Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 1/26/2006

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich und wünsche uns einen guten Tag und gute, konstruktive Beratungen. Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich Ihnen mitteilen, dass interfraktionell vereinbart worden ist, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der LINKEN Vorschlag des Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, bei einer entsprechenden Entwicklung der Steuereinnahmen 2006 auf eine Erhöhung der Mehrwertsteuer zu verzichten ({0}) ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Warnungen vor einer Militarisierung der Auseinandersetzung um das iranische Atomprogramm ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD Für die Einhaltung von grundlegenden Menschenrechten und Grundfreiheiten beim Umgang mit Gefangenen - Drucksache 16/431 ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian Toncar, Dr. Werner Hoyer, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für die Schließung von Guantanamo Bay und die Überführung der Gefangenen in rechtsstaatliche Verfahren - Drucksache 16/454 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({1}) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ({2}), Jürgen Trittin, Marieluise Beck ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Rechtsstaatliche Verfahren und Menschenrechtsschutz für die Inhaftierten in Guantanamo Bay - Drucksache 16/443 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({4}) Auswärtiger Ausschuss ZP 6 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({5}) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bereinigung des Bundesrechts im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Verbrauchers4chutz, Ernährung und Landwirtschaft - Drucksache 16/27 ({6}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({7}) - Drucksache 16/425 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Hans-Heinrich Jordan Waltraud Wolff ({8}) Hans-Michael Goldmann Ulrike Höfken Die Tagesordnungspunkte 8 - Vorratsdatenspeiche- rung - und 15 b - Entschädigungsrecht - sollen abge- setzt werden. Außerdem ist vorgesehen, den Tagesord- nungspunkt 11 - Abfallrecht - unmittelbar nach dem Ta- gesordnungspunkt 9 - Änderung des Gentechnikgeset- zes - aufzurufen. Von der Frist für den Beginn der Bera- tungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist das so beschlos- sen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahreswirtschaftsbericht 2006 der Bundesregierung Reformieren, investieren, Zukunft gestalten Politik für mehr Arbeit in Deutschland - Drucksache 16/450 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({9}) Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahresgutachten 2005/06 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung - Drucksache 16/65 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({10}) Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache insgesamt zwei Stunden vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Bundesminister für Wirtschaft, Michael Glos.

Michael Glos (Minister:in)

Politiker ID: 11000691

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Jahreswirtschaftsbericht macht deutlich, wo Deutschlands Zukunft liegt: im Bereich Bildung und Innovation. Das sind nach meiner festen Überzeugung die Grundlagen für zukünftiges Wachstum und damit auch für wieder mehr Beschäftigung in unserem Land. ({0}) Die Überschrift des vorliegenden Jahreswirtschaftsberichts lautet: „Reformieren, investieren, Zukunft gestalten - Politik für mehr Arbeit in Deutschland“. Die konjunkturelle Erholung Deutschlands hat sich, wie ich meine, gefestigt und wird in diesem Jahr nach Überzeugung aller Institute an Breite gewinnen; darauf deuten die aktuellen Indikatoren hin wie auch die Auftragseingänge, die Produktionsdaten und die Stimmungsindikatoren. Wie in unserem Jahreswirtschaftsbericht steht, erwarten wir für das Jahr 2006 einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um real 1,5 Prozent. Nun kann man streiten, wie Prognosen von Fachleuten zu werten sind. Die offizielle Prognose, nach den statistischen Daten, die zugrunde gelegt sind, lautet: 1,4 Prozent. Es gibt aber auch Stimmen, nach denen der Anstieg bis 1,6 Prozent betragen kann. Ich bleibe bei 1,5 Prozent. Ich meine, dass das eine bewusst vorsichtige Schätzung der gesamtwirtschaftlichen Eckdaten ist. Es ist nämlich besser, vorsichtiger zu schätzen und es kommt dann günstiger, als den Weg zu gehen, der in der Vergangenheit beschritten worden ist. Ich meine, wir haben diesmal die Chance, von der tatsächlichen Entwicklung positiv übertroffen zu werden. ({1}) - Ich will die Gespräche im Plenum nicht stören, Herr Präsident. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Als Bundestagspräsident muss ich darauf auch größten Wert legen, Herr Minister.

Michael Glos (Minister:in)

Politiker ID: 11000691

Mein Respekt als Bundestagsabgeordneter vor dem Parlament ist viel zu groß. Die außenwirtschaftlichen Impulse dürften angesichts der robusten Weltwirtschaft erhalten bleiben. Bei einem geschätzten Exportanstieg von 6,5 Prozent werden die deutschen Exporteure erneut Marktanteile hinzugewinnen. Lassen Sie mich an dieser Stelle allen Menschen danken, die mit dazu beitragen, dass wir Exportweltmeister sind und es bleiben werden. Dazu zählen auch diejenigen, die bereit sind, ins Ausland zu gehen, um dort deutsche Anlagen zu montieren. ({0}) Sie sichern damit Arbeitsplätze in Deutschland und tragen in anderen Ländern der Welt zu einer wirtschaftlichen Entwicklung bei, was wiederum eine friedliche Entwicklung unterstützt. Deswegen appelliere ich an die Entführer der beiden deutschen Ingenieure im Irak, diese freizulassen. ({1}) Auch die Binnenkonjunktur könnte allmählich - das wünschen wir uns alle - wieder an Zugkraft gewinnen. Darauf deuten sehr viele Umfrageergebnisse hin. Vor allem ist die Stimmung der Deutschen wieder zuversichtlicher geworden. Wir wissen natürlich, dass das wirtschaftliche Handeln der augenblicklichen Stimmung hinterherhinkt. Wenn aber viele Menschen der Meinung sind, es gehe aufwärts und diese Entwicklung sei stabil, dann wird sich auch deren Kaufverhalten verbessern. Allein die Aktivitäten bei Ausrüstungsinvestitionen in unserem Land sprechen schon Bände. Das zeigt, dass der Impuls von außen auf die Bereitschaft zu Investitionen im Inland durchgeschlagen hat. Ich hoffe, dass das auch für die Konsumbereitschaft gelten wird. Es gibt viele Zahlen, die dafür sprechen, dass der Aufschwung breit angelegt ist. Als Beispiele nenne ich nur: die kräftige Gewinnentwicklung in den vergangenen Jahren, insbesondere bei exportorientierten Unternehmen, die fortgeschrittene Bilanzbereinigung bei vielen Unternehmen, die lange Zeit viel Faules mitgeschleppt haben, bis man es in der Bilanz entsprechend bereinigen konnte, und die zuletzt wieder gestiegene Kapazitätsauslastung. Auch der letzte Punkt ist wichtig; denn erst wenn die Kapazitäten ausgelastet sind, kommt es zu Erweiterungsinvestitionen. Ich meine, dass das günstige Anzeichen sind. Die Zahl der Arbeitslosen wird dieser Prognose nach im Jahresdurchschnitt um rund 350 000 auf 4,5 Millionen Personen zurückgehen. Wie jede Vorhersage ist auch die Jahresprojektion der Bundesregierung mit Risiken und damit mit Unsicherheiten behaftet. Niemand vermag zum Beispiel exakt vorauszusagen, ob es erneut zu einem weltweiten Anstieg bei den Rohstoffpreisen kommen wird, vor allem beim Rohöl. Wir haben bei unserer Prognose schon einen hohen Rohölpreis zugrunde gelegt. Aber dieser kann natürlich noch übertroffen werden; schließlich wird Rohöl zum großen Teil in unsicheren Gegenden der Welt gefördert. Das zeigt letztlich unsere Abhängigkeit von solchen Entwicklungen. Niemand kann heute vorhersagen, welche Auswirkungen die globalen Ungleichgewichte haben werden. Das gilt insbesondere für die Entwicklung des Haushalts- und Leistungsbilanzdefizits der USA. Niemand weiß, wie das auf die Weltfinanzmärkte durchschlagen wird. Auf der anderen Seite bestehen durchaus Chancen für eine günstigere Entwicklung als vorausgesagt. Es kommt vor allem darauf an, das Vertrauen der Menschen zu stärken. Wir werden mit unserer wirtschaftspolitischen Strategie zu einer Stärkung des Vertrauens beitragen. Das ist das Ziel der Bundesregierung. ({2}) Der Dreiklang, den wir setzen, besteht aus Sanieren, Reformieren, Investieren. Zum ersten Punkt: Gesunde und tragfähige Staatsfinanzen sind eine wesentliche Grundlage für Vertrauen in die Politik. Es kann mittelund längerfristig nur dann einen Aufschwung geben, wenn wir uns an die Sanierung der öffentlichen Finanzen heranwagen. Um die Solidität dauerhaft zu sichern, muss es uns gelingen, die öffentlichen Haushalte strukturell zu konsolidieren und die Weichen für mehr Wachstum und Beschäftigung zu stellen. Wir werden deshalb die Konsolidierung des Bundeshaushaltes und der sozialen Sicherungssysteme mit großer Entschlossenheit angehen. ({3}) Ich bitte Sie von allen Seiten des Hauses ganz herzlich um Ihre Mitwirkung. Ich bin mir der Problematik der Erhöhung der Mehrwertsteuer natürlich sehr bewusst. Wenn wir aber von einer Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozentpunkte reden, dann müssen wir immer wieder hinzufügen, dass 1 Prozentpunkt davon direkt in die Senkung der Lohnnebenkosten fließt. ({4}) Die zu hohen Lohnzusatzkosten - so sagt man inzwischen vielleicht besser, weil es in Teilen nicht mehr nur Nebenkosten, sondern Hauptkosten sind - sind noch schädlicher für die Volkswirtschaft als die Steuerbelastung. Wenn wir zumindest unsere Steuerquote mit dem Schnitt in anderen Ländern vergleichen, dann stellen wir fest, dass wir gar nicht so schlecht liegen. ({5}) Wie gesagt: Es läuft alles nur gut, wenn es auch Wachstum gibt. Deshalb ist es zweitens notwendig, dass wir mit einem wirtschaftlichen Aufschwung in diesem Jahr die notwendige Breite schaffen, damit der Zug des Aufschwungs auch im nächsten Jahr, wenn die Mehrwertsteuererhöhung greift, so rasch auf den Gleisen fährt, dass er nicht ohne weiteres gestoppt werden kann. Wir wollen, dass die Sozialversicherungsbeiträge dauerhaft unter 40 Prozent gesenkt werden. Das ist eine der Aufgaben der großen Koalition. Ein erster Schritt auf diesem Weg ist die Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 Prozent auf 4,5 Prozent zum 1. Januar 2007. Handlungsbedarf besteht auch am Arbeitsmarkt, um möglichst vielen Menschen eine Chance auf Arbeit zu geben. So bedarf es des so genannten - ({6}) - Ich kann Sie schlecht verstehen. Ich empfehle Ihnen, aufzustehen und sich zu melden, Herr Kuhn. Ihre Beiträge sind im Allgemeinen ja so intelligent, dass Sie sie auch laut und ohne dass Störungen damit verbunden sind, vorbringen können. ({7}) - Ich lasse mich von Ihnen trotzdem nicht aus dem Konzept bringen. Ich sage es noch einmal: Wir bedürfen auch des so genannten Niedriglohnsektors und einer Neuregelung am Arbeitsmarkt dergestalt, dass auch die Menschen, die weniger qualifiziert und leistungsfähig sind und die sich in der komplizierten Arbeitswelt oft nicht mehr gebraucht fühlen, Arbeit und Brot finden. Das ist eine der wesentlichen Aufgaben für die Zukunft. Dafür wird eine Kommission eingesetzt und wir werden unvoreingenommen prüfen, was man sinnvollerweise tun kann. Neben der Haushaltssanierung und weiteren strukturellen Reformen geht es der Bundesregierung drittens um mehr Investitionen und Innovationen. Auf unserer Regierungsklausur in Genshagen haben wir in fünf Bereichen konkrete Impulse mit einem Volumen von insgesamt 25 Milliarden Euro bezogen auf die Legislaturperiode beschlossen. Dazu gehört die Förderung von Forschung und Entwicklung. Dabei geht mein Appell auch an die Wirtschaft, mitzumachen und nicht infolge sich erhöhender staatlicher Mittel möglicherweise die eigenen Forschungsmittel zu kürzen. ({8}) Das Gegenteil muss der Fall sein. Wir wollen mit dem öffentlichen Geld, das wir einsetzen, zusätzliche Impulse auslösen. Zu unserem Programm gehören auch die Belebung von Mittelstand und Wirtschaft sowie die Erhöhung der Verkehrsinvestitionen, was nicht nur der Bauwirtschaft direkt zugute kommt; vielmehr wirkt sich die dann vorhandene Infrastruktur natürlich auch günstig auf unsere Wirtschaft und die Investitionen an den verkehrsmäßig günstigen Standorten aus. Zu unserem Programm gehört aber auch die Förderung der Familien. Das ist eine der Sorgen unseres Landes. Ich bin vom amerikanischen Handelsminister Gutierrez, der mich gestern besucht hat, gefragt worden, warum wir in Deutschland schon stolz sind, wenn wir Wachstumsraten von vielleicht 2 Prozent, wenn wir sehr optimistisch sind, erreichen können. ({9}) Ich habe gesagt: Das hat auch etwas mit unserer Bevölkerungsentwicklung zu tun. Schauen Sie sich die Bevölkerungsentwicklung Ihres Landes an und schauen Sie sich die Bevölkerungsentwicklung unseres Landes an. ({10}) Dann sehen Sie, wo im Grunde ein großes Stück unserer Probleme liegt. Ich darf die Maßnahmen, die wir konkret vereinbart haben, weiter aufzählen: Es geht auch um die steuerliche Abzugsfähigkeit von haushaltsnahen Dienstleistungen. Auch hier sind die Weichen entsprechend gestellt worden. All diese Maßnahmen sollen zur Stärkung der Wachstumskräfte beitragen und sind in unsere Projektion eingearbeitet. Natürlich ist in diese Projektion auch die Tatsache eingearbeitet, dass die Mehrwertsteuererhöhung, die für nächstes Jahr geplant ist, in diesem Jahr zusätzliche Käufe auslöst. Es gibt selbstverständlich einen Vorzieheffekt; dieser ist gewollt. Bereits kurzfristig erhoffe ich mir Anstöße von der Revitalisierung der degressiven Abschreibung für bewegliche Anlagegüter auf dem alten Stand. Aber das muss dann von einer Reform der Unternehmensbesteuerung zum 1. Januar 2008 abgelöst werden. Die nominalen sowie die effektiven Steuersätze auf unternehmerische Tätigkeit sind bei uns in Deutschland im internationalen und auch im europäischen Vergleich zu hoch. ({11}) Effektiv liegen sie bei 36 Prozent. Im europäischen Durchschnitt sind es 30 Prozent, in Osteuropa unter 20 Prozent. Unter Federführung des Finanzministers wird unter Einbeziehung von Experten noch in diesem Jahr ein Vorschlag vorgelegt werden. Wir haben die Chance, uns zuerst mehrere Vorschläge anzusehen. Diese müssen dann vom Finanzminister zusammen mit dem Wirtschaftsminister bewertet und möglichst bald dem parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren zugeleitet werden. Die Menschen wollen schließlich wissen, was 2008 auf sie zukommt. Wachstumspolitisch besonders wichtig ist mir das Ziel, die Ausgaben für Forschung und Technologie bis 2010 auf insgesamt 3 Prozent des Bruttosozialproduktes zu steigern; denn in der Fähigkeit, innovativ zu sein und zu bleiben, liegt Deutschlands Zukunft. Nur dadurch kann unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit auf dem hohen Niveau von Wohlstand und Sozialleistungen aufrechterhalten werden. Mit Billiglöhnen in anderen Ländern können wir nicht konkurrieren. Für die Jahre 2006 bis 2009 werden aus Haushaltsmitteln 6 Milliarden Euro für Forschung und Innovation bereitgestellt. Ich werde insbesondere bei den Forschungsmitteln, die dem BMWi zugute kommen, dafür sorgen, dass der Schwerpunkt auf der Stärkung des innovativen Mittelstandes und der technologieorientierten Gründer liegen wird. ({12}) Wir werden aber selbstverständlich innovative Leuchtturmprojekte fördern, zum Beispiel das so genannte emissionsfreie Kraftwerk, um auf dem Energiesektor neue Lösungen voranzutreiben. ({13}) Alle Maßnahmen werden wir im Aktionsplan „Hightech Strategie Deutschland“ bündeln. Wir versprechen uns von diesen Maßnahmen eine doppelte Dividende. Mit den kurzfristigen Impulsen tragen wir dazu bei, die aktuelle konjunkturelle Belebung zu festigen. Ich glaube, das wollen alle. Diese kurzfristigen Impulse sind natürlich temporär angelegt und laufen nach einer Weile aus. Ein Beispiel: Die Verbesserung der Abschreibungsbedingungen wird in eine echte Unternehmensteuerreform münden. Mit den eher längerfristig wirksamen Maßnahmen schaffen wir darüber hinaus die Voraussetzung für ein dauerhaft höheres Wachstum. Hierzu zählen die Förderung von Forschung und Entwicklung, die ich bereits erwähnt habe, aber natürlich auch die Maßnahmen, die strukturell und längerfristig zu einer Entlastung des Haushaltes führen. Sie sind ebenfalls auf Dauer angelegt und werden zur strukturellen Haushaltskonsolidierung beitragen. Dazu gehören zum Beispiel die Ausgabenkürzungen, der Abbau von Steuervergünstigungen sowie die Maßnahmen zur Stabilisierung unserer sozialen Sicherungssysteme. Wir werden mit einer Mittelstandsinitiative starten, in deren Mittelpunkt weniger Bürokratie und mehr Flexibilität steht. ({14}) Das kostet den Staat und die öffentliche Hand kein Geld; aber es hilft den Betrieben, die investieren und Arbeitsplätze schaffen wollen. Beim Bundeskanzleramt wird ein Normenkontrollrat eingerichtet. Unabhängige Fachleute sollen künftig alle Gesetzesinitiativen auf Erforderlichkeit und bürokratische Kosten überprüfen. Auf der anderen Seite wissen wir, dass nicht jede Abschaffung von Regelungen unbedingt Beifall auslöst. Sehr viele haben sich an diese Regelungen gewöhnt. Lassen Sie mich ein aktuelles Beispiel anführen: Die Wirtschaftsministerkonferenz der Länder hat Vereinfachungen im Gaststättengesetz - beispielsweise durch die Abschaffung der Bundeskompetenz - gefordert. Sobald solche Maßnahmen jedoch im Jahreswirtschaftsbericht aufgeführt werden und ihre Umsetzung Gestalt annimmt, werden Stimmen laut, die sich dagegen aussprechen. Aber zurück zu den von uns geplanten Maßnahmen: Wir müssen - das halte ich für ganz entscheidend - auch die Selbstständigenquote in unserem Land steigern. ({15}) Erlauben Sie mir eine letzte Bemerkung. Ein immer noch sehr stark industriell geprägtes Land mit einer hoch komplizierten Volkswirtschaft wie Deutschland ist in besonderem Maße in Sorge um den Energiepreis. Der Energiepreis in Deutschland ist sehr vielen staatlichen Belastungen ausgesetzt. Das ist bekannt und unstrittig. Wir müssen aber dafür sorgen, dass der Wettbewerb auf dem Energiemarkt funktioniert und die Versorgungssicherheit - auch über entsprechend gute Leitungsnetze erhalten wird. Darüber hinaus müssen ausreichend Kapazitäten vorhanden sein, um einen echten Wettbewerb zu ermöglichen. Mit dem Energiewirtschaftsgesetz verfügen wir über ein Instrument, das den dafür zuständigen nachgeordneten Behörden erlaubt, über den Wettbewerb zu wachen. Als Maßnahme zur Steigerung der Energieeffizienz erhöhen wir das Fördervolumen für das CO2-Gebäudesanierungsprogramm auf 1,4 Milliarden Euro jährlich. Dadurch werden auch Arbeitsplätze im Handwerk geschaffen, worum es mir in besonderem Maße geht. ({16}) Wir wollen den Energiemix ausweiten. Auf dem geplanten Gipfeltreffen mit der Bundeskanzlerin werden wir die künftigen Leitlinien ziehen. Wir setzen in unserer Politik auf unsere Stärken in Deutschland: auf qualifizierte Arbeitnehmer und Arbeitsnehmerinnen bzw. wettbewerbsfähige Unternehmen und vor allen Dingen auf den sozialen Frieden, der ein hohes Gut ist. Ich kann nur hoffen, dass sich die Tarifpartner in den anstehenden Verhandlungen so einigen, dass die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes nicht gefährdet wird und dass vorhandene Spielräume zugunsten unseres Landes mit hoher Flexibilität genutzt werden. Daran arbeiten wir. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({17})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Rainer Brüderle für die FDP-Fraktion. ({0})

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundeskanzlerin hat vor wenigen Wochen an dieser Stelle ihre Politik unter das Motto „Mehr Freiheit wagen“ gestellt. Sie hat es gestern in Davos erneut als Strategie der Bundesregierung betont. In der Realität sieht die Politik aber leider ganz anders aus. Die Bundesregierung hat sich allenfalls die Freiheit genommen, ihre Prognose im Jahreswirtschaftsbericht sehr vorsichtig anzulegen. Das prognostizierte Wachstum um 1,4 Prozent liegt am unteren Rande dessen, was die Ökonomen vorhersagen. Auch bei den Investitionen und dem Konsum liegen die Prognosen am unteren Rande der Expertenmeinungen. Ich kritisiere das nicht; besser wäre es aber, wenn die Regierung bei den steuerlichen Belastungen der Bürger Zurückhaltung üben und ihnen weniger abverlangen würde. ({0}) Herr Glos hat persönlich eine deutlich optimistischere Prognose öffentlich geäußert. Finanzminister Steinbrück will aber offenbar den Druck aufrechterhalten, um die Debatte über die Mehrwertsteuererhöhung keinesfalls weiter anzuheizen. Deshalb ist die Prognose so moderat ausgefallen. Die Erstellung des Jahreswirtschaftsberichts ist die Aufgabe des Wirtschaftsministers. Man muss sich aber ohnehin fragen, wofür Herr Glos eigentlich zuständig ist. Wenn ich Energie höre, sehe ich Herrn Gabriel. Wenn ich Konjunkturprognose höre, sehe ich Herrn Steinbrück. Wenn ich Ministererlaubnis höre, sehe ich die Herren Koch und Stoiber. Aus dem ERP-Sondervermögen sollen offenbar 2 Milliarden Euro zum Stopfen von Haushaltslöchern herausgebrochen werden. Das steht übrigens im Gegensatz zum Koalitionsvertrag und auch zum Jahreswirtschaftsbericht. Herr Glos, vielleicht nehmen Sie im Laufe der Debatte die Gelegenheit wahr, richtig zu stellen, dass die Mittel für den Mittelstand nicht zum Stopfen von Haushaltslöchern missbraucht werden dürfen. ({1}) Die Union hat jedenfalls, als sie noch in der Opposition war, den Ausverkauf der Marshallplanmittel vehement kritisiert. Meine Bitte: Fallen Sie hier nicht um! Lassen Sie die Sozialdemokratisierung der Union nicht so weit gehen, dass Sie alle Ihre Vorstellungen, die Sie vor der Wahl geäußert haben, wieder einsammeln. ({2}) Wo sich der Wirtschaftsminister selber äußert, geht es hott und hü. Vor dem Jahreswechsel fordert er noch höhere Löhne, damit die Konjunktur in Gang kommt. ({3}) Nach dem Jahreswechsel fordert er Lohnzurückhaltung. Er fordert nun - das ist die neueste Variante - differenzierte Lösungen. Im Klartext heißt das betriebliche Bündnisse für Arbeit. Aber er hat nicht den Mut, die Konsequenzen zu ziehen, nämlich den Mitarbeitern im Betrieb tatsächlich zu ermöglichen, mit 75 Prozent Mehrheit eigenständig Regelungen zu treffen, und zwar jenseits des Diktats der beiden Kartellbrüder Gewerkschaften und Arbeitgeber. Das wäre die Konsequenz einer differenzierten Lösung. ({4}) Eigentlich ist der Bundeswirtschaftsminister das ordnungspolitische Gewissen einer Regierung. Es wäre geradezu seine Pflicht, solche Öffnungsklauseln zu fordern. Ich schätze Herrn Glos persönlich als fähigen Politiker. Aber ich muss zitieren, was zum Beispiel „Bild am Sonntag“, eine der Regierung durchaus nicht feindlich gesonnene Zeitung, über ihn wörtlich schreibt: Glos blamiert sich nicht nur als Fachminister, sondern lässt erste Zweifel an der Qualität und Kompetenz der neuen Bundesregierung aufkommen. ({5}) Der Minister versucht, uns den Heimaturlaub schmackhaft zu machen, um die Wirtschaft anzukurbeln. Wenn man aber nicht über den deutschen Tellerrand hinausblickt, dann hat man es schwer, Konzepte für eine Reform des Welthandels oder für die WTO-Verhandlungsposition zu erarbeiten. Auch das Ministerium ist noch immer nicht richtig geordnet. Die Diskussion über Luft- und Raumfahrtkoordination offenbart, dass hier vieles noch nicht klar ist. Ein ordnungspolitisches Gewissen ist jedenfalls in keiner Weise erkennbar. ({6}) Wenn man die Vorgaben der Bundeskanzlerin ernst genommen hätte, dann hätte der Jahreswirtschaftsbericht geradezu ein ökonomisches Freiheitsprogramm sein müssen. In ihm hätten die Fundamente für mehr Wachstum und mehr Arbeitsplätze gelegt werden müssen. Der Jahreswirtschaftsbericht ist das Schicksalsbuch der deutschen Wirtschaftspolitik. Doch statt das Schicksal der deutschen Wirtschaft zum Besseren zu wenden, wird in dem Bericht noch einmal der Inhalt des Koalitionsvertrages aufgelistet: reformieren, investieren, Zukunft gestalten. Das alles hört sich zwar ganz gut an. ({7}) Aber die Realität von Schwarz-Rot ist bisher: kaschieren, blockieren und Angst verwalten. ({8}) Wer mehr als die Überschriften des Jahreswirtschaftsberichts liest, merkt, dass viel zu wenig Substanz und Freiheit drin sind. Es ist richtig, was Herr Glos sagt: Wir brauchen ein starkes Wachstum, um den Haushalt zu sanieren und in Ordnung zu bringen, und müssen dabei über die Ausgabeseite gehen. Aber diese wichtige Erkenntnis wird nicht umgesetzt. Die erste Maßnahme der Regierung ist, die Ausgaben mit einem Minikonjunkturprogramm zu erhöhen. So werden die Ausgaben nicht gesenkt und so wird der Haushalt nicht in Ordnung gebracht. Das Dutzend zusätzlicher Staatssekretäre hätten Sie sich sparen können. Sie stören nur in der Verwaltung und kosten Geld. Das ist kein Beitrag zum Sparen. ({9}) Statt das Wachstum durch weniger Bürokratie und niedrigere Steuersätze zu entfesseln, wird die Mehrwertsteuer deutlich angehoben und der Spitzensteuersatz erhöht. Das ist das Gegenteil von mehr Freiheit wagen. Bei Ihnen geht es nach dem Motto „Gib mir meine Mehrwertsteuer, ich gebe dir deine Reichensteuer“. ({10}) Aber mehr Steuern bedeuten weniger Freiheit, weil man in geringerem Umfang über die Verwendung dessen, was man sich selbst erarbeitet hat, entscheiden kann. Es wird also in stärkerem Maße vorgeschrieben, wofür das selbst Erarbeitete verwendet werden soll. Das ist das Gegenteil von mehr Freiheit. Das zieht sich wie ein roter Faden durch Ihre Politik. Sie reden nur von Freiheit. Tatsächlich sorgen Sie aber nicht für mehr Freiheit, sondern reduzieren die Freiheit. Das ist die falsche Politik. ({11}) Zum Ausgleich gibt es ein bisschen für Handwerker, ein bisschen für Investitionen, ein bisschen für Familien, ein bisschen für den Mittelstand. Übrigens hat der Haushaltsausschuss Ihr Gebäudesanierungsprogramm angehalten, weil die Finanzierung nicht nachvollziehbar ist. Auch da ist das Motto ganz einfach: Erst nimmt man dem Bauern das Schwein weg, dann bekommt er drei Kotelett und soll sich auch noch artig bedanken. Das ist keine Strategie für eine erfolgreiche Politik. ({12}) Familienförderung ist sicherlich ein wichtiges Thema. Nur, die große Koalition zelebriert als Medienbeschäftigungstherapie geradezu täglich ihre Differenzen in der Familienpolitik. Sie machen so eine Art Schönheitswettbewerb: Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Sozialste im Land? Sie sollten sich lieber mit den Kernproblemen beschäftigen. Das Beste für Familien ist, wenn ihre Mitglieder einen Arbeitsplatz haben und Geld verdienen, statt irgendwelche Wohltaten von dieser Regierung zu erhalten. ({13}) Als wir gefordert haben, den Privathaushalt als Arbeitgeber anzuerkennen, wurden wir beschimpft: Typisch FDP, Dienstmädchenprivileg. Jetzt, mit 20 Jahren Verspätung, sagen Sie, Sie hätten eine Wunderwaffe entdeckt, den Haushalt als Arbeitgeber. Das hätten Sie schon längst machen können. Es könnten schon Hunderttausende in Arbeit sein, wenn Sie unseren Vorschlägen früher gefolgt wären. ({14}) Das Minikonjunkturprogramm nennen Sie stolz Subvention für den Aufschwung. Das ist in sich schon Unsinn. Subventionen in einen Aufschwung hinein zu gewähren, hat sich noch nie als erfolgreich erwiesen. Sie unterschlagen völlig, dass Sie in diesem Jahr ein Zwangsdarlehen bei den Unternehmen, insbesondere beim Mittelstand, aufnehmen. Die Sozialversicherungsbeiträge müssen nämlich in diesem Jahr einen Monat früher entrichtet werden, also dreizehnmal statt zwölfmal. Damit nehmen Sie der deutschen Wirtschaft Liquidität in Höhe von 20 Milliarden Euro. Das können Sie doch nicht mit 5 Milliarden Euro, die Sie für Wärmedämmung und Elterngeld ausgeben wollen, ausgleichen. Der Beitrag ist viermal so hoch wie der, den Sie unsinnigerweise als Konjunkturprogramm verkaufen. ({15})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Brüderle, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Dehm?

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte sehr.

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege, habe ich Sie richtig verstanden, dass nach Ihrer Definition die Deutsche Bank, Allianz, BMW und Daimler-Chrysler überwiegend sehr frei sein müssen, weil sie in den letzten eineinhalb Jahrzehnten summa summarum so gut wie keinen Cent Körperschaftsteuer bezahlt haben, während die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unfrei sind, weil sie überwiegend mit ihren Lohnsteuern diesen Staat finanzieren?

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sie haben das natürlich nicht richtig verstanden. Ich will generell die Freiräume für Entscheidungen vergrößern. Ihr klassenkämpferisches Denken - sie stürzen sich reflexartig auf Großkonzerne, die Sie früher in Ihrem alten System als Großkombinate gefördert haben ist die falsche Denkweise. ({0}) Sie sollten sich irgendwann einmal von der Vergangenheit lösen. Es ist ja schön, dass Sie sich zu Ihrem altsozialistischen Erbe bekennen, aber Sie müssen doch nicht in jeder Sitzung deutlich machen, dass Sie von Wirtschaft nichts verstehen. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage, Herr Kollege?

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte.

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Auch wenn Sie meinen, dass jemand, der wie ich drei Jahrzehnte relativ erfolgreich Unternehmer war und einmal eine große Unternehmensorganisation geleitet hat, von Wirtschaft nichts versteht, dann stellt sich doch die Frage, was Sie zu meinem Kernargument sagen. Was hat es für eine Bedeutung, wenn wir steuerpolitisch die Deutsche Bank, Allianz, BMW und Daimler-Chrysler über eineinhalb Jahrzehnte so schonen, dass bei ihnen keine Großbetriebsprüfung durchgeführt wird und sie am Ende so gut wie keinen Cent Körperschaftsteuer bezahlen?

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Realität ist doch längst eine andere. Selbst der Bundeswirtschaftsminister räumt ein, dass die Belastung durch die Unternehmensteuer in Deutschland mit effektiv etwa 36 bis 37 Prozent deutlich höher als im europäischen Durchschnitt ist. Wir haben es inzwischen geschafft, dass durch die Steuerbelastung nicht nur große Vermögen aus dem Land getrieben werden, sondern auch kleine Vermögen. Selbst der Altbundeskanzler hat sich entschieden, seine Rubel lieber in der Schweiz entgegenzunehmen als in Deutschland, weil dort mehr übrig bleibt. Offensichtlich ist die Strategie ein „Investitionsvertreibungsprogramm“. Wenn die Investitionen nicht hier, sondern woanders getätigt werden, dann entstehen hier auch keine Arbeitsplätze. Sie müssen einmal rekapitulieren, dass Arbeitsplätze folgendermaßen entstehen: Irgendjemand nimmt Geld in die Hand, geht in ein Geschäft, kauft etwas und zur Herstellung dessen, was gekauft wird, werden andere Menschen beschäftigt. Mit roten Fahnen am 1. Mai können Sie die Beschäftigungsmisere in Deutschland nicht beseitigen. Das hat sich schon früher nicht bewährt und das bewährt sich auch heute nicht. ({0}) - Natürlich. Ich bin sogar für Meinungsfreiheit. Deshalb lege ich Wert darauf, dass auch Sie hier noch reden dürfen. Mit einer Mehrheit von 73 Prozent wollen Sie den politischen Wettbewerb kleinhalten. Treten Sie jetzt dafür ein, dass zumindest der wirtschaftliche Wettbewerb offen bleibt! Was Sie tun, ist jedenfalls das Gegenteil von „Freiheit wagen“. Zur Belebung der Wirtschaft fehlen in diesem Jahr 20 Milliarden Euro. Jedes Konjunkturprogramm, das das ausgleichen soll, ist ein echter Witz. Sie müssten das Steuersystem in Ordnung bringen. Sie müssten es einfacher machen, damit die Menschen es noch verstehen. Selbst die Steuerberater klagen, dass sie mit diesem System nicht mehr umgehen können. Verfassungsrichter sagen, ein derart kompliziertes Steuerrecht sei an der Grenze der Verfassungsgemäßheit. Die Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen, die Sozialsysteme in Ordnung zu bringen, all dies haben Sie im Koalitionsvertrag ausgeklammert. Weder zur Pflege noch zum Gesundheitswesen noch zur Rente haben Sie Vereinbarungen getroffen. Das lag nicht daran, dass Sie keine Zeit gehabt hätten, das auszuhandeln; der Grund war vielmehr, dass Sie sich über die ganze Themenpalette von Kopfpauschale bis Bürgerversicherung nicht einig sind. Da kann es doch keine vernünftigen Kompromisse in der Gesundheitspolitik geben. ({1}) Wagen Sie doch endlich mehr Freiheit! Ich höre die Ankündigung, Bürokratie abzubauen, seit Jahren. Wolfgang Clement ging jede Woche mit einem neuen bunten Luftballon durch die Landschaft - Stichwort „Masterplan Bürokratieabbau“ - und am Schluss kam ganz wenig dabei heraus. Ich bin sehr gespannt, was diesmal herauskommt. Der beste Weg wäre, mehr Kompetenzen auf die Länder zu verlagern und den föderalen Wettbewerb zu fördern - „race to the bottom“ zwecks Abbau der Bürokratie -, damit es wirklich zu einem Befreiungsschlag bei uns kommt. Die Handschellen, die wir dem Mittelstand und der Wirtschaft in Deutschland durch zu viele Regelungen - sie verhindern, dass Arbeitsplätze entstehen - angelegt haben, müssen endlich abgelegt werden. Herr Glos, ich finde es ganz gut, dass Sie Änderungen am Gaststättengesetz vornehmen wollen. Aber die Abschaffung des „Frikadellenabiturs“ allein wird die Lösung der Probleme der deutschen Volkswirtschaft nicht bringen. Da muss schon ein bisschen mehr kommen. Bisher ist jedenfalls festzustellen, dass die große Koalition den Wettbewerb sträflich vernachlässigt. Ihre Ansätze sind interventionistisch, industriepolitisch. Die Lex Telekom, die veranlasst, die Telekom bei der Breitbandkabelkommunikation aus dem Wettbewerb herauszunehmen, ist kein Beitrag, mehr Freiheit zu wagen und den Wettbewerb zu stärken. Im Gegenteil: Es ist geradezu eine Privilegierung. ({2}) Ihnen geht es bei Freiheit offenbar um die Freiheit vom Wettbewerb statt um die Freiheit zum Wettbewerb. Wir brauchen mehr Freiheit zum Wettbewerb, damit der Wettbewerb die Wirtschaft besser steuern kann und damit es zu besseren Ergebnissen kommt. Wir haben immer noch ein Monopol bei der Briefbeförderung. Dieses Monopol hätten wir schon längst abschaffen können. Auch Ihre Leuchtturmprojekte sind sehr fragwürdig. Sie legen fest, was zukunftsweisend ist - das sind die so genannten Leuchtturmprojekte -, statt mehr Wettbewerb zuzulassen. Nur durch Wettbewerb und nicht durch Festlegungen von Beamten kommen wirtschaftliche Erfolge zustande. ({3}) Der europäische Steuerwettbewerb soll verhindert werden. Die Bundesregierung will, dass die Regionalfördermittel für solche Mitgliedstaaten gestrichen werden, deren Unternehmensteuerquote angeblich zu niedrig ist. Das ist ein tolles System: Statt selbst besser zu werden, werden die, die es besser machen, bestraft und sollen unsere schlechten Regeln übernehmen. So kommen wir wahrlich nicht voran. Ein weiterer Schritt in die falsche Richtung wäre, dass durch EU-Beschluss festgelegt wird, dass die Wirtschaft Chinas, Indiens und anderer Länder nicht mehr schneller als unsere wachsen darf. Das wäre nicht „Freiheit wagen“, sondern einfach Unsinn. ({4}) Ihr neuester Vorstoß, EU-Subventionen für Arbeitsplatzverlagerer zu verbieten, ist natürlich ein interessanter Ansatz. Für mich ist das ein Ablenkungsmanöver, weil gerade die Bundeskanzlerin die Mittel für die osteuropäischen Staaten aufgestockt hat. Diese Staaten haben nun noch mehr Mittel, um im Wettbewerb zu bestehen. Dennoch fordern Sie, diese Mittel zu reduzieren. Das hätte Frau Merkel wunderbar machen können, indem sie den Osteuropäern keine höheren Mittel für die regionale Wirtschaftsförderung faktisch zugestanden hätte. Europäische Dienstleistungsrichtlinie: Hierbei wird das Herkunftslandprinzip fundamental infrage gestellt. Wir sind ein Hochlohnland, Hochsteuerland und Hochbürokratieland. Deshalb müssen wir dort ansetzen, dies reduzieren und mehr Freiheit wagen, um bessere Ergebnisse zu erzielen. Das Institut der deutschen Wirtschaft hat vorgerechnet, dass wir durch einen umfassenden Bürokratieabbau 30 Milliarden Euro mehr erwirtschaften, 600 000 neue Arbeitsplätze schaffen und 1,5 Prozent mehr Wachstum erreichen könnten. Machen Sie es doch! Niemand hat Sie gehindert. Ihr leidenschaftlicher Juniorpartner SPD hat dies in den sieben Jahren, in denen er mit den Grünen regiert hat, nicht getan, sondern, im Gegenteil, die Bürokratie noch weiter verstärkt. Was von der Klausurtagung in Genshagen nach außen gedrungen ist, ist auch kein Beitrag zu dem Ziel, mehr Freiheit zu wagen. ({5}) Wenn man die Verteilung über die Erwirtschaftung setzt, kommt man natürlich nicht voran. Das Kernproblem der deutschen Volkswirtschaft ist, dass unser Wachstumspfad, die Entwicklung des Produktionspotenzials, zu schwach ist. Bei diesem Wachstumspfad - der Sachverständigenrat hat maximal 1,2 Prozent attestiert - können wir keine echte Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt erreichen. Die Bundesbank sagt, dass wir mindestens 2 Prozent reales Wachstum brauchen, um auf dem Arbeitsmarkt echte Veränderungseffekte zu erreichen; andere Institute sprechen von 1,8 Prozent. Aber all Ihre Prognosen - für 2007 ist Ihre persönliche Prognose 1 Prozent, wie Sie bei Ihrer Pressekonferenz gestern dargelegt haben - liegen deutlich unter dem, was wir bräuchten, damit wir die Wende auf dem Arbeitsmarkt schaffen. Ihre Strategie - wir machen in diesem Jahr nichts, weil sieben Wahlen anstehen; wir lassen weiter ein Defizit durchlaufen; wir machen ein bisschen Konjunkturprogramm, was eine veraltete Strategie aus den 60erund 70er-Jahren ist und nicht wirken kann; das Abkassieren beginnt erst 2007, nach den sieben Wahlen; da wird der Aufschwung hoffentlich so stark sein, dass er über diese Hürde hinweg trägt - ist eine sehr gewagte spielerische Strategie. Besser wäre es, das gleich richtig zu machen, den Menschen die Wahrheit zu sagen, die Dinge in Ordnung zu bringen, die Reformen umzusetzen, die Belastung zu reduzieren und die elementaren Kenntnisse der Volkswirtschaft umzusetzen. Sie geben sich stattdessen einem Wunschdenken hin: Plötzlich ist alles schön. Die beiden Partner in der Koalition sind in den Flitterwochen und haben sich so lieb, dass gar keine Diskussion mehr aufkommen soll. Gesundbeten wird aber nicht helfen. Der Export läuft gut - Gott sei Dank -, aber die gleichen guten Produkte, die wir im Ausland gut verkaufen können, finden im Binnenmarkt keinen Absatz, weil kein Vertrauen da ist und weil keine Berechenbarkeit gegeben ist. Ein Steuererhöhungsprogramm, das den Menschen ab 2007 für den Rest der Legislaturperiode 120 Milliarden Euro abnimmt, ist wahrlich kein Konzept, das einen dauerhaften Aufschwung bewerkstelligen kann. Schauen Sie sich in Großbritannien, Schweden und den Niederlanden einmal an, weshalb dort die Arbeitslosigkeit weniger als halb so hoch wie in Deutschland ist! Das ist deshalb so, weil diese Staaten eine andere Strategie eingeleitet haben, weil sie den Staat ein Stück zurückgenommen haben, weil sie den Menschen ihr Geld schneller zurückgegeben haben, weil sie stärker dereguliert haben und weil sie ihre sozialen Sicherungssysteme in Ordnung gebracht haben. Das sind die Ansätze, die auch für Deutschland richtig wären. Was wir tun müssten, wissen wir. Das sagt die Bundesbank. Das steht im Gutachten des Sachverständigenrats. Das sagen uns der Internationale Währungsfonds und die OECD. Nur, es wird nicht umgesetzt. Was hier halbherzig betrieben wird, wird nicht die Lösung der Probleme bringen. Es ist kein Jahreswirtschaftsbericht, der einen überzeugenden Weg aus der deutschen Situation aufzeigt. Er enthält ein bisschen Wunschdenken, nennt ein bisschen hier und ein bisschen da. Die Trippelschritte sind nicht der richtige Ansatz, um die Probleme zu lösen. Hier gilt die alte Regel: Wenn man wirtschaftlich etwas erreichen will, muss man klotzen und darf nicht nur kleckern. Mit Kleckern und Trippelschrittchen kann man sich ein bisschen bewegen, wenn es kalt ist, aber man erreicht nicht die Geschwindigkeit, die notwendig ist, um zum Ziel zu kommen und die Probleme zu lösen. Vielen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Kollege Stiegler ist der nächste Redner für die SPDFraktion.

