel zeigt, wie sehr sich Investitionen lohnen, wenn sie gezielt eingesetzt werden, zum Beispiel
zum Aufbau von Netzwerken, so genannten Clustern,
die eine enorme Wachstumswirkung entfalten können.
Investitionen dieser Art tragen, nebenbei bemerkt, zu ihrer eigenen Refinanzierung bei.
Damit aber solche Projekte gelingen, braucht man
Menschen mit Erfindergeist, mit Wagemut und - last,
but not least - mit einer guten Ausbildung, und zwar
von Anfang an: über den Kindergarten, die Schule bis
hin zum Berufsbildungs- oder Hochschulabschluss.
Auch wenn wir hier den Jahreswirtschaftsbericht diskutieren, ist es mir wichtig, diesen Zusammenhang noch
einmal explizit zu betonen: Gute Bildungspolitik ist immer eine Grundvoraussetzung für eine gelungene Wirtschafts- und Technologiepolitik.
({3})
In diesem Bereich haben wir, wie wir aus internationalen
Studien wissen, noch einen gewissen Optimierungsbedarf.
Vielen Dank.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Ortwin Runde, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Positionswechsel sind schon mehrfach
angesprochen worden. Es ist in der Tat erstaunlich, wie
schnell und reibungslos einige einen solchen Wechsel
vollziehen. Andere wiederum haben ihre Schwierigkeiten damit.
Was die Positionswechsel angeht, freue ich mich
durchaus, dass die Zahl derjenigen, die an die Bewältigung der Probleme optimistisch gestaltend herangehen
- in diesem Punkt kann ich für mich eine gewisse Kontinuität in Anspruch nehmen -, gewaltig zugenommen
hat.
({0})
Dass sich einige aufgrund der Positionswechsel ein wenig einsam fühlen, Herr Brüderle, kann ich nachempfinden.
Ich möchte bei dieser Diskussion darauf hinweisen,
dass sich auch Positionen inhaltlicher Art verändert haben. Ich habe unsere Diskussion über den europäischen
Stabilitäts- und Wachstumspakt aus dem letzten Jahr
und unsere Diskussion über die Frage, wie man damit
umgeht, noch gut in Erinnerung. Ich kann mich auch
noch gut an die verschiedenen Defizitprognosen erinnern.
Wir können nun resümieren. Herr Kampeter lag mit
seiner Prognose bei über 40 Milliarden Euro. Am Ende
waren es 31 Milliarden Euro. Das ist ja ein Unterschied.
Daraus ziehen einige in Bezug auf den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt den Schluss - gerade aus
der Wissenschaft, in der es sehr unterschiedliche Denkschulen gibt -, dass es angesichts einer Defizitquote von
3,4 Prozent anstatt von 3,9 Prozent, die von der Regierung ursprünglich nach Brüssel gemeldet wurden, ein
Leichtes wäre, eine Quote von 3 Prozent schon in 2006
zu erreichen. Ich muss sagen, dass wir diese Diskussion
nicht in der Koalition führen, sondern es sich dabei um
eine Randbegleitung durch die Wissenschaft handelt.
Das macht die Veränderung in den gesamten Einstellungen deutlich.
({1})
Ich habe natürlich immer ein bisschen den Verdacht,
dass auch die FDP diese Diskussion führen möchte. Nun
muss man sich vorstellen: Die Defizitquote um 0,4 Prozentpunkte reduzieren zu wollen, klingt wenig, bedeutet
aber: Jede Reduzierung um 0,1 Prozentpunkt erfordert
Einsparungen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro. Bei
0,4 Prozentpunkten müsste man also 10 Milliarden Euro
einsparen. Herr Brüderle ist immer gut im ganz Abstrakten; er fordert allgemein die Entlastung der Bürger. Konkret wird er aber nie.
({2})
Bezogen auf den Bundeshaushalt bedeuten Einsparungen natürlich, den Zusammenhang von abstrakter
Ökonomie und Gesellschaftspolitik herzustellen. Dann
ist man sehr schnell bei der Frage: Wen trifft es? Man
sieht, die Hauptausgabenblöcke liegen bei den Renten
und Ähnlichem.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Brüderle?
Immer. Das belebt das Geschäft.
Lieber Kollege Runde, wir haben uns als kleine Oppositionspartei sehr viel Mühe gemacht - wir haben ja
nicht wie der Finanzminister einen Apparat von ein paar
Tausend Beamten, die ihm zuarbeiten können -, haben
ein Sparbuch mit Einsparmöglichkeiten in Höhe von
30 Milliarden Euro vorgelegt und damit die Finanzierung unseres Steuerkonzeptes offen dargelegt. Das hat
keine andere Partei gemacht.
({0})
Statt uns zu loben, kritisieren Sie uns nun. Sie sollten
dankbar sein für unsere Hilfestellung.
Sie zu loben, würde mir leichter fallen,
({0})
wenn Ihre Konzepte wirklich politiktauglich wären.
Wenn man Ihre Steuerkonzepte anschaut, stellt man fest,
dass Ihre Partei die Handlungsunfähigkeit des Staates
herbeiführen will.
({1})
Wenn ich mir ansehe, zu welchen Einnahmeausfällen
Ihre Steuerkonzepte führen würden, dann kann ich nur
sagen: Das ist nicht verantwortbar.
({2})
Dass die große Koalition die Handlungsfähigkeit des
Staates sicherstellen will, ist eine der Veränderungen, die
im Koalitionsvertrag deutlich wurde und die in den letzten Wochen und Monaten schon in ersten Gesetzen umgesetzt wurde.
Ich erinnere mich an jede Sitzung im Finanzausschuss, in der wir über den Abbau der Eigenheimzulage
und die Abschaffung von Verlustzuweisungsgesellschaften diskutiert haben. Ihre Vertreterinnen und Vertreter
sagten immer: Das alles darf nicht jetzt sein,
({3})
sondern erst dann, wenn eine große Steuerentlastung
kommt.
({4})
Insofern haben Sie dies faktisch immer verhindert.
({5})
Meine Damen und Herren, ich finde es schon richtig,
dass die Bundesregierung, bezogen auf das Jahr 2006,
sagt: Wir können die Stabilitäts- und Wachstumskriterien nicht erfüllen.
({6})
Wir werden sie in 2007 erfüllen. - Dies scheint mir, auch
konjunkturpolitisch, ein richtiger Ansatz zu sein.
({7})
Das ist auch für die wirtschaftliche Entwicklung von entscheidender Bedeutung.
Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage,
diesmal vom Kollegen Schäffler?
Natürlich, gern.
Herr Runde, ist Ihnen bekannt, dass wir dem Gesetz
zur Verlustzuweisungsverrechnung zugestimmt haben
und das von Ihnen angesprochene Gesetz unsere Zustimmung gefunden hat?
Mir ist bekannt, dass Sie am Ende der Begrenzung der
Verlustzuweisungsverrechnung zugestimmt haben. Aber
ist Ihnen bekannt, dass Sie immer die Argumentationslinie hatten: „Wir können dort keine Subventionen abbauen, weil das im Grunde genommen eine verdeckte
Steuererhöhung ist, solange wir auf der anderen Seite
keine Senkung der Steuersätze haben“? Das ist doch Ihr
Argumentationsmuster. Ist Ihnen das bekannt?
({0})
Auch finde ich es richtig, dass die Bundesregierung in
dieser schwierigen Haushaltssituation ein Programm mit
Wachstumsimpulsen verabschiedet. Das Wachstumsimpulsprogramm, das 3 Prozent für Forschung und
Entwicklung vorsieht, wirkt über eine längere Zeit. Darauf hat Frau Berg bereits hingewiesen.
Über das Programm zur energetischen Gebäudesanierung freuen sich auch die Grünen. Dass wir es in dieser
Größenordnung nicht gemeinsam hinbekamen, ist
schade; daher ist es umso schöner, dass es jetzt möglich
war. Es hat im Bereich der Energie- und Materialeffizienz sehr viel mit den Herausforderungen zu tun, vor
denen wir stehen, wenn wir zukunftsorientiert handeln
wollen. In diesen Bereichen sehe ich in der Tat weltwirtschaftlich bedrohliche Entwicklungen.
Das sind bezogen auf die Prognosen des Jahreswirtschaftsberichts Punkte, die als Risiken einzuschätzen
sind. Dazu gehört im Übrigen auch das Verhalten der
Europäischen Zentralbank, das von ganz entscheidender
Bedeutung sein wird.
Ich halte das Wachstumsimpulsprogramm für richtig. Dabei wird häufig nach der Größenordnung gefragt. Wenn man die Umrechnung in D-Mark vornimmt,
sieht man, dass sich die Größenordnung alten Gewerkschaftsvorstellungen annähert. Durch die Umstellung
von D-Mark auf Euro kommt es gelegentlich zu einem
subjektiv falschen Eindruck. Ich möchte darüber hinaus
festhalten, dass es zu Multiplikatoreffekten in großem
Ausmaß kommt.
Ich finde es gut, dass man den Bereich der Abschreibungen als konjunkturpolitisches Instrument wieder entdeckt hat. Dass der alte Schiller wieder aufersteht, kann
in der Diskussion über die Ökonomie,
({1})
die wir zurzeit führen, nicht schaden.
({2})
Dass wir bei der Herstellung der Handlungsfähigkeit
der verschiedenen staatlichen Ebenen ein Stück vorangekommen sind, macht die Entwicklung des Gewerbesteueraufkommens deutlich. Vor einem Jahr hätte niemand
zu prognostizieren gewagt, dass es im Jahr 2005 ein
Aufkommen in Höhe von vielleicht sogar 33 Milliarden
Euro geben wird. Das ist erfreulich, weil wir damit auch
die Investitionskraft der öffentlichen Hände stärken. Bei
der Überwindung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten
wird es bezüglich der Investitionen in die Infrastruktur
darauf ankommen, die verschiedenen staatlichen Ebenen
miteinander zu verknüpfen, aber auch handlungsfähig zu
machen.
({3})
Das scheint ein ganz bedeutsamer Faktor zu sein. Es
geht also nicht nur um die Frage, wie man bezüglich der
Konsolidierung der Finanzen zu einem Pakt zwischen
Bund, Ländern und Kommunen kommen kann; vielmehr
ist auch in den Bereichen „wirtschaftliche Impulse“ und
„Investitionen“ gemeinsames Handeln erforderlich. Das
scheint mir ganz entscheidend zu sein, wenn wir über
das, was die Bundesregierung prognostiziert hat - sie
geht von einem Wachstum in Höhe von 1,5 bzw., spitz
gerechnet, 1,4 Prozent aus -, hinauskommen wollen.
Unter Berücksichtigung der Stimmung in der Wirtschaft und in der Annahme, dass auch andere Elemente
mitwirken werden, gehe ich davon aus, dass wir eine höhere Wachstumsrate erreichen können. Es wäre gut, wenn
wir zum Jahresende unser Hauptziel, die Herstellung von
Beschäftigung bzw. den Abbau von Arbeitslosigkeit in einer Größenordnung von mehr als 350 000, erreichen
könnten.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 16/450 und 16/65 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung
- Drucksache 16/429 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Soziales Franz Müntefering.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben in der Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht eine Menge zur Entbürokratisierung gehört. Mit
diesem Gesetzentwurf zum Saison-Kurzarbeitergeld
tragen wir zur Entbürokratisierung bei. Bisher werden in
vielen Branchen im Winter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entlassen und zum Frühjahr wieder eingestellt. Das ist für die Betriebe ebenso wie für die betroffenen Menschen eine schwierige Prozedur. Nicht immer
findet man die, die man im Dezember oder Januar entlassen hat, im März wieder.
Wir wollen mit dem Gesetzentwurf, der heute zur ersten Lesung vorliegt, für die Zeit von Dezember bis März
eine vernünftige und weniger bürokratische Regelung
als die, die es bisher gegeben hat, schaffen. Wir kennen
das Problem aus der Baubranche. Aber nicht nur in der
Baubranche werden witterungsbedingt um die Jahreswende herum die Aufträge weniger, sodass Menschen
entlassen werden müssen. Bis 1995 gab es das Schlechtwettergeld; dann wurde es abgeschafft. Danach hat man
mit anderen Regelungen versucht, eine Lösung zu finden. Das hat aber nie so ganz richtig geklappt.
Jetzt hat es Gespräche mit beiden Seiten der Tarifparteien gegeben. Man hat eine Vereinbarung getroffen, die
sich in diesem Gesetzentwurf niederschlägt. Unser Vorschlag findet große Zustimmung - nicht von allen, das
ist wahr - vor allen Dingen beim Zentralverband des
Deutschen Baugewerbes, der ausdrücklich das lobt, was
wir in Gesetzesform zu fassen versuchen.
Wir wollen das Sondersystem der Winterbauförderung fortentwickeln und in das System des Kurzarbeitergeldes integrieren. Danach werden die Menschen zwischen dem 1. Dezember und dem 31. März nicht
entlassen, sondern bleiben bei dem Betrieb beschäftigt
und bekommen Kurzarbeitergeld in Höhe von 60 Prozent ihres bisherigen Lohnes. Wer ein Kind hat, bekommt 67 Prozent. Am 1. April beginnt wieder das normale Beschäftigungsverhältnis. Während dieser Zeit
zahlt der Arbeitgeber keinen Lohn, aber Sozialversicherungsbeiträge von 80 Prozent des bisherigen Lohns. Er
zahlt Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge. Das macht
in der Summe ungefähr 30 Prozent des Lohns aus, den er
zuvor gezahlt hat. Der Arbeitgeber hat während dieser
Zeit jemanden bei sich beschäftigt, der aber nicht arbeitet, der auch keinen Lohn bekommt, für den er aber Sozialversicherungsbeiträge zahlt.
Die Frage ist, in welcher Größenordnung dies angenommen wird. Wir sehen auch, dass dies wahrscheinlich
nicht sehr viele sein werden. An dieser Stelle fängt es an,
richtig interessant zu werden. Jetzt geht es um die Frage,
ob die Tarifparteien zur Finanzierung der ergänzenden
Leistungen an Arbeitnehmer bei Nutzung beispielsweise
von im Laufe des Jahres angesparten Arbeitszeitguthaben zur Überbrückung von Ausfallstunden eine branchenspezifische Umlage vereinbaren, um daraus ein vernünftiges System zu machen.
Unsere Vorschläge sind nicht zwingend, nicht für die
Baubranche und nicht für andere Branchen. In der Baubranche jedoch gibt es eine solche Vereinbarung. Alle
Branchen - dazu gehört beispielsweise auch die Landund Forstwirtschaft -, die Vereinbarungen zu einer solchen Umlage treffen, können das System, das wir anbieten, dann in vernünftiger Weise nutzen.
Wenn die Tarifparteien - das ist mit ihnen besprochen
worden - solche Umlagesysteme einführen, passiert im
Wesentlichen dreierlei:
Erstens. Der Arbeitgeber muss nicht mehr die Sozialversicherungsbeiträge in voller Höhe zahlen, sondern
nur noch einen ganz kleinen Rest davon. Das macht die
Sache für ihn hoch attraktiv. Er kann seine Mitarbeiter
weiterbeschäftigen, braucht sie nicht zu entlassen, er hat
Aufwand für Bürokratie gespart, muss für sie nicht zahlen und spätestens zum 1. April sind die Betreffenden
bei ihm wieder voll tätig.
Zweitens gibt es ein Zuschuss-Wintergeld. Das ist ein
Bonus in Höhe von bis zu 2,50 Euro für jede Stunde, die
aus einem Arbeitszeitguthaben eingebracht und im Winter zur Vermeidung von Arbeitsausfällen genutzt wird.
Das ist eine flexible Arbeitszeitregelung. Das heißt, auf
Arbeitszeitguthaben, die sich im Verlauf des Jahres aufgebaut haben, kann im Winter zurückgegriffen werden.
Dafür gibt es einen Zuschuss von bis zu 2,50 Euro pro
Stunde.
Drittens gibt es ein Mehraufwands-Wintergeld. Das
ist ein Bonus in Höhe von 1 Euro für jede in der Förderzeit geleistete Arbeitsstunde, in der Summe jedoch für
nicht mehr als 450 Stunden. Dagegen ist das ZuschussWintergeld eine Vergünstigung für diejenigen, die ihr
Arbeitszeitguthaben in der Zeit aufbrauchen. Beim
Mehraufwands-Wintergeld geht es um die geleisteten
Stunden.
Um die Kombination dieser drei Möglichkeiten - der
Arbeitgeber zahlt keine Sozialversicherungsbeiträge
mehr; es gibt einen Zuschuss für den Einsatz des zuvor
aufgebauten Arbeitszeitguthabens und es gibt 1 Euro zusätzlich für jede in der Zeit von Dezember bis März geleistete Stunde - geht es.
Ich sage noch einmal ausdrücklich: Das ist keine
Zwangsveranstaltung für die eine oder andere Branche,
sondern ein Angebot für die Tarifparteien auf beiden
Seiten. Hier handelt es sich um eine Triparität - falls es
so etwas gibt; das wurde mir zumindest so aufgeschrieben, deshalb gebe ich das hier gerne weiter -: Es gibt
drei Handelnde, Arbeitgeber, Arbeitnehmer und den
Staat, also die Arbeitsverwaltung. Es liegt an den beiden
Tarifparteien, ob sie solche Vereinbarungen treffen.
Wenn sie es tun, dann sind sie in der guten Lage, dass sie
- anders als bisher - die Menschen zu Beginn des Winters nicht mehr entlassen und dann irgendwann später
wieder suchen müssen, um sie einstellen zu können. So
gibt es eine größere Sicherheit für alle Beteiligten.
Ich glaube, das ist eine insgesamt vernünftige, bürokratiefreundliche und auch arbeitgeber- wie arbeitnehmerfreundliche Regelung, die wir hier eröffnen. Ich bitte
um Unterstützung.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Jörg Rohde, FDPFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Für die Fraktion der FDP begrüße ich die
Zielsetzung des heute vorgelegten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung. Wir werden konstruktiv an der Diskussion zu diesem Gesetz teilnehmen.
({0})
Das Saisonkurzarbeitergeld soll die bisherige Winterbauförderung ablösen, wobei die neue Leistung nicht auf
die Baubranche beschränkt wird, sondern für weitere
Saisonbranchen geöffnet werden soll.
({1})
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales erwägt nunmehr, Wirtschaftszweige auch ohne deren Zustimmung einzubeziehen. Dies ist nicht akzeptabel.
({2})
Mit der Finanzierung der Sozialversicherungsbeiträge
für Saisonkurzarbeitergeld im Wege eines Umlageverfahrens oder einer Direktzahlung an die Bundesagentur
für Arbeit sind zusätzliche Belastungen verbunden. Dies
gilt vor allem für Arbeitgeber der Branchen, die bisher
nicht über ein Umlageverfahren wie das der Baubranche
verfügen. Je nach Situation der Branche bestünde dadurch die Gefahr, dass - statt Saisonarbeitslosigkeit zu
verhindern - vielmehr durch vermehrte Firmenpleiten
Arbeitsplätze dauerhaft in Gefahr geraten. Das wäre natürlich absolut kontraproduktiv.
({3})
Durch die Ausweitung des Anwendungsbereiches
des neuen Gesetzes über Verordnungen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales dürfen Tarifvertragsparteien nicht die Anreize genommen werden,
ganzjährige Beschäftigung selbstständig über eine flexible Ausgestaltung der Tarifverträge zu erreichen.
({4})
Für eine Ausweitung über die Baubranche hinaus müssen strenge Maßstäbe gelten.
Einige Passagen des Gesetzentwurfes werfen weitere
Fragen auf, welche wir in den Ausschüssen klären sollten. Wie schon erwähnt ist noch unklar, welche Branchen genau in die neue Leistung des Saisonkurzarbeitergeldes einbezogen werden. Zunächst hieß es in der
Diskussion, dass nur Branchen einbezogen werden, die
dies auch wollen. Im Gesetzentwurf steht nun aber, dass
das Bundesministerium für Arbeit und Soziales durch
Rechtsverordnung die einzubeziehenden Wirtschaftszweige festlegen kann.
({5})
Somit könnte mit der Unterschrift des zuständigen
Ministers eine Branche zum Beispiel auch gegen den erklärten Willen der Arbeitgeber einbezogen werden. Das
allein ist fast schon ein Eingriff in die Tarifautonomie.
Schon der nächste Absatz der Gesetzesvorlage zeigt,
wohin die Reise geht: Das Bundesministerium für Arbeit
und Soziales darf Verordnungen über die Höhe der ergänzenden Leistungen erlassen. Statt dieser Verordnungen sollten wir gemeinsam nach Lösungen suchen, wie
die Tarifpartner auch ohne Herrn Müntefering Vereinbarungen treffen können.
({6})
Ebenfalls müssen wir darauf achten, dass mit der
neuen Förderung keine neuen Belastungen auf die Beitragszahler zur Arbeitslosenversicherung zukommen.
Richtig ist, dass bei Inanspruchnahme von Saisonkurzarbeitergeld anstelle von Arbeitslosengeld die Beitragszahler entlastet werden, weil sie keine Sozialversicherungsbeiträge zu finanzieren haben. Allerdings könnte es
je nach Umfang der Inanspruchnahme des Saisonkurzarbeitergeldes deshalb auch zu Mehrbelastungen kommen.
Einer übermäßigen Inanspruchnahme von Saisonkurzarbeitergeld und der damit einhergehenden Belastung der
Beitragszahler muss deshalb eine wirksame Sperre entgegengesetzt werden.
({7})
Ein Baustein zur Senkung der Belastungen für die
Bundesagentur für Arbeit ist auch die erhöhte Flexibilisierung der Arbeitszeit mit Zeitguthaben von bis zu
150 Stunden statt wie bisher 10 Prozent der vereinbarten
Jahresarbeitszeit.
Wir als Liberale wünschen uns hier noch mehr Freiraum
für die Arbeitnehmer. Schon als Betriebsrat habe ich
mich immer für größere Zeitkorridore ausgesprochen.
({8})
Wie wäre es zum Beispiel mit 250 Stunden? Um die
ganzjährige Beschäftigung der Saisonarbeitnehmer zu
fördern, könnte man auch über negative Zeitguthaben
diskutieren.
Statt des Bezuges von Saisonkurzarbeitergeld nach
Abbau der Arbeitszeitguthaben könnten Arbeitsausfälle
aufgrund schlechten Wetters oder schwacher Auftragslage im Frühjahr durch nachträgliche Überstunden ausgeglichen werden.
({9})
Auch für negative Arbeitszeitguthaben könnte als Anreiz
das Zuschusswintergeld gewährt werden. So kann die
Inanspruchnahme von Saisonkurzarbeitergeld vermieden werden.
({10})
Um das Ziel der Förderung einer ganzjährigen Beschäftigung zu erreichen, ist bei Inanspruchnahme von
Arbeitslosengeld nach Bezug von Saisonkurzarbeitergeld eine Anrechnung vorzusehen. Die Einführung eines Saisonkurzarbeitergeldes darf nicht dazu führen,
dass beitragsfinanzierte Leistungen zeitlich kumuliert in
Anspruch genommen werden können. Dies würde auch
dem erklärten Ziel der Neuregelung, die ganzjährige Beschäftigung zu fördern, widersprechen.
({11})
Ich fasse zusammen: Die FDP unterstützt die Einführung eines Saisonkurzarbeitergeldes, wenn dies zu keinen neuen Belastungen für die Arbeitslosenversicherung
führt und wenn die Entscheidung, welche Branchen einbezogen werden, nicht gegen den Willen der jeweiligen
Arbeitgeberverbände erfolgt.
Herr Müntefering, Sie sagen zwar das Richtige, aber
im Gesetzentwurf steht etwas anderes, etwas, das man
deuten kann.
({12})
Sie zeigen Möglichkeiten auf, während wir wollen, dass
diese Türen gewissermaßen verbarrikadiert werden. Wir
möchten eine stärkere Einbeziehung der Parteien, die die
Verhandlungen führen, und weniger Einflussnahme
durch den Gesetzgeber.
({13})
Da wir für die Gesetzgebung zuständig sind und keine
Tarifverträge aushandeln, sollten wir Obergrenzen setzen, die im Rahmen von Tarifverträgen ausgeschöpft
werden können, statt - wie bei den Zeitguthaben - enge
Obergrenzen einzuführen.
({14})
Wir wünschen uns eine intensive Diskussion und ich
freue mich auf die Beratungen in den Ausschüssen.
Vielen Dank.
({15})
Herr Kollege Rohde, im Namen des ganzen Hauses
herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Ich wünsche Ihnen persönlich und
politisch alles Gute.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe, CDU/
CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung soll ein wesentlicher Beitrag zur Bekämpfung der Winterarbeitslosigkeit, insbesondere in
der Baubranche, geleistet werden. Mit diesem Gesetzentwurf verfolgen wir das Ziel, in der Baubranche und
gegebenenfalls auch in anderen witterungsabhängigen
Branchen eine ganzjährige Beschäftigung zu fördern.
Diese Zielsetzung ist im Interesse der Arbeitnehmer und
im Interesse der Arbeitslosenversicherung, die dadurch
entlastet werden soll. Dies ist im Grundsatz zu unterstützen. Ich bin auch für die Signale aus der Opposition
dankbar, dass wir uns in diesem Ziel, jedenfalls vom
Grundsatz her, einig sind.
Mit diesem Gesetzentwurf werden wir ein neues
Instrument schaffen, das so genannte Saisonkurzarbeitergeld, mit dem wir die bisherige Winterbauförderung
als Spezialfall einer allgemeinen Kurzarbeitergeldregelung ersetzen. Sowohl die bisherige Winterbauförderung
als auch das neue Saisonkurzarbeitergeld ist ziemlich
kompliziert.
Lassen Sie mich darauf hinweisen, worum es dabei
im Wesentlichen geht: Es geht vor allem darum, dass in
der Schlechtwetterperiode, also bei witterungs- und auftragsbedingtem Arbeitsausfall, Saisonkurzarbeitergeld
gezahlt wird; so haben wir es auch im Koalitionsvertrag
festgelegt. Dieses Saisonkurzarbeitergeld wird in derselben Höhe wie das Arbeitslosengeld gezahlt. Aber die
Sozialversicherungsbeiträge müssen vom Arbeitgeber
getragen werden. Zudem soll den Arbeitnehmern aus einer Umlage, die von Arbeitgebern und Arbeitnehmern
zu tragen ist, sowohl ein Zuschuss- als auch ein Mehraufwandswintergeld gezahlt werden.
Auf diese Weise wird die Absicht verfolgt, die ganzjährige Beschäftigung zu fördern: Die betroffenen Arbeitnehmer sollen nach Möglichkeit beschäftigt bleiben,
statt entlassen und zur BA geschickt zu werden, obwohl
sie die Absicht haben, nach der Schlechtwetterperiode
wieder mit ihrem Arbeitgeber zusammenzukommen. Es
soll also vermieden werden, dass sich jemand arbeitslos
meldet, der eigentlich nicht vermittelt werden, sondern
nach der Schlechtwetterperiode zu seinem Arbeitgeber
zurückkehren will; denn das ist nicht sinnvoll. Genau
das soll mit dieser Regelung vermieden werden. Ich
denke, das ist ein vernünftiges und unterstützungswürdiges Anliegen.
({0})
Nun steckt bei diesem Gesetzentwurf wie bei vielen
anderen und wie häufig im Leben der Teufel im Detail.
Natürlich lehrt die Erfahrung, dass am Ende kein Gesetzentwurf genau so aus dem Parlament herausgeht, wie
er hineingegangen ist.
({1})
Gleichzeitig muss man natürlich zur Kenntnis nehmen,
dass die gesetzlichen Regelungen, die wir hier andiskutieren, nicht aus dem luftleeren Raum kommen: Es gibt
eine Vereinbarung der Tarifvertragsparteien in der
Bauwirtschaft, von IG BAU und Bauindustrie, aus dem
Juli letzten Jahres, in der genau diese Regelungen - die
Umlage, das Zuschusswintergeld und auch das Mehraufwandswintergeld - vereinbart worden sind. Über eines
muss man sich im Klaren sein: Eine gesetzliche Regelung, die eine solche Vereinbarung der Tarifvertragsparteien flankieren soll, läuft auf Dauer ins Leere, wenn die
Regelungen, die dort vereinbart sind, nicht kompatibel
sind; wenn sie nicht zusammenpassen, kann das nicht
funktionieren. Es ist sicherlich vernünftig, über die einzelnen dort vereinbarten Regelungen nachzudenken, wie
das Ausfallgeld zur ersten Stunde. Es wird aber nicht
sinnvoll sein, eine gesetzliche Regelung zu machen, die
mit den tarifvertraglich vorhandenen Regelungen nicht
in Übereinstimmung zu bringen ist. Dann läuft das
Instrument ins Leere, dann muss man sagen: Wir wollen
das nicht. - Wir wollen aber ein solches Instrument.
Über die Details wird also zu reden sein, nur der Grundsatz müsste klar sein.
({2})
Da die FDP nun argwöhnt, die Regelung solle anderen Branchen gewissermaßen übergestülpt werden, kann
ich Sie beruhigen: Es ist nicht beabsichtigt, weder von
den Koalitionsfraktionen noch von der Bundesregierung
- ich denke, das darf ich sagen -, hier irgendeine Tarifvertragspartei irgendeiner Branche zwangszubeglücken
mit etwas, was sie überhaupt nicht haben will.
({3})
Wir müssen uns als Gesetzgeber ja mit zwei Dingen
beschäftigen: Einmal damit, dass keine Branche zwangsbeglückt wird, die das gar nicht will. Und selbst wenn
die Tarifvertragsparteien das wollen, darf die Regelung,
die geschaffen werden soll, nicht zulasten Dritter gehen.
Wir haben im Koalitionsvertrag ganz klar festgelegt:
Wir wollen einen kostenneutralen Ersatz für die alte
Winterbauförderung. Deswegen müssen wir uns bei konkreten Vereinbarungen der Tarifvertragsparteien damit
auseinander setzen, ob diese kostenneutral sind. Hier ist
vorgesehen, nach zwei Jahren zu überprüfen, ob unser
Ziel im Rahmen der Vereinbarungen, die die Tarifvertragsparteien geschlossen haben, erreicht worden ist.
Beides muss also zusammenkommen: Es muss eine Vereinbarung beider Tarifvertragsparteien geben, damit ein
solches Instrument angewendet werden kann - die Umlage ist die einzig sinnvolle Voraussetzung dafür, dass so
etwas auch für die Tarifvertragsparteien attraktiv wird -,
und der Gesetzgeber muss sich die Frage stellen, ob er
eine Anwendung auf andere Branchen für sinnvoll hält,
wenn es deren Tarifvertragsparteien tun. Dabei muss er
die Auswirkungen auf die Arbeitslosenversicherung im
Auge haben.
Dieser Regelung liegt die Kalkulation zugrunde, dass
bei etwa 25 Prozent derer, die bisher - trotz Winterbauförderung - saisonbedingt in die Arbeitslosigkeit
gingen, dies künftig vermieden werden kann. Wenn uns
das gelingt, dann werden wir auch in der Lage sein, dieses Instrument kostenneutral zu gestalten; da können Sie
ganz beruhigt sein. Im Detail wird darüber zu reden sein,
wie wir das erreichen können.
Ich will noch einmal deutlich sagen: Entscheidend ist,
dass wir tatsächlich etwas umsetzen. Denn das Problem
brennt wirklich auf den Nägeln. Es kann keinen Sinn
machen, die Menschen regelmäßig - aufgrund absehbarer, saisonaler Probleme - in die Arbeitslosigkeit zu
entlassen, sie für viel Geld zu verwalten und auf bürokratischem Wege wieder aus der Arbeitslosigkeit herauszubringen. Gut wäre es, wenn die Tarifvertragsparteien
dafür einen Vorschlag unterbreiten. Der Gesetzgeber
stellt sich hier nicht an die Stelle der Tarifvertragsparteien, sondern er versucht, die Gesamtinteressen, die er
zu wahren hat, in Einklang zu bringen mit dem, was die
Tarifvertragsparteien vereinbart haben. Auf dem Weg
sind wir und ich denke, wir können ihn im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens weiter erfolgreich beschreiten.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Werner Dreibus, Fraktion
Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Die Fraktionen von CDU/
CSU und SPD bestätigen mit dem vorliegenden Gesetzesvorhaben die Notwendigkeit der Förderung ganzjähriger Beschäftigung. In diesem Ziel sind wir uns einig.
Insofern begrüßen wir vom Grundsatz her den vorgelegten Gesetzentwurf.
Wir müssen allerdings auch feststellen, dass sowohl
CDU/CSU als auch SPD für die derzeitige missliche Situation der Beschäftigten in saisonabhängigen Branchen,
die vom Minister hier völlig zu Recht beklagt worden
ist, durch Entscheidungen in der Vergangenheit wesentlich mitverantwortlich sind:
({0})
Unter Führung von CDU/CSU und FDP wurde mit
dem Schlechtwettergeld ein gut funktionierendes System mit der Begründung abgeschafft, es sei zu teuer und
belaste den Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit zu
sehr. Damals hat Ihre Fraktion, Herr Rohde - das kann
man wunderbar nachlesen; das würde ich Ihnen empfehlen -,
({1})
übrigens keine Rücksicht auf die Tarifautonomie und auf
die Interessen und formulierten Positionen der Tarifvertragsparteien genommen, sondern gegen deren Rat das
Schlechtwettergeld abgeschafft. Was war das Ergebnis? - Das Ergebnis war und ist ein Anstieg bei der saisonalen Arbeitslosigkeit in den Bauberufen. Unter dem
Strich wurden die Beschäftigten und die Bundesanstalt
für Arbeit zusätzlich belastet.
Vor allem die SPD, aber auch die Grünen haben 1995
die Abschaffung des Schlechtwettergeldes lautstark und
völlig zu Recht kritisiert. Während ihrer Regierungsverantwortung in den letzten sieben Jahren hat Rot-Grün
den Missstand dann aber lediglich weiter verwaltet. In
sieben Jahren hat Rot-Grün es nicht fertig gebracht, eine
Absicherung für die Beschäftigten zu schaffen, die im
Prinzip dem alten Schlechtwettergeld entsprochen hätte.
Im Gegenteil: Mit der Hartz-III-Gesetzgebung haben
Sie die Beschäftigten im Baugewerbe deutlich schlechter
gestellt. Ab Februar 2006 könnten die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - es sind überwiegend aber Arbeitnehmer - schrittweise ihre Ansprüche
auf Arbeitslosengeld I verlieren und trotz regelmäßiger
Wiederbeschäftigung zu Beziehern von Arbeitslosengeld II werden. Die Misere, die mit der Abschaffung des
Schlechtwettergeldes unter Schwarz-Gelb eingeleitet
wurde, hat Rot-Grün mit Hartz III ohne Not zugespitzt.
Das alles muss man wissen, wenn sich CDU/CSU und
SPD jetzt mit dem vorliegenden Gesetzentwurf um Abhilfe bemühen.
Ich sage es, um kein Missverständnis aufkommen zu
lassen, noch einmal: Wir begrüßen die Zielsetzung des
Gesetzesvorhabens. Aber die Lernkurve - wir haben
vorhin etwas über die lernende Gesellschaft gehört -,
von der Abschaffung des Schlechtwettergeldes bis zu
seiner Wiedereinführung durch die Hintertür, ist mit
zehn Jahren nach meinem Verständnis deutlich zu lange
ausgefallen.
({2})
Es waren zehn Jahre, in denen das Leben vieler am Bau
beschäftigter Menschen überflüssigerweise dadurch erheblich verschlechtert wurde, dass ihnen die heutigen
Koalitionäre den notwendigen Schutz vor Arbeitslosigkeit im Winter verwehrt haben. Es war und ist falsch,
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bei saisonalen
Auftragsschwankungen betriebsbedingte Kündigungen
zustellen zu lassen. Es war und ist falsch, diese gekündigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer immer
wieder neu zur Agentur für Arbeit zu schicken und Arbeitslosengeld beantragen zu lassen. Es war und ist
falsch, dass die Agenturen für Arbeit gezwungen werden, sich in diesen Fällen mit Arbeitnehmern zu beschäftigen, die weder gefordert noch gefördert werden müssen.
Ihre Arbeitsmarktpolitik gibt vor, dem Leitbild des
Forderns und des Förderns zu folgen. Das ist ein Missverständnis und geht zulasten der betroffenen Menschen.
Weder die Abschaffung des Schlechtwettergeldes noch
die Hartz-Reformen insgesamt folgen tatsächlich diesem Motto. Sie folgen der Maxime des Forderns und
Hoffens. Im Fall der Beschäftigten am Bau haben
Schwarz-Gelb und Rot-Grün in der Vergangenheit die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aufgefordert, sich
ganzjährig um Arbeit zu bemühen, und gleichzeitig gehofft, dass der Winter ausfällt.
({3})
Statt eine solche Fata Morgana zu beschwören und
sich zehnjährige Auszeiten in der Wahrnehmung einfachster Zusammenhänge zu leisten, ist eine den Realitäten angemessene Absicherung der Beschäftigungsrisiken
von saisonabhängigen Beschäftigten notwendig. Das gilt
bei diesem Thema und das gilt für die Arbeitsmarktpolitik als Ganzes. Wir werden uns an dieser Debatte konstruktiv beteiligen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin
der Auffassung, dass Sie mit dem vorliegenden Gesetzentwurf eine richtige Absicht verfolgen.
Natürlich ist es richtig, die Arbeitslosigkeit in wetterabhängigen Branchen reduzieren zu wollen. Das ist gut
für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und natürlich führt dies auch zu einer Arbeitserleichterung bei den
Arbeitsagenturen. Herr Müntefering, nebenbei kommt es
dadurch natürlich auch zu einer positiven Entwicklung
der Arbeitslosenstatistik. Das ist ein schöner Nebeneffekt, der dabei herauskommt.
({0})
Aber sei’s drum, das gönnen wir Ihnen von Herzen; denn
das ist in der Sache ja auch richtig.
Meine Frage aber ist - ganz anders als bei Herrn
Brauksiepe und bei der FDP-Fraktion -: Warum beschränken Sie diese Regelung eigentlich auf die saisonbedingte Arbeitslosigkeit in Wintermonaten? Sie nennen hier ausdrücklich Branchen, die Probleme im Winter
haben: Baugewerbe, Land- und Forstwirtschaft, Baustoffindustrie, Steinmetz-, Bildhauerhandwerk, Maler
und Lackierer.
Offen gestanden finde ich das halbherzig. Ich meine,
dass das Prinzip, das Sie mit diesem Gesetzentwurf verfolgen, richtig ist, frage mich allerdings, warum es nur
um die Monate Dezember bis März geht. Ich weiß, dass
Sie - Frau Merkel hat das immer wieder betont - die
Politik der kleinen Schritte adeln wollen. Aber müssen
es tatsächlich Trippelschritte sein? Wetter ist ganzjährig
und gibt es nicht nur von Dezember bis zur Krokusblüte
im März.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der großen
Koalition, ich weiß, dass Sie am liebsten mit dem Slogan
werben würden: Wenn morgens früh die Sonne lacht,
hat’s die große Koalition gemacht.
({2})
Ich kann Ihnen aber sagen: Schlechtes Wetter - zumal in
unseren Breitengraden - wird selbst dann ein ganzjähriges Phänomen bleiben, wenn Frau Merkel regiert.
Ich finde, es ist ein Problem, dass Sie mit Ihrer Regelung etliche Wirtschaftszweige von vornherein davon
ausschließen, diese Regelung in Anspruch zu nehmen:
zum Beispiel die Gastronomie in Wintersportregionen
sowie Alm- und Gondelbetriebe. Diese bräuchten ein
Kurzarbeitergeld für die Sommersaison. Das ist aber
auf der Grundlage dieses Gesetzes ausdrücklich nicht
möglich.
Interessanterweise handelt es sich dabei um Branchen, in denen überwiegend Frauen beschäftigt sind. Insofern ist es, das muss ich schon sagen, Ausdruck von
fortgeschrittener Geschlechtsblindheit,
({3})
wenn Sie in Ihrem Entwurf auch noch schreiben, dieses
Gesetz habe keine gleichstellungspolitische Bedeutung.
Interessanterweise profitieren von Ihrer Regelung Branchen, in denen fast ausschließlich Männer beschäftigt
sind.
Warum treffen Sie nicht einfach eine Regelung, die
besagt: Wenn jemand acht von zwölf Monaten sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist und alle anderen Voraussetzungen - das betone ich ausdrücklich - ebenfalls
erfüllt sind, dann gilt diese Regelung? Das wäre auch ein
Beitrag zum Bürokratieabbau.
({4})
Das frage ich Sie vor allen Dingen vor dem Hintergrund, dass Sie in Ihrem Gesetzentwurf betonen, mit dieser Regelung könnten circa 25 Prozent der saisonbedingten Entlassungen vermieden werden. Gut so,
sage ich. Ich frage aber: Warum denn nicht auch in anderen Bereichen? In Ihrem Gesetzentwurf werden die Einsparungen für die Bundesagentur für Arbeit und den
Bund betont. Herr Brauksiepe, machen Sie nur weiter im
Schritttempo der 80er-Jahre! Diese Wohltaten können
wir doch auch anderen Branchen gönnen.
({5})
Ich will noch auf einen weiteren Punkt hinweisen, der
mir sehr wichtig ist. Sie wollen mit diesem Gesetzentwurf - das finde ich gut - Anreize schaffen, um Arbeitszeitkonten stärker zu nutzen. Es ist natürlich das Ziel
- das sehen wir genauso -, dass Regelungen in erster Linie darüber und nicht über das „Schlechtwettergeld“ geschaffen werden. Aber in diesem Fall müssen wir diesen
Gesetzentwurf noch ein bisschen nachbessern. Wir müssen dann natürlich sehr viel mehr für eine bessere Insolvenzsicherung bei Arbeitszeitguthaben tun.
({6})
Wie sagte Herr Brauksiepe ganz richtig? Kein Gesetz
kommt aus dem Ausschuss so heraus, wie es dort hineingegangen ist. Darauf setze ich - auf das Prinzip Hoffnung!
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Andreas Steppuhn,
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Die Koalition von CDU/CSU und SPD bringt
heute den Entwurf eines Gesetzes zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung ein. Ziel dieses Zukunftsmodells
ist es, einen wesentlichen Beitrag zur Vermeidung der
Winterarbeitslosigkeit und zur Verstetigung der Beschäftigungsverhältnisse im Bauhaupt- und Bauausbaugewerbe zu leisten.
({0})
Bereits in der 14. Legislaturperiode wurde seinerzeit
ein Gesetz zur Neuregelung der Förderung der ganzjährigen Beschäftigung in der Bauwirtschaft auf den Weg
gebracht. Diese so genannte Winterbauförderung hat bereits nachweislich einen aktiven Beitrag zur Vermeidung
der Winterarbeitslosigkeit geleistet. Aufgrund dieser
positiven Erfahrungen soll nun das bislang einzig auf die
Bauwirtschaft beschränkte Fördersystem nicht nur weiterentwickelt, sondern auch auf weitere Branchen mit
saisonbedingten Arbeitsausfällen ausgeweitet werden.
Wir erfüllen damit eine Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist vom zuständigen
Bundesministerium für Arbeit und Soziales unter Einbeziehung - der Minister hat das schon gesagt - einer so
genannten Triparität mit den Tarifvertragsparteien des
Baugewerbes erarbeitet worden und wird auch nach Expertenmeinungen einen wichtigen Beitrag dazu leisten,
dass Winterarbeitslosigkeit zukünftig vermieden wird.
Die Tarifvertragsparteien des Baugewerbes haben sich
im Ergebnis ihrer Tarifpolitik auf ein umlagefinanziertes System verständigt, in dem sich sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber finanziell engagieren.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf können wir davon ausgehen, dass bereits im kommenden Winter die
Winterarbeitslosigkeit in der Bauwirtschaft spürbar gesenkt werden kann.
({1})
Dieses beschriebene Zukunftsmodell soll auch auf weitere Branchen, in denen saisonbedingte Arbeitslosigkeit
in den Wintermonaten bislang gang und gäbe war, ausgeweitet werden. Konkret haben wir beispielsweise das
Maler- und Lackiererhandwerk, die Baustoffindustrie,
die Land- und Forstwirtschaft, aber auch kleinere Bereiche wie das Steinmetz- und Steinbildhauerhandwerk im
Blick.
Die Einbeziehung von weiteren Branchen ist denkbar und kann im Wege von Rechtsverordnungen erfolgen; das ist gesagt worden. Voraussetzung ist aber, dass
es allgemein verbindliche Tarifverträge gibt, auf die sich
die Tarifvertragsparteien verständigen.
({2})
- Voraussetzung ist - ich sage das noch einmal -, dass
die Tarifvertragsparteien einen entsprechenden Tarifvertrag vereinbaren. Alles andere macht keinen Sinn. Von
daher sind wir da sehr nahe beieinander.
Die künftige Förderung wird in das System des Kurzarbeitergeldes integriert. Das bedeutet: Das neu eingeführte
Saison- und Kurzarbeitergeld wird nunmehr bei einem
saisonbedingten Arbeitsausfall gewährt. Anspruch auf
Entgeltersatz haben Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in den Wintermonaten von Dezember bis März. Die
Bundesagentur - das ist bereits genannt worden - zahlt
aus Beitragsmitteln 60 Prozent bzw., bei mindestens einem Kind, 67 Prozent der pauschalierten Nettogeldeinbußen. Hinzu kommt, dass Arbeitgeber von der Pflicht
zur Entgeltfortzahlung erheblich entlastet werden. Kündigungen im Winter werden sich zukünftig nicht mehr
lohnen. Den Mehrausgaben der Bundesagentur für das
neu eingeführte Saison- und Kurzarbeitergeld wiederum
stehen Einsparungen bei den Ausgaben für das Arbeitslosengeld gegenüber.
Wichtig ist auch, zu betonen, dass durch den Fortbestand der Beschäftigungsverhältnisse die Arbeitsagenturen durch entfallende Arbeitslosmeldungen und
entfallende Bearbeitung von Leistungsanträgen in erheblichem Maße entlastet werden.
({3})
Darüber hinaus entsteht der positive Effekt - ich halte
dies auch für sozial gerecht -, dass Bauarbeitnehmer
trotz einer regelmäßigen Beschäftigung in zwei aufeinander folgenden Jahren nicht mehr wie bisher unter
eine jährliche Beschäftigungszeit von acht Monaten
kommen und somit nicht mehr Gefahr laufen, irgendwann ins Arbeitslosengeld II mit allen damit verbundenen Konsequenzen abzurutschen. Denn sie gehen doch
fast das ganze Jahr über einer regelmäßigen Tätigkeit
nach.
({4})
Lassen Sie mich als jemand, der selbst den Beruf des
Betonbauers erlernt und zehn Jahre seines Berufslebens
auf Baustellen verbracht hat, eine persönliche Anmerkung machen. In dieser Zeit gab es - die Älteren unter
Ihnen wissen das noch - eine so genannte Schlechtwettergeldregelung, die schon angesprochen wurde. Diese
Regelung wurde seinerzeit vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl - insbesondere auch auf Drängen der
FDP in diesem Hause - abgeschafft. Es war eine Zeit, in
der ich selber nie im Winter arbeitslos geworden bin. In
der heutigen Situation hat jedoch ein Großteil der Bauleute Erfahrungen mit der Winterarbeitslosigkeit gemacht. Dies soll mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
wieder anders werden.
({5})
Ich danke insbesondere den Tarifvertragsparteien
- der IG Bauen-Agrar-Umwelt, dem Hauptverband der
Deutschen Bauindustrie und dem Zentralverband des
Deutschen Baugewerbes, aber auch dem Bundesarbeitsminister, Franz Müntefering -, dass es gelungen ist,
heute dieses zukunftsträchtige Gesetz auf den Weg zu
bringen.
({6})
Die Tarifvertragsparteien im Baugewerbe haben bereits die notwendige tarifpolitische Flankierung des Gesetzes vorgenommen. Wir wollen jetzt, dass eine
schnellstmögliche Umsetzung erfolgt, wie es auch im
Koalitionsvertrag festgeschrieben ist. Ich bitte Sie daher
um die Überweisung des Gesetzentwurfes in den Ausschuss für Arbeit und Soziales. Es geht darum, diesen
Gesetzentwurf im Interesse der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer wie auch im Interesse der Unternehmen
im weiteren Gesetzgebungsverfahren möglichst zügig zu
beraten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Herr Kollege Steppuhn, auch Ihnen herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede. Ich wünsche Ihnen im Namen des ganzen Hauses persönlich und politisch alles
Gute.
({0})
Bevor ich dem Kollegen Peter Rauen das Wort erteile,
gratuliere ich Ihnen, Herr Kollege Rauen, recht herzlich
zu Ihrem heutigen Geburtstag und wünschen Ihnen Gesundheit und Glück.
({1})
Sie haben das Wort.
({2})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst
herzlichen Dank für den Glückwunsch zu meinem
61. Geburtstag. Das Thema der ganzjährigen BeschäftiPeter Rauen
gung am Bau, das wir heute beraten, ist so alt wie mein
Berufsleben. Ich erinnere mich daran, dass ich vor fast
genau 40 Jahren mein Ingenieurexamen gemacht und
das Bauunternehmen meines Vaters übernommen habe.
Das Schlechtwettergeld gab es seit 1970. Zuvor sind
die Leute im Winter stempeln gegangen, wie es damals
genannt wurde. Das hörte mit der Einführung der
Schlechtwettergeldregelung auf. Aber seitdem hat sich
im Baugewerbe folgende Situation ergeben: In den Monaten Dezember, Januar, Februar und März werden rund
280 000 Personen arbeitslos. Das ist die doppelte Anzahl
derer, die im normalen Jahresschnitt arbeitslos werden.
Diese Arbeitslosigkeit entsteht also witterungsbedingt.
Das hängt auch zum Teil mit den Auftragsbedingungen
zusammen, weil die Auftragslage in der Baubranche im
Winter schlechter ist als sonst. Insofern gibt es allen
Grund, zu überlegen, wie ganzjährige Beschäftigung in
solchen witterungsabhängigen Branchen erreicht werden
kann.
Ich kann Sie beruhigen, Frau Pothmer: Das Gesetz ist
nicht nur für Männer gedacht. Es richtet sich im Kern an
alle, die in Branchen arbeiten, in denen diese Problematik saisonbedingt im Winter auftritt. Es ist wichtig, dies
festzuhalten.
Herr Rohde, Ihre Sorge, dass der Minister diese Regelung durch eine Rechtsverordnung auf andere Branchen
ausdehnen könnte, teile ich insofern nicht, als die Tarifpartner erst einmal einen Tarifvertrag abschließen und
gemeinsame Kassen einführen müssen. Erst dann kann
die Regelung auf diese Branchen ausgedehnt werden.
Auch das muss berücksichtigt werden. Denn nach derzeitigem Stand kann die Regelung in der Baubranche nur
hinsichtlich der seit Anfang der 70er Jahre bestehenden
gemeinsamen Kasse der Tarifpartner angewandt werden.
({0})
- Ja, das gehört dazu. Denn ich bin dafür, dass wir das
Thema ganz entspannt angehen.
Oberstes Ziel der Regierung ist es, mehr Arbeitsplätze, vor allen Dingen mehr ordentliche Beschäftigungsverhältnisse, also mehr sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze, zu schaffen; denn sonst sind alle
anderen Probleme nicht zu lösen. Die Saisonarbeitslosigkeit muss daher beseitigt werden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Rohde?
Ja, gerne.
Herr Rohde, bitte.
Kollege Rauen, was uns misstrauisch macht, ist, dass
auch dann, wenn die Tarifvertragsparteien kein Umlageverfahren in Gang setzen, Zahlungen an die Bundesagentur für Arbeit geleistet werden können. Ich kann mir
vorstellen, dass es dann zu einem Henne-und-Ei-Problem kommt. Erst kommt die Verordnung und dann sagen die Gewerkschaften: Liebe Tarifvertragsparteien,
setzt doch jetzt, wo es möglich ist, ein Umlageverfahren
in Gang. - Wir sehen die Gefahr und betrachten das deswegen sehr kritisch. Stimmen Sie mir darin zu?
Herr Rohde, darüber müssen wir im Gesetzgebungsverfahren sprechen. Ich habe aber den Eindruck, dass
unser Arbeitsminister niemanden über den Tisch ziehen
will und dass man das, was er sagt, so nehmen kann, wie
er es gemeint hat, nämlich dass erst die Tarifvertragsparteien entscheiden müssen, bevor die Regelung betreffend
die Winterbauförderung in Kraft gesetzt wird. Wir sollten hier kein Misstrauen aussprechen. Das ist ein sehr
praxisbezogenes Thema.
({0})
Über den vorliegenden Gesetzentwurf kann man nur
seriös beraten, wenn man in die Details geht und sich die
Praxis in der Vergangenheit genau anschaut. Es gibt in
diesem Zusammenhang einen Punkt, den ich ansprechen
möchte. Als 1996 das Schlechtwettergeld wegfiel - übrigens auch auf Druck anderer Branchen, die gefragt haben, warum das Baugewerbe privilegiert ist; das sollte
man wissen -, mussten die Arbeitnehmer zunächst
50 Stunden einbringen, bevor ihnen aus der Umlage der
Schlechtwettergeldausfall bis zur 130. Stunde bezahlt
wurde. Erst dann hat das Arbeitsamt gezahlt. Das wurde
im Juni 1999 geändert. Seitdem müssen die Arbeitnehmer
30 Stunden einbringen. Von der 31. bis zur 100. Stunde
wird aus der Umlage gezahlt. Ab der 101. Stunde zahlt
dann das Arbeitsamt und die Arbeitgeber zahlen die Sozialbeiträge. Das führt aber dazu, dass viele Unternehmer - weil ihnen, wie vom Minister dargelegt, die Sozialbeiträge zu hoch sind - ihre Arbeitnehmer von der
ersten Stunde an als arbeitslos melden. Nun ist eine entscheidende gesetzliche Verbesserung vorgesehen.
({1})
Herr Minister, 1996 haben jedoch viele Firmen in der
Baubranche - darüber sollten wir ganz ruhig reden zum ersten Mal flexible Jahresarbeitszeitkonten eingeführt; das hat auch funktioniert. Diese Firmen hatten mit
dem aus der Umlage finanzierten Wintergeld nichts
mehr zu tun. Sie haben zwar noch in die Kasse der Tarifpartner gezahlt, haben aber das Instrument nicht mehr
genutzt. All diese Firmen existieren noch. Wenn nun per
Gesetz den Arbeitnehmern ermöglicht wird, sich von der
ersten Stunde an Kurzarbeitergeld auszahlen zu lassen
- es ist also nicht mehr notwendig, flexible Stunden einzubringen -, dann muss ich mich nur in die Lage eines
Maurers versetzen - diesen Beruf habe ich erlernt -, um
zu wissen, wie ich reagieren würde. Wenn man einerseits
den Anreiz des Zuschusswintergelds in Höhe von bis zu
2,50 Euro je ausgefallener Arbeitsstunde hat, sein flexibles Arbeitszeitkonto zu verrechnen, andererseits bei
Nichtverrechnung die Möglichkeit hat, sich im Sommer
die Stunden auszahlen zu lassen und im Winter von der
ersten Stunde an Kurzarbeitergeld zu bekommen - das
sind etwa 7 bis 8 Euro je Stunde -, dann ist die Entscheidung klar. Dann wird die Flexibilität, die sich in der
Baubranche zum Segen der Sozialkassen und der Umlagenhöhe durchgesetzt hat, kaputtgemacht. Darüber müssen wir in aller Ruhe reden; denn das darf nicht das Ziel
sein.