Ludwig Stiegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Brüderle ist wirklich ein armer Tropf. Er ist eigentlich ein grundkonstruktiver Mensch. Mir tut herzlich Leid, dass er hier für die FDP, die als einzige der früheren Oppositionsfraktionen in dieser Rolle verblieben ist, weiter Trübsal blasen muss. Früher war das ein Orchester. Jetzt gibt es nur noch eine einsame Posaune, aber der Resonanzboden reicht nicht, um die Stimmung in der deutschen Wirtschaft wirklich zu beeinflussen. Herr Brüderle, reden Sie doch so, wie Sie wirklich sind, und lassen Sie uns gemeinsam etwas für den Aufschwung tun! ({0}) Ihnen kann doch nicht entgangen sein, dass der IfoKonjunkturindex die 100 wieder überschritten hat. Das heißt, die Stimmung in der Wirtschaft zeigt etwas anderes, als Sie dargestellt haben. Sie hocken wie der Frosch bei schlechtem Wetter ganz unten, während diejenigen, die in der Wirtschaft die Verantwortung tragen, längst nach oben geklettert sind und sich freuen, dass die Sonne wieder scheint. Sie sind noch wie zugefroren, während die anderen wie die Veilchen aus der Erde kommen. ({1}) Der Ifo-Konjunkturindex - Sie wissen es doch selber, Herr Westerwelle - zeigt die Geschäftserwartungen und die Geschäftswirklichkeit und widerlegt damit den liberalen Pessimismus. Eigentlich müssten die Liberalen optimistisch sein, statt zu weinen und zu klagen. ({2}) Schauen Sie sich an, was die Institute sagen. Wir sind zurzeit eher unteroptimistisch, was die amtlichen Daten betrifft. ({3}) Auch das ist eine Methode, sich positiv überraschen zu lassen. Machen Sie mit! Heute Morgen stellt der Sparkassen- und Giroverband seine Mittelstandsdiagnose vor. Alle Experten sagen, dass selbst der Mittelstand, der ja besondere Probleme hat, wieder investiert und wieder mehr Mut hat. Ausgerechnet in Rheinland-Pfalz, wo Sie in Einigkeit mit uns Sozialdemokraten regieren, sind die Handwerker mit am optimistischsten. ({4}) Also, Herr Brüderle, nehmen Sie von dem Optimismus Ihrer Handwerker in Rheinland-Pfalz etwas mit ins Plenum, dann geht es uns allen besser! ({5}) Meine Damen und Herren, der sieben Jahre dauernde Kampf zwischen den beiden Lagern hat letztlich darin geendet, dass die Leute depressiv wurden, weil niemand mehr wusste, wie es vorangeht. Die Taktik des Schlechtmachens des anderen, damit man selber gut dasteht, hat niemandem geholfen. Es ist einer der Vorteile der großen Koalition, dass keiner mehr den anderen anschwärzen kann, weil er sich gleichzeitig selbst anschwärzen würde. Wir sind zum gemeinsamen Erfolg verurteilt und wir wollen ihn gemeinsam haben. ({6}) Unsere Aufgabe in diesem Jahr ist es, den Aufschwung zu stärken, um die internen wie die externen Belastungen zu überstehen und voranzukommen. Natürlich wissen wir, dass die Mehrwertsteuererhöhung ein Eisbatzen im Gefäß ist; aber wir müssen die Konjunktur so anheizen, dass die Wirtschaft das verträgt. Die deutsche Volkswirtschaft hat 2005 mit den Öl- und Energiepreissteigerungen eine vergleichbare Belastung weggesteckt und ist trotzdem gewachsen. Damals kam diese Belastung von extern. Da haben die Scheichs und andere das Geld kassiert; aber wir haben das weggesteckt und Sie haben es auch nicht beklagt. In dem Moment jedoch, wo wir zur Haushaltskonsolidierung beitragen wollen, fangen Sie an zu jammern. Wenn wir aber den Haushalt nicht konsolidieren würden, würden Sie hier den Weltuntergang verkünden. Das ist ja fast wie zwischen Scylla und Charybdis, wenn man es Ihnen Recht machen will: Wenn man das eine vermeidet, fällt man dem anderen zum Opfer. Herr Brüderle, lassen Sie uns gemeinsam in der Mitte bleiben, dann kommen wir auch voran! Wir haben die Genshagener Impulse. Das Handwerk wirbt mit dem Programm der großen Koalition bei seiner Kundschaft. Wo hat es das je gegeben? Das Handwerk setzt Vertrauen in uns. Mit dem CO2-Gebäudesanierungsprogramm starten wir, Herr Brüderle, am 1. Februar. Unsere klugen Haushälter haben einen Bypass gefunden, wodurch die Behinderung, die in den letzten Wochen aufgetreten ist, symbolisch bleibt, aber keine Wirkung entfaltet. Auch das gehört zur Regierungskunst. ({7}) Sie sollten uns darum eher beneiden, als herumzukritteln. Die Abschreibungsverbesserung verursacht gerade im Aufschwung einen zusätzlichen Schwung für die Investitionstätigkeit. Im Gegenzug zur Mehrwertsteuererhöhung haben wir gerade für die kleinen und mittleren Unternehmen eine ganze Menge zusätzlicher Liquidität bereitgestellt. Die von Ihnen angesprochene zusätzliche Beitragszahlung wird über Monate so verteilt, dass sie von den Unternehmen verkraftet werden kann. Die Wirkungen der Multiplikatoren unserer Maßnahmen - wir stehen zu diesen Maßnahmen - werden die Schwierigkeiten durchaus ausgleichen. Ich hoffe sogar, dass sie sie übertreffen werden. Sie werden im Laufe des Jahres Mühe haben, auf den Erfolgszug aufzuspringen. Aber wir werden Ihnen die Hand reichen, damit Sie nicht unter die Räder geraten. ({8}) - Gucken Sie sich das ruhig an! Ich muss ja Herrn Brüderle sozusagen pflegen; denn er regiert mit uns in Rheinland-Pfalz. Für mich ist es also eine besonders schwierige Situation. ({9}) Ich möchte diese Freundschaft erhalten. ({10}) - Es ist mein Schicksal, dass ich immer nach ihm reden und daher diese depressiven Einschübe überwinden und zum Optimismuspfad zurückkehren muss. ({11}) Das werden wir miteinander schon hinbekommen. Im Mittelpunkt stehen die kleinen und mittleren Unternehmen. Die „Diagnose Mittelstand“ des Deutschen Sparkassen- und Giroverbands zeigt: Es ist besser geworden; wir sind aber hinsichtlich der Eigenkapitalausstattung und anderer Dinge noch längst nicht dort, wohin wir wollen. Wir müssen uns gemeinsam um die Finanzierungsfragen kümmern und die Eigenkapitallücke mit den mezzaninen Instrumenten überwinden helfen. Wir werden mit der KfW reden, dass die Mittelstandsförderprogramme an das neue Ratingsystem, an Basel II, entsprechend angepasst werden. Wir werden uns gemeinsam auch um die Möglichkeiten der Beteiligung an kleinen und mittleren Unternehmen kümmern. Das gilt für die Arbeitnehmerbeteiligung genauso wie für die Beteiligung von Menschen an der Finanzierung der kleinen und mittleren Unternehmen in ihrer Region. Es ist doch verrückt, dass wir in Forschung und Entwicklung viel Geld investieren, aber wenn es um Seed Capital und um Wachstumskapital geht, dann brauchen wir die Private Equity, also die amerikanischen Rentner. Dieses Land kann das für seine Volkswirtschaft selbst organisieren. Das müssen wir miteinander anpacken. ({12}) Wir werden daher gemeinsam das Unternehmensbeteiligungsgesetz verbessern. Die Risiken 2006 sind Rohstoffpreise und Energiekosten. Das ist eine schwere Hypothek. Die Nachfrage nach Rohstoffen nimmt zu. Wir haben in den letzten Jahren erlebt, was hohe Rohstoffpreise bedeuten. In Bezug auf die Energiekosten und Sicherheit bei der Energieversorgung gibt es Fragen. Unsere Antwort ist Effizienzsteigerung durch Technik und, Herr Brüderle, auch durch Wettbewerb. Wir werden bei der Energieversorgung die Anreizregulierung mithilfe des Ministeriums und der Regulierungsbehörde durchsetzen. Ihr Beitrag ist dabei durchaus erwünscht. Aber daneben geht es, wie gesagt, auch um die Technik. Das Unwort des Jahres heißt Entlassungsproduktivität. Wir setzen den Managern entgegen: Der Fortschritt wird nicht durch Entlassungsproduktivität hervorgebracht, sondern durch eine kostenentlastende Effizienz und durch kostenentlastende Rohstoffproduktivität. Für ihre hohen Einkommen sollen die Manager ihr Gehirnschmalz auf die Weiterentwicklung in diesen Bereichen einsetzen. Das ist unsere gemeinsame Forderung. ({13}) Ich stimme Sigmar Gabriel und Michael Müller ausdrücklich zu, dass die Energie- und Rohstoffintelligenz die Zukunftsfragen sind, vor denen wir stehen. Deshalb müssen wir die neuen Potenziale der erneuerbaren Energien erkennen und beherzt nutzen. Vor dem Hintergrund der aktuellen Preisentwicklung tun sich völlig neue Horizonte auf. Wir müssen die Übergangsenergien bis hin zu den Null-Emission-Kraftwerken voranbringen. Die große Koalition wird deshalb schwerpunktmäßig die Forschung und Entwicklung stärken sowie Bildung, Ausbildung und Weiterbildung vorantreiben. Herr Brüderle, das ist der Pfad, auf dem Sie uns begleiten sollten. Sagen Sie Ja! ({14}) - Er verhält sich sehr sperrig. 2006 bietet also gute Aussichten auf mehr Wachstum und Beschäftigung, beispielsweise auch im Bereich des Tourismus. Wir wollen die Fußballweltmeisterschaft nutzen und dabei wollen wir uns nicht von einer schlechten Seite zeigen. Wir wollen weder Militär vor den Stadien sehen ({15}) noch wollen wir, dass die Gastwirte ihre Monopolstellung nutzen und zu hohe Preise verlangen. Wir müssen uns nachhaltig auf den Incoming-Tourismus ausrichten, damit sich Deutschland dauerhaft als Zielland für Reisen etabliert. Dafür müssen wir die Weltmeisterschaft nutzen. Das ist ein ganz wichtiger Faktor. ({16}) Der Tourismus schafft Arbeitsplätze in der Fläche, in den strukturschwachen Regionen. Wir wollen auch das nutzen, was der Arbeitsminister jetzt angestoßen hat: ein Kurzarbeitergeld in schwierigen Tourismusstandorten, die nur eine kurze Saison und in diesem Bereich noch Schwierigkeiten haben. Auch diese Beschäftigungsprobleme wollen wir angehen. ({17}) Wir wollen gemeinsam den Standort fördern. Es ist Musik in meinen Ohren, wenn Michael Glos, der noch vor einem Jahr in seinen Reden den Weltuntergang gepredigt hat, ({18}) jetzt ganz anders spricht. Insofern setzt Herr Brüderle das fort, was früher ({19}) die beiden Wunschpartner für eine Alternativkoalition, die nicht gewählt worden ist, gemeinsam verkündet haben. Dies ist jetzt nur noch eine zarte Stimme und klingt nicht mehr nach einem Kontrabass. Wir haben jetzt den Standortvorteil „große Koalition“. Wir können das gemeinsame Projekt „Fuchs und Rappe vor dem Staatswagen“ durchführen. Sie werden uns nicht dazu bringen, dass wir uns gegenseitig verbeißen. Wir werden vielmehr klar vorausgehen. Entscheidend ist aber, dass wir die bei den Menschen bestehende Angst vor Veränderungen überwinden, dass wir Zukunftsangst in Zukunftsvertrauen umwandeln und dass wir den Menschen den Glauben an die Handlungsfähigkeit zurückgeben. Dazu gehört ein verlässlicher Sozialstaat und nicht Ihre Vorstellung von Freiheit, Herr Brüderle - die der Vogelfreiheit nahe kommt -, sondern Freiheit für alle durch soziale Sicherheit und das Vertrauen, dass man in schwierigen Umständen Geborgenheit findet. ({20}) Darum werden wir zusammen mit unseren schwarzen Brüdern und Schwestern ({21}) die europäische Dienstleistungsrichtlinie so gestalten - wir werden uns gemeinsam anstrengen -, dass der Sozialstaat nicht gefährdet wird. Zum Zukunftsvertrauen gehört, dass wir die Menschen an Bildung teilhaben lassen, dass wir Bildung als Zukunftsvorbereitung verstehen, dass auch diejenigen, die aus prekären Verhältnissen kommen, die Chance haben, in den Zug einzusteigen, und dass wir keine Talente zurücklassen. Das ist ein Stück Geborgenheit. Zukunftsvertrauen besteht zum Beispiel für den Mittelstand darin, Zugang zu Finanzierungselementen zu haben, die bisher nicht zur Verfügung standen. Herr Brüderle, die Liberalen vergessen gelegentlich: Auch der Sozialstaat ist eine Produktivkraft. Sie sehen etwa an dem verrückten Verhalten von Electrolux in Nürnberg, welche Krisen daraus erwachsen. Sie haben bei Conti in Hannover gesehen, in welche Krisen man Unternehmen führt, weil die Manager mit Entlassungsproduktivität arbeiten. Sie sollten neue Produkte, neue Verfahren, neue Effizienzen suchen und die Menschen mitnehmen. Das wäre die richtige Antwort. ({22}) Zu einem guten Sozialstaat gehört auch, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mitgenommen werden. Wir wissen, dass die Tätigkeit der Unternehmer diesen mehr Vermögen und mehr Einkommen gebracht hat als die Tätigkeit der Arbeitnehmer den Arbeitnehmern. Deshalb muss die differenzierte Tarifrunde dazu beitragen, dass die Arbeiternehmerinnen und Arbeitnehmer einen fairen Anteil am wirtschaftlichen Erfolg bekommen. Wir haben also einerseits die Aufgabe, Marktdynamik zu entfalten, und andererseits die Aufgabe, das Gemeinwohl zu sichern. Markt und Gemeinwohl müssen im Gleichgewicht bleiben. Das ist das, was Ludwig Erhard mit Wohlstand für alle gemeint hat. ({23}) Das ist unser Auftrag. Steigen Sie also ein! Machen Sie mit! Mit Trübsalblasen kommt man zu keinem Fortschritt. Lasst uns dieses Jahr mit Zukunftsvertrauen angehen! Wir fangen zu Beginn des Jahres mit Anstößen an und bezahlen, wie in der Vergangenheit oft geschehen, nicht mehr am Ende des Jahres den Verlust, der durch mangelnde Aktivität zustande kommt. Wir fangen gleich richtig an. Glückauf! ({24})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile dem Kollegen Oskar Lafontaine für die Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Oskar Lafontaine (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin heute in der außergewöhnlichen Situation, meinen Beitrag zum Jahreswirtschaftsbericht mit einem ausdrücklichen Lob der Bundesregierung beginnen zu können. Dieses Lob spreche ich deshalb aus, weil selten eine Regierung in so eindrucksvoller Klarheit die Früchte ihrer Arbeit im Jahreswirtschaftsbericht dargestellt und prognostiziert hat wie diese Regierung. Ich bin sicher, dass auch die Abgeordneten der Koalition interessiert sind, zu hören, was die Bundesregierung von diesem Jahr erwartet. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass man nicht immer dazu kommt, alle Unterlagen bis zum Ende zu lesen, und trage daher jetzt die wichtigsten Sätze vor. Die Regierung sagt auf Seite 96: Die Summe der Nettolöhne und -gehälter stagniert in diesem Jahr erneut. Dort heißt es weiter: Die Selbständigen- und Vermögenseinkommen dürften … in diesem Jahr kräftig zunehmen … Die Regierung geht von 7,25 Prozent aus. Ich möchte das noch einmal verdeutlichen: Die Arbeitnehmer erhalten nichts und die Vermögenden und diejenigen, die über Gewinneinkommen verfügen, erhalten wie im vergangenen Jahr einen Zuwachs in Höhe von 7,25 Prozent. Das stellt die Regierung als Ergebnis ihrer Wirtschaftspolitik richtigerweise fest. ({0}) Im Bericht heißt es weiter, dass sich die monetären Sozialleistungen des Staates insgesamt leicht vermindern werden. Das heißt, der Staat wird weniger soziale Leistungen erbringen. Am Schluss dieser eindrucksvollen Zukunftsbilanz heißt es: Ferner werden angesichts einer stagnierenden Lohnentwicklung im vergangenen Jahr die Renten erneut nicht steigen. Das alles ist richtig, aber ich habe selten ein Resümee gelesen, in dem in solch beeindruckender Klarheit von einer Regierung festgestellt wird, dass weiter von unten nach oben umverteilt wird und dass diese Regierung dazu steht. Ich möchte in aller Deutlichkeit sagen: Wir halten das für eine katastrophale Bilanz. ({1}) Ich habe hier bereits darauf hingewiesen - und muss mich wundern, dass es nicht aufgegriffen wurde -, dass sich eine Schlüsselgröße der Volkswirtschaft, nämlich die Löhne, in Deutschland beängstigend entwickelt. Wir haben im letzten Jahr zum ersten Mal nach dem Krieg sinkende Bruttolöhne verzeichnet. Ich wiederhole das, weil auch in der Berichterstattung immer wieder von sinkenden Netto- oder Reallöhnen die Rede war. Wir hatten erstmals sinkende Bruttolöhne! Es war nicht nur so, dass die Gewinn- und Vermögenseinkommen deutlich gestiegen sind, sondern gleichzeitig hat man den Arbeitnehmern, wie die Wirtschaftsabteilungen der Gewerkschaften ausgerechnet haben, brutto 6 Milliarden Euro genommen. Ich kenne keinen vergleichbaren Industriestaat, der eine solche Entwicklung verzeichnet. Trotzdem hat ein Redner in diesem Hause gesagt: Die Sonne scheint. Ich will mich mit ihm gar nicht persönlich auseinander setzen, darf aber für die große Mehrheit der Bevölkerung feststellen, dass die Sonne nicht scheinen wird, weil die Renten trotz steigender Preise nicht steigen werden und weil die Bruttolöhne trotz steigender Preise sinken oder stagnieren werden. Das heißt, die große Mehrheit des Volkes wird in diesem Jahr weiterhin Verluste hinnehmen müssen. Das ist eine beängstigende Bilanz, zu der man doch Stellung nehmen müsste! ({2}) In dieser Situation ist das Hauptanliegen der Regierungsparteien und auch konkurrierender Parteien, die Lohnzusatzkosten zu senken. Die hohen Lohnzusatzkosten seien das wichtigste Problem unserer Volkswirtschaft. Aus Unternehmersicht sind Lohnzusatzkosten Löhne. Angesichts der Tatsache, dass die Bruttolöhne sinken, ist es ganz merkwürdig, wenn man davon spricht, dass das Hauptanliegen unserer Volkswirtschaft darin bestehe, die Lohnzusatzkosten zu senken; das sei vor allem wichtig, weil wir sonst international nicht mehr wettbewerbsfähig seien. Welch ein gigantischer Schwachsinn - ich muss das hier so deutlich sagen - wird täglich abgesondert, wenn davon gesprochen wird, dass wir international nicht mehr wettbewerbsfähig seien! ({3}) Wir sind die wettbewerbsfähigste Industrienation der Welt! Kein anderes Land exportiert so viele Waren wie die Bundesrepublik Deutschland. Weder die Chinesen noch die Inder, noch die Japaner oder die US-Amerikaner exportieren so viel wie wir; dennoch heißt es immer wieder, wir seien international nicht wettbewerbsfähig. Wenn die Realität nach wie vor so geleugnet wird, wie es zurzeit geschieht, wird es niemals möglich sein, in Deutschland zu Wachstum und Beschäftigung zu kommen. ({4}) Nun hat der Bundeswirtschaftsminister gesagt, wir stünden bei der Steuerquote doch nicht schlecht da. Es wurde insoweit eine gewisse Korrektur all der Beiträge vorgenommen, die in den letzten Monaten geleistet worden sind, als immer wieder darauf hingewiesen worden ist, dass die Steuerquote bei uns vielleicht nicht ganz so hoch, die Abgabenquote aber beträchtlich sei. Insofern ist es verdienstvoll, dass für all diejenigen, die sich falsch geäußert haben - ich will niemanden persönlich ansprechen -, im Jahreswirtschaftsbericht wieder einmal die Steuer- und Abgabenquote nach der OECD-Statistik für Deutschland im internationalen Vergleich dargestellt worden ist. Jeder, der willens ist, nachzulesen, kann auf Seite 23 nachlesen, dass wir bei der Steuerquote Großbritannien um circa 9 Punkte nach unten übertreffen. Bei der Abgabenquote liegt Deutschland bei 34,6 Prozent und Großbritannien bei 40,6 Prozent. Das sind - bezogen auf unser Bruttosozialprodukt - weit über 160 Milliarden Euro, die den öffentlichen Haushalten in Großbritannien zusätzlich zur Verfügung stehen, und Großbritannien hat keine Einheit zu finanzieren. Ist denn immer noch nicht klar, dass es mit einer solchen Steuer- und Abgabenpolitik unmöglich ist, einen modernen Industriestaat zu verwalten? ({5}) Kein Industriestaat der Welt leistet sich eine solch katastrophale Fehlentwicklung. Ich wiederhole für das geschätzte Plenum die Durchschnittszahlen: Während der europäische Durchschnitt bei der Steuerquote bei 28,9 Prozent liegt, liegt er bei uns bei 20,4 Prozent. Während der europäische Durchschnitt bei der Abgabenquote bei 40,5 Prozent liegt, liegt er bei uns bei 34,6 Prozent. In einer solchen Situation muss man natürlich dazu kommen, dass man die sozialen Leistungen kürzt. In einer solchen Situation muss man natürlich dazu kommen, dass man für die Rentner nichts mehr übrig hat. Aber ein solcher Weg kann immer nur zu demselben Ergebnis führen: Im Export sind wir stark, weil eine solche Politik den Export nicht gefährdet, sondern eher noch leicht unterstützt. Aber auf dem Binnenmarkt wird es sein wie immer in den vergangenen Jahren: kein Wachstum und damit auch keine Unterstützung für Beschäftigung, was wir in diesem Lande jedoch dringend bräuchten. ({6}) Weder mit einer Politik der Umverteilung von unten nach oben, die Sie in eindrucksvoller Weise hier dargelegt haben, ({7}) noch mit einer Steuerpolitik, die angesichts der beabsichtigten Mehrwertsteuererhöhung weiter von unten nach oben umverteilt, ist irgendeine vernünftige Wirtschaftspolitik zu machen. Um das auch Herrn Kuhn von den Grünen noch einmal zu sagen: Die Alternative zu einer drastischen Mehrwertsteuererhöhung ist nun einmal eine Vermögensteuer, für die ich hier nachdrücklich werben möchte. ({8}) Ich will noch einmal die Zahlen dazu nennen: Das Geldvermögen der Deutschen beläuft sich auf über 4 000 Milliarden Euro. Von diesen 4 000 Milliarden Euro - einfach zum Nachrechnen - haben die obersten Zehntausend 2 000 Milliarden Euro. Hätte irgendjemand den Mut, nur das Geldvermögen der obersten Zehntausend mit 5 Prozent zu besteuern, käme man in die Nähe der durchschnittlichen europäischen Abgabenquote und hätte in den öffentlichen Haushalten 100 Milliarden Euro mehr zur Verfügung. ({9}) Stattdessen kürzen Sie Renten, soziale Leistungen und drücken auf Löhne. Ich möchte noch etwas zur Lohnentwicklung in Deutschland sagen. Sie kommt nicht von ungefähr und es ist auch nicht so, dass man sich zurücklehnen und sagen kann, dafür seien die Tarifparteien in der Verantwortung. Nein, die große Koalition oder die Allparteienkoalition, die in den letzten Jahren hier gewirkt hat, hat erheblichen Anteil an diesem Ausnahmezustand, dass die Bruttolöhne in Deutschland fallen. Wer Freiheit versteht, Herr Kollege Brüderle - das muss ich hier einmal sagen -, als Freiheit von Tarifverträgen, wer Freiheit versteht als Freiheit von Kündigungsschutz, wer Freiheit versteht als Freiheit von sozialer Sicherung - ich denke dabei an das Streichen der Arbeitslosenhilfe und das Kürzen des Arbeitslosengeldes -, der setzt die Arbeitnehmer einer Situation aus, in der sie leichter erpressbar sind, in der sie es nicht wagen, kräftig für ihre Interessen einzutreten, aus Angst, dann Hartz-IV-Bezieher zu werden. Deshalb sinken die Löhne und deshalb ist diese perverse Arbeitsmarktpolitik endlich zu revidieren. ({10}) Vor dem, was Sie hier selbst bilanziert haben, kann doch niemand die Augen verschließen. Sie bilanzieren eine Umverteilung von unten nach oben. Schrecklich! Früher hätte es von bestimmten Gruppen bei einer solchen Bilanz Aufstände gegeben. Sie sagen hier dann noch fröhlich: Die Sonne scheint. ({11}) - Es ist so. Leider ist es aber so, dass die Sonne hier im Reichstag nur auf eine gewisse, ausgewählte Körperschaft scheint. Das ist bekanntlich nicht eine Versammlung von Hartz-IV-Empfängern, Rentnern oder Arbeitnehmern, die im Niedriglohnbereich tätig sind. Das ist das Problem. ({12}) Ich möchte noch einen Satz - meine Redezeit ist leider gleich zu Ende ({13}) zu Ihrer Bemerkung, Herr Kollege Brüderle, auf die Zwischenfrage des Kollegen Diether Dehm zur Deutschen Bank sagen. Sie hätten schon etwas dazu sagen können, warum die Einkommen der Schwächsten systematisch fallen und die großen Betriebe keine Steuern mehr zahlen. Dazu kann man doch etwas sagen! Sie meinten dann, auf die Kombinate in der ehemaligen DDR verweisen zu müssen. Erlauben Sie mir dazu noch diese Bemerkung: Ich habe in der Presse gelesen, dass der Vorsitzende des Verwaltungsrates der BaFin - des Gremiums, das die Geschäftspraktiken der Banken kontrollieren soll -, Herr Staatssekretär Caio Koch-Weser, jetzt zur Deutschen Bank wechselt. Vielleicht haben Sie das gemeint. ({14}) Ich möchte Ihnen dann aber sagen: Wenn das Kombinatswirtschaft ist, dann sitzt das Politbüro nicht mehr in der Regierung, sondern in der Deutschen Bank. Das scheint ein Problem unserer Wirtschaft zu sein. ({15}) Ich fasse zusammen: Bei dieser Art von Wirtschaftsund Finanzpolitik werden Sie im Export kein Unheil anrichten. Insofern können Sie da einen gewissen Beitrag erwarten. Aber auf dem Binnenmarkt wird es wie in all den letzten Jahren sein: Die Umverteilung wird das Wachstum bremsen und die Arbeitslosigkeit wird tendenziell auf hohem Niveau bleiben. Das heißt, Sie selbst kündigen schon den Fehlschlag an, für den Sie dann alle verantwortlich sein werden. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Matthias Berninger, Bündnis 90/Die Grünen.

Matthias Berninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002627, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! So war es in der Vergangenheit immer: Es gab zum Teil ermutigende Signale in der Wirtschaft und es ging in bestimmten Bereichen aufwärts. Die Regierung hat das besonders betont und die Opposition - damals übrigens oft unter tatkräftiger Führung von Michel Glos - hat jedes zarte Pflänzchen, das gezeigt hat, dass es aufwärts geht, gleich wieder zertreten. Auch heute Morgen haben wir das erlebt. Ich als Grüner bin ganz froh, dass sich dieses Bündnis von FDP und Linkspartei noch nicht in der Wirtschaftspolitik abbildet. Aber was kam von links wie von rechts? Nur Mäkelei. Ich finde, wir sollten eines erst einmal feststellen: Dass es in Deutschland ganz offenkundig wirtschaftlich aufwärts geht, ist eine gute Nachricht, und zwar unabhängig davon, wer im Einzelnen die Verantwortung dafür trägt. ({0}) Ich halte überhaupt nichts davon, dass wir in der alten Tradition fortfahren und dieses Land schlechterreden, als es ist. Wir sind ein Land, das jedes Jahr über 80 Milliarden Euro dafür aufbringt, die neuen Bundesländer an die westdeutschen Lebensverhältnisse heranzuführen. Keine andere Volkswirtschaft der Welt schafft das. Besucher, die nach Berlin kommen, jubeln darüber, wie die Situation hier seit der deutschen Einheit ist. Aber was passiert in Deutschland? Über diesen Zustand wird nur gemäkelt. Auch das ist ein Beispiel dafür, wie man dieses Land kaputtreden kann. ({1}) Wir sind inzwischen Exportweltmeister und - auch wenn die CDU/CSU das erst sehr spät gemerkt hat - wir waren es auch schon in der Zeit von Rot-Grün. Wir haben es geschafft, eine Dynamik in Gang zu setzen. Wir haben es geschafft, Weltmarktanteile im Export in den letzten Jahren zu gewinnen. Wer wäre ich, wenn ich mich nicht darüber freuen würde, dass diese Entwicklung weiter vorangeht? Ich finde, das ist kein Grund zum Mäkeln, sondern zeigt, dass dieses Land Stärken hat, auf die wir alle gemeinsam stolz sein sollten. ({2}) Jetzt ist innerhalb der Bundesregierung ein interessanter Streit in Gang gekommen, nämlich der Streit über die Frage: Ist das Wachstum mit 1,4 Prozent vielleicht zu knapp berechnet? Wird das Wachstum im Jahr 2006 nicht vielleicht größer sein? Ich hätte mir gewünscht, dass wir diesen Streit in den letzten Jahren rot-grüner Zusammenarbeit geführt hätten. Wahrscheinlich würde die rot-grüne Regierung dann auch noch bestehen. Aber es ist ein interessanter Streit. Denn ich glaube, dass es in diesem Streit darum geht, ob wir es auch ohne Mehrwertsteuererhöhung schaffen können, dieses Land auf den Erfolgspfad zurückzuführen, oder nicht. Je größer das Wachstum ist, je größer die Staatseinnahmen sind, desto richtiger ist es, auf die Erhöhung der Mehrwertsteuer zu verzichten. Ich glaube, auch das ist der Grund, warum die Regierung die Wachstumsrate jetzt niedrig einschätzt. Sie möchte von der geplanten Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozent nicht abweichen. Das ist ein schwerwiegender Fehler. ({3}) Der Bundeswirtschaftsminister hat sich heute geäußert. Ich bin davon überzeugt, dass Michel Glos in der Zeit in der Opposition lieber im Bundestag gesprochen hat. Aber auch diese Rede wird den Aufschwung in Deutschland nicht verhindern. ({4}) Gestern in der Pressekonferenz hat er deutlichere Worte gefunden; übrigens auch der Bundesfinanzminister im Finanzausschuss hinter verschlossener Tür. Darüber steht in der heutigen Ausgabe der „Financial Times Deutschland“ die schöne Überschrift: „Glos erwartet 2007 Wachstumsdämpfer“. Der Umfang dieses Wachstumsdämpfers - so die Schätzung des Wirtschaftsexperten Michel Glos - beträgt 1 Prozentpunkt. Ich finde, das ist eine richtige Einschätzung, Herr Bundeswirtschaftsminister. Die Mehrwertsteuererhöhung wird uns 1 Prozentpunkt unseres Wirtschaftswachstums kosten. Wir werden den Anschluss an die Wachstumsraten der anderen Länder in Europa aber nicht schaffen, wenn wir einfach sehenden Auges in Kauf nehmen, dass das Wachstum unserer Wirtschaft um 1 Prozentpunkt geringer ausfällt. Die Steuermindereinnahmen, die dadurch entstehen, und die Arbeitsplätze, die wir dadurch gefährden, kosten den Staat mehr Geld, als er durch die Mehrwertsteuererhöhung einnimmt. Das war, glaube ich, die Sorge, die Michel Glos bewogen hat, auf der gestrigen Bundespressekonferenz Tacheles zu reden. Ich finde, diesen Aspekt hätte er auch hier im Deutschen Bundestag durchaus ansprechen können. ({5}) Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat beschlossen, in den nächsten vier Jahren 25 Milliarden Euro in ein Investitionsprogramm zu stecken. Nun kann man über die Wirkung von Investitionsprogrammen streiten. Wenn wir aber angesichts eines Bruttoinlandsprodukts von 2,2 Billionen Euro nur ungefähr 6 Milliarden Euro pro Jahr in die Hand nehmen, dann muss man schon sehr optimistisch und sehr hoffnungsfroh sein, wenn man glaubt, dass das ausreicht, um unsere Wirtschaft wirklich voranzubringen. ({6}) Dennoch halten wir Grüne viele Elemente dieses Investitionsprogramms für durchaus vernünftig. Ein Beispiel ist das Gebäudesanierungsprogramm, das Teil dieses Investitionsprogramms ist. Warum ist das Gebäudesanierungsprogramm so wichtig? Die Mietnebenkosten sind in Deutschland um ein Drittel gestiegen. Die Gas- und Energiepreise belasten die Haushalte, vor allem die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen. Das Gebäudesanierungsprogramm ist nicht nur für die Umwelt gut, sondern es ist auch angewandte Sozialpolitik. Diese galoppierenden Kosten müssen wir nämlich in den Griff bekommen. Zudem sichert dieses Programm Arbeitsplätze im Handwerk. Aber das, was in den letzten Wochen passiert ist, sollte uns doch zu denken geben. Ludwig Stiegler sagte, im Haushaltsausschuss sei ein Bypass gelegt worden. Das ist nicht die Dynamik, die wir uns wünschen. Im Klartext: Das, was dort geschehen ist, ist Gemurkse; es geht hin und her, vor und zurück. Die Leute, die sich heute entscheiden wollen, ein Haus zu bauen oder zu sanieren, wissen nicht genau, woran sie sind. ({7}) Das klare Signal, dass dieses Programm sofort in Gang kommt und wir in Schwung kommen, wäre besser. ({8}) Diese Regierung hat folgendes Problem: Ihr Investitionsprogramm krankt daran, dass im Deutschen Bundestag erst nach den Landtagswahlen über den Bundeshaushalt diskutiert werden soll. Dadurch sind viele Maßnahmen auf die lange Bank geschoben. Aber die Menschen, die in diesem Bereich investieren wollen, brauchen jetzt Verlässlichkeit und Planungssicherheit. ({9}) Wenn man Zeitungen und Zeitschriften aus dem Bereich Bauen durchblättert, dann ist das wie die bunte Illustration eines Programms der Grünen: Es geht um Themen wie Holzpelletheizungen, Wärmedämmung, Solarzellen auf den Dächern und Solarthermie. Alle möglichen Bestandteile eines zum einen Wachstum schaffenden und zum anderen die Arbeitsplätze im Handwerk sichernden Programms sind darin enthalten. Ich bin froh darüber, dass die Bundesregierung dieses Investitionsprogramm um die Gebäudesanierung ergänzt hat. Ich würde mir allerdings wünschen, dass Sie jetzt Tempo machen, damit die Arbeitsplätze, um die es hier geht, auch tatsächlich entstehen. Es darf nicht bei bunten Bildern in sehr fortschrittlichen Zeitungen zum Bauen und Wohnen bleiben. ({10}) Beim Thema Planungssicherheit komme ich auf ein zweites Beispiel zu sprechen: die Biokraftstoffe. Die rot-grüne Bundesregierung hat das klare Signal gesetzt, dass die Produktion von Biokraftstoffen in Deutschland gefördert wird. In den sieben Jahren der rot-grünen Regierungszeit ist Deutschland, was die Produktion von Biokraftstoffen betrifft, zum Spitzenreiter geworden. Was ist durch Ihre Koalitionsvereinbarung passiert? ({11}) - Ludwig Stiegler sagt: „Das bleiben wir auch!“ ({12}) Jeder, der sich mit diesem Thema beschäftigt - dort sitzt zum Beispiel der Kollege Schindler, der wahrscheinlich ein Lied davon singen kann -, weiß: Der Markt ist verunsichert. Diejenigen, die investieren wollen, fragen sich: Wird es noch eine Steuerbefreiung geben oder nicht? Wird es zu einem Einspeisezwang kommen? Was wird geschehen? All das wissen sie nicht. ({13}) Herr Bundeswirtschaftsminister, ich bitte Sie: Nehmen Sie sich dieses Themas an, sorgen Sie für Klarheit und lassen Sie uns in Alternativen zum Öl investieren! Denn die Ölpreisentwicklung ist ausgesprochen besorgniserregend. ({14}) Ludwig Stiegler hat gesagt, die Mehrwertsteuererhöhung würde schon irgendwie verkraftet werden. Ich sage noch einmal: In den nächsten vier Jahren wollen Sie den Leuten 75 Milliarden Euro aus der Tasche ziehen, 25 Milliarden Euro wollen Sie in Form eines Investitionsprogramms zurückgeben. Das ist der Unterschied zwischen dem Kotelett und dem Schwein, den der wirtschaftspolitische Sprecher der FDP vorhin angesprochen hat. Aber das Grundproblem, Herr Kollege Stiegler, ist, dass die Mehrwertsteuererhöhung und der Anstieg der Energiepreise nicht alternativ, sondern kumulativ zu betrachten sind; denn die Energiepreise steigen in diesem Jahr genauso wie im letzten Jahr. ({15}) Das bedeutet: Die Mehrwertsteuererhöhung kommt zu den galoppierenden Energiepreisen noch hinzu. Das wird unsere Binnenkonjunktur endgültig zum Erlahmen bringen. ({16}) Der Kollege Lafontaine hat ein klares Bild, wie man das mit der Binnenkonjunktur hinkriegen kann; es wird ja hier gebetsmühlenartig vorgetragen. ({17}) Es gibt ein Problem mit der berühmten Wettbewerbsfähigkeit über Lohnstückkosten, über das man, wie ich finde, reden muss. Was die Lohnstückkosten angeht, sind wir in Deutschland wahnsinnig erfolgreich: In den letzten beiden Jahren sind die Lohnstückkosten bei allen unseren Wettbewerbern gestiegen - bei uns sind sie um 8 Prozent gesunken. Das ist eine Erklärung dafür, warum wir Exportweltmeister sind. ({18}) Es gibt nur ein Problem: Die Senkung der Lohnstückkosten beruhte zum einen auf Sozialreformen, das heißt, wir haben Einsparungen machen müssen, die zum Teil schmerzhaft waren. Ein zweiter Grund, warum wir so niedrige Lohnstückkosten haben, ist die gestiegene Arbeitslosigkeit. Diese gestiegene Arbeitslosigkeit, die Massenentlassungen bei vielen Unternehmen haben uns zwar wettbewerbsfähig gemacht, aber vielen Menschen die Existenz geraubt. Deshalb finde ich es unredlich, zu argumentieren, man müsse im Bereich der Lohnkosten gar nichts machen, weil die Lohnstückkosten ja so niedrig sind. Das Gegenteil ist richtig: Wenn wir davon wegkommen wollen, dass Rationalisierung nur über den Faktor Arbeit stattfindet, dann müssen wir uns stärker um die Senkung der Lohnnebenkosten kümmern. ({19})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Berninger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lafontaine?

Matthias Berninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002627, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Oskar Lafontaine (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, dass sich angesichts der Entwicklung der Lohnstückkosten in Deutschland - ich nenne das „das deutsche Lohndumping“ - Spanien, das ja an der Währungsunion teilnimmt, hinsichtlich der Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Deutschland bereits um 20 Prozent verschlechtert hat? Eine ähnliche Zahl wird für Portugal gemeldet, und auch in Italien ist eine solche Entwicklung zu verzeichnen. Ist Ihnen auch bekannt, dass der Chefvolkswirt der Deutschen Bank gesagt hat, da Italien ja nicht mehr abwerten kann, müssten dort die Löhne um bis zu 20 Prozent gekürzt werden? Ist Ihnen bekannt, dass aufgrund der törichten Politik in Deutschland viele Stimmen in Europa mittlerweile sagen, wir legten den Sprengsatz an das europäische Währungssystem, weil sich die anderen nicht mehr durch Abwertung zur Wehr setzen können?

Matthias Berninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002627, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nun kommen wir von den Lohnstückkosten zur Währungspolitik. Herr Kollege Lafontaine, zum einen denke ich, über die Frage „Euro, ja oder nein?“ brauchen wir hier nicht mehr zu diskutieren - der Euro ist eingeführt. Ich bin ein überzeugter Europäer, ich glaube, dass es richtig ist, auf den europäischen Binnenmarkt zu setzen. Er ist ein weiterer Grund, warum wir Exportweltmeister sind. ({0}) Wir haben nämlich für Deutschland sowohl in den alten EU-Ländern als auch in den Beitrittsländern enorme Märkte. Vor diesem Hintergrund will ich mich, was den Populismus zum Euro angeht, eher zurückhalten. Zum Zweiten: Der Grund, warum wir gegenüber diesen Ländern durch niedrigere Lohnstückkosten einen Wettbewerbsvorteil errungen haben, hängt weniger mit dem Euro zusammen als vielmehr damit, dass Deutschland ein hohes technologisches Rationalisierungspotenzial hat, dass die in Deutschland ansässigen Unternehmen sehr innovativ waren, mehr Güter mit weniger Arbeit zu produzieren - auch, weil über unser soziales Sicherungssystem die falschen Anreize gesetzt worden sind. Dass wir so erfolgreich waren, führt dann eben dazu, dass andere Länder ein Problem haben. Aber lassen Sie uns nicht in einen Populismus verfallen, den Euro infrage zu stellen und den europäischen Binnenmarkt als einen zerfallenden Binnenmarkt anzusehen, dessen Teilnehmer untereinander lediglich konkurrieren. ({1}) Damit bin ich bei einer interessanten Anmerkung von Michel Glos vom gestrigen Tag. Der Bundeswirtschaftsminister hat gestern gesagt: Lassen Sie uns einmal darüber nachdenken - er hat einen Brief nach Brüssel geschrieben -, die Strukturförderung für die Beitrittsländer künftig an die Frage zu koppeln, ob dadurch vielleicht auch Wettbewerber entstehen und ob damit Arbeitsplatzverlagerungen von Deutschland nach Tschechien oder Polen oder sonst wohin verbunden sind. Hintergrund sind die Arbeitsplätze, die bei Continental in Hannover, bei der AEG und anderswo in Gefahr sind. Aus drei Gründen finde ich diese Form von Populismus falsch: Grund Nummer eins ist, dass die Bundeskanzlerin während der Verhandlungen über den Finanzrahmen der EU bis 2013 Gelegenheit hatte, dieses Thema zur Sprache zu bringen. Sie hat es, wohlverstanden, nicht gemacht, weil die Abgrenzung, wann eine Strukturförderung arbeitsplatzverlagernd ist oder nicht, so schwierig ist. Grund Nummer zwei - ich sagte es schon -: Deutschland hat schon jetzt von der Erweiterung der EU profitiert: Die Wachstumsraten unserer Wirtschaft auf diesen neuen Märkten - ob das Ungarn ist, ob das Polen ist, ob das Tschechien ist - sind so groß, dass wir uns auch hier nicht schlechtreden müssen. Deutschland ist auf diesen Märkten erfolgreich. Dann müssen wir aber umgekehrt auch diesen Ländern eine Chance geben. Deshalb teile ich die Einschätzung, dass der Bundesfinanzminister mit Brandbriefen bezüglich der Steuersätze für Unternehmen in diesen Ländern nur ein mildes Lächeln ernten wird. Der dritte Grund. Die Regelungen zur deutschen Einheit wurden von uns nicht anders gestaltet. Von den 80 Milliarden Euro, die von West nach Ost transferiert werden, fließen viele Mittel in die Strukturförderung. Das führt dazu, dass Betriebe von Westdeutschland nach Ostdeutschland abwandern. Nehmen Sie als Beispiel die Firma Müller Milch. Müller Milch hat in Niedersachsen seine Molkereien zugemacht und dort mehr Menschen entlassen, als in Sachsen beim Neuaufbau eingestellt wurden. Allerdings muss man anmerken, dass sich die neuen Länder in einem Aufholprozess befinden. Den sollten wir unterstützen. ({2}) Ich glaube, dass die Arbeitslosigkeit nur mit einer Kombination aus mehr Wachstum und Strukturförderung - dazu müssen wir den Mut haben - bekämpft werden kann. Die Regierung hat in diesem Punkt, wie ich meine, ein großes Defizit, über das hier noch gesprochen werden muss. In unserem Land besteht ein enger Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Qualifizierung. Probleme gibt es bei uns, anders als in anderen Ländern, vor allem bei den niedrigqualifizierten Menschen, bei den Menschen im niedrigen Einkommensbereich. In diesem Zusammenhang will ich etwas zu der aktuellen Tarifdebatte sagen: Über die Frage, ob die Forderung der IG Metall nach 5 Prozent mehr Lohn richtig ist oder nicht, sollen die Tarifpartner entscheiden. Dabei haben sie bisher immer große Weisheit an den Tag gelegt. Ich finde, wir sollten uns nicht an dem Aushandlungsprozess beteiligen. Was mich aber freut, ist, dass die IG Metall, nach Verdi die größte Einzelgewerkschaft in Deutschland, in diesen Tarifverhandlungen erstmals das Thema Weiterbildung ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt hat. Das hätte auch der Bundeswirtschaftsminister in seiner Rede positiv unterstreichen können und er hätte die IG Metall einmal loben können, ohne befürchten zu müssen, danach im CSU-Präsidium geprügelt zu werden. Das ist der richtige Weg. ({3}) Wir müssen mehr im Bereich Qualifizierung tun, wenn wir die Arbeitslosigkeit senken wollen. Nun hat der Bundeswirtschaftsminister gestern etwas gemacht, was ich sehr bedenklich finde. Letzte Woche haben wir mit großem Konsens die Angleichung des Arbeitslosengeldes II im Osten an das Westniveau beschlossen. Gestern ist in den Veröffentlichungen der Agenturen zu lesen gewesen, der Bundeswirtschaftsminister stehe Subventionen im Niedriglohnbereich skeptisch gegenüber. Herr Bundeswirtschaftsminister, ich teile zwar diese Ihre Einschätzung; denn so etwas führt zu Mitnahmeeffekten und zu so genannten Drehtüreffekten. Unternehmen werden davon profitieren, sie werden Menschen Arbeit geben, andere dafür aber entlassen. Das ist der falsche Weg. Weiter haben Sie gesagt, man müsse die Sozialtransfers bei den unteren Einkommen absenken, so wie uns das Herr Sinn aus München empfiehlt. Wir können aber nicht in der einen Woche beschließen, das ALG II im Osten an das Westniveau anzugleichen, und in der nächsten Woche die Menschen noch stärker verunsichern, die in den letzten Jahren real Einkommensverluste zu erleiden hatten. Das ist - Herr Lafontaine, da sind wir wieder einer Meinung - der falsche Weg. Deswegen machen wir Ihnen den Vorschlag, die notwendige Senkung der Lohnnebenkosten und somit der Arbeitskosten auf die kleinen und mittleren Einkommen zu konzentrieren. Das ist der richtige Weg. Wenn wir es schaffen würden, die Lohnnebenkosten im unteren Einkommensbereich stärker zu senken und die Steuerfinanzierung der Lohnnebenkosten dort zu konzentrieren, dann hätten wir eine Chance, die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wirksam in Gang zu setzen. Das könnte diese Regierung auf den Weg bringen. Das würde mehr Zuversicht geben. Das würde auch mehr Investitionen nach sich ziehen. Vor allem würde es Menschen Beschäftigung geben, die schon viel zu lange auf einen Arbeitsplatz warten. Ich danke Ihnen. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Michael Meister für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Michael Meister (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002733, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundeswirtschaftsminister hat heute den Jahreswirtschaftsbericht der neuen Bundesregierung, den ersten in seiner Amtszeit, vorgelegt. Die Tendenz ist klar erkennbar: Es geht aufwärts in Deutschland. Nach fünf Jahren Stagnation kommt die deutsche Volkswirtschaft wieder in Gang. Daran kann man sehen: Der Eintritt der Union in die Regierung macht sich bemerkbar. ({0}) Der Ifo-Geschäftsklimaindex ist - er wurde schon mehrfach erwähnt - auf dem höchsten Stand seit fünf Jahren. ({1}) Der Dax liegt auf einem Vierjahreshoch. Die Unternehmen schauen wieder mit Zuversicht in das Jahr 2006. Immer mehr Ökonomen heben ihre Prognosen für das vor uns liegende Jahr an. Der Opposition möchte ich mit den Worten unseres ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss sagen: „Der einzige Mist, auf dem nichts wächst, ist der Pessimist.“ Deshalb bitte ich Sie, den allgemeinen Optimismus in Ihren Reihen aufzunehmen und konstruktiv daran mitzuwirken, ({2}) dass es in Deutschland mit der Wirtschaft und dem Arbeitsmarkt wieder aufwärts geht. ({3}) Der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit hat die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt zum Jahreswechsel dargestellt. Ich darf ihn zitieren: Die Entwicklung der letzten Monate gibt uns Zuversicht für das … Jahr 2006. Das ist die großartige Botschaft zu Beginn dieses Jahres. Im Jahreswirtschaftsbericht wird deshalb zu Recht festgestellt: Der Aufschwung ist in Gang gekommen. Das Wirtschaftsklima verbessert sich branchenübergreifend. - Es bestätigt sich wieder einmal der Lehrsatz von Ludwig Erhard: „Konjunktur ist zu 50 Prozent Psychologie“. An dieser Stelle hat die neue Bundesregierung einen neuen Pflock eingeschlagen und Vertrauen geschaffen. Sie ist verlässlich und berechenbar und schafft damit Vertrauen für die Akteure in der Wirtschaft. Diesen Kurs müssen wir in Ruhe und Gelassenheit weiter verfolgen. ({4}) Ich möchte die Kollegen der Opposition einladen, sich nicht darauf zu beschränken, den Kurs und die Strategie dieser Regierung zu kritisieren, wie das heute Morgen geschehen ist, sondern eine alternative Strategie vorzulegen. ({5}) - Herr Brüderle, ich habe das in dieser Debatte vermisst. Wo ist Ihre konstruktive Alternative? ({6}) Man löst keine Probleme, indem man nur Bedenken vorträgt. Sagen Sie doch einmal, wie Sie den Haushalt sanieren wollen! Sagen Sie, wie Sie mehr Beschäftigung schaffen wollen! Sagen Sie, wie Sie konkret die Sozialsysteme reformieren wollen! ({7}) Dann können wir darüber streiten, wer die richtige Strategie in diesem Lande verfolgt. ({8}) Ich glaube, diese Regierung hat den richtigen Schwerpunkt gesetzt. Wir werden das Notwendige tun, um die Anstrengungen für Wachstum und Beschäftigung voranzubringen. Wir haben uns darauf verständigt, die Reformen an unserem Standort einzuleiten, die notwendig sind, um uns den Weg in die Wissensgesellschaft zu bahnen. Deutschland kann sich besser auf die Herausforderungen der Zukunft vorbereiten. Wir werden den Menschen in Deutschland mehr Freiheit geben, damit sie sich auf diese neuen Rahmenbedingungen einstellen können. ({9}) Mit neuen Leistungsanreizen werden wir den Menschen die Chance geben, diese Freiräume eigenverantwortlich auszufüllen. Zudem wollen wir die Marktkräfte dauerhaft stärken, damit die vorhandenen Wachstumspotenziale genutzt werden können. Wir sollten den Menschen hier nichts Falsches einflüstern. Der Kollege Lafontaine hat eben die Bruttolohnsumme angesprochen und den Menschen sozusagen unterschwellig suggeriert, wir müssten unsere Probleme mit massiven Lohnerhöhungen lösen. Das ist ein vollkommen falscher Ansatz. Die Bruttolohnsumme besteht aus der Summe aller Individuallöhne. Unser Problem liegt doch darin, dass die Beschäftigtenzahl in den vergangenen Jahren massiv zurückgegangen ist. Wir müssen daran arbeiten, dass die Beschäftigtenzahl steigt. Dann werden die Menschen auch wieder mehr Einkommen haben und mehr Geld in die Hand nehmen. Deshalb müssen wir uns mit der Frage beschäftigen, wie wir mehr Menschen in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung bekommen. Dort müssen wir den Schwerpunkt setzen. Wir sollten keine Vorschläge auf den Tisch bringen, die dazu führen, dass die Beschäftigtenzahl noch weiter nach unten geht und wir noch weiter in dieses Dilemma schlittern, Herr Lafontaine. ({10}) Diese Bundesregierung hat einen Dreiklang festgeschrieben: Wir wollen den Haushalt sanieren, wir wollen Investitionsanreize setzen und wir wollen langfristige Strukturreformen auf den Weg bringen. Ich glaube, dass dieser Dreiklang der richtige Ansatz ist, um die Lage unseres Landes zu verbessern und mehr Wachstum und Beschäftigung zu erreichen. Es ist gelegentlich sinnvoll, zu schauen, wie andere, die uns von außen betrachten, unsere Strategie kommentieren. Die Europäische Kommission hat gestern gesagt: Deutschland verfolgt eine kohärente, integrierte und angemessene Strategie, um zu mehr Wachstum und Beschäftigung zu kommen. - Ein besseres Gütesiegel der Wirtschaftspolitik dieser neuen Regierung hätten wir uns gar nicht wünschen können. Deshalb: Nehmen Sie diese positive Beurteilung doch einmal auf und orientieren Sie sich daran! ({11}) Der Bundeswirtschaftsminister hat den Dreiklang dargestellt. Die Haushaltskonsolidierung ist ein zentrales Ziel in dieser Legislaturperiode. Ich möchte hier auf den Chefökonomen der Europäischen Zentralbank, Otmar Issing, hinweisen. Er hat in einem Interview in den vergangenen Tagen gesagt: Keine Regierung wird auf Dauer bestehen können, wenn sie den Haushalt nicht konsolidiert. Damit hat er absolut Recht. Konsolidierung ist kein Selbstzweck. Alle wissenschaftlichen Untersuchungen zeigen, dass die Konsolidierung der Staatsfinanzen per se eine wachstumssteigernde Wirkung hat. Deshalb werden wir über einen verlässlichen Konsolidierungspfad dazu kommen, das Wachstum in Deutschland längerfristig anzureizen. Wir müssen uns im Zuge der Haushaltskonsolidierung auch auf die Herausforderungen der noch zu erwartenden Lasten durch die demografische Entwicklung vorbereiten. Die Tatsache, dass heute ein neugeborenes Kind mit 18 000 Euro Schulden zur Welt kommt, ist nicht akzeptabel. In Zukunft müssen wir weniger Schulden machen und unseren Staatshaushalt ausgleichen. ({12}) Die neue Bundesregierung packt das Problem der Haushaltskonsolidierung entschlossen an. Ich möchte allen Kritikern sagen: Sie bieten keine Alternative an. Wir würden uns gerne mit Ihnen über eine Alternative streiten. Legen Sie sie doch einfach vor! Diejenigen, die Sie nach vorne geschickt haben, sind, als sie die Möglichkeit hatten, das Problem zu lösen, bei Nacht und Nebel durch die Hintertür geflohen und jetzt stellen sie sich hier hin und treten als die großen Ratgeber auf. ({13}) Sie hatten doch damals die Möglichkeit, die Probleme zu lösen. Warum haben Sie es nicht getan? Warum sind Sie einfach verschwunden? Der Konsolidierungsbedarf ist enorm. Ein Viertel der Ausgaben des Bundes sind nicht durch laufende Einnahmen gedeckt. Deshalb werden wir in den kommenden Jahren massiv und eisern sparen müssen, um die Vorgaben in Art. 115 des Grundgesetzes und des europäischen Stabilitätspaktes, die Einhaltung der Maastrichtkriterien, zu erreichen. Heute Morgen ist schon intensiv darüber diskutiert worden, wie wir das Wirtschaftswachstum für 2006 einschätzen. Ich bin sehr froh, dass wir mit einer realistischen, aber auch konservativen Wachstumseinschätzung in dieses Jahr gehen. Wir haben in den vergangenen Jahren oft erlebt, dass die Erwartungen nicht übertroffen, sondern unterlaufen wurden. Jetzt haben wir die Chance, dass sich die Erwartungen, die wir wecken, auch wirklich erfüllen werden und dass wir durch die Basiseffekte für die kommenden Jahre einen positiven Schub erreichen, statt Defiziten hinterherzulaufen. Deshalb werbe ich dafür, diese neue Strategie in den Folgejahren fortzusetzen und in Zukunft mit realistischen, aber konservativen Einschätzungen Wirtschaftspolitik zu gestalten. Das Impulsprogramm, das die Regierung vorgelegt hat, dient dazu, kurzfristig Investitionsanreize zu setzen. Es ist richtig, Herr Brüderle, dass wir nicht nur fordern, den Privathaushalt als Arbeitgeber zu entdecken, sondern dies auch schlicht und ergreifend tun. Genau das machen wir mit diesem Programm. Freuen Sie sich doch mit uns gemeinsam, dass dadurch neue legale Beschäftigung in Deutschland entsteht und mehr Menschen in Beschäftigung kommen! ({14}) Freuen Sie sich darüber, dass wir den Unternehmen nicht sagen, dass sie warten müssen, bis wir eine ausgereifte Unternehmensteuerreform auf den Weg gebracht haben, was wir uns bis zum 1. Januar 2008 vornehmen, sondern dass wir diese zwei Jahre mit Abschreibungsbedingungen überbrücken, die Investitionen am Standort Deutschland auch in diesem Zeitraum attraktiv machen. Entscheidend aber ist natürlich die Frage: Können wir Strukturreformen umsetzen? Hier sind wir - lassen Sie mich das an dieser Stelle sagen - in einer komfortablen Lage. Die Koalition hat den klaren politischen Willen, dieses Problem zu lösen. In Bundestag und Bundesrat haben wir die dafür notwendigen Mehrheiten. Darüber hinaus steht uns der komplette steuerpolitische Sachverstand dieser Republik zur Verfügung, der an Lösungen für dieses Problem mitwirkt. Diese einmalige Situation sollten wir nutzen, nicht nur kleine Veränderungen vorzunehmen, sondern eine Strukturveränderung, die langfristig dazu führt, dass unser Standort attraktiv ist. ({15}) Das Thema Föderalismusreform wird mittlerweile seit Jahren diskutiert. Die Regierung und die Koalition haben sich vorgenommen, diese Reform in den ersten sechs Monaten dieses Jahres umzusetzen. Die Strukturveränderung, die wir auf den Weg bringen, wird dazu führen, dass in unserem Land schneller entschieden wird und Kompetenzen klarer geregelt sind. Auch das Thema Bürokratieabbau haben wir uns vorgenommen. Ich glaube, hier können wir diesmal tatsächlich etwas verändern. Wir diskutieren zwar schon seit Jahren über Bürokratieabbau, aber ehrlicherweise sind wir dabei nicht vorangekommen. Jetzt werden wir den Bürokratieaufwand an einzelnen Bestimmungen transparent machen, indem wir anfangen, Bürokratie zu messen. Beim Bundeskanzleramt wird ein Rat eingerichtet - damit wird das Thema Chefsache -, der sich damit beschäftigt, die Bürokratie dort, wo sie wirklich nachweisbar ist, zurückzuführen. Damit hört die Debatte zu diesem Thema, das in jeder Sonntagsrede vorkommt, auf, Herr Brüderle. Diese Regierung fängt an, in der Tagespolitik entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, um zu weniger Bürokratie in Deutschland zu kommen. ({16}) Anhand vieler Großprojekte haben wir erkannt, dass Entscheidungen in unserem Land zu lange dauern. Sie als Rheinland-Pfälzer kennen den Frankfurter Flughafen. Wir alle wundern uns, wie lange die Entscheidungen über neue Landebahnen und über die Werft des A380 dauern. Wir haben uns vorgenommen, dafür zu sorgen, dass Planungs- und Genehmigungsverfahren in überschaubarer Zeit abgeschlossen werden können. Das heißt nicht, alles zu genehmigen und alles kritiklos hinzunehmen. Menschen, die in unserem Land zu Unternehmungen bereit sind, müssen aber in überschaubarer Zeit eine klare Auskunft erhalten, was sie tun können und was nicht. Ich glaube, dass davon ein positiver Impuls für den Standort Deutschland ausgeht. Ich möchte in dieser Debatte zum Jahresbeginn 2006 alle einladen, sich bei der Frage, wie wir unser Land wieder in Gang bringen können, konstruktiv einzubringen. Lassen wir den Missmut beiseite und sorgen wir dafür, dass mehr Menschen in Deutschland Beschäftigung finden und dass sie wieder Vertrauen und Optimismus entwickeln, damit es mit unserem Land aufwärts gehen kann! Deutschland kann es besser und wir wollen dafür sorgen, dass es auch besser wird. Vielen Dank. ({17})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Rainer Wend für die SPD-Fraktion.