Das Gesetz ist in seiner Zielsetzung völlig richtig. Ich
habe diesbezüglich auch keine Sorgen. Aber wir müssen
aufpassen, dass wir bei der Kostenneutralität nicht in
eine Falle laufen; denn das Verhalten der Menschen wird
nach Inkraftsetzung der Neuregelung ganz anders sein
als zuvor. Das müssen wir sehr exakt beobachten. Ich
schlage daher vor, an der bisherigen Regelung festzuhalten, wonach der einzelne Arbeitnehmer einen Teil seiner
flexiblen Stunden einbringen muss, bevor er Kurzarbeitergeld erhält. Wichtig ist, dass in Zukunft bei der Verrechnung mit flexiblen Stunden 2,50 Euro je ausgefallene Arbeitsstunde gezahlt werden; denn dadurch
entsteht ein neuer Anreiz zur Flexibilisierung.
Der Teufel steckt also im Detail. Wir sollten in aller
Ruhe, Gelassenheit und Sachlichkeit darüber reden. Alle
Fraktionen haben Gesprächsbereitschaft signalisiert.
Letztendlich müssen wir erreichen, dass ein Teil der
Menschen, die bislang im Winter aus saisonalen Gründen arbeitslos werden, in Zukunft in Arbeit sind und
Beiträge zahlen und dass es so zu einem Aufschwung in
Deutschland kommt.
Schönen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 16/429 zur federführenden Beratung an den
Ausschuss für Arbeit und Soziales und zur Mitberatung
an den Finanzausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft
und Technologie, den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, den Ausschuss für
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, den Ausschuss für
Tourismus sowie an den Haushaltsausschuss zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist
nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Wahl der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik
Die Bundesregierung hat mit Schreiben vom
27. Dezember 2005 Frau Marianne Birthler vorgeschlagen.
Ich gebe zunächst einige Hinweise zum Wahlverfahren. Nach § 35 Abs. 2 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes
wird die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des
Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik auf Vorschlag der Bundesregierung vom Deutschen Bundestag mit mehr als der Hälfte
der gesetzlichen Zahl seiner Mitglieder gewählt. Zur
Wahl sind also mindestens 308 Stimmen erforderlich.
Die grünen Stimmkarten für die Wahl wurden verteilt.
Sollten Sie noch keine Stimmkarte haben, so besteht
jetzt noch die Möglichkeit, diese vom Plenarassistenten
zu erhalten. Außerdem benötigen Sie Ihren grünen
Wahlausweis, den Sie, soweit noch nicht geschehen, Ihrem Stimmkartenfach entnehmen. Bitte achten Sie unbedingt darauf, dass der Wahlausweis auch wirklich Ihren
Namen trägt.
Die Wahlen finden offen statt. Sie können die Stimmkarten also an Ihrem Platz ankreuzen. Stimmkarten, die
mehr als ein Kreuz, andere Namen oder Zusätze enthalten, sind ungültig. Bevor Sie die Stimmkarte in eine der
Wahlurnen werfen, übergeben Sie bitte Ihren Wahlausweis einer der Schriftführerinnen oder einem der Schriftführer an den Wahlurnen. Der Nachweis der Teilnahme
an der Wahl kann nur durch Abgabe des Wahlausweises
erbracht werden. Die Schriftführerinnen und Schriftführer bitte ich, darauf zu achten, dass vor der Stimmabgabe
der Wahlausweis übergeben wird. Ich bitte jetzt die
Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen
Plätze einzunehmen.
Haben alle Schriftführerinnen und Schriftführer die
Plätze eingenommen? - Das ist offenbar der Fall. Ich eröffne die Wahl.
Haben alle Mitglieder des Hauses, auch die Schriftführerinnen und Schriftführer, ihre Stimmkarte abgegeben? - Ich frage noch einmal: Haben alle Mitglieder des
Hauses ihre Stimmkarte abgegeben? - Das ist offenbar
der Fall. Ich schließe die Wahl und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Wahl wird Ihnen später bekannt
gegeben.
Wir kommen jetzt zu etlichen Abstimmungen. Damit
die Abstimmungsverhältnisse klar sind, bitte ich die Mitglieder des Hauses, die Plätze einzunehmen.
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 6 a
bis 6 j, Wahlen zu Gremien. Ich möchte darauf hinweisen, dass diese Wahlen mittels Handzeichen durchgeführt werden.
({0})
- Auch an die Fraktion der Grünen geht die Bitte, die
Plätze einzunehmen.
({1})
Tagesordnungspunkt 6 a:
Kuratorium der Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“
- Drucksache 16/433 Dazu liegt ein gemeinsamer Wahlvorschlag aller
Fraktionen auf Drucksache 16/433 vor. Wer stimmt für
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 b:
Kuratorium der „Stiftung Archiv der Parteien
und Massenorganisationen in der DDR“
- Drucksache 16/434 Wir stimmen über den Wahlvorschlag der Fraktionen
der CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache 16/434
ab. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Dieser Wahlvorschlag ist
ebenfalls mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
({2})
- Dieser Wahlvorschlag ist bei Enthaltung der Grünen
angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 c:
Stiftungsrat der „Stiftung CAESAR“ ({3})
- Drucksache 16/435 Wir stimmen über den Wahlvorschlag der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/435 ab.
Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist bei
Enthaltung der Fraktion der Grünen mit den Stimmen
des restlichen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 d:
Stiftungsrat der „Deutschen Stiftung Friedensforschung ({4})“
- Drucksache 16/436 Wir stimmen über den Wahlvorschlag der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/436 ab.
Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist bei
Enthaltung der Fraktion der Grünen mit den restlichen
Stimmen des Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 e:
Senat des Vereins „Hermann von HelmholtzGemeinschaft Deutscher Forschungszentren
e. V.“
- Drucksache 16/437 Es liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD auf Drucksache 16/437 vor. Wer
stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dieser Wahlvorschlag ist ebenfalls bei Enthaltung der Fraktion der Grünen mit den
restlichen Stimmen des Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 f:
Verwaltungsrat bei der Bundesanstalt für
Finanzdienstleistungsaufsicht
- Drucksache 16/438 Hierzu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der
CDU/CSU, der SPD und der FDP auf Drucksache 16/438
vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag
ist bei Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen mit den restlichen Stimmen des Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 g:
Parlamentarischer Beirat der „Stiftung für
das sorbische Volk“
- Drucksache 16/439 Wir stimmen über den Wahlvorschlag der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/439 ab.
Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist bei
Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
mit den restlichen Stimmen des Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 h:
Kuratorium „Wissenschaftszentrum Berlin
für Sozialforschung“
- Drucksache 16/440 Dazu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/
CSU auf Drucksache 16/440 vor. Wer stimmt für diesen
Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Dieser Wahlvorschlag ist ebenfalls bei Enthaltung
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem
Rest der Stimmen des Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 i:
Beirat zur Auswahl von Themen für die Sonderpostwertzeichen ohne Zuschlag beim Bundesministerium der Finanzen ({5})
- Drucksache 16/441 ({6}) Dazu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 16/441 ({7}) vor. Wer stimmt für diesen
Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 j:
Beirat nach § 39 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes
- Drucksache 16/442 Dazu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 16/442 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Dieser Wahlvorschlag ist ebenfalls mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 a auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen Nr. 172 der Internationalen
Arbeitsorganisation vom 25. Juni 1991 über
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
die Arbeitsbedingungen in Hotels, Gaststätten
und ähnlichen Betrieben
- Drucksache 16/342 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({8})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Es handelt sich um eine Überweisung im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 16 a
bis 16 i sowie Zusatzpunkt 6. Es handelt sich um die
Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 16 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes über die Bereinigung von Bundesrecht im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums des Innern
- Drucksache 16/28 ({9})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({10})
- Drucksache 16/464 Berichterstattung:
Abgeordnete Ralf Göbel
Maik Reichel
Gisela Piltz
Jan Korte
Silke Stokar von Neuforn
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/464, den Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung bei Enthaltung von Teilen der Fraktion Die Linke mit den übrigen Stimmen des ganzen
Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit bei Enthaltung der Fraktion Die Linke mit
den Stimmen des ganzen Hauses in dritter Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 16 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Bereinigung des Bundesrechts im
Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit
- Drucksache 16/34 ({11})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({12})
- Drucksache 16/399 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Fuchs
Martin Zeil
Matthias Berninger
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
16/399, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung ebenfalls mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 16 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über konjunkturstatistische Erhebungen in bestimmten Dienstleistungsbereichen ({13})
- Drucksache 16/36 ({14})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({15})
- Drucksache 16/465
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Michael Fuchs
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
16/465, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das
Handzeichnen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
bei Gegenstimmen der FDP mit den Stimmen vom Rest
des Hauses angenommen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion ist der Gesetzentwurf in dritter
Beratung mit den Stimmen vom Rest des Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 16 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({16}) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Erste Verordnung zur Änderung der Altfahrzeug-Verordnung
- Drucksachen 16/308, 16/413 Nr. 2.1, 16/467 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Brand
Gerd Bollmann
Eva Bulling-Schröter
Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 16/308 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung der Fraktion Die Linke vom Rest des Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 16 e:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN
Erhöhung der Anzahl von Ausschussmitgliedern
- Drucksache 16/432 Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist bei Enthaltung
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen von den
restlichen Mitgliedern des Hauses angenommen.
Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 16 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 6 zu Petitionen
- Drucksache 16/377 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 6 ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 16 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 7 zu Petitionen
- Drucksache 16/378 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 7 ist bei Gegenstimmen
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der
Fraktion Die Linke von den restlichen Mitgliedern des
Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 16 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 8 zu Petitionen
- Drucksache 16/379 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 9 ist bei Gegenstimmen
der Fraktion Die Linke vom Rest des Hauses angenommen.
Zusatzpunkt 6:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Bereinigung des Bundesrechts im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für
Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
- Drucksache 16/27 ({20})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({21})
- Drucksache 16/425 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Hans-Heinrich Jordan
Waltraud Wolff ({22})
Hans-Michael Goldmann
Ulrike Höfken
Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/425, den Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist auch in dritter Beratung mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Ich höre gerade, dass ich einen Tagesordnungspunkt
übersprungen habe.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich rufe noch einmal den Tagesordnungspunkt 16 h
auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 8 zu Petitionen
- Drucksache 16/379 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen?
({24})
- Ich habe noch einmal die Sammelübersicht 8 aufgerufen. Darüber stimmen wir jetzt ab, Herr Kollege Beck. Sammelübersicht 8 ist bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke mit den Stimmen vom Rest des Hauses angenommen.
Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 16 i auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 9 zu Petitionen
- Drucksache 16/380 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Damit ist die Sammelübersicht 9 bei Gegen-
stimmen der Grünen vom Rest des Hauses angenom-
men.
Ich gebe Ihnen jetzt das von den Schriftführerinnen
und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentli-
chen Abstimmung bekannt: Abgegebene Stimmen 565,
davon gültige Stimmen 563. Mit Ja haben gestimmt
486 Abgeordnete, mit Nein haben gestimmt 60 Abge-
ordnete, Enthaltungen 17. Frau Marianne Birthler hat
damit die erforderliche absolute Mehrheit, also mindes-
tens 308 Stimmen, erreicht.1)
({26})
Herzlichen Glückwunsch, Frau Marianne Birthler. Sie
sind damit zur Bundesbeauftragten für die Unterlagen
des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen
Demokratischen Republik gewählt.
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen
Warnungen vor einer Militarisierung der Aus-
einandersetzung um das iranische Atompro-
gramm
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Jürgen Trittin, Bündnis 90/Die Grünen.
1) Anlage 2
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Lage um den Iran entwickelt sich zum wichtigsten und
wahrscheinlich gefährlichsten außenpolitischen Konflikt. Wir alle erinnern uns an die unsäglichen Äußerungen von Präsident Ahmadinedschad über die Vernichtung Israels und an seine wiederholte Leugnung des
Holocausts.
Unübersehbar ist - das sage ich in aller Deutlichkeit -, dass der Iran über lange Jahre an der Internationalen Energieagentur und den Aufsichtsbehörden vorbei
ein Atomprogramm vorbereitet hat, das offenkundig
nicht friedlichen Zwecken dient. Wozu braucht man eine
Urananreicherung, wenn man nicht einmal einen Reaktor hat? Warum muss man diese in einen militärisch getarnten Bunker packen, wenn sie nur friedlichen Zwecken dient?
({0})
Es ist also unsere Aufgabe und es ist notwendig, den
Einstieg in ein neues atomares Wettrüsten im Iran und
ausgehend vom Iran zu verhindern.
({1})
Dies muss aber - dies betone ich - mit zivilen Mitteln
geschehen.
({2})
Es darf - das war Kern des auf unsere Initiative vom
ganzen Hause gefassten Beschlusses - keine schleichende Eskalation zur Planung eines militärischen Einsatzes geben. Militärische Gewalt kann diesen Konflikt
nicht lösen, sondern dürfte ihn nur verschärfen.
({3})
Wir alle wissen, dass der Iran heute in einer militärisch schwer angreifbaren Position ist. Der Krieg gegen
den Irak hat die Position des Iran an dieser Stelle noch
einmal gestärkt. Aber wir alle wissen auch: Politisch und
wirtschaftlich ist das Regime im Iran außerordentlich
verwundbar. Der Iran braucht enorme Investitionen, um
die Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen.
Was wenige wissen: Der Iran exportiert zwar Öl; aber er
muss Ölprodukte und Gasprodukte in raffinierter Form
reimportieren, weil er keine Raffineriekapazität hat, um
diese Produkte an seine Bevölkerung abzugeben.
Der Iran verfügt wie kaum ein anderes Land in dieser
Region über eine ausgeprägte und außerordentlich vielfältige Zivilgesellschaft. Unsere Strategie muss darauf
abzielen, diese Zivilgesellschaft davon zu überzeugen,
dass der Griff der Mullahs nach der Atomwaffe nicht im
Interesse des Iran liegt, sondern ausschließlich im Interesse der Stabilisierung ihrer Herrschaft.
({4})
Diese Doppelstrategie muss unsere Iranpolitik leiten.
Das heißt, klar machen, wo die Grenze ist, aber immer
wieder versuchen, das Bündnis und das Einverständnis
mit der iranischen Bevölkerung zu finden.
Man kann in diesem Zusammenhang lange darüber
streiten, ob das, was Herr Chirac gesagt hat, eine Akzentverschiebung in der Nuklearstrategie der Franzosen
gewesen ist. Aber eines muss man sagen: Weil dies von
ihm unmittelbar mit der Politik gegenüber dem Iran in
Zusammenhang gebracht worden ist, waren diese Äußerungen unangemessen und unproduktiv.
({5})
Sie waren unproduktiv, weil sie den Eindruck haben
entstehen lassen, dass der Westen mal wieder mit zweierlei Maß misst: sich selber eine militärische und sogar
nukleare Option offen hält, dem Iran aber sogar die
friedliche Nutzung der Atomenergie untersagt. Diese
Form doppelter Moral ist das, was die iranische Opposition dem Westen und uns allen vorwirft.
Weil das falsch war, hätte ich von Frau Merkel erwartet, dass sie diese Differenz in Paris in aller Deutlichkeit
anspricht. Das wäre nötig gewesen. Dass Sie das, liebe
Frau Merkel, in Paris nicht getan haben, war, wie ich
finde, ein großer Fehler.
({6})
Das war ein Fehler mit Folgen; denn seitdem ist in der
großen Koalition und in der CDU kein Halten mehr.
Dort geht es mit Volldampf zurück zu den außenpolitischen Positionen von 2002, lieber Herr von Klaeden.
Den ersten Aufschlag machte Verteidigungsminister
Jung, der in der „Bild am Sonntag“ erklärte, man brauche eine militärische Drohkulisse und „alle Optionen“.
Wer so redet, entwertet alle anderen Optionen, über die
wir hier reden.
({7})
Womit wollen Sie denn drohen? Haben wir nicht aus
den Konflikten und Kriegen der letzten Jahre - ich nenne
hier auch Kosovo - nicht gelernt, dass man immer nur
mit den militärischen Mitteln drohen kann, die man auch
einzusetzen bereit ist? Ich frage Sie, Herr Jung: Was
wollen Sie von Ihren Äußerungen bezüglich des Iran
umsetzen? Wenn Sie nichts davon umsetzen wollen, war
es eine falsche Äußerung.
({8})
Im Interesse der politischen Kultur möchte ich sagen:
Vielleicht war es nur fahrlässig; schließlich weiß ich ja,
wie solche Interviews zustande kommen. Heute hat Herr
Scholz aber auf diese Fahrlässigkeiten in der „Bild“-Zeitung noch die Forderung draufgesetzt, Deutschland
brauche eigene Nuklearwaffen. Das ist wahrlich unverantwortlich. Ich sage in aller Deutlichkeit: Gegen Terroristen helfen keine nuklearen Waffen.
({9})
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. Mein Appell ist … dass wir uns in einer solchen
Lage, in der alle Beteiligten Ihnen sagen „Wir setzen auf diplomatische Lösungen“, nicht von einer
Militarisierung des Denkens erfassen lassen.
Das sagte Frank-Walter Steinmeier. Er hat Recht, aber
Herr Scholz und Herr Jung müssen von der Koalition zur
Ordnung gerufen werden.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Ruprecht Polenz, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir alle
konnten in den letzten Tagen ziemlich viel über die Kontroversen innerhalb der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
über die richtige Oppositionsstrategie lesen. Ich hätte
mir ehrlich gesagt gewünscht, Sie hätten sich nicht ausgerechnet dieses Thema ausgesucht, um eine Kontroverse vom Zaun zu brechen, die, wenn man es sich genau anschaut, in diesem Hause im Grunde nie eine war
und hoffentlich auch keine sein wird. Wenn wir alle gemeinsam eine diplomatische, eine Verhandlungslösung
in dem schwierigen Nuklearkonflikt mit dem Iran wollen, dann können wir sie nur bei internationaler Einigkeit
erreichen. Sie wird auch nur bei Einigkeit in den jeweiligen nationalen Parlamenten darüber, was wir erreichen
oder unterstützen wollen, möglich sein.
({0})
Ich bitte einfach darum, nicht einen künstlichen Gegensatz, der in Wahrheit nicht besteht, aufzubauen. Sie
haben den französischen Staatspräsidenten Chirac mit
seiner Verlautbarung zur Nuklearstrategie Frankreichs in
einen Zusammenhang mit dem Iran gerückt. Er selber
hat in seiner Rede das Land mit keinem einzigen Satz erwähnt. Sie stellen Zusammenhänge her, um sie anschließend zurückzuweisen und um eine Kluft aufzubauen, die
es in Wirklichkeit nicht gibt.
Der Besuch der Bundeskanzlerin hat deutlich gemacht, dass die EU 3 - Deutschland, Frankreich und
Großbritannien - nach wie vor eine gemeinsame Position haben. Sie haben dem Iran gemeinsam ein Verhandlungspaket unter der Bedingung angeboten, dass er auf
den militärisch nutzbaren Teil des Nuklear- und Brennstoffkreislaufs verzichtet. Zu diesem Paket gehört auch
ein Angebot zur Zusammenarbeit auf dem Gebiet der zivilen Nutzung der Kernenergie für die Stromerzeugung.
Auch Handels- und Kooperationsabkommen für die Bereiche Technologie und Wirtschaft werden angeboten.
Das alles liegt auf dem Tisch.
Neben den Punkten, die Sie angesprochen haben,
Herr Kollege Trittin, stimmt natürlich auch nachdenklich, dass Iran bisher - hoffentlich ändert sich das jetzt auch das russische Angebot zu einer gemeinsamen zivilen Anreicherungsanlage auf russischem Territorium zurückgewiesen hat.
Wir stehen jetzt vor einer schwierigen Phase, weil
Iran sein Versprechen gebrochen hat, das er den Europäern gegeben hat, nämlich für die Dauer der Verhandlungen seine Anreicherungsaktivitäten oder die Aktivitäten, die auf Anreicherung hinzielen, einzustellen. Im
August hat er sich in Isfahan und jetzt zum Jahreswechsel in Natanz vorgetastet. Er hat also immer weiter ausgetestet, wie weit er gehen kann. Es war richtig, dass die
EU 3 daraufhin die Verhandlungen abgebrochen haben;
denn Iran möchte auch etwas von uns. Er kann seine
Wirtschaftsprobleme ohne Kooperation mit den Europäern nicht lösen.
Jetzt zu der Frage, ob wir eine Druckkulisse brauchen. Ich glaube, dass wir sie brauchen und dass Bewegung in die iranisch-russischen Gespräche gekommen
ist. Ich erinnere daran, dass die erste Reaktion Teherans
auf das russische Angebot eine fast beleidigte Zurückweisung nach dem Motto war, wie man Teheran so etwas
überhaupt vorschlagen könne. Jetzt, nachdem sich die
Europäer vom Verhandlungstisch zurückgezogen haben,
heißt es aus Teheran, es sei eigentlich für beide Seiten
eine ganz gute Grundlage für einen akzeptablen Kompromiss.
Die Bundeskanzlerin bemüht sich bei ihrem Besuch
in Frankreich, bei ihren Kontakten in Russland, eine gemeinsame Position aufzubauen, die dem Iran deutlich
macht, dass er sich selbst isoliert, wenn er diesen Weg
weiter geht. Darauf kommt es jetzt an.
Bei der Sondersitzung des Gouverneursrats geht es
jetzt um die Frage: Geht es in den Sicherheitsrat? Ich
denke - das sollte man auch hier festhalten -, dass man
nur dann in den Sicherheitsrat gehen kann, wenn man
weiß, was herauskommt. Es geht um Augenmaß, Festigkeit und Fingerspitzengefühl. Man muss dem Iran auch
immer eine Lösung offen lassen, die ihm einen gesichtswahrenden Ausweg ermöglicht, wenn man keine weitere
Eskalation will.
({1})
Weil Sie sich vorhin zum Einsatz von Militär geäußert
haben: Es war al-Baradei, der das iranische Nuklearprogramm wahrscheinlich am besten von allen beurteilen
kann, der gesagt hat: Als Letztes kann man möglicherweise auch gewaltsame Fragen nicht ausschließen. So
hat er formuliert. Es ist ein Unterschied, ob ich etwas
nicht ausschließe oder ob ich mit etwas drohe. Ich
stimme Ihnen zu: Wir sollten nicht mit militärischer Gewalt drohen.
({2})
Ich halte es aber für einen Fehler, per se den Iranern irgendwelche Gewissheiten zu geben, womit sie unter keinen Umständen zu rechnen hätten.
({3})
Diese Gewissheit braucht die Verhandlungsseite in Teheran nicht. Wir drohen nicht, aber wir müssen nichts vom
Tisch nehmen, was etwa aus der Sicht der Amerikaner
oder offenkundig auch anderer Länder nicht vom Tisch
genommen werden sollte.
Herr Kollege, ich muss auch Sie an die Zeit erinnern.
Ich komme zum Schluss.
Bauen wir hier also nicht künstlich neue Gegensätze
auf. Halten wir an der Gemeinsamkeit in der Iranpolitik
fest, die wir als Opposition damals während Ihrer Regierungszeit unterstützt haben. Ich denke, auch unsere Regierung hat einen Anspruch darauf, dass die Fortsetzung
dieser Politik auch vom Bündnis 90/Die Grünen weiter
mitgetragen wird.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Werner Hoyer,
FDP-Fraktion.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich schließe direkt an das an, was der
Kollege Polenz zum Schluss gesagt hat: nicht drohen,
aber auch nichts ausschließen. Insofern kann man so argumentieren - einige haben das getan -, dass Präsident
Chirac in der letzten Woche nichts Neues gesagt hat.
Wenn aber eine europäische Mittelmacht wie Frankreich
Nuklearwaffen hat - jeder weiß, dass Frankreich diese
Nuklearwaffen hat -, muss es gute Gründe geben, warum man das in einer solchen krisenhaften Situation
noch einmal ausdrücklich erwähnt und in den Vordergrund rückt.
({0})
Unter diesem Gesichtspunkt habe ich die Äußerungen
nicht nachvollziehen können. Nun kann man innenpolitisch argumentieren, er sei ein geschwächter Präsident,
der mit Stärke wieder auf sich aufmerksam machen
wolle. Man kann auch argumentieren, dass es ein Truppenbesuch war, bei dem man würdigt, was die Männer
und Frauen auf diesem Gebiet unter schwierigen Bedingungen leisten. Jedoch war das international im Hinblick
auf das, was uns in den Verhandlungen mit dem Iran bevorsteht, weder hilfreich noch klug.
({1})
Deswegen kann ich auch die Äußerung der Bundeskanzlerin in Paris - Sie wissen, wir haben die Bundeskanzlerin in den letzten Wochen immer wieder gelobt ob
ihrer hervorragenden Auftritte in Washington und Moskau - nicht nachvollziehen. Sie war überflüssig und auch
für uns nicht hilfreich.
({2})
Die Äußerungen anderer Koalitionspolitiker heben sich
wohltuend davon ab. Das heißt, da gibt es ein Managementproblem in der neuen Koalition.
Die Logik des Kalten Krieges basierte nicht zuletzt
darauf, dass nukleare Abschrekkung davon ausging, dass
auf der Gegenseite rationales Verhalten vorausgesetzt
werden konnte. Nun haben die Franzosen bzw. Chirac
nicht den Terroristen mit nuklearer Vergeltung gedroht,
sondern den Staaten, die Terroristen unterstützen. Aber
selbst dann, wenn man diese Differenzierung präzise
vornimmt, kommen große Zweifel auf, ob das funktionieren kann. Hätte zum Beispiel beim Fall Afghanistan
zu Talibanzeiten die nukleare Drohung bei den Talibanführern etwas ausrichten können, um sie davon abzuhalten, al-Qaida Terroristen zu unterstützen? Das möchte
ich sehr bezweifeln. Deswegen gilt in Zeiten asymmetrischer Bedrohung eine andere Abschreckungslogik als
bisher.
({3})
Nach meiner Auffassung ist entschlossenes und geschlossenes Handeln der Völkergemeinschaft gegenüber dem Iran unverzichtbar und alternativlos. Deswegen unterstützen wir nachdrücklich die Bemühungen der
Bundesregierung, gemeinsam mit den europäischen
Partnern, mit den Vereinigten Staaten und auch - wie ich
hoffe - mit Russland und China zu einem Ergebnis zu
kommen. Ich finde es begrüßenswert, dass die Bundesregierung sich gegenwärtig sehr darum bemüht, Staaten,
die durch eigene nukleare Ambitionen einige Probleme
haben, dazu zu bewegen, im Gouverneursrat der IAEO
konstruktiv mitzuarbeiten.
Der Weg dieses Problems in den Weltsicherheitsrat
kann jetzt nicht mehr ausgeschlossen werden. Aber Herr
Polenz hat völlig zu Recht gesagt: Das kann man natürlich nur machen, wenn sich der Weltsicherheitsrat von
vornherein als handlungsfähig darstellt. Die größte Blamage für die Völkergemeinschaft wäre, dass man in den
Weltsicherheitsrat geht, man abstrakt über Instrumente
diskutiert und zum Schluss den Fall an die IAEO zurückverweist. Das können wir uns in der Tat nicht leisten.
Deswegen muss es in den Gesprächen mit Moskau und
Peking darum gehen, mehr als eine laue Enthaltung zu
erreichen. Denn wir alle müssen uns darüber im Klaren
sein: Wenn wir den durchaus begrenzten Instrumentenkasten von Sanktionen öffnen, dann gibt es nur sehr wenige Möglichkeiten, durch die der Schaden nicht auch
bei uns erheblich sein wird. Man muss bereit sein, das zu
realisieren. Das gilt ganz besonders für die Russen.
Wir haben offensichtlich ein riesiges Problem mit nuklearer Proliferation. In den letzten zehn Jahren hat es
hier keinen Fortschritt gegeben. Das Gegenteil war der
Fall.
Wir müssen aufpassen, dass wir nicht mit einer rhetorischen Eskalation die wohlmeinenden Kräfte im Iran einem Präsidenten, der nach unseren Maßstäben nicht
ganz nachvollziehbare Äußerungen gemacht hat, geradezu in die Arme treiben. Denn der Iran hat eine sehr
junge Gesellschaft, eine im Grunde dem Westen gegenüber sehr aufgeschlossene Gesellschaft, die sich gern aus
alten Fesseln befreien würde. Aber in der Frage des
nuklearen Selbstbewusstseins ist diese gut ausgebildete,
junge iranische Generation mit einem aus meiner Sicht
erschreckend großen Anteil derselben Meinung wie der
Staatspräsident. Deswegen geht es darum, diesen Menschen Angebote zu machen und sie in eine konstruktive
Zusammenarbeit einzubinden. Entsprechende Angebote
liegen auf dem Tisch. Ich glaube, wir müssen dieses Problem noch einmal konkreter angehen.
Darüber hinaus brauchen wir einen entschlossenen
neuen Ansatz in der Abrüstungspolitik.
({4})
Es ist nicht mehr fünf vor zwölf. Im günstigsten Fall ist
es zwölf Uhr und wir können die Uhr noch ein bisschen
anhalten. Aber danach wird die nukleare Proliferation in
einem Ausmaß voranschreiten, wie wir uns das gegenwärtig noch gar nicht vorstellen können. Das geht weit
über den Iran hinaus. In einem solchen Zusammenhang
hat die Bundesrepublik Deutschland ein hohes Maß an
Glaubwürdigkeit, weil wir die nukleare Option für uns
ein für allemal ausgeschlossen haben und das im Zweiplus-Vier-Vertrag noch einmal bekräftigt haben. Das
muss auch ein früherer Verteidigungsminister wissen.
Wir sollten an diesem Imperativ deutscher Außenpolitik
keinen Zweifel aufkommen lassen.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat der Staatsminister Gernot Erler.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am kommenden Donnerstag, dem 2. Februar 2006, wird
der Gouverneursrat der IAEO, also der Internationalen
Atomenergiebehörde, zusammentreten und versuchen,
einen Ausweg aus der Krise zu finden, die im Zusammenhang mit dem iranischen Atomprogramm entstanden
ist.
({0})
Das ist der richtige Zeitpunkt, um hier noch einmal
daran zu erinnern, wie diese krisenhafte Situation entstanden ist. Die Islamische Republik Iran ist Unterzeichner des Atomwaffensperrvertrages. Dieser Vertrag
verpflichtet das Land, auf die Entwicklung von Atomwaffen zu verzichten, verbrieft aber zugleich das Recht
auf friedliche Nutzung der Atomenergie. Um das Ganze
transparent und kontrollierbar zu machen, gibt es als besondere Sicherungsmechanismen die „Safeguards“-Abkommen mit der IAEO.
Im Jahr 2003 - das wurde schon angedeutet - musste
der Iran zugeben, gegen die Safeguards verstoßen und
über 18 Jahre hinweg ein geheim gehaltenes Nuklearprogramm verfolgt zu haben, zu dem der verdeckte Bau
einer Urananreicherungsanlage gehörte, in der auch
spaltbares Material zur Waffenproduktion hergestellt
werden kann. Schon damals hätte die IAEO das Recht
gehabt, die Weltgemeinschaft über diesen groben Verstoß zu informieren und den Sicherheitsrat der Vereinten
Nationen einzuschalten.
Damals waren es die europäischen Staaten, die verhindert haben, dass Teheran für seinen Täuschungsversuch an den internationalen Pranger gestellt und isoliert
wurde. Stattdessen versuchten Deutschland, Frankreich
und Großbritannien im Auftrag der Europäischen Union,
eine Verhandlungslösung zu finden und dem Iran Brücken für seine Rückkehr zur Vertragstreue und zur Ausräumung des Misstrauens zu bauen, das international
entstanden war.
Entscheidende Voraussetzung war, dass der Iran für
die Dauer der Verhandlungen verbindlich auf alle
Aktivitäten der Konversion, der Anreicherung und der
Wiederaufarbeitung verzichtete. Da Teheran hierzu bereit war und entsprechende Abkommen unterzeichnete,
wurde der Weg für eine Verhandlungslösung freigemacht. Im Namen der EU verfolgten die drei Verhandlungsstaaten, die so genannten E 3, ein Konzept, um
folgendes Ziel zu erreichen: Am Ende musste die Gewissheit stehen, dass der Iran kein Atomwaffenprogramm verfolgt und dass er die zivile Nutzung der Kernkraft, zu der er berechtigt ist, nicht für die Entwicklung
solcher Programme missbrauchen kann.
Ich möchte betonen: Hinter diesem Ziel stand und
steht bis heute die ganze Weltgemeinschaft einschließlich der Länder, die auf verschiedenen Gebieten engstens
mit der Islamischen Republik Iran zusammenarbeiten.
Das Mittel zur Erreichung des Ziels war ein umfassendes
Kooperationsangebot - Herr Dr. Hoyer hat das eben angesprochen -, das dem Iran am 5. August letzten Jahres
unterbreitet wurde. Es umfasste die Aufhebung aller
Sanktionen und Restriktionen gegenüber dem Iran, die
Zusammenarbeit bei der zivilen Nutzung der Atomenergie, die Zusammenarbeit im Bereich der Hochtechnologie, Hilfen zur Erschließung neuer Märkte für iranische
Produkte und sogar eine sicherheitspolitische Zusammenarbeit in bestimmten Bereichen einschließlich der
Verfolgung des Zieles der Errichtung einer umfassenden
atomwaffenfreien Zone im Nahen Osten.
Man kann wirklich nicht sagen, dass das kein eindrucksvoller Katalog von Angeboten gewesen ist. Das
war der Katalog der Gegenleistungen, der dem Iran für
seinen verbindlichen Verzicht auf Aktivitäten zur Urananreicherung und -aufarbeitung angeboten wurde. Diese
Aktivitäten hätten zwar angesichts des gegenwärtigen
Stands des zivilen iranischen Programms momentan
überhaupt keinen Sinn gemacht, ihre Beendigung aber
hätte genau jene Garantie dargestellt, die seitens der
Weltgemeinschaft - das habe ich bereits gesagt - von
Teheran so nachdrücklich eingefordert wurde. Es handelte sich um das Angebot einer Inklusions- bzw. Einbindungspolitik, das auf dem Prinzip des Gewinns für
beide Seiten basierte, und es enthielt eine gute Perspektive für den Iran, der ja immense soziale und wirtschaftliche Probleme hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Reaktion war
aus europäischer Sicht niederschmetternd: Unser Angebot ist nicht nur kaum geprüft zurückgewiesen worden,
sondern fünf Tage später hat der Iran seine Konversionsaktivitäten in der Anlage in Isfahan sogar demonstrativ
wieder aufgenommen.
({1})
Trotz des Angebots der E 3, weiterhin über die Vorschläge und ihre Verbindlichkeit zu reden, war das der
Beginn eines nervenaufreibenden Hin und Her und eines
Versteckspiels, das schließlich am 9. Januar dieses Jahres in der Wiederaufnahme der so genannten Forschungsvorhaben einschließlich der Anreicherungsaktivitäten gipfelte. Damit war den Verhandlungen
definitiv die Grundlage entzogen, und zwar einseitig und
mutwillig, und es war der Punkt erreicht, zu dem Bundeskanzlerin Angela Merkel gestern noch einmal festgestellt hat, dass der Iran damit die so genannte rote Linie
überschritten hat und dass sich das die westliche Gemeinschaft in dieser Form nicht bieten lassen kann.
({2})
Die einseitige Aufkündigung der vereinbarten Suspendierung der Programme - vor allem des Programms
zur Urananreicherung - hat die internationalen Besorgnisse verstärkt. Diese Sorgen sind durch einen anderen
Faktor noch verstärkt worden, nämlich durch die nicht
hinnehmbaren Schmähungen und Drohungen gegen
den Staat Israel, einschließlich der Leugnung des Holocaust durch den iranischen Präsidenten Ahmadinedschad;
({3})
wir haben ja vor kurzem in diesem Hohem Hause darüber debattiert.
Die Außenminister der E 3 haben dann am 12. Januar
festgestellt, dass vorerst keine Grundlage für Verhandlungen mehr gegeben ist. Zugleich haben sie aber ihre
Entschlossenheit betont, weiter nach einer Verhandlungslösung zu suchen. Ich nutze diesen Punkt gern, um
an den Kollegen Trittin und an den Kollegen Dr. Hoyer
gerichtet noch einmal zu sagen: Über dieses gemeinsame
Vorgehen gibt es keinerlei Dissens mit der französischen
Seite; das ist auch in Blaesheim noch einmal betont worden, jenseits der ganzen Debatte über Atomstrategien.
({4})
Die drei Verhandlungsstaaten haben ihre Überzeugung
zum Ausdruck gebracht, dass jetzt die Autorität der Vereinten Nationen gebraucht wird, um den Forderungen
der IAEO an den Iran Nachdruck zu verleihen; die drei
Staaten haben inzwischen mit vielen anderen Staaten
darüber geredet und debattiert. Egal welche Entscheidung die 35 Mitgliedstaaten des Gouverneursrats der
IAEO am 2. Februar treffen: Der Iran sollte die Entschlossenheit der Weltgemeinschaft, sichere Garantien
gegen ein iranisches Atomwaffenprogramm zu bekommen, nicht unterschätzen.
Von vornherein hat die Bundesregierung auch den
Moskauer Kompromissvorschlag als sehr konstruktiv
begrüßt, der auf eine gemeinsame Urananreicherung außerhalb des Irans, auf russischem Boden, hinausläuft.
Erst hat Teheran - Herr Hoyer hat das geschildert - diesen Vorschlag brüsk zurückgewiesen. Seit gestern sieht
es so aus, als könnte sich dieses Fenster wieder etwas
öffnen. Wir begrüßen das ausdrücklich.
({5})
Während die diplomatischen Bemühungen weiter auf
Hochtouren laufen, hat sich in der Öffentlichkeit in mehreren Ländern eine intensive Diskussion über mögliche
Sanktionen gegen den Iran - bis hin zur Anwendung militärischer Mittel - entwickelt. Eine solche Diskussion
hilft nicht weiter.
({6})
Darüber hinaus ist sie geeignet, den sehr breiten Konsens in der Weltgemeinschaft über das Ziel der Verhandlungen mit dem Iran infrage zu stellen.
Die Bundesregierung beteiligt sich deshalb nicht an
solchen Spekulationen. Im Gegenteil: Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat vor wenigen
Tagen ausdrücklich vor einer Militarisierung des Denkens in diesem Kontext gewarnt.
({7})
Selbstverständlich bleibt die Bundesregierung bei ihrer
Politik einer umfassenden, weltweiten atomaren Abrüstung, wie sie auch im Koalitionsvertrag enthalten ist.
({8})
Damit komme ich zum Schluss: Was jetzt gefragt ist,
sind nicht Spekulationen über militärische Optionen,
sondern internationale Geschlossenheit und gemeinsames Handeln. In diesem Sinne wird die Bundesregierung
ihre Bemühungen fortsetzen.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Professor Dr. Norman
Paech von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bis heute
morgen wollte ich meine Rede eigentlich damit beginnen, dass hier über zwei Dinge offensichtlich Konsens
besteht, nämlich dass die Anzahl der Atomwaffenstaaten
auf keinen Fall steigen darf und dass eine militärische
Intervention gegen den Iran auf jeden Fall zu verhindern
ist.
Nun ist vom ehemaligen Kollegen Scholz die Ungeheuerlichkeit zu hören, im Zweifel müsse auch Deutschland Atomwaffen gegen den Terrorismus einsetzen. Ich
hoffe, meine Kolleginnen und Kollegen aus der CDU,
dass dies eine absolute Minderheitsmeinung ist, die Sie
nicht vertreten, und dass Ihre Partei den aus dem Ruder
gelaufenen ehemaligen Kollegen wieder einfängt.
({0})
Denn solche Äußerungen zerstören den Konsens, den
wir bisher in der Innen- und Außenpolitik gehabt haben.
({1})
Wenn über die beiden oben genannten Punkte noch
immer Konsens besteht, dann stellt sich die Frage, wo
das Problem liegt. Liegt es beim Iran, wie die meisten
von Ihnen sagen, bei den USA oder vielleicht in den Verhandlungen selbst? Dazu einige Worte - dabei kommt
es, Herr Erler, auf die Pointierung an -:
Die EU fordert: Keine Entwicklung und Produktion
von Atomwaffen. Antwort des Iran: Das war nie unser
Plan und wir haben es auch nicht vor. Darauf USA und
EU: Wir haben keine Beweise, glauben und trauen euch
aber nicht. Wir kehren deshalb die Beweislast um und
werden euch erst dann glauben, wenn ihr definitiv auf
jede Urananreicherung verzichtet. Antwort des Iran:
Wie kommen wir dazu, auf etwas zu verzichten, auf das
kein anderer Staat der Welt verzichtet - am wenigsten
die EU und die USA - und was uns der Atomwaffensperrvertrag ausdrücklich gestattet? Darauf die EU:
Wenn ihr verzichtet, bieten wir euch weitestgehende
Kooperation in der Wirtschaft, Wissenschaft und Atomenergie an; das hat Herr Erler in extenso ausgeführt. Wir
werden euch sogar Brennelemente aus dem Ausland liefern und euch bei der Aufnahme in die WTO unterstützen. Doch der Iran lehnt wieder ab. Jetzt will man ihn
vor den UN-Sicherheitsrat bringen.
Lassen wir einmal die wirklich unerträglichen Äußerungen des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad beiseite.
({2})
- Wir sind bei der Qualifizierung einer Meinung. - Seine
Äußerungen für sich genommen erfordern noch kein
Eingreifen des Sicherheitsrates. Was verlangt man eigentlich vom Iran? Man verlangt die Aufgabe eines
Stücks seiner Souveränität,
({3})
ohne ihm in den beiden für ihn entscheidenden Anliegen
ein adäquates Angebot zu machen: bei der Forderung
nach Unabhängigkeit seiner Energieversorgung und bei
seiner berechtigten Wahrnehmung der Bedrohung durch
die Nachbarstaaten, die entweder im Besitz von Atomwaffen sind oder Protektorate der USA.
Hier fahren zwei Züge, zunächst noch langsam, aber
mit immer größer werdender Geschwindigkeit, aufeinander zu. Wenn sie im UN-Sicherheitsrat aufeinander
treffen, dann ist der einzige substanzielle Vorwurf gegen
den Iran, gegen das Safeguards-Abkommen mit der
IAEO verstoßen zu haben.
({4})
Das ist noch kein hinreichender Grund für Sanktionen
nach dem VII. Kapitel der UN-Charta. Wir müssen feststellen: Der Iran hat noch nie gegen den Atomwaffensperrvertrag verstoßen; das behaupten auch Sie, Herr
Erler, nicht.
({5})
Wir kennen doch die Mechanismen, wie aus Regelverstößen, die man nicht leugnen kann, eine Gefahr für
den internationalen Frieden konstruiert wird, um damit
das Tor für Sanktionen zu öffnen, die dann bis zu militärischen Zwangsmaßnahmen nach Art. 42 der UN-Charta
gehen können. Hier müssen wir ernst nehmen, was Außenministerin Condoleezza Rice noch vor wenigen Tagen gesagt hat, dass sich nämlich der amerikanische Präsident immer alle Optionen offen halte.
Erinnern Sie sich in diesem Zusammenhang bitte an
die Zeit vor dem Irakkrieg. Auch damals sprachen etliche in diesem Hohen Hause von der Notwendigkeit, eine
Drohkulisse aufzubauen, um der Diplomatie zum Erfolg
zu verhelfen. Auch damals war der UN-Sicherheitsrat
eine der Etappen der Eskalation. Was daraus geworden
ist, können wir täglich sehen. - Um es kurz zu machen:
Es sind ganz offensichtlich die gegenwärtigen Verhandlungen selbst und konkret die nicht akzeptablen Angebote an den Iran, die die Gefahr eines militärischen
Endes hervorrufen.
Die Frage ist, was die Alternativen sind; das wurde
schon angesprochen. Ich will konkret vier Alternativen
nennen:
Erstens. Das russische Angebot einer gemeinsamen
Urananreicherung mag ein zukunftsweisender Weg für
die Energieversorgung sein; die Beseitigung der atomaren Bedrohung kann es aber nicht bewirken.
Zweitens. Die EU fordert vom Iran ein Moratorium.
Warum fordert sie ein solches eigentlich nur vom Iran
und nicht weltweit?
Herr Kollege Paech, kommen Sie bitte zum Schluss.
Nur ein weltweites Moratorium für neue Urananreicherungsanlagen wäre ein wirklich ehrliches Angebot,
das auch der Iran nicht abschlagen könnte. Das ist übrigens ein Vorschlag von al-Baradei.
Drittens. Die USA müssen gegenüber dem Iran endlich auf Gewalt verzichten.
Viertens. Darauf ist schon hingewiesen worden:
Letztendlich wird in dieser Region nur dann Frieden eintreten, wenn der Vorschlag einer atomwaffenfreien Zone
von Israel bis Indien endlich in die Tat umgesetzt wird.
Danke sehr.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Karl-Theodor Freiherr
zu Guttenberg. Bitte schön.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lassen Sie mich voranstellen, dass die CDU/
CSU-Fraktion die Äußerungen von Professor Scholz
weder als hilfreich noch als in der Sache dienlich erachtet und als solche auch nicht unterstützt.
({0})
Sehr verehrter Herr Professor Paech, trotz einiger
Differenzen war die Debatte bislang von einem hohen
Konsens dahin gehend geprägt, worauf der Schwerpunkt
zu legen ist. Der Schwerpunkt in dieser Debatte ist nicht
im Wesentlichen dort zu sehen, dass wir mit dem nackten Finger des Vorwurfs auf unsere Bündnispartner zeigen, sondern dass wir uns auch damit beschäftigen, wo
das Problem als solches eigentlich liegt. Es ist zunächst
einmal im iranischen Regime anzusiedeln und weniger
bei denen, die Sie gerade genannt haben.
({1})
Lassen Sie mich vor dem Hintergrund dessen, weshalb diese Debatte beantragt wurde, das aufgreifen, was
Ruprecht Polenz bereits angeschnitten hat. Man kann
sich sicherlich mit Recht darüber streiten, ob der Tonfall
und der Zeitpunkt der Äußerung von Chirac wirklich
glücklich gewählt waren; aber er hat die Welt mit seinen
Äußerungen tatsächlich nicht neu erfunden. Die Fortschreibung der französischen Nukleardoktrin als solche ist seit längerem bekannt. Sie wurde in den französiKarl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
schen Medien in den letzten Jahren bereits behandelt und
sie wurde auch von den deutschen Medien aufgegriffen.
Von daher ist die Aufregung über die Äußerungen
Chiracs doch ein wenig weit gehend.
Herr Professor Paech, wir sollten sehr darauf achten,
dass insbesondere in der öffentlichen Meinung nicht das
Bild und die Auffassung entstehen, dass sich die Vorzeichen bereits umgekehrt haben. Die Bedrohung als solche
geht nicht von Frankreich, Israel oder den Vereinigten
Staaten von Amerika aus, sondern die Ursache der Bedrohung ist im iranischen Regime und beim Iran selbst
zu suchen.
({2})
Deswegen: Wenn wir hier die Vorzeichen umkehren,
dann bringen wir die Dinge in ein völlig falsches Licht.
Ein weiterer Gedanke, der damit im Zusammenhang
steht, sollte mit aller Klarheit unterstrichen werden
- hier klang nämlich etwas anderes ein wenig durch und
es wurde in den vergangenen Monaten auch schon von
anderen Mitgliedern dieses Hauses geäußert -: Es muss
für uns inakzeptabel sein - das ist es auch -, sich mit
dem Gedanken anzufreunden, dass wir uns am Ende des
Tages mit einem nuklearisierten Iran abfinden. Das
kann und darf nicht in unserem Interesse sein.
({3})
Ich glaube, dass wir uns gerade vor dem Hintergrund
der offenen Fragen - es scheint in vielerlei Hinsicht ein
Dilemma zu sein - noch einmal gewahr werden müssen,
welche Optionen sich uns noch bieten. Ich glaube, dass
wir uns dieser Diskussion gerade auch vor dem Hintergrund des iranischen Raketenprogramms etwas intensiver stellen müssen, das bereits NATO-Gebiet umfasst,
das Israel als klar definiertes Ziel hat und innerhalb dessen bereits in diesem Jahr die Erreichbarkeit Europas einem Test unterzogen werden soll.
Vor diesem Hintergrund wird auch für unsere interne
Debatte folgendes Wechselspiel bedeutsam: Wie steht
unser unmittelbares Sicherheitsinteresse zu unserem
langfristigen Wirtschaftsinteresse, vielleicht auch Energieversorgungsinteresse? Ich glaube, dass wir diese Debatte bislang noch nicht intensiv genug führen. Das hat
möglicherweise auch etwas mit dem ökonomischen
Sanktionspotenzial Europas zu tun. Nun muss das in
die Debatte eingeführt werden.
Ich stimme Ruprecht Polenz zu und auch Gernot Erler
hat das richtigerweise angesprochen: Der russische Vorschlag muss ernsthaft erwogen werden. Er darf natürlich
nicht dazu führen, dass dies wiederum nur einen Zeitgewinn für die iranische Führung, das iranische Regime
bedeutet. Auch müssen wir nach Kräften dafür sorgen,
dass insbesondere die Chinesen entsprechende Vorschläge mit unterstützen und in diesem Fall keine Gegenvorschläge machen.
Entscheidend bleibt aber, dass wir unser Vorgehen sowohl mit unseren europäischen Partnern als auch mit den
Vereinigten Staaten von Amerika engstens abstimmen;
denn jeder - das war bei Ihnen herauszuhören, Herr Professor Paech - antiamerikanische Reflex, den wir hervorrufen, und jeder Versuch, unsere europäischen Partner öffentlichkeitswirksam aus der Geschlossenheit
hinauszutreiben, bestätigt die Iraner in ihrer Taktik, die
westliche Staatengemeinschaft zu spalten. Das kann und
darf nicht in unserem Interesse sein. Die Geschlossenheit ist unser Stärkemoment, das wir auch darstellen
müssen.
({4})
Wir werden - damit schließe ich - einen Gedanken etwas klarer fassen müssen, nämlich welche Optionen Europa und welche Optionen die Vereinigten Staaten haben. Ich glaube, dass die Vereinigten Staaten ihr
Potenzial, was Anreize für Iran anbelangt, noch nicht
ausgeschöpft haben.
({5})
Auch wir auf europäischer Seite haben unsere Potenziale
auf friedlichem Wege - ich bin ebenfalls klar gegen eine
militärische Option in diesem Gesamtkontext - noch
nicht ausgeschöpft. Darauf müssen wir hinarbeiten, das
ist unsere Zielsetzung. Das ist allemal besser als die
Analogien, Professor Paech, die Sie vorhin gezogen haben.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Winfried Nachtwei von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Hauptproblem ist deutlich benannt worden. Die primäre
Herausforderung ist, wie das iranische Streben nach
Atomwaffen verhindert und eine unabsehbare Eskalation
der Auseinandersetzung darum abgewendet werden
kann. Dafür sind Geschlossenheit, Glaubwürdigkeit und
äußerste Sorgfalt in Bezug auf Strategie wie auch öffentliche Formulierung unbedingt notwendig.
({0})
Herr Minister Jung, ich danke Ihnen, dass Sie jetzt
hier sind, und darf Sie direkt ansprechen. Sie haben bekanntlich in einem Interview mit der „Bild am Sonntag“
im Hinblick auf den Iran und auf eine Drohkulisse erklärt, man benötige alle Optionen. Ich unterstelle Ihnen
in keiner Weise, dass Sie eine so genannte militärische
Option in irgendeiner Art anstreben würden. Aber es ist
eine alte sicherheitspolitische Grunderfahrung: Wer eine
militärische Option offen lässt, muss auch zu ihrer Umsetzung grundsätzlich bereit sein und muss alle Konsequenzen bis zum Ende durchdenken. Eine realistische
und verantwortbare militärische Option gegenüber dem
Iran gibt es nicht. Deshalb ist, so meinen wir, die offene
Formulierung, die Sie in diesem Interview gewählt haben, fahrlässig.
({1})
Die Stellungnahmen aus den Reihen der Union zur
Rede des französischen Staatspräsidenten spielen die Sache schon sehr herunter. Kollege Polenz, in dieser Frage
dürfen wir keine künstlichen Gegensätze aufbauen; das
ist völlig richtig. Allerdings werden da die Dinge sehr
heruntergespielt und münden in einer deutlichen Verharmlosung.
Die Tatsache, dass nach Hiroschima und Nagasaki
keine weiteren Atomwaffen eingesetzt wurden, ist kein
Grund, sich an atomare Abschreckung zu gewöhnen. Sie
bleibt eine Kalkulation mit unterschiedsloser Massenvernichtung und dem faktischen Bruch allen Kriegsvölkerrechts.
({2})
Präsident Chirac beteuerte in seiner Rede, dass die
französischen Atomwaffen nur der Abschreckung dienten und keine Kriegswaffen seien. Zugleich aber sagte
er, dass auch Staaten abgeschreckt werden sollten, die
Terrorismus förderten und gegebenenfalls Massenvernichtungswaffen gegen uns - gegen Frankreich und
seine Verbündeten - einsetzen würden oder wollten. Er
sagte des Weiteren, französische Atomwaffen sollten
auch der Verteidigung unserer „strategischen Versorgung“ dienen.
Hinzu kommt, dass in Frankreich seit geraumer Zeit
eine ernsthafte Diskussion über die so genannte Miniaturisierung von Atomwaffen geführt wird. Hierzu ist
zusammen mit den USA ein ambitiöses Simulationsprogramm entwickelt worden. Ab 2010 wird es Annahmen
zufolge möglich sein, kleinere Atomwaffen sehr realitätsnah zu planen und zu testen.
Ich fasse zusammen: Erstens weitet Frankreich seine
atomare Abschreckung aus. Der Adressat ist angesichts
des Zeitpunkts - dieser Interpretation folgen durch die
Bank auch die weltweiten Medien - offensichtlich der
Iran. Zweitens ist eine gewisse Öffnung in Richtung der
Kriegsführungsfähigkeit mit Atomwaffen zu verzeichnen.
({3})
Die Verbreitung von Atomwaffen stellt neben dem internationalen Terrorismus gegenwärtig die Hauptbedrohung der internationalen Sicherheit dar. Wer heute eine
atomare Drohung oder eine atomare Option gegenüber
dem Iran zumindest andeutet, fördert die Weiterverbreitung, statt sie einzudämmen, und er fördert die Solidarisierung der dortigen Gesellschaft mit denjenigen, die tatsächlich über Atomwaffen verfügen wollen.
({4})
Die Rede des französischen Präsidenten lenkt den
Blick darauf, dass der französische Verbündete mit seiner Nuklearpolitik einer glaubwürdigen Nichtverbreitungspolitik in den vergangenen Jahren leider eher geschadet als genutzt hat. Dies ist aber bei uns in der
Politik insgesamt eher als Tabu behandelt worden.
Diese Widersprüche beeinträchtigen die Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit der europäischen Nichtverbreitungspolitik zurzeit auch gegenüber dem Iran. Das muss
zumindest intern dem französischen Verbündeten deutlich gemacht werden. So, wie die Bundeskanzlerin aber
die öffentliche Kritik in Deutschland abgekanzelt hat,
haben wir leider keinen Hinweis darauf, dass dies wenigstens unter vier Augen geschehen wäre.
({5})
Das ist beunruhigend, weil damit die Militarisierung
der Auseinandersetzung um das iranische Atomprogramm hingenommen zu werden scheint. Es handelt sich
dabei um eine Militarisierung des Denkens, die nicht zur
Lösung des gefährlichen Konflikts beiträgt, sondern Öl
in die Glut leitet.
Wir fordern die Bundeskanzlerin auf, die bisherige
Eindeutigkeit der deutschen Iranpolitik wieder herzustellen. Wir brauchen die glaubwürdige Geschlossenheit der
Staatengemeinschaft gegenüber dem iranischen Atomprogramm.
Danke.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Rolf Mützenich von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, die Rede des französischen Präsidenten in der
vergangenen Woche hat in der Tat nicht viel Neues enthalten. Darüber, ob der Zeitpunkt richtig gewählt worden ist, kann man streiten.
({0})
Ich glaube, wir haben damals auch zu Recht zwischen
Grünen und SPD - die CDU/CSU durfte damals nicht
zustimmen - bei der Beratung eines Antrags im Zusammenhang mit der Überprüfungskonferenz festgestellt,
dass die französischen Atomwaffen seit Mitte der 90erJahre modernisiert werden.
Dennoch glaube ich nicht, dass es darum geht, ob der
Präsident in seiner Rede viel Neues gesagt hat. Ich
glaube vielmehr, dass es um folgende Fragen geht: Wird
eine atomare Militärdoktrin den neuen Bedrohungen gerecht? Ist die Politik der Atomwaffenstaaten und damit
auch Frankreichs mit dem Atomwaffensperrvertrag vereinbar? Kann mithilfe einer nuklearen Abschreckungsdoktrin das Aufkommen neuer Atomwaffenstaaten verhindert werden?
Leider muss man diese drei Fragen verneinen. Man
wird den internationalen Terrorismus nicht durch
Nuklearwaffen abschrecken können. Die Atomwaffenstaaten müssten meines Erachtens dem Auftrag des
Atomwaffensperrvertrags und den 13 Punkten der ÜberDr. Rolf Mützenich
prüfungskonferenz nachkommen und atomar abrüsten.
Das Entscheidende ist, dass das Festhalten an Atomwaffen und deren Modernisierung andere Staaten verleitet,
solche Waffen möglicherweise für sich selbst vorzuhalten. Das ist im Grunde genommen der Kern, über den
man debattieren muss.
({1})
Ich möchte drei Tendenzen aufzeigen, die in letzter
Zeit in der internationalen Politik eine Rolle gespielt haben und auf die alle Kernwaffenstaaten reagieren müssten. Die erste feststellbare Tendenz ist, dass militärische
Gewalt wieder als Instrument in die internationale Politik aufgenommen wird. Das hat in den USA im Zusammenhang mit dem Irakkrieg stattgefunden. Das findet
aber auch in Russland statt. Erinnern wir uns nur an
Tschetschenien oder an die Überlegungen des Generalstabschefs der russischen Streitkräfte betreffend präventive Atomschläge. Genauso ist es in China. Denken wir
nur an die Taiwanfrage. Auch hier wird über militärische
Gewalt als legitimes Mittel diskutiert. Das müssen wir
zurückweisen; denn das ist eine große Gefahr für die internationale Politik.
({2})
Die zweite Tendenz ist, dass darüber diskutiert wird,
ob Atomwaffen eine neue Rolle zugewiesen werden soll
und ob das nukleare Gewaltmonopol wieder auf die nationalstaatliche Ebene übertragen werden darf. Nach
meiner Auffassung ist es nach 1945 ein großer Fortschritt gewesen, dass wir das an den Sicherheitsrat der
Vereinten Nationen überwiesen haben. Das Neue an der
Rede von Chirac ist, dass er die Befugnisse, über den
Einsatz von Nuklearwaffen zu entscheiden, auf die nationalstaatliche Ebene zurückholen will. Das muss man
zurückweisen.
({3})
Die dritte Tendenz steht - darum geht es letztlich - im
Zusammenhang mit der iranischen Atomkrise. Der Iran
hat in den letzten Wochen - machen wir uns nichts vor die Krise eskalieren lassen. Das muss man kritisieren
und zurückweisen. Herr Professor Paech, es ist eine Verharmlosung, wenn Sie die Worte von Ahmadinedschad
nicht kritisieren.
({4})
Letztlich herrschte im Bundestag Konsens über dieses
Thema. Ich finde, das sollte man in dieser Debatte erwähnen.
Der entscheidende Punkt ist: Der Iran hat gegen die
Regeln des Atomwaffensperrvertrages verstoßen. Das
hat die Internationale Atomenergiebehörde oft genug
festgestellt. Sie überprüft dies weiterhin. Aber es ist legitim, nun darüber nachzudenken, ob der Sicherheitsrat
der Vereinten Nationen - das ist das richtige Gremium aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse dem Iran in Zukunft besser bzw. möglicherweise konkreter drohen
kann. Das kann die Internationale Atomenergiebehörde
nicht. Deswegen muss der Fall Iran an den Sicherheitsrat
überwiesen werden.
({5})
Wir, die SPD-Fraktion, unterstützen das, was der Außenminister in den vergangenen Tagen gesagt hat. Es
war gut, dass er ständig darauf geachtet hat, dass es zu
einem gemeinsamen Vorgehen der Europäischen Union
kommt. Darauf müssen wir weiter setzen. Die EU-3Staaten müssen an ihrer gemeinsamen Position festhalten, genauso wie der Beauftragte für äußere Angelegenheiten der Europäischen Union. Die Verhandlungen in
den letzten zwei Jahren waren gut; denn heute wissen
wir mehr darüber, was der Iran gegenüber der Internationalen Atomenergiebehörde verschwiegen hat. Diese öffentliche Diskussion hat sich gelohnt.
Ich möchte die Bundesregierung ermutigen, das aufzugreifen, was der Kollege Hoyer gesagt hat. Es ist an
der Zeit, die Rüstungskontrolle wieder auf die Tagesordnung der internationalen Politik zu setzen.
({6})
Darin unterstütze ich die Bundesregierung. Wir haben
gelernt, dass Rüstungskontrolle und Abrüstung die Entspannung in Europa gefördert haben. So sollten wir auch
andere Rüstungskrisen entschärfen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Karl-Georg Wellmann
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Situation ist außerordentlich beunruhigend. Der Iran entwickelt eine Nukleartechnologie, deren Ausmaß und Umfang vernünftigerweise keinen anderen Schluss zulassen,
als dass Atomwaffen gebaut werden sollen. Dort werden
Komponenten entwickelt und tatsächlich gebaut, die
man für die zivile Nutzung der Kernenergie nicht benötigt und deren enorme Kosten nur dann Sinn machen,
wenn es Ziel ist, Atomwaffen zu besitzen.
Der Iran entwickelt Trägersysteme, was vernünftigerweise keinen anderen Schluss zulässt, als dass andere
Nationen damit bedroht werden sollen. Ich meine damit
nicht nur Nationen im näheren Umfeld, sprich Israel. Ich
frage mich vielmehr: Warum braucht der Iran Raketen,
die 2 000 Kilometer weit fliegen und Europa erreichen
können? Der französische Generalstabschef hat wörtlich
gesagt, er hielte das für einen Albtraum. Ich glaube, der
Mann weiß, wovon er redet.
({0})
Der Iran verhält sich auch heute so, dass der Schluss
nahe liegt, er meine es mit seiner Nuklearrüstung bitterernst. Da wurde gelogen und getäuscht. Ich erinnere daran, dass die Anlage zur Anreicherung von Uran zunächst als Armbanduhrenfabrik deklariert wurde. Mit
denen kann man - das wissen wir - jedenfalls kein Uran
anreichern, aber mit den Gaszentrifugen, die in dieser
Fabrik stehen und ausschließlich dem Zweck der Anreicherung waffenfähigen Materials dienen.
Ich warne auch vor Wunschdenken. Es gibt viele, die
glauben, der Mann meine es bestimmt nicht so ernst,
Ahmadinedschad werde innenpolitisch Schwierigkeiten
bekommen und er werde sich nicht durchsetzen. Das
mag sein. Ich glaube aber, der Mann meint tatsächlich,
was er sagt. Seine abstoßenden Äußerungen zu Israel haben wir alle gehört. Es ist schon reichlich eklig - das will
ich in dieser Form hier einmal sagen -, wenn jetzt die
deutschen Rechtsradikalen mit Horst Mahler an der
Spitze nach Teheran pilgern,
({1})
um dort ihre zwanghaften Fixierungen gegen jüdische
Menschen und gegen Israel auszuleben.
Die Frage ist: Wie sollen wir reagieren? Möglichkeit
eins: gar nichts machen, also business - im wahrsten
Sinne des Wortes - as usual; es wird schon nicht so
schlimm werden. Vielleicht hilft es ja, Herr Trittin, den
Mullahs weiter gut zuzureden. Die Folge wird sein, dass
sie - nach unseren Informationen - eher früher als später
die Atombombe haben werden. Ich glaube nicht, dass sie
sie gleich einsetzen werden. Sie kennen die Fähigkeiten
Israels und sie haben sicher auch die Äußerungen des
französischen Staatspräsidenten zur Kenntnis genommen. Aber sie streben als Nuklearmacht die Vormachtstellung in der arabisch-muslimischen Welt an. Der Iran
wird sich bei dem Export von Terrorismus noch unangreifbarer fühlen. Wir wissen seit langem, dass der Iran
den Dschihad im Kampf gegen Israel unterstützt.
({2})
Möglichkeit zwei: eine militärische Lösung. Die will
kein verantwortlicher Politiker, insbesondere nicht die
deutsche Bundesregierung. Ich darf sagen, Herr Trittin,
dass es eine Unverfrorenheit ist, dass ein Sprecher der
Grünen - das ging heute über die Agenturen - Frau
Merkel vorwirft, sie gehe von der Friedenspolitik ab und
wolle etwas anderes. Dies weise ich in aller Form zurück.
({3})
Lassen Sie mich das Zitat des Chefs der Atomenergiebehörde, Herrn al-Baradei, vorlesen. Er sagt wörtlich:
Diplomatie ist nicht nur Reden. Diplomatie braucht
auch Druckmittel und, in extremen Fällen, Gewalt.
Das sagt dieser vorsichtige Mann. Ich meine, es wäre
falsch, die militärische Option von vornherein als allerletzte Konsequenz auszuschließen. Die Grünen tun das,
die Linkspartei auch. Ich glaube, Ihre Haltung wird die
Mullahs in Teheran ungeheuer beeindrucken und sie
werden allein deshalb von ihrer Atompolitik ablassen.
Ich stelle mir auch vor - das sollten Sie und auch Herr
Paech sich einmal überlegen -, welchen Eindruck es auf
die Menschen in Israel macht, dass Sie angesichts einer
Nuklearrüstung des Iran als Erstes die Sorge um die territoriale Unberührtheit des Iran formulieren. Ich warne
vor dem Eindruck, der da erzeugt wird.
({4})
Das passt ins Bild. Ich habe mir ein Zitat von Altaußenminister Fischer herausgesucht. Er hat in der „Süddeutschen Zeitung“ - da war er schon einige Jahre Außenminister - gesagt, der Iran rücke immer mehr als
politischer Stabilitätsfaktor in den Vordergrund; das
Land sei im Aufbruch zu demokratischen Reformen.
({5})
Die Grünen kommen einen langen Weg, bis sie die Situation realistisch einschätzen.
Herr Kollege Paech, ich muss Ihnen sagen: Ihre Einlassungen sind völlig unglaubwürdig. Sie waren es - ich
habe das nachgelesen -, der die Intervention der Sowjetunion in Afghanistan mit warmen Worten gelobt hat. Ich
habe mir das Zitat herausgesucht. Sie sagen, wegen der
offenen Interventionsdrohung der USA gegenüber dem
Iran und wegen der konterrevolutionären Einmischung
Pakistans sei die friedliebende Sowjetunion dem armen
Afghanistan zu Hilfe geeilt.
({6})
Diese Doppelmoral, Herr Paech, ist in der Tat unerträglich.
({7})
Das Problem ist, dass Sie all dies und noch viel mehr
veröffentlicht haben. Ich habe schöne Zitate von Ihnen
gefunden; man kann das heute alles nachlesen.
Unsere einzig realistische Möglichkeit ist, international wirkungsvoll - das heißt vor allem: gemeinsam mit
Russland und möglichst auch gemeinsam mit China Druck aufzubauen. Russland und China haben kein Interesse an einer neuen Atommacht an ihren Südgrenzen.
({8})
Auch die Chinesen, Herr Trittin, haben ein Interesse an
gesicherten, stabilen Energielieferungen. Sie haben kein
Interesse an einer Atommacht, die, wie Michael Stürmer
sagt, „apokalyptisch, sektiererisch“ gepolt ist.
Herr Kollege Wellmann, kommen Sie bitte zum
Schluss.
Deshalb macht ein wirklich entschlossenes Vorgehen
der Staatengemeinschaft Sinn. Das muss im Vordergrund
der diplomatischen Bemühungen der deutschen Regierung stehen. Dafür hat sie die Unterstützung meiner
Fraktion.
Vielen Dank.
({0})
Herr Kollege Wellmann, im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Uta Zapf von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich am Anfang ein Wort zu den Kollegen sagen, die zuvor gesprochen haben. Wir sollten das,
was Herr Scholz gesagt hat, nicht herunterspielen, sondern ernst nehmen.
({0})
- Nein, Sie haben gesagt: nicht hilfreich und sachdienlich. - Ich finde, es geht weit darüber hinaus, weil es
eine Anregung war, unsere eigenen Sicherheitsstrukturen in der Weise zu verändern, dass wir den Nichtverbreitungsvertrag beenden und die gesamte Politik, die
wir vorher als Nichtatomwaffenstaat glaubwürdig gemacht haben, aufgeben sollten. Auch der Vorschlag von
Herrn Chirac, die Nuklearwaffen Frankreichs - sicherlich denkt er auch an die Großbritanniens - zum Bestandteil der ESVP zu machen, ist ganz prekär.
({1})
Ich fürchte mich davor, dass eine Diskussion über einen
solchen Vorschlag die gesamte Politik ruiniert, die wir
gemeinsam in diesem Hause bisher entwickelt haben.
({2})
Diese Aktuelle Stunde trägt den Titel „Warnungen vor
einer Militarisierung der Auseinandersetzung um das
iranische Atomprogramm“. Man muss all denjenigen,
die eine militärische Option in Bezug auf den Iran fordern oder für sinnvoll halten, die Frage stellen, ob sie die
Folgen einer militärischen Operation überhaupt überprüft haben. Ich muss mit Erschrecken feststellen, dass
mein Verteidigungsministerium mir als Parlamentarierin
die Erfüllung der Bitte versagt hat, mir ein militärisches
Briefing zu geben. Möglicherweise geschah das in der
Angst, dass ich mich heute hierhin stelle und sage: Das
ist doch möglich und die Bundesrepublik macht dort mit.
Mir ging es darum, dass man sich wirklich einmal
überlegt, was die Anwendung einer militärischen Option
bedeutet. Ich fordere dazu auf, kurz den Blick auf den
Irak zu richten. Ich glaube, mehr brauche ich dazu nicht
zu sagen. Man bedenke sämtliche Konsequenzen.
({3})
Von hier aus möchte ich Herrn Steinmeier noch einmal für die Ablehnung der Militarisierung des Denkens
recht herzlich danken. Es ist wichtig, auf den Pfad der
Verhandlungen zurückzukehren, wie es Herr Erler hier
geschildert hat.
Iran pocht auf sein in Art. IV des Atomwaffensperrvertrages verankertes Recht; aber es bestehen Zweifel,
dass er die in diesem Vertrag niedergelegten Verpflichtungen einhält. Über diesen Punkt müssen wir diskutieren.
Ich möchte noch auf ein sicherheitspolitisches Thema
von allgemeiner Bedeutung eingehen. Die IAEO hat
zwei Aufgaben: Zum einen soll sie mithilfe der Safeguards und anderer die friedliche Nutzung der Atomenergie ermöglichen; zum anderen soll sie gegenüber
den Atommächten immer wieder mahnen, was in Art. VI
des Atomwaffensperrvertrages steht. Wir müssen uns
einmal den momentanen Zustand der nuklearen Abrüstung anschauen: Seit 1995 gibt es einen Stillstand. Nach
der Agonie, in die die Überprüfungskonferenz zum
Atomwaffensperrvertrag hineingeraten ist, können wir
für die Zeit nach 2005 eigentlich nur Rückschritte feststellen.
Auch im Hinblick auf die Doktrinen gibt es eine Entwicklung, die mir Angst macht. Das, was Chirac gesagt
hat, kann man auch anders interpretieren. Die Doktrin
der USA für den Einsatz von Nuklearwaffen - sie liegt
schwarz auf weiß vor - erklärt Nuklearwaffen zu Kriegswaffen und sieht Präemptivschläge vor. Sie besagt ausdrücklich, dass man einen Gegner auf seinem eigenen
Territorium mit Nuklearwaffen treffen darf, wenn dieser
möglicherweise über Massenvernichtungswaffen verfügt. Dies ist eine ganz große Gefahr. In noch viel höherem Maße als bei Frankreich ist bei den USA zu sehen,
dass die Waffendesigns bereits auf dem Reißbrett liegen.
Wir müssen uns ernsthaft darauf besinnen, zur nuklearen Abrüstung zurückzukommen. Wir brauchen einen Atomteststopp, einen Cut-off, aber auch wieder eine
Diskussion über atomwaffenfreie Zonen. Das Wichtigste
wäre, dass sich die internationale Staatengemeinschaft
bemüht, über regionale Sicherheitskonzepte unter Einbeziehung aller Nachbarn endlich gemeinsam zu diskutieren. Da sind wir als Europäer, die USA und die UNO in
gleichem Maße gefragt.
In diesem Zusammenhang kann man dann auch anfangen, über atomwaffenfreie Zonen in diesem Bereich
zu diskutieren. Man muss sich die Sicherheitsbedürfnisse der einzelnen Staaten anschauen. Einige Staaten
meinen mittlerweile, dass sie sich überhaupt nur mit
Nuklearrüstung schützen können. Das gilt für Indien, Pakistan und Nordkorea und das können wir exemplarisch
möglicherweise auch am Iran sehen. Es geht darum, ein
globales Sicherheitskonzept zu entwickeln, wie alBaradei auch gefordert hat. Er hat nicht nur gefordert, zu
drohen. Er hat auch gesagt: Die internationale Staatengemeinschaft muss ein globales Sicherheitskonzept entwickeln, das nicht von nuklearer Abschreckung geprägt ist,
sondern das die Sicherheitsinteressen der einzelnen Staaten berücksichtigt.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.
Letzter Satz. - Wir müssen in diesem Kontext wirklich etwas angehen, was die OSZE in Europa geschafft
hat und was auch die Europäische Union vorexerziert:
gemeinsame Sicherheit organisieren, Vertrauensbildung
und Abrüstung endlich wieder auf den Tisch des Hauses
bringen.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Erich Fritz von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Zapf, es gehört zum Verfassungskonsens der
Bundesrepublik Deutschland, dass wir weder Atomwaffen besitzen wollen noch an ihren Einsatz denken.
({0})
- Die Aussagen des sonst sehr geschätzten Herrn Kollegen Professor Scholz sowie des Herrn Professor Paech
rauben einem jeden Glauben - soweit man ihn überhaupt
jemals hatte - an die besondere Fähigkeit von Professoren, mit den Dingen dieser Welt umzugehen. Deshalb
sollte man gar nicht weiter darüber nachdenken.
({1})
Eine meiner Heimatzeitungen, die „Westfälische
Rundschau“ in Dortmund, titelt heute „Iran kauft Atomteile illegal in Deutschland“. Der Bericht beruht auf Informationen aus dem Zollkriminalamt. Er signalisiert
mir zwei Dinge: Erstens zeigt er, dass wir mit dem, was
in den 90er-Jahren nach den Erfahrungen in Rabda etc.
zur Bekämpfung illegaler Exporte, zur Begrenzung von
Rüstungsexporten und Exporten von Dual-Use-Gütern
und deren Kontrolle sowie zur Vorfeldaufklärung aufgebaut worden ist, gut gehandelt haben und dass das erfolgreich ist, selbst wenn man kriminelle Handlungen in
diesem Bereich nie ausschließen kann.
Dieser Artikel signalisiert ein Zweites, nämlich dass
das Beschaffungswesen des Iran im nuklearen wie im
biologischen Bereich auf eine aggressive Ausstattung
dieses Landes weist, dass es nicht darum geht, defensive
Fähigkeiten zu verbessern, sondern darum, ausschließlich aggressive Potenziale aufzubauen.
Deshalb ist es richtig, dass wir diese Debatte so führen, wie wir es jetzt tun - auch wenn man das beim Eingangsbeitrag von Herrn Trittin noch nicht geglaubt hat -,
nämlich mit der Bestätigung der gemeinsamen Absicht,
die europäische Position, die aufgebaut worden ist, zu
unterstützen, also den diplomatischen Druck zu erhöhen,
den Iran trotz seines Verhaltens immer wieder an den
Verhandlungstisch zurückzubringen und in Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten, Russland und China
alle Chancen zu nutzen.
Es ist doch erfreulich, wenn wir jetzt feststellen, dass
es nach langem Hin und Her, nach zunächst extremer
Ablehnung nun Signale dafür gibt, dass der Vorschlag
Putins - auf den die Bundeskanzlerin, wie wir wissen,
Einfluss genommen hat - in Teheran positiv erwogen
wird. Ich finde es auch gut, wenn jetzt nicht eine Lex
Iran daraus gemacht wird, sondern sozusagen ein
Dienstleistungsangebot Russlands an die Länder existiert, die solche Wiederaufarbeitung brauchen.
({2})
Ich finde, das ist ein guter Ansatz, weil er - wie schon
Ruprecht Polenz gesagt hat - die Gesichtswahrung gewährleistet.
Aber machen wir uns nichts vor. Wenn wir den Verlauf der Verhandlungen betrachten, dann wissen wir
auch, dass man immer wieder daran zweifeln muss, ob
die Verhandlungsabsicht der anderen Seite wirklich ehrlich ist, ob es um die Lösung des Problems geht - um die
Durchsetzung der friedlichen Nutzung der Kernenergie oder ob dahinter nicht doch der Wille zum Erwerb aggressiver Potenziale bis hin zu Atomwaffen steckt. Deshalb gibt es keine Alternative zu dem jetzt begonnenen
Vorgehen, nämlich im Gouverneursrat darüber zu sprechen, ob man den Sicherheitsrat einschaltet.
Ich finde die Initiative der Vereinigten Staaten, die
Reise Robert Zoellicks zu Gesprächen nach Peking, und
die Reaktion Pekings sehr positiv. Peking hat ausdrücklich erklärt, man habe kein Interesse daran, dass der Iran
Atomwaffen erwirbt oder selbst herstellt. Es ist sehr positiv, dass Russland in derselben Weise Partei ergreift.
Noch nicht ganz klar ist, wie Indien sich im Gouverneursrat verhalten wird. Es hat ebenfalls eine wichtige
Schlüsselposition; wir wissen, welche energiepolitischen
Absichten in Richtung Pakistan und Indien vom Iran aus
verfolgt werden.
Meine Damen und Herren, die Drohung mit Sanktionen hat sich in der Vergangenheit als nicht sehr scharfe
Waffe erwiesen. Dennoch sollte man keine Möglichkeit
ausschließen. Jeder muss wissen, dass wir im Extremfall
Sanktionen besser aushalten als der Iran,
({3})
der mit 60 Prozent seiner Staatseinnahmen vom Öl- und
Gasexport abhängig ist, der keinerlei weltmarktfähige
Produkte hat außer den Rohstoffen, die er verkaufen
kann, und der die Loyalität seiner Bevölkerung auf
Dauer nicht nur durch den Hass auf Israel und aggressive
Außenpolitik wird erhalten können.
Herr Kollege Fritz, kommen Sie bitte zum Schluss.
Die Menschen im Iran, diese junge Bevölkerung, haben einen Anspruch darauf, dass ihre Zukunft gesichert
wird: durch Technologietransfer, durch Öffnung für den
und Beteiligung am Welthandel, durch alle Möglichkeiten, sich gleichberechtigt zu verhalten. Deshalb bietet
der Weg in die Isolation, den dieser Präsident geht und
den die Mullahs immer wieder gegangen sind, keine Zukunftsperspektive für das Land.
({0})
Das Wort hat der Kollege Andreas Weigel von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor
anderthalb Jahren war unsere Einschätzung bezüglich
der Verhandlungen der EU 3 noch recht positiv. Heute
befinden wir uns in einer völlig anderen Situation. Wir
haben eine andere Phase erreicht. Es ist aber falsch, den
Abbruch der Verhandlungen als das Ende der Verhandlungen zu sehen und zu meinen, nun begännen militärische Optionen. Die EU 3 müssen die Verhandlungen
wieder aufnehmen; denn wir wollen eine friedliche Lösung des Konflikts. Wir stehen in der Verantwortung,
diesen Konflikt friedlich zu lösen.
({0})
Die Verhandlungen benötigen aber ein glaubwürdiges
Angebot und ebenso ein glaubwürdiges Drohpotenzial.
Da wir militärische Drohpotenziale ausschließen, müssen wir uns ernsthaft mit Wirtschaftssanktionen auseinander setzen. Konsequente Wirtschaftssanktionen
würden den Iran entscheidend treffen. Wenn keine ernst
zu nehmenden diplomatischen Möglichkeiten und Konzepte greifen, werden wir darum nicht herumkommen.
Ich halte sie im Übrigen auch für erfolgversprechend,
weil sie den Iran an einer sehr empfindlichen Stelle treffen.
Die iranische Führung tritt gerade deswegen außenpolitisch so aggressiv auf, weil sie große Probleme mit
der dynamischen Entwicklung ihrer Bevölkerung hat, einer Bevölkerung, die jährlich um 1,2 Prozent, also um
fast 1 Million Menschen, wächst. Eine Gesellschaft, die
derart rasant wächst, verlangt konsequenterweise nach
Wirtschaftswachstum und entsprechenden Arbeitsplätzen.
Es wird gesagt, wirtschaftliche Sanktionen kämen
nicht infrage, weil davon die globale Energieversorgung
schwer getroffen werden würde. Wir selbst hätten dafür
einen sehr hohen Preis zu zahlen. Aber was ist denn die
Alternative? Wirtschaftssanktionen können nur auf dem
Gebiet erfolgreich sein, wo es dem Iran wehtut. Es geht
also im Wesentlichen um das Erdöl. Wirtschaftssanktionen werden Auswirkungen auf die Energiemärkte haben.
Das hat auch für uns empfindliche Konsequenzen.
({1})
Wir müssen uns auf spürbare energiepolitische Folgen
einstellen. Wir werden um diesen Preis nicht herumkommen. Die Frage ist, ob wir diesen Konflikt energiepolitisch aushalten. Wirtschaftliche Sanktionen, die über
mehrere Stufen gesteigert werden können, sind neben
den diplomatischen Bemühungen aus meiner Sicht das
einzige Mittel, die iranische Führung noch zum Einlenken zu bewegen.
({2})
In den letzten Tagen ist in der öffentlichen Berichterstattung der Eindruck entstanden, dass sich Frankreich
für militärische Sanktionen ausspricht. Wenn ich die
Rede des französischen Präsidenten vom 19. Januar richtig verstehe, dann komme ich zu dem Schluss, dass sein
eigentliches und ursprüngliches Anliegen ist, die Frage
der gemeinsamen europäischen Verteidigung anzusprechen, einer Verteidigung, die ausdrücklich auch über die
Fähigkeit zur Abschreckung verfügt. Dabei geht es erstens um die Änderung der Nuklearstrategie des Westens.
Zweitens geht es darum, dass sich Europa über die Frage
Gedanken machen muss, ob das nukleare Potenzial der
Franzosen und Briten eine Rolle in der europäischen
Verteidigung spielen soll.
Wenn wir eine Abschreckungskapazität brauchen,
stellt sich die Frage, wie sie aussehen soll. Es sind - zugegebenermaßen - unbequeme Fragen, die der französische Präsident aufwirft. Wir kommen aber in der Tat um
die Beantwortung dieser Fragen nicht herum - auch die
Politik in unserem Land muss sich diesen Fragen stellen -: Woraus soll die Verteidigungsfähigkeit Europas
letztendlich bestehen?
({3})
Welche Rolle werden Nuklearwaffen in einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion spielen?
Die EU hat noch immer eine gute Handlungsbasis.
Damit kann man im Schulterschluss mit Russland und
mit Unterstützung der Vereinigten Staaten und Chinas
spürbaren Druck auf den Iran ausüben. Wenn Europa geschlossen und glaubwürdig der iranischen Führung mit
empfindlichen Sanktionen droht, wenn die USA und
Russland diesen Weg mitgehen und wenn Russland die
Übernahme der iranischen Atomanreicherung anbietet,
dann wird der Iran erkennen, dass es in seinem ureigenen Interesse ist, mit der internationalen Staatengemeinschaft zu kooperieren.
({4})
Das Wort hat der Kollege Steffen Reiche von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! „Nur wenige Völker haben ihre nationale Identität
über einen so langen Zeitraum hinweg zu wahren vermocht.“ Das hat Willy Brandt einmal in großer Achtung
vor der uralten Kulturnation der Iraner gesagt. Über
6 000 Jahre hinweg handelt es sich um eine Geschichte,
die immer auch Frieden und Krieg mit Israel kannte. Das
Alte Testament ist voll davon.
Wir haben dem Iran in der Weltkultur viel zu verdanken und Wesentliches auch in unsere europäische Kultur
integriert. Deshalb ist es so wichtig, gerade in dieser aufgeladenen Zeit - in der es auch strategische Überraschungen geben könnte, wie Jacques Chirac in seiner
Rede zu Recht warnt - Zeichen an die islamische Welt
zu senden, die nicht nur den Willen zum Frieden, sondern auch und vor allem den Willen zur Integration zeigen.
Deshalb ist das klare Zeichen vom 3. Oktober, des Tages, an dem Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufgenommen worden sind, so hoch anzusehen. Dieses Zeichen ist nämlich nicht nur bei den Türken, sondern auch
bei Arabern und Persern sowie in der ganzen islamischen Welt vermerkt worden. Gerade diese Entscheidung stärkt die Rolle Europas in der Vermittlung in
ebendiesem Konflikt.
({0})
Der, der in dieser Frage am ehesten gehört werden
sollte - zumindest nach der von uns in Deutschland beschlossenen europäischen Verfassung -, nämlich Javier
Solana, der EU-Außenbeauftragte, hat eine militärische
Lösung im Atomstreit mit dem Iran abgelehnt. „Ein militärisches Vorgehen gegen den Iran steht außer Frage“,
hat er vor zehn Tagen klargestellt. Genauso außer Frage
steht, dass sich Präsident Mahmud Ahmadinedschad wie
ein weltpolitischer, antisemitischer Geisterfahrer benimmt.
({1})
Die Koinzidenz von der Leugnung des Holocaust, dem
erklärten Willen, Israel von der Landkarte zu tilgen, und
dem Aussetzen des Moratoriums zur Atomforschung erfordert eine klare Antwort der Weltgemeinschaft und der
Europäischen Union.
({2})
Es erfordert vor allem eine Stimme von Europa. Gäbe es
mehrere Stimmen aus Europa, würde die wichtigste
Stimme neben der Russlands, der USA und Chinas nicht
gehört.
Chirac sagt in seiner Rede leider erst am Ende - da
haben es viele nicht mehr gehört -: Es bleibt meine
Überzeugung, dass wir zu gegebener Zeit die Frage nach
einer gemeinsamen Verteidigung stellen müssen, welche
die bestehenden Abschreckungskräfte im Hinblick auf
ein starkes, für seine Sicherheit verantwortliches Europa
berücksichtigt.
Guy Verhofstadt, der belgische Regierungschef,
schreibt in seinem großartigen Buch „Die Vereinigten
Staaten von Europa. Manifest für ein neues Europa“ in
faszinierender Klarheit:
Die europäische Außenpolitik wird erst glaubwürdig sein, wenn es eine echte europäische Verteidigung gibt, d. h. eine europäische Armee.
Wir müssen den Mut haben, die Dinge beim Namen
zu nennen. Deshalb muss Deutschland, müssen Bundesregierung und Bundestag
Die
gegebene Zeit für diesen Schritt ist jetzt. Über 50 Jahre
nach dem Scheitern der EVG, der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, im Jahre 1954 müssen wir einen
neuen Anlauf unternehmen und den Weg zu einer gemeinsamen europäischen Armee in der NATO ebnen.
Manche vermuten, dass sich Chirac in Brest auch deswegen so deutlich geäußert hat, weil er die Notwendigkeit der 3,5 Milliarden Euro, die Frankreich für seine
Atomkräfte ausgibt, erklären wollte. Aber Jeremy Rifkin
und andere haben uns vorgerechnet, wie wir mit dem
gleichen Geld, das wir in Europa in nationale Armeen
stecken, viel mehr Sicherheit erreichen könnten oder
aber - bei gleicher Sicherheit - eine gemeinsame Friedensdividende haben würden. Wenn man jetzt beginnt,
dann wäre, denke ich, die nächste Finanzplanungsperiode noch ein denkbares Ziel.
Wer Europa aufbauen will, muss wacher sein und tiefer träumen als andere. Das ist die notwendige Dialektik.
Deshalb versteht sich die PDS, die sich jetzt Linke
nennt, nicht einmal selber bzw. nimmt nicht ernst, was
sie fordert, wenn sie die europäische Verfassung ablehnt,
weil sie zu stark militarisiert sei. Der einzige berechtigte
Vorwurf an den europäischen Verfassungsvertrag kann
doch nur sein, dass er noch nicht so viel gemeinsame
Verteidigungspolitik ermöglicht, wie heute nötig. Wenn
wir schon den Euroraum geschaffen haben, warum sollte
uns heute nicht auch der Raum einer gemeinsamen Verteidigungspolitik in einer besseren Koalition der Willigen gelingen?
Eine Bitte habe ich an uns alle: Rabbiner Israel
Singer, der Vorsitzende des Jüdischen Weltkongresses,
hat einen bemerkenswerten Vorschlag gemacht. Er sagt:
Nachdem die Kirchen und das Judentum vorgemacht haben, wie man durch einen intensiven Dialog 2 000 Jahre
kirchlichen Antisemitismus überwinden kann, könnte
man das doch auch mit dem Islam schaffen. - Ich bitte
Sie, seinen Vorschlag zu prüfen, ob nicht Deutschland
eine internationale Konferenz einberuft, die politische
Steffen Reiche ({0})
und religiöse Führer aus der ganzen Welt zusammenbringt, um zu besprechen, wie der Zusammenstoß der
Kulturen vermindert und verhindert werden kann.
Herr Kollege Reiche, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich füge hinzu: Deutschland sollte das im Namen der
Europäischen Union tun. Herr Singer sagt, Berlin wäre
hierfür der richtige Ort. Ich finde, er hat Recht.
({0})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Heinrich L. Kolb, Heinz-Peter Haustein,
Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Vorverlegung des Fälligkeitstermins für Sozialabgaben rückgängig machen und strukturelle Reformen in der Rentenversicherung einleiten
- Drucksache 16/396 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich bitte die Kollegen, die an der jetzt anstehenden
Debatte nicht teilnehmen wollen, den Saal zu verlassen,
damit wir mit den Beratungen fortfahren können.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Dr. Heinrich Kolb von der FDP-Fraktion das
Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am
16. Januar dieses Jahres haben die Unternehmen in
Deutschland wie gewohnt die Sozialversicherungsbeiträge für den Monat Dezember abgeführt; so weit, so
gut. Morgen, am 27. Januar 2006, also nur elf Tage später, werden bereits die Beiträge für den laufenden Monat
Januar fällig. Insgesamt werden die Unternehmen in diesem Jahr 13 Sozialversicherungsbeiträge an die Sozialkassen abführen müssen. Das ist schlecht, sehr schlecht
sogar; denn mit dem Vorziehen der Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge wird vor allem den mittelständischen Unternehmen 20 Milliarden Euro an Liquidität
dauerhaft entzogen,
({0})
zusätzliche Finanzierungskosten in Höhe von
1,25 Milliarden Euro aufgebürdet und Bürokratielasten
nach Expertenschätzungen bis zu einer Höhe von
4 Milliarden Euro zugemutet. Mit einem Wort: Die Wirkung dieses Zwangskredites, den die Unternehmen der
Sozialversicherung gewähren müssen, ist verheerend.
({1})
Im vergleichsweise günstigen Fall können Unternehmen wegen des Liquiditätsentzugs Investitionen nicht
realisieren und neue Arbeitsplätze nicht schaffen. Im
ungünstigeren Fall - das betrifft Hunderttausende von
Fällen - werden die Unternehmen in eine schwere Finanzierungskrise gestürzt, die für nicht wenige Betroffene existenziell sein wird. Ich sage Ihnen, meine Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, voraus und
werde dabei leider Recht behalten: Das Vorziehen der
Fälligkeit der Sozialbeiträge wird zwischen 20 000 und
30 000 zusätzliche Insolvenzen in diesem Jahr in
Deutschland zur Folge haben
({2})
und damit 100 000 bis 150 000 Arbeitsplätze zusätzlich
vernichten. Das fällt in Ihre Verantwortung.
({3})
Das ist keine Panikmache,
({4})
weil schon heute in einer Vielzahl der Fälle auf der Gläubigerseite Konkursanträge durch die Sozialversicherungsträger, namentlich die Krankenkassen als Einzugsstellen, gestellt werden, oft wegen relativ geringer
dreistelliger Eurobeträge. In dieser Sache müssen Sie
sich einmal schlau machen. Weil die Sozialversicherungsbeiträge wegen des überaus engen Zeitkorridors
am Monatsende absolut pünktlich kommen müssen, ist
davon auszugehen, dass dieses Regime zukünftig mindestens genauso rigide, wenn nicht noch rigider gehandhabt werden wird.
Zu den Wirkungen auf den Mittelstand: Es gab Zeiten, da hat zumindest die Union das noch genauso gesehen. Ich zitiere Andreas Storm in der Aktuellen Stunde
vom 11. Mai 2005:
Für viele kleine Handwerksmeister kann dieser zusätzliche Liquiditätsentzug der Tropfen sein, der
das Fass zum Überlaufen bringt. Damit sind weitere
Arbeitsplätze in unserem Land gefährdet.
Das hat er gesagt, bevor die Union ihre 180-Grad-Wendung in dieser Frage vorgenommen hat; seine Aussage
gilt aber heute noch unverändert.
({5})
Damit stellt sich auch die Frage nach dem Ansatz der
großen Koalition zur Bewältigung der aktuellen Probleme in übrigens allen Zweigen der Sozialversicherung. Wenn es richtig ist, Herr Kollege Weiß - Sie
werden gleich dazu sprechen -, dass die aktuellen Probleme weniger durch einen Anstieg der Ausgaben - das
natürlich auch - als vielmehr durch eine Schwäche bei
den Einnahmen begründet sind, und wenn es richtig ist,
dass der Verlust von 1,5 Millionen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen und damit verbunden von
1,5 Millionen Beitragszahlern seit 2001 Ursache der
Finanzkrise ist, dann kann es, um mit unserem Bundespräsidenten Horst Köhler zu sprechen, nur eine richtige
Antwort geben: Vorfahrt für Arbeit! Im Umkehrschluss
heißt das: Es muss alles unterlassen werden, was Arbeitsplätze bedroht oder vernichtet. Das gilt für das Vorziehen der Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge in
besonderer Weise.
({6})
Deswegen frage ich Sie, meine Kollegen von Union
und SPD: Glauben Sie wirklich, dass die mageren Beschlüsse von Genshagen - 9,5 Milliarden Euro für den
Mittelstand, verteilt über vier Jahre, also noch nicht einmal 2,5 Milliarden Euro pro Jahr - auch nur annähernd
den gesamtwirtschaftlichen Schaden ausgleichen können, der mit dieser neuen Regelung angerichtet wird?
Wer, wenn nicht der Mittelstand, soll denn Arbeitsplätze
in diesem Land schaffen?
({7})
Glauben Sie, dass sich ein Mittelständler von der
Übergangsregelung für den Januarbeitrag, von dieser
Sechstelung über die nächsten Monate, wirklich blenden
lässt? Was Sie da betreiben, ist doch Augenwischerei!
Spätestens ab August - und dann dauerhaft - trifft ihn
die volle Belastung und schmälert seine Liquidität. Die
Unternehmen werden sich darauf einstellen müssen, ob
Sie das glauben oder nicht.
({8})
Dann steht bereits zu Beginn des nächsten Jahres die
Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozent mit der Wirkung eines Kaufkraftentzugs von 25 Milliarden Euro ins
Haus. Das wird die Konjunktur in unserem Lande - das
hat der Bundeswirtschaftsminister in der Debatte heute
Morgen ja eingeräumt - zusätzlich aufs Schwerste belasten. Das sind keine Rahmenbedingungen, die auf neue
Arbeitsplätze hoffen lassen.
Um es mit einem Bild zu sagen: Sie haben in Genshagen bei bis zum Anschlag angezogener Handbremse versucht, auf das Gaspedal der Konjunktur zu treten. Jeder
Autofahrer aber weiß, dass das Gasgeben bei angezogener Handbremse dazu führt, dass man den Motor abwürgt. Genau das werfen wir Ihnen vor, dass Sie nämlich
den Mittelstand, den Motor der Wirtschaft in unserem
Lande, stümperhaft abwürgen werden.
({9})
Das Gebot der Stunde ist also - um im Bild zu bleiben -,
die Handbremse mit einer Steuerreform, mit Reformen
auf dem Arbeitsmarkt und Strukturreformen der
sozialen Sicherungssysteme zu lockern. Der Sachverständigenrat hat dazu Vorschläge gemacht.
Wir als FDP-Bundestagsfraktion werden uns jedenfalls mit dieser unsinnigen Regelung nicht abfinden. Wir
haben bisher schon gegen diese Regelung angekämpft
und werden das auch weiterhin tun. Wir wollen nicht,
dass die Unternehmen in Deutschland von Ihnen weiterhin wie eine Zitrone ausgequetscht werden.
({10})
Wir werden deswegen eine Protestaktion bei 30 000 Mittelständlern als Initialzündung starten, um dem Bundesarbeitsminister als dem Verantwortlichen, der jetzt leider
nicht hier ist - heute Morgen bei den Saison-Kurzarbeitergeldern war er da; das war ihm anscheinend wichtig -,
deutlich zu machen, wo den Mittelstand der Schuh
drückt und dass diese Regelung wirklich kontraproduktiv ist. Wir unterstützen auch die Verfassungsbeschwerde
eines Mittelständlers gegen diese Regelung.
Sie haben aber eine Chance: Sie brauchen gar nicht
auf Karlsruhe zu warten. Kehren Sie heute zur alten Regelung zurück, indem Sie unserem Antrag zustimmen!
Ich möchte die Union auffordern, zu ihrer alten Position
zurückzukehren, und die SPD, endlich einzusehen, dass
das, was Sie gemacht haben, gesamtwirtschaftlicher Unsinn war. Nehmen Sie die Regelung zurück! Stimmen
Sie unserem Antrag zu!
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Max Straubinger von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Der Kollege Kolb hat versucht, in den Antrag einzuführen. Er ist relativ kurz:
({0})
Vorverlegung des Fälligkeitstermins zurücknehmen und
darüber hinaus strukturelle Reformen in der Rentenversicherung einleiten, um deren Finanzgrundlage zu verbessern. Leider Gottes hat er wesentlich mehr über den
Jahreswirtschaftsbericht gesprochen,
({1})
vielleicht weil er in der ersten Runde heute nicht reden
konnte.
({2})
Es wäre aber schon wichtig gewesen, über den Antrag
und darüber zu reden, was damit gemeint ist.
Herr Kollege Kolb, wenn wir heute Ihrem Antrag zustimmen würden, würden wir weit mehr Bürokratie
verursachen - davon bin ich überzeugt -, als wir mit dieser Maßnahme insgesamt vielleicht verursacht haben,
weil sich die Unternehmen, die Handwerker, die Mittelständler bereits darauf eingestellt haben, weil sie die Gesetzeslage kennen. Sie wird also bereits umgesetzt.
({3})
Wenn die Kollegen von der FDP das am 18. Januar von
den Mittelständlern in unserem Land noch nicht erfahren
haben, dann tut es mir Leid. Ich habe mich erst heute
wieder informiert. Natürlich ist es eine Beschwernis und
mit zusätzlichem Aufwand verbunden.
({4})
Natürlich braucht man ein neues IT-Programm. Aber es
wird mittlerweile umgesetzt
({5})
und deshalb wäre ein Zurück zur früheren Regelung eher
kontraproduktiv.
({6})
Was wird im Prinzip dadurch verändert? In vielen Bereichen hat es keine Veränderungen gegenüber der früheren Fälligkeit hervorgerufen. Denn in Betrieben, in denen am 15. eines Monats der Lohn ausgezahlt wird - das
ist in vielen Bereichen der Fall -, ist schon bisher der
Sozialversicherungsbeitrag am 25. des Monats fällig gewesen.
({7})
Es geht um die Betriebe, die den Lohn am Ende des Monats zahlen und am 15. des darauf folgenden Monats die
Sozialversicherungsbeiträge abzuführen haben. Ich
möchte anmerken, dass wir dadurch in einer Zeit, in der
es moderne Kommunikationsmöglichkeiten gibt - in den
letzten Jahren gab es natürlich eine Straffung der Abrechnungssysteme; die Regelung ist ja mittlerweile
30 Jahre alt -, eine zeitnähere Erfassung erreichen bzw.
Finanzmittel in unsere gesetzlichen Sicherungssysteme
bekommen. Um einen Anstieg des Rentenversicherungsbeitrages um 0,5 Prozent abzuwehren, ist es
durchaus gerechtfertigt, dies in die Tat umzusetzen.
({8})
Dies verschafft uns natürlich Liquidität.
Ich weiß, dass hiermit keine umfassende Lösung der
Probleme der gesetzlichen Rentenversicherung oder unserer sozialen Sicherungssysteme insgesamt herbeigeführt worden ist. Aber wir haben auf alle Fälle Beitragssatzstabilität für das Jahr 2006 erreicht.
({9})
Herr Kollege Kolb, ich habe von der FDP im vergangenen Jahr bei den Gesetzesberatungen nicht vernommen,
dass Sie dafür eingetreten wären, dass der Rentenversicherungsbeitragssatz um 0,5 Prozent erhöht werden soll,
({10})
was für die Betriebe 1 Milliarde Euro zusätzliche Belastung bedeutet hätte. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen.
({11})
- Herr Kollege Kolb, Sie wollen eine Zwischenfrage
stellen?
({12})
Herr Kollege Kolb, zunächst einmal müssen Sie den
Präsidenten fragen, ob Sie eine Zwischenfrage stellen
dürfen. Ich frage dann den Redner und der Redner kann
dann die Zwischenfrage zulassen.
({0})
Ich bitte Sie, jetzt Ihre Zwischenfrage zu stellen.
Ich bedanke mich beim Präsidenten und beim Kollegen Straubinger dafür, dass diese Zwischenfrage zugelassen wurde.
Herr Kollege Straubinger, sind Sie bereit einzuräumen, dass Sie in der Frage des Vorziehens der Fälligkeit
der Sozialversicherungsbeiträge Ihre Unschuld längst
verloren haben? Im letzten Jahr - ich kann mich an die
Beratung hier sehr deutlich erinnern - haben Sie uns
treuherzig vorgehalten: Wenn wir die Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge nicht vorziehen, dann wird es
zu einer Erhöhung des Rentenbeitrags kommen. Jetzt bekommen wir das Vorziehen der Fälligkeit und zusätzlich
eine Erhöhung des Rentenbeitrags ab 1. Januar 2007.
Das halten wir Ihnen vor. Sind Sie bereit, einzuräumen,
dass wir in dieser Hinsicht offensichtlich ein Stück weitsichtiger waren als Sie?
({0})
Nein, Herr Kollege Kolb, ich möchte nicht sagen,
dass Sie weitsichtiger waren. Wir kennen eben auch die
Finanzsituation in den gesetzlichen Sicherungssystemen insgesamt. Ich möchte allerdings anführen, dass die
FDP im Gesetzgebungsverfahren - insbesondere über
ihre Möglichkeiten durch Regierungsbeteiligungen in
den Bundesländern - auch nicht unbedingt mit letzter
Kraft gekämpft hat,
({0})
um dies zu verhindern.
({1})
Zum zweiten Teil Ihrer Zwischenfrage: Wir haben
uns in den Koalitionsverhandlungen darauf geeinigt,
dass der Rentenversicherungsbeitrag zum 1. Januar
2007 auf 19,9 Prozent angehoben wird, um die Finanzsituation in der Rentenversicherung zu stabilisieren. Aber
gleichzeitig wird diese Bundesregierung den Arbeitslosenversicherungsbeitrag um 2 Prozentpunkte, nämlich von 6,5 Prozent auf 4,5 Prozent, absenken. Das wird
mehr Entlastung für die Betriebe bedeuten.
({2})
Davon bin ich überzeugt.
In den heutigen Pressemeldungen steht, dass der IfoIndex stark gestiegen ist, dass also in der Wirtschaft das
Zutrauen in die zukünftige Entwicklung wächst. Dadurch werden in unserem Land nicht nur Arbeitsplätze
gesichert, sondern die Arbeitslosigkeit kann signifikant
abgebaut werden. Das sind doch positive Zukunftsaussichten. Darüber sollten wir uns freuen. Ich bitte Sie, uns
dabei zu unterstützen.
({3})
Verehrte Damen und Herren, natürlich bringt jede Änderung auch bestimmte bürokratische Abläufe mit sich;
das ist unbestritten. Aber auch Änderungen eines Beitragssatzes in der Sozialversicherung, etwa der Krankenversicherung, oder Änderungen von Bemessungsgrundlagen müssen in der Regel am 1. Januar eines Jahres in
den Betrieben aufgefangen und von ihnen umgesetzt
werden.
Wir fordern die Bundesregierung auf, die entsprechenden Verfahren so elegant zu gestalten, dass möglichst wenig Bürokratie entsteht; vielleicht können einzelne Regelungen ja sogar wieder entfallen. Darüber
hinaus hoffe ich, dass in den Betrieben, wenn die Rentenversicherungsträger die Prüfungsverfahren durchführen, anerkannt wird, dass es sich bei der Vorauszahlung
im Prinzip immer um die Zahlung des vergangenen Monats handelt.
({4})
Natürlich muss das zeit- und realitätsnah eingeschätzt
werden. Aber ich bin davon überzeugt, dass es ein gangbarer Weg ist, den richtig ermittelten Betrag der Sozialversicherungsbeiträge im jeweils kommenden Monat als
Vorauszahlung zu leisten, um in unseren Betrieben möglichst wenig Bürokratie zu erzeugen.
Verehrte Damen und Herren, ich glaube, entscheidend
ist, wie wir zukünftig die Strukturreformen der gesetzlichen Rentenversicherung angehen. Sie von der FDP
haben uns in Ihrem Antrag aufgefordert,
({5})
sowohl längerfristige als auch kurzfristige Strukturmaßnahmen zu ergreifen, um die finanzielle Situation der gesetzlichen Rentenversicherung zu verbessern.
Die die Bundesregierung tragenden Parteien, CDU,
CSU und SPD, haben sich in ihrem Koalitionsvertrag
auf mehrere Schritte geeinigt. Zum Beispiel wird es ab
dem Jahr 2012 zu einer schrittweisen Anhebung des
Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre kommen. Dadurch wollen wir für eine weitere Stabilisierung des Beitragssatzes in der gesetzlichen Rentenversicherung sorgen. Das haben wir bereits beschlossen.
Ebenso wichtig ist Folgendes: Wir werden dafür eintreten, dass die private Altersvorsorge zukünftig eine
weitere Stärkung erfährt.
({6})
Durch die Volksrente - früher Riester-Rente genannt wird insbesondere für die Förderung von Familien mit
Kindern eine zusätzliche Grundlage geschaffen, wodurch die Zukunftsperspektiven der Jugend und vor allen
Dingen der jungen Familien auch im Hinblick auf ihre
zukünftige Rentensituation verbessert werden.
Dies sind die Vorstellungen der Koalition, die wir natürlich auch umsetzen werden. Wenn wir die entsprechenden Entscheidungen treffen, werden wir im Interesse der
Rentnerinnen und Rentner auch die Gewährleistung der
Sicherheit der Renten im Auge haben müssen: Wir müssen dafür sorgen, dass die Renten auch weiterhin nicht
nur pünktlich, sondern auch in gewohntem Umfang zur
Auszahlung kommen.
Verehrte Damen und Herren, eine entscheidende
Rolle kommt dabei sicherlich der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland zu. Wie ich bereits in meiner
Antwort auf Ihre Frage, Herr Kollege Kolb, deutlich gemacht habe, ist in unserer Wirtschaft gegenwärtig - Gott
sei Dank! - eine wesentlich stärkere Dynamik festzustellen.
({7})
Darüber freuen wir uns. Diese Dynamik wollen wir natürlich unterstützen, Herr Kollege Kolb.
({8})
Das werden wir auch tun. Unser erklärtes Ziel ist dabei,
insbesondere für mittelständische Betriebe die
Abschreibungsbedingungen zu verbessern. Das bedeutet mehr Zukunftsinvestitionen in unsere Betriebe, mehr
Arbeitsplätze in unserem Land und die Stärkung der
Wettbewerbsfähigkeit unserer Betriebe.
({9})
Das ist die Grundlage auch für die Finanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme. Deshalb bin ich sehr gespannt, inwiefern uns die FDP bei diesem Bemühen
- dem Unterfangen, in unserem Land mehr Arbeitsplätze
zu schaffen - zukünftig zu unterstützen bereit ist.
({10})
Zwar hoffe ich, dass sie das tatkräftig tun wird, glaube
aber, dass uns Anträge, die rückwärts gerichtet sind,
nicht voranbringen werden. Deshalb ist es angebracht,
Ihren Antrag abzulehnen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit!
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Axel Troost von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf der
einen Seite halten auch wir den FDP-Antrag für einen
Schauantrag: weil er doch sehr spät kommt und das Kind
schon in den Brunnen gefallen ist.
({0})
Auf der anderen Seite denken wir, dass wir über diesen
Antrag im Ausschuss doch beraten sollten.
({1})
Dabei bin ich nicht der Ansicht, dass wir zurückkommen
sollten zu Zahlungsterminen um den 15. Man kann das
zeitnah gestalten. Auch wenn ich als Linker vielleicht
nicht in der Position bin, zu vermitteln,
({2})
meine ich, die Abführung der Beiträge am 3. oder 5. des
Folgemonats, wie es von Sachverständigen auch vorgeschlagen worden ist, wäre noch zeitnah und würde Doppelarbeit bei der Abrechnung vermeiden.
({3})
Alle Sachverständigen haben bei der Begutachtung im
Juni letzten Jahres von diesem Verfahren abgeraten, weil
es völlig unnötig zu Doppelarbeit führt, sei es in den Betrieben, sei es bei den Krankenkassen, sei es bei den Sozialversicherungsträgern.
({4})
Gleichzeitig - das ist für meine Begriffe das Entscheidende - schafft diese Vorverlegung nicht einmal eine
mittelfristige Lösung des Problems.
({5})
Ich kann hier heute keine Darlegung unserer Vorschläge
zur mittel- und langfristigen Sicherung der Finanzen
der Renten-, der Kranken- und der Pflegeversicherung machen; das werden unsere Fachkolleginnen und
-kollegen tun.
({6})
- Ich könnte es natürlich und würde es auch gerne, wenn
Sie mir die Zeit dazu gäben.