Dr. Rainer Wend (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eine große Koalition ist nicht immer einfach. Der Kollege Meister hat uns ein wenig gekitzelt, indem er die besseren Wirtschaftsdaten - vorsichtig ausgedrückt ein wenig einseitig vorträgt und sich darauf beruft, dass sie durch den Eintritt der Union in die Bundesregierung begründet seien. Es trifft sich gut, dass ich einen kurzen Text des Sachverständigenrates bei mir habe, in dem festgestellt wird, dass die große Koalition eine gute Basis für mutige und umfassende Politikmaßnahmen und die Fortsetzung des von Rot-Grün eingeschlagenen Reformkurses sein könne. ({0}) Herr Kollege Meister, das war sozusagen eine kleine boshafte Retourkutsche zu Ihrer Anmerkung. Die große Koalition ist aber auch deshalb nicht einfach, weil die FDP kaum eine Gelegenheit auslässt, Ihnen vorzuhalten, was Sie noch vor einigen Wochen und Monaten gemeinsam auf den Weg bringen wollten und welche Position die Union jetzt vertritt. Die Grünen machen es uns auch nicht leichter, weil sie im Bundestag Anträge vorlegen, die wir in der letzten Legislaturperiode noch mit ihnen gemeinsam eingebracht haben. ({1}) Dennoch muss sich die große Koalition in der gegenwärtigen Situation ihrer großen Verantwortung bewusst werden. Warum ist ihre Verantwortung so groß? Wir kommen nicht daran vorbei, zu erkennen, dass wir in der Ökonomie unseres Landes - übrigens nicht nur in Deutschland, sondern auch im übrigen Kerneuropa dramatische Veränderungen zu verzeichnen haben. Mit der Öffnung Chinas, Indiens und der Länder Osteuropas konkurrieren weltweit circa 2 Milliarden Menschen zusätzlich um Investitionen und Arbeitsplätze. Die Frage ist, wie wir diese große Herausforderung, vor der wir stehen, meistern können. Dafür müssen wir zwei Aufgaben bewältigen. Was die eine Aufgabe angeht, muss ich dem Kollegen Lafontaine widersprechen. Angesichts der zusätzlichen Konkurrenz auf den Weltmärkten bleibt es uns nicht erspart, uns diesem Wettbewerb zu stellen, sei es durch Verbesserungen in Bildung und Forschung - diesen Weg würden wir sicherlich gemeinsam gehen -, sei es über das Steuersystem oder die Frage, wie die Arbeit in den Bereichen zu organisieren ist, in denen die Beschäftigten weniger gut qualifiziert sind. Als große Koalition haben wir aber auch eine zweite Aufgabe, auf die der Kollege Stiegler zu Recht hingewiesen hat. Wir werden nur dann Erfolg haben, wenn es uns gelingt, neben der Wettbewerbsfähigkeit auch die soziale Ausgestaltung unseres Landes beizubehalten. Es kann auch unter den veränderten Wettbewerbsbedingungen nicht richtig sein, wenn sich das Lohnniveau in einer Weise entwickelt, dass wie im Bewachungsgewerbe in Thüringen Tariflöhne von 4 Euro gezahlt werden. ({2}) Wir müssen der ständigen Abwärtsspirale bei den Löhnen entgegenwirken. Deswegen richte ich an die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen die Bitte: Wir müssen einen Weg finden, diese Abwärtsspirale zu beenden. Wir müssen über Instrumente wie den Mindestlohn diskutieren und klären, wie wir denjenigen helfen, die aufgrund ihrer Qualifikation auch zu den gesetzlichen Mindestlöhnen keine Arbeit finden würden. Ein solches Instrument ist beispielsweise der Kombilohn; er käme für diejenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer infrage, die aufgrund fehlender Qualifikation oder anderer Probleme im persönlichen Bereich keine Beschäftigung finden. Lassen Sie mich auf ein Thema eingehen, das mir große Sorgen bereitet und das bislang nur am Rande eine Rolle gespielt hat. Das ist das Thema Europa. Es ist bereits vom Bundeswirtschaftsminister und auch in unserer Koalitionsvereinbarung angesprochen worden. Ich glaube nicht, dass wir folgende zwei Dinge, die miteinander zusammenhängen, hinnehmen können. Das eine Problem ist: Wir fördern in manchen Ländern nicht das Entstehen von neuen Arbeitsplätzen, sondern die Verlagerung von bestehenden Arbeitsplätzen aus dem Land X in das Land Y. Man wird keinem Steuerzahler in Deutschland klar machen können, warum er Steuern zahlen soll, mit deren Hilfe Arbeitsplätze aus unserem Land wegsubventioniert werden. Das ist ein Thema, dem sich die Bundesregierung widmen muss. ({3}) Der Vorwurf, dass die Bundeskanzlerin sogar für zusätzliche Mittel zugunsten Osteuropas gesorgt hat, trägt jedoch nicht; denn dass die Strukturen in Osteuropa - auch mit Hilfe von EU-Mitteln - verbessert werden, ist richtig. Dafür ist zusätzliches Geld notwendig. Aber das darf nicht zur Subventionierung von Arbeitsplatzverlagerungen in die osteuropäischen Staaten führen. Vielmehr müssen dort neue Strukturen und Arbeitsplätze entstehen. ({4}) Das andere Problem ist das Steuerdumping. Ich weiß nicht, ob darüber Konsens herrscht. Ich stelle jedenfalls fest, dass manche Länder nach meiner Wahrnehmung die Mindeststeuerquote unterschreiten. Wenn diese Mitgliedstaaten auf tragfähige Finanzierungsgrundlagen verzichten, dann ist das ihr gutes Recht. Wir werden ihnen kaum etwas anderes vorschreiben können. Dann dürfen aber diese Länder im Gegenzug nicht erwarten, dass andere Länder die Finanzierung ihrer staatlichen Leistungen übernehmen. Diese Diskussion werden wir in Europa führen müssen. ({5}) Herr Kollege Lafontaine, in diesem Zusammenhang möchte ich auf Ihre Argumente eingehen; denn ich finde, dass man sich auch mit dem sehr ernsthaft auseinander setzen sollte, was Sie gesagt haben. Ich habe mich an einer Stelle Ihrer Rede über einen klassischen Populismus geärgert. Sie sagen: Führten wir nur 5 Prozent Vermögensteuer für die Reichsten ein, dann stünden uns 100 Milliarden Euro zusätzlich im Haushalt zur Verfügung. ({6}) Man kann mit mir sicherlich über Steuern und Lenkungswirkungen diskutieren. Wenn aber im Gesetzblatt steht, dass 5 Prozent Vermögensteuer zu erheben sind, bedeutet das noch lange nicht, dass sich die Steuereinnahmen erhöhen. Meine Sorge ist: Uns stehen dann letztlich weniger Einnahmen zur Verfügung, weil eine Erhöhung der nominalen Steuersätze dazu führt, dass das Geld, das Sie besteuern wollen, nicht mehr vorhanden ist. Es steht dann auch nicht mehr zur Verfügung, um in Deutschland investiert zu werden, die Produktivität zu erhöhen und für Wachstum und Beschäftigung zu sorgen. Aus diesem Grund bin ich im Hinblick auf die Einführung einer Vermögensteuer sehr zurückhaltend und werfe Ihnen ein Stück weit Populismus vor. ({7}) Ich möchte noch etwas zum Thema Bürokratieabbau sagen. Ich finde, es ist gut, dass die Bundeskanzlerin dieses Thema in den Mittelpunkt ihrer Rede in Davos gestellt hat. Wir müssen selbstkritisch einräumen - das geht übrigens allen Bundesregierungen der letzten 30 Jahre so -: Wir haben den Bürokratieabbau ständig als Aufgabe benannt. Jeder von uns hat gesagt, dass die ausufernde Bürokratie ein zentrales Problem ist. Das ist sie auch. Wir haben aber letztendlich nicht den richtigen Dreh, den richtigen Ansatzpunkt gefunden, um dieses Problem nachhaltig in den Griff zu bekommen. Wir haben hier und da Verbesserungen vorgenommen. Das Ende vom Lied war allerdings, dass wir mehr Gesetze und Verordnungen als vorher hatten und dass unser Beitrag zum Bürokratieabbau - um es zurückhaltend auszudrücken - sehr begrenzt war. Es lohnt sich aber, darüber zu reden. Wir wollen einen neuen Anlauf wagen. Der Ansatz lautet: Wir messen die Bürokratiekosten, die Unternehmen nur dadurch entstehen, dass sie bestimmte Dokumentations- und Berichtspflichten staatlichen Stellen gegenüber haben - wir reden gar nicht über das materielle Recht, sondern nur über die Dokumentations- und Berichtspflichten -, und wir wollen uns Zielvorgaben setzen, aus denen hervorgeht, in welchem Umfang diese Kosten zu reduzieren sind. Vielen sind die Zahlen bekannt; ich nenne sie dennoch noch einmal. Die Niederländer haben über den Daumen 20 Milliarden Euro Kosten für die Bürokratie errechnet. Auf unser BIP übertragen sind das etwa 80 Milliarden Euro, wenn ich einmal unterstelle, dass wir nicht viel weniger bürokratisch sind als die Niederlande. Wenn es uns gelänge, diese Summe nur um ein Viertel zu reduzieren, würden wir in unserer Volkswirtschaft 20 Milliarden Euro freisetzen, die nicht mehr für Bürokratie, sondern für Investitionen und für Innovationen zur Verfügung stünden. Das ist ein Ansatz zum Bürokratieabbau, über den ich sage: Das lohnt sich. Die große Koalition muss diesen Schritt unternehmen. ({8}) Wir können keine Wunder versprechen, aber wahr ist doch: Reformen einerseits und Sicherung unserer sozialen Systeme andererseits müssen die Grundlage bilden, ergänzt durch positive Stimmungen, die diese große Koalition erzeugt hat und auch in Zukunft erzeugen kann. Wenn uns dies auch weiterhin gelingt, dann wird es zwar immer noch nicht einfach mit der großen Koalition, aber dann wird sie ihrer Aufgabe gerecht, die Herausforderungen in unserem Land anzunehmen und dafür zu sorgen, dass es mit Wirtschaftsentwicklung und Arbeitsplätzen aufwärts geht. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Herbert Schui, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Herbert Schui (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003844, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung und die Koalition haben ihren jüngsten Jahresstagnationsbericht vorgelegt, ({0}) wenngleich mit außerordentlich optimistischem Unterton, optimistisch präsentiert, mit einer ganzen Menge von Beschwörungsformeln, mit gegenseitigem Schulterklopfen und vielem anderen mehr. Die Zukunft wollen Sie gestalten. Das bedeutet dechiffriert: Trotz steigender Arbeitsproduktivität soll der Bruttolohn und damit der Lebensstandard der großen Mehrheit der Bevölkerung sinken. Damit haben Sie gesagt, welche Zukunft Sie für die meisten von uns vorgesehen haben. Das von Ihnen prognostizierte Wirtschaftswachstum in Höhe von 1,4 Prozent beruht auf zwei Ursachen: zum einen auf der Zunahme der Ausrüstungsinvestitionen, zum anderen auf dem Wachstum der Exporte. Sie werden mit mir sicherlich darin übereinstimmen, dass die Zunahme der Ausrüstungsinvestitionen nicht anhalten wird. Zum einen sind es - das ist schon häufig gesagt worden - nichts weiter als vorgezogene Ersatzinvestitionen, die ohnehin irgendwann einmal fällig geworden wären, zum anderen ist die Zinspolitik der Europäischen Zentralbank nicht gerade geeignet, einen Investitionsschub auszulösen. Schließlich gibt es gegenwärtig keine revolutionären Produktionstechniken, die Motiv für eine wirkliche Investitionskonjunktur sein könnten. Es bleibt also nichts weiter als der Export. Dieser Export ist aber deswegen sehr gefährdet, weil der Export Deutschlands Handelsbilanzdefizite bei unseren Handelspartnern hervorruft. Dieser Export könnte dann dauerhaft sein, wenn Deutschland so viel importieren würde, wie es exportiert; er könnte dann dauerhaft sein, wenn die Inlandseinkommen, die Bruttolöhne und Gehälter, so hoch wären, dass so viele Importgüter gekauft würden, dass keiner unserer Handelspartner ein Defizit mit Deutschland realisiert. ({1}) Weil diese Defizite realisiert werden, müssen die Defizitländer über kurz oder lang eine wachstumsdämpfende Politik einleiten. Wenn sie ihr Wachstum bremsen, um weniger im Ausland zu kaufen, dann bedeutet das natürlich, dass diese Exportstütze, diese Wachstums- und Konjunkturstütze, endgültig perdu ist. Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, dass die Vereinigten Staaten in der langen Frist ihr Außenhandelsdefizit von mehr als 600 Milliarden US-Dollar aufrechterhalten werden. Sie werden vorher eine wachstumssenkende Politik einleiten, damit die Importe aus den starken Exportländern wie Deutschland zurückgehen. Insgesamt ist die Konzeption propagandistisch, falsch und ideologisch. Wenn nämlich der Export die einzige Konjunkturstütze ist, dann, so wird stets argumentiert, müssen wir wettbewerbsfähig im Ausland bleiben. Wettbewerbsfähig im Ausland können wir nur bleiben - so argumentiert man weiter -, wenn die Löhne niedrig sind. Das bedeutet aber, dass die Vorteile einer internationalen Arbeitsteilung, von denen in den Lehrbüchern die Rede ist und die auch in Ihren Sonntagsreden hervorgehoben werden, sich in der allgemeinen Wahrnehmung als Bedrohung durch den Weltmarkt darstellen. Der internationale Warenaustausch und die internationale ArbeitsteiDr. Herbert Schui lung sind eben so organisiert, dass der Einzelne nicht davon ausgehen kann, dass wir alle davon profitieren. Das, was Sie Globalisierung nennen, ist in der Tat bedrohlich. ({2}) In einer überschaubaren Frist wird es also nicht zu einer Verbesserung der Lage kommen. Damit Ihr nächster Jahreswirtschaftsbericht wirklich wieder ein Stagnationsbericht wird, haben Sie mittlerweile beschlossen, die Mehrwertsteuer zu erhöhen. Erhöhung der Mehrwertsteuer bedeutet, dass dem privaten Sektor zunächst rund 24 Milliarden Euro entzogen werden. Über die Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung werden ihm 8 Milliarden Euro zurückgegeben. Dem privaten Sektor werden unter dem Strich also 16 Milliarden Euro genommen. Diese 16 Milliarden Euro gibt der Staat aber nicht zusätzlich aus; denn es ist das erklärte Ziel, dass die Ausgaben nicht wachsen und die Neuverschuldung die 3-Prozent-Grenze nicht überschreitet. Infolgedessen haben Sie ein Nachfragesenkungsprogramm aufgelegt. Dieses Nachfragesenkungsprogramm wird nach überschlägigen Rechnungen in einer ersten Runde einen Wachstumsverlust von wenigstens 0,8 Prozentpunkten bedeuten. Das heißt, wenn Sie zurzeit für das Jahr 2007 von 1,5 Prozent Wachstum ausgehen, dann werden Sie bei 0,7 Prozent Wachstum landen. Diese Minderung der Ausgaben hat Folgewirkungen: Wenn weniger ausgegeben wird, nehmen andere Leute weniger ein und geben auch weniger aus. Das verstärkt die negativen Wirkungen. Nach etwa 18 Monaten werden sich diese kumulierten negativen Wirkungen auf das Wachstum auf ungefähr 1,2 Prozentpunkte belaufen. Sie werden dann irgendwelche mythischen Argumente finden müssen, um dennoch neuen Optimismus zu verströmen. Ich bin gespannt, welche Beschwörungsformel dann an der Reihe ist. Herr Bundesminister Glos hat vorhin eher beiläufig gesagt, das niedrige Wachstum in Deutschland liege an der niedrigen Geburtenrate. Wahrscheinlich werden Sie die künftige Argumentation mehr darauf stützen. Alle, die bei der so genannten bürgerlichen Mitte und rechts davon anzusiedeln sind, neigen nicht zur Analyse, wohl aber zu biologistischen Erklärungen. Vielen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Schui, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratuliere, ({0}) verbunden mit allen guten Wünschen für die weitere parlamentarische Arbeit. Nächster Redner ist nun der Kollege Alexander Dobrindt für die CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundeswirtschaftsminister hat einen Jahreswirtschaftsbericht vorgelegt, der zum ersten Mal wieder Visionen enthält. Er hat Prognosen abgegeben, die - wie bei gutem Wirtschaften üblich - konservativ sind. Das heißt, dass wir eine realistische Chance haben, diese Prognosen sogar zu übertreffen. Das ist neu. Nach der Vorlage der Jahreswirtschaftsberichte in der Vergangenheit mussten die Eckpunkte vierteljährlich nach unten korrigiert werden. Im Übrigen war das an der schlechten Stimmung im Land maßgeblich schuld - das ist das Entscheidende -, dass Verlässlichkeit und Planbarkeit von politischen Entscheidungen für die Verbraucher und die Wirtschaft verloren gegangen sind. Politik, die unter dem Motto „Nachbessern“ betrieben wird, kann kein Vertrauen schaffen und sie ist deswegen Teil des vielästigen Problemgestrüpps in unserem Land. Ich bin froh darüber, dass wir das Vertrauen der Menschen nicht abermals mit zu optimistischen Zahlen auf die Probe gestellt haben. ({0}) Politik wirkt natürlich maßgeblich auf die Emotionen der Menschen ein. Ich glaube, es gibt in unserem Land kein emotionaleres Thema als die hohe Arbeitslosigkeit, wobei insbesondere die Langzeitarbeitslosigkeit immer stärker zunimmt und die Arbeitslosigkeit insgesamt inzwischen in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen ist. Wohl jeder kann heute sagen, dass er in seiner Verwandtschaft oder Bekanntschaft auch mit Angst vor Arbeitslosigkeit oder mit Arbeitslosigkeit konfrontiert ist. Deswegen ist es gut, dass der Jahreswirtschaftsbericht einen positiven Ausblick in Bezug auf den Abbau der Arbeitslosigkeit geben kann. Das ist das zentrale Thema, über das wir hier reden müssen. Reformieren und investieren zugleich ist der Schlüssel für langfristige und kurzfristige Maßnahmen, damit Wachstum und Beschäftigung in unserem Land geschaffen werden können. Anders formuliert: Es gilt, Ausgaben zu reduzieren, gezielte Wachstumsimpulse zu geben und gleichzeitig die Einnahmesituation zu verbessern. ({1}) Darin stecken große Herausforderungen, aber damit sind natürlich auch umso mehr Chancen für die Menschen verbunden. Der Vorwurf, der hier formuliert worden ist, dass ein Teil dieser Wachstumsimpulse ein Konjunkturprogramm der alten Prägung sei, greift schlichtweg nicht. Es geht vielmehr darum, den marktwirtschaftlich günstigsten Weg zu finden, notwendige Projekte zu realisieren. Ein Beispiel ist das CO2-Gebäudesanierungsprogramm, das den Zweck hat, die Energieeffizienz zu erhöhen, das heißt im Wesentlichen natürlich Energie zu sparen. Das ist eine wichtige umweltpolitische und wirtschaftspolitische Maßnahme, die zusätzlich gerade der mittelständischen Wirtschaft und den Handwerkern zugute kommt, Arbeitsplätze schafft und Arbeitsplätze sichert. ({2}) „Reformieren, investieren, Zukunft gestalten“ heißt natürlich auch, die Probleme jetzt zu lösen und nicht in die Zukunft, auf die nächste Generation, zu verschieben. Anders formuliert: Politik muss endlich wieder das Zukunftsinteresse vor das Gegenwartsinteresse stellen. Das ist für die meisten Menschen in unserem Land überhaupt nichts Unübliches. Der viel strapazierte Satz „Ich will, dass es meinen Kindern einmal besser geht“ ist genau der Kern der Aussage „Zukunftsinteresse vor Gegenwartsinteresse stellen“. ({3}) Das heißt, die Politik muss mit den Rahmenbedingungen dafür sorgen, dass Wachstum und Beschäftigung ein Niveau erreichen, das weiterhin breitestmöglich Wohlstand und Sicherheit garantiert. ({4}) Deswegen ist ausdrücklich zu begrüßen, dass der Wirtschaftsminister die Förderpraxis der EU kritisiert. Arbeitsplatzverlagerung innerhalb Europas, mit Steuergeldern finanziert, hat nichts mit Wettbewerb zu tun, sondern ist das genaue Gegenteil davon. ({5}) Der Bundesminister hat in seiner Rede die Energiepolitik thematisiert. Er hat vom ausgewogenen Energiemix gesprochen und zu Recht auf die Erwartung der Verbraucher hingewiesen, dass Versorgungssicherheit und wettbewerbsfähige Energiepreise von der Politik mit zu garantieren sind. Gerade die jüngsten Erfahrungen, die auch in Deutschland einen neuen Prozess des Nachdenkens über die hohe Importabhängigkeit Deutschlands bei Energieträgern angestoßen haben, sollten uns dazu veranlassen, über die getroffene Entscheidung zum Ablauf des so genannten Atomausstiegs, das heißt über das Ob und das Wie, neu nachzudenken. Denkverbote dürfen hier nicht erteilt werden. Deswegen ist es sinnvoll, zum kommenden Energiegipfel alle Chancen und Risiken, auch die der bisher getroffenen Entscheidungen zum Energiemix, neu zu überprüfen. ({6}) - Herr Kollege Dr. Wend, ich will nicht auf die Ausführungen Ihrer europäischen Kollegen zurückgreifen; aber wir können bei Gelegenheit über das diskutieren, was darüber heute im „Handelsblatt“ steht. Der Jahreswirtschaftsbericht nimmt umfassend zur Situation im Mittelstand Stellung. Das BMWi hat eine Mittelstandsinitiative angekündigt, die für weniger Bürokratie und mehr Flexibilität sorgen soll - eine Maßnahme, die der Mittelstand in Deutschland dringend erwartet. Nach Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft kann Entbürokratisierung bis zu 600 000 neue Stellen schaffen und einen enormen Wachstumsimpuls geben. Auf der Rangliste der ökonomischen Freiheit liegt Deutschland nur auf Platz 19, weit hinter Ländern wie England, Holland und Österreich. Gerade die ökonomische Freiheit ist aber wesentlich, um die Chance auf Selbstständigkeit zu eröffnen. Deshalb ist außerordentlich zu begrüßen, dass die Bundesregierung eine Gründeroffensive startet mit dem Ziel, eine Selbstständigenquote von über 10 Prozent zu erreichen. Darin liegt eine echte Chance, neue Beschäftigung zu schaffen. Nur Arbeit schafft nämlich Arbeit; die Verteilung von Arbeit schafft keine Arbeit. Meine Damen und Herren, der Kollege „roter Freund“ Stiegler ({7}) - es sind schwarze Brüder und Schwestern und rote Freunde - hat auf das Unwort des Jahres 2005, „Entlassungsproduktivität“, hingewiesen. Das ist in der Tat ein Begriff, der auf traurige Weise die Tendenz ausdrückt, dass Unternehmen ihre Produktivität oder ihren Mehrwert durch Entlassungen steigern. ({8}) Was wir in unserem Land aber brauchen, ist Einstellungsproduktivität. Darum muss es gehen. Denn nur durch neue Arbeitsplätze wird es wieder stabiles und langfristiges Wachstum in Deutschland geben. Daran müssen wir die Rahmenbedingungen ausrichten. Das Wort des Jahres 2006 muss „Wachstum“ sein. ({9}) Der vorgelegte Jahreswirtschaftsbericht zeigt deutlich die Anstrengungen des Bundeswirtschaftsministers und der Bundesregierung. Die Wirtschaft blickt wieder optimistisch in die Zukunft. Die Menschen gewinnen wieder Vertrauen in die Politik. Ich denke, zusammen sind das gute Voraussetzungen für mehr Wachstum und Beschäftigung in diesem Jahr. Danke schön. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Ute Berg, SPD-Fraktion.

Ute Berg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003504, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach den wirtschaftspolitischen Rundumschlägen meiner Vorredner möchte ich mich jetzt auf einen wichtigen Bereich für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung Deutschlands konzentrieren, und zwar den Bereich Forschung und Innovationen. Als Henry Ford junior nach dem Kriegsende 1945 angeboten wurde, das Volkswagenwerk kostenlos zu übernehmen, hat er geantwortet: Nein danke, dieses Auto ist eine Fehlkonstruktion. - Ich kann nur vermuten, dass er sich über diese grobe Fehleinschätzung später sehr geärgert hat. Jedenfalls zählt Volkswagen zu den größten Erfolgsgeschichten der deutschen Wirtschaft und die deutsche Automobilindustrie gehört weltweit zu den innovationsträchtigsten Industrie- und Forschungsbereichen. Wir alle wissen, dass es von unserer Innovationsfähigkeit abhängt, ob wir weiterhin wirtschaftlich erfolgreich und international wettbewerbsfähig sein werden. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat letztes Jahr eine Studie zur Innovationsfähigkeit Deutschlands veröffentlicht. Ergebnis: Wir sind gut. Im Vergleich mit den weltweit führenden Industrieländern liegen wir im oberen Mittelfeld. Das heißt natürlich, es gibt noch bessere, auch in Europa. Hier bilden Schweden, Finnland und die Schweiz die Innovationselite. Sowohl bei den Ausgaben für Forschung und Entwicklung als auch bei der Umsetzung in marktfähige Produkte sind sie Spitze. Wir müssen also noch zulegen. Wenn wir unseren hohen Lebensstandard im Vergleich zum Beispiel zu Ländern wie China oder Indien halten wollen, die ja immerhin mit uns konkurrieren, dann geht das nur durch die ständige Entwicklung neuer Verfahren, Dienstleistungen und Produkte. ({0}) Was tut die Bundesregierung nun, um die Innovationskapazität der deutschen Wirtschaft zu stärken? Erstens, sie investiert gezielt in Forschung und Entwicklung. Zweitens, sie fördert innovative Unternehmen und den Austausch zwischen Wissenschaft und Wirtschaft. Drittens, sie unterstützt eine gute Ausbildung des Nachwuchses. Wir halten an dem Ziel fest, bis 2010 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes in Forschung und Entwicklung zu investieren. Das wurde vorhin schon mehrfach gesagt und zu den Maßnahmen wurde einiges ausgeführt. Deshalb kann ich das jetzt beiseite lassen. Wichtig ist aber auch: Wir unterstützen nicht nach dem Gießkannenprinzip, sondern fokussieren unsere Forschungsförderung auf bestimmte zukunftsträchtige Schwerpunkte wie zum Beispiel Verkehr und Raumfahrt, Energie und Nachhaltigkeit sowie Nanotechnologien, um hier nur einige Beispiele zu nennen. Damit setzen wir die erfolgreiche Forschungspolitik der Vorgängerregierung fort. So wichtig es nun ist, dass geforscht wird, so wichtig ist es aber auch, dass die Erkenntnisse aus der Forschung ihren Weg in die Wirtschaft finden. Ein Beispiel. Die Firma Sto AG aus Stühlingen in Baden-Württemberg hat eine Wandfarbe entwickelt, die Gerüche und Schadstoffe aus der Raumluft herausfiltert, und zwar einfach durch die Einwirkung von Licht. Diese Entwicklung wäre nicht möglich gewesen ohne die Zusammenarbeit der Firma mit der Uni Erlangen-Nürnberg, die jahrelang an Pigmenten geforscht hat, die organische Stoffe umwandeln können. Bedarf für diese Farbe besteht an vielen Orten, beispielsweise in Kinderzimmern und in Krankenhäusern. Ich könnte noch weitere Beispiele nennen. Innovative Entwicklungen dieser Art als Ergebnis einer guten Zusammenarbeit von Wirtschaft und Wissenschaft werden von der Bundesregierung seit Jahren intensiv gefördert. Zu nennen sind beispielsweise Programme wie Pro Inno, durch das seit 1999 über 5 000 kleine und mittelständische Unternehmen unterstützt wurden. Herr Lafontaine, in unserem Land gibt es doch noch ein bisschen Sonne, was die Wirtschaft angeht. ({1}) Speziell für die neuen Länder hat die letzte Bundesregierung die Programme Inno-Watt und NEMO ins Leben gerufen. Eines von vielen erfolgreichen Beispielen ist das Innovationsnetzwerk Augenoptik Rathenow in Brandenburg, das im Rahmen von NEMO gefördert wird. Dort haben sich 15 kleinere Firmen der Optikbranche zusammengeschlossen, um gemeinsam technische Entwicklungen voranzubringen. Sie arbeiten zusammen mit einem Fraunhofer-Institut und mit Fachhochschulen aus der Region. Sie stellen gemeinsame Systemkataloge zusammen, vermarkten Brillengläser, Mikroskope und Präzisionsmaschinen. Mitte der 90er-Jahre gab es dort 250 Beschäftigte. Inzwischen sind dort über 1 000 zusätzliche Arbeitsplätze entstanden. ({2}) Dieses Beispiel zeigt, wie sehr sich Investitionen lohnen, wenn sie gezielt eingesetzt werden, zum Beispiel zum Aufbau von Netzwerken, so genannten Clustern, die eine enorme Wachstumswirkung entfalten können. Investitionen dieser Art tragen, nebenbei bemerkt, zu ihrer eigenen Refinanzierung bei. Damit aber solche Projekte gelingen, braucht man Menschen mit Erfindergeist, mit Wagemut und - last, but not least - mit einer guten Ausbildung, und zwar von Anfang an: über den Kindergarten, die Schule bis hin zum Berufsbildungs- oder Hochschulabschluss. Auch wenn wir hier den Jahreswirtschaftsbericht diskutieren, ist es mir wichtig, diesen Zusammenhang noch einmal explizit zu betonen: Gute Bildungspolitik ist immer eine Grundvoraussetzung für eine gelungene Wirtschafts- und Technologiepolitik. ({3}) In diesem Bereich haben wir, wie wir aus internationalen Studien wissen, noch einen gewissen Optimierungsbedarf. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Ortwin Runde, SPDFraktion.

Ortwin Runde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003619, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Positionswechsel sind schon mehrfach angesprochen worden. Es ist in der Tat erstaunlich, wie schnell und reibungslos einige einen solchen Wechsel vollziehen. Andere wiederum haben ihre Schwierigkeiten damit. Was die Positionswechsel angeht, freue ich mich durchaus, dass die Zahl derjenigen, die an die Bewältigung der Probleme optimistisch gestaltend herangehen - in diesem Punkt kann ich für mich eine gewisse Kontinuität in Anspruch nehmen -, gewaltig zugenommen hat. ({0}) Dass sich einige aufgrund der Positionswechsel ein wenig einsam fühlen, Herr Brüderle, kann ich nachempfinden. Ich möchte bei dieser Diskussion darauf hinweisen, dass sich auch Positionen inhaltlicher Art verändert haben. Ich habe unsere Diskussion über den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt aus dem letzten Jahr und unsere Diskussion über die Frage, wie man damit umgeht, noch gut in Erinnerung. Ich kann mich auch noch gut an die verschiedenen Defizitprognosen erinnern. Wir können nun resümieren. Herr Kampeter lag mit seiner Prognose bei über 40 Milliarden Euro. Am Ende waren es 31 Milliarden Euro. Das ist ja ein Unterschied. Daraus ziehen einige in Bezug auf den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt den Schluss - gerade aus der Wissenschaft, in der es sehr unterschiedliche Denkschulen gibt -, dass es angesichts einer Defizitquote von 3,4 Prozent anstatt von 3,9 Prozent, die von der Regierung ursprünglich nach Brüssel gemeldet wurden, ein Leichtes wäre, eine Quote von 3 Prozent schon in 2006 zu erreichen. Ich muss sagen, dass wir diese Diskussion nicht in der Koalition führen, sondern es sich dabei um eine Randbegleitung durch die Wissenschaft handelt. Das macht die Veränderung in den gesamten Einstellungen deutlich. ({1}) Ich habe natürlich immer ein bisschen den Verdacht, dass auch die FDP diese Diskussion führen möchte. Nun muss man sich vorstellen: Die Defizitquote um 0,4 Prozentpunkte reduzieren zu wollen, klingt wenig, bedeutet aber: Jede Reduzierung um 0,1 Prozentpunkt erfordert Einsparungen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro. Bei 0,4 Prozentpunkten müsste man also 10 Milliarden Euro einsparen. Herr Brüderle ist immer gut im ganz Abstrakten; er fordert allgemein die Entlastung der Bürger. Konkret wird er aber nie. ({2}) Bezogen auf den Bundeshaushalt bedeuten Einsparungen natürlich, den Zusammenhang von abstrakter Ökonomie und Gesellschaftspolitik herzustellen. Dann ist man sehr schnell bei der Frage: Wen trifft es? Man sieht, die Hauptausgabenblöcke liegen bei den Renten und Ähnlichem.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brüderle?

Ortwin Runde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003619, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Immer. Das belebt das Geschäft.

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Kollege Runde, wir haben uns als kleine Oppositionspartei sehr viel Mühe gemacht - wir haben ja nicht wie der Finanzminister einen Apparat von ein paar Tausend Beamten, die ihm zuarbeiten können -, haben ein Sparbuch mit Einsparmöglichkeiten in Höhe von 30 Milliarden Euro vorgelegt und damit die Finanzierung unseres Steuerkonzeptes offen dargelegt. Das hat keine andere Partei gemacht. ({0}) Statt uns zu loben, kritisieren Sie uns nun. Sie sollten dankbar sein für unsere Hilfestellung.

Ortwin Runde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003619, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie zu loben, würde mir leichter fallen, ({0}) wenn Ihre Konzepte wirklich politiktauglich wären. Wenn man Ihre Steuerkonzepte anschaut, stellt man fest, dass Ihre Partei die Handlungsunfähigkeit des Staates herbeiführen will. ({1}) Wenn ich mir ansehe, zu welchen Einnahmeausfällen Ihre Steuerkonzepte führen würden, dann kann ich nur sagen: Das ist nicht verantwortbar. ({2}) Dass die große Koalition die Handlungsfähigkeit des Staates sicherstellen will, ist eine der Veränderungen, die im Koalitionsvertrag deutlich wurde und die in den letzten Wochen und Monaten schon in ersten Gesetzen umgesetzt wurde. Ich erinnere mich an jede Sitzung im Finanzausschuss, in der wir über den Abbau der Eigenheimzulage und die Abschaffung von Verlustzuweisungsgesellschaften diskutiert haben. Ihre Vertreterinnen und Vertreter sagten immer: Das alles darf nicht jetzt sein, ({3}) sondern erst dann, wenn eine große Steuerentlastung kommt. ({4}) Insofern haben Sie dies faktisch immer verhindert. ({5}) Meine Damen und Herren, ich finde es schon richtig, dass die Bundesregierung, bezogen auf das Jahr 2006, sagt: Wir können die Stabilitäts- und Wachstumskriterien nicht erfüllen. ({6}) Wir werden sie in 2007 erfüllen. - Dies scheint mir, auch konjunkturpolitisch, ein richtiger Ansatz zu sein. ({7}) Das ist auch für die wirtschaftliche Entwicklung von entscheidender Bedeutung.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, diesmal vom Kollegen Schäffler?

Ortwin Runde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003619, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Natürlich, gern.

Frank Schäffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Runde, ist Ihnen bekannt, dass wir dem Gesetz zur Verlustzuweisungsverrechnung zugestimmt haben und das von Ihnen angesprochene Gesetz unsere Zustimmung gefunden hat?