Ich möchte nur auf drei Phänomene hinweisen, die
aus meiner Sicht als Finanzpolitiker gegenwärtig die entscheidenden Probleme sind: Das ist zum einen die Verteilungsentwicklung. Hier wurde gerade gesagt, wir
haben doch wieder Dynamik und wirtschaftliche Entwicklung und und und. Dabei wird unterstellt, das täte
uns gut. Aber schauen wir uns die Entwicklung doch
einmal konkret an: Im Jahr 2004 hatten wir ein Wirtschaftswachstum von 1,6 Prozent, einen realen Zuwachs des Sozialproduktes von 58 Milliarden Euro. Von
diesen 58 Milliarden Euro sind 55 Milliarden Euro in die
Steigerung der Einkommen aus Unternehmertätigkeit
und Vermögen geflossen, aber nur 3 Milliarden, sprich:
5 Prozent des gesamten Zuwachses, sind bei den Arbeitnehmereinkommen gelandet.
({7})
2005 hatten wir einen Zuwachs des Sozialprodukts um
0,9 Prozent; es ist um 26 Milliarden Euro gestiegen. Der
Zuwachs der Einkommen aus Unternehmertätigkeit und
Vermögen betrug 32 Milliarden Euro. Demgegenüber
sind die Arbeitnehmereinkommen um 6 Milliarden Euro
zurückgegangen. Der Jahreswirtschaftsbericht - heute
Morgen ist es schon diskutiert worden - prognostiziert
für das gegenwärtige Jahr noch einmal so etwas.
Wenn man bei einem sozialen Sicherungssystem, das
an der Einkommensentwicklung der Arbeitnehmer
angelehnt ist, nichts gegen diese ständige weitere
Umverteilung zugunsten von Gewinnen unternimmt,
dann nutzt einem Wachstum überhaupt nichts, dann werden die sozialen Sicherungssysteme weiter Defizite haben.
({8})
Zweitens - auch das habe ich an dieser Stelle schon
einmal gesagt -: Massenarbeitslosigkeit, vor allem
ständig steigende Massenarbeitslosigkeit, verursacht für
die sozialen Sicherungssysteme ungeheure Kosten.
4,8 Millionen registrierte Arbeitslose bedeuten für die
sozialen Sicherungssysteme jährliche Beitragsausfälle
von über 27 Milliarden Euro. Schon eine Halbierung der
Arbeitslosigkeit entsprechend unseren Vorschlägen
würde den sozialen Sicherungssystemen ein erhebliches
Mehr bringen, und zwar dauerhaft.
Drittens. Nach wie vor haben wir eine ständige
Umschichtung von sozialversicherungspflichtiger
Beschäftigung zu Minijobs bzw. 400-Euro-Jobs.
Diese Umschichtung, das ist völlig klar, führt dazu, dass
die Einnahmeverluste weiter wachsen. Anders wäre es,
wenn wir mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigung bekämen.
Deswegen bestehen wir darauf: Nur eine grundlegend
anders angelegte Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsmarktpolitik kann die sozialen Sicherungssysteme
heilen, kann versuchen, hier Abhilfe zu schaffen. Ich
weiß, Sie sagen jetzt wie immer: Das ist ein Zurück in
die 70er-Jahre. - In gewisser Weise haben Sie Recht:
Wir kritisieren nämlich seit 30 Jahren die Politik, die in
verschiedensten Konstellationen hier im Haus praktiziert
worden ist und letztlich mit jeder Koalition zu immer
höherer Arbeitslosigkeit, immer höheren Schulden, mehr
Umverteilung und letztlich unsicheren sozialen Sicherungssystemen geführt hat. Deswegen sagen wir hier im
Hause, aber auch draußen bei den Menschen: Wir brauchen eine andere Politik, eine Politik für mehr Arbeit
und soziale Gerechtigkeit.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Gregor Amann von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Im vorliegenden Antrag wird - wie das Herr
Dr. Kolb auch in seiner Rede getan hat - ein düsteres
Horrorszenario gemalt:
({0})
Es werden „schwere gesamtwirtschaftliche Schäden“
und „Tausende von Insolvenzen“ vorausgesagt. Es ist
die Rede von „einem Investitionsrückgang“ und einem
„weiteren Abbau der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung“. Am Ende warnen die Antragsteller sogar
vor einem „verfassungsrechtlich bedenklichen Eingriff
in das Eigentum des Unternehmers“.
({1})
Man könnte fast glauben, der Bundestag hätte eine
Enteignung aller privaten Unternehmen oder noch
Schlimmeres beschlossen. Mitnichten! In Wirklichkeit
geht es im vorliegenden Antrag lediglich um die Vorverlegung des Fälligkeitstermins der von den Unternehmen
abzuführenden Sozialabgaben um etwa zwei Wochen.
({2})
Das ist eine Maßnahme, für die es gute Gründe gibt, die
ich im Folgenden erläutern möchte.
In der Vergangenheit wurde den Unternehmern bei
der Zahlung der Sozialabgaben ein großzügiges Zahlungsziel eingeräumt, das angesichts der modernen
technischen Möglichkeiten bei der Datenverarbeitung
und beim Zahlungsverkehr heute nicht mehr erforderlich
und auch nicht mehr gerechtfertigt ist. Wenn die Sozialbeiträge bisher überwiegend erst zum 15. des Folgemonats überwiesen wurden, so war diese Regelung eine
überholte Praxis aus der Zeit, als die Löhne noch bar in
der Lohntüte ausgezahlt wurden. Auf dem Stand der damaligen Technik war es nicht möglich, Löhne, Gehälter
und Sozialversicherungsbeiträge zeitnah zu berechnen,
auszuzahlen und zu überweisen. Heute ist das anders.
({3})
Natürlich führt die beschlossene Umstellung zu einer
vorübergehenden, aber in ihren Ausmaßen noch erträglichen Belastung der Unternehmen. Dieser Belastung
stehen zwei Vorteile gegenüber, von denen auch, aber
nicht nur die Unternehmen profitieren:
({4})
Erstens wird es zu Verwaltungsvereinfachung und Bürokratieabbau beitragen - das werde ich Ihnen gleich
näher erklären -, zweitens wird es im Jahr 2006 zu einer
immensen Liquiditätsverbesserung bei den Sozialkassen in Höhe von etwa 20 Milliarden Euro führen, wovon
allein auf die Rentenkasse etwa 9 Milliarden Euro entfallen.
Mit dem im letzten Jahr ebenfalls beschlossenen vollautomatisierten Melde- und Beitragsverfahren in der
Sozialversicherung werden zum 1. Januar 2006 die Arbeitsabläufe beschleunigt und vereinfacht. Mit der Vorverlegung des Zahlungstermins der Sozialabgaben wird
dieses moderne Verfahren konsequent weiterentwickelt.
Durch das neue Verfahren wird eine Reihe unterschiedlicher Einzahlungs-, Buchungs- und Überweisungsvorgänge gebündelt und damit kostengünstiger gemacht. Während das bisherige Verfahren in der Praxis
oft zu drei bis vier Beitragsabrechnungen in einem Monat führte, insbesondere bei Unternehmen, in denen die
ausgezahlten Gehälter stark schwanken, entfallen zukünftig Stornierungen, Korrekturen und das Ausfüllen
aufwändiger Korrekturbögen, wie sie bisher im Rahmen
des Beitragsverfahrens notwendig waren. Dadurch, dass
die Differenz zwischen der Vorausschätzung am Monatsende und dem später errechneten Istwert jetzt der
Fälligkeit des laufenden Monats zugerechnet wird, gibt
es ab 2006 nur noch zwölf Beitragsabrechnungen im
Jahr. Wenn also im vorliegenden Antrag von neuem Bürokratieaufwand und neu entstehenden Kosten für Bürokratie gesprochen wird, dann ist die Wahrheit vielmehr:
Es werden Bürokratie und Verwaltungsaufwand abgebaut.
({5})
Davon profitieren übrigens auch die Krankenkassen,
die den Beitragseinzug für die gesamte Sozialversicherung durchführen. Denn künftig müssen sie nur noch
einmal im Monat die Weiterleitung der Beiträge an die
Renten-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung veranlassen. Die Zahl der Abrechnungstermine wird von 24 auf
zwölf reduziert. Das hilft natürlich bei der Stabilisierung
der Verwaltungskosten der Kassen.
Nun aber zum Thema finanzielle Belastung der
Unternehmen. Selbstverständlich bedeutet jede Vorverlegung des Fälligkeitstermins einer Zahlung für den Betroffenen erst einmal den Entzug liquider Mittel und
stellt somit eine finanzielle Belastung dar.
({6})
Wenn wir aber einmal objektiv betrachten, um was es
hier geht, dann müssen wir feststellen: Der bisherige
Fälligkeitstermin hinsichtlich der Sozialabgaben bedeutete für die Unternehmen schlichtweg einen zinslosen
Kredit auf Kosten der Sozialversicherungen.
({7})
Man könnte hier sogar das in der FDP ansonsten so verpönte Wort „Subvention“ gebrauchen.
({8})
Die Praxis des zinslosen Kredits der Sozialversicherungen an die Unternehmen zu beenden und so die Liquidität der Sozialversicherung 2006 um einen zweistelligen
Milliardenbetrag zu erhöhen, ist nicht nur sinnvoll und
notwendig, sondern angesichts der schwierigen Kassenlage unserer Sozialversicherungen auch sozial gerecht.
({9})
Die FDP ruft doch sonst immer nach Subventionsabbau.
Warum verlässt Sie denn plötzlich der Mut, wenn Sie einer nicht mehr zeitgemäßen Subvention so unvermittelt
Auge in Auge gegenüberstehen?
({10})
Im Übrigen wissen Sie genau - Herr Dr. Kolb, Sie haben es selber erwähnt -, dass es gerade für Unternehmen, deren Finanzrahmen besonders eng ist, wie das
häufig im Mittelstand der Fall ist, eine großzügige Übergangsregelung gibt, nach der es möglich ist, die Beiträge für den Monat Januar 2006 auf die Monate Februar
bis Juli 2006 zu verteilen.
({11})
Nutzt ein Unternehmen diese Übergangsregelung, führt
die Streckung der Zahlung der Beiträge sogar zu einem
positiven Stundungseffekt, durch den die Liquidität des
Unternehmens gestärkt wird.
Die Alternativen zu diesem bereits beschlossenen Gesetz wären entweder weitere Beitragssatzerhöhungen bei
den Sozialversicherungen oder Rentenkürzungen gewesen. Wir haben in der Koalition beschlossen, dass Rentenkürzungen mit uns nicht zu machen sind; denn Arbeitnehmer und Rentner haben in den letzten Jahren
bereits ihren Anteil zur Stabilisierung der Sozialversicherungssysteme geleistet.
Bezüglich der Beitragssatzerhöhungen brauche ich
der FDP doch hoffentlich nicht die Bedeutung der Lohnnebenkosten für den Wirtschaftsstandort Deutschland zu
erklären.
({12})
Natürlich wäre es für die Unternehmen deutlich kostspieliger, wenn die durch die Vorverlegung der Fälligkeitstermine gewonnene zusätzliche Liquidität der
Sozialversicherungen durch Beitragssatzsteigerungen
realisiert werden müsste. Das beschlossene Verfahren ist
also sowohl für die Beitragszahler als auch für die Arbeitgeber die sozial gerechtere und wirtschaftlich sinnvollere Alternative.
Sie fordern im vorliegenden Antrag, auf die Vorverlegung des Termins für die Fälligkeit der Sozialabgaben zu
verzichten und stattdessen - ich zitiere - „die Defizite
der Rentenversicherung durch strukturelle Reformen in
der Rentenversicherung und eine wachstumsorientierte
Wirtschaftspolitik zu beseitigen“.
Herr Kollege Amann, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. - Wir sollten das eine tun,
ohne das andere zu lassen.
Diese Koalition hat bereits strukturelle Reformen in
der Rentenversicherung beschlossen und sie betreibt
eine wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik, wie das in
Genshagen beschlossene Investitionsprogramm in Höhe
von 25 Milliarden Euro beweist. Im Gegensatz zu Ihnen
haben wir aber auch den Mut, nicht mehr zeitgemäße
Subventionen zu streichen, den Sozialkassen so dringend benötigte Liquidität zuzuführen und damit deren
Finanzsituation zu stabilisieren. Das ist sozial gerecht
und stärkt langfristig die Wirtschaftskraft unseres Landes.
({0})
Herr Kollege Amann, ich darf Ihnen im Namen des
ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag gratulieren.
({0})
Deshalb habe ich bei der Redezeit beide Augen zugedrückt.
({1})
Jetzt hat der Kollege Markus Kurth vom Bündnis 90/
Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
handelt sich hier wieder einmal um einen typischen
FDP-Antrag:
({0})
große Töne und viel Lamento. Wenn man dann nach Lösungsvorschlägen und Alternativen sucht, wird man auf
ein jämmerliches Blatt Papier verwiesen, auf dem kein
Wort zu den Alternativen zum Vorziehen des Termins
der Fälligkeit von Sozialabgaben steht.
({1})
Man muss wissen, dass es sich hier um einen Gesetzentwurf handelt, den die damalige rot-grüne Bundesregierung eingebracht hat.
({2})
Die Alternative zum Ausgleich der konjunkturbedingten
Mindereinnahmen der Sozialversicherungen, insbesondere in der gesetzlichen Rentenversicherung, wäre eine
Erhöhung des Beitragssatzes um 0,5 Prozentpunkte
gewesen.
({3})
Wir wissen, was das bedeutet hätte: nicht nur einen
Anstieg der Arbeitskosten und einen gewissen Kaufkraftentzug, sondern überdies - das hat die Sachverständigenanhörung ergeben - fiskalische Effekte von mehr
als 2 Milliarden Euro. Hören Sie gut zu, meine Damen
und Herren von der großen Koalition! Jede Steigerung
des Beitragssatzes um einen zehntel Prozentpunkt in der
Sozialversicherung ergibt einen zusätzlichen fiskalischen Effekt, weil die Unternehmen die Sozialversicherungsabgaben als Betriebsausgaben absetzen können.
Dadurch sinken die Steuereinnahmen. Im Rahmen der
gesetzlichen Rentenversicherung muss der Bundeszuschuss automatisch ansteigen, weil das entsprechend
festgelegt ist. Professor Rürup hat uns dargelegt, dass
jede Erhöhung des Beitragssatzes um einen zehntel Prozentpunkt neben den üblichen Folgen des Anstiegs der
Sozialversicherungsbeiträge zu einem fiskalischen Effekt in Höhe von 400 Millionen Euro führt. Die Erhöhung des Beitragssatzes in der gesetzlichen Rentenversicherung um 0,4 Prozentpunkte, die am 1. Januar 2007
wirksam werden soll, kostet den Bundeshaushalt also
1,6 Milliarden Euro. Insofern haben Sie von der SPD
- Sie von der Union ohnehin - den Pfad der Tugend, den
wir damals in der rot-grünen Koalition eingeschlagen
haben, leider verlassen.
({4})
Ohne für das Vorziehen des Fälligkeitstermins einen
Schönheitspreis zu beanspruchen: Wir haben diesen Weg
beschritten, um auch über das Jahr 2006 hinaus die Perspektive stabiler Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung zu geben. Das ist der entscheidende Unterschied.
({5})
Zudem wollen Sie zum 1. Januar 2007 die Mehrwertsteuer erhöhen, was einen weiteren Kaufkraftentzug bedeutet. Das wird durch die von Ihnen viel gepriesene Senkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrags
nicht ausgeglichen. Überdies muss man wissen, dass Sie
die gesetzliche Rentenversicherung zusätzlich in
Schwierigkeiten bringen, da in Zukunft 2 Milliarden
Euro an Rentenversicherungsbeiträgen fehlen werden,
die bislang von den Arbeitslosengeld-II-Beziehern an
die gesetzliche Rentenversicherung abgeführt werden.
({6})
Sie setzen die Sozialversicherung weiter unter Druck,
indem Sie angekündigt haben, die Steuermittel im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung zurückzufahren. Die Versuche von Rot-Grün, die Sozialversicherung durch einen höheren Steuerfinanzierungsanteil
konjunkturunabhängiger zu machen - das waren unsere
Strukturveränderungen, Herr Kolb -, werden konterkariert und zurückgenommen, kaum dass sie ihre eigentliche Wirkung haben entfalten können. Das ist ein wirklich schwerer Fehler, den man im Zusammenhang mit
diesem Antrag einmal nennen muss.
({7})
Ich möchte an dieser Stelle noch kurz zu der von Ihnen vorgeschlagenen Lösung kommen, den Strukturveränderungen. Sie erklären lapidar, man könne sich
die Vorverlagerung des Fälligkeitstermins durch Strukturveränderungen ersparen.
({8})
Das finde ich ganz besonders unseriös. Sie wissen ganz
genau, dass ehrliche Strukturveränderungen, und zwar
solche, wie wir sie etwa mit dem Nachhaltigkeitsfaktor
eingeführt haben, also Veränderungen in der Rentenformel, langfristig wirken. Sie sind vollkommen untauglich, um ein kurzfristiges Finanzierungsloch - in diesem
Fall in Höhe von knapp 10 Milliarden Euro - zu stopfen.
Das heißt, das kann gar nicht funktionieren. Selbst wenn
wir heute beschließen würden, das gesetzliche Renteneintrittsalter ab dem 1. Januar 2007 auf 67 Jahre festzulegen, hätten wir in der Sozialversicherung einen konjunkturbedingten Einnahmeausfall. Das müssten Sie
doch eigentlich wissen.
Uns an dieser Stelle vorzuwerfen, wir hätten hier
keine Strukturveränderungen vorgenommen, zeugt schon
von einem erheblichen Maß an Blindheit. Wenn es in
diesem Bereich eine Dynamik gab und ein politischer
Erfolg zu verzeichnen war, dann in den vergangenen sieben Jahren. Wir wären auf diesem Weg auch weitergegangen. Ich nenne hier nur als Stichworte Ökosteuer,
Riestertreppe und Nachhaltigkeitsfaktor. Damit haben
wir verhindert, dass der Beitragssatz in der gesetzlichen
Rentenversicherung heute bei 22,5 oder gar bei
23 Prozent liegt; denn das wäre die Konsequenz gewesen.
({9})
Deswegen, Herr Kolb, gibt es in der Opposition - zumal
in diesem Fall - keine Koalition.
({10})
Ich hätte eigentlich erwartet, dass Ihre Erfahrung,
jetzt wieder auf der Oppositionsbank zu sitzen, Sie etwas
geläutert hätte.
({11})
Von Ihnen, liebe ehemaligen Kollegen aus der Koalition,
hätte ich mir gewünscht, dass Sie sich an die Tugenden
erinnert hätten, die unsere Arbeit in den vergangenen
sieben Jahren relativ erfolgreich gemacht haben.
Danke schön.
({12})
Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Weiß von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Um eine Bemerkung des Kollegen Kurth aufzugreifen:
Mit dem Vorziehen des Termins der Fälligkeit von Sozialabgaben kann man wahrscheinlich keinen politischen
Schönheitspreis gewinnen. Das ist wahr.
({0})
Wenn man aber jetzt in einem Antrag fordert, auf dieses Vorhaben zu verzichten, Herr Kolb,
({1})
dann muss man auch Alternativen benennen. Sie aber
haben in Ihrem Antrag wie auch in Ihrer Rede keine einzige Alternative genannt.
({2})
Wer kurzfristig handeln will, hat drei Alternativen.
Die erste Alternative besteht darin, die Renten zu kürzen. Sie haben nichts dazu gesagt, ob Sie die Renten kürzen wollen.
({3})
Die zweite Alternative ist, sofort - möglichst schon zum
1. Januar dieses Jahres - den Rentenversicherungsbeitrag anzuheben,
({4})
ohne dass an anderer Stelle ein Ausgleich geschaffen
wird. Zu dieser Alternative haben Sie sich aber auch
nicht erklärt. Die dritte Alternative wäre, den Bundeszuschuss kräftig zu erhöhen.
({5})
Auch das haben Sie nicht vorgeschlagen.
Interessanterweise haben Sie noch vor einem halben
Jahr ein bisschen mehr Mut gehabt, Herr Kolb. Im Juni
war in der Presse zu lesen: Herr Kolb schlägt als Alternative vor, einen Teil der Sozialabgaben vorzeitig auszuzahlen.
({6})
Das wäre doch noch bürokratischer als die derzeitige Regelung. Des Weiteren haben Sie die Anhebung des Rentenversicherungsbeitrags zum 1. Januar 2006 vorgeschlagen.
({7})
- Entschuldigung, aber das würde die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wie auch die Unternehmen finanziell noch stärker belasten als die jetzige Regelung.
({8})
Bevor Sie Ihre Zwischenfrage stellen, Herr Kolb,
möchte ich noch feststellen: Wer nach Ihren heutigen
Ausführungen und Ihren Andeutungen im vergangenen
Jahr glaubt, der deutsche Mittelstand habe in der FDP einen besonderen Fürsprecher, der irrt gewaltig.
({9})
Ich gehe davon aus, dass Sie diese Zwischenfrage zulassen, Herr Kollege Weiß. - Bitte schön, Herr Kolb.
Herr Kollege Weiß, in wem der Mittelstand seinen
Fürsprecher sieht, lassen wir ihn am besten selbst entscheiden.
({0})
Sind Sie bereit, einzuräumen, dass auch nach Aussagen der damaligen Bundesregierung eigentlich nur
5 Milliarden Euro für 2006 in der Rentenkasse gefehlt
hätten und dass Sie damals im Bundesrat durchgewinkt
haben, dass stattdessen 20 Milliarden Euro eingenommen werden?
Meine zweite Frage ist: Sind Sie bereit, mir zu erklären, worin aus Ihrer Sicht der Unterschied zwischen einer Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge zum
1. Januar 2006 und einer Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge zum 1. Januar 2007 besteht? Das Volumen
wäre doch in etwa gleich gewesen. Inwiefern ist das eine
gut und das andere schlecht?
({1})
Herr Kollege Kolb, zum Ersten: Wenn es wirklich der
politische Wille der FDP gewesen wäre, dass der Rentenversicherungsbeitrag zum 1. Januar 2006 um mindestens 0,5 Prozentpunkte erhöht wird, dann hätte ich mir
gewünscht, dass das auf allen Wahlplakaten gestanden
hätte
({0})
und ein zentrales Thema in den FDP-Wahlkampfreden
gewesen wäre.
({1})
Zum Zweiten: Die Wirkung wäre gewesen, dass bereits in diesem Jahr - ohne dass es zu einer Entlastung
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie der Betriebe in unserem Land gekommen wäre - der erhöhte
Rentenversicherungsbeitrag hätte aufgebracht werden
müssen.
({2})
Vorhaben der großen Koalition ist es, den Rentenversicherungsbeitrag zum 1. Januar 2007 auf 19,9 Prozent
anzuheben, gleichzeitig aber eine massive Entlastung
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Betriebe beim Arbeitslosenversicherungsbeitrag vorzunehmen. Das ist schon ein gewaltiger Unterschied.
Herr Kolb, ich sage Ihnen klar und deutlich: Sie haben uns und der Öffentlichkeit in Ihrer Rede bewusst die
Alternativen verschwiegen, die deutlich machen, was
wir machen sollen, wenn die Sozialabgaben nicht vorzeitig einkassiert werden. Eine Antwort darauf bleiben
Sie auch in dem vorliegenden Antrag schuldig. Das
zeigt, dass Sie keine Alternativen haben. Wir können
den Antrag der FDP eigentlich nicht behandeln, weil
keine Alternativen aufgezeigt werden.
({3})
Zu Recht fordert die FDP Strukturreformen in der Rentenversicherung. Aber in ihrem Antrag ist keine einzige
Strukturreform benannt.
Die gute Nachricht ist, dass sich die große Koalition
trotz aller unterschiedlicher Vorstellungen, die bei SPD
und CDU/CSU bestanden und sicherlich weiter bestehen, ein Programm in Sachen Rente gegeben hat, mit
dem die großen Strukturreformen wirklich angegangen
werden.
({4})
Ich wiederhole: Erstens. Wir erhöhen den Rentenbeitrag 2007 genau dann, wenn wir die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer sowie die Unternehmen bei der Beitragszahlung an die Arbeitslosenversicherung entlasten.
Zweitens. Mit uns gibt es - das wird gesetzlich abgesichert - keine Rentenkürzungen.
({5})
Gleichzeitig werden wir in den Jahren, in denen eine
bessere Lohnentwicklung Rentenerhöhungen ermöglichte, den Rentenanstieg durch einen entsprechenden
Nachholfaktor dämpfen.
({6})
Drittens. Wir diskutieren in Deutschland schon seit
Jahren über eine Erhöhung des Renteneintrittsalters.
Wir haben uns nun entschieden - das ist schon jetzt eine
große Leistung der großen Koalition -, das gesetzliche
Renteneintrittsalter ab 2012 allmählich auf 67 Jahre anzuheben.
({7})
Dass das gerechtfertigt ist, erkennt man, wenn man zur
Kenntnis nimmt, dass sich die durchschnittliche Rentenbezugsdauer von 1960 bis heute um 70 Prozent verlängert hat. Ich finde, es ist gut, dass wir uns entschlossen
haben, endlich zu handeln; denn wir können vor der demographischen Entwicklung und ihren Herausforderungen nicht länger den Kopf in den Sand stecken. Die
große Koalition hat die Wahrheit akzeptiert und handelt
entsprechend. Herr Kolb hingegen hat sich noch vor einem halben Jahr bei seinen großen rentenpolitischen
Äußerungen, die ich vorhin zitiert habe, gegen eine Heraufsetzung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre ausgesprochen.
Viertens. Weil die gesetzliche Rente - das ist vor allen
Dingen für die jugendlichen Zuhörerinnen und Zuhörer
wichtig - den künftigen Rentnerinnen und Rentnern
nicht mehr das bringen wird, was sie für die heutigen
Rentnerinnen und Rentner leistet, muss die private
Altersvorsorge als ergänzende Säule attraktiver gemacht und konsequent ausgebaut werden. Hierzu hat die
große Koalition zwei - wie ich finde: bemerkenswerte Festlegungen getroffen. Ich persönlich halte es für eines
der wichtigsten Vorhaben, das private Wohneigentum in
die Riester-Förderung einzubeziehen. Das werden wir
tun. Mietfreies Wohnen im Alter verringert die Gefahr
der Altersarmut entscheidend. Deshalb ist es richtig und
sinnvoll, dass wir auch diese Anlageform gleichberechtigt in die geförderte Altersvorsorge integrieren. Laut einer heute veröffentlichten Umfrage - das ist in der
Presse nachzulesen - denken 63 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land beim Thema private
Altersvorsorge als Allererstes an privates Wohneigentum. Daraus sollten wir politisch die entsprechenden
Konsequenzen ziehen. Um die Attraktivität der privaten
Altersvorsorge darüber hinaus weiter zu verbessern und
um Familien mit Kindern besonders zu fördern, werden
Peter Weiß ({8})
wir die Kinderzulage in der Riester-Rente auf 300 Euro
jährlich erhöhen.
Die Gestaltung einer sicheren und verlässlichen Altersversorgung ist die große soziale Frage der kommenden Jahre. Die Menschen erwarten von uns ehrliche Antworten. Die Methode „Augen zu und durch“ wird uns
nirgendwohin führen. Deshalb wird diese Koalition konsequent handeln und die notwendigen Strukturreformen
für die Altersversorgung in Angriff nehmen. In diesem
Punkt entsprechen wir voll und ganz dem Antrag der
FDP. Leider bleiben Sie uns die Antworten schuldig,
während wir sie klar und eindeutig geben.
Vielen Dank.
({9})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich dem Kollegen Anton Schaaf von der SPDFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kolb, Sie haben Herrn Kollegen Straubinger aufgefordert, in dieser Debatte zu gestehen, dass die Union
ihre Unschuld verloren habe.
({0})
Das will ich jetzt nicht weiter ausbreiten. Aber gestehen
Sie doch bitte Ihre Schuld für den Zustand der sozialen
Sicherungssysteme vor dem Jahr 1998 ein.
({1})
Gestehen Sie doch Ihre Schuld dafür ein, dass fünf
Mehrwertsteuererhöhungen mit Ihrer Beteiligung stattgefunden haben.
({2})
Wenn Sie über den Entzug von Kaufkraft reden, dann reden Sie bitte auch über Ihre Schuld für solche Maßnahmen. Es würde zur Ehrlichkeit, die Sie von der Gegenseite fordern, beitragen, wenn Sie die Schuld für das
eingestehen würden, was Sie in den Jahrzehnten Ihrer
Regierungsbeteiligung ignoriert haben.
({3})
Ich weise auf Folgendes hin: Aus meiner Sicht hat man
nicht oder sogar falsch gehandelt, um die sozialen Sicherungssysteme sturmreif zu schießen und anschließend
sagen zu können: Lasst uns die Individualisierung der
Lebensrisiken vorantreiben! Lasst die Menschen selber
vorsorgen; denn die Systeme funktionieren ja nicht. Das ist der Zusammenhang, den ich in Ihrer Argumentation, die Sie heute hier geliefert haben, erkennen kann.
({4})
Herr Kollege Schaaf, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb?
Selbstverständlich, gerne.
Bitte, Herr Kolb.
Herr Kollege Schaaf, wären Sie bereit, zuzugeben,
dass die Schwankungsreserve der Rentenversicherung
1998 bei etwa 12 Milliarden Euro lag, dass Sie zwischenzeitlich eine Ökosteuer mit einem Volumen von
17 Milliarden Euro eingeführt haben, dass Sie die Beitragsbemessungsgrenze genauso wie die Rentenversicherungsbeiträge seit 1998 angehoben haben, dass Sie
die Erlöse aus dem Verkauf der GAGFAH in Höhe von
rund 2,1 Milliarden Euro für die Liquidität der Rentenkasse verwendet haben,
({0})
und wären Sie vor diesem Hintergrund bereit, zuzugeben, dass Sie doch offensichtlich ein bisschen schuldiger
sind als die FDP, der Sie etwas in die Schuhe zu schieben
versuchen, wofür sie wirklich nicht verantwortlich ist?
Ich gestehe Ihnen sicherlich das eine oder andere zu.
Vor allen Dingen gestehe ich Ihnen zu, dass es die rotgrüne Bundesregierung war, die versucht hat, gerade
was die Rente angeht, Stabilität herzustellen und Strukturen zu verändern.
({0})
Sie waren in über 20 Jahren, während Sie in der Regierungsverantwortung waren, nicht dazu in der Lage und
schreiben jetzt solche Anträge.
({1})
Wir haben die zusätzliche private Säule mit der
Riester-Rente aufgebaut. Ich gestehe zu, dass man sie
vereinfachen sollte, damit mehr Menschen daran teilnehmen können. 5 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zahlen mittlerweile in die Riester-Rente ein.
Wir haben die Strukturreformen angepackt. Dass unsere
Maßnahmen vor dem Hintergrund der Defizite nicht ausgereicht haben, ist richtig. Es muss aber auch konstatiert
werden, dass Sie trotz Ihrer Kenntnisse der demographischen Entwicklung und der Belastungen, die die deutsche Einheit gebracht hat, keine adäquaten Maßnahmen
getroffen haben. Diese Wahrheit muss bei der rentenpolitischen Debatte auch einmal ausgesprochen werden.
({2})
Wenn Sie in Ihren Antrag als einzige Forderung schreiben, dass wir Strukturveränderungen brauchen, dann
müssen Sie auch sagen - da haben Kollege Kurth und
andere völlig Recht -, was Sie damit meinen.
Wenn wir Ihrem Antrag zustimmen würden, käme das
in erster Linie einer Gruppe zugute, den Großunternehmen, und zwar durch die so entstehenden Zinsgewinne.
({3})
Der Mittelstand wäre nicht der Profiteur. Das muss man
ausdrücklich sagen.
Im Übrigen tun Sie so, als sei das eine enorme zusätzliche Belastung für die Unternehmen.
({4})
Ich sage noch einmal, worum es geht. Eine Fälligkeit,
also eine Verpflichtung, die man sowieso hat, wird vorgezogen. Es wird nichts neu erfunden. Von einer enormen Belastung der Unternehmen zu reden, halte ich daher für völlig verfehlt.
({5})
Ich erinnere übrigens auch gerne an die Steuer- und
Abgabenlast bis 1998. Sie war damals in der Republik
auf dem höchsten Stand aller Zeiten. Allein der Rentenversicherungsbeitrag lag bei 20,3 Prozent. Hätten wir
nicht gehandelt, wäre er bei 22 Prozent gelandet. Man
muss das einmal so deutlich sagen. Damals trugen Sie
die Verantwortung. Die eingeforderten Strukturveränderungen sind unter Rot-Grün auf den Weg gebracht worden. Auch das muss man in aller Deutlichkeit konstatieren dürfen.
Übrigens bin ich der festen Überzeugung, dass es eher
um eine grundsätzliche Auseinandersetzung geht, Herr
Kolb. Auch das darf man einmal ehrlich ansprechen. Ich
habe keine Probleme damit, grundsätzliche Unterschiede
zu diskutieren. Ihnen geht es darum, dass die sozialen Sicherungssysteme zunehmend individualisiert werden. In
dem Beitrag des Kollegen Brüderle heute Morgen ist
noch einmal sehr deutlich geworden, worum es Ihnen
geht. Sie verkleistern es immer wieder mit dem Begriff
„Freiheit“. Ich gebe gern ein Beispiel: Sie sagen, es sei
die Freiheit des Einzelnen, über seinen Arbeitsvertrag
individuell zu verhandeln. Ich begreife Freiheit anders:
Die Freiheit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
ist es, ihre Interessen zu bündeln und kollektiv zu vertreten. Das erhöht die Freiheit. Ihr Weg schränkt Freiheit
ein.
Die sozialen Sicherungssysteme erhöhen aus meiner
Sicht die Freiheit des Einzelnen. Was ist das für eine
Freiheit, wenn ich permanent Angst vor Altersarmut haben muss, weil meine Biografie auch Arbeitslosigkeit
beinhaltet? Ich frage noch einmal: Inwiefern wird die
Freiheit des Einzelnen dadurch gestärkt? Inwiefern wird
die Freiheit des Einzelnen gestärkt, wenn er nach einer
schweren Krankheit Angst haben muss, ein Leben lang
Schulden zu haben, weil er nur noch individuell und
nicht kollektiv abgesichert ist? Unsere Freiheitsbegriffe
sind unterschiedlich. Ich sage Ihnen: Zu unserem Freiheitsbegriff gehören ohne Zweifel vernünftige, solidarische und auch paritätische Sicherungssysteme für die
Menschen.
({6})
Weil es nicht oft genug gesagt werden kann, will ich
aufgreifen, was die Konsequenz wäre, wenn wir Ihrem
Antrag zustimmten. Die Kollegen haben es vorhin sehr
deutlich aufgezeigt: Es gibt nur zwei Alternativen. Sie
haben diese Alternativen nicht benannt. Ich kritisiere,
dass Sie in Bezug auf das, was Sie vertreten, gegenüber
den Menschen nicht wirklich Klartext reden. Zum einen
verlangen Sie, dass der Bundeszuschuss für die sozialen
Sicherungssysteme steigt; allein der Bundeszuschuss für
die Rentenversicherung soll um fast 10 Milliarden Euro
steigen. Zum anderen fordern Sie, dass die Staatsverschuldung gesenkt wird, dass Staatsabbau betrieben wird
und dass die Maastrichtkriterien eingehalten werden.
Wenn Sie wirklich beides wollen, widersprechen Sie
sich.
Sie wollen - da sagen Sie den Menschen ehrlich, was
Sie meinen -, dass staatliche Leistungen, zum Beispiel
die gesetzliche Rente, gekürzt werden. Ihr Antrag hat allein die Interessen Ihrer Klientel im Auge. Zum richtigen
Zeitpunkt stellen Sie einen Schauantrag, der die Botschaft vermittelt: Liebe Klientel, wir, die FDP, sind noch
da. Auch wenn die Mehrheitsverhältnisse nicht ausgereicht haben, uns in Verantwortung zu bringen, sind wir
immer noch eure Interessenvertreter. Nichts anderes bedeutet der von Ihnen hier vorgelegte Antrag.
Selbstverständlich haben wir gute inhaltliche Gründe,
ihn abzulehnen. Wir haben die Taktik, die hinter der Einbringung Ihres Antrags steht, durchschaut. Mein Kollege
Amann hat sehr ausführlich begründet - dabei hat er
seine Redezeit leicht überschritten -, warum wir diesen
Antrag ablehnen. Deswegen beende ich meine Rede
50 Sekunden vor Ablauf meiner Redezeit.
Vielen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/396 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Dritten Gesetzes zur Änderung des Gentechnikgesetzes
- Drucksache 16/430 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich bitte diejenigen, die dieser Debatte nicht folgen
wollen, den Plenarsaal zu verlassen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Dr. Maximilian Lehmer von
der CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Gesetzesvorhaben haben immer zwei Seiten:
den Wunsch und die Wirklichkeit. Das mag eine Binsenweisheit sein; aber in diesem Falle ist sie recht unmittelbar anzuwenden. Der Wunsch war und ist, dass eine
breite Debatte rund um die Gentechnikgesetzgebung geführt wird. Wir müssten jetzt einen intensiven Dialog mit
allen Beteiligten führen. Dies müsste gründlich und verantwortungsvoll erfolgen.
({0})
Realität ist aber, dass wir unter zeitlichem Druck stehen,
die EU-Vorgaben umzusetzen. Die Vorgängerregierung
hat das vor sich hergeschoben; das müssen wir jetzt ausbaden.
({1})
- Jawohl; aber wir schaffen das.
Zu den Fakten. Am 19. Dezember hat die Kommission Deutschland ultimativ aufgefordert, binnen zwei
Monaten die europäische Freisetzungsrichtlinie umzusetzen. Die Umsetzung dieser Richtlinie, die das Gentechnikrecht auf EU-Ebene verbindlich regelt, ist schon
seit mehr als zwei Jahren überfällig. Die Kommission
drohte an, im Falle der Nichtumsetzung gegen Deutschland ein Zwangsgeld zu verhängen. Dieses Zwangsgeld
kann bis zu 792 000 Euro am Tag betragen. Außerdem
kann es mit einem Pauschalbetrag kombiniert werden,
der noch einmal ein Vielfaches dieses Tagessatzes ausmachen könnte.
Es war schnell klar, dass wir jetzt keine Zeit für eine
große politische Auseinandersetzung haben, die aber
- ich betone - dringend notwendig und unausweichlich
ist, wenn das Gentechnikrecht politisch umgestaltet
wird.
({2})
Wir entscheiden uns deshalb für ein zweistufiges Verfahren. In einem ersten Schritt konzentrieren wir uns auf die
Umsetzung der Freisetzungsrichtlinie als solche und in
einem zweiten, sich unmittelbar anschließenden Schritt
werden die übrigen Sachfragen und politischen Streitpunkte angegangen.
Nun zum ersten Schritt, zur Umsetzung der Freisetzungsrichtlinie. Der vorliegende Gesetzentwurf geht auf
eine Formulierungshilfe der Bundesregierung zurück
und ist als Fraktionsinitiative im Bundestag eingebracht
worden. Die EU-Freisetzungsrichtlinie regelt die Freisetzung zu Erprobungs- und Forschungszwecken ebenso
wie das Inverkehrbringen von gentechnisch veränderten
Organismen. Ein großer Teil der Regelungen der Richtlinie wurde bereits mit dem Gesetz zur Neuordnung des
Gentechnikrechts umgesetzt. Nunmehr erfolgt die Umsetzung des noch ausstehenden Teils, und zwar konsequent nach dem Grundsatz einer Eins-zu-eins-Umsetzung.
({3})
Was ist nun der Inhalt dieses Gesetzentwurfs? Der
Gesetzentwurf betrifft überwiegend Form- und Verfahrensvorschriften. Geregelt wird der Inhalt der
Antragsunterlagen, zum Beispiel in Bezug auf die Umweltverträglichkeitsprüfung, die Vorlage eines Beobachtungsplans, die Zusammenfassung der Akte, die Nachforderung von Unterlagen und die Bezugnahme auf
Unterlagen Dritter. Geregelt werden ferner die Bearbeitungsfristen bis zur Entscheidung bzw. bis zur Erstellung
eines Bewertungsberichtes, die Öffentlichkeitsbeteiligung - ein wichtiger Punkt - und die Unterrichtung der
Öffentlichkeit über die Überwachungsmaßnahmen.
So weit die Erläuterungen zum ersten Schritt der notwendigen Anpassung an die EU-Regelungen.
({4})
Lassen Sie mich nun noch einige Aussagen zur weiteren Gesetzgebung machen. Wegen der gebotenen Eile
konnten in dem vorliegenden Entwurf die Anliegen des
Bundesrats, die er schon in der letzten Legislaturperiode
mit Nachdruck verfolgt hatte, noch nicht berücksichtigt
werden. In einem zweiten, unmittelbar folgenden Schritt
sollen diese Fragen aufgegriffen werden. Im Wesentlichen betrifft dies sehr wichtige Punkte, nämlich die
Frage der Haftungsregelung und die Möglichkeit eines
Ausgleichsfonds, die Definition der guten fachlichen
Praxis, das Auskreuzen aus experimentellen Freisetzungen und die Definition des Inverkehrbringens sowie zusätzliche Verfahrenserleichterungen.
Ziel ist, umgehend einen Gesetzentwurf zu diesen
Fragen vorzulegen. Er sollte so rechtzeitig verabschiedet
werden - das ist unsere Absicht -, dass die geänderten
Regelungen ihre Wirkung zur Anbauperiode 2006/07
entfalten können.
({5})
Ich bin davon überzeugt, dass es zu unserer zweistufigen Vorgehensweise keine Alternative gibt. Die Abwendung des Zwangsgeldes ist eine dringende Aufgabe.
Bitte helfen Sie dabei mit, dass das Gesetzgebungsverfahren möglichst zügig durchgeführt werden kann und
unserem Land das Zwangsgeld erspart bleibt!
({6})
Nun zu den wichtigen Zielen beim weiteren Vorgehen. Es ist uns bewusst, dass die Anwendung der Gentechnik in der Landwirtschaft und der Ernährungswirtschaft auf Vorbehalte, ja teilweise auf Ablehnung
stößt. Diese Bedenken unserer Bürger müssen und wollen wir sehr ernst nehmen.
({7})
Bei den Gesprächen mit den Bürgern ist immer wieder
festzustellen, dass viele Vorbehalte auf fehlender oder
unzureichender Information und Aufklärung beruhen.
Leider gibt es viele in unserem Lande, die - das sage ich
ausdrücklich - bewusst oder unbewusst Unsicherheit
und Angst verbreiten.
({8})
Verantwortliche Politik verlangt aber wissenschaftlich
fundierte und ideologiefreie Information, insbesondere
im Hinblick auf moderne, innovative Zukunftstechnologien.
({9})
Bedauerlicherweise ist in der Vergangenheit fast ausschließlich von Risiken der Gentechnik gesprochen worden. Die enormen Vorzüge und Chancen dieser innovativen Technologie wurden dagegen leider auch von
Vertretern der Vorgängerregierung systematisch negiert;
so habe ich es empfunden.
({10})
Dabei liegen ausreichend wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse für die sichere Anwendung auch im Lebensmittelbereich vor. Ich weise in diesem Zusammenhang
auf die aktuellen Berichte der bundeseigenen Einrichtungen wie BfR oder BVL und internationaler Einrichtungen wie WHO oder FAO hin. Auf diese Erkenntnisse
wird bei der anstehenden Diskussion zum zweiten Gesetzesschritt sicher noch intensiv einzugehen sein.
Alle künftigen Regelungen im Gentechnikgesetz
müssen klare Aussagen bringen, und zwar erstens zum
Schutz von Mensch und Umwelt - ich denke, dieser
Punkt hat oberste Priorität -,
({11})
zweitens zur fairen Koexistenz aller Anbauverfahren auf
dem Acker, drittens zur Wahlfreiheit für den Verbraucher und nicht zuletzt viertens zu verlässlichen Rahmenbedingungen für die innovative Forschung und den gesamten Investitionsbereich.
Neuere Forschungsansätze wie die Arbeit an Pflanzen
für die verbesserte Nährstoffzusammensetzung, die gesteigerte Krankheits- und Schädlingsresistenz und die
Optimierung als nachwachsende Rohstoffe - ein, wie ich
denke, ganz aktuelles Thema - sind sehr erfolgversprechend und zeigen überzeugende Ergebnisse. Von vielen
Wissenschaftlern und Wirtschaftsexperten wird die Biotechnologie deshalb übereinstimmend als Schlüsseltechnologie für die nächsten Jahrzehnte bezeichnet.
({12})
Viele Pflanzenzüchter, Landwirte und Verbraucher
weltweit nutzen bereits die Vorzüge der Pflanzenbiotechnologie. So werden derzeit bereits über 80 Millionen
Hektar gentechnisch bearbeitete Pflanzen angebaut. Gerade in Entwicklungsländern - ich verweise auf den aktuellen FAO-Bericht, der das ganz deutlich ausweist hat der Einsatz der Gentechnik den Menschen wertvolle
Hilfe geleistet. Sowohl Anbauer wie Verbraucher nutzen
damit den biologischen und ökonomischen Vorteil dieser
modernen Technologie.
Innovative Anbaumethoden auf Basis der Gentechnik
sind jedoch nicht nur von ökonomischem Nutzen, sondern zeigen auch sehr positive Umwelteffekte: die Einsparung von Treibstoffen, die Reduzierung von Bodenerosion, die Verringerung des Landverbrauchs
({13})
und die Verringerung des Pflanzenschutzmitteleinsatzes, um nur einige wichtige zu nennen.
({14})
Bereits diese kurze Darstellung zeigt, dass in der Nutzung der grünen Gentechnik für alle Beteiligten große
Chancen stecken. Mit dem jetzt zu schaffenden gesetzlichen Regelwerk sind diese auch erfolgreich zu nutzen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({15})
Herr Lehmer, das war Ihre erste Rede in diesem
Hause. Dafür bedanken wir uns herzlich und wünschen
Ihnen weiterhin Erfolg.
({0})
Ich gebe das Wort Dr. Christel Happach-Kasan von
der FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich freue mich, heute zu Ihnen zu sprechen. Ich möchte
dem Kollegen Lehmer zu seiner ersten Rede hier gratulieren, in der er sehr überzeugend und sachlich kompetent über die Vorzüge der grünen Gentechnik gesprochen
hat.
({0})
Herr Kollege Lehmer, ich sehe Sie als einen Verbündeten dabei an, diese Bundesregierung und diese große Koalition anzutreiben, den Worten tatsächlich Taten folgen
zu lassen. Ich nehme Sie als Kronzeugen; denn auch Sie
wollen eine weitere Novellierung des Gentechnikgesetzes. Ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit - in
diesem Fall mit der Regierung.
({1})
Liebe Kollegin Drobinski-Weiß, ich bin ein bisschen
erschüttert darüber, dass die SPD-Fraktion das Thema
Abwendung von Zwangszahlungen gar nicht auf ihrer
Tagesordnung hat. Sie haben Ihrem Koalitionskollegen
vorhin keinen Beifall gezollt, obwohl die SPD mitverantwortlich dafür ist, dass die Bundesregierung in diese
schwierige Situation gekommen ist. Ich finde dieses Verhalten ausgesprochen schade und hoffe, dass es noch ein
bisschen mehr Einsatz für die Abwendung von Zwangszahlungen gibt, damit Minister Steinbrück nicht unnötige Geldausgaben tätigen muss.
({2})
Ich will ausdrücklich sagen, dass der Einstand von
Minister Seehofer gut gewesen ist. Das Bundessortenamt hat erstmals den Anbau und Vertrieb von drei gentechnisch veränderten Pflanzensorten erlaubt. Damit ist
der Minister - es ist schade, dass er heute nicht anwesend ist - zu einer Politik der Rechtsstaatlichkeit zurückgekehrt. Das verdient zwar kein Lob, weil es selbstverständlich ist, aber es verdient Anerkennung, weil es
einen Bruch mit dem Verhalten der Vorgängerregierung
bedeutet. Deutschland ist keine Bananenrepublik.
({3})
- Vielen Dank für den Beifall von der SPD. Sie haben es
erkannt.
Deutschland läuft Gefahr, ab dem 19. Februar zur
Zahlung von Strafgeldern verpflichtet zu werden. Das ist
eine Altlast der rot-grünen Regierung
({4})
- nein, das ist die Altlast der rot-grünen Regierung -, die
mit dem Bundesrat nicht ins Einvernehmen kommen
konnte.
({5})
Aber auch die große Koalition hätte es schaffen können,
einen Entwurf für dieses Minimalgesetz rechtzeitig vorzulegen. Ich finde es schade, dass sie es nicht hingekriegt hat.
({6})
Ich beklage sehr, dass Minister Seehofer mal so und
mal so spricht. Der Minister hat die Verantwortung für
die Umsetzung des Koalitionsvertrages. Dort heißt es,
die grüne Gentechnik solle in Anwendung und Forschung gefördert werden. Das ist eine sehr eindeutige
Aussage. Wir messen Sie daran, ob Sie das schaffen werden.
Die Bedenken aus der SPD - wir haben darüber lesen
können - zielen darauf ab, die Grünen in ihrer Rolle als
Angstschürer zu beerben.
({7})
Auf einmal ist vergessen, dass die SPD-Minister
Bulmahn, Clement und Stolpe sehr wohl die Beschäftigungspotenziale der grünen Gentechnik erkannt haben. Bei 4,6 Millionen Arbeitslosen haben wir keinen
Bedarf für eine solche Politik von Bedenkenträgern.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion, ich empfehle Ihnen, einen Blick auf die Internetseite der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie zu werfen. Schwerpunktthema ist dort die Bio- und
Gentechnologie. Dort heißt es:
Die Bio- und Gentechnologie zählt zu den wichtigsten Innovationsfeldern des 21. Jahrhunderts. Sie
setzt starke Impulse für die verschiedenen Anwendungsbereiche und wird wirtschaftlich in Zukunft
eine große Rolle spielen.
Ich empfehle Ihnen, sich einmal bei Ihrer Gewerkschaft
zu informieren.
({9})
Wir brauchen geeignete Rahmenbedingungen. Deshalb muss das Gentechnikgesetz, wie es Kollege Lehmer
gesagt hat, weiter novelliert werden, so wie dies in der
Begründung des heute vorgelegten Gesetzentwurfs festgeschrieben ist.
An die Adresse der CDU/CSU muss die Frage gerichtet werden: Kann sich die Öffentlichkeit darauf verlassen, dass das, was im Koalitionsvertrag und in der Gesetzesbegründung festgeschrieben ist, auch tatsächlich
umgesetzt wird?
({10})
Dies muss glaubwürdig hier vertreten und anschließend
umgesetzt werden. Denn die vollständige Novellierung
des Gentechnikgesetzes ist unter Rot-Grün gescheitert.
({11})
Eine Zustimmung der FDP zu diesem Gesetz ist davon abhängig, dass die Novellierung des ersten Gesetzes
bis zur Sommerpause verbindlich zugesagt wird. Was
wir Rot-Grün nicht haben durchgehen lassen, lassen wir
auch einer großen Koalition nicht durchgehen. Das muss
ganz klar sein.
Herr Minister, die „Welt“ hat Ihnen schon jetzt einen
Verlust an politischer Glaubwürdigkeit attestiert.
({12})
- Ja, die Glaubwürdigkeit ist zu Recht nicht mehr gegeben; denn er spricht mal so und mal so. - Herr Minister,
schaffen Sie Klarheit!
Bemerkenswert ist aber auch der Kommentar in der
„FAZ“ zur Sendung „Menschen bei Maischberger“, in
der es um das Thema „Hysterie ums Essen?“ ging. Ich
denke, einige von Ihnen haben sie gesehen. Wissenschaftler durften nicht dabei sein, heißt es. Es ging ja um
Gentechnik. Ich frage Sie: Ist das wirklich repräsentativ
für den Wissensstandort Deutschland?
Ein großes Thema in dieser Legislaturperiode wird
der Einsatz von Biomasse zur Energiegewinnung sein.
Bei der energetischen Nutzung von Biomasse kommt es
auf Masse an; sonst ist die Biomassenutzung nicht wettbewerbsfähig. Mais kann als C4-Pflanze besser als unsere heimischen C3-Pflanzen Kohlenstoff assimilieren.
Herr Biologe, Sie können es sicher bestätigen. Deshalb
setzen die Betreiber von Biogasanlagen auf den Mais.
Deswegen ist die Strategie der Landwirte richtig, BtMais in Deutschland anzubauen. Dies geschieht auf
mehr als 1 000 Hektar.
({13})
Deutschland ist ein Hochlohnland. Wir sind ein rohstoffarmes Land. Deswegen müssen wir in Deutschland
auf Innovationen setzen. Das ist eine Aufgabe für die
Bildungs- und Forschungspolitik. Es muss aber auch die
Aufforderung an die gesamte Gesellschaft geben, Innovationen offen zu begegnen, statt sie emotional auszugrenzen.
Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss.
Wem die Menschen in diesem Land am Herzen liegen, wer sich für die Zukunftschancen unserer jungen
Menschen einsetzt, sollte endlich die Scheuklappen ablegen, diffuse Ängste in den Müll werfen und für Innovationen werben: für die Anwendung der grünen, der roten und der weißen Gentechnik.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß von
der SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir bringen heute den
Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Gentechnikgesetzes ein, um damit endlich die EU-Freisetzungsrichtlinie komplett umzusetzen. Die Zeit drängt.
Wir müssen einer Verurteilung durch den Europäischen
Gerichtshof wegen Nichtumsetzung zuvorkommen;
denn niemand, so denke ich, wird wirklich wollen, dass
wir in die Situation kommen, Strafzahlungen leisten zu
müssen.
({0})
Ich bin froh darüber, dass wir uns mit dem Koalitionspartner darauf einigen konnten, dieses dritte Gentechnikänderungsgesetz auf die Regelungen zu beschränken, die
zur Umsetzung der EU-Freisetzungsrichtlinie noch ausstehen.
Es sei mir als SPD-Abgeordnete aber die Bemerkung
gestattet: Das hätten wir schon früher haben können,
({1})
nämlich im Sommer letzten Jahres, als unser zweites
Gentechnikänderungsgesetz hätte verabschiedet werden
können, hätte das nicht die Mehrheit im Bundesrat verhindert.
({2})
Ich denke, es ist wichtig, hier noch einmal deutlich darauf hinzuweisen.
({3})
Der Einsatz der Gentechnik in der Landwirtschaft
und in der Lebensmittelproduktion ist ein sensibles
Thema. Denn 79 Prozent der Verbraucherinnen und Verbraucher lehnen gentechnisch veränderte Lebensmittel
ab.
({4})
Würden Sie denn eine Zwischenfrage gestatten?
Nein. - Deshalb ist es so wichtig, dass sie die Wahl
haben und selbst entscheiden können, ob sie gentechnisch veränderte Produkte kaufen wollen oder nicht.
Deshalb ist es so wichtig, dass der Schutz der konventionellen und ökologischen Landwirtschaft vor Einträgen
aus dem GVO-Anbau gewährleistet bleibt, damit eine
gentechnikfreie Landwirtschaft weiterhin möglich ist
und den Verbraucherinnen und Verbrauchern gentechnikfreie Produkte angeboten werden können.
({0})
Hier gibt es Arbeitsplätze, Frau Kollegin, und nirgendwo
anders.
Wir wollen die Chancen der Gentechnik nutzen. Deshalb haben wir uns im Koalitionsvertrag darauf verständigt, die Forschung auf diesem Gebiet weiter zu fördern.
Insbesondere im Bereich der so genannten weißen Gentechnik sehen wir großes Potenzial.
Wir halten aber daran fest, dass der Schutz von
Mensch und Umwelt Vorrang vor wirtschaftlichen Erwägungen haben muss und dass Koexistenz und Wahlfreiheit gewahrt bleiben müssen.
({1})
Für uns haben die Interessen der Verbraucherinnen und
Verbraucher Priorität.
({2})
Es ist unsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Mittel
zum Leben, die 80 Prozent der Menschen in Deutschland haben wollen, weiterhin produziert werden können.
Das hat auch mit Demokratie und wirtschaftlichem Erfolg zu tun.
Mit Besorgnis habe ich die Erwägung der Firma Hipp
aufgenommen, bei zunehmendem Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen in Deutschland die Rohstoffe
für ihre Kindernahrung künftig aus dem Ausland beziehen zu wollen. Wie jedes intelligente und erfolgreiche
Unternehmen richtet Hipp sein Angebot nach den Bedürfnissen seiner Kundinnen und Kunden aus. Vermutlich steht diese Firma mit solchen Erwägungen nicht allein.
({3})
Ich bin dankbar, dass sie öffentlich geäußert worden
sind.
({4})
Denn dadurch haben wir die Chance, darauf zu reagieren. Einigen von uns wird vielleicht erst dadurch klar,
dass eine Absenkung des Schutzniveaus für die gentechnikfreie Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion sowohl von den Verbraucherinnen und Verbrauchern sowie
den Landwirten als auch von einem Teil der Unternehmen als Bedrohung wahrgenommen wird.
Ich möchte Herrn Hipp und möglicherweise noch
viele andere Unternehmer aus der Lebensmittelwirtschaft heute von hier aus beruhigen: Wir sorgen dafür,
dass bei uns weiterhin gentechnikfrei angebaut werden
kann. Die Unternehmer werden weiterhin gentechnikfrei
produzieren können und ihre Kundinnen und Kunden
werden weiterhin ihre Ware aus gentechnikfreien Rohstoffen auch aus Deutschland kaufen können.
({5})
Wenn wir mit dem heute vorliegenden Entwurf eines
Dritten Gesetzes zur Änderung des Gentechnikgesetzes
die EU-Freisetzungsrichtlinie umgesetzt haben werden,
werden wir dafür eine gute Grundlage geschaffen haben.
Wir werden diesen Entwurf natürlich noch eingehend
beraten, aber ich bin zuversichtlich, dass wir die darin
geregelten Verfahrensfragen bald mit großer Mehrheit
verabschieden können. Viel Spielraum haben wir dabei
ohnehin nicht, da es sich um die Umsetzung von EURecht handelt.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Gäste! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der Koalitionsvertrag sagt
zur Umsetzung der EU-Freisetzungsrichtlinie:
Der Schutz von Mensch und Umwelt bleibt, entsprechend dem Vorsorgegrundsatz, oberstes Ziel
des deutschen Gentechnikrechts. Die Wahlfreiheit
der Landwirte und Verbraucher und die Koexistenz
der unterschiedlichen Bewirtschaftungsformen
müssen gewährleistet bleiben.
Nur, die Politik dieser Regierung verletzt diese Grundsätze. Keines der diskutierten gesundheitlichen oder
ökologischen Risiken der grünen Gentechnik ist widerlegt. Dagegen mehren sich die bestätigenden Hinweise.
Ihre Anwendung jetzt dennoch zu forcieren, halten wir
für schlichtweg unvereinbar mit dem Vorsorgegrundsatz.
({0})
Die Freisetzung gentechnisch veränderter Pflanzen in ein offenes System nimmt den Menschen die
Wahlfreiheit, zumindest schleichend. Nichtanwender
werden früher oder später Verunreinigungen hinnehmen
müssen, weil es viele nicht oder kaum kontrollierbare direkte und indirekte Verschleppungswege gibt. Zum Beispiel werden Rapspollen über 26 Kilometer verbreitet,
Rapssamen bleibt über viele Jahre hinweg im Boden
keimfähig.
Mit diesem Gesetz wird deshalb „gentechnikfrei“ in
Zukunft nur noch die Einhaltung von Grenzwerten bedeuten. Das sollte den Menschen dann auch ehrlich gesagt werden.
({1})
Unbeantwortet ist die Frage nach den Kosten von
Maßnahmen zur Koexistenz. In einer von der EU-Kommission in Auftrag gegebenen Studie werden die Kosten
bei Raps, Mais und Kartoffeln auf 53 bis 345 Euro pro
Hektar geschätzt. Wer bezahlt solche zusätzlichen Aufwendungen? Wer haftet für trotzdem eingetretene Schäden?
Aber davon abgesehen: Ihr Versprechen für Koexistenz und Wahlfreiheit ist nach Lage der Dinge unredlich,
weil es nicht haltbar ist.
({2})
Die Fraktion Die Linke steht an der Seite der vielen
Landwirte, die die grüne Gentechnik strikt ablehnen und
sich ihr uraltes Nachbaurecht nicht durch Gentech-Konzerne nehmen lassen wollen. Wir stehen an der Seite der
übergroßen Mehrheit der Verbraucherinnen und Verbraucher, die solche Lebensmittel nicht wollen. Ihre Interessen haben für uns eine höhere Priorität als gigantische Gewinnerwartungen von Gentech-Konzernen.
({3})
Wir sind keine Maschinenstürmer, aber die grüne
Gentechnik ist eine Risikotechnologie, deren Schäden
nicht rückholbar sind. Freilandanwendungen sind daher
unbeherrschbare Großversuche.
Die gegebenen Versprechen hat sie nicht erfüllt: In
den USA werden auf Genfeldern bereits 13 Prozent
mehr Pestizide versprüht als auf konventionell bewirtschafteten Äckern, mit stark zunehmender Tendenz. Vor
allem herbizidresistenter Genraps ist zu einem hartnäckigen Unkraut geworden, weil sich viele verschiedene
Genrapssorten untereinander gekreuzt haben und nun
gegen alle eingesetzten Totalherbizide resistent sind.
Es gibt also keinen Grund zur Entwarnung. Es steht
mehr denn je die Frage im Raum, ob grüne Gentechnik
überhaupt gebraucht wird.
({4})
Das sehen wohl auch die über 160 Regionen,
3 500 Städte und Gemeinden, die sich zu gentechnikfreien Zonen erklärt haben, und Zehntausende Bauern
so.
Es stellt sich abschließend die Frage: In wessen Interesse handelt die Regierung?
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Uli Höfken, Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Tackmann, Ihre Rede hat mich echt gefreut. Ich fände es aber auch gut, wenn die Linke, die in
Mecklenburg-Vorpommern an der Regierung beteiligt
ist, da aber leider unter dem Tisch sitzt, wenn es um das
Thema Gentechnik und Agrogentechnik geht, sich einmal etwas lauter äußern
({0})
und das unglaubliche Vorpreschen in diesem Punkt vielleicht doch etwas bremsen würde.
({1})
- Wir haben erlebt, wie Sie sich im Bundesrat verhalten
haben.
Ich habe gestern im Bayerischen Fernsehen eine Sendung zum Thema „Hipp kontra Seehofer“ gesehen. Da
ging es um die Frage: Gefährdet Seehofer die
150 000 Arbeitsplätze in der Biobranche, die 1 200 Arbeitsplätze in seinem Wahlkreis bei Hipp oder die vielen
Hunderttausend Arbeitsplätze in der Qualitätserzeugung? Ich denke, das sind Fragen, die sich auch die CSU
stellen sollte. Sie können sich übrigens einmal bei der
BioFach diesen innovativen Bereich der Lebensmittelerzeugung ansehen. Es ging in der Sendung auch um die
Gentechnikoffensive, die in Bayern gestartet werden
sollte und die dann aufgrund der Abwehr der Bevölkerung zurückgezogen wurde.
Ich sage ganz klar: Es ist zu begrüßen, dass die große
Koalition das „grüne“ Gentechnikgesetz - oder das rotgrüne; schön, wenn Sie dazu stehen - heute wieder einbringt. Gut ist, dass die wichtigen Regelungen im Gentechnikgesetz erhalten bleiben, nämlich diejenigen, die
die Haftung, die Transparenz im Standortregister und
den Schutz ökologisch sensibler Gebiete betreffen. Es ist
wichtig, dass diese Regelungen erhalten bleiben.
({2})
Es war im Übrigen ganz überflüssig, dass Sie, auch
Sie von der FDP, dieses Gesetz im Bundesrat ein ganzes
Jahr lang verhindert haben.
({3})
Die Androhung mit dem Zwangsgeld hat jetzt Einsicht
gebracht. Ich denke aber, ebenfalls dazu beigetragen hat,
dass viele der Kampfparolen gerade der CDU - und auch
mancher SPDler ({4})
bezüglich der Haftungsregelung im Realitätstest durchgefallen sind. Sie haben auch keine bessere Lösung gefunden. Eine Pressemitteilung des Bauernverbands von
heute - auch das ist eine Ente - besagt, dass die Pflanzenzüchter jetzt einen Haftungsfonds wollen. Das
stimmt definitiv nicht. Die sagen wörtlich: Einen Haftungsfonds lehnen wir ausdrücklich ab.
Es sollte also so bleiben, wie es im geltenden Gentechnikgesetz geregelt ist. Wir warnen die große Koalition auch ganz klar davor - das hat sie ja offiziell
angedroht -, nach dieser Novelle, in der es um die Umsetzung von EU-Recht geht, die Schutzregelungen für
die gentechnikfreie Produktion zu verändern. Denn das
wäre ein richtig schmutziger Deal, mit dem dann durch
die Hintertür Anforderungen an die Sicherheit und an die
Sorgfaltspflichten im Umgang mit der Agrogentechnik
gelockert werden sollen, nach dem Motto: Wie definiere
ich Schadensersatzansprüche so um, dass die Versicherer
kein Risiko mehr haben?
({5})
Nein, das werden wir nicht durchgehen lassen. Uns
geht es nämlich um die Wahlfreiheit von Bauern und
Verbrauchern. Die sollten auch Sie im Blick haben,
wenn die zweite Stufe, die Sie ankündigen, nicht der
Weg in den Abgrund für Sie werden soll.
({6})
Eins-zu-eins-Umsetzung heißt aber auch - das haben
wir jetzt aus dem Fall der Maissorte MON 863 der Firma
Monsanto gelernt -, dass es einer Verbesserung bei der
Öffentlichkeitsbeteiligung bedarf. Das fordern die Umweltverbände zu Recht ein. Diese Forderung werden wir
unterstützen. Mittlerweile gibt es auch ein Gerichtsurteil
dazu.
Die versprochene Wahlfreiheit für Verbraucher, Bauern, Wirtschaft - nicht nur für Hipp, aber dem hat Herr
Seehofer es öffentlich versprochen - kann es nur geben,
wenn der Schutz der gentechnikfreien Produktion mit aller Seriosität aufrechterhalten wird. Das geht nur mit
Beibehaltung des Gentechnikgesetzes von Rot-Grün.
({7})
Daran darf nicht weiter herumgedoktert werden. Wir
wollen Freiheit statt Zwangsbeglückung.
Danke schön.
({8})
Das Wort hat der Kollege Matthias Miersch von der
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin dem
Kollegen Lehmer ausdrücklich sehr dankbar, dass er hier
einen sachlichen Dialog eingefordert hat. Liebe Kollegin
Happach-Kasan, wenn Sie von Kronzeugen sprechen,
dann sage ich Ihnen: Zu einer umfangreichen Beweisaufnahme gehört natürlich auch die Kenntnisnahme von
Dokumenten.
({0})
Ein wesentliches Dokument, das dieser Debatte zugrunde liegt, ist der Koalitionsvertrag. Er ist eine hervorragende Grundlage, da er zwei feste Grundprinzipien berücksichtigt, nämlich erstens die Koexistenz und
zweitens die Wahlfreiheit. Alle künftigen Regeln müssen
sich an diesen zwei Grundwerten orientieren und messen
lassen.
({1})
- Liebe Frau Kollegin Happach-Kasan, Sie haben sehr
schnell gesagt, die Haftung müsse aufgelockert werden.
({2})
Ich rate Ihnen: Schauen Sie sich einfach einmal an, wie
schwer es bereits heute für einen Landwirt, der konventionell arbeitet, beispielsweise im Fall der Lieferung von
mangelhaftem Saatgut ist, seine eigentlich ganz klaren
Ansprüche in der Praxis durchzusetzen.
({3})
Wenn wir Koexistenz ernst nehmen wollen, dann
müssen wir die Praxis berücksichtigen. Die Existenz
muss gewährleistet sein. Es kann nicht sein, dass Prozesse jahrelang ausgefochten werden müssen, bevor man
Schäden ersetzt bekommt.
({4})
Neben der Koexistenz ist die Wahlfreiheit der zweite
feste Grundwert. Wahlfreiheit setzt Transparenz voraus,
und zwar an allen Stellen.
({5})
Dieser Grundwert, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der FDP, ist jetzt betroffen. Die EU-Freisetzungsrichtlinie stellt das Recht der Öffentlichkeit auf Information in
den Mittelpunkt. Frau Kollegin Höfken, manchmal kann
man bestehende Entwürfe - selbst dann, wenn die Grünen daran mitgewirkt haben - noch verbessern.
({6})
Insofern möchte ich das Hohe Haus bitten, einen
Punkt zu berücksichtigen: Wenn wir uns den Gesetzentwurf, wie er augenblicklich vorliegt, ansehen, dann stellen wir fest, dass in § 28 a zahlreiche Einschränkungen
genannt werden. Ich glaube, wir tun gut daran - auch
wenn die Debattenzeit und die Beratungszeit im
Ausschuss kurz bemessen sind -, uns diesen Punkt noch
einmal genau anzusehen und ihn mit dem Ziel der EUFreisetzungsrichtlinie zu vergleichen, in der eindeutig
geregelt ist, dass das Recht der Öffentlichkeit auf
Information ein hohes Gut ist.
({7})
Die grüne Gentechnik ist sicherlich ein Thema, zu
dem man geteilter Meinung sein kann. Ich glaube, die
Koalitionsfraktionen haben mit dem Koalitionsvertrag
eine gute Grundlage beschlossen. Wir müssen jetzt über
dieses Thema streiten. Alle, die meinen, in diesem Bereich müsse liberalisiert und aufgeweicht werden, müssen berücksichtigen, dass es letztlich um die Frage geht,
ob derjenige, der auf eine jahrhundertealte Tradition
setzt, in seiner Rechtsposition geschützt werden sollte,
und derjenige, der - zu Recht - eine neue Technologie
verwendet, für eventuelle Schäden haften muss. Ich
finde, das ist eine Selbstverständlichkeit. Daran sollten
wir uns und alle zukünftigen Regeln messen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Herr Kollege Miersch, das war hier Ihre erste Rede.
Dazu gratulieren wir Ihnen ganz herzlich und wünschen
Ihnen viel Erfolg bei Ihrer parlamentarischen Arbeit.
({0})
Ich schließe hiermit die Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 16/430 zu überweisen, federführend an den
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz und zur Mitberatung an den Rechtsausschuss,
den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss für Gesundheit, den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie an den Ausschuss
für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung.
Gibt es dazu weitere Vorschläge? - Das ist offensichtlich
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung der abfallrechtlichen Überwachung
- Drucksache 16/400 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Damit ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Durch
den vorgelegten Gesetzentwurf wird die abfallrechtliche
Überwachung nachhaltig vereinfacht und gleichzeitig effizienter gemacht. Wir reagieren damit auf Forderungen,
die sowohl die Umweltverwaltungen als auch die Unternehmen erhoben haben. Der Gesetzentwurf schafft eine
Gewinner-Gewinner-Situation: einerseits für die Umweltbehörden, andererseits für die Wirtschaft und die
Umwelt. Wir können künftig mit weniger Bürokratie
und vor allen Dingen mit geringeren Personalkosten den
gleichen, wenn nicht sogar mehr Umweltschutz erreichen.
Der Gesetzentwurf birgt nach Auffassung der Bundesregierung drei Vorteile:
Erstens. Er sorgt für eine stringente Anpassung an
das Recht der Europäischen Gemeinschaft. Das ist
insbesondere für die Unternehmen, aber auch für diejenigen, die EG-weit tätige Unternehmen überwachen,
wichtig. Ich glaube, dass das von besonderer Bedeutung
ist.
({0})
Zweitens. Wir stellen das Nachweisverfahren konsequent auf elektronische Kommunikationssysteme um.
Bisher erhalten die zuständigen Überwachungsbehörden
pro Jahr circa 125 000 Entsorgungsnachweise und
2,5 Millionen Begleitscheine auf dem Formularweg zur
Prüfung; das kann man, wie ich finde, fast nicht glauben.
Die bundesweite Nutzung moderner Kommunikationstechniken vereinfacht den Datenaustausch, senkt
die Kosten und entlastet Behörden von Routineaufgaben. Ich glaube, das ist überfällig.
({1})
Drittens. Der Gesetzentwurf schöpft in einzelnen
Überwachungsbereichen wichtige spezifische Vereinfachungsoptionen aus. Künftig besteht beispielsweise
nicht mehr die Pflicht, betriebliche Abfallkonzepte und
Bilanzen zu führen; denn sie haben in der Praxis nicht
zur erwarteten Optimierung der betrieblichen Abfallwirtschaft geführt.
Ich möchte noch auf eine wichtige Besonderheit des
Projekts hinweisen: Das Bundesumweltministerium hat
dieses Vereinfachungskonzept im Auftrag der Umweltministerkonferenz, gemeinsam mit den Ländern und im
Dialog mit der Wirtschaft vorbereitet. Diese breite Basis
sichert eine sehr hohe Akzeptanz. Schon jetzt, während
das Gesetzgebungsverfahren hier im Parlament eigentlich erst beginnt, bereiten sich die Behörden und die
Wirtschaft auf das neue Verfahren und die EDV-Systeme
vor. Alle Betroffenen wollen, dass wir das Rechtsetzungsverfahren zügig durchführen.
Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme darum gebeten, weitere Vereinfachungsoptionen im Abfallrecht
erst nach Abschluss dieses Gesetzgebungsverfahrens
aufzugreifen. Er hat die Beratung der parallel vorgelegBundesminister Sigmar Gabriel
ten Verordnung zur Vereinfachung der abfallrechtlichen
Überwachung zurückgestellt, da erst dieses Gesetz verabschiedet werden muss. Der Bundesrat wird die Beratung der Verordnung aber zügig aufnehmen, sobald hier
im Haus das parlamentarische Ergebnis vorliegt.
Meine Damen und Herren, deshalb bitte ich Sie darum, den vorgelegten Gesetzentwurf zügig zu beraten
und zu verabschieden. Er ist sicherlich ein gelungenes
Beispiel dafür, dass es sehr wohl möglich ist, zum Wohle
von Umwelt und Wirtschaft und im Interesse einer effizienten öffentlichen Verwaltung zusammenzuarbeiten.
Weil auch das zu diesem Thema gehört, will ich diese
Gelegenheit nutzen, um auf einige Presseberichte vom
letzten Wochenende hinzuweisen, in denen behauptet
wurde, dass es in Deutschland einen akuten Müllnotstand gebe. Davon kann keine Rede sein. Vielmehr ist
festzustellen: Die Anforderungen der seit Juni 2005 geltenden Ablagerungsverordnung zeigen ihre gewollte
Wirkung. Nicht verwertbare Abfälle werden vor ihrer
Ablagerung entweder in Müllverbrennungsanlagen oder
in mechanisch-biologischen Anlagen behandelt - in einem der beiden Anlagentypen müssen sie behandelt werden - und nicht mehr einfach zu billigen Preisen in Deponien verbracht.
Insbesondere die kommunalen Entsorger haben rechtzeitig die erforderlichen Maßnahmen getroffen. Für
Hausmüll und hausmüllähnliche Gewerbeabfälle wurden
ausreichende Behandlungskapazitäten geschaffen. Es
trifft allerdings zu, dass es bei Gewerbeabfällen in bestimmten Regionen in Deutschland Engpässe gibt. Dies
liegt daran, dass sich einige gewerbliche Abfallerzeuger
trotz der langen Übergangsphase von immerhin zwölf
Jahren nicht rechtzeitig auf die neue Situation eingestellt
haben und die kommunalen Anlagen mit ihren eigenen
Abfällen weitgehend ausgelastet sind.
Ich jedenfalls erinnere mich noch ganz gut an die Diskussion, die vor zwölf Jahren geführt wurde. Die Debatte über die Verbrennung bzw. die mechanisch-biologische Vorbehandlung des Mülls war ja bundesweit
bewegend. Diese Frage ist entschieden worden. Ich
glaube, alle Beteiligten hatten ausreichend Zeit, um sich
auf die neue Situation vorzubereiten. Allein in den kommunalen Abfallentsorgungsanlagen wurden Investitionen in Höhe von 7,5 Milliarden Euro getätigt. Die Kommunen haben enorme Vorleistungen erbracht. Wenn man
nun die Klage hört, beim Gewerbemüll sei ein Entsorgungsnotstand ausgebrochen, dann liegt das schlicht und
ergreifend daran, dass diejenigen, die sich nicht vernünftig vorbereitet haben, jetzt „Haltet den Dieb!“ rufen.
({2})
Gefordert sind in diesem Bereich verstärkte Anstrengungen zur Verwertung. Bei der Entsorgung von gewerblichen Abfällen gibt es hier noch große Potenziale.
Geboten ist dabei zum Beispiel die verstärkte Trennung
der Abfälle. Der in Zeiten enger Rohstoffmärkte auch
wirtschaftlich gebotene Vorrang der Verwertung ist auch
bei Gewerbeabfällen zu realisieren. Die deutsche Entsorgungswirtschaft kann den gewerblichen Abfallerzeugern
dabei ein wirklich leistungsfähiger Partner sein. Darüber
hinaus müssen in Bau und Planung befindliche Verbrennungsanlagen sowie mechanisch-biologische Behandlungsanlagen schnellstmöglich fertig gestellt und bestehende Anlagen gegebenenfalls erweitert werden. Für die
heizwertreichen Abfallbestandteile sollten die vorhandenen Müllverbrennungskapazitäten in Kraft- und Zementwerken genutzt werden.
Ich denke, dass es sinnvoll war, angesichts dieser Debatte über ein, so hoffe ich jedenfalls, weitgehend unstrittiges Thema Klarheit geschaffen zu haben.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Birgit Homburger von der
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben heute die erste Lesung des Entwurfs eines Gesetzes
zur Vereinfachung der abfallrechtlichen Überwachung,
wie es so schön heißt. Dieser Gesetzentwurf zeigt vor allen Dingen eines sehr deutlich: wie stark das europäische Recht Einfluss nimmt auf das deutsche Recht. Die
wesentlichen Vorgaben stammen heute aus Brüssel. Deshalb ist es so wahnsinnig wichtig, dass wir bei den Verhandlungen darauf achten, rechtzeitig Einfluss zu nehmen auf die Dinge, die auf europäischer Ebene
beschlossen werden.
({0})
Das ist vor allem vor dem Hintergrund sehr wichtig,
dass wir sowohl ökologisch anspruchsvolle als auch
ökonomisch sinnvolle Regelungen brauchen. Was dabei
herauskommt, wenn man sich nicht rechtzeitig darum
kümmert, zeigt beispielsweise die Vierte Verordnung zur
Änderung der Verpackungsverordnung, in der wir die
Europäische Verpackungsrichtlinie umgesetzt haben. Da
haben wir uns allen Ernstes in mehreren Stufen - Bundestag und Bundesrat - mit der Frage beschäftigt, wann
Blumentöpfe Verpackung sind. Am Schluss der Diskussion, nach mehreren Monaten, hat die große Koalition
vor kurzem die wegweisende Formulierung gefunden,
dass
Blumentöpfe, die dazu bestimmt sind, dass die
Pflanze während ihrer Lebenszeit darin verbleibt,
nicht als Verpackung gelten.
Das sind Dinge, bei denen sich der Normalbürger
fragt, wie das noch Sinn machen kann! Das Recht wird
nämlich immer komplizierter, man kann es immer
weniger durchschauen. Deswegen plädiere ich dafür,
beispielsweise die Diskussion über Abfallvermeidung
und -recycling, in deren Zuge unter anderem die EG-Abfallrahmenrichtlinie novelliert werden wird, dazu zu nutzen, auch eine Überprüfung der Europäischen Verpackungsrichtlinie herbeizuführen. Es gibt eine Klausel in
der Verpackungsrichtlinie, die darauf abzielt, genau solchen Unsinn, wie ich gerade zitiert habe, zu beseitigen.
Ich fordere Sie auf, Herr Bundesumweltminister: Nutzen
Sie die Gelegenheit, hier auf der europäischen Ebene
Einfluss zu nehmen!
({1})
Der heutige Gesetzentwurf wird in der Tat zu einer
gewissen Vereinfachung führen; deswegen stimmen wir
der Grundrichtung auch zu. Es geht um eine Anpassung
an europäisches Abfallrecht, sowohl von der Struktur
her als auch von der Terminologie. Das ist natürlich auch
für den Vollzug von Bedeutung, insbesondere dann,
wenn Abfalltransporte grenzüberschreitend sind, zum
Beispiel in andere Staaten der Europäischen Union gehen. Durch den Gesetzentwurf sollen sowohl die Unternehmen der Wirtschaft als auch die Vollzugsbehörden
von bürokratischen und von arbeitsaufwendigen Pflichten entlastet werden. Im Sinne der besseren Effizienz der
abfallrechtlichen Überwachung sowie im Hinblick auf
Bürokratieabbau und Deregulierung begrüßen wir die
Ziele des Gesetzentwurfs.
({2})
Durch das elektronische Nachweisverfahren - Sie
haben es angesprochen, Herr Minister - soll die abfallrechtliche Überwachung erheblich erleichtert werden.
Für die besonders überwachungsbedürftigen Abfälle, die
zukünftig „gefährliche Abfälle“ heißen werden, werden
bislang bundesweit jährlich etwa 60 000 Entsorgungsnachweise, 20 000 Sammelentsorgungsnachweise und
1,5 bis 2 Millionen Abfallbegleitscheine ausgestellt und
kontrolliert. Es ist ein Fortschritt, wenn diese Papierberge überflüssig werden.
Wir müssen im Rahmen dieses Gesetzgebungsverfahrens aber tunlichst darauf achten, dass nicht, wie es bei
so mancher sozialversicherungs- und steuerrechtlichen
Regelung der Fall gewesen ist, die kleinen Betriebe
durch eine Umstellung auf komplizierte EDV-Systeme
erhebliche Schwierigkeiten bekommen. Auch das muss
im Gesetzgebungsverfahren berücksichtigt werden.
({3})
Es wird eine Änderung hinsichtlich der Erstellung so
genannter Abfallwirtschaftskonzepte und Abfallwirtschaftsbilanzen geben. Diese werden zukünftig als betriebsinterne Planungsinstrumente für Erzeuger großer
Mengen gefährlicher Abfälle zur Verfügung stehen. Die
Vorgaben aus der Abfallwirtschaftskonzept- und -bilanzverordnung entfallen, weil sie zu starr und zu wenig
flexibel und in der Praxis kaum umsetzbar waren. Deshalb ist es sachgerecht, die Pflicht zur Aufstellung von
Konzepten und Bilanzen aufzuheben und die komplette
Verordnung zu streichen.
Durch die Aufhebung der deutschen Sonderkategorie
der überwachungsbedürftigen Abfälle fällt eine weitere
Verordnung weg. Auch das begrüßen wir. Dadurch wird
es künftig weniger Abgrenzungsprobleme geben.
Zum Schluss will ich Folgendes sagen, Herr Minister:
Ich verstehe nicht, dass mit dem vorgelegten Gesetz
schon wieder die Gewerbeabfallverordnung geändert
werden soll. Wir wissen doch ganz genau, dass diese
Anfang 2003 in Kraft getretene Verordnung zu einer
ökologischen und wirtschaftlichen Verschlechterung geführt hat. Wir könnten mit diesem Gesetz auch diese
Verordnung abschaffen. Das wäre ein weiterer Beitrag
zum Bürokratieabbau. Dazu fordern wir Sie auf.
Wir werden im Ausschuss über die Details dieses Gesetzentwurfs diskutieren. Ich denke, er geht in die richtige Richtung. Vonseiten der FDP-Bundestagsfraktion
sind wir aber der Auffassung, dass noch einiges mehr an
überflüssiger Bürokratie wegfallen könnte.
Vielen Dank.
({4})
Herr Kollege Michael Brand von der CDU/CSUFraktion, Sie haben das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Als Neuling im Bundestag, der den mittelständisch geprägten Wahlkreis Fulda in Berlin gut vertreten will, bin ich überrascht von der Masse an Vorschriften, die den Mittelstand als „Jobmaschine Nummer
eins“ einengen.
({0})
- Herr Trittin, auf Sie werde ich im Laufe meiner Rede
noch zu sprechen kommen. - Das betrifft die von uns
politisch zu verantwortenden Vorschriften allgemein und
die Regelungsdichte im Umweltbereich im Besonderen.
Auch die vom vorliegenden Entwurf erfassten circa
125 000 Entsorgungsnachweise, 2,5 Millionen Begleitscheine sowie die Millionen Übernahmescheine, die pro
Jahr anfallen, bedeuten Bürokratie, die den Betrieben oft
die Luft zum Atmen knapp werden lässt und ihnen die
Sicherung von Beschäftigung erschwert.
Allein im Jahre 2004 - Herr Trittin, hören Sie gut zu gab es im Arbeits- und Umweltrecht unglaublich viele
Änderungen. Die Betriebe mussten eine Flut von neuen
Vorschriften beachten: über 1 100 Änderungen auf
Ebene der Bundesländer, über 1 000 Änderungen auf
Bundesebene, dazu 250 Änderungen seitens der EU und
darüber hinaus noch über 200 Änderungen der Berufsgenossenschaften. Manchmal habe ich den Eindruck, dass
Umweltrecht als Ordnungsrecht zu stark die Recyclingwirtschaft konkret behindert. Dies werden wir natürlich
auch weiterhin aufmerksam beobachten.
Es besteht kein Zweifel: Umweltrecht ist zum Schutz
von Natur und Umwelt wichtig und hilft uns Menschen
bei der Erhaltung des natürlichen Gleichgewichts. Natürlich sind konkrete Regelungen zum Schutz von Beschäftigten wie der Bevölkerung in allen Bereichen insgesamt erforderlich, wenn mit Stoffen umgegangen
wird, die eine besondere Sorgfalt erfordern.
Wir von der Union sind klar gegen Ökodumping und
treten grundsätzlich für einen schonenden Umgang mit
den Ressourcen ein. Wir haben diese Erde in der Tat nur
als Geschenk erhalten. Nach meinem Verständnis bedeutet der Satz „Macht euch die Erde untertan“ eine besondere Verantwortung für die Schöpfung.
({1})
Wir dürfen die Erde nutzen, aber wir müssen auch sorgsam mit der Schöpfung umgehen. Ich teile als relativ
frisch gebackener Vater sehr die These: „Wir haben die
Erde von unseren Kindern nur geliehen.“
({2})
Dass wir das Kind dabei nicht mit dem Bade ausschütten
wollen, unterscheidet uns von der Union sicherlich von
anderen: Wir wollen eben keine Ökoideologie, sondern
die Umsetzung einer Umweltpolitik, die sowohl der Natur wie den Menschen dient.
({3})
Das Wort „Kreislaufwirtschaft“ beinhaltet nämlich aus
gutem Grunde auch das Wort „Kreislauf“. Wenn wir
diese funktionierende Kreislauf- und Stoffstromwirtschaft durch ein Übermaß an Vorschriften verlangsamen,
stoppen oder durch falsche Initiativen gar dauerhaft unterbrechen, dann wird es statt der Modernisierung in
Richtung Stoffstromwirtschaft einen Rückschritt bei der
ökologischen Qualität geben.
Meine Fraktion, die CDU/CSU, und unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel haben daher zu Recht auf eine
Stabsstelle zur Entbürokratisierung im Bundeskanzleramt gedrängt und dies auch umgesetzt. Wir wollen und
werden die Entbürokratisierung konkret auch in diesem Bereich so weit wie möglich umsetzen. Dabei werden wir vor allem die Beschäftigung und die Wettbewerbsfähigkeit der überwiegend mittelständischen
Unternehmen im Blick haben. Vor allem hier werden die
Arbeitsplätze geschaffen und gesichert, die wir in
Deutschland so dringend brauchen.
({4})
Wir gehen dabei davon aus, dass auch dieser Gesetzentwurf zur Vereinfachung der abfallrechtlichen Nachweispflichten, der ja aus der Ära Trittin stammt, durch
den „Bürokratie-TÜV“ der neuen Bundesregierung noch
einmal kritisch geprüft werden wird. Wir als CDU/CSU
sind dabei davon überzeugt, dass sowohl der Nachfolger
des ausgeschiedenen Umweltministers als auch dessen
Vorgängerin und heutige Bundeskanzlerin umweltgerechten und mittelstandsfreundlichen Verbesserungen
offen gegenüberstehen.
Die Harmonisierung mit dem EU-Recht ist bei der
Vereinfachung ein ganz wesentlicher Fortschritt für die
Unternehmen und die Vollzugsbehörden. Das ist aber
nicht alles. Vor allem in der elektronischen Umsetzung
der Nachweispflichten wird sich entscheiden, ob der
Mittelstand seine Position als regionaler Dienstleister
und als Jobmaschine auch in Zukunft erhalten kann. Dabei werden wir auf den Grundsatz achten: Solide Arbeit
muss sich lohnen. Es kann ganz klar nicht so sein, dass
über zu komplexe Anforderungen bei den so genannten
technischen Schnittstellen - Frau Homburger hat das
auch erwähnt - ordentlich arbeitenden Unternehmen unnötige Bürokratie aufgezwungen wird. Wir als CDU/
CSU werden jedenfalls nachhaltig auf ein ökologisch
verantwortbares Gleichgewicht zwischen Umweltbürokratie und Umweltarbeitsplätzen achten.
Herr Bundesminister Gabriel, nach unseren ersten Begegnungen im Umweltausschuss und auch darüber hinaus will ich allerdings auch gerne etwas unterstellen:
Dieser Niedersachse, der dort auf der Regierungsbank
sitzt, hat eine deutlich bessere Vorstellung von dem, was
für Wirtschaft, Arbeit und Umwelt verträglich oder
schädlich ist, als andere Niedersachsen, und damit bin
ich wieder bei Ihnen, Herr Trittin.
({5})
Ich will hier aber auch noch einen anderen Niedersachsen erwähnen, nämlich den derzeitigen Ministerpräsidenten in Niedersachsen, Christian Wulff; denn in dieser Frage kann man sich in allen Fraktionen sicherlich
ein Beispiel an ihm nehmen.
({6})
- Ich finde, Herr Kelber war ein bisschen kleinlich. Ein
wenig Applaus dürfte es für den amtierenden Ministerpräsidenten geben.
({7})
Herr Minister, darauf, dass wir Sie in dem Bestreben
um Umwelt und Arbeit aktiv begleiten werden, dürfen
Sie sich gerne verlassen. Die CDU/CSU-Fraktion wird
dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Vereinfachung der
abfallrechtlichen Überwachung also zustimmen. Dies
tun wir auch deshalb, um bei der Entbürokratisierung
und der Verbesserung der Rahmenbedingungen für mehr
Beschäftigung zügig voranzukommen.
Die CDU/CSU hat dabei nicht übersehen, dass es bei
allem Konsens in der Grundrichtung auch Dissens zwischen dem Bund und den für den Vollzug verantwortlichen Ländern gibt. Dies betrifft offenkundig vor allem
die Frage, wie die Nichterfüllung von Nachweispflichten
geahndet werden soll. Wir glauben hier allerdings, dass
die Bundesregierung einen guten Ansatz gewählt hat,
um mit den Ländern eine Einigung zu erreichen. Das
wesentliche Stichwort ist auch hier die bereits erwähnte
elektronisch gestützte Nachweisführung bei der Abfallüberwachung.
Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat können
im Verlauf des weiteren Verfahrens noch offene Fragen
klären, um den Zielen der Effizienzverbesserung und
auch der Erleichterung bei der Überwachung von Abfällen einen Schritt näher zu kommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, da dies heute meine
erste Rede im Deutschen Bundestag ist, erlauben Sie mir
zum Abschluss eine kurze persönliche Bemerkung:
Als jemand, der in Osthessen nahe der innerdeutschen
Grenze mit ihrem Stacheldraht und dem Schießbefehl
groß geworden ist, erinnere ich mich auch heute sehr genau an Ausflüge in die Rhön, die plötzlich im Niemandsland stoppen mussten. „Point Alpha“ war bekanntlich
der heißeste Punkt im Kalten Krieg. Nach dieser erlebten
Teilung meiner Heimat bin ich auch heute sehr froh und
sehr dankbar, dass durch den Mut der Menschen und
durch eine kluge politische Führung unter Kanzler Kohl
und auch der letzten DDR-Regierung de Mazière die
Einheit Deutschlands in Freiheit möglich wurde. Der
Satz vorne auf dem Reichstagsgebäude „Dem deutschen
Volke“ bedeutet für mich: „Dem deutschen Volke dienen.“ Es heißt Gott sei Dank auch wieder: „Dem gesamten deutschen Volke dienen.“
Das zu sagen, war mir persönlich wichtig. Das ist mir
auch für die Menschen wichtig, die unter der Teilung gelitten haben und die sich an Einigkeit und Recht und
Freiheit in Deutschland freuen können.
Vielen Dank.
({8})
Herr Brand, Sie haben schon darauf hingewiesen:
Dies war Ihre erste Rede. Dazu gratulieren wir Ihnen als
ganzes Haus sehr herzlich.
({0})
Ich erteile jetzt das Wort der Kollegin Eva BullingSchröter von der Fraktion Die Linke.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Bundesregierung will die Abfallüberwachung ändern. Moderner, einfacher und vollzugsfreundlicher soll sie werden. Das ist natürlich auch von unserer
Seite zu unterstützen. Diese Begründung gilt aber nur für
einen Teil der Novelle, beispielsweise für die Anpassung
des deutschen Überwachungsrechts an die Begrifflichkeiten des EU-Rechts. Begrüßenswert ist auch die
Möglichkeit, die Nachweisführung auf EDV-Systeme
umzustellen. Die Überwachung wird sicherlich unbürokratischer und effizienter.
Probleme haben wir dagegen mit dem Abschnitt des
Gesetzentwurfs, der vorsieht, die Pflichten der Unternehmen zur Erstellung von Abfallwirtschaftskonzepten
und Abfallbilanzen abzuschaffen. Begründet wird dies
damit, dass sich Erwartungen nicht erfüllt hätten, die an
diese Instrumente geknüpft worden seien. Mich würde
interessieren, wer hier welche Erwartungen hatte und
wer meint, Abfallwirtschaftskonzepte hätten sich nicht
bewährt.
({0})
Gibt es dazu überhaupt Untersuchungen? Ich denke, hier
wird lediglich einer alten Forderung der Wirtschaft
entsprochen, sich leidiger Überprüfungen zu entledigen.
Im Rahmen der Debatte um das Umweltaudit hatten ja
seinerzeit Unternehmen und FDP mehrmals gefordert,
die Firmen sollten Abfallwirtschaftskonzepte und Abfallbilanzen selbst überwachen. Das wurde im Jahr 2000
aus gutem Grund abgelehnt. Frau Homburger hat jetzt
diesen Entwurf gelobt.
Nun soll beides gleich ganz abgeschafft werden, und
zwar ohne Alternative und mit zweifelhafter Begründung. Firmen, die wenig Lust auf Abfallwirtschaftskonzepte hätten, erstellten in der Regel sowieso keine vernünftigen Pläne, ist im Entwurf zu lesen. Hört, hört!
Doch wenn ich mich richtig erinnere, sollen Abfallkonzepte und -bilanzen - so ist das damals diskutiert worden - von den Behörden überprüft werden. Wenn dies
nicht anständig geschieht, dann liegt das daran, dass in
den Vollzugsverwaltungen immer mehr Mitarbeiter und
Mitarbeiterinnen eingespart werden.
({1})
Durch Abfallbilanzen und Abfallwirtschaftskonzepte
wurden nicht wenige Unternehmen dazu veranlasst, das
erste Mal gründlicher über ihre Abfallströme nachzudenken; ich kenne das aus eigener Erfahrung. Gleichzeitig
sind sie ein Instrument, illegalen Entsorgungen vorzubeugen oder diese aufzudecken. Deswegen meinen wir,
sie sollten erhalten bleiben. Ich weiß von Abfallbilanzen,
Frau Homburger, an denen die großen Firmen richtig
Geld verdienen.
({2})
In dem sensiblen Abfallbereich noch stärker auf
Markt und Selbstkontrolle zu setzen, scheint uns dagegen naiv oder fahrlässig zu sein; denn die Realität spricht
eine deutliche Sprache: Abfallströme werden sich stets
den billigsten Weg suchen, unzählige Müllskandale belegen dies. Nehmen Sie das endlich einmal zur Kenntnis.
Ich möchte nur an die illegale Scheinverwertung von
Gewerbeabfällen erinnern. Dabei wurden in der Vergangenheit, um Kosten zu sparen, den öffentlich-rechtlichen
Entsorgungsträgern der andienungspflichtige Gewerbemüll zur Entsorgung entzogen, grob sortiert und anschließend schlicht auf Billigdeponien abgelagert.
Wer denkt, dieses dunkle Kapitel ist seit dem
1. Juni 2005 abgeschlossen, der irrt sich. Stattdessen
geht das Ganze ins Ausland. In einem tschechischen
Dorf in Nordböhmen sind beispielsweise kurz vor Weihnachten rund 4 000 Tonnen deutschen Mülls auf dem
Gelände eines in Konkurs gegangenen landwirtschaftlichen Betriebes abgekippt worden. Auftraggeber: ein Recyclingunternehmen aus Deutschland. Ich frage Sie einfach: Sehen Sie eine solche Recyclingwirtschaft als in
ihren Möglichkeiten beschränkt? Wir sehen das nicht.
({3})
Ich denke, hier muss etwas Wesentliches passieren. Die
Abfälle waren als Kunststoffreste deklariert. Tatsächlich
bestand das Abfallgemisch aber aus Plastikflaschen und
Textilien.
Das ist kein Einzelfall. Bitte befassen Sie sich mit diesem Thema! Wir lehnen den vorliegenden Gesetzentwurf ab.
Abschließend möchte ich mich kurz zu Herrn Brand
äußern. Wenn Sie darauf hinweisen, dass Sie dem deutschen Volk dienen, dann halte ich Ihnen entgegen, dass
wir für die Belange der Bevölkerung in diesem Land wie
auch - gerade im Bereich der Umwelt - in den anderen
europäischen Staaten zuständig sind. Ich denke, Umweltschutz hat auch eine internationale Dimension.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Im Gegensatz zu meiner ersten Rede in diesem
Haus - damals ging es um REACH - haben meine Fraktion und ich mit dem heutigen Vorhaben der Regierung
keine Probleme.
Ich kann zwar die Bedenken der Kollegin BullingSchröter nachvollziehen, aber es geht nicht darum, die
Verpflichtungen abzuschaffen, sondern die formalisierte
Überwachung zu erleichtern und effizienter zu machen.
Die gesetzlichen Pflichten zur Erstellung betrieblicher
Abfallwirtschaftskonzepte und Abfallbilanzen haben in
der Tat nicht in dem erwarteten Maß zur Optimierung
der betrieblichen Abfallwirtschaft beigetragen. Es macht
deshalb Sinn, auf den Einzelbetrieb zugeschnittenen
Konzepten und Bilanzen - gegebenenfalls auch unter
Hilfestellung der Industrie- und Handelskammer - den
Vorzug zu geben und ihre Effektivität zu bewerten.
Der Gesetzentwurf zur Vereinfachung der abfallrechtlichen Überwachung kann drei Ziele erreichen. Er macht
erstens durch die Einführung der elektronischen Form
die Überwachung effizienter. Er bewirkt zweitens, dass
die Überwachung EU-kompatibel wird, und er lässt drittens Kostensenkungen bei Bund, Ländern und Kommunen einerseits und den überwachungspflichtigen Unternehmen andererseits erwarten.
Die Investitionskosten für die Einführung der elektronischen Kommunikationstechniken werden durch die
Vorteile der elektronischen Form mehr als ausgeglichen
werden - ganz abgesehen davon, dass damit dieses
Stück notwendiger Restbürokratie im 21. Jahrhundert
ankommt. Schluss mit der Zettelwirtschaft!
Da es sich hierbei um ein praktiziertes Beispiel möglichen Bürokratieabbaus handelt, will ich mit Ihrer Erlaubnis das Stichwort „Bürokratieabbau“ noch einmal
beleuchten und stoße damit vielleicht auch bei der Kollegin Bulling-Schröter auf Zustimmung. Der Begriff „Bürokratieabbau“ hat sich zu einem wirkungsmächtigen
Schlagwort entwickelt. Wer den Abbau von Bürokratie
fordert, findet im Allgemeinen ohne großes Ansehen der
Sache sofort regen Zuspruch.
({0})
Gerade bei Regelungen zum Schutz der Umwelt wird
gerne propagiert, das sei alles zu bürokratisch, zu teuer,
zu technikfeindlich und schade der Wirtschaft.
({1})
Niemand bestreitet, dass es - auch im Umweltrecht, wie
das heutige Beispiel zeigt - Überregulierungen gibt.
Eine reine Fokussierung auf die Regulierung kann
aber den Blick auf inzwischen anstehende Aufgaben erschweren, zum Beispiel die Notwendigkeit in der Abfallthematik, die Ressourceneffizienz unserer Wirtschaft
deutlich zu erhöhen und zu einem echten Kreislauf der
Stoffströme zu kommen. Bürokratieabbau ist also an den
Stellen notwendig, wo er dazu dient, effektive Gesetze
und ihren effektiven Vollzug zu erreichen.
Aber auch dies bleibt wahr: Jede staatliche Regelung
zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger erzeugt Bürokratie. Auf eine hohe Komplexität des Umweltrechts
können wir aber nicht verzichten. Eine Gesellschaft, die
mit über 100 000 chemischen Stoffen in mehr als 1 Million Zubereitungen umgehen muss, kann nicht erwarten,
die daraus resultierenden Risiken mit wenigen Federstrichen des Gesetzgebers in den Griff zu bekommen. Deshalb kann es beim Umweltrecht keinen undifferenzierten
Schrei nach Bürokratieabbau geben.
({2})
Ein immer wieder guter Weg zum Bürokratieabbau
ist, wie das heutige Beispiel zeigt, die Vereinheitlichung.
Die Harmonisierung, Straffung und Vereinfachung des
Umweltrechts in einem Umweltgesetzbuch steht auf der
Agenda. Zentraler Bestandteil wäre hierbei die integrierte Vorhabenprüfung: Eine Behörde prüft in einem
Verfahren die genehmigungsrelevanten Tatbestände.
Lassen Sie mich zum Schluss noch eine deutlich kritische Bemerkung an die Regierung richten, wie es sich
für eine Oppositionsfraktion gehört. Mit den Vorschlägen zur Föderalismusreform - über die wir noch zu reden haben werden - hat die Koalition der Absicht des
Bürokratieabbaus und dem Ziel des UGB einen Bärendienst erwiesen. Der Kompetenzwirrwarr zwischen
Bund und Ländern wird im Umweltbereich nicht entzerrt; er wird vielmehr verschärft. Konkurrierende Gesetzgebung einmal mit - im Abfallrecht -, einmal ohne
Erforderlichkeitsklausel. Weit reichende Möglichkeiten
der Bundesländer, vom Bundesrecht abzuweichen, werden weder den Belangen der Umwelt gerecht noch das
Bedürfnis von Investoren nach Klarheit und Rechtssicherheit befriedigen.
({3})
Hier war der kleine Bürokratieteufel am Werk und
wird sich ins Fäustchen lachen, falls diese Regelungen
tatsächlich so in Kraft treten. Wir von Bündnis 90/
Die Grünen werden jedenfalls mit aller argumentativen
Kraft versuchen, das zu verhindern. Einig können wir
uns dagegen bei klarem Bürokratieabbau und Effizienzgewinn werden, wie bei dem vorliegenden Entwurf eines
Gesetzes zur Vereinfachung der abfallrechtlichen Überwachung.
Vielen Dank.
({4})
Herzlichen Dank. - Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/400 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe
dazu keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie die Zusatzpunkte 3 bis 5 auf:
10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich
Maurer, Oskar Lafontaine, Dr. Gregor Gysi, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Guantanamo schließen
- Drucksache 16/364 ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD
Für die Einhaltung von grundlegenden Menschenrechten und Grundfreiheiten beim Umgang mit Gefangenen
- Drucksache 16/431 ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian
Toncar, Dr. Werner Hoyer, Sabine LeutheusserSchnarrenberger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Für die Schließung von Guantanamo Bay und
die Überführung der Gefangenen in rechtsstaatliche Verfahren
- Drucksache 16/454 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({1}), Jürgen Trittin, Marieluise Beck
({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Rechtsstaatliche Verfahren und Menschenrechtsschutz für die Inhaftierten in Guantanamo Bay
- Drucksache 16/443 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Es ist vereinbart, hierüber eine Dreiviertelstunde zu
debattieren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann
ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Gregor Gysi von der Fraktion Die Linke.
({4})
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Zu Beginn meiner Rede möchte ich etwas sagen, das mir
eigentlich nicht so wichtig ist, das ich aber einmal gesagt
haben will: Ich finde, es ist angesichts des Gewichts des
Themas kleinkariert, dass alle anderen Fraktionen einen
eigenen bzw. einen gemeinsamen Antrag eingebracht
haben, nur weil sie den Adressaten unseres begründeten
Antrags als nicht richtig empfinden.
({0})
Natürlich kenne ich ein solches Verhalten auch aus der
Geschichte der Linken; das will ich gar nicht bestreiten.
({1})
- Ich sagte ja gerade, dass ich das kenne. - Ich bin froh,
nun Mitglied einer Fraktion zu sein, die dieses Verhalten
wirklich überwunden hat
({2})
und bereit ist, jeden vernünftigen Antrag zu unterstützen,
selbst wenn er von der Union kommt; das geschieht allerdings relativ selten.
({3})
Inhaltlich geht es um eine gewichtige Frage. Das Völkerrecht, mit dem wir es heute überwiegend zu tun haben, ist in einer bestimmten Zeit entstanden, in einer Zeit
des militärischen Gleichgewichts zwischen der Sowjetunion und den USA. Es hatte so lange einen relativ stabilen Bestand. Nichts Wichtiges geschah an der einen oder
der anderen Weltmacht vorbei. Dann ist die eine Weltmacht weggefallen; das ist begrüßt worden. Aber damit
sind auch viele Grundlagen des Völkerrechts entfallen.
Es entspricht heute nicht mehr dem bestehenden Kräfteverhältnis. Das Vetorecht Russlands ist anders gewichtet
als das der Sowjetunion. Die USA haben sehr schnell erkannt, dass sie die einzig verbliebene Weltmacht sind.
Aber die einzig verbliebene Weltmacht zu sein darf nicht
nur ein Ausdruck von Rechten, sondern muss auch ein
Ausdruck von Verantwortung und enormen Pflichten
sein. Dem stellen sich die USA nur sehr wenig.
({4})
Das Völkerrecht hat - genauso wie das innere Recht nur Substanz, wenn es für alle Staaten verbindlich ist,
das heißt für Uganda genauso wie für Deutschland und
die USA. Es darf nicht nur für bestimmte Staaten und für
andere nicht gelten. So sind die Charta der Vereinten Nationen und viele andere völkerrechtliche Bestimmungen
angelegt.
Wir haben es mit der Entwicklung des Terrorismus
und schrecklichen Ereignissen - diese muss ich hier sicherlich nicht im Einzelnen aufzählen - zu tun bekomDr. Gregor Gysi
men. Die Antwort darauf lautete Krieg. Ich sage Ihnen,
warum ich diese Antwort so falsch finde: Krieg bringt
nur neuen Hass hervor. Im Krieg sterben immer Unschuldige - wenn man so will - aus politischen Gründen.
Krieg, insbesondere der völkerrechtswidrige, ist eine der
schlimmsten Formen des Terrorismus.
({5})
Deshalb wird in der Charta der Vereinten Nationen die
Möglichkeit, Krieg zu führen, ungemein eingeschränkt.
Dagegen ist aber verstoßen worden.
Wir haben es nun mit einer Spirale der Gewalt zu
tun und niemand von uns kann wirklich einschätzen, wohin das Ganze führt, wann wer wie darunter leidet, wann
etwas passiert. Die USA haben daraus eine Schlussfolgerung gezogen: Sie bekämpfen den Terrorismus auf
ihre Art mit allen Mitteln und verletzen dabei das Recht.
Ich sage Ihnen aber: Terrorismus ist großes grobes Unrecht. Wir haben nur eine Chance gegen großes grobes
Unrecht, wenn wir es mit Recht bekämpfen.
({6})
Wenn wir es mit Unrecht bekämpfen, werden wir dem,
was wir bekämpfen, immer ähnlicher. Genau das darf
aber nicht passieren.
Ich kann Ihnen viele Beispiele nennen. Heute geht es
um eines, um Guantanamo. Man muss sich überlegen,
was nach dem Krieg in Afghanistan geschehen ist: Du
machst Gefangene, sagst aber, dass das keine Kriegsgefangenen sind. Du willst die entsprechende Konvention
nicht anwenden, du gibst ihnen nicht die Rechte von
Kriegsgefangenen. Du sagst aber auch, dass es keine Beschuldigten sind und deshalb keine Ermittlungsverfahren
in diesem Sinne durchgeführt werden. Du sagst, dass du
dein eigenes Recht fürchtest. Die US-Administration
sagt: Ich bringe die Gefangenen nicht in die USA; denn
da haben sie Rechte. Da gibt es Richter, Verteidiger und
vieles mehr. Das will ich nicht. - Man erklärt die Gefangenen für rechtlos.
Das ist das Kernproblem. Wenn man sagt, Gefangene
seien rechtlos, dann bringt man ein Stück zivilisatorische
Entwicklung von weit über 100 Jahren ins Schwanken.
Wir bewegen uns dann zurück. Der Terrorismus hat diesen Erfolg einer antizivilisatorischen Entwicklung bei
uns oder im Westen überhaupt nicht verdient. Es wäre
grotesk, wenn er Erfolg hätte.
({7})
Deshalb ist es so wichtig, gerade an einen Partner, gerade an eine so wichtige Macht wie die USA, immer
wieder zu appellieren: Man kann Stärke auch missbrauchen. - Sie sind dabei, das zu tun; das ist ein grober Fehler. Schauen Sie sich die Entwicklung auf der Welt an.
Wie denkt die Bevölkerung mancher Staaten heute über
die USA? Ich habe den Eindruck, dass das die Administration in den USA gar nicht interessiert. Ich glaube, das
ist ein großer Fehler. Wir hatten heute eine Diskussion
über den Iran. Es gibt viele Länder, über die man in diesem Zusammenhang sprechen könnte. Wir haben hier
eine katastrophale Entwicklung.
Deutschland ist ein enger Verbündeter der USA. Sie
alle kennen die Geschichte seit 1945. Ich brauche gar
nicht darauf einzugehen, welche Rolle die USA gerade
für die alte Bundesrepublik gespielt haben. Und weil das
so ist, ist es so wichtig, dass ein Partner wie Deutschland
den Mut hat - auch das Parlament -, zu sagen: Du begehst einen Fehler. Wir sagen das öffentlich, weil wir
nicht wollen, dass du diese Entwicklung als Weltmacht
weiter nimmst. Wir wollen, dass du deine Rechte wahrnimmst, vor allem aber auch deine Pflichten und deine
Verantwortung gerade für das Völkerrecht.
({8})
Sie sollten bitte zum Schluss kommen, Herr Gysi.
Lassen Sie mich als Letztes eines sagen, weil immer
der Vorwurf des Antiamerikanismus nahe liegt: Abgesehen davon, dass ich in den USA Freunde habe, weise ich
diese Anschuldigung zurück.
({0})
- Sie haben keine Ahnung. Das macht aber nichts. Wissen Sie, wer heute antiamerikanisch ist? Präsident
Bush. Er erzeugt einen Antiamerikanismus wie kein anderer.
({1})
Eine Korrektur ist dringend erforderlich. Deshalb meine
Bitte: Machen wir zusammen einen Antrag und sagen
den USA: So geht es nicht weiter!
({2})
Das Wort hat Ruprecht Polenz, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Eine Institution wie Guantanamo kann und darf auf
Dauer so nicht existieren. Es müssen Mittel und
Wege für einen anderen Umgang mit den Gefangenen gefunden werden. Das steht für mich außer
Frage.