Ortwin Runde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003619, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mir ist bekannt, dass Sie am Ende der Begrenzung der Verlustzuweisungsverrechnung zugestimmt haben. Aber ist Ihnen bekannt, dass Sie immer die Argumentationslinie hatten: „Wir können dort keine Subventionen abbauen, weil das im Grunde genommen eine verdeckte Steuererhöhung ist, solange wir auf der anderen Seite keine Senkung der Steuersätze haben“? Das ist doch Ihr Argumentationsmuster. Ist Ihnen das bekannt? ({0}) Auch finde ich es richtig, dass die Bundesregierung in dieser schwierigen Haushaltssituation ein Programm mit Wachstumsimpulsen verabschiedet. Das Wachstumsimpulsprogramm, das 3 Prozent für Forschung und Entwicklung vorsieht, wirkt über eine längere Zeit. Darauf hat Frau Berg bereits hingewiesen. Über das Programm zur energetischen Gebäudesanierung freuen sich auch die Grünen. Dass wir es in dieser Größenordnung nicht gemeinsam hinbekamen, ist schade; daher ist es umso schöner, dass es jetzt möglich war. Es hat im Bereich der Energie- und Materialeffizienz sehr viel mit den Herausforderungen zu tun, vor denen wir stehen, wenn wir zukunftsorientiert handeln wollen. In diesen Bereichen sehe ich in der Tat weltwirtschaftlich bedrohliche Entwicklungen. Das sind bezogen auf die Prognosen des Jahreswirtschaftsberichts Punkte, die als Risiken einzuschätzen sind. Dazu gehört im Übrigen auch das Verhalten der Europäischen Zentralbank, das von ganz entscheidender Bedeutung sein wird. Ich halte das Wachstumsimpulsprogramm für richtig. Dabei wird häufig nach der Größenordnung gefragt. Wenn man die Umrechnung in D-Mark vornimmt, sieht man, dass sich die Größenordnung alten Gewerkschaftsvorstellungen annähert. Durch die Umstellung von D-Mark auf Euro kommt es gelegentlich zu einem subjektiv falschen Eindruck. Ich möchte darüber hinaus festhalten, dass es zu Multiplikatoreffekten in großem Ausmaß kommt. Ich finde es gut, dass man den Bereich der Abschreibungen als konjunkturpolitisches Instrument wieder entdeckt hat. Dass der alte Schiller wieder aufersteht, kann in der Diskussion über die Ökonomie, ({1}) die wir zurzeit führen, nicht schaden. ({2}) Dass wir bei der Herstellung der Handlungsfähigkeit der verschiedenen staatlichen Ebenen ein Stück vorangekommen sind, macht die Entwicklung des Gewerbesteueraufkommens deutlich. Vor einem Jahr hätte niemand zu prognostizieren gewagt, dass es im Jahr 2005 ein Aufkommen in Höhe von vielleicht sogar 33 Milliarden Euro geben wird. Das ist erfreulich, weil wir damit auch die Investitionskraft der öffentlichen Hände stärken. Bei der Überwindung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten wird es bezüglich der Investitionen in die Infrastruktur darauf ankommen, die verschiedenen staatlichen Ebenen miteinander zu verknüpfen, aber auch handlungsfähig zu machen. ({3}) Das scheint ein ganz bedeutsamer Faktor zu sein. Es geht also nicht nur um die Frage, wie man bezüglich der Konsolidierung der Finanzen zu einem Pakt zwischen Bund, Ländern und Kommunen kommen kann; vielmehr ist auch in den Bereichen „wirtschaftliche Impulse“ und „Investitionen“ gemeinsames Handeln erforderlich. Das scheint mir ganz entscheidend zu sein, wenn wir über das, was die Bundesregierung prognostiziert hat - sie geht von einem Wachstum in Höhe von 1,5 bzw., spitz gerechnet, 1,4 Prozent aus -, hinauskommen wollen. Unter Berücksichtigung der Stimmung in der Wirtschaft und in der Annahme, dass auch andere Elemente mitwirken werden, gehe ich davon aus, dass wir eine höhere Wachstumsrate erreichen können. Es wäre gut, wenn wir zum Jahresende unser Hauptziel, die Herstellung von Beschäftigung bzw. den Abbau von Arbeitslosigkeit in einer Größenordnung von mehr als 350 000, erreichen könnten. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/450 und 16/65 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung - Drucksache 16/429 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Soziales Franz Müntefering. ({1})

Franz Müntefering (Minister:in)

Politiker ID: 11001570

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in der Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht eine Menge zur Entbürokratisierung gehört. Mit diesem Gesetzentwurf zum Saison-Kurzarbeitergeld tragen wir zur Entbürokratisierung bei. Bisher werden in vielen Branchen im Winter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entlassen und zum Frühjahr wieder eingestellt. Das ist für die Betriebe ebenso wie für die betroffenen Menschen eine schwierige Prozedur. Nicht immer findet man die, die man im Dezember oder Januar entlassen hat, im März wieder. Wir wollen mit dem Gesetzentwurf, der heute zur ersten Lesung vorliegt, für die Zeit von Dezember bis März eine vernünftige und weniger bürokratische Regelung als die, die es bisher gegeben hat, schaffen. Wir kennen das Problem aus der Baubranche. Aber nicht nur in der Baubranche werden witterungsbedingt um die Jahreswende herum die Aufträge weniger, sodass Menschen entlassen werden müssen. Bis 1995 gab es das Schlechtwettergeld; dann wurde es abgeschafft. Danach hat man mit anderen Regelungen versucht, eine Lösung zu finden. Das hat aber nie so ganz richtig geklappt. Jetzt hat es Gespräche mit beiden Seiten der Tarifparteien gegeben. Man hat eine Vereinbarung getroffen, die sich in diesem Gesetzentwurf niederschlägt. Unser Vorschlag findet große Zustimmung - nicht von allen, das ist wahr - vor allen Dingen beim Zentralverband des Deutschen Baugewerbes, der ausdrücklich das lobt, was wir in Gesetzesform zu fassen versuchen. Wir wollen das Sondersystem der Winterbauförderung fortentwickeln und in das System des Kurzarbeitergeldes integrieren. Danach werden die Menschen zwischen dem 1. Dezember und dem 31. März nicht entlassen, sondern bleiben bei dem Betrieb beschäftigt und bekommen Kurzarbeitergeld in Höhe von 60 Prozent ihres bisherigen Lohnes. Wer ein Kind hat, bekommt 67 Prozent. Am 1. April beginnt wieder das normale Beschäftigungsverhältnis. Während dieser Zeit zahlt der Arbeitgeber keinen Lohn, aber Sozialversicherungsbeiträge von 80 Prozent des bisherigen Lohns. Er zahlt Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge. Das macht in der Summe ungefähr 30 Prozent des Lohns aus, den er zuvor gezahlt hat. Der Arbeitgeber hat während dieser Zeit jemanden bei sich beschäftigt, der aber nicht arbeitet, der auch keinen Lohn bekommt, für den er aber Sozialversicherungsbeiträge zahlt. Die Frage ist, in welcher Größenordnung dies angenommen wird. Wir sehen auch, dass dies wahrscheinlich nicht sehr viele sein werden. An dieser Stelle fängt es an, richtig interessant zu werden. Jetzt geht es um die Frage, ob die Tarifparteien zur Finanzierung der ergänzenden Leistungen an Arbeitnehmer bei Nutzung beispielsweise von im Laufe des Jahres angesparten Arbeitszeitguthaben zur Überbrückung von Ausfallstunden eine branchenspezifische Umlage vereinbaren, um daraus ein vernünftiges System zu machen. Unsere Vorschläge sind nicht zwingend, nicht für die Baubranche und nicht für andere Branchen. In der Baubranche jedoch gibt es eine solche Vereinbarung. Alle Branchen - dazu gehört beispielsweise auch die Landund Forstwirtschaft -, die Vereinbarungen zu einer solchen Umlage treffen, können das System, das wir anbieten, dann in vernünftiger Weise nutzen. Wenn die Tarifparteien - das ist mit ihnen besprochen worden - solche Umlagesysteme einführen, passiert im Wesentlichen dreierlei: Erstens. Der Arbeitgeber muss nicht mehr die Sozialversicherungsbeiträge in voller Höhe zahlen, sondern nur noch einen ganz kleinen Rest davon. Das macht die Sache für ihn hoch attraktiv. Er kann seine Mitarbeiter weiterbeschäftigen, braucht sie nicht zu entlassen, er hat Aufwand für Bürokratie gespart, muss für sie nicht zahlen und spätestens zum 1. April sind die Betreffenden bei ihm wieder voll tätig. Zweitens gibt es ein Zuschuss-Wintergeld. Das ist ein Bonus in Höhe von bis zu 2,50 Euro für jede Stunde, die aus einem Arbeitszeitguthaben eingebracht und im Winter zur Vermeidung von Arbeitsausfällen genutzt wird. Das ist eine flexible Arbeitszeitregelung. Das heißt, auf Arbeitszeitguthaben, die sich im Verlauf des Jahres aufgebaut haben, kann im Winter zurückgegriffen werden. Dafür gibt es einen Zuschuss von bis zu 2,50 Euro pro Stunde. Drittens gibt es ein Mehraufwands-Wintergeld. Das ist ein Bonus in Höhe von 1 Euro für jede in der Förderzeit geleistete Arbeitsstunde, in der Summe jedoch für nicht mehr als 450 Stunden. Dagegen ist das ZuschussWintergeld eine Vergünstigung für diejenigen, die ihr Arbeitszeitguthaben in der Zeit aufbrauchen. Beim Mehraufwands-Wintergeld geht es um die geleisteten Stunden. Um die Kombination dieser drei Möglichkeiten - der Arbeitgeber zahlt keine Sozialversicherungsbeiträge mehr; es gibt einen Zuschuss für den Einsatz des zuvor aufgebauten Arbeitszeitguthabens und es gibt 1 Euro zusätzlich für jede in der Zeit von Dezember bis März geleistete Stunde - geht es. Ich sage noch einmal ausdrücklich: Das ist keine Zwangsveranstaltung für die eine oder andere Branche, sondern ein Angebot für die Tarifparteien auf beiden Seiten. Hier handelt es sich um eine Triparität - falls es so etwas gibt; das wurde mir zumindest so aufgeschrieben, deshalb gebe ich das hier gerne weiter -: Es gibt drei Handelnde, Arbeitgeber, Arbeitnehmer und den Staat, also die Arbeitsverwaltung. Es liegt an den beiden Tarifparteien, ob sie solche Vereinbarungen treffen. Wenn sie es tun, dann sind sie in der guten Lage, dass sie - anders als bisher - die Menschen zu Beginn des Winters nicht mehr entlassen und dann irgendwann später wieder suchen müssen, um sie einstellen zu können. So gibt es eine größere Sicherheit für alle Beteiligten. Ich glaube, das ist eine insgesamt vernünftige, bürokratiefreundliche und auch arbeitgeber- wie arbeitnehmerfreundliche Regelung, die wir hier eröffnen. Ich bitte um Unterstützung. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Jörg Rohde, FDPFraktion. ({0})

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für die Fraktion der FDP begrüße ich die Zielsetzung des heute vorgelegten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung. Wir werden konstruktiv an der Diskussion zu diesem Gesetz teilnehmen. ({0}) Das Saisonkurzarbeitergeld soll die bisherige Winterbauförderung ablösen, wobei die neue Leistung nicht auf die Baubranche beschränkt wird, sondern für weitere Saisonbranchen geöffnet werden soll. ({1}) Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales erwägt nunmehr, Wirtschaftszweige auch ohne deren Zustimmung einzubeziehen. Dies ist nicht akzeptabel. ({2}) Mit der Finanzierung der Sozialversicherungsbeiträge für Saisonkurzarbeitergeld im Wege eines Umlageverfahrens oder einer Direktzahlung an die Bundesagentur für Arbeit sind zusätzliche Belastungen verbunden. Dies gilt vor allem für Arbeitgeber der Branchen, die bisher nicht über ein Umlageverfahren wie das der Baubranche verfügen. Je nach Situation der Branche bestünde dadurch die Gefahr, dass - statt Saisonarbeitslosigkeit zu verhindern - vielmehr durch vermehrte Firmenpleiten Arbeitsplätze dauerhaft in Gefahr geraten. Das wäre natürlich absolut kontraproduktiv. ({3}) Durch die Ausweitung des Anwendungsbereiches des neuen Gesetzes über Verordnungen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales dürfen Tarifvertragsparteien nicht die Anreize genommen werden, ganzjährige Beschäftigung selbstständig über eine flexible Ausgestaltung der Tarifverträge zu erreichen. ({4}) Für eine Ausweitung über die Baubranche hinaus müssen strenge Maßstäbe gelten. Einige Passagen des Gesetzentwurfes werfen weitere Fragen auf, welche wir in den Ausschüssen klären sollten. Wie schon erwähnt ist noch unklar, welche Branchen genau in die neue Leistung des Saisonkurzarbeitergeldes einbezogen werden. Zunächst hieß es in der Diskussion, dass nur Branchen einbezogen werden, die dies auch wollen. Im Gesetzentwurf steht nun aber, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales durch Rechtsverordnung die einzubeziehenden Wirtschaftszweige festlegen kann. ({5}) Somit könnte mit der Unterschrift des zuständigen Ministers eine Branche zum Beispiel auch gegen den erklärten Willen der Arbeitgeber einbezogen werden. Das allein ist fast schon ein Eingriff in die Tarifautonomie. Schon der nächste Absatz der Gesetzesvorlage zeigt, wohin die Reise geht: Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales darf Verordnungen über die Höhe der ergänzenden Leistungen erlassen. Statt dieser Verordnungen sollten wir gemeinsam nach Lösungen suchen, wie die Tarifpartner auch ohne Herrn Müntefering Vereinbarungen treffen können. ({6}) Ebenfalls müssen wir darauf achten, dass mit der neuen Förderung keine neuen Belastungen auf die Beitragszahler zur Arbeitslosenversicherung zukommen. Richtig ist, dass bei Inanspruchnahme von Saisonkurzarbeitergeld anstelle von Arbeitslosengeld die Beitragszahler entlastet werden, weil sie keine Sozialversicherungsbeiträge zu finanzieren haben. Allerdings könnte es je nach Umfang der Inanspruchnahme des Saisonkurzarbeitergeldes deshalb auch zu Mehrbelastungen kommen. Einer übermäßigen Inanspruchnahme von Saisonkurzarbeitergeld und der damit einhergehenden Belastung der Beitragszahler muss deshalb eine wirksame Sperre entgegengesetzt werden. ({7}) Ein Baustein zur Senkung der Belastungen für die Bundesagentur für Arbeit ist auch die erhöhte Flexibilisierung der Arbeitszeit mit Zeitguthaben von bis zu 150 Stunden statt wie bisher 10 Prozent der vereinbarten Jahresarbeitszeit. Wir als Liberale wünschen uns hier noch mehr Freiraum für die Arbeitnehmer. Schon als Betriebsrat habe ich mich immer für größere Zeitkorridore ausgesprochen. ({8}) Wie wäre es zum Beispiel mit 250 Stunden? Um die ganzjährige Beschäftigung der Saisonarbeitnehmer zu fördern, könnte man auch über negative Zeitguthaben diskutieren. Statt des Bezuges von Saisonkurzarbeitergeld nach Abbau der Arbeitszeitguthaben könnten Arbeitsausfälle aufgrund schlechten Wetters oder schwacher Auftragslage im Frühjahr durch nachträgliche Überstunden ausgeglichen werden. ({9}) Auch für negative Arbeitszeitguthaben könnte als Anreiz das Zuschusswintergeld gewährt werden. So kann die Inanspruchnahme von Saisonkurzarbeitergeld vermieden werden. ({10}) Um das Ziel der Förderung einer ganzjährigen Beschäftigung zu erreichen, ist bei Inanspruchnahme von Arbeitslosengeld nach Bezug von Saisonkurzarbeitergeld eine Anrechnung vorzusehen. Die Einführung eines Saisonkurzarbeitergeldes darf nicht dazu führen, dass beitragsfinanzierte Leistungen zeitlich kumuliert in Anspruch genommen werden können. Dies würde auch dem erklärten Ziel der Neuregelung, die ganzjährige Beschäftigung zu fördern, widersprechen. ({11}) Ich fasse zusammen: Die FDP unterstützt die Einführung eines Saisonkurzarbeitergeldes, wenn dies zu keinen neuen Belastungen für die Arbeitslosenversicherung führt und wenn die Entscheidung, welche Branchen einbezogen werden, nicht gegen den Willen der jeweiligen Arbeitgeberverbände erfolgt. Herr Müntefering, Sie sagen zwar das Richtige, aber im Gesetzentwurf steht etwas anderes, etwas, das man deuten kann. ({12}) Sie zeigen Möglichkeiten auf, während wir wollen, dass diese Türen gewissermaßen verbarrikadiert werden. Wir möchten eine stärkere Einbeziehung der Parteien, die die Verhandlungen führen, und weniger Einflussnahme durch den Gesetzgeber. ({13}) Da wir für die Gesetzgebung zuständig sind und keine Tarifverträge aushandeln, sollten wir Obergrenzen setzen, die im Rahmen von Tarifverträgen ausgeschöpft werden können, statt - wie bei den Zeitguthaben - enge Obergrenzen einzuführen. ({14}) Wir wünschen uns eine intensive Diskussion und ich freue mich auf die Beratungen in den Ausschüssen. Vielen Dank. ({15})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Rohde, im Namen des ganzen Hauses herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Ich wünsche Ihnen persönlich und politisch alles Gute. ({0}) Das Wort hat der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe, CDU/ CSU-Fraktion. ({1})

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung soll ein wesentlicher Beitrag zur Bekämpfung der Winterarbeitslosigkeit, insbesondere in der Baubranche, geleistet werden. Mit diesem Gesetzentwurf verfolgen wir das Ziel, in der Baubranche und gegebenenfalls auch in anderen witterungsabhängigen Branchen eine ganzjährige Beschäftigung zu fördern. Diese Zielsetzung ist im Interesse der Arbeitnehmer und im Interesse der Arbeitslosenversicherung, die dadurch entlastet werden soll. Dies ist im Grundsatz zu unterstützen. Ich bin auch für die Signale aus der Opposition dankbar, dass wir uns in diesem Ziel, jedenfalls vom Grundsatz her, einig sind. Mit diesem Gesetzentwurf werden wir ein neues Instrument schaffen, das so genannte Saisonkurzarbeitergeld, mit dem wir die bisherige Winterbauförderung als Spezialfall einer allgemeinen Kurzarbeitergeldregelung ersetzen. Sowohl die bisherige Winterbauförderung als auch das neue Saisonkurzarbeitergeld ist ziemlich kompliziert. Lassen Sie mich darauf hinweisen, worum es dabei im Wesentlichen geht: Es geht vor allem darum, dass in der Schlechtwetterperiode, also bei witterungs- und auftragsbedingtem Arbeitsausfall, Saisonkurzarbeitergeld gezahlt wird; so haben wir es auch im Koalitionsvertrag festgelegt. Dieses Saisonkurzarbeitergeld wird in derselben Höhe wie das Arbeitslosengeld gezahlt. Aber die Sozialversicherungsbeiträge müssen vom Arbeitgeber getragen werden. Zudem soll den Arbeitnehmern aus einer Umlage, die von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu tragen ist, sowohl ein Zuschuss- als auch ein Mehraufwandswintergeld gezahlt werden. Auf diese Weise wird die Absicht verfolgt, die ganzjährige Beschäftigung zu fördern: Die betroffenen Arbeitnehmer sollen nach Möglichkeit beschäftigt bleiben, statt entlassen und zur BA geschickt zu werden, obwohl sie die Absicht haben, nach der Schlechtwetterperiode wieder mit ihrem Arbeitgeber zusammenzukommen. Es soll also vermieden werden, dass sich jemand arbeitslos meldet, der eigentlich nicht vermittelt werden, sondern nach der Schlechtwetterperiode zu seinem Arbeitgeber zurückkehren will; denn das ist nicht sinnvoll. Genau das soll mit dieser Regelung vermieden werden. Ich denke, das ist ein vernünftiges und unterstützungswürdiges Anliegen. ({0}) Nun steckt bei diesem Gesetzentwurf wie bei vielen anderen und wie häufig im Leben der Teufel im Detail. Natürlich lehrt die Erfahrung, dass am Ende kein Gesetzentwurf genau so aus dem Parlament herausgeht, wie er hineingegangen ist. ({1}) Gleichzeitig muss man natürlich zur Kenntnis nehmen, dass die gesetzlichen Regelungen, die wir hier andiskutieren, nicht aus dem luftleeren Raum kommen: Es gibt eine Vereinbarung der Tarifvertragsparteien in der Bauwirtschaft, von IG BAU und Bauindustrie, aus dem Juli letzten Jahres, in der genau diese Regelungen - die Umlage, das Zuschusswintergeld und auch das Mehraufwandswintergeld - vereinbart worden sind. Über eines muss man sich im Klaren sein: Eine gesetzliche Regelung, die eine solche Vereinbarung der Tarifvertragsparteien flankieren soll, läuft auf Dauer ins Leere, wenn die Regelungen, die dort vereinbart sind, nicht kompatibel sind; wenn sie nicht zusammenpassen, kann das nicht funktionieren. Es ist sicherlich vernünftig, über die einzelnen dort vereinbarten Regelungen nachzudenken, wie das Ausfallgeld zur ersten Stunde. Es wird aber nicht sinnvoll sein, eine gesetzliche Regelung zu machen, die mit den tarifvertraglich vorhandenen Regelungen nicht in Übereinstimmung zu bringen ist. Dann läuft das Instrument ins Leere, dann muss man sagen: Wir wollen das nicht. - Wir wollen aber ein solches Instrument. Über die Details wird also zu reden sein, nur der Grundsatz müsste klar sein. ({2}) Da die FDP nun argwöhnt, die Regelung solle anderen Branchen gewissermaßen übergestülpt werden, kann ich Sie beruhigen: Es ist nicht beabsichtigt, weder von den Koalitionsfraktionen noch von der Bundesregierung - ich denke, das darf ich sagen -, hier irgendeine Tarifvertragspartei irgendeiner Branche zwangszubeglücken mit etwas, was sie überhaupt nicht haben will. ({3}) Wir müssen uns als Gesetzgeber ja mit zwei Dingen beschäftigen: Einmal damit, dass keine Branche zwangsbeglückt wird, die das gar nicht will. Und selbst wenn die Tarifvertragsparteien das wollen, darf die Regelung, die geschaffen werden soll, nicht zulasten Dritter gehen. Wir haben im Koalitionsvertrag ganz klar festgelegt: Wir wollen einen kostenneutralen Ersatz für die alte Winterbauförderung. Deswegen müssen wir uns bei konkreten Vereinbarungen der Tarifvertragsparteien damit auseinander setzen, ob diese kostenneutral sind. Hier ist vorgesehen, nach zwei Jahren zu überprüfen, ob unser Ziel im Rahmen der Vereinbarungen, die die Tarifvertragsparteien geschlossen haben, erreicht worden ist. Beides muss also zusammenkommen: Es muss eine Vereinbarung beider Tarifvertragsparteien geben, damit ein solches Instrument angewendet werden kann - die Umlage ist die einzig sinnvolle Voraussetzung dafür, dass so etwas auch für die Tarifvertragsparteien attraktiv wird -, und der Gesetzgeber muss sich die Frage stellen, ob er eine Anwendung auf andere Branchen für sinnvoll hält, wenn es deren Tarifvertragsparteien tun. Dabei muss er die Auswirkungen auf die Arbeitslosenversicherung im Auge haben. Dieser Regelung liegt die Kalkulation zugrunde, dass bei etwa 25 Prozent derer, die bisher - trotz Winterbauförderung - saisonbedingt in die Arbeitslosigkeit gingen, dies künftig vermieden werden kann. Wenn uns das gelingt, dann werden wir auch in der Lage sein, dieses Instrument kostenneutral zu gestalten; da können Sie ganz beruhigt sein. Im Detail wird darüber zu reden sein, wie wir das erreichen können. Ich will noch einmal deutlich sagen: Entscheidend ist, dass wir tatsächlich etwas umsetzen. Denn das Problem brennt wirklich auf den Nägeln. Es kann keinen Sinn machen, die Menschen regelmäßig - aufgrund absehbarer, saisonaler Probleme - in die Arbeitslosigkeit zu entlassen, sie für viel Geld zu verwalten und auf bürokratischem Wege wieder aus der Arbeitslosigkeit herauszubringen. Gut wäre es, wenn die Tarifvertragsparteien dafür einen Vorschlag unterbreiten. Der Gesetzgeber stellt sich hier nicht an die Stelle der Tarifvertragsparteien, sondern er versucht, die Gesamtinteressen, die er zu wahren hat, in Einklang zu bringen mit dem, was die Tarifvertragsparteien vereinbart haben. Auf dem Weg sind wir und ich denke, wir können ihn im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens weiter erfolgreich beschreiten. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Werner Dreibus, Fraktion Die Linke.

Werner Dreibus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003749, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Fraktionen von CDU/ CSU und SPD bestätigen mit dem vorliegenden Gesetzesvorhaben die Notwendigkeit der Förderung ganzjähriger Beschäftigung. In diesem Ziel sind wir uns einig. Insofern begrüßen wir vom Grundsatz her den vorgelegten Gesetzentwurf. Wir müssen allerdings auch feststellen, dass sowohl CDU/CSU als auch SPD für die derzeitige missliche Situation der Beschäftigten in saisonabhängigen Branchen, die vom Minister hier völlig zu Recht beklagt worden ist, durch Entscheidungen in der Vergangenheit wesentlich mitverantwortlich sind: ({0}) Unter Führung von CDU/CSU und FDP wurde mit dem Schlechtwettergeld ein gut funktionierendes System mit der Begründung abgeschafft, es sei zu teuer und belaste den Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit zu sehr. Damals hat Ihre Fraktion, Herr Rohde - das kann man wunderbar nachlesen; das würde ich Ihnen empfehlen -, ({1}) übrigens keine Rücksicht auf die Tarifautonomie und auf die Interessen und formulierten Positionen der Tarifvertragsparteien genommen, sondern gegen deren Rat das Schlechtwettergeld abgeschafft. Was war das Ergebnis? - Das Ergebnis war und ist ein Anstieg bei der saisonalen Arbeitslosigkeit in den Bauberufen. Unter dem Strich wurden die Beschäftigten und die Bundesanstalt für Arbeit zusätzlich belastet. Vor allem die SPD, aber auch die Grünen haben 1995 die Abschaffung des Schlechtwettergeldes lautstark und völlig zu Recht kritisiert. Während ihrer Regierungsverantwortung in den letzten sieben Jahren hat Rot-Grün den Missstand dann aber lediglich weiter verwaltet. In sieben Jahren hat Rot-Grün es nicht fertig gebracht, eine Absicherung für die Beschäftigten zu schaffen, die im Prinzip dem alten Schlechtwettergeld entsprochen hätte. Im Gegenteil: Mit der Hartz-III-Gesetzgebung haben Sie die Beschäftigten im Baugewerbe deutlich schlechter gestellt. Ab Februar 2006 könnten die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - es sind überwiegend aber Arbeitnehmer - schrittweise ihre Ansprüche auf Arbeitslosengeld I verlieren und trotz regelmäßiger Wiederbeschäftigung zu Beziehern von Arbeitslosengeld II werden. Die Misere, die mit der Abschaffung des Schlechtwettergeldes unter Schwarz-Gelb eingeleitet wurde, hat Rot-Grün mit Hartz III ohne Not zugespitzt. Das alles muss man wissen, wenn sich CDU/CSU und SPD jetzt mit dem vorliegenden Gesetzentwurf um Abhilfe bemühen. Ich sage es, um kein Missverständnis aufkommen zu lassen, noch einmal: Wir begrüßen die Zielsetzung des Gesetzesvorhabens. Aber die Lernkurve - wir haben vorhin etwas über die lernende Gesellschaft gehört -, von der Abschaffung des Schlechtwettergeldes bis zu seiner Wiedereinführung durch die Hintertür, ist mit zehn Jahren nach meinem Verständnis deutlich zu lange ausgefallen. ({2}) Es waren zehn Jahre, in denen das Leben vieler am Bau beschäftigter Menschen überflüssigerweise dadurch erheblich verschlechtert wurde, dass ihnen die heutigen Koalitionäre den notwendigen Schutz vor Arbeitslosigkeit im Winter verwehrt haben. Es war und ist falsch, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bei saisonalen Auftragsschwankungen betriebsbedingte Kündigungen zustellen zu lassen. Es war und ist falsch, diese gekündigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer immer wieder neu zur Agentur für Arbeit zu schicken und Arbeitslosengeld beantragen zu lassen. Es war und ist falsch, dass die Agenturen für Arbeit gezwungen werden, sich in diesen Fällen mit Arbeitnehmern zu beschäftigen, die weder gefordert noch gefördert werden müssen. Ihre Arbeitsmarktpolitik gibt vor, dem Leitbild des Forderns und des Förderns zu folgen. Das ist ein Missverständnis und geht zulasten der betroffenen Menschen. Weder die Abschaffung des Schlechtwettergeldes noch die Hartz-Reformen insgesamt folgen tatsächlich diesem Motto. Sie folgen der Maxime des Forderns und Hoffens. Im Fall der Beschäftigten am Bau haben Schwarz-Gelb und Rot-Grün in der Vergangenheit die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aufgefordert, sich ganzjährig um Arbeit zu bemühen, und gleichzeitig gehofft, dass der Winter ausfällt. ({3}) Statt eine solche Fata Morgana zu beschwören und sich zehnjährige Auszeiten in der Wahrnehmung einfachster Zusammenhänge zu leisten, ist eine den Realitäten angemessene Absicherung der Beschäftigungsrisiken von saisonabhängigen Beschäftigten notwendig. Das gilt bei diesem Thema und das gilt für die Arbeitsmarktpolitik als Ganzes. Wir werden uns an dieser Debatte konstruktiv beteiligen. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer, Bündnis 90/Die Grünen.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin der Auffassung, dass Sie mit dem vorliegenden Gesetzentwurf eine richtige Absicht verfolgen. Natürlich ist es richtig, die Arbeitslosigkeit in wetterabhängigen Branchen reduzieren zu wollen. Das ist gut für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und natürlich führt dies auch zu einer Arbeitserleichterung bei den Arbeitsagenturen. Herr Müntefering, nebenbei kommt es dadurch natürlich auch zu einer positiven Entwicklung der Arbeitslosenstatistik. Das ist ein schöner Nebeneffekt, der dabei herauskommt. ({0}) Aber sei’s drum, das gönnen wir Ihnen von Herzen; denn das ist in der Sache ja auch richtig. Meine Frage aber ist - ganz anders als bei Herrn Brauksiepe und bei der FDP-Fraktion -: Warum beschränken Sie diese Regelung eigentlich auf die saisonbedingte Arbeitslosigkeit in Wintermonaten? Sie nennen hier ausdrücklich Branchen, die Probleme im Winter haben: Baugewerbe, Land- und Forstwirtschaft, Baustoffindustrie, Steinmetz-, Bildhauerhandwerk, Maler und Lackierer. Offen gestanden finde ich das halbherzig. Ich meine, dass das Prinzip, das Sie mit diesem Gesetzentwurf verfolgen, richtig ist, frage mich allerdings, warum es nur um die Monate Dezember bis März geht. Ich weiß, dass Sie - Frau Merkel hat das immer wieder betont - die Politik der kleinen Schritte adeln wollen. Aber müssen es tatsächlich Trippelschritte sein? Wetter ist ganzjährig und gibt es nicht nur von Dezember bis zur Krokusblüte im März. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der großen Koalition, ich weiß, dass Sie am liebsten mit dem Slogan werben würden: Wenn morgens früh die Sonne lacht, hat’s die große Koalition gemacht. ({2}) Ich kann Ihnen aber sagen: Schlechtes Wetter - zumal in unseren Breitengraden - wird selbst dann ein ganzjähriges Phänomen bleiben, wenn Frau Merkel regiert. Ich finde, es ist ein Problem, dass Sie mit Ihrer Regelung etliche Wirtschaftszweige von vornherein davon ausschließen, diese Regelung in Anspruch zu nehmen: zum Beispiel die Gastronomie in Wintersportregionen sowie Alm- und Gondelbetriebe. Diese bräuchten ein Kurzarbeitergeld für die Sommersaison. Das ist aber auf der Grundlage dieses Gesetzes ausdrücklich nicht möglich. Interessanterweise handelt es sich dabei um Branchen, in denen überwiegend Frauen beschäftigt sind. Insofern ist es, das muss ich schon sagen, Ausdruck von fortgeschrittener Geschlechtsblindheit, ({3}) wenn Sie in Ihrem Entwurf auch noch schreiben, dieses Gesetz habe keine gleichstellungspolitische Bedeutung. Interessanterweise profitieren von Ihrer Regelung Branchen, in denen fast ausschließlich Männer beschäftigt sind. Warum treffen Sie nicht einfach eine Regelung, die besagt: Wenn jemand acht von zwölf Monaten sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist und alle anderen Voraussetzungen - das betone ich ausdrücklich - ebenfalls erfüllt sind, dann gilt diese Regelung? Das wäre auch ein Beitrag zum Bürokratieabbau. ({4}) Das frage ich Sie vor allen Dingen vor dem Hintergrund, dass Sie in Ihrem Gesetzentwurf betonen, mit dieser Regelung könnten circa 25 Prozent der saisonbedingten Entlassungen vermieden werden. Gut so, sage ich. Ich frage aber: Warum denn nicht auch in anderen Bereichen? In Ihrem Gesetzentwurf werden die Einsparungen für die Bundesagentur für Arbeit und den Bund betont. Herr Brauksiepe, machen Sie nur weiter im Schritttempo der 80er-Jahre! Diese Wohltaten können wir doch auch anderen Branchen gönnen. ({5}) Ich will noch auf einen weiteren Punkt hinweisen, der mir sehr wichtig ist. Sie wollen mit diesem Gesetzentwurf - das finde ich gut - Anreize schaffen, um Arbeitszeitkonten stärker zu nutzen. Es ist natürlich das Ziel - das sehen wir genauso -, dass Regelungen in erster Linie darüber und nicht über das „Schlechtwettergeld“ geschaffen werden. Aber in diesem Fall müssen wir diesen Gesetzentwurf noch ein bisschen nachbessern. Wir müssen dann natürlich sehr viel mehr für eine bessere Insolvenzsicherung bei Arbeitszeitguthaben tun. ({6}) Wie sagte Herr Brauksiepe ganz richtig? Kein Gesetz kommt aus dem Ausschuss so heraus, wie es dort hineingegangen ist. Darauf setze ich - auf das Prinzip Hoffnung! Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Andreas Steppuhn, SPD-Fraktion. ({0})

Andreas Steppuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003850, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Koalition von CDU/CSU und SPD bringt heute den Entwurf eines Gesetzes zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung ein. Ziel dieses Zukunftsmodells ist es, einen wesentlichen Beitrag zur Vermeidung der Winterarbeitslosigkeit und zur Verstetigung der Beschäftigungsverhältnisse im Bauhaupt- und Bauausbaugewerbe zu leisten. ({0}) Bereits in der 14. Legislaturperiode wurde seinerzeit ein Gesetz zur Neuregelung der Förderung der ganzjährigen Beschäftigung in der Bauwirtschaft auf den Weg gebracht. Diese so genannte Winterbauförderung hat bereits nachweislich einen aktiven Beitrag zur Vermeidung der Winterarbeitslosigkeit geleistet. Aufgrund dieser positiven Erfahrungen soll nun das bislang einzig auf die Bauwirtschaft beschränkte Fördersystem nicht nur weiterentwickelt, sondern auch auf weitere Branchen mit saisonbedingten Arbeitsausfällen ausgeweitet werden. Wir erfüllen damit eine Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag. Der vorliegende Gesetzentwurf ist vom zuständigen Bundesministerium für Arbeit und Soziales unter Einbeziehung - der Minister hat das schon gesagt - einer so genannten Triparität mit den Tarifvertragsparteien des Baugewerbes erarbeitet worden und wird auch nach Expertenmeinungen einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass Winterarbeitslosigkeit zukünftig vermieden wird. Die Tarifvertragsparteien des Baugewerbes haben sich im Ergebnis ihrer Tarifpolitik auf ein umlagefinanziertes System verständigt, in dem sich sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber finanziell engagieren. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf können wir davon ausgehen, dass bereits im kommenden Winter die Winterarbeitslosigkeit in der Bauwirtschaft spürbar gesenkt werden kann. ({1}) Dieses beschriebene Zukunftsmodell soll auch auf weitere Branchen, in denen saisonbedingte Arbeitslosigkeit in den Wintermonaten bislang gang und gäbe war, ausgeweitet werden. Konkret haben wir beispielsweise das Maler- und Lackiererhandwerk, die Baustoffindustrie, die Land- und Forstwirtschaft, aber auch kleinere Bereiche wie das Steinmetz- und Steinbildhauerhandwerk im Blick. Die Einbeziehung von weiteren Branchen ist denkbar und kann im Wege von Rechtsverordnungen erfolgen; das ist gesagt worden. Voraussetzung ist aber, dass es allgemein verbindliche Tarifverträge gibt, auf die sich die Tarifvertragsparteien verständigen. ({2}) - Voraussetzung ist - ich sage das noch einmal -, dass die Tarifvertragsparteien einen entsprechenden Tarifvertrag vereinbaren. Alles andere macht keinen Sinn. Von daher sind wir da sehr nahe beieinander. Die künftige Förderung wird in das System des Kurzarbeitergeldes integriert. Das bedeutet: Das neu eingeführte Saison- und Kurzarbeitergeld wird nunmehr bei einem saisonbedingten Arbeitsausfall gewährt. Anspruch auf Entgeltersatz haben Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in den Wintermonaten von Dezember bis März. Die Bundesagentur - das ist bereits genannt worden - zahlt aus Beitragsmitteln 60 Prozent bzw., bei mindestens einem Kind, 67 Prozent der pauschalierten Nettogeldeinbußen. Hinzu kommt, dass Arbeitgeber von der Pflicht zur Entgeltfortzahlung erheblich entlastet werden. Kündigungen im Winter werden sich zukünftig nicht mehr lohnen. Den Mehrausgaben der Bundesagentur für das neu eingeführte Saison- und Kurzarbeitergeld wiederum stehen Einsparungen bei den Ausgaben für das Arbeitslosengeld gegenüber. Wichtig ist auch, zu betonen, dass durch den Fortbestand der Beschäftigungsverhältnisse die Arbeitsagenturen durch entfallende Arbeitslosmeldungen und entfallende Bearbeitung von Leistungsanträgen in erheblichem Maße entlastet werden. ({3}) Darüber hinaus entsteht der positive Effekt - ich halte dies auch für sozial gerecht -, dass Bauarbeitnehmer trotz einer regelmäßigen Beschäftigung in zwei aufeinander folgenden Jahren nicht mehr wie bisher unter eine jährliche Beschäftigungszeit von acht Monaten kommen und somit nicht mehr Gefahr laufen, irgendwann ins Arbeitslosengeld II mit allen damit verbundenen Konsequenzen abzurutschen. Denn sie gehen doch fast das ganze Jahr über einer regelmäßigen Tätigkeit nach. ({4}) Lassen Sie mich als jemand, der selbst den Beruf des Betonbauers erlernt und zehn Jahre seines Berufslebens auf Baustellen verbracht hat, eine persönliche Anmerkung machen. In dieser Zeit gab es - die Älteren unter Ihnen wissen das noch - eine so genannte Schlechtwettergeldregelung, die schon angesprochen wurde. Diese Regelung wurde seinerzeit vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl - insbesondere auch auf Drängen der FDP in diesem Hause - abgeschafft. Es war eine Zeit, in der ich selber nie im Winter arbeitslos geworden bin. In der heutigen Situation hat jedoch ein Großteil der Bauleute Erfahrungen mit der Winterarbeitslosigkeit gemacht. Dies soll mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wieder anders werden. ({5}) Ich danke insbesondere den Tarifvertragsparteien - der IG Bauen-Agrar-Umwelt, dem Hauptverband der Deutschen Bauindustrie und dem Zentralverband des Deutschen Baugewerbes, aber auch dem Bundesarbeitsminister, Franz Müntefering -, dass es gelungen ist, heute dieses zukunftsträchtige Gesetz auf den Weg zu bringen. ({6}) Die Tarifvertragsparteien im Baugewerbe haben bereits die notwendige tarifpolitische Flankierung des Gesetzes vorgenommen. Wir wollen jetzt, dass eine schnellstmögliche Umsetzung erfolgt, wie es auch im Koalitionsvertrag festgeschrieben ist. Ich bitte Sie daher um die Überweisung des Gesetzentwurfes in den Ausschuss für Arbeit und Soziales. Es geht darum, diesen Gesetzentwurf im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wie auch im Interesse der Unternehmen im weiteren Gesetzgebungsverfahren möglichst zügig zu beraten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Steppuhn, auch Ihnen herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede. Ich wünsche Ihnen im Namen des ganzen Hauses persönlich und politisch alles Gute. ({0}) Bevor ich dem Kollegen Peter Rauen das Wort erteile, gratuliere ich Ihnen, Herr Kollege Rauen, recht herzlich zu Ihrem heutigen Geburtstag und wünschen Ihnen Gesundheit und Glück. ({1}) Sie haben das Wort. ({2})

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst herzlichen Dank für den Glückwunsch zu meinem 61. Geburtstag. Das Thema der ganzjährigen BeschäftiPeter Rauen gung am Bau, das wir heute beraten, ist so alt wie mein Berufsleben. Ich erinnere mich daran, dass ich vor fast genau 40 Jahren mein Ingenieurexamen gemacht und das Bauunternehmen meines Vaters übernommen habe. Das Schlechtwettergeld gab es seit 1970. Zuvor sind die Leute im Winter stempeln gegangen, wie es damals genannt wurde. Das hörte mit der Einführung der Schlechtwettergeldregelung auf. Aber seitdem hat sich im Baugewerbe folgende Situation ergeben: In den Monaten Dezember, Januar, Februar und März werden rund 280 000 Personen arbeitslos. Das ist die doppelte Anzahl derer, die im normalen Jahresschnitt arbeitslos werden. Diese Arbeitslosigkeit entsteht also witterungsbedingt. Das hängt auch zum Teil mit den Auftragsbedingungen zusammen, weil die Auftragslage in der Baubranche im Winter schlechter ist als sonst. Insofern gibt es allen Grund, zu überlegen, wie ganzjährige Beschäftigung in solchen witterungsabhängigen Branchen erreicht werden kann. Ich kann Sie beruhigen, Frau Pothmer: Das Gesetz ist nicht nur für Männer gedacht. Es richtet sich im Kern an alle, die in Branchen arbeiten, in denen diese Problematik saisonbedingt im Winter auftritt. Es ist wichtig, dies festzuhalten. Herr Rohde, Ihre Sorge, dass der Minister diese Regelung durch eine Rechtsverordnung auf andere Branchen ausdehnen könnte, teile ich insofern nicht, als die Tarifpartner erst einmal einen Tarifvertrag abschließen und gemeinsame Kassen einführen müssen. Erst dann kann die Regelung auf diese Branchen ausgedehnt werden. Auch das muss berücksichtigt werden. Denn nach derzeitigem Stand kann die Regelung in der Baubranche nur hinsichtlich der seit Anfang der 70er Jahre bestehenden gemeinsamen Kasse der Tarifpartner angewandt werden. ({0}) - Ja, das gehört dazu. Denn ich bin dafür, dass wir das Thema ganz entspannt angehen. Oberstes Ziel der Regierung ist es, mehr Arbeitsplätze, vor allen Dingen mehr ordentliche Beschäftigungsverhältnisse, also mehr sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze, zu schaffen; denn sonst sind alle anderen Probleme nicht zu lösen. Die Saisonarbeitslosigkeit muss daher beseitigt werden.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rohde?

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Rohde, bitte.

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Kollege Rauen, was uns misstrauisch macht, ist, dass auch dann, wenn die Tarifvertragsparteien kein Umlageverfahren in Gang setzen, Zahlungen an die Bundesagentur für Arbeit geleistet werden können. Ich kann mir vorstellen, dass es dann zu einem Henne-und-Ei-Problem kommt. Erst kommt die Verordnung und dann sagen die Gewerkschaften: Liebe Tarifvertragsparteien, setzt doch jetzt, wo es möglich ist, ein Umlageverfahren in Gang. - Wir sehen die Gefahr und betrachten das deswegen sehr kritisch. Stimmen Sie mir darin zu?

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Rohde, darüber müssen wir im Gesetzgebungsverfahren sprechen. Ich habe aber den Eindruck, dass unser Arbeitsminister niemanden über den Tisch ziehen will und dass man das, was er sagt, so nehmen kann, wie er es gemeint hat, nämlich dass erst die Tarifvertragsparteien entscheiden müssen, bevor die Regelung betreffend die Winterbauförderung in Kraft gesetzt wird. Wir sollten hier kein Misstrauen aussprechen. Das ist ein sehr praxisbezogenes Thema. ({0}) Über den vorliegenden Gesetzentwurf kann man nur seriös beraten, wenn man in die Details geht und sich die Praxis in der Vergangenheit genau anschaut. Es gibt in diesem Zusammenhang einen Punkt, den ich ansprechen möchte. Als 1996 das Schlechtwettergeld wegfiel - übrigens auch auf Druck anderer Branchen, die gefragt haben, warum das Baugewerbe privilegiert ist; das sollte man wissen -, mussten die Arbeitnehmer zunächst 50 Stunden einbringen, bevor ihnen aus der Umlage der Schlechtwettergeldausfall bis zur 130. Stunde bezahlt wurde. Erst dann hat das Arbeitsamt gezahlt. Das wurde im Juni 1999 geändert. Seitdem müssen die Arbeitnehmer 30 Stunden einbringen. Von der 31. bis zur 100. Stunde wird aus der Umlage gezahlt. Ab der 101. Stunde zahlt dann das Arbeitsamt und die Arbeitgeber zahlen die Sozialbeiträge. Das führt aber dazu, dass viele Unternehmer - weil ihnen, wie vom Minister dargelegt, die Sozialbeiträge zu hoch sind - ihre Arbeitnehmer von der ersten Stunde an als arbeitslos melden. Nun ist eine entscheidende gesetzliche Verbesserung vorgesehen. ({1}) Herr Minister, 1996 haben jedoch viele Firmen in der Baubranche - darüber sollten wir ganz ruhig reden zum ersten Mal flexible Jahresarbeitszeitkonten eingeführt; das hat auch funktioniert. Diese Firmen hatten mit dem aus der Umlage finanzierten Wintergeld nichts mehr zu tun. Sie haben zwar noch in die Kasse der Tarifpartner gezahlt, haben aber das Instrument nicht mehr genutzt. All diese Firmen existieren noch. Wenn nun per Gesetz den Arbeitnehmern ermöglicht wird, sich von der ersten Stunde an Kurzarbeitergeld auszahlen zu lassen - es ist also nicht mehr notwendig, flexible Stunden einzubringen -, dann muss ich mich nur in die Lage eines Maurers versetzen - diesen Beruf habe ich erlernt -, um zu wissen, wie ich reagieren würde. Wenn man einerseits den Anreiz des Zuschusswintergelds in Höhe von bis zu 2,50 Euro je ausgefallener Arbeitsstunde hat, sein flexibles Arbeitszeitkonto zu verrechnen, andererseits bei Nichtverrechnung die Möglichkeit hat, sich im Sommer die Stunden auszahlen zu lassen und im Winter von der ersten Stunde an Kurzarbeitergeld zu bekommen - das sind etwa 7 bis 8 Euro je Stunde -, dann ist die Entscheidung klar. Dann wird die Flexibilität, die sich in der Baubranche zum Segen der Sozialkassen und der Umlagenhöhe durchgesetzt hat, kaputtgemacht. Darüber müssen wir in aller Ruhe reden; denn das darf nicht das Ziel sein. Das Gesetz ist in seiner Zielsetzung völlig richtig. Ich habe diesbezüglich auch keine Sorgen. Aber wir müssen aufpassen, dass wir bei der Kostenneutralität nicht in eine Falle laufen; denn das Verhalten der Menschen wird nach Inkraftsetzung der Neuregelung ganz anders sein als zuvor. Das müssen wir sehr exakt beobachten. Ich schlage daher vor, an der bisherigen Regelung festzuhalten, wonach der einzelne Arbeitnehmer einen Teil seiner flexiblen Stunden einbringen muss, bevor er Kurzarbeitergeld erhält. Wichtig ist, dass in Zukunft bei der Verrechnung mit flexiblen Stunden 2,50 Euro je ausgefallene Arbeitsstunde gezahlt werden; denn dadurch entsteht ein neuer Anreiz zur Flexibilisierung. Der Teufel steckt also im Detail. Wir sollten in aller Ruhe, Gelassenheit und Sachlichkeit darüber reden. Alle Fraktionen haben Gesprächsbereitschaft signalisiert. Letztendlich müssen wir erreichen, dass ein Teil der Menschen, die bislang im Winter aus saisonalen Gründen arbeitslos werden, in Zukunft in Arbeit sind und Beiträge zahlen und dass es so zu einem Aufschwung in Deutschland kommt. Schönen Dank. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 16/429 zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Arbeit und Soziales und zur Mitberatung an den Finanzausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, den Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, den Ausschuss für Tourismus sowie an den Haushaltsausschuss zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: Wahl der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik Die Bundesregierung hat mit Schreiben vom 27. Dezember 2005 Frau Marianne Birthler vorgeschlagen. Ich gebe zunächst einige Hinweise zum Wahlverfahren. Nach § 35 Abs. 2 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes wird die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik auf Vorschlag der Bundesregierung vom Deutschen Bundestag mit mehr als der Hälfte der gesetzlichen Zahl seiner Mitglieder gewählt. Zur Wahl sind also mindestens 308 Stimmen erforderlich. Die grünen Stimmkarten für die Wahl wurden verteilt. Sollten Sie noch keine Stimmkarte haben, so besteht jetzt noch die Möglichkeit, diese vom Plenarassistenten zu erhalten. Außerdem benötigen Sie Ihren grünen Wahlausweis, den Sie, soweit noch nicht geschehen, Ihrem Stimmkartenfach entnehmen. Bitte achten Sie unbedingt darauf, dass der Wahlausweis auch wirklich Ihren Namen trägt. Die Wahlen finden offen statt. Sie können die Stimmkarten also an Ihrem Platz ankreuzen. Stimmkarten, die mehr als ein Kreuz, andere Namen oder Zusätze enthalten, sind ungültig. Bevor Sie die Stimmkarte in eine der Wahlurnen werfen, übergeben Sie bitte Ihren Wahlausweis einer der Schriftführerinnen oder einem der Schriftführer an den Wahlurnen. Der Nachweis der Teilnahme an der Wahl kann nur durch Abgabe des Wahlausweises erbracht werden. Die Schriftführerinnen und Schriftführer bitte ich, darauf zu achten, dass vor der Stimmabgabe der Wahlausweis übergeben wird. Ich bitte jetzt die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Haben alle Schriftführerinnen und Schriftführer die Plätze eingenommen? - Das ist offenbar der Fall. Ich eröffne die Wahl. Haben alle Mitglieder des Hauses, auch die Schriftführerinnen und Schriftführer, ihre Stimmkarte abgegeben? - Ich frage noch einmal: Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmkarte abgegeben? - Das ist offenbar der Fall. Ich schließe die Wahl und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Wahl wird Ihnen später bekannt gegeben. Wir kommen jetzt zu etlichen Abstimmungen. Damit die Abstimmungsverhältnisse klar sind, bitte ich die Mitglieder des Hauses, die Plätze einzunehmen. Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 6 a bis 6 j, Wahlen zu Gremien. Ich möchte darauf hinweisen, dass diese Wahlen mittels Handzeichen durchgeführt werden. ({0}) - Auch an die Fraktion der Grünen geht die Bitte, die Plätze einzunehmen. ({1}) Tagesordnungspunkt 6 a: Kuratorium der Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ - Drucksache 16/433 Dazu liegt ein gemeinsamer Wahlvorschlag aller Fraktionen auf Drucksache 16/433 vor. Wer stimmt für Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 6 b: Kuratorium der „Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen in der DDR“ - Drucksache 16/434 Wir stimmen über den Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache 16/434 ab. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dieser Wahlvorschlag ist ebenfalls mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. ({2}) - Dieser Wahlvorschlag ist bei Enthaltung der Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 6 c: Stiftungsrat der „Stiftung CAESAR“ ({3}) - Drucksache 16/435 Wir stimmen über den Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/435 ab. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist bei Enthaltung der Fraktion der Grünen mit den Stimmen des restlichen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 6 d: Stiftungsrat der „Deutschen Stiftung Friedensforschung ({4})“ - Drucksache 16/436 Wir stimmen über den Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/436 ab. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist bei Enthaltung der Fraktion der Grünen mit den restlichen Stimmen des Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 6 e: Senat des Vereins „Hermann von HelmholtzGemeinschaft Deutscher Forschungszentren e. V.“ - Drucksache 16/437 Es liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD auf Drucksache 16/437 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dieser Wahlvorschlag ist ebenfalls bei Enthaltung der Fraktion der Grünen mit den restlichen Stimmen des Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 6 f: Verwaltungsrat bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht - Drucksache 16/438 Hierzu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der FDP auf Drucksache 16/438 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist bei Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit den restlichen Stimmen des Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 6 g: Parlamentarischer Beirat der „Stiftung für das sorbische Volk“ - Drucksache 16/439 Wir stimmen über den Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/439 ab. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist bei Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit den restlichen Stimmen des Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 6 h: Kuratorium „Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung“ - Drucksache 16/440 Dazu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/ CSU auf Drucksache 16/440 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Dieser Wahlvorschlag ist ebenfalls bei Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Rest der Stimmen des Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 6 i: Beirat zur Auswahl von Themen für die Sonderpostwertzeichen ohne Zuschlag beim Bundesministerium der Finanzen ({5}) - Drucksache 16/441 ({6}) Dazu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/441 ({7}) vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 6 j: Beirat nach § 39 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes - Drucksache 16/442 Dazu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/442 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Dieser Wahlvorschlag ist ebenfalls mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 a auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Nr. 172 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 25. Juni 1991 über Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner die Arbeitsbedingungen in Hotels, Gaststätten und ähnlichen Betrieben - Drucksache 16/342 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({8}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Es handelt sich um eine Überweisung im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 16 a bis 16 i sowie Zusatzpunkt 6. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 16 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes über die Bereinigung von Bundesrecht im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums des Innern - Drucksache 16/28 ({9}) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({10}) - Drucksache 16/464 Berichterstattung: Abgeordnete Ralf Göbel Maik Reichel Gisela Piltz Jan Korte Silke Stokar von Neuforn Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/464, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Enthaltung von Teilen der Fraktion Die Linke mit den übrigen Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit bei Enthaltung der Fraktion Die Linke mit den Stimmen des ganzen Hauses in dritter Beratung angenommen. Tagesordnungspunkt 16 b: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Bereinigung des Bundesrechts im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit - Drucksache 16/34 ({11}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({12}) - Drucksache 16/399 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Michael Fuchs Martin Zeil Matthias Berninger Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/399, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung ebenfalls mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 16 c: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über konjunkturstatistische Erhebungen in bestimmten Dienstleistungsbereichen ({13}) - Drucksache 16/36 ({14}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({15}) - Drucksache 16/465 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Michael Fuchs Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/465, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichnen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Gegenstimmen der FDP mit den Stimmen vom Rest des Hauses angenommen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung mit den Stimmen vom Rest des Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 16 d: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({16}) zu der Verordnung der Bundesregierung Erste Verordnung zur Änderung der Altfahrzeug-Verordnung - Drucksachen 16/308, 16/413 Nr. 2.1, 16/467 Berichterstattung: Abgeordnete Michael Brand Gerd Bollmann Eva Bulling-Schröter Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 16/308 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung der Fraktion Die Linke vom Rest des Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 16 e: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN Erhöhung der Anzahl von Ausschussmitgliedern - Drucksache 16/432 Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist bei Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen von den restlichen Mitgliedern des Hauses angenommen. Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 16 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17}) Sammelübersicht 6 zu Petitionen - Drucksache 16/377 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 6 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 16 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18}) Sammelübersicht 7 zu Petitionen - Drucksache 16/378 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 7 ist bei Gegenstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke von den restlichen Mitgliedern des Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 16 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19}) Sammelübersicht 8 zu Petitionen - Drucksache 16/379 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 9 ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke vom Rest des Hauses angenommen. Zusatzpunkt 6: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bereinigung des Bundesrechts im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft - Drucksache 16/27 ({20}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({21}) - Drucksache 16/425 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Hans-Heinrich Jordan Waltraud Wolff ({22}) Hans-Michael Goldmann Ulrike Höfken Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/425, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist auch in dritter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Ich höre gerade, dass ich einen Tagesordnungspunkt übersprungen habe. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Ich rufe noch einmal den Tagesordnungspunkt 16 h auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23}) Sammelübersicht 8 zu Petitionen - Drucksache 16/379 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? ({24}) - Ich habe noch einmal die Sammelübersicht 8 aufgerufen. Darüber stimmen wir jetzt ab, Herr Kollege Beck. Sammelübersicht 8 ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen vom Rest des Hauses angenommen. Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 16 i auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25}) Sammelübersicht 9 zu Petitionen - Drucksache 16/380 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthal- tungen? - Damit ist die Sammelübersicht 9 bei Gegen- stimmen der Grünen vom Rest des Hauses angenom- men. Ich gebe Ihnen jetzt das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentli- chen Abstimmung bekannt: Abgegebene Stimmen 565, davon gültige Stimmen 563. Mit Ja haben gestimmt 486 Abgeordnete, mit Nein haben gestimmt 60 Abge- ordnete, Enthaltungen 17. Frau Marianne Birthler hat damit die erforderliche absolute Mehrheit, also mindes- tens 308 Stimmen, erreicht.1) ({26}) Herzlichen Glückwunsch, Frau Marianne Birthler. Sie sind damit zur Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik gewählt. Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen Warnungen vor einer Militarisierung der Aus- einandersetzung um das iranische Atompro- gramm Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Jürgen Trittin, Bündnis 90/Die Grünen. 1) Anlage 2

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Lage um den Iran entwickelt sich zum wichtigsten und wahrscheinlich gefährlichsten außenpolitischen Konflikt. Wir alle erinnern uns an die unsäglichen Äußerungen von Präsident Ahmadinedschad über die Vernichtung Israels und an seine wiederholte Leugnung des Holocausts. Unübersehbar ist - das sage ich in aller Deutlichkeit -, dass der Iran über lange Jahre an der Internationalen Energieagentur und den Aufsichtsbehörden vorbei ein Atomprogramm vorbereitet hat, das offenkundig nicht friedlichen Zwecken dient. Wozu braucht man eine Urananreicherung, wenn man nicht einmal einen Reaktor hat? Warum muss man diese in einen militärisch getarnten Bunker packen, wenn sie nur friedlichen Zwecken dient? ({0}) Es ist also unsere Aufgabe und es ist notwendig, den Einstieg in ein neues atomares Wettrüsten im Iran und ausgehend vom Iran zu verhindern. ({1}) Dies muss aber - dies betone ich - mit zivilen Mitteln geschehen. ({2}) Es darf - das war Kern des auf unsere Initiative vom ganzen Hause gefassten Beschlusses - keine schleichende Eskalation zur Planung eines militärischen Einsatzes geben. Militärische Gewalt kann diesen Konflikt nicht lösen, sondern dürfte ihn nur verschärfen. ({3}) Wir alle wissen, dass der Iran heute in einer militärisch schwer angreifbaren Position ist. Der Krieg gegen den Irak hat die Position des Iran an dieser Stelle noch einmal gestärkt. Aber wir alle wissen auch: Politisch und wirtschaftlich ist das Regime im Iran außerordentlich verwundbar. Der Iran braucht enorme Investitionen, um die Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen. Was wenige wissen: Der Iran exportiert zwar Öl; aber er muss Ölprodukte und Gasprodukte in raffinierter Form reimportieren, weil er keine Raffineriekapazität hat, um diese Produkte an seine Bevölkerung abzugeben. Der Iran verfügt wie kaum ein anderes Land in dieser Region über eine ausgeprägte und außerordentlich vielfältige Zivilgesellschaft. Unsere Strategie muss darauf abzielen, diese Zivilgesellschaft davon zu überzeugen, dass der Griff der Mullahs nach der Atomwaffe nicht im Interesse des Iran liegt, sondern ausschließlich im Interesse der Stabilisierung ihrer Herrschaft. ({4}) Diese Doppelstrategie muss unsere Iranpolitik leiten. Das heißt, klar machen, wo die Grenze ist, aber immer wieder versuchen, das Bündnis und das Einverständnis mit der iranischen Bevölkerung zu finden. Man kann in diesem Zusammenhang lange darüber streiten, ob das, was Herr Chirac gesagt hat, eine Akzentverschiebung in der Nuklearstrategie der Franzosen gewesen ist. Aber eines muss man sagen: Weil dies von ihm unmittelbar mit der Politik gegenüber dem Iran in Zusammenhang gebracht worden ist, waren diese Äußerungen unangemessen und unproduktiv. ({5}) Sie waren unproduktiv, weil sie den Eindruck haben entstehen lassen, dass der Westen mal wieder mit zweierlei Maß misst: sich selber eine militärische und sogar nukleare Option offen hält, dem Iran aber sogar die friedliche Nutzung der Atomenergie untersagt. Diese Form doppelter Moral ist das, was die iranische Opposition dem Westen und uns allen vorwirft. Weil das falsch war, hätte ich von Frau Merkel erwartet, dass sie diese Differenz in Paris in aller Deutlichkeit anspricht. Das wäre nötig gewesen. Dass Sie das, liebe Frau Merkel, in Paris nicht getan haben, war, wie ich finde, ein großer Fehler. ({6}) Das war ein Fehler mit Folgen; denn seitdem ist in der großen Koalition und in der CDU kein Halten mehr. Dort geht es mit Volldampf zurück zu den außenpolitischen Positionen von 2002, lieber Herr von Klaeden. Den ersten Aufschlag machte Verteidigungsminister Jung, der in der „Bild am Sonntag“ erklärte, man brauche eine militärische Drohkulisse und „alle Optionen“. Wer so redet, entwertet alle anderen Optionen, über die wir hier reden. ({7}) Womit wollen Sie denn drohen? Haben wir nicht aus den Konflikten und Kriegen der letzten Jahre - ich nenne hier auch Kosovo - nicht gelernt, dass man immer nur mit den militärischen Mitteln drohen kann, die man auch einzusetzen bereit ist? Ich frage Sie, Herr Jung: Was wollen Sie von Ihren Äußerungen bezüglich des Iran umsetzen? Wenn Sie nichts davon umsetzen wollen, war es eine falsche Äußerung. ({8}) Im Interesse der politischen Kultur möchte ich sagen: Vielleicht war es nur fahrlässig; schließlich weiß ich ja, wie solche Interviews zustande kommen. Heute hat Herr Scholz aber auf diese Fahrlässigkeiten in der „Bild“-Zeitung noch die Forderung draufgesetzt, Deutschland brauche eigene Nuklearwaffen. Das ist wahrlich unverantwortlich. Ich sage in aller Deutlichkeit: Gegen Terroristen helfen keine nuklearen Waffen. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss. Mein Appell ist … dass wir uns in einer solchen Lage, in der alle Beteiligten Ihnen sagen „Wir setzen auf diplomatische Lösungen“, nicht von einer Militarisierung des Denkens erfassen lassen. Das sagte Frank-Walter Steinmeier. Er hat Recht, aber Herr Scholz und Herr Jung müssen von der Koalition zur Ordnung gerufen werden. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Ruprecht Polenz, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Ruprecht Polenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002751, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir alle konnten in den letzten Tagen ziemlich viel über die Kontroversen innerhalb der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen über die richtige Oppositionsstrategie lesen. Ich hätte mir ehrlich gesagt gewünscht, Sie hätten sich nicht ausgerechnet dieses Thema ausgesucht, um eine Kontroverse vom Zaun zu brechen, die, wenn man es sich genau anschaut, in diesem Hause im Grunde nie eine war und hoffentlich auch keine sein wird. Wenn wir alle gemeinsam eine diplomatische, eine Verhandlungslösung in dem schwierigen Nuklearkonflikt mit dem Iran wollen, dann können wir sie nur bei internationaler Einigkeit erreichen. Sie wird auch nur bei Einigkeit in den jeweiligen nationalen Parlamenten darüber, was wir erreichen oder unterstützen wollen, möglich sein. ({0}) Ich bitte einfach darum, nicht einen künstlichen Gegensatz, der in Wahrheit nicht besteht, aufzubauen. Sie haben den französischen Staatspräsidenten Chirac mit seiner Verlautbarung zur Nuklearstrategie Frankreichs in einen Zusammenhang mit dem Iran gerückt. Er selber hat in seiner Rede das Land mit keinem einzigen Satz erwähnt. Sie stellen Zusammenhänge her, um sie anschließend zurückzuweisen und um eine Kluft aufzubauen, die es in Wirklichkeit nicht gibt. Der Besuch der Bundeskanzlerin hat deutlich gemacht, dass die EU 3 - Deutschland, Frankreich und Großbritannien - nach wie vor eine gemeinsame Position haben. Sie haben dem Iran gemeinsam ein Verhandlungspaket unter der Bedingung angeboten, dass er auf den militärisch nutzbaren Teil des Nuklear- und Brennstoffkreislaufs verzichtet. Zu diesem Paket gehört auch ein Angebot zur Zusammenarbeit auf dem Gebiet der zivilen Nutzung der Kernenergie für die Stromerzeugung. Auch Handels- und Kooperationsabkommen für die Bereiche Technologie und Wirtschaft werden angeboten. Das alles liegt auf dem Tisch. Neben den Punkten, die Sie angesprochen haben, Herr Kollege Trittin, stimmt natürlich auch nachdenklich, dass Iran bisher - hoffentlich ändert sich das jetzt auch das russische Angebot zu einer gemeinsamen zivilen Anreicherungsanlage auf russischem Territorium zurückgewiesen hat. Wir stehen jetzt vor einer schwierigen Phase, weil Iran sein Versprechen gebrochen hat, das er den Europäern gegeben hat, nämlich für die Dauer der Verhandlungen seine Anreicherungsaktivitäten oder die Aktivitäten, die auf Anreicherung hinzielen, einzustellen. Im August hat er sich in Isfahan und jetzt zum Jahreswechsel in Natanz vorgetastet. Er hat also immer weiter ausgetestet, wie weit er gehen kann. Es war richtig, dass die EU 3 daraufhin die Verhandlungen abgebrochen haben; denn Iran möchte auch etwas von uns. Er kann seine Wirtschaftsprobleme ohne Kooperation mit den Europäern nicht lösen. Jetzt zu der Frage, ob wir eine Druckkulisse brauchen. Ich glaube, dass wir sie brauchen und dass Bewegung in die iranisch-russischen Gespräche gekommen ist. Ich erinnere daran, dass die erste Reaktion Teherans auf das russische Angebot eine fast beleidigte Zurückweisung nach dem Motto war, wie man Teheran so etwas überhaupt vorschlagen könne. Jetzt, nachdem sich die Europäer vom Verhandlungstisch zurückgezogen haben, heißt es aus Teheran, es sei eigentlich für beide Seiten eine ganz gute Grundlage für einen akzeptablen Kompromiss. Die Bundeskanzlerin bemüht sich bei ihrem Besuch in Frankreich, bei ihren Kontakten in Russland, eine gemeinsame Position aufzubauen, die dem Iran deutlich macht, dass er sich selbst isoliert, wenn er diesen Weg weiter geht. Darauf kommt es jetzt an. Bei der Sondersitzung des Gouverneursrats geht es jetzt um die Frage: Geht es in den Sicherheitsrat? Ich denke - das sollte man auch hier festhalten -, dass man nur dann in den Sicherheitsrat gehen kann, wenn man weiß, was herauskommt. Es geht um Augenmaß, Festigkeit und Fingerspitzengefühl. Man muss dem Iran auch immer eine Lösung offen lassen, die ihm einen gesichtswahrenden Ausweg ermöglicht, wenn man keine weitere Eskalation will. ({1}) Weil Sie sich vorhin zum Einsatz von Militär geäußert haben: Es war al-Baradei, der das iranische Nuklearprogramm wahrscheinlich am besten von allen beurteilen kann, der gesagt hat: Als Letztes kann man möglicherweise auch gewaltsame Fragen nicht ausschließen. So hat er formuliert. Es ist ein Unterschied, ob ich etwas nicht ausschließe oder ob ich mit etwas drohe. Ich stimme Ihnen zu: Wir sollten nicht mit militärischer Gewalt drohen. ({2}) Ich halte es aber für einen Fehler, per se den Iranern irgendwelche Gewissheiten zu geben, womit sie unter keinen Umständen zu rechnen hätten. ({3}) Diese Gewissheit braucht die Verhandlungsseite in Teheran nicht. Wir drohen nicht, aber wir müssen nichts vom Tisch nehmen, was etwa aus der Sicht der Amerikaner oder offenkundig auch anderer Länder nicht vom Tisch genommen werden sollte.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, ich muss auch Sie an die Zeit erinnern.

Ruprecht Polenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002751, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. Bauen wir hier also nicht künstlich neue Gegensätze auf. Halten wir an der Gemeinsamkeit in der Iranpolitik fest, die wir als Opposition damals während Ihrer Regierungszeit unterstützt haben. Ich denke, auch unsere Regierung hat einen Anspruch darauf, dass die Fortsetzung dieser Politik auch vom Bündnis 90/Die Grünen weiter mitgetragen wird. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Werner Hoyer, FDP-Fraktion.

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich schließe direkt an das an, was der Kollege Polenz zum Schluss gesagt hat: nicht drohen, aber auch nichts ausschließen. Insofern kann man so argumentieren - einige haben das getan -, dass Präsident Chirac in der letzten Woche nichts Neues gesagt hat. Wenn aber eine europäische Mittelmacht wie Frankreich Nuklearwaffen hat - jeder weiß, dass Frankreich diese Nuklearwaffen hat -, muss es gute Gründe geben, warum man das in einer solchen krisenhaften Situation noch einmal ausdrücklich erwähnt und in den Vordergrund rückt. ({0}) Unter diesem Gesichtspunkt habe ich die Äußerungen nicht nachvollziehen können. Nun kann man innenpolitisch argumentieren, er sei ein geschwächter Präsident, der mit Stärke wieder auf sich aufmerksam machen wolle. Man kann auch argumentieren, dass es ein Truppenbesuch war, bei dem man würdigt, was die Männer und Frauen auf diesem Gebiet unter schwierigen Bedingungen leisten. Jedoch war das international im Hinblick auf das, was uns in den Verhandlungen mit dem Iran bevorsteht, weder hilfreich noch klug. ({1}) Deswegen kann ich auch die Äußerung der Bundeskanzlerin in Paris - Sie wissen, wir haben die Bundeskanzlerin in den letzten Wochen immer wieder gelobt ob ihrer hervorragenden Auftritte in Washington und Moskau - nicht nachvollziehen. Sie war überflüssig und auch für uns nicht hilfreich. ({2}) Die Äußerungen anderer Koalitionspolitiker heben sich wohltuend davon ab. Das heißt, da gibt es ein Managementproblem in der neuen Koalition. Die Logik des Kalten Krieges basierte nicht zuletzt darauf, dass nukleare Abschrekkung davon ausging, dass auf der Gegenseite rationales Verhalten vorausgesetzt werden konnte. Nun haben die Franzosen bzw. Chirac nicht den Terroristen mit nuklearer Vergeltung gedroht, sondern den Staaten, die Terroristen unterstützen. Aber selbst dann, wenn man diese Differenzierung präzise vornimmt, kommen große Zweifel auf, ob das funktionieren kann. Hätte zum Beispiel beim Fall Afghanistan zu Talibanzeiten die nukleare Drohung bei den Talibanführern etwas ausrichten können, um sie davon abzuhalten, al-Qaida Terroristen zu unterstützen? Das möchte ich sehr bezweifeln. Deswegen gilt in Zeiten asymmetrischer Bedrohung eine andere Abschreckungslogik als bisher. ({3}) Nach meiner Auffassung ist entschlossenes und geschlossenes Handeln der Völkergemeinschaft gegenüber dem Iran unverzichtbar und alternativlos. Deswegen unterstützen wir nachdrücklich die Bemühungen der Bundesregierung, gemeinsam mit den europäischen Partnern, mit den Vereinigten Staaten und auch - wie ich hoffe - mit Russland und China zu einem Ergebnis zu kommen. Ich finde es begrüßenswert, dass die Bundesregierung sich gegenwärtig sehr darum bemüht, Staaten, die durch eigene nukleare Ambitionen einige Probleme haben, dazu zu bewegen, im Gouverneursrat der IAEO konstruktiv mitzuarbeiten. Der Weg dieses Problems in den Weltsicherheitsrat kann jetzt nicht mehr ausgeschlossen werden. Aber Herr Polenz hat völlig zu Recht gesagt: Das kann man natürlich nur machen, wenn sich der Weltsicherheitsrat von vornherein als handlungsfähig darstellt. Die größte Blamage für die Völkergemeinschaft wäre, dass man in den Weltsicherheitsrat geht, man abstrakt über Instrumente diskutiert und zum Schluss den Fall an die IAEO zurückverweist. Das können wir uns in der Tat nicht leisten. Deswegen muss es in den Gesprächen mit Moskau und Peking darum gehen, mehr als eine laue Enthaltung zu erreichen. Denn wir alle müssen uns darüber im Klaren sein: Wenn wir den durchaus begrenzten Instrumentenkasten von Sanktionen öffnen, dann gibt es nur sehr wenige Möglichkeiten, durch die der Schaden nicht auch bei uns erheblich sein wird. Man muss bereit sein, das zu realisieren. Das gilt ganz besonders für die Russen. Wir haben offensichtlich ein riesiges Problem mit nuklearer Proliferation. In den letzten zehn Jahren hat es hier keinen Fortschritt gegeben. Das Gegenteil war der Fall. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht mit einer rhetorischen Eskalation die wohlmeinenden Kräfte im Iran einem Präsidenten, der nach unseren Maßstäben nicht ganz nachvollziehbare Äußerungen gemacht hat, geradezu in die Arme treiben. Denn der Iran hat eine sehr junge Gesellschaft, eine im Grunde dem Westen gegenüber sehr aufgeschlossene Gesellschaft, die sich gern aus alten Fesseln befreien würde. Aber in der Frage des nuklearen Selbstbewusstseins ist diese gut ausgebildete, junge iranische Generation mit einem aus meiner Sicht erschreckend großen Anteil derselben Meinung wie der Staatspräsident. Deswegen geht es darum, diesen Menschen Angebote zu machen und sie in eine konstruktive Zusammenarbeit einzubinden. Entsprechende Angebote liegen auf dem Tisch. Ich glaube, wir müssen dieses Problem noch einmal konkreter angehen. Darüber hinaus brauchen wir einen entschlossenen neuen Ansatz in der Abrüstungspolitik. ({4}) Es ist nicht mehr fünf vor zwölf. Im günstigsten Fall ist es zwölf Uhr und wir können die Uhr noch ein bisschen anhalten. Aber danach wird die nukleare Proliferation in einem Ausmaß voranschreiten, wie wir uns das gegenwärtig noch gar nicht vorstellen können. Das geht weit über den Iran hinaus. In einem solchen Zusammenhang hat die Bundesrepublik Deutschland ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit, weil wir die nukleare Option für uns ein für allemal ausgeschlossen haben und das im Zweiplus-Vier-Vertrag noch einmal bekräftigt haben. Das muss auch ein früherer Verteidigungsminister wissen. Wir sollten an diesem Imperativ deutscher Außenpolitik keinen Zweifel aufkommen lassen. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Staatsminister Gernot Erler.

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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am kommenden Donnerstag, dem 2. Februar 2006, wird der Gouverneursrat der IAEO, also der Internationalen Atomenergiebehörde, zusammentreten und versuchen, einen Ausweg aus der Krise zu finden, die im Zusammenhang mit dem iranischen Atomprogramm entstanden ist. ({0}) Das ist der richtige Zeitpunkt, um hier noch einmal daran zu erinnern, wie diese krisenhafte Situation entstanden ist. Die Islamische Republik Iran ist Unterzeichner des Atomwaffensperrvertrages. Dieser Vertrag verpflichtet das Land, auf die Entwicklung von Atomwaffen zu verzichten, verbrieft aber zugleich das Recht auf friedliche Nutzung der Atomenergie. Um das Ganze transparent und kontrollierbar zu machen, gibt es als besondere Sicherungsmechanismen die „Safeguards“-Abkommen mit der IAEO. Im Jahr 2003 - das wurde schon angedeutet - musste der Iran zugeben, gegen die Safeguards verstoßen und über 18 Jahre hinweg ein geheim gehaltenes Nuklearprogramm verfolgt zu haben, zu dem der verdeckte Bau einer Urananreicherungsanlage gehörte, in der auch spaltbares Material zur Waffenproduktion hergestellt werden kann. Schon damals hätte die IAEO das Recht gehabt, die Weltgemeinschaft über diesen groben Verstoß zu informieren und den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einzuschalten. Damals waren es die europäischen Staaten, die verhindert haben, dass Teheran für seinen Täuschungsversuch an den internationalen Pranger gestellt und isoliert wurde. Stattdessen versuchten Deutschland, Frankreich und Großbritannien im Auftrag der Europäischen Union, eine Verhandlungslösung zu finden und dem Iran Brücken für seine Rückkehr zur Vertragstreue und zur Ausräumung des Misstrauens zu bauen, das international entstanden war. Entscheidende Voraussetzung war, dass der Iran für die Dauer der Verhandlungen verbindlich auf alle Aktivitäten der Konversion, der Anreicherung und der Wiederaufarbeitung verzichtete. Da Teheran hierzu bereit war und entsprechende Abkommen unterzeichnete, wurde der Weg für eine Verhandlungslösung freigemacht. Im Namen der EU verfolgten die drei Verhandlungsstaaten, die so genannten E 3, ein Konzept, um folgendes Ziel zu erreichen: Am Ende musste die Gewissheit stehen, dass der Iran kein Atomwaffenprogramm verfolgt und dass er die zivile Nutzung der Kernkraft, zu der er berechtigt ist, nicht für die Entwicklung solcher Programme missbrauchen kann. Ich möchte betonen: Hinter diesem Ziel stand und steht bis heute die ganze Weltgemeinschaft einschließlich der Länder, die auf verschiedenen Gebieten engstens mit der Islamischen Republik Iran zusammenarbeiten. Das Mittel zur Erreichung des Ziels war ein umfassendes Kooperationsangebot - Herr Dr. Hoyer hat das eben angesprochen -, das dem Iran am 5. August letzten Jahres unterbreitet wurde. Es umfasste die Aufhebung aller Sanktionen und Restriktionen gegenüber dem Iran, die Zusammenarbeit bei der zivilen Nutzung der Atomenergie, die Zusammenarbeit im Bereich der Hochtechnologie, Hilfen zur Erschließung neuer Märkte für iranische Produkte und sogar eine sicherheitspolitische Zusammenarbeit in bestimmten Bereichen einschließlich der Verfolgung des Zieles der Errichtung einer umfassenden atomwaffenfreien Zone im Nahen Osten. Man kann wirklich nicht sagen, dass das kein eindrucksvoller Katalog von Angeboten gewesen ist. Das war der Katalog der Gegenleistungen, der dem Iran für seinen verbindlichen Verzicht auf Aktivitäten zur Urananreicherung und -aufarbeitung angeboten wurde. Diese Aktivitäten hätten zwar angesichts des gegenwärtigen Stands des zivilen iranischen Programms momentan überhaupt keinen Sinn gemacht, ihre Beendigung aber hätte genau jene Garantie dargestellt, die seitens der Weltgemeinschaft - das habe ich bereits gesagt - von Teheran so nachdrücklich eingefordert wurde. Es handelte sich um das Angebot einer Inklusions- bzw. Einbindungspolitik, das auf dem Prinzip des Gewinns für beide Seiten basierte, und es enthielt eine gute Perspektive für den Iran, der ja immense soziale und wirtschaftliche Probleme hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Reaktion war aus europäischer Sicht niederschmetternd: Unser Angebot ist nicht nur kaum geprüft zurückgewiesen worden, sondern fünf Tage später hat der Iran seine Konversionsaktivitäten in der Anlage in Isfahan sogar demonstrativ wieder aufgenommen. ({1}) Trotz des Angebots der E 3, weiterhin über die Vorschläge und ihre Verbindlichkeit zu reden, war das der Beginn eines nervenaufreibenden Hin und Her und eines Versteckspiels, das schließlich am 9. Januar dieses Jahres in der Wiederaufnahme der so genannten Forschungsvorhaben einschließlich der Anreicherungsaktivitäten gipfelte. Damit war den Verhandlungen definitiv die Grundlage entzogen, und zwar einseitig und mutwillig, und es war der Punkt erreicht, zu dem Bundeskanzlerin Angela Merkel gestern noch einmal festgestellt hat, dass der Iran damit die so genannte rote Linie überschritten hat und dass sich das die westliche Gemeinschaft in dieser Form nicht bieten lassen kann. ({2}) Die einseitige Aufkündigung der vereinbarten Suspendierung der Programme - vor allem des Programms zur Urananreicherung - hat die internationalen Besorgnisse verstärkt. Diese Sorgen sind durch einen anderen Faktor noch verstärkt worden, nämlich durch die nicht hinnehmbaren Schmähungen und Drohungen gegen den Staat Israel, einschließlich der Leugnung des Holocaust durch den iranischen Präsidenten Ahmadinedschad; ({3}) wir haben ja vor kurzem in diesem Hohem Hause darüber debattiert. Die Außenminister der E 3 haben dann am 12. Januar festgestellt, dass vorerst keine Grundlage für Verhandlungen mehr gegeben ist. Zugleich haben sie aber ihre Entschlossenheit betont, weiter nach einer Verhandlungslösung zu suchen. Ich nutze diesen Punkt gern, um an den Kollegen Trittin und an den Kollegen Dr. Hoyer gerichtet noch einmal zu sagen: Über dieses gemeinsame Vorgehen gibt es keinerlei Dissens mit der französischen Seite; das ist auch in Blaesheim noch einmal betont worden, jenseits der ganzen Debatte über Atomstrategien. ({4}) Die drei Verhandlungsstaaten haben ihre Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass jetzt die Autorität der Vereinten Nationen gebraucht wird, um den Forderungen der IAEO an den Iran Nachdruck zu verleihen; die drei Staaten haben inzwischen mit vielen anderen Staaten darüber geredet und debattiert. Egal welche Entscheidung die 35 Mitgliedstaaten des Gouverneursrats der IAEO am 2. Februar treffen: Der Iran sollte die Entschlossenheit der Weltgemeinschaft, sichere Garantien gegen ein iranisches Atomwaffenprogramm zu bekommen, nicht unterschätzen. Von vornherein hat die Bundesregierung auch den Moskauer Kompromissvorschlag als sehr konstruktiv begrüßt, der auf eine gemeinsame Urananreicherung außerhalb des Irans, auf russischem Boden, hinausläuft. Erst hat Teheran - Herr Hoyer hat das geschildert - diesen Vorschlag brüsk zurückgewiesen. Seit gestern sieht es so aus, als könnte sich dieses Fenster wieder etwas öffnen. Wir begrüßen das ausdrücklich. ({5}) Während die diplomatischen Bemühungen weiter auf Hochtouren laufen, hat sich in der Öffentlichkeit in mehreren Ländern eine intensive Diskussion über mögliche Sanktionen gegen den Iran - bis hin zur Anwendung militärischer Mittel - entwickelt. Eine solche Diskussion hilft nicht weiter. ({6}) Darüber hinaus ist sie geeignet, den sehr breiten Konsens in der Weltgemeinschaft über das Ziel der Verhandlungen mit dem Iran infrage zu stellen. Die Bundesregierung beteiligt sich deshalb nicht an solchen Spekulationen. Im Gegenteil: Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat vor wenigen Tagen ausdrücklich vor einer Militarisierung des Denkens in diesem Kontext gewarnt. ({7}) Selbstverständlich bleibt die Bundesregierung bei ihrer Politik einer umfassenden, weltweiten atomaren Abrüstung, wie sie auch im Koalitionsvertrag enthalten ist. ({8}) Damit komme ich zum Schluss: Was jetzt gefragt ist, sind nicht Spekulationen über militärische Optionen, sondern internationale Geschlossenheit und gemeinsames Handeln. In diesem Sinne wird die Bundesregierung ihre Bemühungen fortsetzen. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Professor Dr. Norman Paech von der Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Norman Paech (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003822, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bis heute morgen wollte ich meine Rede eigentlich damit beginnen, dass hier über zwei Dinge offensichtlich Konsens besteht, nämlich dass die Anzahl der Atomwaffenstaaten auf keinen Fall steigen darf und dass eine militärische Intervention gegen den Iran auf jeden Fall zu verhindern ist. Nun ist vom ehemaligen Kollegen Scholz die Ungeheuerlichkeit zu hören, im Zweifel müsse auch Deutschland Atomwaffen gegen den Terrorismus einsetzen. Ich hoffe, meine Kolleginnen und Kollegen aus der CDU, dass dies eine absolute Minderheitsmeinung ist, die Sie nicht vertreten, und dass Ihre Partei den aus dem Ruder gelaufenen ehemaligen Kollegen wieder einfängt. ({0}) Denn solche Äußerungen zerstören den Konsens, den wir bisher in der Innen- und Außenpolitik gehabt haben. ({1}) Wenn über die beiden oben genannten Punkte noch immer Konsens besteht, dann stellt sich die Frage, wo das Problem liegt. Liegt es beim Iran, wie die meisten von Ihnen sagen, bei den USA oder vielleicht in den Verhandlungen selbst? Dazu einige Worte - dabei kommt es, Herr Erler, auf die Pointierung an -: Die EU fordert: Keine Entwicklung und Produktion von Atomwaffen. Antwort des Iran: Das war nie unser Plan und wir haben es auch nicht vor. Darauf USA und EU: Wir haben keine Beweise, glauben und trauen euch aber nicht. Wir kehren deshalb die Beweislast um und werden euch erst dann glauben, wenn ihr definitiv auf jede Urananreicherung verzichtet. Antwort des Iran: Wie kommen wir dazu, auf etwas zu verzichten, auf das kein anderer Staat der Welt verzichtet - am wenigsten die EU und die USA - und was uns der Atomwaffensperrvertrag ausdrücklich gestattet? Darauf die EU: Wenn ihr verzichtet, bieten wir euch weitestgehende Kooperation in der Wirtschaft, Wissenschaft und Atomenergie an; das hat Herr Erler in extenso ausgeführt. Wir werden euch sogar Brennelemente aus dem Ausland liefern und euch bei der Aufnahme in die WTO unterstützen. Doch der Iran lehnt wieder ab. Jetzt will man ihn vor den UN-Sicherheitsrat bringen. Lassen wir einmal die wirklich unerträglichen Äußerungen des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad beiseite. ({2}) - Wir sind bei der Qualifizierung einer Meinung. - Seine Äußerungen für sich genommen erfordern noch kein Eingreifen des Sicherheitsrates. Was verlangt man eigentlich vom Iran? Man verlangt die Aufgabe eines Stücks seiner Souveränität, ({3}) ohne ihm in den beiden für ihn entscheidenden Anliegen ein adäquates Angebot zu machen: bei der Forderung nach Unabhängigkeit seiner Energieversorgung und bei seiner berechtigten Wahrnehmung der Bedrohung durch die Nachbarstaaten, die entweder im Besitz von Atomwaffen sind oder Protektorate der USA. Hier fahren zwei Züge, zunächst noch langsam, aber mit immer größer werdender Geschwindigkeit, aufeinander zu. Wenn sie im UN-Sicherheitsrat aufeinander treffen, dann ist der einzige substanzielle Vorwurf gegen den Iran, gegen das Safeguards-Abkommen mit der IAEO verstoßen zu haben. ({4}) Das ist noch kein hinreichender Grund für Sanktionen nach dem VII. Kapitel der UN-Charta. Wir müssen feststellen: Der Iran hat noch nie gegen den Atomwaffensperrvertrag verstoßen; das behaupten auch Sie, Herr Erler, nicht. ({5}) Wir kennen doch die Mechanismen, wie aus Regelverstößen, die man nicht leugnen kann, eine Gefahr für den internationalen Frieden konstruiert wird, um damit das Tor für Sanktionen zu öffnen, die dann bis zu militärischen Zwangsmaßnahmen nach Art. 42 der UN-Charta gehen können. Hier müssen wir ernst nehmen, was Außenministerin Condoleezza Rice noch vor wenigen Tagen gesagt hat, dass sich nämlich der amerikanische Präsident immer alle Optionen offen halte. Erinnern Sie sich in diesem Zusammenhang bitte an die Zeit vor dem Irakkrieg. Auch damals sprachen etliche in diesem Hohen Hause von der Notwendigkeit, eine Drohkulisse aufzubauen, um der Diplomatie zum Erfolg zu verhelfen. Auch damals war der UN-Sicherheitsrat eine der Etappen der Eskalation. Was daraus geworden ist, können wir täglich sehen. - Um es kurz zu machen: Es sind ganz offensichtlich die gegenwärtigen Verhandlungen selbst und konkret die nicht akzeptablen Angebote an den Iran, die die Gefahr eines militärischen Endes hervorrufen. Die Frage ist, was die Alternativen sind; das wurde schon angesprochen. Ich will konkret vier Alternativen nennen: Erstens. Das russische Angebot einer gemeinsamen Urananreicherung mag ein zukunftsweisender Weg für die Energieversorgung sein; die Beseitigung der atomaren Bedrohung kann es aber nicht bewirken. Zweitens. Die EU fordert vom Iran ein Moratorium. Warum fordert sie ein solches eigentlich nur vom Iran und nicht weltweit?

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Paech, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Norman Paech (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003822, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nur ein weltweites Moratorium für neue Urananreicherungsanlagen wäre ein wirklich ehrliches Angebot, das auch der Iran nicht abschlagen könnte. Das ist übrigens ein Vorschlag von al-Baradei. Drittens. Die USA müssen gegenüber dem Iran endlich auf Gewalt verzichten. Viertens. Darauf ist schon hingewiesen worden: Letztendlich wird in dieser Region nur dann Frieden eintreten, wenn der Vorschlag einer atomwaffenfreien Zone von Israel bis Indien endlich in die Tat umgesetzt wird. Danke sehr. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg. Bitte schön.

Karl Theodor Guttenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003543, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich voranstellen, dass die CDU/ CSU-Fraktion die Äußerungen von Professor Scholz weder als hilfreich noch als in der Sache dienlich erachtet und als solche auch nicht unterstützt. ({0}) Sehr verehrter Herr Professor Paech, trotz einiger Differenzen war die Debatte bislang von einem hohen Konsens dahin gehend geprägt, worauf der Schwerpunkt zu legen ist. Der Schwerpunkt in dieser Debatte ist nicht im Wesentlichen dort zu sehen, dass wir mit dem nackten Finger des Vorwurfs auf unsere Bündnispartner zeigen, sondern dass wir uns auch damit beschäftigen, wo das Problem als solches eigentlich liegt. Es ist zunächst einmal im iranischen Regime anzusiedeln und weniger bei denen, die Sie gerade genannt haben. ({1}) Lassen Sie mich vor dem Hintergrund dessen, weshalb diese Debatte beantragt wurde, das aufgreifen, was Ruprecht Polenz bereits angeschnitten hat. Man kann sich sicherlich mit Recht darüber streiten, ob der Tonfall und der Zeitpunkt der Äußerung von Chirac wirklich glücklich gewählt waren; aber er hat die Welt mit seinen Äußerungen tatsächlich nicht neu erfunden. Die Fortschreibung der französischen Nukleardoktrin als solche ist seit längerem bekannt. Sie wurde in den französiKarl-Theodor Freiherr zu Guttenberg schen Medien in den letzten Jahren bereits behandelt und sie wurde auch von den deutschen Medien aufgegriffen. Von daher ist die Aufregung über die Äußerungen Chiracs doch ein wenig weit gehend. Herr Professor Paech, wir sollten sehr darauf achten, dass insbesondere in der öffentlichen Meinung nicht das Bild und die Auffassung entstehen, dass sich die Vorzeichen bereits umgekehrt haben. Die Bedrohung als solche geht nicht von Frankreich, Israel oder den Vereinigten Staaten von Amerika aus, sondern die Ursache der Bedrohung ist im iranischen Regime und beim Iran selbst zu suchen. ({2}) Deswegen: Wenn wir hier die Vorzeichen umkehren, dann bringen wir die Dinge in ein völlig falsches Licht. Ein weiterer Gedanke, der damit im Zusammenhang steht, sollte mit aller Klarheit unterstrichen werden - hier klang nämlich etwas anderes ein wenig durch und es wurde in den vergangenen Monaten auch schon von anderen Mitgliedern dieses Hauses geäußert -: Es muss für uns inakzeptabel sein - das ist es auch -, sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass wir uns am Ende des Tages mit einem nuklearisierten Iran abfinden. Das kann und darf nicht in unserem Interesse sein. ({3}) Ich glaube, dass wir uns gerade vor dem Hintergrund der offenen Fragen - es scheint in vielerlei Hinsicht ein Dilemma zu sein - noch einmal gewahr werden müssen, welche Optionen sich uns noch bieten. Ich glaube, dass wir uns dieser Diskussion gerade auch vor dem Hintergrund des iranischen Raketenprogramms etwas intensiver stellen müssen, das bereits NATO-Gebiet umfasst, das Israel als klar definiertes Ziel hat und innerhalb dessen bereits in diesem Jahr die Erreichbarkeit Europas einem Test unterzogen werden soll. Vor diesem Hintergrund wird auch für unsere interne Debatte folgendes Wechselspiel bedeutsam: Wie steht unser unmittelbares Sicherheitsinteresse zu unserem langfristigen Wirtschaftsinteresse, vielleicht auch Energieversorgungsinteresse? Ich glaube, dass wir diese Debatte bislang noch nicht intensiv genug führen. Das hat möglicherweise auch etwas mit dem ökonomischen Sanktionspotenzial Europas zu tun. Nun muss das in die Debatte eingeführt werden. Ich stimme Ruprecht Polenz zu und auch Gernot Erler hat das richtigerweise angesprochen: Der russische Vorschlag muss ernsthaft erwogen werden. Er darf natürlich nicht dazu führen, dass dies wiederum nur einen Zeitgewinn für die iranische Führung, das iranische Regime bedeutet. Auch müssen wir nach Kräften dafür sorgen, dass insbesondere die Chinesen entsprechende Vorschläge mit unterstützen und in diesem Fall keine Gegenvorschläge machen. Entscheidend bleibt aber, dass wir unser Vorgehen sowohl mit unseren europäischen Partnern als auch mit den Vereinigten Staaten von Amerika engstens abstimmen; denn jeder - das war bei Ihnen herauszuhören, Herr Professor Paech - antiamerikanische Reflex, den wir hervorrufen, und jeder Versuch, unsere europäischen Partner öffentlichkeitswirksam aus der Geschlossenheit hinauszutreiben, bestätigt die Iraner in ihrer Taktik, die westliche Staatengemeinschaft zu spalten. Das kann und darf nicht in unserem Interesse sein. Die Geschlossenheit ist unser Stärkemoment, das wir auch darstellen müssen. ({4}) Wir werden - damit schließe ich - einen Gedanken etwas klarer fassen müssen, nämlich welche Optionen Europa und welche Optionen die Vereinigten Staaten haben. Ich glaube, dass die Vereinigten Staaten ihr Potenzial, was Anreize für Iran anbelangt, noch nicht ausgeschöpft haben. ({5}) Auch wir auf europäischer Seite haben unsere Potenziale auf friedlichem Wege - ich bin ebenfalls klar gegen eine militärische Option in diesem Gesamtkontext - noch nicht ausgeschöpft. Darauf müssen wir hinarbeiten, das ist unsere Zielsetzung. Das ist allemal besser als die Analogien, Professor Paech, die Sie vorhin gezogen haben. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Winfried Nachtwei von Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Hauptproblem ist deutlich benannt worden. Die primäre Herausforderung ist, wie das iranische Streben nach Atomwaffen verhindert und eine unabsehbare Eskalation der Auseinandersetzung darum abgewendet werden kann. Dafür sind Geschlossenheit, Glaubwürdigkeit und äußerste Sorgfalt in Bezug auf Strategie wie auch öffentliche Formulierung unbedingt notwendig. ({0}) Herr Minister Jung, ich danke Ihnen, dass Sie jetzt hier sind, und darf Sie direkt ansprechen. Sie haben bekanntlich in einem Interview mit der „Bild am Sonntag“ im Hinblick auf den Iran und auf eine Drohkulisse erklärt, man benötige alle Optionen. Ich unterstelle Ihnen in keiner Weise, dass Sie eine so genannte militärische Option in irgendeiner Art anstreben würden. Aber es ist eine alte sicherheitspolitische Grunderfahrung: Wer eine militärische Option offen lässt, muss auch zu ihrer Umsetzung grundsätzlich bereit sein und muss alle Konsequenzen bis zum Ende durchdenken. Eine realistische und verantwortbare militärische Option gegenüber dem Iran gibt es nicht. Deshalb ist, so meinen wir, die offene Formulierung, die Sie in diesem Interview gewählt haben, fahrlässig. ({1}) Die Stellungnahmen aus den Reihen der Union zur Rede des französischen Staatspräsidenten spielen die Sache schon sehr herunter. Kollege Polenz, in dieser Frage dürfen wir keine künstlichen Gegensätze aufbauen; das ist völlig richtig. Allerdings werden da die Dinge sehr heruntergespielt und münden in einer deutlichen Verharmlosung. Die Tatsache, dass nach Hiroschima und Nagasaki keine weiteren Atomwaffen eingesetzt wurden, ist kein Grund, sich an atomare Abschreckung zu gewöhnen. Sie bleibt eine Kalkulation mit unterschiedsloser Massenvernichtung und dem faktischen Bruch allen Kriegsvölkerrechts. ({2}) Präsident Chirac beteuerte in seiner Rede, dass die französischen Atomwaffen nur der Abschreckung dienten und keine Kriegswaffen seien. Zugleich aber sagte er, dass auch Staaten abgeschreckt werden sollten, die Terrorismus förderten und gegebenenfalls Massenvernichtungswaffen gegen uns - gegen Frankreich und seine Verbündeten - einsetzen würden oder wollten. Er sagte des Weiteren, französische Atomwaffen sollten auch der Verteidigung unserer „strategischen Versorgung“ dienen. Hinzu kommt, dass in Frankreich seit geraumer Zeit eine ernsthafte Diskussion über die so genannte Miniaturisierung von Atomwaffen geführt wird. Hierzu ist zusammen mit den USA ein ambitiöses Simulationsprogramm entwickelt worden. Ab 2010 wird es Annahmen zufolge möglich sein, kleinere Atomwaffen sehr realitätsnah zu planen und zu testen. Ich fasse zusammen: Erstens weitet Frankreich seine atomare Abschreckung aus. Der Adressat ist angesichts des Zeitpunkts - dieser Interpretation folgen durch die Bank auch die weltweiten Medien - offensichtlich der Iran. Zweitens ist eine gewisse Öffnung in Richtung der Kriegsführungsfähigkeit mit Atomwaffen zu verzeichnen. ({3}) Die Verbreitung von Atomwaffen stellt neben dem internationalen Terrorismus gegenwärtig die Hauptbedrohung der internationalen Sicherheit dar. Wer heute eine atomare Drohung oder eine atomare Option gegenüber dem Iran zumindest andeutet, fördert die Weiterverbreitung, statt sie einzudämmen, und er fördert die Solidarisierung der dortigen Gesellschaft mit denjenigen, die tatsächlich über Atomwaffen verfügen wollen. ({4}) Die Rede des französischen Präsidenten lenkt den Blick darauf, dass der französische Verbündete mit seiner Nuklearpolitik einer glaubwürdigen Nichtverbreitungspolitik in den vergangenen Jahren leider eher geschadet als genutzt hat. Dies ist aber bei uns in der Politik insgesamt eher als Tabu behandelt worden. Diese Widersprüche beeinträchtigen die Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit der europäischen Nichtverbreitungspolitik zurzeit auch gegenüber dem Iran. Das muss zumindest intern dem französischen Verbündeten deutlich gemacht werden. So, wie die Bundeskanzlerin aber die öffentliche Kritik in Deutschland abgekanzelt hat, haben wir leider keinen Hinweis darauf, dass dies wenigstens unter vier Augen geschehen wäre. ({5}) Das ist beunruhigend, weil damit die Militarisierung der Auseinandersetzung um das iranische Atomprogramm hingenommen zu werden scheint. Es handelt sich dabei um eine Militarisierung des Denkens, die nicht zur Lösung des gefährlichen Konflikts beiträgt, sondern Öl in die Glut leitet. Wir fordern die Bundeskanzlerin auf, die bisherige Eindeutigkeit der deutschen Iranpolitik wieder herzustellen. Wir brauchen die glaubwürdige Geschlossenheit der Staatengemeinschaft gegenüber dem iranischen Atomprogramm. Danke. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Rolf Mützenich von der SPD-Fraktion.