Diese eindeutige und unmissverständliche Aussage von
Bundeskanzlerin Angela Merkel findet, so denke ich, die
Unterstützung von uns allen.
({0})
Wir sind der Bundeskanzlerin dafür dankbar, dass sie
dies nicht nur vor ihrer USA-Reise in einem „Spiegel“Gespräch gesagt hat, sondern dass sie diese Position
auch gegenüber dem amerikanischen Präsidenten mit
Nachdruck vertreten hat. Wir teilen die Auffassung der
Bundesregierung, dass diese Gefangenen in Übereinstimmung mit dem humanitären Völkerrecht und den
menschenrechtlichen Mindeststandards zu behandeln
sind. Dazu gehören menschliche Behandlung, Achtung
der Person und der Ehre, Schutz vor Gewalttätigkeit und
Einschüchterung, Anspruch auf ärztliche Behandlung
sowie Gerichtsverfahren mit rechtsstaatlichen Garantien.
Es geht um die Frage: Wie führen wir den Kampf
gegen den internationalen Terrorismus? Wir verteidigen in diesem Kampf unser Recht auf Sicherheit für Leib
und Leben. Wir verteidigen dieses Recht gegen Terroristen, die ihre Angriffe bevorzugt gegen so genannte weiche Ziele richten. „Weiche Ziele“ ist eine zweifelhafte
Umschreibung für Kinder, Frauen, alte Menschen, Zivilisten, unschuldige Opfer. Wir verteidigen dieses Recht
gegen Terroristen, die Angst und Schrecken verbreiten
wollen durch immer grausamere Anschläge, denen möglichst viele Menschen zum Opfer fallen sollen. Wir verteidigen im Kampf gegen den internationalen Terrorismus unsere Freiheit, so zu leben, wie wir leben wollen,
ohne dadurch anderen zu schaden.
Außerdem verteidigen wir unsere Werte. Wir verteidigen die Unantastbarkeit der Menschenwürde gegen Terroristen, die in einem rigiden Freund-Feind-Denken gefangen sind und die für den Feind nur Vernichtung übrig
haben. Wir verteidigen unseren Rechtsstaat gegen Terroristen, die sich keinerlei Recht verpflichtet fühlen. Deshalb ist der internationale Terrorismus die gewalttätige,
mordende Antithese zur Zivilisation.
({1})
Das, was wir verteidigen, definiert auch die Grenze
der zulässigen Mittel. Deshalb haben wir bei der Verabschiedung der so genannten Antiterrorpakete zur Erhöhung unserer inneren Sicherheit darauf geachtet, die
Freiheit nicht stärker einzuschränken als unabdingbar
notwendig. Aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde folgt zwingend ein absolutes Folterverbot.
({2})
Man darf auch nicht foltern lassen. Die Unantastbarkeit
der Menschenwürde verbietet auch Handlungen, die eine
grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe darstellen. Rechtsstaatlichkeit gibt Anspruch auf rechtliches Gehör und faire Gerichtsverfahren.
({3})
Unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. September
2001 haben die Vereinten Nationen alle Staaten dazu
aufgefordert, beim Kampf gegen den internationalen
Terrorismus zusammenzuarbeiten, weil dieser Kampf
nur in dieser Gemeinsamkeit aller Staaten gewonnen
werden kann. Das bedeutet, dass wir - nicht zuletzt um
Gefahren für unser Land abzuwehren - diese Zusammenarbeit nicht nur auf solche Staaten begrenzen können, die rechtsstaatliche Demokratien sind wie wir. Aber
wir dürfen bei dieser Zusammenarbeit die Grenzen nicht
überschreiten, die uns unser Rechtsstaat setzt.
({4})
Die Zusammenarbeit kann umso enger sein, je mehr
wir nicht nur im Ziel der Bekämpfung des Terrorismus
einig sind, sondern auch im Hinblick auf die Grenze der
zulässigen Mittel. Auch in den USA, der ältesten Demokratie der Welt, wird mit großem Ernst um die Grenzen
gerungen, die es beim Kampf gegen den Terrorismus
einzuhalten gilt. Welchen Rechtsstatus haben Mitglieder
der Terrororganisation al-Qaida? Wie sollen Gefangene
behandelt werden, die des Terrorismus beschuldigt werden? Welche Verhörmethoden sind zulässig und wo liegen die Grenzen?
Ich finde die Offenheit und Intensität dieser inneramerikanischen Debatte beeindruckend. Mein Eindruck
ist, dass sich die amerikanische Diskussion in den bisher
unterschiedlich bewerteten Fragen immer mehr den
Positionen annähert, die auch von uns für richtig gehalten werden. So hat die amerikanische Außenministerin
Condoleezza Rice nach ihrem Europabesuch klargestellt,
dass die US-Regierung ihre Verpflichtungen aus der
Anti-Folter-Konvention anerkenne - Zitat -, „ob innerhalb oder außerhalb der USA“.
({5})
Außerdem hat sie zugesagt, dass internationale Vereinbarungen in den USA nicht anders ausgelegt werden
als in Europa.
Der US Supreme Court hat am 28. Juni 2004 in drei
grundlegenden Urteilen entschieden, dass den Guantanamogefangenen der Rechtsweg zu US-Gerichten offen
steht und sie sich auf die Justizgrundrechte der US-Verfassung berufen können.
Umgekehrt wächst auch bei uns die Erkenntnis, dass
der internationale Terrorismus neue völkerrechtliche
Fragen aufgeworfen hat, auf die auch wir und die Europäer insgesamt noch keine befriedigende Antwort gefunden haben. Die Bundeskanzlerin hat dem amerikanischen Präsidenten vorgeschlagen, diese Fragen noch
stärker als bisher im Rahmen der Vereinten Nationen zu
diskutieren. Wir sollten diese Diskussion mit unseren
amerikanischen Partnern und Freunden in einem Geist
und mit einer Sprache führen, die deutlich machen, dass
wir uns den gemeinsamen Werten verpflichtet fühlen.
Lassen Sie mich mit einem Zitat des amerikanischen
Senators John McCain schließen:
Die Feinde, die wir bekämpfen, haben keine Achtung vor menschlichem Leben oder vor den Menschenrechten. Sie verdienen nicht unser Verständnis. Aber es geht nicht darum, wer sie sind. Es geht
darum, wer wir sind.
({6})
Es sind unsere Werte, die uns von unseren Feinden
unterscheiden, und wir dürfen unseren Feinden nie
und niemals erlauben, uns diese Werte wegzunehmen.
({7})
Das Wort hat der Kollege Florian Toncar von der
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Guantanamo Bay ist nicht das einzige Gefangenenlager, das die USA unterhalten, aber es ist ein Stück
weit zu einem Symbol geworden; denn es steht für eine
Politik, die zur Bekämpfung des Terrors nach eigenem
Bekunden die Samthandschuhe abgelegt hat. Doch wo
es nicht mehr allein um wirksame Maßnahmen gegen
den Terror geht, sondern um die Demonstration von hartem Durchgreifen, bei dem Häftlinge sinnlos gedemütigt
werden, da ist eine Grenze überschritten. Terrorbekämpfung hat sich am Gebot effektiver Verhinderung und Verfolgung von Anschlägen zu orientieren; es geht gerade
nicht um Vergeltung. Jedes andere Zeichen wäre ein
Ausdruck nicht der Stärke, sondern der Schwäche.
({0})
Klar ist: Wir brauchen den Kampf gegen den Terror
wie gegen seine Ursachen. Das bedeutet auch, dass Täter
verfolgt, Terrorzellen überwacht und Gelder sichergestellt werden. Aber dies hat in einem rechtsstaatlichen
Raum und nicht in rechtsleeren, abgeschirmten Grauzonen zu erfolgen.
({1})
Wo immer dieser Kampf mit zulässigen rechtsstaatlichen Mitteln geführt wird, haben die USA ein Anrecht
auf unsere deutsche Unterstützung. Wo der notwendige
Kampf gegen Terrorismus aber mit Mitteln geführt wird,
die gegen grundlegende Wertvorstellungen, die wir ja
gerade gegen die Terroristen verteidigen wollen, verstoßen, müssen wir dem entgegentreten.
Die Existenz von Regeln zur Behandlung von
Gefangenen ist eine unschätzbare Errungenschaft, die
nicht preisgegeben werden darf. Das Lager in Guantanamo Bay ist mit bestehenden Regeln zur Behandlung
von Gefangenen nicht vereinbar. Die Inhaftierten werden rechtsstaatlichen Mechanismen entzogen. Auf sie
finden weder die Regeln der Genfer Konvention über
Kriegsgefangene Anwendung, noch gelten sie als Beschuldigte im Sinne des amerikanischen Strafrechts.
Diese Rechtlosstellung der Tatverdächtigen ist nicht hinnehmbar. Sie ist gerade vor dem Hintergrund der amerikanischen Rechtstradition und der amerikanischen Verfassung, in der der Schutz vor willkürlicher Inhaftierung
durch das IV. Amendment ein zentrales Freiheitsrecht
darstellt, ein kolossaler Salto rückwärts und wird zu
Recht von einer zunehmenden Zahl von US-Bürgern abgelehnt.
({2})
Auch die Art und Weise, wie mit den Gefangenen in
den Camps umgegangen wird, veranschaulicht, wie sehr
hier im Hinblick auf Rechtsstaat und Bürgerrechte eine
Schieflage entstanden ist. Die Berichte über das Zufügen
von Schmerzen durch Schläge oder über Scheinhinrichtungen, beispielsweise durch die Praxis des so genannten
Waterboarding, sind mehr als beunruhigend. Wenn der
Sprecher des amerikanischen Heeres, Paul Boyce, auf
Berichte, in denen kolportiert wird, es sei ab Mitte Februar möglich, in Guantanamo Inhaftierte durch das
Militär auch hinrichten zu lassen, lediglich mit dem Satz
reagiert, das sei pure Spekulation, dann ist das schlicht
und einfach zu wenig, meine Damen und Herren.
({3})
„Guantanamo kann und darf auf Dauer so nicht existieren“ - so hat es die Bundeskanzlerin vor ihrem Abflug
nach Washington ausgedrückt. Wir Freien Demokraten
begrüßen es, dass die Kanzlerin diese Position eingenommen hat. Wir begrüßen das vor allem vor dem Hintergrund, dass unsere Fraktion in der letzten Legislaturperiode die erste war, die diese Forderung hier im
Bundestag in Form eines Antrags eingebracht hat. Dieser wurde damals leider mit den Stimmen aller anderen
Fraktionen abgelehnt. Insbesondere die Kollegen von
der Union waren noch in der letzten Legislaturperiode
nicht bereit, die angesprochenen Probleme insbesondere
hinsichtlich des Status der Gefangenen auf Guantanamo
auch nur als solche anzuerkennen. Es freut uns, dass die
Forderung nach einer Schließung des Lagers und der
Überstellung der Inhaftierten an ordentliche Gerichte
mittlerweile in diesem Hause eine doch so breite Unterstützung erfährt, wie sich das jetzt abzeichnet.
({4})
Meine Damen und Herren, vor zwei Jahren wurde mit
der rot-grünen Mehrheit hier im Bundestag ein Antrag
beschlossen, der die USA zum Schutze menschenrechtlicher Mindeststandards in Guantanamo und zur Einhaltung aller ihrer völkerrechtlichen Verpflichtungen ermahnte. Bereits eineinhalb Jahre zuvor hatten deutsche
Nachrichtendienste allerdings selbst auf Guantanamo
Verhöre vorgenommen. Es ist doch unbestreitbar, dass es
doppelzüngig ist, wenn der Deutsche Bundestag einerseits - und zu Recht - Resolutionen gegen dieses Lager
beschließt und andererseits deutsche Geheimdienste vor
Ort Inhaftierte befragen, womöglich auf Veranlassung
der Bundesregierung.
({5})
Das ist inkonsequent und schadet der Glaubwürdigkeit
unserer Haltung als Parlament zu Guantanamo insgesamt. Ich sage es ganz offen: Wäre ich vor zwei Jahren
als Abgeordneter an jenem Entschließungsantrag, mit
dem Guantanamo kritisiert wird, beteiligt gewesen, dann
würde es mich heute doch interessieren, inwieweit deutsche Beamte dieses Lager zur Gewinnung eigener Erkenntnisse mitgenutzt haben. Was bisher dazu auf den
Tisch gekommen ist, würde mich eher beunruhigen als
beruhigen.
({6})
Meine Damen und Herren, uns liegen heute vier Anträge vor, die in eine ähnliche Richtung zielen. Wir wünschen uns für unseren Antrag die Überweisung in die
Ausschüsse zur weiteren Beratung dort. Wie Sie dem
Wortlaut des FDP-Antrags entnehmen können, unterstützen wir die Forderung der Bundeskanzlerin im Hinblick
auf eine Schließung des Lagers in Guantanamo. Es
wäre aus unserer Sicht jedoch geschickter gewesen,
wenn auch die Koalitionsfraktionen diese Forderung in
dieser wohltuenden Klarheit in ihren Antrag hineingeschrieben hätten, anstatt in Andeutungen stecken zu bleiben.
({7})
Denn ich finde es falsch, auch aus der Perspektive des
Parlamentariers, wenn man zum Verständnis der Haltung
des Parlaments auf Interviewäußerungen der Bundeskanzlerin verwiesen wird. Das sollten wir für uns selbst
nicht so vorsehen.
({8})
Ich sagte eingangs, Guantanamo sei ein Symbol. Die
dahinter stehende Frage, zu welchen Mitteln man im
Kampf gegen den Terrorismus greifen darf, wird uns
- da bin ich mir sicher - leider noch eine ganze Zeit lang
und wahrscheinlich - auch diese Anmerkung sei gestattet - nicht immer mit der gleichen Einigkeit wie heute in
diesem Parlament beschäftigen.
({9})
Das Wort hat jetzt für die Bundesregierung Staatsminister Gernot Erler.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bundesregierung begrüßt, dass sich der Deutsche
Bundestag heute erneut mit dem Thema Guantanamo beschäftigt. Die Frage des Status, der Rechte und der Behandlung der Gefangenen von Guantanamo ist seit langem Gegenstand des politischen Dialogs zwischen der
Bundesregierung und der Regierung der Vereinigten
Staaten.
Die Bundesregierung hat dabei immer wieder den ungeklärten Status der Guantanamogefangenen angesprochen. Wir halten die Einstufung der Verdächtigen als
„ungesetzliche Kämpfer“ bzw. „feindliche Kombattanten“ mit der Folge, dass sie keinen Anspruch auf rechtsstaatliche Verfahren haben, für nicht mit dem geltenden
Völkerrecht vereinbar.
({0})
Nach unserer festen Überzeugung haben die Festgehaltenen unabhängig von der Festlegung ihres Status im Einzelfall einen Anspruch auf Behandlung nach den rechtlichen Standards des humanitären Völkerrechts und der
Menschenrechte, das heißt konkret, Anspruch auf eine
jederzeit menschenwürdige Behandlung, auf Schutz vor
Folter und körperlicher Misshandlung, auf Schutz vor
grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe und schließlich das Recht auf faire,
rechtsstaatliche Verfahren.
({1})
Diese grundsätzliche Position der Bundesregierung
hat die Unterstützung des Deutschen Bundestages erhalten. Besonders deutlich wurde das in der sehr differenzierten Entschließung des Deutschen Bundestages vom
25. März 2004 zum Thema Guantanamo - der Kollege
Toncar hat diese Entschließung eben angesprochen -,
die noch heute Gültigkeit beanspruchen kann. Die Bundesregierung hat diese grundsätzliche Position in ihrer
Beantwortung von Fragen aus den Reihen des Deutschen
Bundestags im Dezember 2005 erneut bekräftigt.
Über diese Fragen gibt es, wie gesagt, seit längerem
einen kritischen Dialog mit den Vereinigten Staaten.
Vor ihrem Antrittsbesuch in Washington hat die Bundeskanzlerin dazu deutliche Worte gefunden und öffentlich
gefordert - Herr Polenz hat es bereits gesagt; ich zitiere
es noch einmal -:
Eine Institution wie Guantanamo kann und darf auf
Dauer so nicht existieren. Es müssen Mittel und
Wege für einen anderen Umgang mit den Gefangenen gefunden werden.
Das Thema war dann auch Gegenstand des Gesprächs
der Bundeskanzlerin mit dem amerikanischen Präsidenten. Es wurde schon vorher von Bundesaußenminister
Frank-Walter Steinmeier bei der Begegnung mit seiner
Kollegin Condoleezza Rice im Dezember angesprochen.
Dabei kann es nie darum gehen, vor der neuen Qualität der terroristischen Herausforderung, die wir nach
dem 11. September 2001 erfahren mussten, die Augen
zu schließen. Wir sind aber noch dabei, zu lernen, wie
wir die Bürger vor Gefahren schützen können, die wir in
dieser Form früher nicht kannten.
Gilt zum Beispiel für jemanden, der über 150-mal mit
den Hauptattentätern des 11. September in New York
und Washington und des 11. März in Madrid telefoniert
hat, die Unschuldsvermutung - Telefonieren ist ja nicht
strafbar - oder müssen wir hier möglicherweise präventiv - zum Schutz der Bürger - tätig werden? Es geht also
um jene schwierige Gratwanderung zwischen einer entschlossenen und gemeinsamen Abwehr des Terrorismus
einerseits und der Bewahrung von rechtsstaatlichen und
demokratischen Grundsätzen und Freiheitsrechten - gerade dagegen richtet der internationale Netzwerkterrorismus seine Attacken - andererseits.
Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Washingtoner Rede
vom 12. Januar dieses Jahres ausdrücklich die schwierige Aufgabe angesprochen, hier die richtige Balance zu
finden. Dabei geht es auch nicht ausschließlich um
rechtliche Fragen, sondern letztlich um die politische
Frage, welche Art der Bekämpfung des Terrorismus auf
Dauer erfolgreich sein kann. Solange das Lager in Guantanamo Bay besteht, wird diese Diskussion insofern immer wieder auf die Behandlung der dortigen Gefangenen
zurückkommen müssen.
Längst hat diese Diskussion auch die Vereinigten
Staaten selbst erreicht, wo inzwischen über diese politischen und rechtlichen Fragen auf einem hohen Niveau
diskutiert wird. Herr Kollege Gysi, ich würde mich
freuen, wenn Sie auch diesen Teil der amerikanischen
Realität zur Kenntnis nehmen würden. Ich meine damit
unter anderem die Diskussion um das so genannte
McCain Amendment, wodurch jetzt die weltweite Geltung des Folterverbots für alle US-Bediensteten in Bezug auf alle Verhörmethoden gesetzlich klargestellt
wurde. Ich meine damit auch, dass amerikanische Gerichte klargestellt haben, dass Guantanamo kein rechtliches Niemandsland sein darf und dass jetzt neue und
transparente Regelungen für Haftprüfungsverfahren gelten. Ich meine damit weiterhin die schon angesprochene
Entscheidung des US Supreme Courts, dass ausländische Gefangene in Guantanamo dasselbe Recht wie
amerikanische Bürger haben, nämlich die Autorität
staatlicher Gerichte in Anspruch zu nehmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Entwicklungen ermutigen uns. Sie ermutigen die Bundesregierung,
den in letzter Zeit sehr intensiv geführten Dialog mit unseren amerikanischen Partnern mit dem ausdrücklichen
Ziel fortzusetzen, gemeinsam Mittel und Wege zu einem
anderen Umgang mit den Guantanamogefangenen, aber
auch mit allen anderen Gefangenen im Zusammenhang
mit dem Kampf gegen den Terrorismus zu finden.
({2})
Damit stellen wir letztlich unter Beweis: Die Gemeinschaft der Staaten, die sich den Attacken der Feinde der
Freiheit ausgesetzt sieht, kann Antworten finden, die unserem Anspruch als freie und offene Gesellschaften gerecht werden, die das Recht jedes Einzelnen achten und
die den geltenden und unverzichtbaren Regeln des internationalen Völkerrechts ohne Einschränkung folgen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat der Kollege Volker Beck, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Terroristen wollen die Freiheit in unseren Gesellschaften
angreifen. Sie wollen Angst und Schrecken verbreiten.
Wir müssen die Einhaltung der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie als zentrale Grundwerte
verteidigen und sichern.
Beim Verteidigen und Sichern dürfen wir aber diese
Prinzipien nicht selbst teilweise außer Kraft setzen und
Grenzen überschreiten; ansonsten ist ein Teilziel dessen,
was die Terroristen erreichen wollen, erfüllt. Deshalb
müssen wir mit unseren amerikanischen Freunden weiter
darüber sprechen und von ihnen fordern, dass auch sie
sich beim Kampf gegen den Terrorismus ohne Wenn und
Aber an das Völkerrecht und an internationale Menschenrechtskonventionen halten.
({0})
Guantanamo steht als Symbol für doppelte Standards des Westens beim Kampf gegen den Terrorismus
und beschädigt damit den ideologischen Kampf um die
Köpfe in einer Problemregion. Denn wir zeigen, dass der
Westen in seinen Handlungen nicht konsequent ist. Wir
dementieren damit unser Anliegen selber. Dies ist von
großem außenpolitischen Schaden, weil es dadurch nicht
gelingt, die Terroristen von der großen Mehrheit der dortigen Bevölkerung zu isolieren und die Bevölkerung zu
überzeugen: Das sind Wirrköpfe und der Westen ist ganz
anders, als er beschrieben wird.
Die Amerikaner leisten mit Guantanamo einen Beitrag dazu, dass die falsche Beschreibung der Welt durch
diese Wirrköpfe für manche Menschen ein gewisses
Maß an Plausibilität gewinnt. Deshalb muss das Gefangenenlager Guantanamo geschlossen werden.
Wir als Bundesrepublik Deutschland müssen mit einer Stimme sprechen und ein solches Vorgehen zurückweisen. Ich hoffe, dass es dieses Hohe Haus schafft,
während des Verfahrens mit einer Stimme zu sprechen.
Denn ich denke, die große Einheit zwischen den fünf
Fraktionen sollte als Willensbildung des Parlamentes
klar zum Ausdruck kommen.
({1})
Die Bundesregierung hat seit dem Afghanistankrieg
und dem Bekanntwerden des Gefangenenlagers in Guantanamo die Praxis der Amerikaner in Regelmäßigkeit
kritisiert. Ich bin sehr froh darüber, dass die neue Bundesregierung diese Politik der alten Bundesregierung
nahtlos fortsetzt.
({2})
Deshalb begrüße ich es, dass Frau Merkel wie zuvor
ihre Vorgänger wie Herr Fischer, Otto Schily und Frau
Zypries in den USA klare Worte gefunden hat.
({3})
Volker Beck ({4})
- Auch der Bundeskanzler hat dies angesprochen. Aber
erinnern Sie sich einmal, in welcher Zeit das damals war,
welche außenpolitischen Diskussionen wir geführt haben und wie die Situation angesichts der Tatsache war,
dass Angela Merkel nach Washington gefahren ist, um
zu sagen: So ganz gegen den Irakkrieg, wie die deutsche
Regierung es ist, sind wir nicht. Deshalb hat man damals
nicht jedes Gespräch an die große Glocke gehängt.
({5})
Ich kann Ihnen eine lange Liste von Dokumenten vorlegen, die beweisen, dass Vertreter der Bundesregierung
im Ausland, zum Beispiel in Washington, und in
Deutschland, im Bundestag, ganz klar gesagt haben: Das
Gefangenenlager in Guantanamo muss geschlossen werden. Es darf keine Differenzen beim Kampf gegen den
internationalen Terrorismus geben. Menschenrechte
müssen gewahrt werden. - Da brauchen wir uns wirklich
nicht zu verstecken.
({6})
Frau Merkel hat in diesem Zusammenhang gesagt:
Eine Institution wie Guantanamo kann und darf auf
Dauer so nicht existieren.
Beim Wording wünsche ich mir eine größere Klarheit.
Was heißt „auf Dauer“? Ich finde, sie darf überhaupt
nicht existieren und sollte morgen und nicht erst in sechs
Monaten geschlossen werden.
({7})
Kollege Toncar hat es schon angesprochen: Wenn uns
Berichte aus den USA erreichen, in denen Sprecher des
US-Verteidigungsministeriums erklären, dass in Guantanamo aufgrund einer neuen Verwaltungsvorschrift jetzt
auch hingerichtet werden kann, und ein anderer Sprecher
sagt, das sei falsch, das habe man falsch interpretiert,
dann beunruhigt mich das außerordentlich. Da muss man
ein klares Stoppsignal setzen und deutlich machen, dass
wir als Europäer in großer Sorge darüber sind, dass ein
weiterer Schritt in der Auflösung des Rechts gegangen
wird, und wir uns dem klar entgegenstellen.
({8})
Wir müssen bei der Diskussion - das ist mir vor allen
Dingen beim Einstiegsbeitrag aufgefallen - aber auch
aufpassen, wie wir über die Amerikaner und mit den
Amerikanern reden. McCain ist ein Beispiel dafür, dass
im amerikanischen Parlament und in der amerikanischen
Bevölkerung eine Position für Rechtsstaatlichkeit, für
Menschenrechte und gegen Folter mehrheitsfähig ist und
dass die Position der amerikanischen Regierung und des
amerikanischen Präsidenten nicht für Amerika als Ganzes steht.
({9})
Das ist ganz wichtig. Wenn wir das sehen, dann können
wir mit den Bündnispartnern in der amerikanischen
Gesellschaft dafür sorgen, dass unseren Prinzipien vielleicht auch in den USA zum Durchbruch verholfen wird.
Ich glaube, wir alle sollten an einem Strang ziehen, um
das hinzubekommen.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat der Kollege Alois Karl von der CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Guantanamo - welch ein Wort! Kaum ein anderes Wort in der politischen Diskussion ist heutzutage mit
so viel Negativem belegt wie dieses. Der Begriff wird
bei uns mit der Entziehung persönlicher Freiheiten, mit
der Verweigerung rechtlichen Gehörs in Zusammenhang
gebracht. Guantanamo kann aber doch nicht isoliert gesehen werden; der Bogen muss weltweit gespannt werden, zum international operierenden Terrorismus, der
- wir haben das gehört - mit rechtsstaatlichen Mitteln
bekämpft werden muss.
Guantanamo ist gewiss kein Ruhmesblatt für die USA
und kann aus unserer Sicht nicht dauerhaft Bestand haben. Guantanamo ist für uns, die wir uns zum Grundrechtskatalog bekennen, mehr als bloß ein Dorn im
Auge; es ist sicher eine offene Wunde. Unsere Meinung
ist eindeutig: Grundlegende Menschenrechte können
keinem vorenthalten werden, nicht einmal dem, der sich
selbst außerhalb der Rechtsordnung gestellt hat. Dies
trifft auch auf die Gefangenen von Guantanamo Bay zu:
Auch sie sind nicht vogelfrei.
({0})
Es ist nicht zweifelsfrei definiert, welchen Status die
600 Gefangenen auf dem US-Stützpunkt haben. Insbesondere die al-Qaida-Gefangenen werden als unrechtmäßige Kombattanten angesehen und sollen aus dem
Rechtekatalog der Genfer Konvention herausfallen. Für
sie, so die amerikanische Diktion, gelte das humanitäre
Völkerrecht nicht; sie haben also keinen Zugang zu Anwälten, keinen Zugang zu Gerichten.
Nach der amerikanischen Position sind die Gefangenen in Guantanamo Bay sozusagen rechtsschutzlos. Die
Beurteilung hierzulande ist anders. Unabhängig vom juristischen Hin und Her geht es in Guantanamo um Menschen, und diese leben augenblicklich in ganz unerträglichen Verhältnissen. Ihre Situation kann uns aus dem
Gesichtswinkel der Menschenrechte nicht gleichgültig
sein.
({1})
Das große Verdienst von Angela Merkel ist es zweifellos, dass sie dieses Thema schon im Vorfeld der USAReise und dann beim Präsidenten offen angesprochen
hat. Damit drückt die Bundeskanzlerin aus, dass uns im
freien Teil Europas die Gefangenen von Guantanamo
nicht egal sind. Wir sind ihr dankbar, dass sie damit auch
dem Gebot des Art. 1 des Grundgesetzes Rechnung
trägt, wonach sich das „Deutsche Volk … zu unverletzlichen … Menschenrechten“ bekennt. In diesem Grundrechtsartikel ist gerade das Wort „bekennen“ wichtig.
Diese Forderung des Grundgesetzes, also das Bekennen,
richtet sich an jeden, an den Feind und noch viel mehr an
den Freund. Es gibt nicht nur eine Feigheit vor dem
Feinde, sondern auch Tapferkeit vor dem Freund; das hat
Angela Merkel bewiesen.
({2})
Wir danken unseren amerikanischen Freunden dafür,
dass auch sie das Grundgesetz von 1949 und damit parlamentarische Demokratie, Freiheitsrechte, Rechtsstaatlichkeit usw. ermöglicht haben.
({3})
Aus diesem Grunde sind gerade jetzt die freundschaftlichen Beziehungen zu den USA die richtige Plattform,
um erkannte Missstände anzusprechen. Angela Merkel
hat dies in vorzüglicher Weise getan, und zwar offen,
nicht bloß in bilateralen Gesprächen, ohne die Öffentlichkeit beizuziehen.
Diese Position der Bundesregierung möchten wir als
Parlament heute ausdrücklich bekräftigen. Alleinig von
Guantanamo zu sprechen, wäre allerdings zu kurz gegriffen. Wir kennen den weltweit agierenden Terrorismus. Er wendet sich oft genug gegen die USA. Sie haben im Bemühen um die Terrorabwehr unsere volle
Solidarität. Auch das sprechen wir heute mit unserem
Antrag deutlich aus.
({4})
Guantanamo kann nicht relativiert werden. Es war
richtig, die deutsche Position in Washington offen anzusprechen. Wir wollen das bekräftigen.
Vor sechzig Jahren hat der Sieger des Zweiten Weltkrieges, Dwight D. Eisenhower, hier in Berlin ausgedrückt, dass der Sieg erst dann komplett sei, wenn nach
Jahrzehnten in Deutschland und Europa Demokratie,
Freiheit und Rechtsstaatlichkeit eingekehrt seien. In der
gleichen Weise rufen wir unseren amerikanischen Freunden zu: In Afghanistan habt ihr erst dann gewonnen,
wenn auch dort rechtsstaatliches Verhalten eingekehrt
ist.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, als Deutscher Bundestag stellen wir uns ungeschmälert in die
Tradition der Freiheitsrechte, die ja gerade in den USA
postuliert worden sind. Darüber besteht im Deutschen
Bundestag breite Einigkeit. Aus diesem Grunde ist es
auch niemandem verwehrt, dem Antrag der Regierungsfraktionen zuzustimmen, weil wir alle Teil einer ganz
großen Koalition zur Einhaltung der Menschenrechte
und der Grundfreiheiten, auch den Gefangenen gegenüber, sind.
Nach all dem, meine Damen und Herren, bitte ich
auch um Ihre Zustimmung zu dem Antrag der Koalitionsfraktionen.
Ich danke Ihnen sehr herzlich.
({5})
Herr Karl, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Wir gratulieren Ihnen ganz herzlich und wünschen Ihnen Erfolg bei der parlamentarischen Arbeit.
({0})
Das Wort hat der Kollege Johannes Jung von der
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Guantanamo ist der tagtägliche systematische
Verstoß gegen Menschenrechte und Menschenwürde,
gegen internationales Völkerrecht und auch gegen USamerikanisches Recht.
({0})
Dieses Lager und die Behandlung der dort festgesetzten
Personen stehen in schärfstem Widerspruch zur Tradition der Freiheitsrechte in den USA und sie diskreditieren zusätzlich die Politik der US-Administration. Die
USA waren Jahrhunderte lang ein Zufluchtsort und die
Chance auf eine hoffnungsfrohe Zukunft für Verfolgte
und Geknechtete in dieser Welt, gerade auch aus
Deutschland.
Wie sehr die Bush-Administration diese Tradition von
Freiheit und Rechtsstaatlichkeit fürchtet, zeigt eben Guantanamo, wo „the rule of law“, die Herrschaft des Gesetzes - also in unseren Worten die Rechtsstaatlichkeit -,
ausgehebelt und ferngehalten wird. Dort wird totale
staatliche Gewalt widerrechtlich ausgeübt. Zahlreiche
Gerichtsurteile in den USA belegen, dass die Sorgen
der Bush-Administration aus ihrer Sicht sehr wohl berechtigt und begründet sind.
Umso bedeutsamer ist die in den USA geführte Debatte über die Folter. Für diese Debatte steht Senator
McCain, der übrigens die Freiheitsmedaille der
Münchner Sicherheitskonferenz erhalten wird.
({1})
Dies ist ein gutes und ein wichtiges Signal. Es widerlegt
vielleicht die alte Weisheit, dass man Preise dann bekommt, wenn man sie nicht mehr braucht. Ich denke, Senator McCain und die Debatte über die Folter in den
USA brauchen diese Auszeichnung.
Johannes Jung ({2})
({3})
Ich gehöre einer Partei und einer Regierungsfraktion
an, die im Kampf gegen den Terror unsere demokratische und aufgeklärte Lebensweise, die das Ziel dieses
Terrors ist, mit rechtsstaatlichen Mitteln verteidigen will
und weiterhin verteidigen wird. Wir haben die Beteiligung an der Intervention der internationalen Staatengemeinschaft in Afghanistan und am Wiederaufbau dort
nicht gescheut. Wir haben aber den Krieg im Irak abgelehnt und immer wieder vor den verheerenden Folgen
dieses Krieges gewarnt.
({4})
Leider muss ich sagen: Unsere Befürchtungen wurden wahr. Der Krieg im Irak, die illegalen Verschleppungen - die so genannten renditions - und Guantanamo
sind verheerende politische Fehler und schlimmste Menschenrechtsverletzungen, die unter der Überschrift
„Kampf gegen den internationalen Terror“ begangen
werden.
Wie sieht die parlamentarische Behandlung aus? Der
Europarat hat im April letzten Jahres eine ausführliche
und detaillierte Entschließung gefasst, in der die Haftbedingungen in Guantanamo als rechtswidrig und unmenschlich verurteilt werden. Das Europäische Parlament hat in der vergangenen Woche ebenfalls eine
Entschließung verabschiedet, in der die „Überführung
von Hunderten von Personen … in das illegale Haftzentrum Guantanamo, in dem Folter und andere Arten der
Misshandlung … zahlreichen Zeugenaussagen zufolge
an der Tagesordnung gewesen sind“, verurteilt wird,
„und fordert die sofortige Schließung des Lagers“. Der
Deutsche Bundestag hat wiederholt zur entwürdigenden
Behandlung der Gefangenen in Guantanamo und zur
Folter unmissverständlich Stellung bezogen. Es gilt
heute, diese Position zu bekräftigen.
({5})
Es wird Sie dabei nicht wundern, dass ich für den
Antrag der Koalitionsfraktionen werbe. Wir heben in
diesem Antrag erstens die Unabdingbarkeit rechtsstaatlicher Mittel beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus hervor. Klar ist - das wurde oft genug betont;
vielleicht doch nicht oft genug -: Der Rechtsstaat darf
nicht auf dem Wege seiner vorgeblichen Verteidigung
verengt und abgeschafft werden.
Wir unterstützen zweitens die Bundesregierung und
die Bundeskanzlerin ausdrücklich in ihrer öffentlich vorgetragenen kritischen Haltung zu Guantanamo.
Wir bekräftigen drittens nochmals unsere grundsätzliche Forderung zur Einhaltung von Menschenrechten und
dem Respekt vor den Grundfreiheiten von Gefangenen.
Das Lager Guantanamo verstößt gegen alle demokratischen Regeln von Politik, Recht und Moral. Es ist
Synonym für einen Ort der Rechtlosigkeit und der totalen Verfügung über Menschen. Da Guantanamo einzig
zu dem Zweck eingerichtet wurde, den Rechtsstaat außen vor zu halten, muss dieses Lager geschlossen werden.
({6})
Ich darf Sie um Ihre Zustimmung zum Antrag der Koalitionsfraktionen bitten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Herr Kollege Jung, das war Ihre erste Rede hier im
Deutschen Bundestag, wozu wir Ihnen herzlich gratulieren.
({0})
Mir ist mitgeteilt worden, dass zu diesem Punkt eine
Debatte zur Geschäftsordnung gewünscht wird. Ich
gebe das Wort dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben volles Haus, weil wir uns über die Frage unterhalten
wollen, wie wir jetzt mit diesen Anträgen umgehen. Ich
finde, bei einem solch ernsten Thema und bei einer solchen Debatte, bei der so viel Einvernehmen im Hohen
Hause gezeigt wird, wäre es gut, wir kämen zu einem gemeinsamen Ergebnis, zu einer gemeinsamen Entschließung.
({0})
Nun habe ich - genau wie andere Redner - angesprochen, dass wir uns an bestimmten semantischen Feinheiten verschiedener Anträge stören. Das ist gar nicht verwunderlich. Dies kann man im Ausschuss glätten und
dann zu einem gemeinsamen Text kommen. Das ist eigentlich gute Übung hier im Hohen Hause. Wir haben
zum gleichen Thema vier Anträge aus fünf Fraktionen,
in denen steht: Guantanamo muss geschlossen werden
und die USA müssen sich an Rechtsstaatlichkeit, Völkerrecht und Menschenrechte halten.
Ich glaube, es müsste uns gelingen, dies gemeinsam
so zu schreiben, dass das Hohe Haus in der nächsten Sitzungswoche einstimmig eine Botschaft in die USA senden kann. Deshalb beantragt unsere Fraktion mit Unterstützung der FDP- und der Linksfraktion, alle
vorliegenden Anträge der Fraktionen in die Ausschüsse
zu überweisen, in der nächsten Sitzungswoche darüber
zu beraten und dann hier im Plenum endgültig darüber
abzustimmen. Alles andere wäre wirklich parteipolitische Nickeligkeit. Diese ist diesem Thema aber nun
wirklich nicht angemessen.
({1})
Volker Beck ({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und
von der Union, Sie sind hier zahlreich angetreten, um abzustimmen. Vor der Abstimmung wäre es schön, wenn
Sie noch einmal über Folgendes nachdenken: Was wäre
das klarste Signal an die Amerikaner? Welches Verhalten von uns würde sie am meisten beeindrucken? Das
Beeindruckendste wird sein, wenn wir uns auf einen gemeinsamen Text einigen. Ich glaube, alle Fraktionen
sind kompromissbereit genug, um zu sagen, dass es richtig und unterstützenswert ist, dass die Regierung hier
eine klare Sprache spricht. Lassen Sie uns diesen Versuch machen. Ich bitte Sie: Stimmen Sie unserem Geschäftsordnungsantrag zu und ersparen Sie uns nachher
bei der Abstimmung über die Einzelanträge unterschiedliche Voten.
Vielen Dank.
({3})
Für die Koalition hat die Kollegin Dr. Krogmann von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir als Koalition halten es für sinnvoll, über diese Anträge sofort abzustimmen, und zwar aus zwei Gründen:
Erstens. Herr Kollege Beck, trotz vieler Gemeinsamkeiten werden in den einzelnen Anträgen wichtige unterschiedliche Akzente gesetzt, die wir nicht glätten wollen.
Deshalb halten wir es für unwahrscheinlich, dass es nach
den Ausschussberatungen überhaupt zu einem gemeinsamen Antrag kommen wird.
({0})
Zweitens. Wenn wir alle der Meinung sind - dass dem
so ist, hat die Debatte gezeigt -, dass dieses Thema sehr
wichtig ist, dann sollten wir die Entscheidung darüber
nicht vertagen. Wir sollten kraftvoll sofort abstimmen
und unmittelbar entscheiden.
({1})
Deshalb beantrage ich für die Koalition, dass über die
vorliegenden Anträge sofort abgestimmt wird.
({2})
Herr Kollege van Essen hat das Wort für die FDPFraktion.
Frau Kollegin Krogmann, Ihre Argumentation hat
mich überhaupt nicht überzeugt.
({0})
Es verschlägt doch gar nichts, wenn wir in der nächsten
Sitzungswoche abstimmen.
({1})
Ich denke, dass die heutige Debatte gezeigt hat, wie breit
die Übereinstimmung im Deutschen Bundestag ist.
Wenn wir ein Signal aussenden wollen, dann ist es doch
wichtig, dass unser Vorgehen vom ganzen Haus unterstützt wird.
({2})
Die Oppositionsfraktionen haben heute deutlich gemacht, dass sie bereit sind, mit Ihnen zusammen einen
gemeinsamen Antragstext zu finden.
({3})
Diesen Versuch sollten wir unternehmen. Das ist jedenfalls der Wunsch meiner Fraktion. Wir werden für die
Überweisung der Anträge stimmen, damit es ein klares
und deutliches Signal des gesamten Deutschen Bundestages gibt. Genau das hat dieses Thema verdient.
Vielen Dank.
({4})
Frau Kollegin Enkelmann, bitte, für die Fraktion Die
Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir unterstützen den Antrag auf Überweisung aller Anträge an
die Ausschüsse. Ich denke, die Debatte hat tatsächlich
gezeigt: Es gibt viele Gemeinsamkeiten. Es geht um ein
gemeinsames politisches Signal aus diesem Haus.
({0})
Wir hatten unseren Antrag rechtzeitig eingebracht
und es gab tatsächlich das Angebot - die Kollegen Parlamentarische Geschäftsführer wissen das -, einen gemeinsamen Antrag zu formulieren. Wir wollten nicht unbedingt auf unser Recht der ersten Nacht pochen; denn
wir hätten schon gerne gesehen, dass es zu einem gemeinsamen Antrag kommt.
Aber jetzt haben wir die widersinnige Situation, dass
vier Anträge zum gleichen Thema vorliegen. Es ist
durchaus möglich, aus ihnen einen gemeinsamen Antrag
zu machen. Diese Arbeit sollten wir in den Ausschüssen
leisten. Deswegen bitte ich Sie alle ganz herzlich: Lassen Sie uns die vorliegenden Anträge gemeinsam an die
Ausschüsse überweisen, lassen Sie uns dort einen gemeinsamen Antrag formulieren und lassen Sie uns aus
diesem Haus ein gemeinsames politisches Signal aussenden!
({1})
Vielen Dank. - Damit schließe ich die Aussprache zur
Geschäftsordnung.
Wir kommen zu den Abstimmungen.
Die Fraktionen der FDP, der Linken und des
Bündnisses 90/Die Grünen beantragen, die Anträge auf
den Drucksachen 16/364, 16/431, 16/454 und 16/443 fe-
derführend an den Auswärtigen Ausschuss und zur Mit-
beratung an den Ausschuss für Menschenrechte und Hu-
manitäre Hilfe zu überweisen. Die Koalitionsfraktionen
hingegen wünschen sofortige Abstimmung in der Sache.
Nach ständiger Übung geht die Abstimmung über den
Überweisungsvorschlag vor. Ich bitte diejenigen, die für
den Vorschlag auf Überweisung an die genannten Aus-
schüsse stimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegen-
stimmen? - Enthaltungen? - Dieser Antrag ist hiermit
abgelehnt mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und
der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion der
FDP, der Fraktion Die Linke und der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen.
Wir stimmen daher in der Sache ab. Abstimmung
über den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/364 mit dem Titel „Guantanamo schlie-
ßen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Dieser Antrag ist abgelehnt mit
den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stim-
men der Linke-Fraktion und einzelner Abgeordneter von
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der FDP und ei-
ner Mehrheit der Abgeordneten von Bündnis 90/Die
Grünen.
Damit kommen wir zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf
Drucksache 16/431 mit dem Titel „Für die Einhaltung
von grundlegenden Menschenrechten und Grundfreihei-
ten beim Umgang mit Gefangenen“. Wer stimmt für die-
sen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dieser
Antrag ist angenommen mit den Stimmen der Koalition
bei Enthaltung der übrigen Mitglieder des Hauses.
Ich komme zu Zusatzpunkt 4. Abstimmung über den
Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/454 mit
dem Titel „Für die Schließung von Guantanamo Bay und
die Überführung der Gefangenen in rechtsstaatliche Ver-
fahren“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Dieser Antrag ist abgelehnt mit
den Stimmen von SPD und CDU/CSU gegen die Stim-
men der FDP, des Bündnisses 90/Die Grünen und der
Fraktion Die Linke.
Schließlich kommen wir zum Antrag der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/443 mit
dem Titel „Rechtsstaatliche Verfahren und Menschen-
rechtsschutz für die Inhaftierten in Guantanamo Bay“.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Dieser Antrag ist abgelehnt. Für den An-
trag haben gestimmt die Fraktionen der FDP, der Linken
und des Bündnisses 90/Die Grünen, dagegen gestimmt
haben die Abgeordneten von CDU/CSU und SPD.
Ich rufe hiermit die Tagesordnungspunkte 12 a und
12 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Thea
Dückert, Margareta Wolf ({0}), Matthias
Berninger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Die Dienstleistungsrichtlinie verbessern - Das
europäische Sozialmodell bewahren
- Drucksache 16/373 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Lötzer, Dr. Diether Dehm, Werner Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
EU-Dienstleistungsrichtlinie ablehnen
- Drucksache 16/394 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Hierfür ist eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
({3})
Ich eröffne gleich die Aussprache, wenn die Kolleginnen und Kollegen den Saal verlassen haben, die dieser
Debatte nicht folgen möchten.
({4})
- Möglicherweise könnten die Gespräche, die nicht zur
Sache gehören, draußen geführt werden.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Ich gebe das Wort der Kollegin Dr. Thea Dückert,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
({0})
- Auch auf die Gefahr hin, dass es Sie stört: Ich habe Ihnen hier zu einem sehr zentralen Thema etwas mitzuteilen.
Meine Fraktion, Bündnis 90/Die Grünen, bringt einen
Antrag ein mit dem Titel „Die Dienstleistungsrichtlinie
verbessern - Das europäische Sozialmodell bewahren“.
Warum? In naher Zukunft, und zwar am 14. Februar, findet in Brüssel eine ganz zentrale Abstimmung über die
Dienstleistungsrichtlinie statt, die das Ziel hat, den
gemeinsamen Binnenmarkt auf den Dienstleistungsbereich auszudehnen. Auf die Ausgestaltung der Dienstleistungsrichtlinie müssen wir Einfluss nehmen. Die
Bundesregierung sucht noch nach ihrer Linie, wie überall zu lesen ist. Wir wollen ihr dabei helfen, ihre Position
zu finden, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD
und der CDU/CSU.
({1})
Worum geht es? Der Binnenmarkt bietet eine große
Chance für Europa, der Binnenmarkt im Dienstleistungsbereich allemal. Es könnten - auch in Deutschland
- viele Arbeitsplätze geschaffen werden. Diese Chance
dürfen wir nicht verspielen.
({2})
Den Antrag bringen wir ein, weil wir verhindern wollen, dass in Europa durch die Dienstleistungsrichtlinie in
ihrer jetzigen Form Tür und Tor für Sozialdumping,
Lohndumping und Umweltdumping geöffnet werden.
Das Ziel, einen Binnenmarkt für den Dienstleistungsbereich zu schaffen, ist richtig. Auf die Ausgestaltung
aber müssen wir von der Bundesrepublik Deutschland
wie auch von Brüssel aus Einfluss nehmen.
Es müssen folgende Schritte umgesetzt werden: Erstens darf das Herkunftslandprinzip nur für den Marktzugang gelten. Dadurch erreichen wir, dass die bürokratischen Hürden für kleinere und mittlere Betriebe beim
Zugang auf den Dienstleistungsmarkt in den Nachbarländern abgebaut werden. Zweitens muss bei der Durchführung von Dienstleistungen das Ziellandprinzip gelten. Das bedeutet, dass die sozialen Standards,
Umweltstandards und arbeitsrechtlichen Standards der
Zielländer gelten, also unsere Standards hier in Deutschland.
({3})
Dadurch müssen sich unsere Verbraucherinnen und Verbraucher nicht durch den Dschungel von 25 Rechtssystemen und 25 unterschiedlichen Standards in Europa
kämpfen, wobei die Gefahr besteht, dass sie die Orientierung verlieren.
Wir wollen hier zu diesem Thema eine Debatte führen. Sie ist zielführend und es besteht die Chance, dass
die Ergebnisse in Europa Realität werden. Evelyne
Gebhardt von der SPD hat den Kompromissvorschlag
eingebracht. Unser Antrag mit seinen klaren Änderungsvorschlägen, nämlich der Berücksichtigung des Herkunftslandprinzips und des Ziellandprinzips, hat eine
Chance auf Umsetzung, wenn wir uns hier einig werden.
Ich glaube, im Ziel sind wir uns einig.
In unserem Antrag werden noch andere Punkte angesprochen. Auch darüber gilt es zu diskutieren. Wir wollen, dass besonders sensible Bereiche, die vom zuständigen Binnenausschuss des Europäischen Parlaments
noch nicht berücksichtigt worden sind - dazu zählen die
Bereiche Pflege und Leiharbeit, aber auch Bereiche der
Daseinsvorsorge -, aus dieser Dienstleistungsrichtlinie
herausgenommen werden.
In Deutschland könnte es, auch wenn das Entsendegesetz auf alle Branchen ausgeweitet wird, möglicherweise
noch Bereiche geben, die in manchen Regionen oder je
nach Branche über Tarifverträge nicht abgesichert sind.
Deswegen wollen wir auf Regionen bzw. auf Branchen
bezogene Mindestlöhne möglich machen.
({4})
Dieser Weg ist gangbar - das sage ich noch einmal und wird für Deutschland und für Europa große Chancen
eröffnen. Er ist gangbar, wenn sich die Koalition an ihren Koalitionsvertrag hält. Damit kommen wir zu des
Pudels Kern: Im Koalitionsvertrag steht, dass das Herkunftslandprinzip beim Schutz der sozialen Standards
nicht wirklich zum Ziel führt. Herr Koch zum Beispiel
hat im Bundesrat einen interessanten Antrag eingebracht, in dem steht, dass das Herkunftslandprinzip nur
für den Marktzugang gelten soll; das hat auch Frau
Evelyne Gebhardt in Brüssel so vorgetragen. Man
könnte meinen, in der Bundesregierung existiere hierzu
eine klare Linie.
Wo ist das Problem? In Wirklichkeit existiert keine
klare Linie. Der Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, Herr Wuermeling, hat in Brüssel sehr viel Energie
investiert, damit das Herkunftslandprinzip nicht verändert wird. Er hat sich dem in den Weg gestellt und hat
dafür gesorgt, dass gerade die Konservativen in Brüssel
diesen notwendigen Veränderungen nicht zugestimmt
haben. Er hat sogar klare Worte gefunden und gesagt,
dass das eine unredliche Panikmache vonseiten der Linken sei. Ich muss Ihnen übrigens sagen, dass er ganz offensichtlich auch Herrn Koch damit gemeint hat. Nun
gut.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition, Sie haben die Chance, an dieser Stelle die Einigung zu finden, nach der Sie suchen, indem Sie sich
auf Ihren Koalitionsvertrag beziehen, indem sich die
Union zum Beispiel auf einen bestimmten Ministerpräsidenten bezieht und indem wir alle gemeinsam die positiven Chancen, die es im Binnenmarkt für Dienstleistungen gerade auch für die Entwicklung des Arbeitsmarktes
in Deutschland gibt, aufgreifen.
Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Redezeit.
Ich komme zum Schluss. - Ich möchte noch eine Bemerkung machen, weil hier noch ein zweiter Antrag vorliegt, nämlich der der PDS.
Das ist ein ziemlicher Zwitterantrag. Sie rufen in erster Linie zum Boykott der Dienstleistungsrichtlinie und
erst in zweiter Linie zu Änderungen auf. Liebe Kolleginnen und Kollegen der PDS, ich glaube, Sie täten den sozialen Standards sowie den Arbeitsrechts- und Umweltschutzstandards in Europa Gutes, wenn Sie von Ihrem
Boykott Abstand nehmen und dieses Europa mitgestalten würden; denn ein soziales und ein umweltfreundliches Europa ist möglich.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Laurenz Meyer, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der freie Dienstleistungsverkehr ist Bestandteil
des EU-Vertrages. In Art. 49 EG-Vertrag ist das vorgesehen. Die Liberalisierung der Dienstleistungsmärkte ist
integraler Bestandteil. Das müssen wir einfach sehen.
Als Dienstleistungen gelten insbesondere gewerbliche,
kaufmännische, handwerkliche und freiberufliche Tätigkeiten. So steht es in Art. 50 des EG-Vertrages.
Die Öffnung der europäischen Dienstleistungsmärkte bietet große Chancen für mehr Wachstum und
Beschäftigung in Deutschland. Das sollten wir bei all
den Diskussionen über Einzelpunkte nicht unterschlagen. Wir haben hochmoderne und leistungsfähige
Dienstleistungsbranchen, die von dieser Marktöffnung
sehr stark profitieren können. Diese Chancen gilt es zu
nutzen. Wir sind bisher Weltmeister beim Export von Industrieprodukten. Wir sollten in Zukunft auch einen
Spitzenplatz beim Handel mit Dienstleistungen einnehmen können, wenn wir es richtig anstellen.
({0})
In dem ganzen Konzept ist zu bedenken - das nehmen
wir sehr ernst -, dass aufseiten der Bevölkerung, insbesondere der Arbeitnehmerschaft, mit der Liberalisierung
der Dienstleistungsmärkte Sorgen verbunden sind, denen
durch geeignete gesetzliche Regelungen begegnet werden muss. Deshalb wollen wir die wünschenswerte Liberalisierung in einen geeigneten Rahmen stellen. Das haben wir die ganze Zeit getan. Das wichtigste Ziel ist,
drohende Nachteile, etwa gar Sozialdumping, zu vermeiden und auszuschließen. Deshalb ist es wichtig, dass wir
jetzt die Dienstleistungsrichtlinie als gesetzlichen Rahmen bekommen, da die Regelungskompetenz für den
ganzen Bereich ansonsten ausschließlich dem Europäischen Gerichtshof zufiele. Das kann niemand von uns
wünschen.
Meine Damen und Herren, wir müssen eine vernünftige Balance zwischen den sozialen und den ökologischen Schutzinteressen einerseits und der Erleichterung
des zwischenstaatlichen Handels andererseits erreichen.
Deshalb wollen wir eine weitere Öffnung der Dienstleistungsmärkte. Diese Liberalisierung ist im Übrigen auch
Teil der Lissabonstrategie, durch die Europa zum dynamischsten Wirtschaftsraum werden soll. Wenn wir hier
keine vernünftigen Regelungen finden, dann werden wir
dieses Ziel ganz bestimmt nicht erreichen.
Deshalb will ich Ihnen hier die Position, die die
Union die ganze Zeit verfolgt hat und deren Durchsetzung wir in den letzten Monaten - auch in Abstimmung
mit unseren Kollegen im Europaparlament - vorangetrieben haben, noch einmal nennen. Wir haben bisher
schon viel erreicht. Ich möchte die Position aber noch
einmal wiederholen, damit wir alle den für uns vorgegebenen Rahmen kennen:
Erstens. Durch die Richtlinie muss deutschen Unternehmen die Chance gegeben werden, in Zukunft leichter
und mehr Aufträge in europäischen Ländern zu erhalten
und durchzuführen, und müssen die Voraussetzungen für
mehr Wachstum und Arbeitsplätze geschaffen werden.
Gleichzeitig wollen wir sicherstellen, dass die Anwendung der Richtlinie in Bezug auf die Erbringung von
Leistungen der Daseinsvorsorge und die Ausübung
öffentlicher Gewalt eingeschränkt wird. Die Definitions-, Gestaltungs- und Finanzierungshoheit der Mitgliedstaaten bei der Daseinsvorsorge muss unangetastet
bleiben und die Besonderheiten von Dienstleistungen im
allgemeinen Interesse müssen innerhalb der Richtlinie
berücksichtigt werden.
Notare, die sich mit der Ausübung öffentlicher Gewalt beschäftigen, und Tätigkeiten, die damit verbunden
sind, sind vom Anwendungsbereich der Richtlinie auszunehmen. Der Schutz der öffentlichen Sicherheit und
Ordnung sowie die staatliche Kulturförderung dürfen
nicht eingeschränkt oder ausgehöhlt werden. Deshalb ist
es unsere Strategie, von dieser Diskussion über das Herkunfts- und Bestimmungslandprinzip wegzukommen
und zu einer klaren Regelung der einzelnen Bestandteile
zu kommen, die aus unserer Sicht notwendig ist, um das
Subsidiaritätsprinzip in Europa sicherzustellen.
({1})
Ich will noch einige Punkte nennen, die von dieser
Diskussion um Begriffe klar wegführen, und Ihnen zeigen, an was wir im Einzelnen denken. Wir dürfen unsere
nationalen Umwelt- und Sicherheitsstandards sowie unsere Gesundheitsstandards nicht aushöhlen. Das nationale Arbeitsrecht muss in vollem Umfang unberührt
bleiben. Das geht bis hin zur Entsenderichtlinie. Hier hat
die nationale und nicht die europäische Gesetzgebung
den Vorrang.
Die Überlassung von Arbeitnehmern muss ebenso
wie die Steuerung von Arbeitsmigration nach deutschen
Standards geregelt werden. Hier muss die nationale
Laurenz Meyer ({2})
Ebene zuständig bleiben. Das geht bis hin zu der Frage,
welche Drittstaatenangehörigen in unser Land entsandt
werden dürfen. Die Mitgliedstaaten müssen in der Lage
sein, all das zu beschließen, was in ihrem Interesse ist
und was sie für richtig halten, um den Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Volksgesundheit, Umwelt und die Vorbeugung gegen Risiken vor Ort wirklich
sicherzustellen.
Das Herkunftslandprinzip - bei dieser Meinung
sind wir geblieben, schließlich liegt in der Zusammenarbeit die große Chance - darf sich eben nicht auf Fragen
des anwendbaren Zivilrechts und auf das internationale
Privatrecht ausdehnen. Dass Verträge nicht nach dem
Herkunftslandprinzip gestaltet werden dürfen, ist gerade
für die Verbraucher in Deutschland von ganz entscheidendem Interesse; denn wenn es um Dienstleistungen
aus dem Ausland geht, wollen die Menschen sichergestellt wissen, dass zum Beispiel Gewährleistungs- oder
Schadensersatzansprüche bei uns und nach unserem
Recht abgewickelt werden und sie nicht etwa irgendwo
in Polen oder Tschechien vorstellig werden müssen.
Deutsche Gerichte müssen für diese Bereiche zuständig
bleiben.
({3})
Die Finanzierungshoheit im öffentlichen Gesundheitswesen ist sicherzustellen. Im Übrigen - dieser
Punkt ist offen, darüber müssen wir in Europa noch sprechen - geht es darum, dass der Gesundheitssektor insgesamt nach unserer Überzeugung von der Richtlinie auszuschließen ist. Das gilt für den staatlichen Bereich, aber
nach unserer Meinung auch für private Gesundheitsdienstleistungen. Hier muss die Einbeziehung in die
Richtlinie geprüft werden, weil es sich bei dem Gesundheitsbereich in unseren Augen um einen Wachstumssektor handelt. Hier müssen wir unsere Rahmenbedingungen selber gestalten können.
Die Anerkennung von Berufsqualifikationen ist ein
weiterer Punkt, der nicht durch die Dienstleistungsrichtlinie geregelt werden sollte, sondern durch die dafür vorgesehene Richtlinie, die dann Vorrang haben muss. Die
Berufsqualifikation sollte durch eine eigene Richtlinie
geregelt werden und nicht durch die Dienstleistungsrichtlinie ausgehebelt werden können. Das heißt, dass
die Rahmenbedingungen aus unserer Sicht durch die
Dienstleistungsrichtlinie festgelegt werden, diese jedoch subsidiär gilt. Dort, wo Sondertatbestände existieren, die einzeln geregelt werden, gelten diese Sonderregelungen und nicht das allgemeine Rahmenwerk der
Dienstleistungsrichtlinie. Das betrifft etwa die Bereiche
von audiovisuellen Dienstleistungen oder auch Rechtsanwälte. Diesen Bereich haben wir bereits besprochen.
Auch den Bereich Fernsehen oder audiovisuelle Dienstleistungen haben wir im Zusammenhang mit dem Petitor
unserer öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten debattiert. Sie sind aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie herauszunehmen und damit nationale Angelegenheiten.
Das Gleiche gilt, wenn es um die Bekämpfung illegaler Beschäftigung und die Bekämpfung von Schwarzarbeit geht. Hier dürfen keine Erschwernisse auftreten.
Angesichts der geltenden Regelung zur Verwaltungszusammenarbeit bin ich ganz sicher, dass dieser Bereich
bisher schon gut geregelt ist und nicht neu gestaltet werden muss.
Im Übrigen - das möchte ich abschließend feststellen - sollten Regelungen, die neue bürokratische Lasten
wie unnötige zusätzliche Evaluierungsvorschriften oder
überzogene Informations-, Berichts- und Prüfungsvorschriften mit sich bringen, konsequent aus der Richtlinie
herausgenommen werden, um das, was wir in Deutschland machen, auch auf der europäischen Ebene fortzusetzen.
Wenn wir diese Vorstellungen in den Prozess hin zur
Verabschiedung der Richtlinie durch das Europaparlament einbringen, dann bin ich optimistisch, dass wir in
Europa zu guten Lösungen kommen. Das erreichen wir
nicht, indem wir uns verweigern und auf einzelne Begriffe abstellen, sondern indem wir uns hart an der Sache
orientieren und uns bemühen, Rahmenbedingungen zugunsten von Wachstum und Arbeitsplätzen zu schaffen,
damit in Europa ein wichtiger weiterer Sektor geregelt
werden kann.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun der Kollege Martin Zeil, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Diskussion über die Dienstleistungsrichtlinie ist ein
Test dafür, wie wir es mit den Chancen des europäischen
Binnenmarktes und dem Abbau bürokratischer Hindernisse halten. Jenseits aller Detailaspekte geht es um unsere Vision von Europa: Wollen wir ein Europa auf der
Basis von Freiheit und Wettbewerb, das wirtschaftlich
zusammenwächst, oder verkrümeln wir uns in einem
Akt der Selbsttäuschung in die heimelige Wärmestube
des Protektionismus?
({0})
Grüne und Linke - auch Teile der SPD - bevorzugen
offenbar die Wärmestube. So wäre zum Beispiel die von
ihnen vorgeschlagene Spaltung von Zugangs- und Ausübungsregelungen zwischen Herkunfts- und Bestimmungsländern ein erheblicher Rückschritt gegenüber
dem geltenden Recht. Die Bedenkenträger übersehen,
dass es im Zeitalter der Globalisierung nicht hilft, wenn
man sich in die Furche duckt und hofft, der Wind des
Wettbewerbs würde irgendwie an uns vorüberziehen.
Frau Merkel hat in Davos zu Recht festgestellt: Der
Staat muss loslassen können - das gilt auch europaweit -, wenn wir wieder eine Wachstumsregion werden
wollen.
({1})
Die Koalition muss aber den Worten der Kanzlerin auch
Taten folgen lassen, Herr Meyer. Sonst riskieren Sie,
dass sie zur Frühstücksdirektorin wird.
({2})
Ich zitiere den früheren Wirtschaftsminister Clement,
der im Februar 2005 im „Tagesspiegel“ festgestellt hat:
Wir brauchen mehr Wettbewerb im Dienstleistungssektor in Europa. Gerade die deutschen Unternehmen sollten in der Richtlinie mehr Chancen als
Risiken sehen.
Der Mann hatte Recht!
Mit der Richtlinie soll endlich europaweit Bürokratie
abgebaut werden. Das begrüßen wir schon deshalb, weil
aus Europa bisher oft mehr Bürokratie gekommen ist.
Die Kritiker der Richtlinie verschweigen, dass der zuständige Ausschuss des Europaparlaments - der Kollege
Meyer hat es schon erwähnt - einer Reihe von Anregungen Rechnung getragen hat:
Erstens. Bei der staatlichen und kommunalen
Daseinsvorsorge bleibt es bei der Definitions-, Gestaltungs- und Finanzierungshoheit der Mitgliedstaaten.
Zweitens. Das Arbeitsrecht - auch die Entsendung
von Arbeitnehmern - fällt aus dem Herkunftslandprinzip
heraus. Weder die Bestimmungen zu Arbeits- und Tarifverträgen noch zum Arbeitsschutz können umgangen
werden.
Drittens. Die Bekämpfung von Schwarzarbeit und
Scheinselbstständigkeit bleibt Sache der Behörden vor
Ort und ist durch grenzüberschreitende Verwaltungszusammenarbeit sicherzustellen. Hierbei kommt es darauf
an, dass die Kommission endlich Vorschläge für die Umsetzung der grenzüberschreitenden Kooperation der Behörden vorlegt.
({3})
Viertens. Der vereinfachten Verwaltungszusammenarbeit zwischen den Behörden muss ein möglichst
breiter Anwendungsbereich eingeräumt werden, damit
das Ziel der Entbürokratisierung auch wirklich erreicht
werden kann. Dabei muss das Prinzip der Gegenseitigkeit zwischen den Ländern gelten. Die Vereinfachungen
müssen auch inländischen Wettbewerbern nutzbar gemacht werden.
({4})
Der Vorschlag des Binnenmarktausschusses garantiert
nun dem Zielstaat, dass er seine Gemeinwohlinteressen
wirkungsvoll sichern kann. Im Ergebnis bekommen wir
keine unbeschränkte, sondern eine kontrollierte Dienstleistungsfreiheit. Wer jetzt noch das Gespenst des Sozial- und Umweltdumpings an die Wand malt, der will
oder kann nicht verstehen, was wirklich Sache ist.
({5})
Auch der Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung hinkt mit der Forderung nach einer weiteren Überarbeitung dem aktuellen Stand ein wenig hinterher. Ich
habe den Eindruck, dass Herr Staatssekretär
Wuermeling, der noch im November des letzten Jahres
die Position des Binnenmarktausschusses zu Recht gelobt hat, ihn nicht mehr Korrektur gelesen hat. Laut einem Gutachten des Kopenhagen-Instituts können durch
die Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie kurzfristig
bis zu 600 000 zusätzliche Arbeitsplätze in Europa - davon allein 100 000 in Deutschland - geschaffen werden.
Können wir es uns wirklich leisten, darauf zu verzichten?
({6})
Es geht nicht - das ist ein beliebtes Argument, das
auch in einem Antrag steht - um die Interessen von
Großunternehmen. Vielmehr geht es hier um die Verwirklichung der Dienstleistungsfreiheit vor allem der
kleinen und mittleren Unternehmen, des Mittelstandes
also, der in den Sonntagsreden ständig so sehr gelobt
wird. Große Unternehmen haben zumeist Niederlassungen im Ausland und brauchen diese Richtlinie am allerwenigsten.
({7})
Gerade der deutsche Mittelstand mit seiner bekannten
Qualität hat hier die Chance, grenzüberschreitend zu expandieren, ohne durch absolut widersinnige Hürden behindert zu werden.
Nicht protektionistische Ängstlichkeit, sondern Mut
zu Wettbewerb und Bürokratieabbau ist das Gebot der
Stunde. Wenn wir nicht einmal in Europa diesen Mut
aufbringen, wie wollen wir dann eigentlich im Wettbewerb mit anderen dynamischen Regionen der Welt bestehen?
({8})
Lassen Sie mich abschließend an die Adresse der
Bundesregierung und insbesondere an die des Wirtschaftsministers Glos sagen: Verbauen Sie dem Mittelstand und den Arbeitsuchenden bei uns, aber auch in anderen Ländern diese Chance nicht! Stehen Sie zu dem,
was Ihre Parteifreunde gemeinsam mit den Liberalen im
Europaparlament umgesetzt haben! Reden Sie nicht nur
von mehr Freiheit, sondern handeln Sie auch danach!
Auf unsere Unterstützung können Sie dabei zählen.
({9})
Das Wort hat nun der Kollege Garrelt Duin, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Selten hat ein Richtlinienentwurf der EUKommission für so viel Aufmerksamkeit gesorgt wie
dieser; das hat gute Gründe. Ich möchte vorab anmerken,
dass es sich künftig lohnen würde, hier und in der deutschen Öffentlichkeit noch öfter und rechtzeitig über solche Richtlinienentwürfe intensiv zu diskutieren.
({0})
Die Dienstleistungsrichtlinie hat in den vergangenen
zwei Jahren zu regelrechten Proteststürmen geführt, weil
die hinter diesem Entwurf stehende Denkweise - ich bin
geneigt, zu sagen: die Ideologie, seinerzeit durch Herrn
Bolkestein verkörpert und heute vom Kollegen Zeil noch
einmal vorgetragen - Kern des Problems ist.
({1})
Welches Europa wollen wir? So ist die Frage richtig
gestellt. Aber im zweiten Schritt geht es um die Fragen:
Bedeutet Europa eigentlich mehr als Markt, Markt und
nochmals Markt? Überlassen wir Europa denjenigen, die
glauben, dass das freie Spiel der Kräfte alles zum Guten
wenden wird und dass alleine der Markt die Dinge regeln kann? Diese Fragen und die damit verbundenen
Ängste haben unter anderem dazu geführt, dass die Referenden in Frankreich und den Niederlanden negativ
ausgegangen sind.
({2})
Immer wieder stoßen wir auf diese Denkweise, zuletzt
beim Port Package II. Wir können unseren Kolleginnen
und Kollegen aus dem Europäischen Parlament nur gratulieren, dass sie diesen Angriff auf die Beschäftigten in
unseren Häfen abgewehrt und das Port Package II versenkt haben.
({3})
Wenn wir Europa so gestalten wollen, dass es von den
Menschen, den europäischen Bürgerinnen und Bürgern
getragen wird, dann brauchen wir neben dem intensiven
Bemühen um Wettbewerbsfähigkeit auch den sozialen
Zusammenhalt in Europa. Sozialer Zusammenhalt verkommt zur Worthülse, wenn wir nicht in der Normsetzung, in der Gesetzgebung, wie jetzt hier ganz konkret
bei der Dienstleistungsrichtlinie, darauf achten und ihr
Geltung verschaffen. Diese Verbindung von dem Bemühen um Wettbewerbsfähigkeit und dem sozialen Zusammenhalt ist unser Anliegen.
Natürlich braucht der Wirtschaftsraum der EU einen
intensiveren Austausch von Dienstleistungen, sowohl
zur Stärkung der Wirtschaftskraft insgesamt, als auch
um dem Ziel der Angleichung der Lebensverhältnisse,
der Kohäsion, näher zu kommen. Die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen ist wesentliches
Element des Binnenmarktes und der Abbau von Hindernissen ist für die Wirtschaftsentwicklung dieses Sektors
und nicht zuletzt für die Verbraucher von grundlegender
Bedeutung. Aber - auch das hat Frau Merkel in Davos
gesagt - diese Freiheit braucht Regeln.
({4})
Ohne oder mit falschen Regeln wird es einen ruinösen Wettbewerb um die niedrigsten Löhne, die niedrigsten Sozialstandards und die niedrigsten Umweltstandards geben. Wir dürfen dabei in der Tat - Herr Meyer
hat es angesprochen - nicht vergessen, dass der Dienstleistungsbinnenmarkt mit all seiner Unzulänglichkeit bereits existiert und der Europäische Gerichtshof ihn mit
seinen Urteilen gestaltet, allerdings - das will ich hinzufügen - nahezu ungetrübt von der Logik des freien Wettbewerbs.
Ruinöser Wettbewerb schadet nicht nur den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, sondern auch den
kleinen und mittelständischen Unternehmen. So ist es
nämlich zu erklären, dass die Proteste der Gewerkschaften nahezu wortgleich auch von vielen Verbänden, zum
Beispiel dem Zentralverband des Deutschen Handwerks
- es gab sogar eine Preisverleihung durch mittelständische Unternehmen an die sozialdemokratische Berichterstatterin -, unterstützt werden. Das können Sie nicht
einfach wegwischen und sagen, der Mittelstand sei davon begeistert. Das entspricht nicht den Tatsachen.
({5})
Die Kommission hat mit der Vorlage der Dienstleistungsrichtlinie eine große Chance vertan, weil sie mit
der Brechstange des Herkunftslandprinzips versucht,
eine Überliberalisierung des Binnenmarktes zu erreichen. Das führt zu praxisfernen Ergebnissen und sozialund wirtschaftspolitischen Verwerfungen. Die Kommission hätte der Sache einen viel besseren Dienst erweisen
können, wenn sie einen anderen, einen bescheideneren
Ansatz gewählt hätte. Es wäre ausreichend gewesen, die
zahlreichen Vorschläge zur Erleichterung der grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung zu systematisieren und praxisgerecht auszugestalten.
Die Bundesregierung ist zurzeit genauso wie die im
Europäischen Parlament vertretenen maßgeblichen Parteien dabei, nach Möglichkeiten zu suchen, diesen Bedenken Rechnung zu tragen. Ich bin der Überzeugung,
dass dort, sowohl in der Bundesregierung als auch bei
den maßgeblichen Vertretern im Europäischen Parlament, ein guter Weg gefunden werden kann, wenn wir
von den zwei folgenden Eckpunkten ausgehen. Der erste
Punkt ist, dass der Anwendungsbereich klar definiert
wird, und der zweite Punkt ist - Bezug nehmend auf das,
was wir im Koalitionsvertrag geschrieben haben -, dass
das Herkunftslandprinzip à la Bolkestein nicht die Richtschnur dieser Richtlinie sein kann.
({6})
Bezüglich des Anwendungsbereiches muss klar sein,
dass sektorale Richtlinien Vorrang vor der Dienstleistungsrichtlinie haben. Als zentrales Beispiel nenne ich
hier die Entsenderichtlinie. Sie ist ein, wie ich finde,
sehr gutes Instrument, von dem wir in Deutschland - das
sei zugegeben - noch zu wenig Gebrauch machen. Vielleicht - so ist jedenfalls meine Hoffnung - kommen wir
im Rahmen der Diskussion über den Niedriglohnsektor
bei dem Thema Mindestlöhne dort noch ein Stückchen
weiter. Aber vom Regelungsansatz her - das muss man
sich vor Augen führen - steht das Herkunftslandprinzip
der Entsenderichtlinie diametral entgegen. Während die
Entsenderichtlinie gerade die Anwendbarkeit inländischer Normen auf ausländische Dienstleistungserbringer
bezweckt, verfolgt das Herkunftslandprinzip den genau
entgegengesetzten Ansatz.
({7})
Warum dennoch in Art. 24 und 25 der Dienstleistungsrichtlinie der Versuch unternommen wurde,
Teilaspekte der Entsendung von Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern zu regeln, bleibt nach wie vor unverständlich. Es ist doch inzwischen jedem klar, dass eine
Kontrolle aus dem Herkunftsland des Dienstleistungserbringers heraus nicht stattfinden wird und somit die Gefahr eines rechtsfreien Raumes besteht. Deswegen kann
das unsere Zustimmung nicht finden.
({8})
Es muss ebenso geklärt werden, dass alle Bereiche
der Daseinsvorsorge unter die Gestaltungshoheit der
Mitgliedstaaten fallen. Der gesamte Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge, also Gesundheit, Bildung, Wasser, Abwasser, Abfall und öffentlicher Verkehr, gehört
genauso wie die sozialen Dienstleistungen nicht in eine
Richtlinie, die vor allem kommerzielle Dienstleistungen
regeln soll. Mit der Einbeziehung aller Dienstleistungen,
für die Entgelte erhoben werden, wird die sehr unterschiedliche Praxis in diesem Bereich in den 25 Mitgliedstaaten völlig ignoriert.
Ebenso wichtig ist - Herr Meyer, ich bin Ihnen für
Ihre Aussage zu diesem Punkt sehr dankbar -, dass der
gesamte Gesundheitssektor von dieser Richtlinie ausgeschlossen wird. Wichtig ist also, dass nicht nur der öffentliche Bereich ausgeschlossen wird, wie es von manchen - auch von ehemaligen Abgeordneten des
Europäischen Parlaments, die jetzt in anderer Funktion
ganz nah bei uns sind - gefordert wird. Ich mag mir jedenfalls die Auswirkungen des alten Richtlinienentwurfs, zum Beispiel auf private Pflegedienste, nicht ausmalen. Deswegen sollten wir dafür eintreten - ich
wiederhole -, dass der gesamte Gesundheitssektor und
nicht nur der öffentliche Bereich von dieser Richtlinie
ausgeschlossen wird.
({9})
Das Herkunftslandprinzip widerspricht allen Bemühungen, Standards, die das soziale Europa ausmachen,
zu harmonisieren. Ich bin aber der Überzeugung, dass
Harmonisierung ein wesentlich besserer Weg ist als ein
Wettlauf um die geringsten Standards. Die Berichterstatterin im Europäischen Parlament will unterscheiden
- darauf ist schon hingewiesen worden - zwischen dem
Zugang einerseits und der tatsächlichen Erbringung
einer Dienstleistung andererseits, die dann dem Ziellandprinzip unterliegen müsste. Der Zugang kann demnach nach den Regeln des Herkunftslandes erfolgen, solange klar ist: Dort, wo die Dienstleistung erbracht wird,
gelten die Bedingungen ebendieses Ortes. Die Herkunft
des Erbringers spielt dann keine Rolle und die Behörden
vor Ort kontrollieren die Erbringung der Dienstleistung,
nichts anderes.
({10})
Ich glaube, dass diese klare Unterscheidung sowohl
im Sinne der anbietenden Unternehmen wie auch der
Beschäftigten und der Verbraucher wäre. Dies gilt umso
mehr, wenn uns ein deutlicher Abbau von Dokumentationspflichten und Verwaltungsaufwand gelingt.
Diese Linie hat - so sind alle Informationen - im Europäischen Parlament eine realistische Chance auf eine
Mehrheit. Sie ist konstruktiv, nach vorne gerichtet. Von
uns sollte heute das Signal ausgehen, dass wir alle unterstützen, die in diesem Sinne agieren: für einen funktionierenden Binnenmarkt, aber eben auch für ein Europa
des sozialen Zusammenhalts, das die Interessen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, Verbraucherinnen
und Verbrauchern wie auch von kleinen und mittleren
Unternehmen erkennbar schützt. Das verloren gegangene Vertrauen in Europa kann zurückgewonnen werden
- ich habe auf die Referenden Bezug genommen -, wenn
wir mit dieser Frage verantwortungsvoll umgehen.
Vielen Dank.
({11})
Herr Kollege Duin, das war Ihre erste Rede in diesem
Haus. Ich beglückwünsche Sie dazu sehr herzlich und
wünsche Ihnen für die weitere Arbeit alles Gute.
({0})
Nun hat das Wort die Kollegin Ulla Lötzer, Fraktion
Die Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Tatsächlich hat noch nie ein Vorhaben der Europäischen
Kommission in der deutschen Öffentlichkeit eine so
breite gesellschaftliche Diskussion ausgelöst wie die
EU-Dienstleistungsrichtlinie. Die Zeit, in der weitreichende Entscheidungen hinter verschlossenen Türen in
Brüssel getroffen werden konnten, ist vorbei. Menschen
mischen sich für ein soziales und ökologisches Europa
ein und das begrüßen wir ausdrücklich.
({0})
Folgerichtig stößt diese Richtlinie bei Gewerkschaften, Verbänden der kleinen und mittleren Unternehmen,
Sozialverbänden, kommunalen Arbeitgebern und vielen
anderen auf einhellige Ablehnung. Doch auf diesem Ohr
ist die konservativ-liberale Mehrheit im Europaparlament taub. Das gilt auch für Sie, Herr Meyer. Mit den
bisher beschlossenen Änderungsvorschlägen - auch Sie
haben sie hier eben im Großen und Ganzen als Ihre vorgetragen - soll das Herkunftslandprinzip nämlich nur abgemildert, aber nicht abgeschafft werden. Länder sollen
auf Einhaltung ihrer nationalen Bestimmungen dann bestehen können, wenn dies für den Schutz der öffentlichen Ordnung, der Gesundheit oder der Umwelt unerlässlich ist. Dazu frage ich Sie, Herr Meyer: Wer
bestimmt das denn dann?
({1})
Gerade damit wird doch die politische Gestaltung Europas an den Europäischen Gerichtshof abgetreten.
Verbraucherschutz, Qualitätsstandards, Leih- und
Zeitarbeit sollen weiterhin dem Herkunftslandprinzip
unterliegen. Auch mit den aktuellen Änderungsvorschlägen tickt die Bombe für einen uneingeschränkten Dumpingwettbewerb zulasten der Löhne und der Arbeitsbedingungen, der Sozial-, Verbraucher- und
Umweltstandards weiter.
Mit der völligen Deregulierung des Niederlassungsrechts und den Einschränkungen für kommunale Aufgaben werden demokratische Rechte der Kommunen gerade in der kommunalen Selbstverwaltung und der
öffentlichen Daseinsvorsorge ausgehöhlt. Unternehmen
aus Ländern mit hohen Standards werden diskriminiert.
Entweder werden dann die Vorschriften geschliffen oder
die Unternehmen flaggen aus; Briefkastenfirma genügt.
Genauso werden kleine und mittlere Unternehmen auf
der Verliererstraße enden und nicht profitieren.
Die Ersetzung des Herkunftslandprinzips durch die
Gesetze, Standards und das Tarifrecht des Landes, in
dem die Dienstleistung erbracht wird, ist und bleibt Minimum einer sozialverträglichen Lösung.
({2})
Nach wie vor sollen auch große Teile der öffentlichen Daseinsvorsorge von der Richtlinie erfasst werden. Sie haben einige Ausnahmen genannt, Herr Meyer.
Aber zum Beispiel der Bildungsbereich soll nach wie
vor erfasst werden.
({3})
Das hat die Europäische Kommission in der Anhörung
ausdrücklich bestätigt. Die Vertreterin der Kultusministerkonferenz hat dies als nicht tragbar abgelehnt. Recht
hat sie. Das ist mit einem demokratischen und sozialen
Bildungswesen tatsächlich unvereinbar. Genauso gilt das
für die Pflege und für andere soziale Dienstleistungen.
Einzelne Ausnahmen und Erweiterungen der Ausnahmen reichen nicht aus. Die Herausnahme der gesamten
öffentlichen Daseinsvorsorge aus dem Geltungsbereich
der Richtlinie ist unverzichtbar.
({4})
Die Daseinsvorsorge hat im Geltungsbereich dieser
Richtlinie nichts zu suchen.
({5})
Die Regierung hat das mit in der Hand. Ohne ihre Zustimmung im Europäischen Rat wird es keine Richtlinie
geben. Vor der Wahl haben SPD und auch die Grünen,
Frau Dückert, im Bundestag beschlossen, die EU-Kommission aufzufordern, die Richtlinie zurückzuziehen
- diese Aufforderung kreiden Sie uns in unserem Antrag
jetzt als Boykott an -;
({6})
eine Folgenabschätzung sollte her; das Herkunftslandprinzip wurde abgelehnt.
Auch Sie, Herr Duin, lehnen das Herkunftslandprinzip ab. Gleichzeitig ruft der Vorsitzende Ihrer Fraktion
im EU-Parlament, Herr Schulz, in den letzten Tagen zur
Bereitschaft zum Kompromiss mit den Konservativen
auf, damit die Dienstleistungsrichtlinie auf jeden Fall
verabschiedet wird. Das nenne ich Nebelkerzen werfen.
({7})
Ihr Parteivorstand ruft zur Demo auf. Das freut uns.
Aber dann müssen Sie auch im EU-Parlament und in der
Regierung klare Positionen vertreten.
({8})
Herr Meyer, unter Federführung der Hessischen Landesregierung hat sich der Bundesrat komplett gegen das
Herkunftslandprinzip ausgesprochen. Ihre Abgeordneten
im Europäischen Parlament aber sind es, die die Ablehnung des Herkunftslandprinzips bisher verhindern und
das auch am 15. Februar weiter tun wollen.
Frau Merkel war am Montag bei Herrn Chirac. Man
solle doch eine gemeinsame Position finden, umarmt sie
ihn - aber nicht, um die Richtlinie mit ihm gemeinsam
abzulehnen, sondern mit dem Ziel, ihn von seiner konsequenten Ablehnung abzubringen. Das teilen wir nicht.
Dieser Entwurf ist insgesamt noch immer schlecht für
die Menschen, auch in der aktuellen Fassung, auch mit
Ihren Änderungsvorschlägen. Deshalb fordern wir Sie
nach wie vor auf - wie es auch in unserem Antrag
steht -: Kehren Sie zu Ihrer alten Position zurück, Kolleginnen und Kollegen von der SPD und den Grünen! Lehnen Sie die Richtlinie ab! Statt Herkunftslandprinzip und
Privatisierung brauchen wir einen Prozess der Harmonisierung von sozialen und ökologischen Standards in
Europa sowie Rahmenrichtlinien für die öffentliche
Daseinsvorsorge, die sie vor Privatisierung und Liberalisierung schützen.
({9})
Dafür werden jedenfalls wir am 11. Februar in Berlin
und dann auch in Straßburg mit vielen Menschen auf die
Straße gehen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Die Demo wird
die Aufmerksamkeit für diese Forderung noch erhöhen.
({10})
Das Wort hat nun die Kollegin Lena Strothmann,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Selten ist über den Entwurf einer Richtlinie so intensiv
und emotional diskutiert worden. Im Augenblick wird,
so kann man sagen, alles in den Ring geworfen, was nur
den Anschein von Dienstleistungsfreiheit hat. Viele sehen einen Zusammenhang mit den Fleischerkolonnen
aus Osteuropa und den berühmten Fliesenlegern. In
Frankreich und den Niederlanden hat der Entwurf sogar
die Zustimmung zur EU-Verfassung verhindert.
Gemeinsam spiegeln all diese Diskussionen vor allen
Dingen die Angst um die Arbeitsplätze wider. Ich bin
der Auffassung, dass es grundsätzlich gut ist, diese Diskussion zu führen. Es ist positiv, weil dadurch im Vorfeld eines europäischen Beschlusses ausführliche Beratungen stattfinden. Im Klartext heißt das: Es bestehen
Einflussmöglichkeiten bezüglich der EU-Vorgänge. Das
ist gut so.
({0})
Ich bin auch froh, dass wir heute mit dieser Debatte
zur Versachlichung des Themas beitragen können. Sachlichkeit ist notwendig; denn die Aufgeregtheit um die
Dienstleistungsrichtlinie verhindert einen Blick auf die
Fakten. Die Dienstleistungsrichtlinie stellt den letzten
Teil der Verwirklichung der vier Grundfreiheiten dar.
Nach den entsprechenden Regelungen für Personen, Waren und Kapital sollen nun Erleichterungen bei den
Dienstleistungen folgen.
Die Dienstleistungsfreiheit ist auch eingebunden in
den Lissabonprozess. Die Lissabonstrategie strebt einen
Dreiklang von Beschäftigung, Wirtschaftsreform und sozialem Zusammenhalt - Stichwort: europäisches Sozialmodell - an. Auch hier lautet ein Ziel: Schaffung von
Arbeitsplätzen.
Das Potenzial dafür ist da. 70 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts sind mittlerweile Dienstleistungen. Der
grenzüberschreitende Teil daran aber ist gering. Beim
Güterexport sind wir Weltmeister; auch Fußballweltmeister wollen wir werden.
({1})
Aber wir wollen und müssen auch beim Export von
Dienstleistungen stärker werden.
Leider ist es so, dass zwischen den Mitgliedstaaten
viele Hindernisse bestehen. Viele dienen der Abschottung. Die Kommission hat dies aufgrund einer Reihe
von Beschwerden festgestellt. Zwei Beispiele dazu: Ein
Aachener Gärtnereibetrieb hatte in England einen Auftrag zur Dachbegrünung. Dafür wurde ein zwölfstündiger Baustellenabsicherungskurs verlangt. Ein Elektroinstallationsauftrag bei der niederländischen Armee ist
nicht zustande gekommen, da zuvor eine Prüfung gefordert wurde. Das besondere Problem dabei war, dass sie
in holländischer Sprache gefordert wurde.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Dienstleistungsrichtlinie ist als Rahmenrichtlinie konzipiert, die nach
außen einen Orientierungsrahmen setzt und nach innen
viele Möglichkeiten zulässt. Sie war letztlich unausweichlich und ist in jedem Fall besser als Dutzende von
Sektorenrichtlinien, die sich möglicherweise widersprechen.
Unnötige Hemmnisse gilt es also abzubauen. Eines ist
klar: Standards und Vorschriften müssen sein. Eines aber
muss nicht sein: Schikanen, die zur Abschreckung von
Mitbewerbern oder gar zur Marktabschottung missbraucht werden.
({2})
Ausländische Dienstleister haben es bei uns relativ
leicht, in den Markt zu kommen; das muss man feststellen. Wir dagegen haben es im Ausland erheblich schwerer. Daher wäre unser Nutzen von einer Dienstleistungsrichtlinie erheblich größer. Hier liegen die Chancen für
unsere Betriebe und deren Mitarbeiter.
Deshalb müssen wir uns in die Gestaltung der Dienstleistungsrichtlinie konstruktiv einbringen. Auf dem ursprünglichen Kommissionstext, dem Bolkestein-Entwurf, herumzureiten, macht dabei eigentlich keinen Sinn
mehr.
({3})
Die grundsätzlichen Kritikpunkte sind bekannt: der Anwendungsbereich, das Herkunftslandprinzip, der Umfang der bestehenden Beschränkungen und die Kontrollmöglichkeiten vor Ort.
Nun hat der Binnenmarktausschuss des Europaparlaments am 22. November 2005 über 1 000 Änderungsanträge beraten. Mein Kollege Meyer hat eben ausführlich darüber berichtet. Am 14./15. Februar wird das
Europaparlament entscheiden. Es wird sicherlich noch
Veränderungen geben; das steht fest. Auch die Meinungsbildung im Deutschen Bundestag läuft noch. Anzunehmen ist aber, dass der Vorschlag des Binnenmarktausschusses die künftige Linie des Parlaments und
wahrscheinlich auch die der Kommission sein wird.
Die Änderungen bedeuten - ich sage das der Vollständigkeit halber -: Unser Arbeitsrecht, unser Sozialrecht
und die Anerkennung unserer Berufsabschlüsse bleiben
stehen. Auch die Entsenderichtlinie bleibt unberührt. Die
Daseinsvorsorge bleibt in unserer Hoheit. Der gesamte
Gesundheitsbereich bleibt ausgeklammert. Steuern und
internationales Privatrecht werden ausgenommen. Wir
können unsere Standards, was Sicherheit und Umwelt
angeht, einfordern. Briefkastenfirmen können die
Dienstleistungsrichtlinie nicht als Schlupfloch nutzen.
Das heißt, den Sorgen über Sozial- und Lohndumping
wurde Rechnung getragen.
Der Handlungsbedarf für eine Verwirklichung des
Binnenmarkts für Dienstleistungen ist durch etliche Urteile des EuGH bestätigt. Würde die Kommission die
Dienstleistungsrichtlinie ersatzlos zurücknehmen - wie
viele das fordern -, bestünde die Gefahr, dass all die bestehenden Probleme über Einzelklagen gegen jedes einzelne Land in jedem einzelnen Fall gerichtlich geklärt
werden. Gerichtsverfahren würden in dem Falle zunehmend zum Korrektiv der Politik. Das kann doch tatsächlich keine Lösung sein.
({4})
Die Akzeptanz der Menschen für die europäische Sache würde nochmals abnehmen. Deshalb lassen Sie uns
gemeinsam an der Verwirklichung des Dienstleistungsbinnenmarktes arbeiten!
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat nun der Kollege Kurt Bodewig, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute konnten wir lesen, dass laut Eurobarometer mittlerweile 64 Prozent der Deutschen die europäische Einigung als negative Entwicklung ansehen. Bei Themen
wie der Dienstleistungsrichtlinie manifestieren sich entsprechende Ängste. Ich glaube, wir alle sind gut beraten,
wenn wir solche Sorgen sehr ernst nehmen.
Ich will die Gelegenheit nutzen, einige Punkte klarzustellen. Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt die
Weiterentwicklung der Europäischen Union. Wir halten
diese auch im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie der Bürgerinnen und Bürger für notwendig. Wir sind aber sehr skeptisch, wenn in der Europäischen Union falsche Instrumente entwickelt und zum
Handlungsprinzip erhoben werden. Deswegen sage ich:
Wir sind für die Öffnung von Dienstleistungsmärkten,
aber gegen die Bolkestein-Richtlinie, weil damit der falsche Weg eingeschlagen wird und die Ängste in
Deutschland wie in allen anderen Mitgliedstaaten der
EU weiter verstärkt werden.
({0})
Herr Zeil, ich will kurz auf Sie zurückkommen. Sie
kennen wahrscheinlich andere kleine und mittelständische Unternehmen als die, mit denen meine Kollegen in
ihren Wahlkreisen zu tun haben. Es mag sein, dass Sie
zum Handwerk einen anderen Zugang haben. Ich kann
Ihnen nur sagen, dass die Rechtsanwälte geschützt sind.
Aber sie bilden nicht den Mittelstand. Schauen Sie sich
also die Situation sehr genau an!
Auch in Ihrem Bereich, Frau Strothmann, die Sie Präsidentin der Handwerkskammer Ostwestfalen-Lippe zu
Bielefeld sind, wird über dieses Thema sehr intensiv diskutiert. Die Unternehmen haben zum Teil sehr begründete Ängste. Es ist daher richtig, dass wir der Entbürokratisierung bei bestimmten Verfahrensweisen zustimmen,
aber nicht der Einführung von Prinzipien, die mit der
Bolkestein-Richtlinie in ihrer originären Form vorgesehen waren. Denn diese führen dazu, dass Unternehmen,
die sich an Regeln und Standards halten, unter Druck geraten. Das ist eine Form von Inländerdiskriminierung und
damit eine sehr reale Gefahr.
({1})
- Ich glaube, dass Sie sich die Berichte des Binnenmarktausschusses und der anderen Ausschüsse des EP
sehr genau anschauen sollten, bevor Sie so etwas sagen.
Auch wenn man Ausnahmen bildet, hat man nach wie
vor ein gültiges Prinzip, mit dem wir uns auseinander
setzen müssen.
({2})
Ich sage ganz klar: Keine Aushöhlung von Arbeitnehmerrechten, keine Aushöhlung von Tarifautonomie,
keine Verletzung des Tarifvertragsrechts und keine Absenkung von Standards. Ich füge hinzu: Die Proteste der
Gewerkschaften gegen die vorliegende Fassung der
Kommission und gegen bestimmte Aspekte, die in einzelnen Ausschüssen des Parlaments behandelt wurden,
sind berechtigt.
Ich will hier deutlich machen: Es geht darum, eine
klare Aussage gegen die Aushöhlung der Daseinsvorsorge zu machen. Herr Kollege Meyer, vielleicht noch
eine Ergänzung: Das Prinzip der Daseinsvorsorge ist
nicht nur von allgemeinem Interesse, sondern aus unserer Sicht natürlich auch von wirtschaftlichem Interesse.
({3})
Ich hätte kein Verständnis dafür, wenn man etwa eine
Abwasseranlage installieren will und es dafür noch nicht
einmal eine Niederlassung in Deutschland gibt. Ich
glaube, in der Diskussion haben sich die Dinge verschoben. Diese Entwicklung ist in Brüssel entstanden.
Die PDS macht es sich wie immer relativ leicht und
sagt: Wir sind dagegen. Wenn man in der Rolle der Totalverweigerung dagegen ist, kann man hinterher immer
sagen, man habe das moralische Recht. Ich glaube, das
Gegenteil ist der Fall. Sie geraten in ein moralisches Unrecht, wenn das Herkunftslandprinzip durch EuGHUrteile dauerhaft bestätigt wird.
({4})
An der Totalverweigerung, wie sie etwa im EP auf der
einen Seite bei den Rechtspopulisten, zum Beispiel bei
der Independence Party aus Großbritannien, und auf der
anderen Seite bei den Linkspopulisten, also in Teilen Ihrer Fraktion, existiert, kann man sehen, dass das Gegenteil von gut nicht immer schlecht ist. Manches ist gut gemeint und in Ihrem Fall auch taktisch. Ich halte diese
Position für höchst gefährlich. Über 30 beim EuGH anhängige Verfahren haben gute, brauchbare Anknüpfungspunkte, das Herkunftslandprinzip durchzusetzen.
Deshalb ganz klar: Wir sollten zwischen dem Zugang
zur und der Erbringung und Kontrolle der Leistung unterscheiden. Es kann nicht sein, dass die Erbringung
nach Standards anderer Länder erfolgt und Unternehmen, die hier qualifiziert ausbilden und hohe Standards
entwickelt haben - dies ist übrigens auch ein Wettbewerbsvorteil für den Standort Deutschland -, unter
Druck kommen, weil sie mit unzulässiger Konkurrenz
konfrontiert werden.
({5})
Es gibt im Deutschen Bundestag nach den Beschlüssen vom 9. Juni des letzten Jahres eine klare Position.
({6})
Auch der Bundesrat hat immerhin mit einer 16 : 0-Entscheidung gegen das Herkunftslandprinzip votiert. Ich
glaube, das ist eine Verpflichtung. Ich würde mich
freuen, wenn wir bei der Abstimmung am 13. bzw.
14. Februar im Europäischen Parlament auch die Kollegen der EVP in Gänze dafür gewinnen könnten, unseren
Vorschlägen zu folgen.
({7})
Frau Gebhardt hat mit der Unterscheidung zwischen
dem Zugang unter Anerkennung des Herkunftslandsprinzips und der Erbringung und Kontrolle nach den
Standards des Ziellands einen wichtigen Anstoß für den
Diskussionsprozess gegeben. Das entspricht der Intention des Koalitionsvertrages, also unserer gemeinsamen
Position.
({8})
Insofern bin ich sehr zuversichtlich. Es wird sich eine
Menge bewegen.
Gleichzeitig sage ich aber auch: Wir sollten die
Ängste der Menschen ernst nehmen. Die Proteste der
Gewerkschaften sind begründet. Wir müssen alles Notwendige dafür tun, dass aus Ängsten keine Realitäten
werden. Das können wir, wenn wir gemeinsam konsequent handeln. Dies dient dem Standort Deutschland.
Für Europa ist eine europäische Harmonisierung die
beste Lösung. Sie führt dazu, dass sich die Menschen
nicht hinter Gräben verschanzen, sondern zusammenkommen
({9})
und sagen: Wir wollen gemeinsame europäische Rechte
entwickeln.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/373 und 16/394 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen dann zum Tagesordnungspunkt 13:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Hans-Joachim Otto
({0}), Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die Modernisierung des Urheberrechts muss
fortgesetzt werden
- Drucksache 16/262 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist auch dies so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDPFraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Urheberrecht ist Eigentumsrecht. Der Schutz
durch das Urheberrecht ist eine wesentliche Garantie dafür, dass sich kreative Leistung lohnt. Das Urheberrecht
muss deshalb wirksam geschützt werden. Die Notwendigkeit für einen solchen Schutz besteht gerade im Umfeld der digitalen Medien.
Im Koalitionsvertrag, Herr Staatssekretär, lesen wir,
dass die große Koalition das Urheberrecht zu einem
Schwerpunkt ihrer Arbeit machen möchte. Die FDP unterstützt dies ausdrücklich. Mit unserem Antrag nehmen
wir die Koalition beim Wort; denn es gibt noch einiges
aufzuarbeiten.
({0})
Wir begrüßen, dass die Bundesregierung die Arbeiten
am so genannten Zweiten Korb - heute mit einer internen Anhörung im Justizministerium - aufgenommen
hat. Wir wollen, dass der Bundestag schnellstmöglich einen Gesetzentwurf vorgelegt bekommt, der die Rechtsstellung der Urheber und ausübenden Künstler im digitalen Umfeld wirklich stärkt.
({1})
Das Justizministerium hat Anfang des Monats den
Referentenentwurf aus der vergangenen Legislaturperiode wieder hervorgeholt. Es war nicht mehr möglich, ihn weiter zu beraten. Er hatte damals schon in
einigen Punkten heftige Kritik erfahren. Ich sage ausdrücklich: Wir begrüßen einige Regelungspunkte in diesem Referentenentwurf. Ich darf hier die Regelungen zu
den unbekannten Nutzungsarten, zum Verzicht auf Cessio legis bei den Filmherstellern und zum Pressespiegel
erwähnen.
Ich möchte aber, Herr Staatssekretär, ganz klar sagen:
Zentrale Punkte, die wir kritisieren, sind unverändert.
Das gilt etwa für die Bagatellklausel, die wir dezidiert
ablehnen.
({2})
Es ist rechtspolitisch verfehlt, rechtswidrige Vervielfältigungen in geringer Zahl von vornherein von der Strafbarkeit auszunehmen. In der öffentlichen Wahrnehmung
käme die Bagatellklausel einer faktischen Legalisierung
privater Urheberrechtsverletzungen gleich. Wenn wir
uns aber darüber einig sind, dass wir das Urheberrecht
stärken wollen, dann wäre genau dies das falsche Signal.
({3})
Niemand käme doch auf die Idee, den Diebstahl von
Büchern in geringer Anzahl für straflos zu erklären,
wenn der Täter die Bücher nur für den eigenen Gebrauch
stiehlt. Mit dieser absurd klingenden Begründung will
jetzt das Justizministerium die Schlechterstellung des
geistigen Eigentums gegenüber dem Sacheigentum
rechtfertigen.
Wir hoffen, dass es angesichts der kontroversen Debatte zu diesem Punkt innerhalb der Bundesregierung
doch noch zu einer Änderung im Entwurf kommt. Kulturstaatsminister Neumann hat sich ausdrücklich unserer
Haltung angeschlossen.
({4})
Deshalb fordere ich Sie auf: Streichen Sie diese Klausel
aus Ihrem Referentenentwurf und legen Sie uns dann
den Gesetzentwurf vor.
({5})
Ich hoffe, dass wir ansonsten eine entsprechende Korrektur mit einer Mehrheit hier im Hause vornehmen können.
Das zweite Thema unseres Antrages ist das Urhebervertragsrecht. Es wurde vor knapp vier Jahren umfassend geändert, um die Stellung der Urheber und der ausübenden Künstler zu stärken. Wir, die FDP, haben auch
in der Opposition dieses Anliegen immer unterstützt.
Wir haben aber zugleich immer zu bedenken gegeben,
dass der Gesetzgeber bei einer Beschränkung der Privatautonomie auf einem schmalen Grat wandert.
Auch die Bundesregierung hat das neue Urhebervertragsrecht seinerzeit als „juristisches Neuland“ bezeichnet. Aus diesem Grund brauchen wir einen soliden Zwischenbericht über die ersten praktischen Auswirkungen
des neuen Urhebervertragsrechts. Wir wissen: Es liegen
erste Urteile dazu - einige Verfahren sind auch noch anhängig in nächsten Instanzen - vor. Der Gesetzgeber, wir
als Parlamentarier müssen in die Lage versetzt werden,
mögliche Fehlentwicklungen rechtzeitig zu erkennen
und auch zu korrigieren.
({6})
Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, dem Bundestag einen solchen Bericht über das Urhebervertragsrecht vorzulegen. Am liebsten wäre es uns, wenn Ihnen
das bis zum Sommer gelingen würde.
({7})
Es wird gewiss eine Zeit dauern, bis sich Routine bei
der Anwendung des neuen Urhebervertragsrechts einstellt. Manche Fragen müssen durch die Gerichte geklärt
werden. Eine nachträgliche Anpassung des vertraglich
Vereinbarten durch die Gerichte muss aber auch im Urheberrecht die Ausnahme bleiben. Das neue Urhebervertragsrecht baut auf die Vernunft und den Respekt der Beteiligten vor den legitimen Interessen des jeweils
anderen. Deshalb würden weder die prinzipielle Verweigerung der einen Seite noch überzogene Forderungen
der anderen Seite dem Anliegen des neuen Urhebervertragsrechts gerecht.
Da die große Koalition dieses Thema zu einem
Schwerpunkt ihrer Arbeit macht, bin ich mir sicher, dass
jetzt auch Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, unseren Antrag in den Beratungen unterstützen werden.
Recht herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Günter Krings,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Dem Antragsteller gebührt zunächst
Dank dafür, dass er das Urheberrecht nach fast drei Jahren der parlamentarischen Abstinenz wieder einmal zum
Gegenstand einer Debatte in diesem Hohen Haus gemacht hat.
({0})
Die politische Aufmerksamkeit für dieses komplizierte
Gebiet kann gar nicht hoch genug sein; denn das geistige
Eigentum ist sowohl kulturpolitisch als auch wirtschaftspolitisch, aber nicht zuletzt auch rechtspolitisch von
höchster Bedeutung.
({1})
Wenn wir den Wohlstand unseres Landes erhalten
wollen, werden wir dies nicht allein damit erreichen
können, dass wir Kohle fördern, Stahl produzieren, uns
gegenseitig die Haare schneiden oder die Pizza nach
Hause bringen. Es sind die Köpfe, die Ideen und geistigen Leistungen der Menschen in Deutschland, die unseren Reichtum ausmachen und auf denen unsere wirtschaftlichen Chancen im 21. Jahrhundert ruhen.
({2})
Die Aufgabe der Politik ist daher nicht mehr und nicht
weniger, als geeignete Rahmenbedingungen für kreative
Leistungen, aber auch für ihre wirtschaftliche Verwertung zu schaffen.
Sosehr ich mich deshalb zunächst über den FDP-Antrag gefreut habe, so war ich beim Durchlesen der zwei
mageren Textseiten dann doch etwas enttäuscht.
({3})
Viel Neues hat der Antrag nun wirklich nicht zu bieten.
Statt inhaltlicher Aussagen verbrauchen Sie viel Tinte,
um die Chronologie des Urheberrechts aus den vergangenen Jahren nachzuerzählen.
({4})
Vielleicht war das auch nötig und aus Ihrer Sicht geboten, um den Parlamentsneulingen eine gewisse Einführung in das Thema Urheberrecht zu geben. Wenn das die
Absicht war, dann verstehe ich das natürlich.
Hinter Ihre erste und offenbar zentrale Forderung, die
Arbeiten am so genannten Zweiten Korb der aktuellen
Urheberrechtsnovelle wieder aufzunehmen, können wir
allerdings einen Haken machen. Ihrer Aufmerksamkeit
ist offenbar entgangen, dass die Arbeiten hieran längst
wieder unter Dampf stehen. Die betroffenen Verbände
haben den Referentenentwurf zur Stellungnahme erhalten. Gerade heute Morgen hat wenige hundert Meter von
hier im Bundespresseamt eine große Verbändeanhörung
dazu stattgefunden. Der Kollege Manzewski und ich waren dort zugegen und haben uns mit dem Thema noch
einmal eingehend befasst.
Umgekehrt vermisse ich im Antrag jeden Hinweis auf
die notwendige Umsetzung der Durchsetzungsrichtlinie der Europäischen Union. Diese Richtlinie fordert
die Staaten der Europäischen Union bekanntermaßen
auf, den Opfern von Verletzungen des geistigen Eigentums einen zivilrechtlichen Auskunftsanspruch zu gewähren. Auskunft erteilen muss danach insbesondere ein
Internetprovider, dessen Portal für die Rechtsverletzung
genutzt wurde. Die Einführung eines solchen Anspruchs
ist eine ebenso berechtigte wie dringende Forderung der
Urheberrechtswirtschaft. Es wird daher auch auf die genaue Ausgestaltung des Anspruches ankommen. Wenn
wir gerade nicht wollen, dass der Staatsanwalt bei allen
Urheberrechtsverletzungen tätig wird, so brauchen die
Opfer ein effektives Mittel des zivilrechtlichen Schutzes
ihrer Rechte.
({5})
Unser Verständnis als Unionsfraktion ist es jedenfalls
nicht, Eigentumspositionen nur gesetzlich zu definieren.
Ich hoffe, jetzt für das ganze Haus sprechen zu können:
Wir wollen Eigentumspositionen nicht nur gesetzlich definieren, sondern den Berechtigten auch die Mittel an die
Hand geben, sie gegenüber Störern durchzusetzen und
zu verteidigen.
Mit Ihren Ausführungen zum Urhebervertragsrecht
sprechen Sie immerhin ein vor allem für den deutschen
Buchmarkt wichtiges aktuelles Thema an. Wenn Sie allerdings laut Ihrem Antrag bis zur Jahresmitte von der
Bundesregierung Berichte haben wollen, zum Beispiel
über die bislang ergangene Rechtsprechung, den Abschluss gemeinsamer Vergütungsregeln oder über die
Bewertung der Gesetzesänderung durch die betroffenen
Kreise, so frage ich mich schon, ob Sie mit einem simplen Rechercheauftrag an den Wissenschaftlichen Dienst
nicht eher und besser etwas erreicht hätten.
({6})
Ihnen scheint es hier offenbar weniger um politische
als um Wissensfragen zu gehen. Dabei bleibt das Urhebervertragsrecht natürlich auch in der aktuellen Wahlperiode ein hochsensibles Thema. Dessen rechtstatsächliche Entwicklung müssen wir sorgfältig verfolgen. Der
Gesetzgeber hat mit dem Anspruch auf angemessene
Vergütung vor vier Jahren - Sie haben es eben zitiert,
Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger - auch nach
Aussagen der damaligen Bundesregierung gesetzgeberisches Neuland betreten. Die Frage nach der angemessenen Vergütung ist letztlich die ganz alte, aber ungelöste
Frage nach dem gerechten Preis. Den Gesetzgeber trifft
daher umso mehr die Pflicht, zu beobachten, was die
Praxis aus einer solch allgemeinen Vorgabe macht.
Wir sind als Bundestag gut beraten, auch die Sorgen
der Verlagswirtschaft bei diesem Thema ernst zu nehmen. Die jüngsten Gerichtsentscheidungen zur Frage der
Übersetzerhonorare können vor allem manch kleineren
Verlag in Bedrängnis bringen. Profitieren werden letztlich wohl eher die wenigen Übersetzer, die das Glück haben, einen Bestseller zu übersetzen.
Zu befürchten ist hingegen der Rückgang fremdsprachlicher Übersetzungen auf dem deutschen Buchmarkt. Dann könnten die Mischkalkulationen vieler Verlage untergraben werden, wonach gut verkaufte Bücher
viele unrentable Projekte mittragen müssen. Ich finde es
jedenfalls kulturpolitisch allemal sympathischer, dass
Verlage in Deutschland ihr Programm selbst quer subventionieren statt nach staatlichen Subventionen zu rufen.
({7})
Dass die Übersetzerhonorare nach der Novelle des
Jahres 2002 tendenziell steigen, kann wiederum niemanden ernsthaft überraschen. Denn immerhin hatte schon
die Begründung des Regierungsentwurfes ausdrücklich
auf die vermeintlich mangelnde Angemessenheit der
Übersetzervergütung hingewiesen. Ich würde mir aber
wünschen, dass Verlage und Übersetzer in den nächsten
Monaten noch einmal einen ernsthaften Versuch machen, zu fairen und vernünftigen Regeln zu kommen.
({8})
Bundestag und Bundesregierung sind gut beraten, diese
Bemühungen positiv zu begleiten.
({9})
Ein kurzfristiges Eingreifen der Gesetzgebung wird
es in dieser Frage daher nicht geben können. Das fordert
der Antrag der FDP - das will ich Ihnen zugestehen - zu
Recht nicht. Für den Bundestag sollte die erste Priorität
jetzt darin bestehen, den bis zum Rand gefüllten Zweiten
Korb der Urheberrechtsnovelle und die Einführung eines
Auskunftsanspruches zu einem guten Abschluss zu bringen.