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, die Rede des französischen Präsidenten in der vergangenen Woche hat in der Tat nicht viel Neues enthalten. Darüber, ob der Zeitpunkt richtig gewählt worden ist, kann man streiten. ({0}) Ich glaube, wir haben damals auch zu Recht zwischen Grünen und SPD - die CDU/CSU durfte damals nicht zustimmen - bei der Beratung eines Antrags im Zusammenhang mit der Überprüfungskonferenz festgestellt, dass die französischen Atomwaffen seit Mitte der 90erJahre modernisiert werden. Dennoch glaube ich nicht, dass es darum geht, ob der Präsident in seiner Rede viel Neues gesagt hat. Ich glaube vielmehr, dass es um folgende Fragen geht: Wird eine atomare Militärdoktrin den neuen Bedrohungen gerecht? Ist die Politik der Atomwaffenstaaten und damit auch Frankreichs mit dem Atomwaffensperrvertrag vereinbar? Kann mithilfe einer nuklearen Abschreckungsdoktrin das Aufkommen neuer Atomwaffenstaaten verhindert werden? Leider muss man diese drei Fragen verneinen. Man wird den internationalen Terrorismus nicht durch Nuklearwaffen abschrecken können. Die Atomwaffenstaaten müssten meines Erachtens dem Auftrag des Atomwaffensperrvertrags und den 13 Punkten der ÜberDr. Rolf Mützenich prüfungskonferenz nachkommen und atomar abrüsten. Das Entscheidende ist, dass das Festhalten an Atomwaffen und deren Modernisierung andere Staaten verleitet, solche Waffen möglicherweise für sich selbst vorzuhalten. Das ist im Grunde genommen der Kern, über den man debattieren muss. ({1}) Ich möchte drei Tendenzen aufzeigen, die in letzter Zeit in der internationalen Politik eine Rolle gespielt haben und auf die alle Kernwaffenstaaten reagieren müssten. Die erste feststellbare Tendenz ist, dass militärische Gewalt wieder als Instrument in die internationale Politik aufgenommen wird. Das hat in den USA im Zusammenhang mit dem Irakkrieg stattgefunden. Das findet aber auch in Russland statt. Erinnern wir uns nur an Tschetschenien oder an die Überlegungen des Generalstabschefs der russischen Streitkräfte betreffend präventive Atomschläge. Genauso ist es in China. Denken wir nur an die Taiwanfrage. Auch hier wird über militärische Gewalt als legitimes Mittel diskutiert. Das müssen wir zurückweisen; denn das ist eine große Gefahr für die internationale Politik. ({2}) Die zweite Tendenz ist, dass darüber diskutiert wird, ob Atomwaffen eine neue Rolle zugewiesen werden soll und ob das nukleare Gewaltmonopol wieder auf die nationalstaatliche Ebene übertragen werden darf. Nach meiner Auffassung ist es nach 1945 ein großer Fortschritt gewesen, dass wir das an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen überwiesen haben. Das Neue an der Rede von Chirac ist, dass er die Befugnisse, über den Einsatz von Nuklearwaffen zu entscheiden, auf die nationalstaatliche Ebene zurückholen will. Das muss man zurückweisen. ({3}) Die dritte Tendenz steht - darum geht es letztlich - im Zusammenhang mit der iranischen Atomkrise. Der Iran hat in den letzten Wochen - machen wir uns nichts vor die Krise eskalieren lassen. Das muss man kritisieren und zurückweisen. Herr Professor Paech, es ist eine Verharmlosung, wenn Sie die Worte von Ahmadinedschad nicht kritisieren. ({4}) Letztlich herrschte im Bundestag Konsens über dieses Thema. Ich finde, das sollte man in dieser Debatte erwähnen. Der entscheidende Punkt ist: Der Iran hat gegen die Regeln des Atomwaffensperrvertrages verstoßen. Das hat die Internationale Atomenergiebehörde oft genug festgestellt. Sie überprüft dies weiterhin. Aber es ist legitim, nun darüber nachzudenken, ob der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen - das ist das richtige Gremium aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse dem Iran in Zukunft besser bzw. möglicherweise konkreter drohen kann. Das kann die Internationale Atomenergiebehörde nicht. Deswegen muss der Fall Iran an den Sicherheitsrat überwiesen werden. ({5}) Wir, die SPD-Fraktion, unterstützen das, was der Außenminister in den vergangenen Tagen gesagt hat. Es war gut, dass er ständig darauf geachtet hat, dass es zu einem gemeinsamen Vorgehen der Europäischen Union kommt. Darauf müssen wir weiter setzen. Die EU-3Staaten müssen an ihrer gemeinsamen Position festhalten, genauso wie der Beauftragte für äußere Angelegenheiten der Europäischen Union. Die Verhandlungen in den letzten zwei Jahren waren gut; denn heute wissen wir mehr darüber, was der Iran gegenüber der Internationalen Atomenergiebehörde verschwiegen hat. Diese öffentliche Diskussion hat sich gelohnt. Ich möchte die Bundesregierung ermutigen, das aufzugreifen, was der Kollege Hoyer gesagt hat. Es ist an der Zeit, die Rüstungskontrolle wieder auf die Tagesordnung der internationalen Politik zu setzen. ({6}) Darin unterstütze ich die Bundesregierung. Wir haben gelernt, dass Rüstungskontrolle und Abrüstung die Entspannung in Europa gefördert haben. So sollten wir auch andere Rüstungskrisen entschärfen. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Karl-Georg Wellmann von der CDU/CSU-Fraktion.

Karl Georg Wellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003862, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Situation ist außerordentlich beunruhigend. Der Iran entwickelt eine Nukleartechnologie, deren Ausmaß und Umfang vernünftigerweise keinen anderen Schluss zulassen, als dass Atomwaffen gebaut werden sollen. Dort werden Komponenten entwickelt und tatsächlich gebaut, die man für die zivile Nutzung der Kernenergie nicht benötigt und deren enorme Kosten nur dann Sinn machen, wenn es Ziel ist, Atomwaffen zu besitzen. Der Iran entwickelt Trägersysteme, was vernünftigerweise keinen anderen Schluss zulässt, als dass andere Nationen damit bedroht werden sollen. Ich meine damit nicht nur Nationen im näheren Umfeld, sprich Israel. Ich frage mich vielmehr: Warum braucht der Iran Raketen, die 2 000 Kilometer weit fliegen und Europa erreichen können? Der französische Generalstabschef hat wörtlich gesagt, er hielte das für einen Albtraum. Ich glaube, der Mann weiß, wovon er redet. ({0}) Der Iran verhält sich auch heute so, dass der Schluss nahe liegt, er meine es mit seiner Nuklearrüstung bitterernst. Da wurde gelogen und getäuscht. Ich erinnere daran, dass die Anlage zur Anreicherung von Uran zunächst als Armbanduhrenfabrik deklariert wurde. Mit denen kann man - das wissen wir - jedenfalls kein Uran anreichern, aber mit den Gaszentrifugen, die in dieser Fabrik stehen und ausschließlich dem Zweck der Anreicherung waffenfähigen Materials dienen. Ich warne auch vor Wunschdenken. Es gibt viele, die glauben, der Mann meine es bestimmt nicht so ernst, Ahmadinedschad werde innenpolitisch Schwierigkeiten bekommen und er werde sich nicht durchsetzen. Das mag sein. Ich glaube aber, der Mann meint tatsächlich, was er sagt. Seine abstoßenden Äußerungen zu Israel haben wir alle gehört. Es ist schon reichlich eklig - das will ich in dieser Form hier einmal sagen -, wenn jetzt die deutschen Rechtsradikalen mit Horst Mahler an der Spitze nach Teheran pilgern, ({1}) um dort ihre zwanghaften Fixierungen gegen jüdische Menschen und gegen Israel auszuleben. Die Frage ist: Wie sollen wir reagieren? Möglichkeit eins: gar nichts machen, also business - im wahrsten Sinne des Wortes - as usual; es wird schon nicht so schlimm werden. Vielleicht hilft es ja, Herr Trittin, den Mullahs weiter gut zuzureden. Die Folge wird sein, dass sie - nach unseren Informationen - eher früher als später die Atombombe haben werden. Ich glaube nicht, dass sie sie gleich einsetzen werden. Sie kennen die Fähigkeiten Israels und sie haben sicher auch die Äußerungen des französischen Staatspräsidenten zur Kenntnis genommen. Aber sie streben als Nuklearmacht die Vormachtstellung in der arabisch-muslimischen Welt an. Der Iran wird sich bei dem Export von Terrorismus noch unangreifbarer fühlen. Wir wissen seit langem, dass der Iran den Dschihad im Kampf gegen Israel unterstützt. ({2}) Möglichkeit zwei: eine militärische Lösung. Die will kein verantwortlicher Politiker, insbesondere nicht die deutsche Bundesregierung. Ich darf sagen, Herr Trittin, dass es eine Unverfrorenheit ist, dass ein Sprecher der Grünen - das ging heute über die Agenturen - Frau Merkel vorwirft, sie gehe von der Friedenspolitik ab und wolle etwas anderes. Dies weise ich in aller Form zurück. ({3}) Lassen Sie mich das Zitat des Chefs der Atomenergiebehörde, Herrn al-Baradei, vorlesen. Er sagt wörtlich: Diplomatie ist nicht nur Reden. Diplomatie braucht auch Druckmittel und, in extremen Fällen, Gewalt. Das sagt dieser vorsichtige Mann. Ich meine, es wäre falsch, die militärische Option von vornherein als allerletzte Konsequenz auszuschließen. Die Grünen tun das, die Linkspartei auch. Ich glaube, Ihre Haltung wird die Mullahs in Teheran ungeheuer beeindrucken und sie werden allein deshalb von ihrer Atompolitik ablassen. Ich stelle mir auch vor - das sollten Sie und auch Herr Paech sich einmal überlegen -, welchen Eindruck es auf die Menschen in Israel macht, dass Sie angesichts einer Nuklearrüstung des Iran als Erstes die Sorge um die territoriale Unberührtheit des Iran formulieren. Ich warne vor dem Eindruck, der da erzeugt wird. ({4}) Das passt ins Bild. Ich habe mir ein Zitat von Altaußenminister Fischer herausgesucht. Er hat in der „Süddeutschen Zeitung“ - da war er schon einige Jahre Außenminister - gesagt, der Iran rücke immer mehr als politischer Stabilitätsfaktor in den Vordergrund; das Land sei im Aufbruch zu demokratischen Reformen. ({5}) Die Grünen kommen einen langen Weg, bis sie die Situation realistisch einschätzen. Herr Kollege Paech, ich muss Ihnen sagen: Ihre Einlassungen sind völlig unglaubwürdig. Sie waren es - ich habe das nachgelesen -, der die Intervention der Sowjetunion in Afghanistan mit warmen Worten gelobt hat. Ich habe mir das Zitat herausgesucht. Sie sagen, wegen der offenen Interventionsdrohung der USA gegenüber dem Iran und wegen der konterrevolutionären Einmischung Pakistans sei die friedliebende Sowjetunion dem armen Afghanistan zu Hilfe geeilt. ({6}) Diese Doppelmoral, Herr Paech, ist in der Tat unerträglich. ({7}) Das Problem ist, dass Sie all dies und noch viel mehr veröffentlicht haben. Ich habe schöne Zitate von Ihnen gefunden; man kann das heute alles nachlesen. Unsere einzig realistische Möglichkeit ist, international wirkungsvoll - das heißt vor allem: gemeinsam mit Russland und möglichst auch gemeinsam mit China Druck aufzubauen. Russland und China haben kein Interesse an einer neuen Atommacht an ihren Südgrenzen. ({8}) Auch die Chinesen, Herr Trittin, haben ein Interesse an gesicherten, stabilen Energielieferungen. Sie haben kein Interesse an einer Atommacht, die, wie Michael Stürmer sagt, „apokalyptisch, sektiererisch“ gepolt ist.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Wellmann, kommen Sie bitte zum Schluss.

Karl Georg Wellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003862, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Deshalb macht ein wirklich entschlossenes Vorgehen der Staatengemeinschaft Sinn. Das muss im Vordergrund der diplomatischen Bemühungen der deutschen Regierung stehen. Dafür hat sie die Unterstützung meiner Fraktion. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Wellmann, im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Das Wort hat jetzt die Kollegin Uta Zapf von der SPD-Fraktion.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich am Anfang ein Wort zu den Kollegen sagen, die zuvor gesprochen haben. Wir sollten das, was Herr Scholz gesagt hat, nicht herunterspielen, sondern ernst nehmen. ({0}) - Nein, Sie haben gesagt: nicht hilfreich und sachdienlich. - Ich finde, es geht weit darüber hinaus, weil es eine Anregung war, unsere eigenen Sicherheitsstrukturen in der Weise zu verändern, dass wir den Nichtverbreitungsvertrag beenden und die gesamte Politik, die wir vorher als Nichtatomwaffenstaat glaubwürdig gemacht haben, aufgeben sollten. Auch der Vorschlag von Herrn Chirac, die Nuklearwaffen Frankreichs - sicherlich denkt er auch an die Großbritanniens - zum Bestandteil der ESVP zu machen, ist ganz prekär. ({1}) Ich fürchte mich davor, dass eine Diskussion über einen solchen Vorschlag die gesamte Politik ruiniert, die wir gemeinsam in diesem Hause bisher entwickelt haben. ({2}) Diese Aktuelle Stunde trägt den Titel „Warnungen vor einer Militarisierung der Auseinandersetzung um das iranische Atomprogramm“. Man muss all denjenigen, die eine militärische Option in Bezug auf den Iran fordern oder für sinnvoll halten, die Frage stellen, ob sie die Folgen einer militärischen Operation überhaupt überprüft haben. Ich muss mit Erschrecken feststellen, dass mein Verteidigungsministerium mir als Parlamentarierin die Erfüllung der Bitte versagt hat, mir ein militärisches Briefing zu geben. Möglicherweise geschah das in der Angst, dass ich mich heute hierhin stelle und sage: Das ist doch möglich und die Bundesrepublik macht dort mit. Mir ging es darum, dass man sich wirklich einmal überlegt, was die Anwendung einer militärischen Option bedeutet. Ich fordere dazu auf, kurz den Blick auf den Irak zu richten. Ich glaube, mehr brauche ich dazu nicht zu sagen. Man bedenke sämtliche Konsequenzen. ({3}) Von hier aus möchte ich Herrn Steinmeier noch einmal für die Ablehnung der Militarisierung des Denkens recht herzlich danken. Es ist wichtig, auf den Pfad der Verhandlungen zurückzukehren, wie es Herr Erler hier geschildert hat. Iran pocht auf sein in Art. IV des Atomwaffensperrvertrages verankertes Recht; aber es bestehen Zweifel, dass er die in diesem Vertrag niedergelegten Verpflichtungen einhält. Über diesen Punkt müssen wir diskutieren. Ich möchte noch auf ein sicherheitspolitisches Thema von allgemeiner Bedeutung eingehen. Die IAEO hat zwei Aufgaben: Zum einen soll sie mithilfe der Safeguards und anderer die friedliche Nutzung der Atomenergie ermöglichen; zum anderen soll sie gegenüber den Atommächten immer wieder mahnen, was in Art. VI des Atomwaffensperrvertrages steht. Wir müssen uns einmal den momentanen Zustand der nuklearen Abrüstung anschauen: Seit 1995 gibt es einen Stillstand. Nach der Agonie, in die die Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag hineingeraten ist, können wir für die Zeit nach 2005 eigentlich nur Rückschritte feststellen. Auch im Hinblick auf die Doktrinen gibt es eine Entwicklung, die mir Angst macht. Das, was Chirac gesagt hat, kann man auch anders interpretieren. Die Doktrin der USA für den Einsatz von Nuklearwaffen - sie liegt schwarz auf weiß vor - erklärt Nuklearwaffen zu Kriegswaffen und sieht Präemptivschläge vor. Sie besagt ausdrücklich, dass man einen Gegner auf seinem eigenen Territorium mit Nuklearwaffen treffen darf, wenn dieser möglicherweise über Massenvernichtungswaffen verfügt. Dies ist eine ganz große Gefahr. In noch viel höherem Maße als bei Frankreich ist bei den USA zu sehen, dass die Waffendesigns bereits auf dem Reißbrett liegen. Wir müssen uns ernsthaft darauf besinnen, zur nuklearen Abrüstung zurückzukommen. Wir brauchen einen Atomteststopp, einen Cut-off, aber auch wieder eine Diskussion über atomwaffenfreie Zonen. Das Wichtigste wäre, dass sich die internationale Staatengemeinschaft bemüht, über regionale Sicherheitskonzepte unter Einbeziehung aller Nachbarn endlich gemeinsam zu diskutieren. Da sind wir als Europäer, die USA und die UNO in gleichem Maße gefragt. In diesem Zusammenhang kann man dann auch anfangen, über atomwaffenfreie Zonen in diesem Bereich zu diskutieren. Man muss sich die Sicherheitsbedürfnisse der einzelnen Staaten anschauen. Einige Staaten meinen mittlerweile, dass sie sich überhaupt nur mit Nuklearrüstung schützen können. Das gilt für Indien, Pakistan und Nordkorea und das können wir exemplarisch möglicherweise auch am Iran sehen. Es geht darum, ein globales Sicherheitskonzept zu entwickeln, wie alBaradei auch gefordert hat. Er hat nicht nur gefordert, zu drohen. Er hat auch gesagt: Die internationale Staatengemeinschaft muss ein globales Sicherheitskonzept entwickeln, das nicht von nuklearer Abschreckung geprägt ist, sondern das die Sicherheitsinteressen der einzelnen Staaten berücksichtigt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Letzter Satz. - Wir müssen in diesem Kontext wirklich etwas angehen, was die OSZE in Europa geschafft hat und was auch die Europäische Union vorexerziert: gemeinsame Sicherheit organisieren, Vertrauensbildung und Abrüstung endlich wieder auf den Tisch des Hauses bringen. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Erich Fritz von der CDU/CSU-Fraktion.

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Zapf, es gehört zum Verfassungskonsens der Bundesrepublik Deutschland, dass wir weder Atomwaffen besitzen wollen noch an ihren Einsatz denken. ({0}) - Die Aussagen des sonst sehr geschätzten Herrn Kollegen Professor Scholz sowie des Herrn Professor Paech rauben einem jeden Glauben - soweit man ihn überhaupt jemals hatte - an die besondere Fähigkeit von Professoren, mit den Dingen dieser Welt umzugehen. Deshalb sollte man gar nicht weiter darüber nachdenken. ({1}) Eine meiner Heimatzeitungen, die „Westfälische Rundschau“ in Dortmund, titelt heute „Iran kauft Atomteile illegal in Deutschland“. Der Bericht beruht auf Informationen aus dem Zollkriminalamt. Er signalisiert mir zwei Dinge: Erstens zeigt er, dass wir mit dem, was in den 90er-Jahren nach den Erfahrungen in Rabda etc. zur Bekämpfung illegaler Exporte, zur Begrenzung von Rüstungsexporten und Exporten von Dual-Use-Gütern und deren Kontrolle sowie zur Vorfeldaufklärung aufgebaut worden ist, gut gehandelt haben und dass das erfolgreich ist, selbst wenn man kriminelle Handlungen in diesem Bereich nie ausschließen kann. Dieser Artikel signalisiert ein Zweites, nämlich dass das Beschaffungswesen des Iran im nuklearen wie im biologischen Bereich auf eine aggressive Ausstattung dieses Landes weist, dass es nicht darum geht, defensive Fähigkeiten zu verbessern, sondern darum, ausschließlich aggressive Potenziale aufzubauen. Deshalb ist es richtig, dass wir diese Debatte so führen, wie wir es jetzt tun - auch wenn man das beim Eingangsbeitrag von Herrn Trittin noch nicht geglaubt hat -, nämlich mit der Bestätigung der gemeinsamen Absicht, die europäische Position, die aufgebaut worden ist, zu unterstützen, also den diplomatischen Druck zu erhöhen, den Iran trotz seines Verhaltens immer wieder an den Verhandlungstisch zurückzubringen und in Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten, Russland und China alle Chancen zu nutzen. Es ist doch erfreulich, wenn wir jetzt feststellen, dass es nach langem Hin und Her, nach zunächst extremer Ablehnung nun Signale dafür gibt, dass der Vorschlag Putins - auf den die Bundeskanzlerin, wie wir wissen, Einfluss genommen hat - in Teheran positiv erwogen wird. Ich finde es auch gut, wenn jetzt nicht eine Lex Iran daraus gemacht wird, sondern sozusagen ein Dienstleistungsangebot Russlands an die Länder existiert, die solche Wiederaufarbeitung brauchen. ({2}) Ich finde, das ist ein guter Ansatz, weil er - wie schon Ruprecht Polenz gesagt hat - die Gesichtswahrung gewährleistet. Aber machen wir uns nichts vor. Wenn wir den Verlauf der Verhandlungen betrachten, dann wissen wir auch, dass man immer wieder daran zweifeln muss, ob die Verhandlungsabsicht der anderen Seite wirklich ehrlich ist, ob es um die Lösung des Problems geht - um die Durchsetzung der friedlichen Nutzung der Kernenergie oder ob dahinter nicht doch der Wille zum Erwerb aggressiver Potenziale bis hin zu Atomwaffen steckt. Deshalb gibt es keine Alternative zu dem jetzt begonnenen Vorgehen, nämlich im Gouverneursrat darüber zu sprechen, ob man den Sicherheitsrat einschaltet. Ich finde die Initiative der Vereinigten Staaten, die Reise Robert Zoellicks zu Gesprächen nach Peking, und die Reaktion Pekings sehr positiv. Peking hat ausdrücklich erklärt, man habe kein Interesse daran, dass der Iran Atomwaffen erwirbt oder selbst herstellt. Es ist sehr positiv, dass Russland in derselben Weise Partei ergreift. Noch nicht ganz klar ist, wie Indien sich im Gouverneursrat verhalten wird. Es hat ebenfalls eine wichtige Schlüsselposition; wir wissen, welche energiepolitischen Absichten in Richtung Pakistan und Indien vom Iran aus verfolgt werden. Meine Damen und Herren, die Drohung mit Sanktionen hat sich in der Vergangenheit als nicht sehr scharfe Waffe erwiesen. Dennoch sollte man keine Möglichkeit ausschließen. Jeder muss wissen, dass wir im Extremfall Sanktionen besser aushalten als der Iran, ({3}) der mit 60 Prozent seiner Staatseinnahmen vom Öl- und Gasexport abhängig ist, der keinerlei weltmarktfähige Produkte hat außer den Rohstoffen, die er verkaufen kann, und der die Loyalität seiner Bevölkerung auf Dauer nicht nur durch den Hass auf Israel und aggressive Außenpolitik wird erhalten können.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Fritz, kommen Sie bitte zum Schluss.

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Menschen im Iran, diese junge Bevölkerung, haben einen Anspruch darauf, dass ihre Zukunft gesichert wird: durch Technologietransfer, durch Öffnung für den und Beteiligung am Welthandel, durch alle Möglichkeiten, sich gleichberechtigt zu verhalten. Deshalb bietet der Weg in die Isolation, den dieser Präsident geht und den die Mullahs immer wieder gegangen sind, keine Zukunftsperspektive für das Land. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Andreas Weigel von der SPD-Fraktion.

Andreas Weigel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003656, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor anderthalb Jahren war unsere Einschätzung bezüglich der Verhandlungen der EU 3 noch recht positiv. Heute befinden wir uns in einer völlig anderen Situation. Wir haben eine andere Phase erreicht. Es ist aber falsch, den Abbruch der Verhandlungen als das Ende der Verhandlungen zu sehen und zu meinen, nun begännen militärische Optionen. Die EU 3 müssen die Verhandlungen wieder aufnehmen; denn wir wollen eine friedliche Lösung des Konflikts. Wir stehen in der Verantwortung, diesen Konflikt friedlich zu lösen. ({0}) Die Verhandlungen benötigen aber ein glaubwürdiges Angebot und ebenso ein glaubwürdiges Drohpotenzial. Da wir militärische Drohpotenziale ausschließen, müssen wir uns ernsthaft mit Wirtschaftssanktionen auseinander setzen. Konsequente Wirtschaftssanktionen würden den Iran entscheidend treffen. Wenn keine ernst zu nehmenden diplomatischen Möglichkeiten und Konzepte greifen, werden wir darum nicht herumkommen. Ich halte sie im Übrigen auch für erfolgversprechend, weil sie den Iran an einer sehr empfindlichen Stelle treffen. Die iranische Führung tritt gerade deswegen außenpolitisch so aggressiv auf, weil sie große Probleme mit der dynamischen Entwicklung ihrer Bevölkerung hat, einer Bevölkerung, die jährlich um 1,2 Prozent, also um fast 1 Million Menschen, wächst. Eine Gesellschaft, die derart rasant wächst, verlangt konsequenterweise nach Wirtschaftswachstum und entsprechenden Arbeitsplätzen. Es wird gesagt, wirtschaftliche Sanktionen kämen nicht infrage, weil davon die globale Energieversorgung schwer getroffen werden würde. Wir selbst hätten dafür einen sehr hohen Preis zu zahlen. Aber was ist denn die Alternative? Wirtschaftssanktionen können nur auf dem Gebiet erfolgreich sein, wo es dem Iran wehtut. Es geht also im Wesentlichen um das Erdöl. Wirtschaftssanktionen werden Auswirkungen auf die Energiemärkte haben. Das hat auch für uns empfindliche Konsequenzen. ({1}) Wir müssen uns auf spürbare energiepolitische Folgen einstellen. Wir werden um diesen Preis nicht herumkommen. Die Frage ist, ob wir diesen Konflikt energiepolitisch aushalten. Wirtschaftliche Sanktionen, die über mehrere Stufen gesteigert werden können, sind neben den diplomatischen Bemühungen aus meiner Sicht das einzige Mittel, die iranische Führung noch zum Einlenken zu bewegen. ({2}) In den letzten Tagen ist in der öffentlichen Berichterstattung der Eindruck entstanden, dass sich Frankreich für militärische Sanktionen ausspricht. Wenn ich die Rede des französischen Präsidenten vom 19. Januar richtig verstehe, dann komme ich zu dem Schluss, dass sein eigentliches und ursprüngliches Anliegen ist, die Frage der gemeinsamen europäischen Verteidigung anzusprechen, einer Verteidigung, die ausdrücklich auch über die Fähigkeit zur Abschreckung verfügt. Dabei geht es erstens um die Änderung der Nuklearstrategie des Westens. Zweitens geht es darum, dass sich Europa über die Frage Gedanken machen muss, ob das nukleare Potenzial der Franzosen und Briten eine Rolle in der europäischen Verteidigung spielen soll. Wenn wir eine Abschreckungskapazität brauchen, stellt sich die Frage, wie sie aussehen soll. Es sind - zugegebenermaßen - unbequeme Fragen, die der französische Präsident aufwirft. Wir kommen aber in der Tat um die Beantwortung dieser Fragen nicht herum - auch die Politik in unserem Land muss sich diesen Fragen stellen -: Woraus soll die Verteidigungsfähigkeit Europas letztendlich bestehen? ({3}) Welche Rolle werden Nuklearwaffen in einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion spielen? Die EU hat noch immer eine gute Handlungsbasis. Damit kann man im Schulterschluss mit Russland und mit Unterstützung der Vereinigten Staaten und Chinas spürbaren Druck auf den Iran ausüben. Wenn Europa geschlossen und glaubwürdig der iranischen Führung mit empfindlichen Sanktionen droht, wenn die USA und Russland diesen Weg mitgehen und wenn Russland die Übernahme der iranischen Atomanreicherung anbietet, dann wird der Iran erkennen, dass es in seinem ureigenen Interesse ist, mit der internationalen Staatengemeinschaft zu kooperieren. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Steffen Reiche von der SPD-Fraktion.

Steffen Reiche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003827, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! „Nur wenige Völker haben ihre nationale Identität über einen so langen Zeitraum hinweg zu wahren vermocht.“ Das hat Willy Brandt einmal in großer Achtung vor der uralten Kulturnation der Iraner gesagt. Über 6 000 Jahre hinweg handelt es sich um eine Geschichte, die immer auch Frieden und Krieg mit Israel kannte. Das Alte Testament ist voll davon. Wir haben dem Iran in der Weltkultur viel zu verdanken und Wesentliches auch in unsere europäische Kultur integriert. Deshalb ist es so wichtig, gerade in dieser aufgeladenen Zeit - in der es auch strategische Überraschungen geben könnte, wie Jacques Chirac in seiner Rede zu Recht warnt - Zeichen an die islamische Welt zu senden, die nicht nur den Willen zum Frieden, sondern auch und vor allem den Willen zur Integration zeigen. Deshalb ist das klare Zeichen vom 3. Oktober, des Tages, an dem Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufgenommen worden sind, so hoch anzusehen. Dieses Zeichen ist nämlich nicht nur bei den Türken, sondern auch bei Arabern und Persern sowie in der ganzen islamischen Welt vermerkt worden. Gerade diese Entscheidung stärkt die Rolle Europas in der Vermittlung in ebendiesem Konflikt. ({0}) Der, der in dieser Frage am ehesten gehört werden sollte - zumindest nach der von uns in Deutschland beschlossenen europäischen Verfassung -, nämlich Javier Solana, der EU-Außenbeauftragte, hat eine militärische Lösung im Atomstreit mit dem Iran abgelehnt. „Ein militärisches Vorgehen gegen den Iran steht außer Frage“, hat er vor zehn Tagen klargestellt. Genauso außer Frage steht, dass sich Präsident Mahmud Ahmadinedschad wie ein weltpolitischer, antisemitischer Geisterfahrer benimmt. ({1}) Die Koinzidenz von der Leugnung des Holocaust, dem erklärten Willen, Israel von der Landkarte zu tilgen, und dem Aussetzen des Moratoriums zur Atomforschung erfordert eine klare Antwort der Weltgemeinschaft und der Europäischen Union. ({2}) Es erfordert vor allem eine Stimme von Europa. Gäbe es mehrere Stimmen aus Europa, würde die wichtigste Stimme neben der Russlands, der USA und Chinas nicht gehört. Chirac sagt in seiner Rede leider erst am Ende - da haben es viele nicht mehr gehört -: Es bleibt meine Überzeugung, dass wir zu gegebener Zeit die Frage nach einer gemeinsamen Verteidigung stellen müssen, welche die bestehenden Abschreckungskräfte im Hinblick auf ein starkes, für seine Sicherheit verantwortliches Europa berücksichtigt. Guy Verhofstadt, der belgische Regierungschef, schreibt in seinem großartigen Buch „Die Vereinigten Staaten von Europa. Manifest für ein neues Europa“ in faszinierender Klarheit: Die europäische Außenpolitik wird erst glaubwürdig sein, wenn es eine echte europäische Verteidigung gibt, d. h. eine europäische Armee. Wir müssen den Mut haben, die Dinge beim Namen zu nennen. Deshalb muss Deutschland, müssen Bundesregierung und Bundestag

Krista Sager (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003622

Die gegebene Zeit für diesen Schritt ist jetzt. Über 50 Jahre nach dem Scheitern der EVG, der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, im Jahre 1954 müssen wir einen neuen Anlauf unternehmen und den Weg zu einer gemeinsamen europäischen Armee in der NATO ebnen. Manche vermuten, dass sich Chirac in Brest auch deswegen so deutlich geäußert hat, weil er die Notwendigkeit der 3,5 Milliarden Euro, die Frankreich für seine Atomkräfte ausgibt, erklären wollte. Aber Jeremy Rifkin und andere haben uns vorgerechnet, wie wir mit dem gleichen Geld, das wir in Europa in nationale Armeen stecken, viel mehr Sicherheit erreichen könnten oder aber - bei gleicher Sicherheit - eine gemeinsame Friedensdividende haben würden. Wenn man jetzt beginnt, dann wäre, denke ich, die nächste Finanzplanungsperiode noch ein denkbares Ziel. Wer Europa aufbauen will, muss wacher sein und tiefer träumen als andere. Das ist die notwendige Dialektik. Deshalb versteht sich die PDS, die sich jetzt Linke nennt, nicht einmal selber bzw. nimmt nicht ernst, was sie fordert, wenn sie die europäische Verfassung ablehnt, weil sie zu stark militarisiert sei. Der einzige berechtigte Vorwurf an den europäischen Verfassungsvertrag kann doch nur sein, dass er noch nicht so viel gemeinsame Verteidigungspolitik ermöglicht, wie heute nötig. Wenn wir schon den Euroraum geschaffen haben, warum sollte uns heute nicht auch der Raum einer gemeinsamen Verteidigungspolitik in einer besseren Koalition der Willigen gelingen? Eine Bitte habe ich an uns alle: Rabbiner Israel Singer, der Vorsitzende des Jüdischen Weltkongresses, hat einen bemerkenswerten Vorschlag gemacht. Er sagt: Nachdem die Kirchen und das Judentum vorgemacht haben, wie man durch einen intensiven Dialog 2 000 Jahre kirchlichen Antisemitismus überwinden kann, könnte man das doch auch mit dem Islam schaffen. - Ich bitte Sie, seinen Vorschlag zu prüfen, ob nicht Deutschland eine internationale Konferenz einberuft, die politische Steffen Reiche ({0}) und religiöse Führer aus der ganzen Welt zusammenbringt, um zu besprechen, wie der Zusammenstoß der Kulturen vermindert und verhindert werden kann.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Reiche, kommen Sie bitte zum Schluss.

Steffen Reiche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003827, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich füge hinzu: Deutschland sollte das im Namen der Europäischen Union tun. Herr Singer sagt, Berlin wäre hierfür der richtige Ort. Ich finde, er hat Recht. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Heinz-Peter Haustein, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Vorverlegung des Fälligkeitstermins für Sozialabgaben rückgängig machen und strukturelle Reformen in der Rentenversicherung einleiten - Drucksache 16/396 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich bitte die Kollegen, die an der jetzt anstehenden Debatte nicht teilnehmen wollen, den Saal zu verlassen, damit wir mit den Beratungen fortfahren können. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb von der FDP-Fraktion das Wort. ({1})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 16. Januar dieses Jahres haben die Unternehmen in Deutschland wie gewohnt die Sozialversicherungsbeiträge für den Monat Dezember abgeführt; so weit, so gut. Morgen, am 27. Januar 2006, also nur elf Tage später, werden bereits die Beiträge für den laufenden Monat Januar fällig. Insgesamt werden die Unternehmen in diesem Jahr 13 Sozialversicherungsbeiträge an die Sozialkassen abführen müssen. Das ist schlecht, sehr schlecht sogar; denn mit dem Vorziehen der Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge wird vor allem den mittelständischen Unternehmen 20 Milliarden Euro an Liquidität dauerhaft entzogen, ({0}) zusätzliche Finanzierungskosten in Höhe von 1,25 Milliarden Euro aufgebürdet und Bürokratielasten nach Expertenschätzungen bis zu einer Höhe von 4 Milliarden Euro zugemutet. Mit einem Wort: Die Wirkung dieses Zwangskredites, den die Unternehmen der Sozialversicherung gewähren müssen, ist verheerend. ({1}) Im vergleichsweise günstigen Fall können Unternehmen wegen des Liquiditätsentzugs Investitionen nicht realisieren und neue Arbeitsplätze nicht schaffen. Im ungünstigeren Fall - das betrifft Hunderttausende von Fällen - werden die Unternehmen in eine schwere Finanzierungskrise gestürzt, die für nicht wenige Betroffene existenziell sein wird. Ich sage Ihnen, meine Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, voraus und werde dabei leider Recht behalten: Das Vorziehen der Fälligkeit der Sozialbeiträge wird zwischen 20 000 und 30 000 zusätzliche Insolvenzen in diesem Jahr in Deutschland zur Folge haben ({2}) und damit 100 000 bis 150 000 Arbeitsplätze zusätzlich vernichten. Das fällt in Ihre Verantwortung. ({3}) Das ist keine Panikmache, ({4}) weil schon heute in einer Vielzahl der Fälle auf der Gläubigerseite Konkursanträge durch die Sozialversicherungsträger, namentlich die Krankenkassen als Einzugsstellen, gestellt werden, oft wegen relativ geringer dreistelliger Eurobeträge. In dieser Sache müssen Sie sich einmal schlau machen. Weil die Sozialversicherungsbeiträge wegen des überaus engen Zeitkorridors am Monatsende absolut pünktlich kommen müssen, ist davon auszugehen, dass dieses Regime zukünftig mindestens genauso rigide, wenn nicht noch rigider gehandhabt werden wird. Zu den Wirkungen auf den Mittelstand: Es gab Zeiten, da hat zumindest die Union das noch genauso gesehen. Ich zitiere Andreas Storm in der Aktuellen Stunde vom 11. Mai 2005: Für viele kleine Handwerksmeister kann dieser zusätzliche Liquiditätsentzug der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt. Damit sind weitere Arbeitsplätze in unserem Land gefährdet. Das hat er gesagt, bevor die Union ihre 180-Grad-Wendung in dieser Frage vorgenommen hat; seine Aussage gilt aber heute noch unverändert. ({5}) Damit stellt sich auch die Frage nach dem Ansatz der großen Koalition zur Bewältigung der aktuellen Probleme in übrigens allen Zweigen der Sozialversicherung. Wenn es richtig ist, Herr Kollege Weiß - Sie werden gleich dazu sprechen -, dass die aktuellen Probleme weniger durch einen Anstieg der Ausgaben - das natürlich auch - als vielmehr durch eine Schwäche bei den Einnahmen begründet sind, und wenn es richtig ist, dass der Verlust von 1,5 Millionen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen und damit verbunden von 1,5 Millionen Beitragszahlern seit 2001 Ursache der Finanzkrise ist, dann kann es, um mit unserem Bundespräsidenten Horst Köhler zu sprechen, nur eine richtige Antwort geben: Vorfahrt für Arbeit! Im Umkehrschluss heißt das: Es muss alles unterlassen werden, was Arbeitsplätze bedroht oder vernichtet. Das gilt für das Vorziehen der Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge in besonderer Weise. ({6}) Deswegen frage ich Sie, meine Kollegen von Union und SPD: Glauben Sie wirklich, dass die mageren Beschlüsse von Genshagen - 9,5 Milliarden Euro für den Mittelstand, verteilt über vier Jahre, also noch nicht einmal 2,5 Milliarden Euro pro Jahr - auch nur annähernd den gesamtwirtschaftlichen Schaden ausgleichen können, der mit dieser neuen Regelung angerichtet wird? Wer, wenn nicht der Mittelstand, soll denn Arbeitsplätze in diesem Land schaffen? ({7}) Glauben Sie, dass sich ein Mittelständler von der Übergangsregelung für den Januarbeitrag, von dieser Sechstelung über die nächsten Monate, wirklich blenden lässt? Was Sie da betreiben, ist doch Augenwischerei! Spätestens ab August - und dann dauerhaft - trifft ihn die volle Belastung und schmälert seine Liquidität. Die Unternehmen werden sich darauf einstellen müssen, ob Sie das glauben oder nicht. ({8}) Dann steht bereits zu Beginn des nächsten Jahres die Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozent mit der Wirkung eines Kaufkraftentzugs von 25 Milliarden Euro ins Haus. Das wird die Konjunktur in unserem Lande - das hat der Bundeswirtschaftsminister in der Debatte heute Morgen ja eingeräumt - zusätzlich aufs Schwerste belasten. Das sind keine Rahmenbedingungen, die auf neue Arbeitsplätze hoffen lassen. Um es mit einem Bild zu sagen: Sie haben in Genshagen bei bis zum Anschlag angezogener Handbremse versucht, auf das Gaspedal der Konjunktur zu treten. Jeder Autofahrer aber weiß, dass das Gasgeben bei angezogener Handbremse dazu führt, dass man den Motor abwürgt. Genau das werfen wir Ihnen vor, dass Sie nämlich den Mittelstand, den Motor der Wirtschaft in unserem Lande, stümperhaft abwürgen werden. ({9}) Das Gebot der Stunde ist also - um im Bild zu bleiben -, die Handbremse mit einer Steuerreform, mit Reformen auf dem Arbeitsmarkt und Strukturreformen der sozialen Sicherungssysteme zu lockern. Der Sachverständigenrat hat dazu Vorschläge gemacht. Wir als FDP-Bundestagsfraktion werden uns jedenfalls mit dieser unsinnigen Regelung nicht abfinden. Wir haben bisher schon gegen diese Regelung angekämpft und werden das auch weiterhin tun. Wir wollen nicht, dass die Unternehmen in Deutschland von Ihnen weiterhin wie eine Zitrone ausgequetscht werden. ({10}) Wir werden deswegen eine Protestaktion bei 30 000 Mittelständlern als Initialzündung starten, um dem Bundesarbeitsminister als dem Verantwortlichen, der jetzt leider nicht hier ist - heute Morgen bei den Saison-Kurzarbeitergeldern war er da; das war ihm anscheinend wichtig -, deutlich zu machen, wo den Mittelstand der Schuh drückt und dass diese Regelung wirklich kontraproduktiv ist. Wir unterstützen auch die Verfassungsbeschwerde eines Mittelständlers gegen diese Regelung. Sie haben aber eine Chance: Sie brauchen gar nicht auf Karlsruhe zu warten. Kehren Sie heute zur alten Regelung zurück, indem Sie unserem Antrag zustimmen! Ich möchte die Union auffordern, zu ihrer alten Position zurückzukehren, und die SPD, endlich einzusehen, dass das, was Sie gemacht haben, gesamtwirtschaftlicher Unsinn war. Nehmen Sie die Regelung zurück! Stimmen Sie unserem Antrag zu! Vielen Dank. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Max Straubinger von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Kolb hat versucht, in den Antrag einzuführen. Er ist relativ kurz: ({0}) Vorverlegung des Fälligkeitstermins zurücknehmen und darüber hinaus strukturelle Reformen in der Rentenversicherung einleiten, um deren Finanzgrundlage zu verbessern. Leider Gottes hat er wesentlich mehr über den Jahreswirtschaftsbericht gesprochen, ({1}) vielleicht weil er in der ersten Runde heute nicht reden konnte. ({2}) Es wäre aber schon wichtig gewesen, über den Antrag und darüber zu reden, was damit gemeint ist. Herr Kollege Kolb, wenn wir heute Ihrem Antrag zustimmen würden, würden wir weit mehr Bürokratie verursachen - davon bin ich überzeugt -, als wir mit dieser Maßnahme insgesamt vielleicht verursacht haben, weil sich die Unternehmen, die Handwerker, die Mittelständler bereits darauf eingestellt haben, weil sie die Gesetzeslage kennen. Sie wird also bereits umgesetzt. ({3}) Wenn die Kollegen von der FDP das am 18. Januar von den Mittelständlern in unserem Land noch nicht erfahren haben, dann tut es mir Leid. Ich habe mich erst heute wieder informiert. Natürlich ist es eine Beschwernis und mit zusätzlichem Aufwand verbunden. ({4}) Natürlich braucht man ein neues IT-Programm. Aber es wird mittlerweile umgesetzt ({5}) und deshalb wäre ein Zurück zur früheren Regelung eher kontraproduktiv. ({6}) Was wird im Prinzip dadurch verändert? In vielen Bereichen hat es keine Veränderungen gegenüber der früheren Fälligkeit hervorgerufen. Denn in Betrieben, in denen am 15. eines Monats der Lohn ausgezahlt wird - das ist in vielen Bereichen der Fall -, ist schon bisher der Sozialversicherungsbeitrag am 25. des Monats fällig gewesen. ({7}) Es geht um die Betriebe, die den Lohn am Ende des Monats zahlen und am 15. des darauf folgenden Monats die Sozialversicherungsbeiträge abzuführen haben. Ich möchte anmerken, dass wir dadurch in einer Zeit, in der es moderne Kommunikationsmöglichkeiten gibt - in den letzten Jahren gab es natürlich eine Straffung der Abrechnungssysteme; die Regelung ist ja mittlerweile 30 Jahre alt -, eine zeitnähere Erfassung erreichen bzw. Finanzmittel in unsere gesetzlichen Sicherungssysteme bekommen. Um einen Anstieg des Rentenversicherungsbeitrages um 0,5 Prozent abzuwehren, ist es durchaus gerechtfertigt, dies in die Tat umzusetzen. ({8}) Dies verschafft uns natürlich Liquidität. Ich weiß, dass hiermit keine umfassende Lösung der Probleme der gesetzlichen Rentenversicherung oder unserer sozialen Sicherungssysteme insgesamt herbeigeführt worden ist. Aber wir haben auf alle Fälle Beitragssatzstabilität für das Jahr 2006 erreicht. ({9}) Herr Kollege Kolb, ich habe von der FDP im vergangenen Jahr bei den Gesetzesberatungen nicht vernommen, dass Sie dafür eingetreten wären, dass der Rentenversicherungsbeitragssatz um 0,5 Prozent erhöht werden soll, ({10}) was für die Betriebe 1 Milliarde Euro zusätzliche Belastung bedeutet hätte. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen. ({11}) - Herr Kollege Kolb, Sie wollen eine Zwischenfrage stellen? ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Kolb, zunächst einmal müssen Sie den Präsidenten fragen, ob Sie eine Zwischenfrage stellen dürfen. Ich frage dann den Redner und der Redner kann dann die Zwischenfrage zulassen. ({0}) Ich bitte Sie, jetzt Ihre Zwischenfrage zu stellen.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bedanke mich beim Präsidenten und beim Kollegen Straubinger dafür, dass diese Zwischenfrage zugelassen wurde. Herr Kollege Straubinger, sind Sie bereit einzuräumen, dass Sie in der Frage des Vorziehens der Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge Ihre Unschuld längst verloren haben? Im letzten Jahr - ich kann mich an die Beratung hier sehr deutlich erinnern - haben Sie uns treuherzig vorgehalten: Wenn wir die Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge nicht vorziehen, dann wird es zu einer Erhöhung des Rentenbeitrags kommen. Jetzt bekommen wir das Vorziehen der Fälligkeit und zusätzlich eine Erhöhung des Rentenbeitrags ab 1. Januar 2007. Das halten wir Ihnen vor. Sind Sie bereit, einzuräumen, dass wir in dieser Hinsicht offensichtlich ein Stück weitsichtiger waren als Sie? ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, Herr Kollege Kolb, ich möchte nicht sagen, dass Sie weitsichtiger waren. Wir kennen eben auch die Finanzsituation in den gesetzlichen Sicherungssystemen insgesamt. Ich möchte allerdings anführen, dass die FDP im Gesetzgebungsverfahren - insbesondere über ihre Möglichkeiten durch Regierungsbeteiligungen in den Bundesländern - auch nicht unbedingt mit letzter Kraft gekämpft hat, ({0}) um dies zu verhindern. ({1}) Zum zweiten Teil Ihrer Zwischenfrage: Wir haben uns in den Koalitionsverhandlungen darauf geeinigt, dass der Rentenversicherungsbeitrag zum 1. Januar 2007 auf 19,9 Prozent angehoben wird, um die Finanzsituation in der Rentenversicherung zu stabilisieren. Aber gleichzeitig wird diese Bundesregierung den Arbeitslosenversicherungsbeitrag um 2 Prozentpunkte, nämlich von 6,5 Prozent auf 4,5 Prozent, absenken. Das wird mehr Entlastung für die Betriebe bedeuten. ({2}) Davon bin ich überzeugt. In den heutigen Pressemeldungen steht, dass der IfoIndex stark gestiegen ist, dass also in der Wirtschaft das Zutrauen in die zukünftige Entwicklung wächst. Dadurch werden in unserem Land nicht nur Arbeitsplätze gesichert, sondern die Arbeitslosigkeit kann signifikant abgebaut werden. Das sind doch positive Zukunftsaussichten. Darüber sollten wir uns freuen. Ich bitte Sie, uns dabei zu unterstützen. ({3}) Verehrte Damen und Herren, natürlich bringt jede Änderung auch bestimmte bürokratische Abläufe mit sich; das ist unbestritten. Aber auch Änderungen eines Beitragssatzes in der Sozialversicherung, etwa der Krankenversicherung, oder Änderungen von Bemessungsgrundlagen müssen in der Regel am 1. Januar eines Jahres in den Betrieben aufgefangen und von ihnen umgesetzt werden. Wir fordern die Bundesregierung auf, die entsprechenden Verfahren so elegant zu gestalten, dass möglichst wenig Bürokratie entsteht; vielleicht können einzelne Regelungen ja sogar wieder entfallen. Darüber hinaus hoffe ich, dass in den Betrieben, wenn die Rentenversicherungsträger die Prüfungsverfahren durchführen, anerkannt wird, dass es sich bei der Vorauszahlung im Prinzip immer um die Zahlung des vergangenen Monats handelt. ({4}) Natürlich muss das zeit- und realitätsnah eingeschätzt werden. Aber ich bin davon überzeugt, dass es ein gangbarer Weg ist, den richtig ermittelten Betrag der Sozialversicherungsbeiträge im jeweils kommenden Monat als Vorauszahlung zu leisten, um in unseren Betrieben möglichst wenig Bürokratie zu erzeugen. Verehrte Damen und Herren, ich glaube, entscheidend ist, wie wir zukünftig die Strukturreformen der gesetzlichen Rentenversicherung angehen. Sie von der FDP haben uns in Ihrem Antrag aufgefordert, ({5}) sowohl längerfristige als auch kurzfristige Strukturmaßnahmen zu ergreifen, um die finanzielle Situation der gesetzlichen Rentenversicherung zu verbessern. Die die Bundesregierung tragenden Parteien, CDU, CSU und SPD, haben sich in ihrem Koalitionsvertrag auf mehrere Schritte geeinigt. Zum Beispiel wird es ab dem Jahr 2012 zu einer schrittweisen Anhebung des Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre kommen. Dadurch wollen wir für eine weitere Stabilisierung des Beitragssatzes in der gesetzlichen Rentenversicherung sorgen. Das haben wir bereits beschlossen. Ebenso wichtig ist Folgendes: Wir werden dafür eintreten, dass die private Altersvorsorge zukünftig eine weitere Stärkung erfährt. ({6}) Durch die Volksrente - früher Riester-Rente genannt wird insbesondere für die Förderung von Familien mit Kindern eine zusätzliche Grundlage geschaffen, wodurch die Zukunftsperspektiven der Jugend und vor allen Dingen der jungen Familien auch im Hinblick auf ihre zukünftige Rentensituation verbessert werden. Dies sind die Vorstellungen der Koalition, die wir natürlich auch umsetzen werden. Wenn wir die entsprechenden Entscheidungen treffen, werden wir im Interesse der Rentnerinnen und Rentner auch die Gewährleistung der Sicherheit der Renten im Auge haben müssen: Wir müssen dafür sorgen, dass die Renten auch weiterhin nicht nur pünktlich, sondern auch in gewohntem Umfang zur Auszahlung kommen. Verehrte Damen und Herren, eine entscheidende Rolle kommt dabei sicherlich der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland zu. Wie ich bereits in meiner Antwort auf Ihre Frage, Herr Kollege Kolb, deutlich gemacht habe, ist in unserer Wirtschaft gegenwärtig - Gott sei Dank! - eine wesentlich stärkere Dynamik festzustellen. ({7}) Darüber freuen wir uns. Diese Dynamik wollen wir natürlich unterstützen, Herr Kollege Kolb. ({8}) Das werden wir auch tun. Unser erklärtes Ziel ist dabei, insbesondere für mittelständische Betriebe die Abschreibungsbedingungen zu verbessern. Das bedeutet mehr Zukunftsinvestitionen in unsere Betriebe, mehr Arbeitsplätze in unserem Land und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Betriebe. ({9}) Das ist die Grundlage auch für die Finanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme. Deshalb bin ich sehr gespannt, inwiefern uns die FDP bei diesem Bemühen - dem Unterfangen, in unserem Land mehr Arbeitsplätze zu schaffen - zukünftig zu unterstützen bereit ist. ({10}) Zwar hoffe ich, dass sie das tatkräftig tun wird, glaube aber, dass uns Anträge, die rückwärts gerichtet sind, nicht voranbringen werden. Deshalb ist es angebracht, Ihren Antrag abzulehnen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit! ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Axel Troost von der Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Axel Troost (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003857, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf der einen Seite halten auch wir den FDP-Antrag für einen Schauantrag: weil er doch sehr spät kommt und das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. ({0}) Auf der anderen Seite denken wir, dass wir über diesen Antrag im Ausschuss doch beraten sollten. ({1}) Dabei bin ich nicht der Ansicht, dass wir zurückkommen sollten zu Zahlungsterminen um den 15. Man kann das zeitnah gestalten. Auch wenn ich als Linker vielleicht nicht in der Position bin, zu vermitteln, ({2}) meine ich, die Abführung der Beiträge am 3. oder 5. des Folgemonats, wie es von Sachverständigen auch vorgeschlagen worden ist, wäre noch zeitnah und würde Doppelarbeit bei der Abrechnung vermeiden. ({3}) Alle Sachverständigen haben bei der Begutachtung im Juni letzten Jahres von diesem Verfahren abgeraten, weil es völlig unnötig zu Doppelarbeit führt, sei es in den Betrieben, sei es bei den Krankenkassen, sei es bei den Sozialversicherungsträgern. ({4}) Gleichzeitig - das ist für meine Begriffe das Entscheidende - schafft diese Vorverlegung nicht einmal eine mittelfristige Lösung des Problems. ({5}) Ich kann hier heute keine Darlegung unserer Vorschläge zur mittel- und langfristigen Sicherung der Finanzen der Renten-, der Kranken- und der Pflegeversicherung machen; das werden unsere Fachkolleginnen und -kollegen tun. ({6}) - Ich könnte es natürlich und würde es auch gerne, wenn Sie mir die Zeit dazu gäben. Ich möchte nur auf drei Phänomene hinweisen, die aus meiner Sicht als Finanzpolitiker gegenwärtig die entscheidenden Probleme sind: Das ist zum einen die Verteilungsentwicklung. Hier wurde gerade gesagt, wir haben doch wieder Dynamik und wirtschaftliche Entwicklung und und und. Dabei wird unterstellt, das täte uns gut. Aber schauen wir uns die Entwicklung doch einmal konkret an: Im Jahr 2004 hatten wir ein Wirtschaftswachstum von 1,6 Prozent, einen realen Zuwachs des Sozialproduktes von 58 Milliarden Euro. Von diesen 58 Milliarden Euro sind 55 Milliarden Euro in die Steigerung der Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen geflossen, aber nur 3 Milliarden, sprich: 5 Prozent des gesamten Zuwachses, sind bei den Arbeitnehmereinkommen gelandet. ({7}) 2005 hatten wir einen Zuwachs des Sozialprodukts um 0,9 Prozent; es ist um 26 Milliarden Euro gestiegen. Der Zuwachs der Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen betrug 32 Milliarden Euro. Demgegenüber sind die Arbeitnehmereinkommen um 6 Milliarden Euro zurückgegangen. Der Jahreswirtschaftsbericht - heute Morgen ist es schon diskutiert worden - prognostiziert für das gegenwärtige Jahr noch einmal so etwas. Wenn man bei einem sozialen Sicherungssystem, das an der Einkommensentwicklung der Arbeitnehmer angelehnt ist, nichts gegen diese ständige weitere Umverteilung zugunsten von Gewinnen unternimmt, dann nutzt einem Wachstum überhaupt nichts, dann werden die sozialen Sicherungssysteme weiter Defizite haben. ({8}) Zweitens - auch das habe ich an dieser Stelle schon einmal gesagt -: Massenarbeitslosigkeit, vor allem ständig steigende Massenarbeitslosigkeit, verursacht für die sozialen Sicherungssysteme ungeheure Kosten. 4,8 Millionen registrierte Arbeitslose bedeuten für die sozialen Sicherungssysteme jährliche Beitragsausfälle von über 27 Milliarden Euro. Schon eine Halbierung der Arbeitslosigkeit entsprechend unseren Vorschlägen würde den sozialen Sicherungssystemen ein erhebliches Mehr bringen, und zwar dauerhaft. Drittens. Nach wie vor haben wir eine ständige Umschichtung von sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zu Minijobs bzw. 400-Euro-Jobs. Diese Umschichtung, das ist völlig klar, führt dazu, dass die Einnahmeverluste weiter wachsen. Anders wäre es, wenn wir mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigung bekämen. Deswegen bestehen wir darauf: Nur eine grundlegend anders angelegte Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsmarktpolitik kann die sozialen Sicherungssysteme heilen, kann versuchen, hier Abhilfe zu schaffen. Ich weiß, Sie sagen jetzt wie immer: Das ist ein Zurück in die 70er-Jahre. - In gewisser Weise haben Sie Recht: Wir kritisieren nämlich seit 30 Jahren die Politik, die in verschiedensten Konstellationen hier im Haus praktiziert worden ist und letztlich mit jeder Koalition zu immer höherer Arbeitslosigkeit, immer höheren Schulden, mehr Umverteilung und letztlich unsicheren sozialen Sicherungssystemen geführt hat. Deswegen sagen wir hier im Hause, aber auch draußen bei den Menschen: Wir brauchen eine andere Politik, eine Politik für mehr Arbeit und soziale Gerechtigkeit. Danke schön. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Gregor Amann von der SPD-Fraktion. ({0})