Der Referentenentwurf aus dem Justizministerium
bietet eine gute Grundlage für die Beratungen. Den
Fachleuten aus den Ministerien gebührt bereits jetzt unser Dank für die hochkomplexe schwierige Arbeit, einen
gesetzgeberischen Pfad durch den Dschungel der mitunter sehr gegensätzlichen Interessen im Urheberrecht zu
schlagen. Erfreulich ist etwa, dass der Entwurf davon absieht, aus der Erlaubnis der Privatkopie ein durchsetzungsstarkes Recht auf Privatkopie zu machen. Der Referentenentwurf markiert aber natürlich nicht das Ende,
sondern den Beginn einer politischen Diskussion, die im
Bundeskabinett und dann vor allen Dingen auch hier im
Deutschen Bundestag geführt werden muss.
Das gilt insbesondere - aber nicht nur - für die so genannte Bagatellklausel.
({10})
Ich begrüße es sehr, dass unser Kulturstaatsminister
Bernd Neumann vor einigen Tagen sehr klare Worte zum
Wert des Urheberrechts im Allgemeinen, aber auch zur
Problematik dieser Klausel gefunden hat.
({11})
Diese Klausel nützt meines Erachtens niemandem so
richtig, schadet aber dem geistigen Eigentum.
({12})
Schon heute und nach geltendem Recht - das ist wichtig,
festzuhalten - klagen die Staatsanwaltschaften Urheberrechtsverletzungen zu Recht gar nicht an, wenn sie nur
ein geringes Ausmaß annehmen. Die Bagatellklausel
könnte allerdings die Rechtsunsicherheit vertiefen und
dies in einem Bereich, in dem die Grenze zwischen
Rechts- und Unrechtsbewusstsein - das wissen wir alle schon sehr verschwommen ist.
Die von Raubkopien betroffenen Unternehmen haben
in der Vergangenheit erhebliche Anstrengungen unternommen, um die Menschen für strafbare Handlungen im
Bereich des Urheberrechts zu sensibilisieren. Diese Arbeit darf der Gesetzgeber nicht konterkarieren, indem er
mit der Einführung einer Bagatellklausel bestimmte Urheberrechtsverletzungen als Kavaliersdelikt darstellt.
({13})
Das Signal wäre nämlich ebenso eindeutig wie problematisch, ja sogar falsch: Geistiges Eigentum wäre danach eben doch nicht so richtig Eigentum. Niemand
würde ernsthaft auf den Gedanken kommen, beispielsweise eine vergleichbare Bagatellklausel für den Diebstahl beweglicher Sachen zu fordern. Ein § 242 a Strafgesetzbuch zum Beispiel, der etwa den Diebstahl von
Oberhemden straffrei stellt, wenn der Täter sie anschließend selber trägt oder allenfalls an enge Freunde verschenkt, würde zu Recht als Niederlage des Rechtsstaates gewertet werden.
({14})
Es ist ganz offensichtlich und, wie ich finde, auch absolut in Ordnung, dass es innerhalb unserer großen
Koalition hierzu noch einiges zu besprechen gibt. Ich bin
zuversichtlich, dass uns eine Einigung vielleicht auch
- hören Sie gut zu - über die große Koalition hinaus gelingen kann. Auch beim Ersten Urheberrechtskorb in der
letzten Wahlperiode lagen die Positionen anfangs weit
auseinander. Aber es ist uns dennoch gelungen, zwischen Regierung und Opposition einen Kompromiss
auszuhandeln. Wir sind damit der langen parlamentarischen Tradition gefolgt, gerade im Bereich des Urheberrechts zu möglichst konsensfähigen Lösungen zu kommen. Ich will aber auch an eines erinnern: Eine Partei ist
damals ausgeschieden. Die FDP hat diese Tradition
durchbrochen und sich dafür entschieden, Profilierung
vor die Suche nach einem Kompromiss zu setzen.
({15})
Ich hoffe einmal, dass der Antrag, den Sie jetzt hier
vorlegen, nicht die Fortsetzung dieser Strategie ist. Es
wäre schon wichtig, dass wir gemeinsam den Versuch
starten, einen sachgerechten Kompromiss zu finden.
({16})
Ich gestehe Ihnen freimütig zu: Es ist ein gut gemeinter
Antrag. Nur leider wissen wir alle, dass gut gemeint oftmals das Gegenteil von gut ist.
Danke schön.
({17})
Ich erteile das Wort der Kollegin Frau Dr. Lukrezia
Jochimsen, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Auch
die Fraktion Die Linke begrüßt den gut gemeinten Antrag der FDP und stimmt den darin genannten Argumenten größtenteils zu. Das Urheberrecht muss modernisiert
werden - keine Frage. Allerdings: Geistiges Eigentum
im digitalen Zeitalter zu schützen, lässt sich natürlich
leicht fordern, ist aber nur äußerst schwer durchzusetzen
in einem Land, in dem über 40 Prozent der Haushalte
über einen CD- und DVD-Brenner und 60 Prozent der
Bürger über einen Internetzugang verfügen.
Wofür sind wir? Wir sind für ein Recht auf Privatkopie
({0})
- ja, natürlich -, wohlgemerkt zum privaten, nicht zum
gewerblichen Gebrauch. Aber was machen wir angesichts des massenhaften Kopierens zu nicht gewerblichen Zwecken, das es ja auch gibt? Wir wollen die Millionen Kinder und Jugendlichen, die das tun, nicht
kriminalisieren. Aber es muss etwas geschehen, wenn
sie massenhaft auf CDs oder DVDs kopierte Musik und
Filme nutzen und weitergeben; denn wir sind natürlich
gegen den Diebstahl geistigen Eigentums. Wir wollen,
dass Künstlerinnen und Künstler, Autorinnen und Autoren sowie Übersetzerinnen und Übersetzer eine angemessene Vergütung für ihre Werke bekommen.
Mit einem kommen wir dabei auf keinen Fall weiter:
mit der Einführung einer Bagatellklausel.
({1})
Sie würde genau das schwächen, was unsere Gesellschaft dringend braucht: das Rechtsbewusstsein, welches geistiges Eigentum respektiert und es nicht zu einem x-beliebigen Schnäppchen degradiert, welches man
sich jederzeit zum Nulltarif besorgen kann.
({2})
Das Beispiel mit den Hemden wurde bereits angesprochen. Dem könnte ich hinzufügen: Dann könnten wir
auch gleich „Ladendiebstahl unter 20 Euro“ legalisieren.
Mit der Einführung einer Bagatellklausel kommen wir
hier auf keinen Fall weiter.
Die Novelle des Urhebervertragsrechts aus dem
Jahr 2002 war ein erster Schritt, die verfassungsrechtlich gebotene angemessene Vergütung der Urheber
durchzusetzen.
({3})
Die PDS hat diesem Gesetzentwurf zugestimmt, vor allem deshalb, weil in ihn auch der Rechtsanspruch auf angemessene Vergütung aufgenommen worden war.
In einem Entschließungsantrag haben wir damals
weiter gehende Forderungen aufgestellt. Wir hatten
nämlich Zweifel daran, dass es zwischen Urhebern und
Verwertern tatsächlich zu einem fairen Interessenausgleich kommen würde. Die Entwicklung hat gezeigt,
dass unsere Zweifel vollkommen berechtigt waren. Unser Entschließungsantrag wurde damals übrigens abgelehnt.
({4})
Nun muss ein Ordnungsrahmen geschaffen werden,
der Kreativität und Innovation fördert und damit zum Erhalt und Wachstum unserer nationalen und der europäischen Kunst beiträgt. Wir meinen, dass eine Stärkung
der Rechte und Wirkungsmöglichkeiten der Kunstschaffenden dringend notwendig ist, wobei die öffentliche
Zugänglichkeit ihrer Werke natürlich gewährleistet bleiben muss. Dabei sind wir uns im Klaren, dass es ohne
Verwerter nicht möglich ist, für die öffentliche Zugänglichkeit der Werke zu sorgen. Aber in seinem Kern muss
ein Urheberrecht ein Recht für die Urheber bleiben und
kein Recht für die Verwerter sein. Der Staat darf sich
nicht für die Durchsetzung der Partikularinteressen der
Medienindustrie, der Entertainmentkonzerne und der
Computer- und Druckerhersteller einspannen lassen.
({5})
In diesem Sinne hoffen wir auf eine gründliche Diskussion mit allen Beteiligten und unterstützen insbesondere die Forderung nach einer bilanzierenden Berichterstattung über die Folgen der jetzigen Regelung.
Danke schön.
({6})
Für die Bundesregierung hat nun der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrtes Präsidium! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich rede heute für das Bundesjustizministerium und möchte gleich vorweg eines sagen: Da ich möchte, dass der Konsens aller fünf
Fraktionen bestehen bleibt, verzichte ich auf eine Bewertung dessen, was bisher gesagt worden ist; denn ich
glaube, das ist besser.
({0})
Verehrte Frau Leutheusser-Schnarrenberger, dem Antrag, den die FDP-Fraktion eingebracht hat, können wir
allerdings nicht zustimmen.
({1})
Ich will auch begründen, warum: Erstens. Wenn Sie die
letzten Jahre einmal an sich vorüberziehen lassen und
sich erinnern, werden Sie feststellen, dass die Bundesregierung wiederholt in verschiedenen Ausschüssen des
Deutschen Bundestages über die Arbeiten am Referentenentwurf zum so genannten Zweiten Korb des Urheberrechts berichtet hat. Wir haben diesen Entwurf allerdings nicht mehr ins Kabinett gebracht, weil ab Mai
Wahlkampf war und wir eben eine konsensfähige Entscheidung wollten; wir wollten ihn uns nicht im Wahlkampf zerreden lassen.
({2})
Selbstverständlich ist und bleibt die zügige Modernisierung des Urheberrechts das Ziel dieser BundesregieParl. Staatssekretär Alfred Hartenbach
rung; das haben wir ja gesagt. Ich kann mich jetzt sehr
kurz fassen, weil Herr Krings bereits etwas dazu gesagt
hat und vermutlich auch Herr Manzewski noch etwas
dazu sagen wird. Heute hat eine Anhörung stattgefunden, die genau in diese Richtung weist. Ich denke, wir
alle werden zu einer vernünftigen Regelung kommen.
({3})
Deswegen ist Ihre Aufforderung, dass wir etwas tun sollen, völlig überflüssig, so überflüssig wie ein Kropf;
wieder einmal tragen Sie Eulen nach Athen.
({4})
- Seien Sie nicht so neugierig, Herr Koppelin.
({5})
Kommen wir zum nächsten Punkt, zum Urhebervertragsrecht. Es ist richtig, dass wir mit dem Urhebervertragsrecht etwas Neues gemacht haben: Wir wollten vor
allen Dingen, dass die Vertragsparteien nicht irgendwo
eine starre Gebührentabelle haben, wie wir das von den
Architekten und den Anwälten kennen, sondern dass sie
die Honorare aushandeln, dass die Kreativen eine gerechte Entlohnung bekommen - aber auch die Verlage
haben ihr Existenzrecht. Nur so können wir Kultur und
Kunst in Deutschland am Leben erhalten. Für die Belletristik ist eine einvernehmliche Regelung ja bereits gelungen. Zurzeit verhandeln Übersetzer und Verleger miteinander und sie haben bekundet, dass auch sie nach wie
vor an einer einvernehmlichen Lösung interessiert sind.
Deshalb bieten wir an, wenn es gewünscht wird, wieder
als Mediator aufzutreten, wie wir das als Bundesministerium der Justiz schon einmal getan haben.
Aber schon jetzt, nach einer so kurzen Zeit, zu evaluieren, ergibt keinen Sinn. Dann würden wir möglicherweise die eine Seite bevorzugen, was die Konsensfähigkeit, die wir wollen, wieder konterkarieren würde.
Sie haben uns aufgefordert, auf europäischer Ebene
für die Stärkung eines Urheberrechts einzutreten. Verehrte Frau Kollegin, das ist so selbstverständlich, dass
wir dazu nicht erst aufgefordert werden müssen.
({6})
Wir können höchstens sagen: Wir unterstützen die Bundesregierung sehr gern.
Ein Letztes. Unser Altmeister Hucko, Ministerialdirektor und langjähriger Abteilungsleiter, hat einmal gesagt: Das Urheberrecht ist eine ewige Dombaustelle. Wir wollen doch etwas erreichen. Dann fordere ich Sie
alle auf: Fühlen Sie sich als Dombaumeister! Ich will Ihnen gerne dabei helfen.
Vielen Dank.
({7})
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Jerzy
Montag, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Dr. Krings, nicht alles, was Sie gesagt haben, verdient und bekommt meine
Unterstützung. Aber da, wo Sie Recht haben, sage ich
aus vollem Herzen und gerne: Ja, richtig!
Zu dem Antrag der FDP, über den wir heute zu diskutieren haben, ist zu sagen: Er ist zu 50 Prozent überholt,
weil die Bundesregierung schon gemacht hat, was Sie
hier einfordern; sie hat die Arbeit bereits aufgenommen.
({0})
Es ist der jetzigen Koalition leicht gefallen, das zu tun,
weil sie auf gute und weit reichende Vorarbeiten der alten Regierung, von Rot-Grün, hat zurückgreifen können.
Die andere Hälfte Ihres Antrags ist eine Aufforderung.
Dazu ist ja schon gesagt worden: Das hätte man auch mit
einer schlichten Abfrage machen können.
Aber nutzen wir die Gelegenheit, einmal über das Urheberrecht zu reden und weisen wir darauf hin, dass das
Urheberrecht nicht nur die eine Seite im Blick haben
kann, nämlich die Urheber von geistigem Eigentum:
Wissenschaftler, Künstler, Schauspieler, Übersetzer oder
wen auch immer. Sie alle schaffen geistiges Eigentum
doch aus dem Grund, damit andere daran teilhaben können. Sie schaffen es für die Nutzer, für die Konsumenten, für die Rezipienten ihrer Werke.
Zwischen diesen beiden Seiten stehen die wirtschaftlich Mächtigen: die Verwertungsgesellschaften und die
große Geräteindustrie, die die Mittlergeräte bereitstellt.
Meine Damen und Herren von der FDP, Ihr Antrag
krankt daran, dass Sie bei der Gestaltung des Urheberrechts nach Ihren Vorstellungen den Nutzer von geistigem Eigentum überhaupt nicht im Blick haben. Er ist
nicht Bittsteller auf dem Markt, sondern muss in einer
modernen Wissensgesellschaft auch eine Rechtsposition
haben. Ich will hierzu nur einen Satz aus Ihrem Antrag
zitieren. Sie schreiben:
Auch bei der künftigen Weiterentwicklung und Modernisierung des Urheberrechts müssen die Interessen der Urheber und Leistungsschutzberechtigten
deshalb stets im Zentrum der rechtspolitischen
Überlegungen stehen.
Ich sage Ihnen: Nein, das reicht nicht aus. Auch diejenigen, die die Werke rezipieren, diejenigen, für die die
Werke gemacht werden, müssen Rechte haben.
In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass
im vorliegenden Referentenentwurf in einem Punkt Verbesserungsbedarf besteht - das werden wir in den Beratungen noch zur Sprache bringen -: Im Ersten Korb haben wir, und zwar einvernehmlich bis auf die FDP, die
Privatkopie - damit meine ich nicht die illegale Raubkopie - als eine erlaubte Kopie rechtlich ausgestaltet.
({1})
- Aber selbstverständlich. Sie kennen das Gesetz nicht.
Sie haben an der Arbeit offensichtlich nicht mitgewirkt.
Wir haben die Privatkopie im Urheberrecht ganz klar
als eine legale Kopie definiert. Nun müssen wir in der
digitalen Welt auch dafür sorgen, dass das durchgesetzt
werden kann und dass die Menschen das Recht nicht nur
auf dem Papier bekommen.
({2})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Otto?
Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage. Herr Kollege
Otto, wir werden darüber noch in den Ausschüssen zu
reden haben.
({0})
Deswegen ist es wichtig, dass die Bundesregierung
und die große Koalition bei der Bagatellklausel bleiben.
Hier habe ich Befürchtungen und Hoffnungen gleichermaßen. Wir müssen uns darüber klar werden, was damit
tatsächlich gemeint ist: Darunter fällt nicht die massenhafte Herstellung von Raubkopien, sondern die Herstellung von Kopien durch Kinder, Jugendliche und junge
Menschen, die eine andere Beziehung zu CDs haben.
Wir Grünen wollen nicht, dass die Polizei und die Staatsanwaltschaften auf die Schulhöfe gehen und dort mit
dem Mittel des Strafrechts agieren. In diesem Fall bedarf
es anderer Mittel.
Wir werden uns in den Ausschüssen darüber noch zu
unterhalten haben. Ich glaube, meine Damen und Herren
von der CDU/CSU, dass wir auch in diesem Punkt zum
Schluss einen guten Kompromiss finden werden. An uns
soll es jedenfalls nicht scheitern.
({1})
Nun hat das Wort für die SPD-Fraktion der Kollege
Dirk Manzewski.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um es
gleich vorweg deutlich zu sagen: Herr Kollege Otto, ich
habe relativ wenig Verständnis für den heute hier debattierten Antrag der FDP-Fraktion.
({0})
Von Ihnen wird die weitere Modernisierung des Urheberrechts angemahnt. Dabei weiß die FDP doch ganz genau, dass die Arbeiten hierzu kurz vor dem Abschluss
stehen. Bereits Ende der letzten Legislaturperiode lag
der erste Referentenentwurf vor. Wäre es nicht zu der
vorgezogenen Bundestagswahl gekommen, stünden wir
vermutlich kurz vor der Verabschiedung des Gesetzes.
Herr Kollege Otto, die neue Bundesregierung hat dieses Gesetzgebungsverfahren zügig aufgegriffen - das
muss man positiv werten - und den ersten Referentenentwurf überarbeitet. Auch dieser zweite Referentenentwurf ist den Fraktionen bereits zugegangen.
Es ist schon angesprochen worden, dass im Bundespresseamt vor einigen Stunden die letzte große
Verbandsanhörung hierzu endete. Frau Kollegin
Leutheusser-Schnarrenberger, anstatt Anträge zu stellen, hätte man vielleicht die Angebote, die das BMJ an
uns alle gerichtet hat, annehmen sollen. Dann wäre man
nämlich hervorragend über den Stand des Gesetzgebungsverfahrens informiert gewesen.
({1})
Ich gehe davon aus, dass es in Kürze zu Ressortabstimmungen kommen wird und dass der Entwurf in
Kürze auch dem Kabinett vorgelegt wird.
({2})
Da das alles der FDP bekannt ist, kann ich die Kritik
überhaupt nicht nachvollziehen - dies umso weniger, als
man ganz genau weiß, wie komplex das Thema Urheberrecht ist und wie vielfältig die Interessen der Beteiligten
sind. Auch deshalb halte ich persönlich gar nichts davon,
jetzt einen Einzelpunkt wie die Bagatellklausel herauszugreifen und hier zu debattieren.
({3})
Das wird sicherlich ein Streitpunkt sein, über den wir
später intensiv diskutieren müssen.
Auch ich habe meine Bedenken, ob es immer richtig
ist, die Probleme auf die Justiz zu schieben, anstatt gesetzgeberisch konsequentere Lösungen zu suchen. Ich
meine aber, dass wir dieses Problem im Gesamtkontext
behandeln müssen. Deshalb gehört dieser wichtige
Streitpunkt auch zu der umfassenden Diskussion über
den so genannten Zweiten Korb und nicht hierhin. Sie
mögen dann Ihre entsprechenden Anträge stellen.
Soweit die FDP mit ihrem Antrag quasi eine Evaluierung des Urhebervertragsrechts begehrt, sind die Gründe
dafür für mich nun wirklich nicht ersichtlich. Zumindest
meine ich, dass ein solcher Antrag verfrüht ist.
Als wir das Urhebervertragsrecht geschaffen haben,
waren wir uns alle darin einig, dass die Entlohnung der
Urheber angemessen zu sein hat. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, dass die FDP damals eine andere Auffassung vertreten hat. Durch § 36 Urhebergesetz haben wir es den Beteiligten freigestellt - der Herr
Staatssekretär hat es deutlich gemacht -, sich zusammenzusetzen und entsprechende gemeinsame Vergütungsregeln als Indiz für eine solche Angemessenheit
aufzustellen. Das macht auch Sinn, da die entsprechenden Leistungen derart vielschichtig und vielseitig sind,
dass sich der Gesetzgeber insoweit tunlichst heraushalten sollte.
Leider haben es die Verbände in der Folgezeit zunächst nicht geschafft, hier auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Erst mithilfe des BMJ als Mediator ist
es im letzten Jahr zumindest zwischen den Autoren und
den Verlagen der Belletristik zu einer einvernehmlichen
Lösung gekommen. Diese Vorgehensweise soll, soviel
ich weiß, auch zwischen den Verlagen und den Übersetzern angedacht sein. Schon deshalb kommt Ihr Antrag
etwas zu früh.
({4})
Kollege Otto, selbst wenn wir als Gesetzgeber solche
Vergütungsregeln festsetzten, würden sie nicht vor Gerichtsverfahren schützen. Wenn man sich Ihren Antrag
genau durchliest, erkennt man, dass genau diese Kritik
darin enthalten ist. Wenn sich ein Autor oder ein Übersetzer trotz gemeinsamer Vergütungsregeln unterbezahlt
fühlt, kann er dies gleichwohl gerichtlich klären lassen.
Das war bereits vor In-Kraft-Treten des Urhebervertragsrechts so - das müssten Sie eigentlich wissen - und
wird auch immer so sein. Wenn die Gerichte in einigen
Fällen in der Vergangenheit festgestellt haben, dass die
beanstandete Entlohnung im Einzelfall nicht angemessen gewesen ist, sollten die Verlage dies nicht einfach
monieren, sondern sich einmal Gedanken darüber machen, ob sie ihren Übersetzern in dem einen oder anderen Fall nicht vielleicht doch zu wenig gezahlt haben.
Ich habe in den streitbefangenen Fällen, die ich alle
durchgearbeitet habe, nicht den Eindruck erlangt - den
Bereich der Nebenrechte nehme ich einmal aus, da ich
hier eine etwas andere Auffassung vertrete als die derzeitige Rechtsprechung -, dass die Verlage durch diese
Entscheidung überobligatorisch belastet worden sind. Im
Übrigen - Sie haben es selbst angesprochen - liegen
meines Wissens bislang nur erstinstanzliche Entscheidungen vor. Ich meine, wir sollten ruhig abwarten, bis
sich eine gefestigte Rechtsprechung herausgebildet hat.
Ich gehe nicht davon aus, dass die Justiz damit große
Probleme hat, weil das ihren originären Bereich betrifft.
Alles in allem sehe ich derzeit keinen Handlungsbedarf. Wir werden Ihren Antrag deshalb zurückweisen.
Ich danke Ihnen.
({5})
Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/262 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Koczy,
Thilo Hoppe, Undine Kurth ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für starke soziale und ökologische Standards
in der Internationalen Finanz-Corporation
({2}) der Weltbank
- Drucksachen 16/374, 16/466 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernward Müller ({3})
Hellmut Königshaus
Michael Leutert
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Gabriele Groneberg, SPD-Fraktion.
({4})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich könnte fast genauso anfangen wie der
vorherige Redner. Ich habe vom Grundsatz her Verständnis für den vorliegenden Antrag der Fraktion von
Bündnis 90/Die Grünen, weil es für die jetzige Oppositionsfraktion natürlich verführerisch ist, die Beschlüsse
des Bundestages der letzten Wahlperiode, die wir zusammen gefasst haben, zu nehmen und daraus einen neuen
Antrag zu formulieren, um das Ganze zu toppen. Ich
muss aber ganz ehrlich zugeben, dass mein Verständnis
da auch schon aufhört. Bei den Inhalten stellt man nämlich fest, dass die Forderungen in weiten Teilen bereits
erfüllt sind oder sich auf Befürchtungen beziehen, die
sich in der vorangegangenen Diskussion als nicht stichhaltig erwiesen haben, weil sie durch entsprechendes
Handeln widerlegt worden sind.
Einig sind wir uns sicherlich insoweit, als das oberste
Ziel der IFC als Teil der Weltbankgruppe die Armutsbekämpfung durch Förderung einer nachhaltigen Entwicklung sein soll. Dies ist ausdrücklich als Ziel der IFC
definiert worden; denn die Überarbeitung der Umweltund Sozialstandards, der Safeguard-Policies, um die es
hier geht, soll dazu beitragen, eine bessere Orientierung
zur Entwicklungspolitik zu erreichen.
Einig sind wir uns sicherlich auch insoweit, als eine
Überarbeitung der sozialen und ökologischen Standards,
ebendieser Leitlinien, zwingend notwendig ist.
({0})
Gerade weil es in der Vergangenheit von den unterschiedlichsten Seiten Kritik an den Safeguard-Policies
gegeben hat, gerade weil man bei der Weltbank und
ihren Töchtern erkannt hat, dass eine bessere Balance
zwischen ökologischen, ökonomischen und sozialen
Zielsetzungen herzustellen ist, ist eine Neufassung der
Safeguards so wichtig. Selbstverständlich muss man
sehr wohl darauf achten - Frau Koczy, da sind wir uns
einig -, dass man nicht hinter das bisher verbindliche
Regelwerk für die Projekte der IFC zurückfällt.
Das strategische Rahmenwerk, das hier entwickelt
wird, soll die alten Safeguards ersetzen. Nach breit angelegten Konsultationsprozessen werden die bisherigen
Entwürfe des Rahmenwerkes überarbeitet. Der dritte
und endgültige Entwurf wird vermutlich erst Ende Februar vorliegen.
({1})
Wir haben gestern im Ausschuss darüber gesprochen,
dass wir uns dann mit diesem Entwurf ausführlich beschäftigen werden.
Selbstverständlich haben wir uns bereits mit der
Überarbeitung der bisherigen Richtlinien befasst. Es
ist ja nicht so, als wären sie vom Himmel gefallen. Bereits im Jahre 2004 haben wir uns mit dem von der Weltbank in Auftrag gegebenen Untersuchungsbericht zur
Wirksamkeit von Projekten der Weltbank im Bereich
Rohstoff- und Energiepolitik auseinander gesetzt.
({2})
Die Ergebnisse unserer Beratungen haben wir in einem
Beschluss des Bundestages festgehalten, den wir gemeinsam gefasst haben. Die damit verabschiedeten Forderungen sind auch für unsere Beratungen zu den neuen
Richtlinien aktuell und nicht etwa überholt; sie gelten
nach wie vor.
({3})
- Frau Koczy, Sie wissen doch ganz genau, dass unsere
Positionen im laufenden Diskussionsprozess eingebracht
worden sind.
({4})
- Natürlich hat es etwas genützt; das können wir doch
feststellen. Ich werde Ihnen das gerne noch einmal erläutern.
Uns und bestimmt auch Ihnen - es ist ja nicht so, dass
nur wir diese Informationen bekommen; auch Sie werden sie erhalten haben - liegen zu den kritischen Punkten, die Sie vorgetragen haben, schriftliche Aussagen des
BMZ und des deutschen Vertreters bei der Weltbank,
Herrn Eckhard Deutscher, vor, die Ihre Befürchtungen
entkräften. Demnach sind bei den Beratungen der IFC
folgende Punkte vom BMZ und von Herrn Deutscher als
unabdingbar deutlich gemacht worden - ich will sie kurz
nennen, weil dadurch deutlich wird, worum es geht -:
Erstens. Die allgemeine Konsistenz von IFC- und
Weltbank-Safeguards muss sichergestellt bleiben und es
darf kein Absenken der Standards erfolgen. Die Standards - darin sind wir uns einig - müssen sozial und
ökologisch ausgewogen sein.
Zweitens. Die im Rahmen des Extractive Industries
Review vereinbarten Empfehlungen müssen Berücksichtigung finden.
({5})
Darin sind wir uns ebenfalls einig.
Drittens. Bei den Fragen der Umsiedlung und Kompensation muss weiterhin das Prinzip gelten, dass dadurch kein Betroffener schlechter gestellt wird.
({6})
Auch darin sind wir uns einig.
Viertens. Durch explizite Bezugnahme auf einschlägige internationale Abkommen und Konventionen sollen
Definitionen präzisiert und internationales Recht gestärkt werden. Auch dagegen ist nichts einzuwenden.
Fünftens. Die Umsetzungsvorschriften zu den Performance-Standards müssen eindeutige Definitionen und
Benchmarks enthalten. Auch dagegen ist nichts zu sagen.
Ich stelle deshalb fest: Wir alle wollten einen Revisionsprozess. Die neue Bundesregierung setzt sich massiv dafür ein, dass das neue strategische Rahmenwerk
eine positive Weiterentwicklung der alten Safeguards
sein wird. Insofern kann ich Ihre Sorge nicht teilen, liebe
Frau Koczy, dass zum Beispiel die Änderung, die Umwelt- und Sozialverträglichkeit von vornherein als Zielvorgabe zum überprüfbaren Bestandteil von Projekten
zu machen, statt sie wie bisher durch Auflagen sicherzustellen, zwangsläufig dazu führen wird, Standards im sozialen und ökologischen Bereich zu schleifen.
Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass es jetzt offensichtlich erstmalig gelingen wird, im Performance-Standard Nr. 2 „Labor and Working Conditions“ einschlägige ILO-Konventionen zu verankern. Das war bisher
nicht gegeben. Ich frage mich, wie Standards verwässert
werden können, wenn bei der Berücksichtigung der
Rechte indigener Bevölkerung im Performance-Standard Nr. 5 Entschädigungen auch für Personen vorgesehen werden, die keinen Landtitel vorweisen können?
Diese Befürchtung haben Sie in unserer gestrigen Diskussion vehement zum Ausdruck gebracht.
Ebenso unberechtigt finde ich Ihr tiefes Misstrauen
gegenüber der Privatwirtschaft. Warum soll nicht auch
der Investor eine umfassende Abschätzung und Überprüfung im Hinblick auf soziale und umweltrelevante Belange vornehmen? Sicherlich muss man dann - das ist
doch der Knackpunkt - bei der Überprüfung dessen, was
er vorgelegt hat, durchaus kritisch vorgehen. Bei dieser
Überprüfung, die anschließend durch das IFC erfolgt
- das ist doch sichergestellt - muss darauf geachtet werden, dass das Vorhaben auch anständig ist.
({7})
Wie im Übrigen auch Herrn Trittin bekannt ist, sind
bei Bauprojekten in Deutschland ähnliche Verfahrensweisen üblich. Der Investor legt Unterlagen zur Prüfung
vor und muss gegebenenfalls noch einmal nacharbeiten.
({8})
Ich frage mich allen Ernstes, ob Sie wollen, dass so
hohe Hürden für Projekte errichtet werden, dass sie sich
für einen Investor wirtschaftlich nicht mehr lohnen. Das
könnte durchaus passieren.
({9})
Ich gebe Ihnen zwar Recht, Frau Koczy, dass die Prüfung durchaus zum Drahtseilakt werden kann, aber dann
muss eben eine Abwägung unter Berücksichtigung aller
Interessen erfolgen.
Dass hier Rolle und Verantwortlichkeiten zwischen
der IFC und dem Kunden klar definiert und getrennt
werden, kann ich nicht als negativ empfinden. Wichtig
ist in jedem Fall - das will ich gern noch einmal betonen - die kritische Überprüfung der eingereichten Analysen. Ich denke, die klarere Trennung der Verantwortlichkeiten wird dabei hilfreich sein.
Die Einführung des Development-Impact-Reporting, des jährlichen Berichts über den Entwicklungsbeitrag der IFC-Aktivitäten, ist positiv zu bewerten. Ich
denke, dieser Bericht wird zukünftig von allen interessierten Seiten mit großer Aufmerksamkeit zur Kenntnis
genommen werden und die notwendige Transparenz
schaffen.
Im Übrigen teile ich nicht Ihre Auffassung, dass der
von Ihnen vorgelegte Antrag eine Konkretisierung oder
Präzisierung - wie auch immer - des damals von uns gemeinsam erarbeiteten Antrags zur nachhaltigen Rohstoff- und Energiepolitik der Weltbank darstellt. Da liegen wir nicht auf einer Linie.
Ihr Antrag ist im Prinzip als erledigt zu betrachten. Es
wird Sie deshalb sicherlich nicht wundern, dass wir ihn
ablehnen.
Danke schön.
({10})
Das Wort hat nun der Kollege Hellmut Königshaus,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit
April 2003 überarbeitet die IFC ihre Sozial- und Umweltstandards. In diesen fast drei Jahren hat die Weltbanktochter mit Umweltaktivisten, Menschenrechtsgruppen und Gewerkschaften, aber auch mit ihren
Partnern, den Banken, Investoren und Verbänden, gesprochen und die Standards diskutiert.
Der Diskussionsprozess wurde in aller Breite öffentlich geführt. Die IFC und alle Gremien waren daran interessiert, dass er auch von politischer Seite begleitet
wurde. Der Termin, bis zu dem Vorschläge erbeten waren, war der 25. November 2005. Nun kommt eine Woche, bevor die Ergebnisse des Diskurses bekannt gegeben werden sollen, aber nach dieser Frist, eine
Ideensammlung der Grünen. Wenn man polemisch sein
wollte, würde man sagen: Guten Morgen, liebe Freundinnen und Freunde! Schön, dass Sie aufgewacht sind!
Darauf hat die Welt gewartet.
({0})
Wieso kommen Sie erst jetzt mit Ihren Vorschlägen?
Sie waren doch all die Jahre in der Regierung. Warum
haben Sie dort nicht damals das umgesetzt, was Sie jetzt
so ausdrücklich fordern? Wir sind offenbar fraktionsübergreifend - zu diesem Schluss kommt man, wenn
man sich an die Ausschussberatung erinnert - der Auffassung, dass wir Ihrem Antrag nicht folgen sollten. Wir
wollen erst einmal abwarten, was der dritte Entwurf
bringen wird.
({1})
- Natürlich warten wir. - In ihm werden Standards beispielsweise in den Bereichen Soziales, Umwelt und Arbeitsbedingungen - ich will nicht alle aufzählen; das ist
nur eine Auswahl - und in einem ergänzenden Papier die
entsprechenden Sanktions- und Überwachungsmöglichkeiten beschrieben. Warum wollen Sie also vorab draufsatteln, abgesehen davon, dass sich niemand darum
kümmerte, was wir jetzt beschließen würden, wenn wir
es denn täten?
Ich vermute Folgendes: Die IFC fördert und finanziert vor allem privatwirtschaftliche Investitionen in
Entwicklungsländern. Ich glaube, dass das der eigentliche Grund ist, warum Sie noch einmal draufsatteln wollen. Ihnen ist das Ganze schon aus ideologischen Gründen suspekt. Jedenfalls hat man den Eindruck, dass es
Ihnen nicht darum geht, in der Sache voranzukommen,
sondern darum, die Arbeit der IFC zu erschweren. Sie
wollen mehr Bürokratie, obwohl wir gerade in diesem
Bereich eine Entbürokratisierung bräuchten. Genau das
ist das Problem: Überbürokratisierung und Aufblähung
der Apparate. Das, was Sie wollen, ist nichts anderes als
ein Beschäftigungsprogramm beispielsweise für Consultants und Anwälte. Dann kann man gleich eine Behörde
schaffen, die gängelt, überprüft und überwacht. Ich habe
den Eindruck, dass Sie, die Grünen, die privaten Anleger
und Investoren mehr überwachen wollen als unsere Partner in der Bundesregierung und bei den Nachrichtendiensten.
({2})
- Wieso ist das eine Unverschämtheit? Sie wollen keinen Untersuchungsausschuss, wohl aber, wie wir gehört,
Coca-Cola zunehmend strengeren Assessments unterwerfen. Erledigen Sie hier erst einmal Ihre Aufgaben!
Verstehen Sie eigentlich nicht, dass gerade die privaten Investitionen in den Entwicklungsländern von besonderer Bedeutung sind?
({3})
Denn gerade diese sind es doch, die dauerhafte Arbeitsplätze schaffen, die Menschen in Lohn und Arbeit bringen sowie einen sozialen Aufstieg ermöglichen.
({4})
Die privaten Investitionen dürfen nicht behindert, sondern müssen gefördert werden.
Es ist beinahe unverantwortlich, dass Sie nun auch
noch die Nutzung der innovativen Technologien in
den Entwicklungsländern einschränken und Ihren Standards, die ja nicht denjenigen der Entwicklungsländer
entsprechen, unterwerfen wollen. Vor allem das von Ihnen geforderte Verbot der grünen Gentechnik ist im Hinblick auf die Entwicklungsländer abwegig.
({5})
Die EU hat sich ja um die betreffenden Fragen schon gekümmert. Sicherlich wird uns das in Europa noch einiges bescheren. Auch das ist auf Ideologie zurückzuführen. Aber Ideologie muss man sich leisten können. Ich
glaube, dass die Entwicklungsländer das nicht können.
Wir lehnen Ihren Antrag ab. Kehren Sie zur Sacharbeit zurück und hören Sie auf, draufzusatteln!
Danke schön.
({6})
Das Wort hat nun der Kollege Bernward Müller,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fordert in
ihrem Antrag die Einführung stärkerer sozialer und ökologischer Standards bei der Internationalen Finanzgesellschaft, der IFC, einem Tochterunternehmen der Weltbank.
Da meine Kollegin Groneberg schon auf bestimmte
Kritikpunkte eingegangen ist, die Sie gestern im Ausschuss angesprochen haben, habe ich nun die Möglichkeit, einige andere Aspekte in den Focus zu bringen. Einerseits möchte ich meine Sorge darüber zum Ausdruck
bringen, wie Sie gestern - das machen Sie sicherlich
auch nachher - diesen Antrag vorgetragen und begründet haben, um nicht zu sagen, mit welcher „Urgewald“
Sie zu Werke gegangen sind. Urgewalt kann man mit d
oder t schreiben; Sie wissen, was ich meine.
({0})
Das läuft meiner Ansicht nach alles wieder nach dem alten Schema ab: Sie zeichnen ein Horrorbild, Sie schüren
Ängste, Sie schüren Misstrauen und dann kommen Sie
mit Ihren Lösungen. Die Lösungen heißen einfach immer: mehr Kontrolle, mehr Staat, mehr Aufwendungen
für die Unternehmen, letztendlich auch teurere Aufwendungen.
({1})
Eines muss ich Ihnen sagen - Herr Kollege Trittin ist
ja auch da -: Wir haben auf nationaler Ebene bereits erlebt, dass diese Wege nicht zu Lösungen führen. Denken
wir an das Beispiel Ökoaudit. Wir haben das Ökoaudit
in Deutschland eingeführt und waren in Europa, was die
Teilnehmerzahl angeht, das führende Land. Die Teilnehmerzahl hat sich erheblich reduziert - das lässt sich
nachweisen -, als für die Unternehmen der Eindruck entstand, dass es zu einer zusätzlichen Belastung und zu
keiner Entlastung bei der Kontrolle kommt. Somit hatten
wir nicht ein Mehr an Ökologie, sondern letztendlich
eine Flucht aus der Ökologie bzw. eine Flucht in niedrigere Standards. Ich denke, das wollen auch Sie nicht.
Das wollen wir alle nicht.
({2})
Ich habe zum anderen auch die Gelegenheit, hier einige Aspekte unserer entwicklungspolitischen Arbeit,
der Arbeit der Fraktionen und der Bundesregierung, darzulegen. Unser Ziel ist es, die Wirksamkeit der deutschen Entwicklungspolitik zu steigern. Dazu gehört auch
eine effizientere Gestaltung der bi- und multilateralen
Organisationsstrukturen und Instrumente. Zur Verbesserung der kooperativen Bewältigung der globalen Herausforderungen wollen wir die Weiterentwicklung internationaler Einrichtungen und weltweit gültiger Regelwerke
voranbringen. Dazu gehört auch, dass die Reformen der
Institutionen der Weltbank fortgesetzt werden.
({3})
Ende der 90er-Jahre hat die Weltbank angefangen,
neue ökologische und soziale Standards und neue Prüfverfahren einzuführen. Diese Politik soll Umwelt und
Menschen und, weil Sie gerade die indigenen Völker ansprachen, auch das Naturerbe vor Zerstörung und den
Auswirkungen von Projekten schützen, die in den 80erJahren berechtigte Kritik hervorgerufen haben.
({4})
- Sie wissen doch ganz genau, dass diese Kritik das auslösende Moment für das Umdenken bei den Institutionen
der Weltbank war.
Bernward Müller ({5})
Heute müssen sich private Investoren und Exporteure
an den von der Weltbank gesetzten Standards messen.
Sie lassen sich messen und das bringt ihnen Vorteile;
denn das ökologische und soziale Siegel der Weltbank
auf ihren Projekten eröffnet ihnen Wege zu neuen Finanzierungsmöglichkeiten. Ich nenne hier als Beispiel die
Hermesbürgschaften. Die Fortentwicklung dieser Richtlinien ist in unserem Interesse, da wir uns den effizienten
Einsatz der vorhandenen Mittel zum Ziel gesetzt haben.
Die Weltbank hat die Erkenntnisse aus dem so genannten Salim-Report umgesetzt. Dr. Emil Salim empfahl, eine Balance zwischen ökologischen, ökonomischen und sozialen Zielsetzungen herzustellen. Dazu
sollte die Weltbank unter anderem ihre Umwelt- und Sozialstandards reformieren und effektiv umsetzen. Gute
Regierungsführung und Achtung der Menschenrechte
sowie Korruptionsverhinderung sollten im Bereich der
Firmen und Regierungen Fördervoraussetzung werden.
Die Forderungen aus dem Salim-Report decken sich
mit den Leitvorstellungen, die im Koalitionsvertrag formuliert sind und zu denen wir uns bekennen. Die drei
Säulen nachhaltiger Entwicklungsarbeit - Umwelt, Wirtschaft und Soziales - sind gleichberechtigte und grundlegende Faktoren entwicklungspolitischen Handelns.
Dazu wollen wir dem Aspekt der guten Regierungsführung ein stärkeres Profil geben. Die Stärkung von Good
Governance ist das zentrale Bestimmungselement unserer künftigen Entwicklungszusammenarbeit.
({6})
Nachhaltige Entwicklung kann nur dort stattfinden,
wo gute Regierungsführung die Grundlage für die Entfaltung der Selbsthilfekräfte in einer Gesellschaft legt.
Doch auch für die Fälle von Bad Governance müssen
wir uns im Rahmen einer pragmatischen Entwicklungspolitik rüsten. „Transformation“ ist ein wichtiges Stichwort, wenn es um den Umgang mit Gewaltökonomien
und Projekten in Bürgerkriegsländern geht. Die Union
begrüßt daher, dass Weltbank und IFC planen, am
21. Februar 2006 die im Salim-Report geforderten Maßnahmen zu beschließen.
Zu Ihrem Antrag ganz konkret: Es ist eine Neuauflage
des schon erwähnten Antrags aus dem Jahre 2004. Was
Sie vorlegen, ist zwar gut gemeint; aber sowohl im sachlichen Bereich als auch in Bezug auf neue Ansätze kann
ich keine wesentlichen Unterschiede zu dem bereits genannten Antrag erkennen.
({7})
Ich sehe daher weder in der Sache noch in der politischen Dimension eine Neuerung gegenüber der gegenwärtigen Beschlusslage des Deutschen Bundestages und
der Regierungspraxis. Aus diesem Grunde lehnen wir
diesen Antrag ab.
Ich möchte noch zwei Punkte erwähnen: Erstens. Was
nützen uns Standards, wenn wir sie nicht kontrollieren?
Die Bundesregierung wird in Zukunft die Aufgabe haben, die sozialen und ökologischen Standards auf ihre
Effektivität und auf ihre Umsetzbarkeit hin zu überprüfen. Dazu brauchen wir auch ein Monitoring. Das haben
Sie in Ihrem Antrag gar nicht erwähnt. Die Bundesregierung ist also gefordert, auch auf dem Gebiet des Controllings tätig zu werden.
({8})
Zweitens; damit nehme ich Bezug auf einen Antrag,
den die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bereits in der
letzten Legislaturperiode gestellt hat. Ich sehe ein Missverhältnis von finanzieller und personeller Beteiligung
Deutschlands an den internationalen Institutionen. Ich
wiederhole hier, was ich gestern gesagt habe: Deutschland stellt 2,7 Prozent des Personals der Weltbank, während die Beitragsquote Deutschlands bei 4,5 Prozent
liegt. Ein Vergleich mit den Vereinigten Staaten: Deren
Personalquote liegt bei 25 Prozent, während die Kapitalquote bei 16,9 Prozent liegt. Auch diesen Aspekt müssen
wir beleuchten, auch das dürfen wir nicht aus dem Auge
verlieren, um deutsche Interessen angemessen vertreten
zu können.
Es bleibt festzuhalten, dass die Reform der Umweltund Sozialstandards der Weltbank und ihrer Institutionen
ein großer Schritt für die Wirksamkeit entwicklungspolitischer Arbeit sein wird. Die Bundesregierung ist aufgerufen, diese Fortentwicklung unterstützend zu begleiten
und die Umsetzung der neuen Maßstäbe kontinuierlich
zu überprüfen.
Herzlichen Dank.
({9})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Alexander Ulrich,
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die IFC hat ihre Aufgabe, die Förderung von
Privatinvestitionen in Entwicklungsländern zum Zwecke
der Armutsreduzierung, in der Praxis bisher nicht ausreichend erfüllt. Zu ihren Geschäftspartnern und Nutznießern gehören vornehmlich Großkonzerne wie CocaCola, Exxon Mobil oder Halliburton.
Wie das prägnante Beispiel der Tschad-Kamerun-Ölpipeline zeigt, wird die Weltbank ihren eigenen bisherigen Standards nicht gerecht. Es sollte ein Musterprojekt
werden, um Ölreichtum in direkten Nutzen für die
Armen umzusetzen. Das Gegenteil ist erreicht: bisher
entschädigungslose Enteignungen, rapide steigende Gesundheitsprobleme der Bevölkerung und erneute Arbeitslosigkeit der Wanderarbeiter, die die Pipeline gebaut haben. Auf eine von der Weltbank selbst geforderte
Umweltverträglichkeitsstudie wurde bei der Projektrealisierung verzichtet. Der Plan für die Einrichtung von
zwei Nationalparks als Kompensation für die beim Bau
der Pipeline geschädigten Waldgebiete existiert nur auf
dem Papier. Seit Juli 2003 fließt Öl durch die Pipeline.
Die Ziele der Armutsreduktion wurden nicht hinreichend
verfolgt. Für den Tschad ist zudem eine dramatische
Verschlechterung der Menschenrechtslage zu beobachten.
Wie dieses Beispiel eindrucksvoll zeigt, ist die Weltbank nur vordergründig eine Institution zur Finanzierung
entwicklungsorientierter Projekte. Das genannte
Beispiel ist leider kein Einzelfall. Die Nichteinhaltung
der Umwelt- und Sozialstandards ist vielmehr typisch
für IFC-Projekte. Die Profite, die Interessen der privaten
Kreditnehmer stehen an erster Stelle; Menschen und
Umwelt geraten in den Hintergrund.
Die IFC will nun am 21. Februar einen neuen Regelentwurf verabschieden. Bisher liegen uns ebenso wie
dem Bundesministerium nur die so genannten Performance-Standards vor. Wir sehen in dieser Neuabfassung der Standards eine völlige Abkehr von bisherigen
Normen und Regeln. Die neuen Standards übertragen
sehr viel Verantwortung auf die Kunden der IFC, sprich:
auf die Konzerne, und lassen dem IFC-Management erhebliche Spielräume in der Interpretation dessen, was
das Minimalerfordernis bei jedem einzelnen Projekt ist.
Es ist absurd, der Industrie selbst die Entscheidung
darüber zu überlassen, ob ihre eigenen profitorientierten
Projekte im entwicklungspolitischen Interesse sind.
({0})
Das aber ist der Kern der neuen Performance-Standards.
Die IFC wird demgemäß künftig auf unabhängige Umwelt- und Sozialverträglichkeitsprüfungen verzichten. In
der Konsequenz bedeutet das eine Anpassung der Standards an die bisherige entwicklungsfeindliche Praxis.
Die Regierungsparteien aber tun so, als läge überhaupt kein Problem vor. Sie wollen uns auf einen dritten
Entwurf vertrösten, den sie uns bis heute nicht vorlegen
können und dessen Inhalt ihnen selbst nicht geläufig ist.
Sie sagen uns: Vertraut der IFC! Die IFC sagt: Vertraut
den Investoren! - Das ist die Kapitulation der Bundesentwicklungspolitik.
({1})
Wir stimmen mit der Kritik von Ihnen, Frau Koczy,
an der IFC-Praxis in der gestrigen Ausschusssitzung völlig überein. Doch warum schreiben Sie das, was Sie hier
verurteilen, nicht auch so in Ihrem Antrag nieder? Der
Antrag der Grünen verschweigt, dass es sich bei den
Profiteuren der IFC-Kredite um Großkonzerne handelt.
In Ihrem Text suggerieren Sie sogar, sich ganz im Einklang mit dem Bundesministerium für wirtschaftliche
Zusammenarbeit zu befinden, als stünde nicht die Verschlechterung der Standards, sondern ihre Verbesserung
auf der Tagesordnung. Warum erwähnen Sie in ihrem
Antrag mit keinem Wort die Performance-Standards, die
Sie zu Recht so lautstark kritisieren?
Wir, die Fraktion der Linken, haben den Grünen vorgeschlagen, eine entsprechende Änderung in ihrem Antrag vorzunehmen. Wir schlagen vor, dass das zuständige Bundesministerium den deutschen Exekutivdirektor
im Verwaltungsrat der Weltbank anweist, Verschlechterungen, wie sie die vorliegenden Performance-Standards
vorsehen, abzulehnen. Leider haben Sie diesen Vorschlag nicht angenommen. Ihr Ziel scheint zu sein, die
zuständige Ministerin und die Bundesregierung insgesamt - trotz aller verbalen Kritik - aus der praktischen
Verantwortung zu entlassen. Wir können Ihrem Antrag,
dem Antrag der Grünen, deshalb nicht zustimmen. Sie,
die Grünen, sollten endlich in Ihrer Rolle als Oppositionspartei ankommen!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Herr Kollege Ulrich, das war Ihre erste Rede in diesem Haus. Herzlichen Glückwunsch dazu und weiterhin
alles Gute.
({0})
Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat nun das Wort
die Kollegin Ute Koczy, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zu später Stunde ein schwerer Antrag, ein
Antrag, der die Zukunft der Weltbankpolitik bestimmen
und Weichen stellen kann, aber nicht wird, weil die
Mehrheit - alle vier übrigen Fraktionen - aus unterschiedlichen Gründen, die ich nicht nachvollziehen
kann, dagegen ist.
Unser Antrag ist sehr konkret. Er macht pointiert Vorschläge, und zwar explizit zum vorliegenden zweiten
Entwurf, zu den Performance-Standards der International Finance Corporation. Wir stehen damit in der Kontinuität dessen, was der Bundestag beschlossen hat; hier
ist darüber diskutiert worden. Mit unserem Antrag setzen wir diese Kontinuität fort und konzentrieren uns auf
das, was nun ansteht.
({0})
Wir greifen damit vor der Sitzung der Exekutivdirektoren am 21. Februar in Washington die Anregung des
Salim-Reports auf, der ernsthafte Verbesserungen der
Standards in der Weltbank fordert, wenn es um die Förderung von Rohstoffen geht. Dass wir ein Problem mit
der Rohstoffförderung haben, das werden Sie, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen aus
dem Ausschuss, wohl nicht bestreiten können.
({1})
Sie tun hier so, als würde auf diesem Politikfeld eine
heile Welt existieren. Kein Wort der Kritik haben wir
von Ihnen gehört.
({2})
Eigentlich müssten Sie anders reagieren. Ich erwarte von
Ihnen einen Gegenantrag, einen Antrag zu dem, was die
Exekutivdirektoren beschließen müssen; denn das, was
uns vorliegt, wird all dem, was Sie hier in schönen Worten formuliert haben, einfach nicht gerecht.
({3})
Bislang gehörten die Standards der Weltbank, was
Schutz und Unterstützung von Mensch und Tier angeht,
zur Champions League. Damit wird es jetzt vorbei sein,
wenn die Performance-Standards so, wie sie uns vorliegen, die Verantwortung dafür in die Hand der Unternehmen legen, und zwar ohne Referenzrahmen.
Herr Bernward Müller, Sie haben zu Recht darauf
hingewiesen, dass wir Controlling brauchen. Das ist
richtig. Aber dieses Controlling fehlt in dem zweiten
Entwurf. Wir wollen mit unserem Antrag erreichen, dass
es klare Kriterien gibt, mit denen man arbeiten kann.
Denn Sie täuschen sich, wenn Sie meinen, unser Anliegen sei allein von NGO-Interessen geleitet. Es liegt im
Interesse der Länder, die gegen Armut und für den Aufbau von Infrastruktur kämpfen, und im Interesse der Unternehmen, die für die Durchsetzung der IFC-Standards
in ihrer Unternehmensphilosophie nachhaltige Kriterien
eingeführt haben.
Selbstverständlich liegen verbindliche, transparente
und rechtlich durchsetzbare Kriterien auch im Interesse
der benachteiligten Völker, die keine Chance hätten,
eine faire Entschädigung zu erhalten, wenn sie sich nicht
durch internationales Recht geschützt wüssten.
Nicht erwähnt haben Sie, dass vor kurzem
219 Nichtregierungsorganisationen einen Brief geschrieben haben, in dem sie darauf hingewiesen haben, dass
dieser zweite Entwurf schlecht ist.
({4})
Diese Nichtregierungsorganisationen haben in tiefer
Sorge auf den Weg der Weltbank reagiert, weil sie befürchten, dass da einiges aus dem Ruder läuft, zum Beispiel was die Zwangsumsiedlung, den Schutz der indigenen Völker und die Biodiversität angeht. Was jetzt
kommen wird, bedeutet einen Rückschritt.
Hier wird auf den dritten Entwurf verwiesen. Normalerweise ist es so, dass ein Entwurf erst drei Wochen vor
einer Sitzung der Exekutivdirektoren verteilt wird. Ich
gehe nicht davon aus, dass wir ihn so rechtzeitig bekommen, dass wir ihn hier tatsächlich beraten können.
Meine Damen und Herren, wir haben doch schlechte
Erfahrungen in Ländern wie Nigeria, Tschad, Kamerun
und Ecuador gemacht. Wir sind misstrauisch, weil wir
der Meinung sind, dass wir in dem Augenblick, wo wir
Unternehmen einfach erlauben, ohne Referenzrahmen,
ohne Controlling und ohne klare Standards in die Länder
zu gehen, etwas zulassen, was den Entwicklungsinteressen dieser Länder widerspricht. Das ist die Mahnung, die
hinter diesem Antrag steht. Eigentlich - dieser Auffassung bin ich - können Sie gar nicht anders, als diesem
Antrag zuzustimmen.
Ich danke Ihnen.
({5})
Frau Kollegin Koczy, für Sie war es ebenfalls die
erste Rede in diesem Haus. Auch Ihnen gilt unser Glückwunsch, verbunden mit den besten Wünschen für die
weitere Arbeit.
({0})
Ich schließe nun die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache 16/466 zu dem Antrag der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel
„Für starke soziale und ökologische Standards in der Internationalen Finanz-Corporation ({1}) der Weltbank“.
Dazu liegt eine Erklärung zur Abstimmung des Kollegen
Alexander Ulrich vor, die zu Protokoll gegeben wird.1)
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
16/374 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist
die Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen bei Zustimmung aller anderen Fraktionen des Hauses angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 8. Februar 2006, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.