Gregor Amann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003731, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im vorliegenden Antrag wird - wie das Herr Dr. Kolb auch in seiner Rede getan hat - ein düsteres Horrorszenario gemalt: ({0}) Es werden „schwere gesamtwirtschaftliche Schäden“ und „Tausende von Insolvenzen“ vorausgesagt. Es ist die Rede von „einem Investitionsrückgang“ und einem „weiteren Abbau der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung“. Am Ende warnen die Antragsteller sogar vor einem „verfassungsrechtlich bedenklichen Eingriff in das Eigentum des Unternehmers“. ({1}) Man könnte fast glauben, der Bundestag hätte eine Enteignung aller privaten Unternehmen oder noch Schlimmeres beschlossen. Mitnichten! In Wirklichkeit geht es im vorliegenden Antrag lediglich um die Vorverlegung des Fälligkeitstermins der von den Unternehmen abzuführenden Sozialabgaben um etwa zwei Wochen. ({2}) Das ist eine Maßnahme, für die es gute Gründe gibt, die ich im Folgenden erläutern möchte. In der Vergangenheit wurde den Unternehmern bei der Zahlung der Sozialabgaben ein großzügiges Zahlungsziel eingeräumt, das angesichts der modernen technischen Möglichkeiten bei der Datenverarbeitung und beim Zahlungsverkehr heute nicht mehr erforderlich und auch nicht mehr gerechtfertigt ist. Wenn die Sozialbeiträge bisher überwiegend erst zum 15. des Folgemonats überwiesen wurden, so war diese Regelung eine überholte Praxis aus der Zeit, als die Löhne noch bar in der Lohntüte ausgezahlt wurden. Auf dem Stand der damaligen Technik war es nicht möglich, Löhne, Gehälter und Sozialversicherungsbeiträge zeitnah zu berechnen, auszuzahlen und zu überweisen. Heute ist das anders. ({3}) Natürlich führt die beschlossene Umstellung zu einer vorübergehenden, aber in ihren Ausmaßen noch erträglichen Belastung der Unternehmen. Dieser Belastung stehen zwei Vorteile gegenüber, von denen auch, aber nicht nur die Unternehmen profitieren: ({4}) Erstens wird es zu Verwaltungsvereinfachung und Bürokratieabbau beitragen - das werde ich Ihnen gleich näher erklären -, zweitens wird es im Jahr 2006 zu einer immensen Liquiditätsverbesserung bei den Sozialkassen in Höhe von etwa 20 Milliarden Euro führen, wovon allein auf die Rentenkasse etwa 9 Milliarden Euro entfallen. Mit dem im letzten Jahr ebenfalls beschlossenen vollautomatisierten Melde- und Beitragsverfahren in der Sozialversicherung werden zum 1. Januar 2006 die Arbeitsabläufe beschleunigt und vereinfacht. Mit der Vorverlegung des Zahlungstermins der Sozialabgaben wird dieses moderne Verfahren konsequent weiterentwickelt. Durch das neue Verfahren wird eine Reihe unterschiedlicher Einzahlungs-, Buchungs- und Überweisungsvorgänge gebündelt und damit kostengünstiger gemacht. Während das bisherige Verfahren in der Praxis oft zu drei bis vier Beitragsabrechnungen in einem Monat führte, insbesondere bei Unternehmen, in denen die ausgezahlten Gehälter stark schwanken, entfallen zukünftig Stornierungen, Korrekturen und das Ausfüllen aufwändiger Korrekturbögen, wie sie bisher im Rahmen des Beitragsverfahrens notwendig waren. Dadurch, dass die Differenz zwischen der Vorausschätzung am Monatsende und dem später errechneten Istwert jetzt der Fälligkeit des laufenden Monats zugerechnet wird, gibt es ab 2006 nur noch zwölf Beitragsabrechnungen im Jahr. Wenn also im vorliegenden Antrag von neuem Bürokratieaufwand und neu entstehenden Kosten für Bürokratie gesprochen wird, dann ist die Wahrheit vielmehr: Es werden Bürokratie und Verwaltungsaufwand abgebaut. ({5}) Davon profitieren übrigens auch die Krankenkassen, die den Beitragseinzug für die gesamte Sozialversicherung durchführen. Denn künftig müssen sie nur noch einmal im Monat die Weiterleitung der Beiträge an die Renten-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung veranlassen. Die Zahl der Abrechnungstermine wird von 24 auf zwölf reduziert. Das hilft natürlich bei der Stabilisierung der Verwaltungskosten der Kassen. Nun aber zum Thema finanzielle Belastung der Unternehmen. Selbstverständlich bedeutet jede Vorverlegung des Fälligkeitstermins einer Zahlung für den Betroffenen erst einmal den Entzug liquider Mittel und stellt somit eine finanzielle Belastung dar. ({6}) Wenn wir aber einmal objektiv betrachten, um was es hier geht, dann müssen wir feststellen: Der bisherige Fälligkeitstermin hinsichtlich der Sozialabgaben bedeutete für die Unternehmen schlichtweg einen zinslosen Kredit auf Kosten der Sozialversicherungen. ({7}) Man könnte hier sogar das in der FDP ansonsten so verpönte Wort „Subvention“ gebrauchen. ({8}) Die Praxis des zinslosen Kredits der Sozialversicherungen an die Unternehmen zu beenden und so die Liquidität der Sozialversicherung 2006 um einen zweistelligen Milliardenbetrag zu erhöhen, ist nicht nur sinnvoll und notwendig, sondern angesichts der schwierigen Kassenlage unserer Sozialversicherungen auch sozial gerecht. ({9}) Die FDP ruft doch sonst immer nach Subventionsabbau. Warum verlässt Sie denn plötzlich der Mut, wenn Sie einer nicht mehr zeitgemäßen Subvention so unvermittelt Auge in Auge gegenüberstehen? ({10}) Im Übrigen wissen Sie genau - Herr Dr. Kolb, Sie haben es selber erwähnt -, dass es gerade für Unternehmen, deren Finanzrahmen besonders eng ist, wie das häufig im Mittelstand der Fall ist, eine großzügige Übergangsregelung gibt, nach der es möglich ist, die Beiträge für den Monat Januar 2006 auf die Monate Februar bis Juli 2006 zu verteilen. ({11}) Nutzt ein Unternehmen diese Übergangsregelung, führt die Streckung der Zahlung der Beiträge sogar zu einem positiven Stundungseffekt, durch den die Liquidität des Unternehmens gestärkt wird. Die Alternativen zu diesem bereits beschlossenen Gesetz wären entweder weitere Beitragssatzerhöhungen bei den Sozialversicherungen oder Rentenkürzungen gewesen. Wir haben in der Koalition beschlossen, dass Rentenkürzungen mit uns nicht zu machen sind; denn Arbeitnehmer und Rentner haben in den letzten Jahren bereits ihren Anteil zur Stabilisierung der Sozialversicherungssysteme geleistet. Bezüglich der Beitragssatzerhöhungen brauche ich der FDP doch hoffentlich nicht die Bedeutung der Lohnnebenkosten für den Wirtschaftsstandort Deutschland zu erklären. ({12}) Natürlich wäre es für die Unternehmen deutlich kostspieliger, wenn die durch die Vorverlegung der Fälligkeitstermine gewonnene zusätzliche Liquidität der Sozialversicherungen durch Beitragssatzsteigerungen realisiert werden müsste. Das beschlossene Verfahren ist also sowohl für die Beitragszahler als auch für die Arbeitgeber die sozial gerechtere und wirtschaftlich sinnvollere Alternative. Sie fordern im vorliegenden Antrag, auf die Vorverlegung des Termins für die Fälligkeit der Sozialabgaben zu verzichten und stattdessen - ich zitiere - „die Defizite der Rentenversicherung durch strukturelle Reformen in der Rentenversicherung und eine wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik zu beseitigen“.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Amann, kommen Sie bitte zum Schluss.

Gregor Amann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003731, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. - Wir sollten das eine tun, ohne das andere zu lassen. Diese Koalition hat bereits strukturelle Reformen in der Rentenversicherung beschlossen und sie betreibt eine wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik, wie das in Genshagen beschlossene Investitionsprogramm in Höhe von 25 Milliarden Euro beweist. Im Gegensatz zu Ihnen haben wir aber auch den Mut, nicht mehr zeitgemäße Subventionen zu streichen, den Sozialkassen so dringend benötigte Liquidität zuzuführen und damit deren Finanzsituation zu stabilisieren. Das ist sozial gerecht und stärkt langfristig die Wirtschaftskraft unseres Landes. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Amann, ich darf Ihnen im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag gratulieren. ({0}) Deshalb habe ich bei der Redezeit beide Augen zugedrückt. ({1}) Jetzt hat der Kollege Markus Kurth vom Bündnis 90/ Die Grünen das Wort.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es handelt sich hier wieder einmal um einen typischen FDP-Antrag: ({0}) große Töne und viel Lamento. Wenn man dann nach Lösungsvorschlägen und Alternativen sucht, wird man auf ein jämmerliches Blatt Papier verwiesen, auf dem kein Wort zu den Alternativen zum Vorziehen des Termins der Fälligkeit von Sozialabgaben steht. ({1}) Man muss wissen, dass es sich hier um einen Gesetzentwurf handelt, den die damalige rot-grüne Bundesregierung eingebracht hat. ({2}) Die Alternative zum Ausgleich der konjunkturbedingten Mindereinnahmen der Sozialversicherungen, insbesondere in der gesetzlichen Rentenversicherung, wäre eine Erhöhung des Beitragssatzes um 0,5 Prozentpunkte gewesen. ({3}) Wir wissen, was das bedeutet hätte: nicht nur einen Anstieg der Arbeitskosten und einen gewissen Kaufkraftentzug, sondern überdies - das hat die Sachverständigenanhörung ergeben - fiskalische Effekte von mehr als 2 Milliarden Euro. Hören Sie gut zu, meine Damen und Herren von der großen Koalition! Jede Steigerung des Beitragssatzes um einen zehntel Prozentpunkt in der Sozialversicherung ergibt einen zusätzlichen fiskalischen Effekt, weil die Unternehmen die Sozialversicherungsabgaben als Betriebsausgaben absetzen können. Dadurch sinken die Steuereinnahmen. Im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung muss der Bundeszuschuss automatisch ansteigen, weil das entsprechend festgelegt ist. Professor Rürup hat uns dargelegt, dass jede Erhöhung des Beitragssatzes um einen zehntel Prozentpunkt neben den üblichen Folgen des Anstiegs der Sozialversicherungsbeiträge zu einem fiskalischen Effekt in Höhe von 400 Millionen Euro führt. Die Erhöhung des Beitragssatzes in der gesetzlichen Rentenversicherung um 0,4 Prozentpunkte, die am 1. Januar 2007 wirksam werden soll, kostet den Bundeshaushalt also 1,6 Milliarden Euro. Insofern haben Sie von der SPD - Sie von der Union ohnehin - den Pfad der Tugend, den wir damals in der rot-grünen Koalition eingeschlagen haben, leider verlassen. ({4}) Ohne für das Vorziehen des Fälligkeitstermins einen Schönheitspreis zu beanspruchen: Wir haben diesen Weg beschritten, um auch über das Jahr 2006 hinaus die Perspektive stabiler Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung zu geben. Das ist der entscheidende Unterschied. ({5}) Zudem wollen Sie zum 1. Januar 2007 die Mehrwertsteuer erhöhen, was einen weiteren Kaufkraftentzug bedeutet. Das wird durch die von Ihnen viel gepriesene Senkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrags nicht ausgeglichen. Überdies muss man wissen, dass Sie die gesetzliche Rentenversicherung zusätzlich in Schwierigkeiten bringen, da in Zukunft 2 Milliarden Euro an Rentenversicherungsbeiträgen fehlen werden, die bislang von den Arbeitslosengeld-II-Beziehern an die gesetzliche Rentenversicherung abgeführt werden. ({6}) Sie setzen die Sozialversicherung weiter unter Druck, indem Sie angekündigt haben, die Steuermittel im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung zurückzufahren. Die Versuche von Rot-Grün, die Sozialversicherung durch einen höheren Steuerfinanzierungsanteil konjunkturunabhängiger zu machen - das waren unsere Strukturveränderungen, Herr Kolb -, werden konterkariert und zurückgenommen, kaum dass sie ihre eigentliche Wirkung haben entfalten können. Das ist ein wirklich schwerer Fehler, den man im Zusammenhang mit diesem Antrag einmal nennen muss. ({7}) Ich möchte an dieser Stelle noch kurz zu der von Ihnen vorgeschlagenen Lösung kommen, den Strukturveränderungen. Sie erklären lapidar, man könne sich die Vorverlagerung des Fälligkeitstermins durch Strukturveränderungen ersparen. ({8}) Das finde ich ganz besonders unseriös. Sie wissen ganz genau, dass ehrliche Strukturveränderungen, und zwar solche, wie wir sie etwa mit dem Nachhaltigkeitsfaktor eingeführt haben, also Veränderungen in der Rentenformel, langfristig wirken. Sie sind vollkommen untauglich, um ein kurzfristiges Finanzierungsloch - in diesem Fall in Höhe von knapp 10 Milliarden Euro - zu stopfen. Das heißt, das kann gar nicht funktionieren. Selbst wenn wir heute beschließen würden, das gesetzliche Renteneintrittsalter ab dem 1. Januar 2007 auf 67 Jahre festzulegen, hätten wir in der Sozialversicherung einen konjunkturbedingten Einnahmeausfall. Das müssten Sie doch eigentlich wissen. Uns an dieser Stelle vorzuwerfen, wir hätten hier keine Strukturveränderungen vorgenommen, zeugt schon von einem erheblichen Maß an Blindheit. Wenn es in diesem Bereich eine Dynamik gab und ein politischer Erfolg zu verzeichnen war, dann in den vergangenen sieben Jahren. Wir wären auf diesem Weg auch weitergegangen. Ich nenne hier nur als Stichworte Ökosteuer, Riestertreppe und Nachhaltigkeitsfaktor. Damit haben wir verhindert, dass der Beitragssatz in der gesetzlichen Rentenversicherung heute bei 22,5 oder gar bei 23 Prozent liegt; denn das wäre die Konsequenz gewesen. ({9}) Deswegen, Herr Kolb, gibt es in der Opposition - zumal in diesem Fall - keine Koalition. ({10}) Ich hätte eigentlich erwartet, dass Ihre Erfahrung, jetzt wieder auf der Oppositionsbank zu sitzen, Sie etwas geläutert hätte. ({11}) Von Ihnen, liebe ehemaligen Kollegen aus der Koalition, hätte ich mir gewünscht, dass Sie sich an die Tugenden erinnert hätten, die unsere Arbeit in den vergangenen sieben Jahren relativ erfolgreich gemacht haben. Danke schön. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Weiß von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Um eine Bemerkung des Kollegen Kurth aufzugreifen: Mit dem Vorziehen des Termins der Fälligkeit von Sozialabgaben kann man wahrscheinlich keinen politischen Schönheitspreis gewinnen. Das ist wahr. ({0}) Wenn man aber jetzt in einem Antrag fordert, auf dieses Vorhaben zu verzichten, Herr Kolb, ({1}) dann muss man auch Alternativen benennen. Sie aber haben in Ihrem Antrag wie auch in Ihrer Rede keine einzige Alternative genannt. ({2}) Wer kurzfristig handeln will, hat drei Alternativen. Die erste Alternative besteht darin, die Renten zu kürzen. Sie haben nichts dazu gesagt, ob Sie die Renten kürzen wollen. ({3}) Die zweite Alternative ist, sofort - möglichst schon zum 1. Januar dieses Jahres - den Rentenversicherungsbeitrag anzuheben, ({4}) ohne dass an anderer Stelle ein Ausgleich geschaffen wird. Zu dieser Alternative haben Sie sich aber auch nicht erklärt. Die dritte Alternative wäre, den Bundeszuschuss kräftig zu erhöhen. ({5}) Auch das haben Sie nicht vorgeschlagen. Interessanterweise haben Sie noch vor einem halben Jahr ein bisschen mehr Mut gehabt, Herr Kolb. Im Juni war in der Presse zu lesen: Herr Kolb schlägt als Alternative vor, einen Teil der Sozialabgaben vorzeitig auszuzahlen. ({6}) Das wäre doch noch bürokratischer als die derzeitige Regelung. Des Weiteren haben Sie die Anhebung des Rentenversicherungsbeitrags zum 1. Januar 2006 vorgeschlagen. ({7}) - Entschuldigung, aber das würde die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wie auch die Unternehmen finanziell noch stärker belasten als die jetzige Regelung. ({8}) Bevor Sie Ihre Zwischenfrage stellen, Herr Kolb, möchte ich noch feststellen: Wer nach Ihren heutigen Ausführungen und Ihren Andeutungen im vergangenen Jahr glaubt, der deutsche Mittelstand habe in der FDP einen besonderen Fürsprecher, der irrt gewaltig. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich gehe davon aus, dass Sie diese Zwischenfrage zulassen, Herr Kollege Weiß. - Bitte schön, Herr Kolb.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Weiß, in wem der Mittelstand seinen Fürsprecher sieht, lassen wir ihn am besten selbst entscheiden. ({0}) Sind Sie bereit, einzuräumen, dass auch nach Aussagen der damaligen Bundesregierung eigentlich nur 5 Milliarden Euro für 2006 in der Rentenkasse gefehlt hätten und dass Sie damals im Bundesrat durchgewinkt haben, dass stattdessen 20 Milliarden Euro eingenommen werden? Meine zweite Frage ist: Sind Sie bereit, mir zu erklären, worin aus Ihrer Sicht der Unterschied zwischen einer Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge zum 1. Januar 2006 und einer Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge zum 1. Januar 2007 besteht? Das Volumen wäre doch in etwa gleich gewesen. Inwiefern ist das eine gut und das andere schlecht? ({1})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kolb, zum Ersten: Wenn es wirklich der politische Wille der FDP gewesen wäre, dass der Rentenversicherungsbeitrag zum 1. Januar 2006 um mindestens 0,5 Prozentpunkte erhöht wird, dann hätte ich mir gewünscht, dass das auf allen Wahlplakaten gestanden hätte ({0}) und ein zentrales Thema in den FDP-Wahlkampfreden gewesen wäre. ({1}) Zum Zweiten: Die Wirkung wäre gewesen, dass bereits in diesem Jahr - ohne dass es zu einer Entlastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie der Betriebe in unserem Land gekommen wäre - der erhöhte Rentenversicherungsbeitrag hätte aufgebracht werden müssen. ({2}) Vorhaben der großen Koalition ist es, den Rentenversicherungsbeitrag zum 1. Januar 2007 auf 19,9 Prozent anzuheben, gleichzeitig aber eine massive Entlastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Betriebe beim Arbeitslosenversicherungsbeitrag vorzunehmen. Das ist schon ein gewaltiger Unterschied. Herr Kolb, ich sage Ihnen klar und deutlich: Sie haben uns und der Öffentlichkeit in Ihrer Rede bewusst die Alternativen verschwiegen, die deutlich machen, was wir machen sollen, wenn die Sozialabgaben nicht vorzeitig einkassiert werden. Eine Antwort darauf bleiben Sie auch in dem vorliegenden Antrag schuldig. Das zeigt, dass Sie keine Alternativen haben. Wir können den Antrag der FDP eigentlich nicht behandeln, weil keine Alternativen aufgezeigt werden. ({3}) Zu Recht fordert die FDP Strukturreformen in der Rentenversicherung. Aber in ihrem Antrag ist keine einzige Strukturreform benannt. Die gute Nachricht ist, dass sich die große Koalition trotz aller unterschiedlicher Vorstellungen, die bei SPD und CDU/CSU bestanden und sicherlich weiter bestehen, ein Programm in Sachen Rente gegeben hat, mit dem die großen Strukturreformen wirklich angegangen werden. ({4}) Ich wiederhole: Erstens. Wir erhöhen den Rentenbeitrag 2007 genau dann, wenn wir die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Unternehmen bei der Beitragszahlung an die Arbeitslosenversicherung entlasten. Zweitens. Mit uns gibt es - das wird gesetzlich abgesichert - keine Rentenkürzungen. ({5}) Gleichzeitig werden wir in den Jahren, in denen eine bessere Lohnentwicklung Rentenerhöhungen ermöglichte, den Rentenanstieg durch einen entsprechenden Nachholfaktor dämpfen. ({6}) Drittens. Wir diskutieren in Deutschland schon seit Jahren über eine Erhöhung des Renteneintrittsalters. Wir haben uns nun entschieden - das ist schon jetzt eine große Leistung der großen Koalition -, das gesetzliche Renteneintrittsalter ab 2012 allmählich auf 67 Jahre anzuheben. ({7}) Dass das gerechtfertigt ist, erkennt man, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass sich die durchschnittliche Rentenbezugsdauer von 1960 bis heute um 70 Prozent verlängert hat. Ich finde, es ist gut, dass wir uns entschlossen haben, endlich zu handeln; denn wir können vor der demographischen Entwicklung und ihren Herausforderungen nicht länger den Kopf in den Sand stecken. Die große Koalition hat die Wahrheit akzeptiert und handelt entsprechend. Herr Kolb hingegen hat sich noch vor einem halben Jahr bei seinen großen rentenpolitischen Äußerungen, die ich vorhin zitiert habe, gegen eine Heraufsetzung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre ausgesprochen. Viertens. Weil die gesetzliche Rente - das ist vor allen Dingen für die jugendlichen Zuhörerinnen und Zuhörer wichtig - den künftigen Rentnerinnen und Rentnern nicht mehr das bringen wird, was sie für die heutigen Rentnerinnen und Rentner leistet, muss die private Altersvorsorge als ergänzende Säule attraktiver gemacht und konsequent ausgebaut werden. Hierzu hat die große Koalition zwei - wie ich finde: bemerkenswerte Festlegungen getroffen. Ich persönlich halte es für eines der wichtigsten Vorhaben, das private Wohneigentum in die Riester-Förderung einzubeziehen. Das werden wir tun. Mietfreies Wohnen im Alter verringert die Gefahr der Altersarmut entscheidend. Deshalb ist es richtig und sinnvoll, dass wir auch diese Anlageform gleichberechtigt in die geförderte Altersvorsorge integrieren. Laut einer heute veröffentlichten Umfrage - das ist in der Presse nachzulesen - denken 63 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land beim Thema private Altersvorsorge als Allererstes an privates Wohneigentum. Daraus sollten wir politisch die entsprechenden Konsequenzen ziehen. Um die Attraktivität der privaten Altersvorsorge darüber hinaus weiter zu verbessern und um Familien mit Kindern besonders zu fördern, werden Peter Weiß ({8}) wir die Kinderzulage in der Riester-Rente auf 300 Euro jährlich erhöhen. Die Gestaltung einer sicheren und verlässlichen Altersversorgung ist die große soziale Frage der kommenden Jahre. Die Menschen erwarten von uns ehrliche Antworten. Die Methode „Augen zu und durch“ wird uns nirgendwohin führen. Deshalb wird diese Koalition konsequent handeln und die notwendigen Strukturreformen für die Altersversorgung in Angriff nehmen. In diesem Punkt entsprechen wir voll und ganz dem Antrag der FDP. Leider bleiben Sie uns die Antworten schuldig, während wir sie klar und eindeutig geben. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich dem Kollegen Anton Schaaf von der SPDFraktion das Wort. ({0})

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kolb, Sie haben Herrn Kollegen Straubinger aufgefordert, in dieser Debatte zu gestehen, dass die Union ihre Unschuld verloren habe. ({0}) Das will ich jetzt nicht weiter ausbreiten. Aber gestehen Sie doch bitte Ihre Schuld für den Zustand der sozialen Sicherungssysteme vor dem Jahr 1998 ein. ({1}) Gestehen Sie doch Ihre Schuld dafür ein, dass fünf Mehrwertsteuererhöhungen mit Ihrer Beteiligung stattgefunden haben. ({2}) Wenn Sie über den Entzug von Kaufkraft reden, dann reden Sie bitte auch über Ihre Schuld für solche Maßnahmen. Es würde zur Ehrlichkeit, die Sie von der Gegenseite fordern, beitragen, wenn Sie die Schuld für das eingestehen würden, was Sie in den Jahrzehnten Ihrer Regierungsbeteiligung ignoriert haben. ({3}) Ich weise auf Folgendes hin: Aus meiner Sicht hat man nicht oder sogar falsch gehandelt, um die sozialen Sicherungssysteme sturmreif zu schießen und anschließend sagen zu können: Lasst uns die Individualisierung der Lebensrisiken vorantreiben! Lasst die Menschen selber vorsorgen; denn die Systeme funktionieren ja nicht. Das ist der Zusammenhang, den ich in Ihrer Argumentation, die Sie heute hier geliefert haben, erkennen kann. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Schaaf, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb?

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich, gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte, Herr Kolb.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Schaaf, wären Sie bereit, zuzugeben, dass die Schwankungsreserve der Rentenversicherung 1998 bei etwa 12 Milliarden Euro lag, dass Sie zwischenzeitlich eine Ökosteuer mit einem Volumen von 17 Milliarden Euro eingeführt haben, dass Sie die Beitragsbemessungsgrenze genauso wie die Rentenversicherungsbeiträge seit 1998 angehoben haben, dass Sie die Erlöse aus dem Verkauf der GAGFAH in Höhe von rund 2,1 Milliarden Euro für die Liquidität der Rentenkasse verwendet haben, ({0}) und wären Sie vor diesem Hintergrund bereit, zuzugeben, dass Sie doch offensichtlich ein bisschen schuldiger sind als die FDP, der Sie etwas in die Schuhe zu schieben versuchen, wofür sie wirklich nicht verantwortlich ist?

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich gestehe Ihnen sicherlich das eine oder andere zu. Vor allen Dingen gestehe ich Ihnen zu, dass es die rotgrüne Bundesregierung war, die versucht hat, gerade was die Rente angeht, Stabilität herzustellen und Strukturen zu verändern. ({0}) Sie waren in über 20 Jahren, während Sie in der Regierungsverantwortung waren, nicht dazu in der Lage und schreiben jetzt solche Anträge. ({1}) Wir haben die zusätzliche private Säule mit der Riester-Rente aufgebaut. Ich gestehe zu, dass man sie vereinfachen sollte, damit mehr Menschen daran teilnehmen können. 5 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zahlen mittlerweile in die Riester-Rente ein. Wir haben die Strukturreformen angepackt. Dass unsere Maßnahmen vor dem Hintergrund der Defizite nicht ausgereicht haben, ist richtig. Es muss aber auch konstatiert werden, dass Sie trotz Ihrer Kenntnisse der demographischen Entwicklung und der Belastungen, die die deutsche Einheit gebracht hat, keine adäquaten Maßnahmen getroffen haben. Diese Wahrheit muss bei der rentenpolitischen Debatte auch einmal ausgesprochen werden. ({2}) Wenn Sie in Ihren Antrag als einzige Forderung schreiben, dass wir Strukturveränderungen brauchen, dann müssen Sie auch sagen - da haben Kollege Kurth und andere völlig Recht -, was Sie damit meinen. Wenn wir Ihrem Antrag zustimmen würden, käme das in erster Linie einer Gruppe zugute, den Großunternehmen, und zwar durch die so entstehenden Zinsgewinne. ({3}) Der Mittelstand wäre nicht der Profiteur. Das muss man ausdrücklich sagen. Im Übrigen tun Sie so, als sei das eine enorme zusätzliche Belastung für die Unternehmen. ({4}) Ich sage noch einmal, worum es geht. Eine Fälligkeit, also eine Verpflichtung, die man sowieso hat, wird vorgezogen. Es wird nichts neu erfunden. Von einer enormen Belastung der Unternehmen zu reden, halte ich daher für völlig verfehlt. ({5}) Ich erinnere übrigens auch gerne an die Steuer- und Abgabenlast bis 1998. Sie war damals in der Republik auf dem höchsten Stand aller Zeiten. Allein der Rentenversicherungsbeitrag lag bei 20,3 Prozent. Hätten wir nicht gehandelt, wäre er bei 22 Prozent gelandet. Man muss das einmal so deutlich sagen. Damals trugen Sie die Verantwortung. Die eingeforderten Strukturveränderungen sind unter Rot-Grün auf den Weg gebracht worden. Auch das muss man in aller Deutlichkeit konstatieren dürfen. Übrigens bin ich der festen Überzeugung, dass es eher um eine grundsätzliche Auseinandersetzung geht, Herr Kolb. Auch das darf man einmal ehrlich ansprechen. Ich habe keine Probleme damit, grundsätzliche Unterschiede zu diskutieren. Ihnen geht es darum, dass die sozialen Sicherungssysteme zunehmend individualisiert werden. In dem Beitrag des Kollegen Brüderle heute Morgen ist noch einmal sehr deutlich geworden, worum es Ihnen geht. Sie verkleistern es immer wieder mit dem Begriff „Freiheit“. Ich gebe gern ein Beispiel: Sie sagen, es sei die Freiheit des Einzelnen, über seinen Arbeitsvertrag individuell zu verhandeln. Ich begreife Freiheit anders: Die Freiheit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ist es, ihre Interessen zu bündeln und kollektiv zu vertreten. Das erhöht die Freiheit. Ihr Weg schränkt Freiheit ein. Die sozialen Sicherungssysteme erhöhen aus meiner Sicht die Freiheit des Einzelnen. Was ist das für eine Freiheit, wenn ich permanent Angst vor Altersarmut haben muss, weil meine Biografie auch Arbeitslosigkeit beinhaltet? Ich frage noch einmal: Inwiefern wird die Freiheit des Einzelnen dadurch gestärkt? Inwiefern wird die Freiheit des Einzelnen gestärkt, wenn er nach einer schweren Krankheit Angst haben muss, ein Leben lang Schulden zu haben, weil er nur noch individuell und nicht kollektiv abgesichert ist? Unsere Freiheitsbegriffe sind unterschiedlich. Ich sage Ihnen: Zu unserem Freiheitsbegriff gehören ohne Zweifel vernünftige, solidarische und auch paritätische Sicherungssysteme für die Menschen. ({6}) Weil es nicht oft genug gesagt werden kann, will ich aufgreifen, was die Konsequenz wäre, wenn wir Ihrem Antrag zustimmten. Die Kollegen haben es vorhin sehr deutlich aufgezeigt: Es gibt nur zwei Alternativen. Sie haben diese Alternativen nicht benannt. Ich kritisiere, dass Sie in Bezug auf das, was Sie vertreten, gegenüber den Menschen nicht wirklich Klartext reden. Zum einen verlangen Sie, dass der Bundeszuschuss für die sozialen Sicherungssysteme steigt; allein der Bundeszuschuss für die Rentenversicherung soll um fast 10 Milliarden Euro steigen. Zum anderen fordern Sie, dass die Staatsverschuldung gesenkt wird, dass Staatsabbau betrieben wird und dass die Maastrichtkriterien eingehalten werden. Wenn Sie wirklich beides wollen, widersprechen Sie sich. Sie wollen - da sagen Sie den Menschen ehrlich, was Sie meinen -, dass staatliche Leistungen, zum Beispiel die gesetzliche Rente, gekürzt werden. Ihr Antrag hat allein die Interessen Ihrer Klientel im Auge. Zum richtigen Zeitpunkt stellen Sie einen Schauantrag, der die Botschaft vermittelt: Liebe Klientel, wir, die FDP, sind noch da. Auch wenn die Mehrheitsverhältnisse nicht ausgereicht haben, uns in Verantwortung zu bringen, sind wir immer noch eure Interessenvertreter. Nichts anderes bedeutet der von Ihnen hier vorgelegte Antrag. Selbstverständlich haben wir gute inhaltliche Gründe, ihn abzulehnen. Wir haben die Taktik, die hinter der Einbringung Ihres Antrags steht, durchschaut. Mein Kollege Amann hat sehr ausführlich begründet - dabei hat er seine Redezeit leicht überschritten -, warum wir diesen Antrag ablehnen. Deswegen beende ich meine Rede 50 Sekunden vor Ablauf meiner Redezeit. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/396 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Gentechnikgesetzes - Drucksache 16/430 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich bitte diejenigen, die dieser Debatte nicht folgen wollen, den Plenarsaal zu verlassen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Dr. Maximilian Lehmer von der CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Dr. Max Lehmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003798, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gesetzesvorhaben haben immer zwei Seiten: den Wunsch und die Wirklichkeit. Das mag eine Binsenweisheit sein; aber in diesem Falle ist sie recht unmittelbar anzuwenden. Der Wunsch war und ist, dass eine breite Debatte rund um die Gentechnikgesetzgebung geführt wird. Wir müssten jetzt einen intensiven Dialog mit allen Beteiligten führen. Dies müsste gründlich und verantwortungsvoll erfolgen. ({0}) Realität ist aber, dass wir unter zeitlichem Druck stehen, die EU-Vorgaben umzusetzen. Die Vorgängerregierung hat das vor sich hergeschoben; das müssen wir jetzt ausbaden. ({1}) - Jawohl; aber wir schaffen das. Zu den Fakten. Am 19. Dezember hat die Kommission Deutschland ultimativ aufgefordert, binnen zwei Monaten die europäische Freisetzungsrichtlinie umzusetzen. Die Umsetzung dieser Richtlinie, die das Gentechnikrecht auf EU-Ebene verbindlich regelt, ist schon seit mehr als zwei Jahren überfällig. Die Kommission drohte an, im Falle der Nichtumsetzung gegen Deutschland ein Zwangsgeld zu verhängen. Dieses Zwangsgeld kann bis zu 792 000 Euro am Tag betragen. Außerdem kann es mit einem Pauschalbetrag kombiniert werden, der noch einmal ein Vielfaches dieses Tagessatzes ausmachen könnte. Es war schnell klar, dass wir jetzt keine Zeit für eine große politische Auseinandersetzung haben, die aber - ich betone - dringend notwendig und unausweichlich ist, wenn das Gentechnikrecht politisch umgestaltet wird. ({2}) Wir entscheiden uns deshalb für ein zweistufiges Verfahren. In einem ersten Schritt konzentrieren wir uns auf die Umsetzung der Freisetzungsrichtlinie als solche und in einem zweiten, sich unmittelbar anschließenden Schritt werden die übrigen Sachfragen und politischen Streitpunkte angegangen. Nun zum ersten Schritt, zur Umsetzung der Freisetzungsrichtlinie. Der vorliegende Gesetzentwurf geht auf eine Formulierungshilfe der Bundesregierung zurück und ist als Fraktionsinitiative im Bundestag eingebracht worden. Die EU-Freisetzungsrichtlinie regelt die Freisetzung zu Erprobungs- und Forschungszwecken ebenso wie das Inverkehrbringen von gentechnisch veränderten Organismen. Ein großer Teil der Regelungen der Richtlinie wurde bereits mit dem Gesetz zur Neuordnung des Gentechnikrechts umgesetzt. Nunmehr erfolgt die Umsetzung des noch ausstehenden Teils, und zwar konsequent nach dem Grundsatz einer Eins-zu-eins-Umsetzung. ({3}) Was ist nun der Inhalt dieses Gesetzentwurfs? Der Gesetzentwurf betrifft überwiegend Form- und Verfahrensvorschriften. Geregelt wird der Inhalt der Antragsunterlagen, zum Beispiel in Bezug auf die Umweltverträglichkeitsprüfung, die Vorlage eines Beobachtungsplans, die Zusammenfassung der Akte, die Nachforderung von Unterlagen und die Bezugnahme auf Unterlagen Dritter. Geregelt werden ferner die Bearbeitungsfristen bis zur Entscheidung bzw. bis zur Erstellung eines Bewertungsberichtes, die Öffentlichkeitsbeteiligung - ein wichtiger Punkt - und die Unterrichtung der Öffentlichkeit über die Überwachungsmaßnahmen. So weit die Erläuterungen zum ersten Schritt der notwendigen Anpassung an die EU-Regelungen. ({4}) Lassen Sie mich nun noch einige Aussagen zur weiteren Gesetzgebung machen. Wegen der gebotenen Eile konnten in dem vorliegenden Entwurf die Anliegen des Bundesrats, die er schon in der letzten Legislaturperiode mit Nachdruck verfolgt hatte, noch nicht berücksichtigt werden. In einem zweiten, unmittelbar folgenden Schritt sollen diese Fragen aufgegriffen werden. Im Wesentlichen betrifft dies sehr wichtige Punkte, nämlich die Frage der Haftungsregelung und die Möglichkeit eines Ausgleichsfonds, die Definition der guten fachlichen Praxis, das Auskreuzen aus experimentellen Freisetzungen und die Definition des Inverkehrbringens sowie zusätzliche Verfahrenserleichterungen. Ziel ist, umgehend einen Gesetzentwurf zu diesen Fragen vorzulegen. Er sollte so rechtzeitig verabschiedet werden - das ist unsere Absicht -, dass die geänderten Regelungen ihre Wirkung zur Anbauperiode 2006/07 entfalten können. ({5}) Ich bin davon überzeugt, dass es zu unserer zweistufigen Vorgehensweise keine Alternative gibt. Die Abwendung des Zwangsgeldes ist eine dringende Aufgabe. Bitte helfen Sie dabei mit, dass das Gesetzgebungsverfahren möglichst zügig durchgeführt werden kann und unserem Land das Zwangsgeld erspart bleibt! ({6}) Nun zu den wichtigen Zielen beim weiteren Vorgehen. Es ist uns bewusst, dass die Anwendung der Gentechnik in der Landwirtschaft und der Ernährungswirtschaft auf Vorbehalte, ja teilweise auf Ablehnung stößt. Diese Bedenken unserer Bürger müssen und wollen wir sehr ernst nehmen. ({7}) Bei den Gesprächen mit den Bürgern ist immer wieder festzustellen, dass viele Vorbehalte auf fehlender oder unzureichender Information und Aufklärung beruhen. Leider gibt es viele in unserem Lande, die - das sage ich ausdrücklich - bewusst oder unbewusst Unsicherheit und Angst verbreiten. ({8}) Verantwortliche Politik verlangt aber wissenschaftlich fundierte und ideologiefreie Information, insbesondere im Hinblick auf moderne, innovative Zukunftstechnologien. ({9}) Bedauerlicherweise ist in der Vergangenheit fast ausschließlich von Risiken der Gentechnik gesprochen worden. Die enormen Vorzüge und Chancen dieser innovativen Technologie wurden dagegen leider auch von Vertretern der Vorgängerregierung systematisch negiert; so habe ich es empfunden. ({10}) Dabei liegen ausreichend wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse für die sichere Anwendung auch im Lebensmittelbereich vor. Ich weise in diesem Zusammenhang auf die aktuellen Berichte der bundeseigenen Einrichtungen wie BfR oder BVL und internationaler Einrichtungen wie WHO oder FAO hin. Auf diese Erkenntnisse wird bei der anstehenden Diskussion zum zweiten Gesetzesschritt sicher noch intensiv einzugehen sein. Alle künftigen Regelungen im Gentechnikgesetz müssen klare Aussagen bringen, und zwar erstens zum Schutz von Mensch und Umwelt - ich denke, dieser Punkt hat oberste Priorität -, ({11}) zweitens zur fairen Koexistenz aller Anbauverfahren auf dem Acker, drittens zur Wahlfreiheit für den Verbraucher und nicht zuletzt viertens zu verlässlichen Rahmenbedingungen für die innovative Forschung und den gesamten Investitionsbereich. Neuere Forschungsansätze wie die Arbeit an Pflanzen für die verbesserte Nährstoffzusammensetzung, die gesteigerte Krankheits- und Schädlingsresistenz und die Optimierung als nachwachsende Rohstoffe - ein, wie ich denke, ganz aktuelles Thema - sind sehr erfolgversprechend und zeigen überzeugende Ergebnisse. Von vielen Wissenschaftlern und Wirtschaftsexperten wird die Biotechnologie deshalb übereinstimmend als Schlüsseltechnologie für die nächsten Jahrzehnte bezeichnet. ({12}) Viele Pflanzenzüchter, Landwirte und Verbraucher weltweit nutzen bereits die Vorzüge der Pflanzenbiotechnologie. So werden derzeit bereits über 80 Millionen Hektar gentechnisch bearbeitete Pflanzen angebaut. Gerade in Entwicklungsländern - ich verweise auf den aktuellen FAO-Bericht, der das ganz deutlich ausweist hat der Einsatz der Gentechnik den Menschen wertvolle Hilfe geleistet. Sowohl Anbauer wie Verbraucher nutzen damit den biologischen und ökonomischen Vorteil dieser modernen Technologie. Innovative Anbaumethoden auf Basis der Gentechnik sind jedoch nicht nur von ökonomischem Nutzen, sondern zeigen auch sehr positive Umwelteffekte: die Einsparung von Treibstoffen, die Reduzierung von Bodenerosion, die Verringerung des Landverbrauchs ({13}) und die Verringerung des Pflanzenschutzmitteleinsatzes, um nur einige wichtige zu nennen. ({14}) Bereits diese kurze Darstellung zeigt, dass in der Nutzung der grünen Gentechnik für alle Beteiligten große Chancen stecken. Mit dem jetzt zu schaffenden gesetzlichen Regelwerk sind diese auch erfolgreich zu nutzen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({15})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Lehmer, das war Ihre erste Rede in diesem Hause. Dafür bedanken wir uns herzlich und wünschen Ihnen weiterhin Erfolg. ({0}) Ich gebe das Wort Dr. Christel Happach-Kasan von der FDP-Fraktion.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, heute zu Ihnen zu sprechen. Ich möchte dem Kollegen Lehmer zu seiner ersten Rede hier gratulieren, in der er sehr überzeugend und sachlich kompetent über die Vorzüge der grünen Gentechnik gesprochen hat. ({0}) Herr Kollege Lehmer, ich sehe Sie als einen Verbündeten dabei an, diese Bundesregierung und diese große Koalition anzutreiben, den Worten tatsächlich Taten folgen zu lassen. Ich nehme Sie als Kronzeugen; denn auch Sie wollen eine weitere Novellierung des Gentechnikgesetzes. Ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit - in diesem Fall mit der Regierung. ({1}) Liebe Kollegin Drobinski-Weiß, ich bin ein bisschen erschüttert darüber, dass die SPD-Fraktion das Thema Abwendung von Zwangszahlungen gar nicht auf ihrer Tagesordnung hat. Sie haben Ihrem Koalitionskollegen vorhin keinen Beifall gezollt, obwohl die SPD mitverantwortlich dafür ist, dass die Bundesregierung in diese schwierige Situation gekommen ist. Ich finde dieses Verhalten ausgesprochen schade und hoffe, dass es noch ein bisschen mehr Einsatz für die Abwendung von Zwangszahlungen gibt, damit Minister Steinbrück nicht unnötige Geldausgaben tätigen muss. ({2}) Ich will ausdrücklich sagen, dass der Einstand von Minister Seehofer gut gewesen ist. Das Bundessortenamt hat erstmals den Anbau und Vertrieb von drei gentechnisch veränderten Pflanzensorten erlaubt. Damit ist der Minister - es ist schade, dass er heute nicht anwesend ist - zu einer Politik der Rechtsstaatlichkeit zurückgekehrt. Das verdient zwar kein Lob, weil es selbstverständlich ist, aber es verdient Anerkennung, weil es einen Bruch mit dem Verhalten der Vorgängerregierung bedeutet. Deutschland ist keine Bananenrepublik. ({3}) - Vielen Dank für den Beifall von der SPD. Sie haben es erkannt. Deutschland läuft Gefahr, ab dem 19. Februar zur Zahlung von Strafgeldern verpflichtet zu werden. Das ist eine Altlast der rot-grünen Regierung ({4}) - nein, das ist die Altlast der rot-grünen Regierung -, die mit dem Bundesrat nicht ins Einvernehmen kommen konnte. ({5}) Aber auch die große Koalition hätte es schaffen können, einen Entwurf für dieses Minimalgesetz rechtzeitig vorzulegen. Ich finde es schade, dass sie es nicht hingekriegt hat. ({6}) Ich beklage sehr, dass Minister Seehofer mal so und mal so spricht. Der Minister hat die Verantwortung für die Umsetzung des Koalitionsvertrages. Dort heißt es, die grüne Gentechnik solle in Anwendung und Forschung gefördert werden. Das ist eine sehr eindeutige Aussage. Wir messen Sie daran, ob Sie das schaffen werden. Die Bedenken aus der SPD - wir haben darüber lesen können - zielen darauf ab, die Grünen in ihrer Rolle als Angstschürer zu beerben. ({7}) Auf einmal ist vergessen, dass die SPD-Minister Bulmahn, Clement und Stolpe sehr wohl die Beschäftigungspotenziale der grünen Gentechnik erkannt haben. Bei 4,6 Millionen Arbeitslosen haben wir keinen Bedarf für eine solche Politik von Bedenkenträgern. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion, ich empfehle Ihnen, einen Blick auf die Internetseite der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie zu werfen. Schwerpunktthema ist dort die Bio- und Gentechnologie. Dort heißt es: Die Bio- und Gentechnologie zählt zu den wichtigsten Innovationsfeldern des 21. Jahrhunderts. Sie setzt starke Impulse für die verschiedenen Anwendungsbereiche und wird wirtschaftlich in Zukunft eine große Rolle spielen. Ich empfehle Ihnen, sich einmal bei Ihrer Gewerkschaft zu informieren. ({9}) Wir brauchen geeignete Rahmenbedingungen. Deshalb muss das Gentechnikgesetz, wie es Kollege Lehmer gesagt hat, weiter novelliert werden, so wie dies in der Begründung des heute vorgelegten Gesetzentwurfs festgeschrieben ist. An die Adresse der CDU/CSU muss die Frage gerichtet werden: Kann sich die Öffentlichkeit darauf verlassen, dass das, was im Koalitionsvertrag und in der Gesetzesbegründung festgeschrieben ist, auch tatsächlich umgesetzt wird? ({10}) Dies muss glaubwürdig hier vertreten und anschließend umgesetzt werden. Denn die vollständige Novellierung des Gentechnikgesetzes ist unter Rot-Grün gescheitert. ({11}) Eine Zustimmung der FDP zu diesem Gesetz ist davon abhängig, dass die Novellierung des ersten Gesetzes bis zur Sommerpause verbindlich zugesagt wird. Was wir Rot-Grün nicht haben durchgehen lassen, lassen wir auch einer großen Koalition nicht durchgehen. Das muss ganz klar sein. Herr Minister, die „Welt“ hat Ihnen schon jetzt einen Verlust an politischer Glaubwürdigkeit attestiert. ({12}) - Ja, die Glaubwürdigkeit ist zu Recht nicht mehr gegeben; denn er spricht mal so und mal so. - Herr Minister, schaffen Sie Klarheit! Bemerkenswert ist aber auch der Kommentar in der „FAZ“ zur Sendung „Menschen bei Maischberger“, in der es um das Thema „Hysterie ums Essen?“ ging. Ich denke, einige von Ihnen haben sie gesehen. Wissenschaftler durften nicht dabei sein, heißt es. Es ging ja um Gentechnik. Ich frage Sie: Ist das wirklich repräsentativ für den Wissensstandort Deutschland? Ein großes Thema in dieser Legislaturperiode wird der Einsatz von Biomasse zur Energiegewinnung sein. Bei der energetischen Nutzung von Biomasse kommt es auf Masse an; sonst ist die Biomassenutzung nicht wettbewerbsfähig. Mais kann als C4-Pflanze besser als unsere heimischen C3-Pflanzen Kohlenstoff assimilieren. Herr Biologe, Sie können es sicher bestätigen. Deshalb setzen die Betreiber von Biogasanlagen auf den Mais. Deswegen ist die Strategie der Landwirte richtig, BtMais in Deutschland anzubauen. Dies geschieht auf mehr als 1 000 Hektar. ({13}) Deutschland ist ein Hochlohnland. Wir sind ein rohstoffarmes Land. Deswegen müssen wir in Deutschland auf Innovationen setzen. Das ist eine Aufgabe für die Bildungs- und Forschungspolitik. Es muss aber auch die Aufforderung an die gesamte Gesellschaft geben, Innovationen offen zu begegnen, statt sie emotional auszugrenzen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Wem die Menschen in diesem Land am Herzen liegen, wer sich für die Zukunftschancen unserer jungen Menschen einsetzt, sollte endlich die Scheuklappen ablegen, diffuse Ängste in den Müll werfen und für Innovationen werben: für die Anwendung der grünen, der roten und der weißen Gentechnik. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß von der SPD-Fraktion. ({0})

Elvira Drobinski-Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003705, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir bringen heute den Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Gentechnikgesetzes ein, um damit endlich die EU-Freisetzungsrichtlinie komplett umzusetzen. Die Zeit drängt. Wir müssen einer Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof wegen Nichtumsetzung zuvorkommen; denn niemand, so denke ich, wird wirklich wollen, dass wir in die Situation kommen, Strafzahlungen leisten zu müssen. ({0}) Ich bin froh darüber, dass wir uns mit dem Koalitionspartner darauf einigen konnten, dieses dritte Gentechnikänderungsgesetz auf die Regelungen zu beschränken, die zur Umsetzung der EU-Freisetzungsrichtlinie noch ausstehen. Es sei mir als SPD-Abgeordnete aber die Bemerkung gestattet: Das hätten wir schon früher haben können, ({1}) nämlich im Sommer letzten Jahres, als unser zweites Gentechnikänderungsgesetz hätte verabschiedet werden können, hätte das nicht die Mehrheit im Bundesrat verhindert. ({2}) Ich denke, es ist wichtig, hier noch einmal deutlich darauf hinzuweisen. ({3}) Der Einsatz der Gentechnik in der Landwirtschaft und in der Lebensmittelproduktion ist ein sensibles Thema. Denn 79 Prozent der Verbraucherinnen und Verbraucher lehnen gentechnisch veränderte Lebensmittel ab. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Würden Sie denn eine Zwischenfrage gestatten?

Elvira Drobinski-Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003705, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. - Deshalb ist es so wichtig, dass sie die Wahl haben und selbst entscheiden können, ob sie gentechnisch veränderte Produkte kaufen wollen oder nicht. Deshalb ist es so wichtig, dass der Schutz der konventionellen und ökologischen Landwirtschaft vor Einträgen aus dem GVO-Anbau gewährleistet bleibt, damit eine gentechnikfreie Landwirtschaft weiterhin möglich ist und den Verbraucherinnen und Verbrauchern gentechnikfreie Produkte angeboten werden können. ({0}) Hier gibt es Arbeitsplätze, Frau Kollegin, und nirgendwo anders. Wir wollen die Chancen der Gentechnik nutzen. Deshalb haben wir uns im Koalitionsvertrag darauf verständigt, die Forschung auf diesem Gebiet weiter zu fördern. Insbesondere im Bereich der so genannten weißen Gentechnik sehen wir großes Potenzial. Wir halten aber daran fest, dass der Schutz von Mensch und Umwelt Vorrang vor wirtschaftlichen Erwägungen haben muss und dass Koexistenz und Wahlfreiheit gewahrt bleiben müssen. ({1}) Für uns haben die Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher Priorität. ({2}) Es ist unsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Mittel zum Leben, die 80 Prozent der Menschen in Deutschland haben wollen, weiterhin produziert werden können. Das hat auch mit Demokratie und wirtschaftlichem Erfolg zu tun. Mit Besorgnis habe ich die Erwägung der Firma Hipp aufgenommen, bei zunehmendem Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen in Deutschland die Rohstoffe für ihre Kindernahrung künftig aus dem Ausland beziehen zu wollen. Wie jedes intelligente und erfolgreiche Unternehmen richtet Hipp sein Angebot nach den Bedürfnissen seiner Kundinnen und Kunden aus. Vermutlich steht diese Firma mit solchen Erwägungen nicht allein. ({3}) Ich bin dankbar, dass sie öffentlich geäußert worden sind. ({4}) Denn dadurch haben wir die Chance, darauf zu reagieren. Einigen von uns wird vielleicht erst dadurch klar, dass eine Absenkung des Schutzniveaus für die gentechnikfreie Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion sowohl von den Verbraucherinnen und Verbrauchern sowie den Landwirten als auch von einem Teil der Unternehmen als Bedrohung wahrgenommen wird. Ich möchte Herrn Hipp und möglicherweise noch viele andere Unternehmer aus der Lebensmittelwirtschaft heute von hier aus beruhigen: Wir sorgen dafür, dass bei uns weiterhin gentechnikfrei angebaut werden kann. Die Unternehmer werden weiterhin gentechnikfrei produzieren können und ihre Kundinnen und Kunden werden weiterhin ihre Ware aus gentechnikfreien Rohstoffen auch aus Deutschland kaufen können. ({5}) Wenn wir mit dem heute vorliegenden Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Gentechnikgesetzes die EU-Freisetzungsrichtlinie umgesetzt haben werden, werden wir dafür eine gute Grundlage geschaffen haben. Wir werden diesen Entwurf natürlich noch eingehend beraten, aber ich bin zuversichtlich, dass wir die darin geregelten Verfahrensfragen bald mit großer Mehrheit verabschieden können. Viel Spielraum haben wir dabei ohnehin nicht, da es sich um die Umsetzung von EURecht handelt. Vielen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann von der Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Gäste! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Koalitionsvertrag sagt zur Umsetzung der EU-Freisetzungsrichtlinie: Der Schutz von Mensch und Umwelt bleibt, entsprechend dem Vorsorgegrundsatz, oberstes Ziel des deutschen Gentechnikrechts. Die Wahlfreiheit der Landwirte und Verbraucher und die Koexistenz der unterschiedlichen Bewirtschaftungsformen müssen gewährleistet bleiben. Nur, die Politik dieser Regierung verletzt diese Grundsätze. Keines der diskutierten gesundheitlichen oder ökologischen Risiken der grünen Gentechnik ist widerlegt. Dagegen mehren sich die bestätigenden Hinweise. Ihre Anwendung jetzt dennoch zu forcieren, halten wir für schlichtweg unvereinbar mit dem Vorsorgegrundsatz. ({0}) Die Freisetzung gentechnisch veränderter Pflanzen in ein offenes System nimmt den Menschen die Wahlfreiheit, zumindest schleichend. Nichtanwender werden früher oder später Verunreinigungen hinnehmen müssen, weil es viele nicht oder kaum kontrollierbare direkte und indirekte Verschleppungswege gibt. Zum Beispiel werden Rapspollen über 26 Kilometer verbreitet, Rapssamen bleibt über viele Jahre hinweg im Boden keimfähig. Mit diesem Gesetz wird deshalb „gentechnikfrei“ in Zukunft nur noch die Einhaltung von Grenzwerten bedeuten. Das sollte den Menschen dann auch ehrlich gesagt werden. ({1}) Unbeantwortet ist die Frage nach den Kosten von Maßnahmen zur Koexistenz. In einer von der EU-Kommission in Auftrag gegebenen Studie werden die Kosten bei Raps, Mais und Kartoffeln auf 53 bis 345 Euro pro Hektar geschätzt. Wer bezahlt solche zusätzlichen Aufwendungen? Wer haftet für trotzdem eingetretene Schäden? Aber davon abgesehen: Ihr Versprechen für Koexistenz und Wahlfreiheit ist nach Lage der Dinge unredlich, weil es nicht haltbar ist. ({2}) Die Fraktion Die Linke steht an der Seite der vielen Landwirte, die die grüne Gentechnik strikt ablehnen und sich ihr uraltes Nachbaurecht nicht durch Gentech-Konzerne nehmen lassen wollen. Wir stehen an der Seite der übergroßen Mehrheit der Verbraucherinnen und Verbraucher, die solche Lebensmittel nicht wollen. Ihre Interessen haben für uns eine höhere Priorität als gigantische Gewinnerwartungen von Gentech-Konzernen. ({3}) Wir sind keine Maschinenstürmer, aber die grüne Gentechnik ist eine Risikotechnologie, deren Schäden nicht rückholbar sind. Freilandanwendungen sind daher unbeherrschbare Großversuche. Die gegebenen Versprechen hat sie nicht erfüllt: In den USA werden auf Genfeldern bereits 13 Prozent mehr Pestizide versprüht als auf konventionell bewirtschafteten Äckern, mit stark zunehmender Tendenz. Vor allem herbizidresistenter Genraps ist zu einem hartnäckigen Unkraut geworden, weil sich viele verschiedene Genrapssorten untereinander gekreuzt haben und nun gegen alle eingesetzten Totalherbizide resistent sind. Es gibt also keinen Grund zur Entwarnung. Es steht mehr denn je die Frage im Raum, ob grüne Gentechnik überhaupt gebraucht wird. ({4}) Das sehen wohl auch die über 160 Regionen, 3 500 Städte und Gemeinden, die sich zu gentechnikfreien Zonen erklärt haben, und Zehntausende Bauern so. Es stellt sich abschließend die Frage: In wessen Interesse handelt die Regierung? Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat die Kollegin Uli Höfken, Bündnis 90/ Die Grünen.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Tackmann, Ihre Rede hat mich echt gefreut. Ich fände es aber auch gut, wenn die Linke, die in Mecklenburg-Vorpommern an der Regierung beteiligt ist, da aber leider unter dem Tisch sitzt, wenn es um das Thema Gentechnik und Agrogentechnik geht, sich einmal etwas lauter äußern ({0}) und das unglaubliche Vorpreschen in diesem Punkt vielleicht doch etwas bremsen würde. ({1}) - Wir haben erlebt, wie Sie sich im Bundesrat verhalten haben. Ich habe gestern im Bayerischen Fernsehen eine Sendung zum Thema „Hipp kontra Seehofer“ gesehen. Da ging es um die Frage: Gefährdet Seehofer die 150 000 Arbeitsplätze in der Biobranche, die 1 200 Arbeitsplätze in seinem Wahlkreis bei Hipp oder die vielen Hunderttausend Arbeitsplätze in der Qualitätserzeugung? Ich denke, das sind Fragen, die sich auch die CSU stellen sollte. Sie können sich übrigens einmal bei der BioFach diesen innovativen Bereich der Lebensmittelerzeugung ansehen. Es ging in der Sendung auch um die Gentechnikoffensive, die in Bayern gestartet werden sollte und die dann aufgrund der Abwehr der Bevölkerung zurückgezogen wurde. Ich sage ganz klar: Es ist zu begrüßen, dass die große Koalition das „grüne“ Gentechnikgesetz - oder das rotgrüne; schön, wenn Sie dazu stehen - heute wieder einbringt. Gut ist, dass die wichtigen Regelungen im Gentechnikgesetz erhalten bleiben, nämlich diejenigen, die die Haftung, die Transparenz im Standortregister und den Schutz ökologisch sensibler Gebiete betreffen. Es ist wichtig, dass diese Regelungen erhalten bleiben. ({2}) Es war im Übrigen ganz überflüssig, dass Sie, auch Sie von der FDP, dieses Gesetz im Bundesrat ein ganzes Jahr lang verhindert haben. ({3}) Die Androhung mit dem Zwangsgeld hat jetzt Einsicht gebracht. Ich denke aber, ebenfalls dazu beigetragen hat, dass viele der Kampfparolen gerade der CDU - und auch mancher SPDler ({4}) bezüglich der Haftungsregelung im Realitätstest durchgefallen sind. Sie haben auch keine bessere Lösung gefunden. Eine Pressemitteilung des Bauernverbands von heute - auch das ist eine Ente - besagt, dass die Pflanzenzüchter jetzt einen Haftungsfonds wollen. Das stimmt definitiv nicht. Die sagen wörtlich: Einen Haftungsfonds lehnen wir ausdrücklich ab. Es sollte also so bleiben, wie es im geltenden Gentechnikgesetz geregelt ist. Wir warnen die große Koalition auch ganz klar davor - das hat sie ja offiziell angedroht -, nach dieser Novelle, in der es um die Umsetzung von EU-Recht geht, die Schutzregelungen für die gentechnikfreie Produktion zu verändern. Denn das wäre ein richtig schmutziger Deal, mit dem dann durch die Hintertür Anforderungen an die Sicherheit und an die Sorgfaltspflichten im Umgang mit der Agrogentechnik gelockert werden sollen, nach dem Motto: Wie definiere ich Schadensersatzansprüche so um, dass die Versicherer kein Risiko mehr haben? ({5}) Nein, das werden wir nicht durchgehen lassen. Uns geht es nämlich um die Wahlfreiheit von Bauern und Verbrauchern. Die sollten auch Sie im Blick haben, wenn die zweite Stufe, die Sie ankündigen, nicht der Weg in den Abgrund für Sie werden soll. ({6}) Eins-zu-eins-Umsetzung heißt aber auch - das haben wir jetzt aus dem Fall der Maissorte MON 863 der Firma Monsanto gelernt -, dass es einer Verbesserung bei der Öffentlichkeitsbeteiligung bedarf. Das fordern die Umweltverbände zu Recht ein. Diese Forderung werden wir unterstützen. Mittlerweile gibt es auch ein Gerichtsurteil dazu. Die versprochene Wahlfreiheit für Verbraucher, Bauern, Wirtschaft - nicht nur für Hipp, aber dem hat Herr Seehofer es öffentlich versprochen - kann es nur geben, wenn der Schutz der gentechnikfreien Produktion mit aller Seriosität aufrechterhalten wird. Das geht nur mit Beibehaltung des Gentechnikgesetzes von Rot-Grün. ({7}) Daran darf nicht weiter herumgedoktert werden. Wir wollen Freiheit statt Zwangsbeglückung. Danke schön. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Matthias Miersch von der SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Matthias Miersch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003809, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin dem Kollegen Lehmer ausdrücklich sehr dankbar, dass er hier einen sachlichen Dialog eingefordert hat. Liebe Kollegin Happach-Kasan, wenn Sie von Kronzeugen sprechen, dann sage ich Ihnen: Zu einer umfangreichen Beweisaufnahme gehört natürlich auch die Kenntnisnahme von Dokumenten. ({0}) Ein wesentliches Dokument, das dieser Debatte zugrunde liegt, ist der Koalitionsvertrag. Er ist eine hervorragende Grundlage, da er zwei feste Grundprinzipien berücksichtigt, nämlich erstens die Koexistenz und zweitens die Wahlfreiheit. Alle künftigen Regeln müssen sich an diesen zwei Grundwerten orientieren und messen lassen. ({1}) - Liebe Frau Kollegin Happach-Kasan, Sie haben sehr schnell gesagt, die Haftung müsse aufgelockert werden. ({2}) Ich rate Ihnen: Schauen Sie sich einfach einmal an, wie schwer es bereits heute für einen Landwirt, der konventionell arbeitet, beispielsweise im Fall der Lieferung von mangelhaftem Saatgut ist, seine eigentlich ganz klaren Ansprüche in der Praxis durchzusetzen. ({3}) Wenn wir Koexistenz ernst nehmen wollen, dann müssen wir die Praxis berücksichtigen. Die Existenz muss gewährleistet sein. Es kann nicht sein, dass Prozesse jahrelang ausgefochten werden müssen, bevor man Schäden ersetzt bekommt. ({4}) Neben der Koexistenz ist die Wahlfreiheit der zweite feste Grundwert. Wahlfreiheit setzt Transparenz voraus, und zwar an allen Stellen. ({5}) Dieser Grundwert, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ist jetzt betroffen. Die EU-Freisetzungsrichtlinie stellt das Recht der Öffentlichkeit auf Information in den Mittelpunkt. Frau Kollegin Höfken, manchmal kann man bestehende Entwürfe - selbst dann, wenn die Grünen daran mitgewirkt haben - noch verbessern. ({6}) Insofern möchte ich das Hohe Haus bitten, einen Punkt zu berücksichtigen: Wenn wir uns den Gesetzentwurf, wie er augenblicklich vorliegt, ansehen, dann stellen wir fest, dass in § 28 a zahlreiche Einschränkungen genannt werden. Ich glaube, wir tun gut daran - auch wenn die Debattenzeit und die Beratungszeit im Ausschuss kurz bemessen sind -, uns diesen Punkt noch einmal genau anzusehen und ihn mit dem Ziel der EUFreisetzungsrichtlinie zu vergleichen, in der eindeutig geregelt ist, dass das Recht der Öffentlichkeit auf Information ein hohes Gut ist. ({7}) Die grüne Gentechnik ist sicherlich ein Thema, zu dem man geteilter Meinung sein kann. Ich glaube, die Koalitionsfraktionen haben mit dem Koalitionsvertrag eine gute Grundlage beschlossen. Wir müssen jetzt über dieses Thema streiten. Alle, die meinen, in diesem Bereich müsse liberalisiert und aufgeweicht werden, müssen berücksichtigen, dass es letztlich um die Frage geht, ob derjenige, der auf eine jahrhundertealte Tradition setzt, in seiner Rechtsposition geschützt werden sollte, und derjenige, der - zu Recht - eine neue Technologie verwendet, für eventuelle Schäden haften muss. Ich finde, das ist eine Selbstverständlichkeit. Daran sollten wir uns und alle zukünftigen Regeln messen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege Miersch, das war hier Ihre erste Rede. Dazu gratulieren wir Ihnen ganz herzlich und wünschen Ihnen viel Erfolg bei Ihrer parlamentarischen Arbeit. ({0}) Ich schließe hiermit die Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 16/430 zu überweisen, federführend an den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz und zur Mitberatung an den Rechtsausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss für Gesundheit, den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Gibt es dazu weitere Vorschläge? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung der abfallrechtlichen Überwachung - Drucksache 16/400 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Damit ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Durch den vorgelegten Gesetzentwurf wird die abfallrechtliche Überwachung nachhaltig vereinfacht und gleichzeitig effizienter gemacht. Wir reagieren damit auf Forderungen, die sowohl die Umweltverwaltungen als auch die Unternehmen erhoben haben. Der Gesetzentwurf schafft eine Gewinner-Gewinner-Situation: einerseits für die Umweltbehörden, andererseits für die Wirtschaft und die Umwelt. Wir können künftig mit weniger Bürokratie und vor allen Dingen mit geringeren Personalkosten den gleichen, wenn nicht sogar mehr Umweltschutz erreichen. Der Gesetzentwurf birgt nach Auffassung der Bundesregierung drei Vorteile: Erstens. Er sorgt für eine stringente Anpassung an das Recht der Europäischen Gemeinschaft. Das ist insbesondere für die Unternehmen, aber auch für diejenigen, die EG-weit tätige Unternehmen überwachen, wichtig. Ich glaube, dass das von besonderer Bedeutung ist. ({0}) Zweitens. Wir stellen das Nachweisverfahren konsequent auf elektronische Kommunikationssysteme um. Bisher erhalten die zuständigen Überwachungsbehörden pro Jahr circa 125 000 Entsorgungsnachweise und 2,5 Millionen Begleitscheine auf dem Formularweg zur Prüfung; das kann man, wie ich finde, fast nicht glauben. Die bundesweite Nutzung moderner Kommunikationstechniken vereinfacht den Datenaustausch, senkt die Kosten und entlastet Behörden von Routineaufgaben. Ich glaube, das ist überfällig. ({1}) Drittens. Der Gesetzentwurf schöpft in einzelnen Überwachungsbereichen wichtige spezifische Vereinfachungsoptionen aus. Künftig besteht beispielsweise nicht mehr die Pflicht, betriebliche Abfallkonzepte und Bilanzen zu führen; denn sie haben in der Praxis nicht zur erwarteten Optimierung der betrieblichen Abfallwirtschaft geführt. Ich möchte noch auf eine wichtige Besonderheit des Projekts hinweisen: Das Bundesumweltministerium hat dieses Vereinfachungskonzept im Auftrag der Umweltministerkonferenz, gemeinsam mit den Ländern und im Dialog mit der Wirtschaft vorbereitet. Diese breite Basis sichert eine sehr hohe Akzeptanz. Schon jetzt, während das Gesetzgebungsverfahren hier im Parlament eigentlich erst beginnt, bereiten sich die Behörden und die Wirtschaft auf das neue Verfahren und die EDV-Systeme vor. Alle Betroffenen wollen, dass wir das Rechtsetzungsverfahren zügig durchführen. Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme darum gebeten, weitere Vereinfachungsoptionen im Abfallrecht erst nach Abschluss dieses Gesetzgebungsverfahrens aufzugreifen. Er hat die Beratung der parallel vorgelegBundesminister Sigmar Gabriel ten Verordnung zur Vereinfachung der abfallrechtlichen Überwachung zurückgestellt, da erst dieses Gesetz verabschiedet werden muss. Der Bundesrat wird die Beratung der Verordnung aber zügig aufnehmen, sobald hier im Haus das parlamentarische Ergebnis vorliegt. Meine Damen und Herren, deshalb bitte ich Sie darum, den vorgelegten Gesetzentwurf zügig zu beraten und zu verabschieden. Er ist sicherlich ein gelungenes Beispiel dafür, dass es sehr wohl möglich ist, zum Wohle von Umwelt und Wirtschaft und im Interesse einer effizienten öffentlichen Verwaltung zusammenzuarbeiten. Weil auch das zu diesem Thema gehört, will ich diese Gelegenheit nutzen, um auf einige Presseberichte vom letzten Wochenende hinzuweisen, in denen behauptet wurde, dass es in Deutschland einen akuten Müllnotstand gebe. Davon kann keine Rede sein. Vielmehr ist festzustellen: Die Anforderungen der seit Juni 2005 geltenden Ablagerungsverordnung zeigen ihre gewollte Wirkung. Nicht verwertbare Abfälle werden vor ihrer Ablagerung entweder in Müllverbrennungsanlagen oder in mechanisch-biologischen Anlagen behandelt - in einem der beiden Anlagentypen müssen sie behandelt werden - und nicht mehr einfach zu billigen Preisen in Deponien verbracht. Insbesondere die kommunalen Entsorger haben rechtzeitig die erforderlichen Maßnahmen getroffen. Für Hausmüll und hausmüllähnliche Gewerbeabfälle wurden ausreichende Behandlungskapazitäten geschaffen. Es trifft allerdings zu, dass es bei Gewerbeabfällen in bestimmten Regionen in Deutschland Engpässe gibt. Dies liegt daran, dass sich einige gewerbliche Abfallerzeuger trotz der langen Übergangsphase von immerhin zwölf Jahren nicht rechtzeitig auf die neue Situation eingestellt haben und die kommunalen Anlagen mit ihren eigenen Abfällen weitgehend ausgelastet sind. Ich jedenfalls erinnere mich noch ganz gut an die Diskussion, die vor zwölf Jahren geführt wurde. Die Debatte über die Verbrennung bzw. die mechanisch-biologische Vorbehandlung des Mülls war ja bundesweit bewegend. Diese Frage ist entschieden worden. Ich glaube, alle Beteiligten hatten ausreichend Zeit, um sich auf die neue Situation vorzubereiten. Allein in den kommunalen Abfallentsorgungsanlagen wurden Investitionen in Höhe von 7,5 Milliarden Euro getätigt. Die Kommunen haben enorme Vorleistungen erbracht. Wenn man nun die Klage hört, beim Gewerbemüll sei ein Entsorgungsnotstand ausgebrochen, dann liegt das schlicht und ergreifend daran, dass diejenigen, die sich nicht vernünftig vorbereitet haben, jetzt „Haltet den Dieb!“ rufen. ({2}) Gefordert sind in diesem Bereich verstärkte Anstrengungen zur Verwertung. Bei der Entsorgung von gewerblichen Abfällen gibt es hier noch große Potenziale. Geboten ist dabei zum Beispiel die verstärkte Trennung der Abfälle. Der in Zeiten enger Rohstoffmärkte auch wirtschaftlich gebotene Vorrang der Verwertung ist auch bei Gewerbeabfällen zu realisieren. Die deutsche Entsorgungswirtschaft kann den gewerblichen Abfallerzeugern dabei ein wirklich leistungsfähiger Partner sein. Darüber hinaus müssen in Bau und Planung befindliche Verbrennungsanlagen sowie mechanisch-biologische Behandlungsanlagen schnellstmöglich fertig gestellt und bestehende Anlagen gegebenenfalls erweitert werden. Für die heizwertreichen Abfallbestandteile sollten die vorhandenen Müllverbrennungskapazitäten in Kraft- und Zementwerken genutzt werden. Ich denke, dass es sinnvoll war, angesichts dieser Debatte über ein, so hoffe ich jedenfalls, weitgehend unstrittiges Thema Klarheit geschaffen zu haben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat die Kollegin Birgit Homburger von der FDP-Fraktion.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben heute die erste Lesung des Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung der abfallrechtlichen Überwachung, wie es so schön heißt. Dieser Gesetzentwurf zeigt vor allen Dingen eines sehr deutlich: wie stark das europäische Recht Einfluss nimmt auf das deutsche Recht. Die wesentlichen Vorgaben stammen heute aus Brüssel. Deshalb ist es so wahnsinnig wichtig, dass wir bei den Verhandlungen darauf achten, rechtzeitig Einfluss zu nehmen auf die Dinge, die auf europäischer Ebene beschlossen werden. ({0}) Das ist vor allem vor dem Hintergrund sehr wichtig, dass wir sowohl ökologisch anspruchsvolle als auch ökonomisch sinnvolle Regelungen brauchen. Was dabei herauskommt, wenn man sich nicht rechtzeitig darum kümmert, zeigt beispielsweise die Vierte Verordnung zur Änderung der Verpackungsverordnung, in der wir die Europäische Verpackungsrichtlinie umgesetzt haben. Da haben wir uns allen Ernstes in mehreren Stufen - Bundestag und Bundesrat - mit der Frage beschäftigt, wann Blumentöpfe Verpackung sind. Am Schluss der Diskussion, nach mehreren Monaten, hat die große Koalition vor kurzem die wegweisende Formulierung gefunden, dass Blumentöpfe, die dazu bestimmt sind, dass die Pflanze während ihrer Lebenszeit darin verbleibt, nicht als Verpackung gelten. Das sind Dinge, bei denen sich der Normalbürger fragt, wie das noch Sinn machen kann! Das Recht wird nämlich immer komplizierter, man kann es immer weniger durchschauen. Deswegen plädiere ich dafür, beispielsweise die Diskussion über Abfallvermeidung und -recycling, in deren Zuge unter anderem die EG-Abfallrahmenrichtlinie novelliert werden wird, dazu zu nutzen, auch eine Überprüfung der Europäischen Verpackungsrichtlinie herbeizuführen. Es gibt eine Klausel in der Verpackungsrichtlinie, die darauf abzielt, genau solchen Unsinn, wie ich gerade zitiert habe, zu beseitigen. Ich fordere Sie auf, Herr Bundesumweltminister: Nutzen Sie die Gelegenheit, hier auf der europäischen Ebene Einfluss zu nehmen! ({1}) Der heutige Gesetzentwurf wird in der Tat zu einer gewissen Vereinfachung führen; deswegen stimmen wir der Grundrichtung auch zu. Es geht um eine Anpassung an europäisches Abfallrecht, sowohl von der Struktur her als auch von der Terminologie. Das ist natürlich auch für den Vollzug von Bedeutung, insbesondere dann, wenn Abfalltransporte grenzüberschreitend sind, zum Beispiel in andere Staaten der Europäischen Union gehen. Durch den Gesetzentwurf sollen sowohl die Unternehmen der Wirtschaft als auch die Vollzugsbehörden von bürokratischen und von arbeitsaufwendigen Pflichten entlastet werden. Im Sinne der besseren Effizienz der abfallrechtlichen Überwachung sowie im Hinblick auf Bürokratieabbau und Deregulierung begrüßen wir die Ziele des Gesetzentwurfs. ({2}) Durch das elektronische Nachweisverfahren - Sie haben es angesprochen, Herr Minister - soll die abfallrechtliche Überwachung erheblich erleichtert werden. Für die besonders überwachungsbedürftigen Abfälle, die zukünftig „gefährliche Abfälle“ heißen werden, werden bislang bundesweit jährlich etwa 60 000 Entsorgungsnachweise, 20 000 Sammelentsorgungsnachweise und 1,5 bis 2 Millionen Abfallbegleitscheine ausgestellt und kontrolliert. Es ist ein Fortschritt, wenn diese Papierberge überflüssig werden. Wir müssen im Rahmen dieses Gesetzgebungsverfahrens aber tunlichst darauf achten, dass nicht, wie es bei so mancher sozialversicherungs- und steuerrechtlichen Regelung der Fall gewesen ist, die kleinen Betriebe durch eine Umstellung auf komplizierte EDV-Systeme erhebliche Schwierigkeiten bekommen. Auch das muss im Gesetzgebungsverfahren berücksichtigt werden. ({3}) Es wird eine Änderung hinsichtlich der Erstellung so genannter Abfallwirtschaftskonzepte und Abfallwirtschaftsbilanzen geben. Diese werden zukünftig als betriebsinterne Planungsinstrumente für Erzeuger großer Mengen gefährlicher Abfälle zur Verfügung stehen. Die Vorgaben aus der Abfallwirtschaftskonzept- und -bilanzverordnung entfallen, weil sie zu starr und zu wenig flexibel und in der Praxis kaum umsetzbar waren. Deshalb ist es sachgerecht, die Pflicht zur Aufstellung von Konzepten und Bilanzen aufzuheben und die komplette Verordnung zu streichen. Durch die Aufhebung der deutschen Sonderkategorie der überwachungsbedürftigen Abfälle fällt eine weitere Verordnung weg. Auch das begrüßen wir. Dadurch wird es künftig weniger Abgrenzungsprobleme geben. Zum Schluss will ich Folgendes sagen, Herr Minister: Ich verstehe nicht, dass mit dem vorgelegten Gesetz schon wieder die Gewerbeabfallverordnung geändert werden soll. Wir wissen doch ganz genau, dass diese Anfang 2003 in Kraft getretene Verordnung zu einer ökologischen und wirtschaftlichen Verschlechterung geführt hat. Wir könnten mit diesem Gesetz auch diese Verordnung abschaffen. Das wäre ein weiterer Beitrag zum Bürokratieabbau. Dazu fordern wir Sie auf. Wir werden im Ausschuss über die Details dieses Gesetzentwurfs diskutieren. Ich denke, er geht in die richtige Richtung. Vonseiten der FDP-Bundestagsfraktion sind wir aber der Auffassung, dass noch einiges mehr an überflüssiger Bürokratie wegfallen könnte. Vielen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege Michael Brand von der CDU/CSUFraktion, Sie haben das Wort. ({0})

Michael Brand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Neuling im Bundestag, der den mittelständisch geprägten Wahlkreis Fulda in Berlin gut vertreten will, bin ich überrascht von der Masse an Vorschriften, die den Mittelstand als „Jobmaschine Nummer eins“ einengen. ({0}) - Herr Trittin, auf Sie werde ich im Laufe meiner Rede noch zu sprechen kommen. - Das betrifft die von uns politisch zu verantwortenden Vorschriften allgemein und die Regelungsdichte im Umweltbereich im Besonderen. Auch die vom vorliegenden Entwurf erfassten circa 125 000 Entsorgungsnachweise, 2,5 Millionen Begleitscheine sowie die Millionen Übernahmescheine, die pro Jahr anfallen, bedeuten Bürokratie, die den Betrieben oft die Luft zum Atmen knapp werden lässt und ihnen die Sicherung von Beschäftigung erschwert. Allein im Jahre 2004 - Herr Trittin, hören Sie gut zu gab es im Arbeits- und Umweltrecht unglaublich viele Änderungen. Die Betriebe mussten eine Flut von neuen Vorschriften beachten: über 1 100 Änderungen auf Ebene der Bundesländer, über 1 000 Änderungen auf Bundesebene, dazu 250 Änderungen seitens der EU und darüber hinaus noch über 200 Änderungen der Berufsgenossenschaften. Manchmal habe ich den Eindruck, dass Umweltrecht als Ordnungsrecht zu stark die Recyclingwirtschaft konkret behindert. Dies werden wir natürlich auch weiterhin aufmerksam beobachten. Es besteht kein Zweifel: Umweltrecht ist zum Schutz von Natur und Umwelt wichtig und hilft uns Menschen bei der Erhaltung des natürlichen Gleichgewichts. Natürlich sind konkrete Regelungen zum Schutz von Beschäftigten wie der Bevölkerung in allen Bereichen insgesamt erforderlich, wenn mit Stoffen umgegangen wird, die eine besondere Sorgfalt erfordern. Wir von der Union sind klar gegen Ökodumping und treten grundsätzlich für einen schonenden Umgang mit den Ressourcen ein. Wir haben diese Erde in der Tat nur als Geschenk erhalten. Nach meinem Verständnis bedeutet der Satz „Macht euch die Erde untertan“ eine besondere Verantwortung für die Schöpfung. ({1}) Wir dürfen die Erde nutzen, aber wir müssen auch sorgsam mit der Schöpfung umgehen. Ich teile als relativ frisch gebackener Vater sehr die These: „Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geliehen.“ ({2}) Dass wir das Kind dabei nicht mit dem Bade ausschütten wollen, unterscheidet uns von der Union sicherlich von anderen: Wir wollen eben keine Ökoideologie, sondern die Umsetzung einer Umweltpolitik, die sowohl der Natur wie den Menschen dient. ({3}) Das Wort „Kreislaufwirtschaft“ beinhaltet nämlich aus gutem Grunde auch das Wort „Kreislauf“. Wenn wir diese funktionierende Kreislauf- und Stoffstromwirtschaft durch ein Übermaß an Vorschriften verlangsamen, stoppen oder durch falsche Initiativen gar dauerhaft unterbrechen, dann wird es statt der Modernisierung in Richtung Stoffstromwirtschaft einen Rückschritt bei der ökologischen Qualität geben. Meine Fraktion, die CDU/CSU, und unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel haben daher zu Recht auf eine Stabsstelle zur Entbürokratisierung im Bundeskanzleramt gedrängt und dies auch umgesetzt. Wir wollen und werden die Entbürokratisierung konkret auch in diesem Bereich so weit wie möglich umsetzen. Dabei werden wir vor allem die Beschäftigung und die Wettbewerbsfähigkeit der überwiegend mittelständischen Unternehmen im Blick haben. Vor allem hier werden die Arbeitsplätze geschaffen und gesichert, die wir in Deutschland so dringend brauchen. ({4}) Wir gehen dabei davon aus, dass auch dieser Gesetzentwurf zur Vereinfachung der abfallrechtlichen Nachweispflichten, der ja aus der Ära Trittin stammt, durch den „Bürokratie-TÜV“ der neuen Bundesregierung noch einmal kritisch geprüft werden wird. Wir als CDU/CSU sind dabei davon überzeugt, dass sowohl der Nachfolger des ausgeschiedenen Umweltministers als auch dessen Vorgängerin und heutige Bundeskanzlerin umweltgerechten und mittelstandsfreundlichen Verbesserungen offen gegenüberstehen. Die Harmonisierung mit dem EU-Recht ist bei der Vereinfachung ein ganz wesentlicher Fortschritt für die Unternehmen und die Vollzugsbehörden. Das ist aber nicht alles. Vor allem in der elektronischen Umsetzung der Nachweispflichten wird sich entscheiden, ob der Mittelstand seine Position als regionaler Dienstleister und als Jobmaschine auch in Zukunft erhalten kann. Dabei werden wir auf den Grundsatz achten: Solide Arbeit muss sich lohnen. Es kann ganz klar nicht so sein, dass über zu komplexe Anforderungen bei den so genannten technischen Schnittstellen - Frau Homburger hat das auch erwähnt - ordentlich arbeitenden Unternehmen unnötige Bürokratie aufgezwungen wird. Wir als CDU/ CSU werden jedenfalls nachhaltig auf ein ökologisch verantwortbares Gleichgewicht zwischen Umweltbürokratie und Umweltarbeitsplätzen achten. Herr Bundesminister Gabriel, nach unseren ersten Begegnungen im Umweltausschuss und auch darüber hinaus will ich allerdings auch gerne etwas unterstellen: Dieser Niedersachse, der dort auf der Regierungsbank sitzt, hat eine deutlich bessere Vorstellung von dem, was für Wirtschaft, Arbeit und Umwelt verträglich oder schädlich ist, als andere Niedersachsen, und damit bin ich wieder bei Ihnen, Herr Trittin. ({5}) Ich will hier aber auch noch einen anderen Niedersachsen erwähnen, nämlich den derzeitigen Ministerpräsidenten in Niedersachsen, Christian Wulff; denn in dieser Frage kann man sich in allen Fraktionen sicherlich ein Beispiel an ihm nehmen. ({6}) - Ich finde, Herr Kelber war ein bisschen kleinlich. Ein wenig Applaus dürfte es für den amtierenden Ministerpräsidenten geben. ({7}) Herr Minister, darauf, dass wir Sie in dem Bestreben um Umwelt und Arbeit aktiv begleiten werden, dürfen Sie sich gerne verlassen. Die CDU/CSU-Fraktion wird dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Vereinfachung der abfallrechtlichen Überwachung also zustimmen. Dies tun wir auch deshalb, um bei der Entbürokratisierung und der Verbesserung der Rahmenbedingungen für mehr Beschäftigung zügig voranzukommen. Die CDU/CSU hat dabei nicht übersehen, dass es bei allem Konsens in der Grundrichtung auch Dissens zwischen dem Bund und den für den Vollzug verantwortlichen Ländern gibt. Dies betrifft offenkundig vor allem die Frage, wie die Nichterfüllung von Nachweispflichten geahndet werden soll. Wir glauben hier allerdings, dass die Bundesregierung einen guten Ansatz gewählt hat, um mit den Ländern eine Einigung zu erreichen. Das wesentliche Stichwort ist auch hier die bereits erwähnte elektronisch gestützte Nachweisführung bei der Abfallüberwachung. Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat können im Verlauf des weiteren Verfahrens noch offene Fragen klären, um den Zielen der Effizienzverbesserung und auch der Erleichterung bei der Überwachung von Abfällen einen Schritt näher zu kommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, da dies heute meine erste Rede im Deutschen Bundestag ist, erlauben Sie mir zum Abschluss eine kurze persönliche Bemerkung: Als jemand, der in Osthessen nahe der innerdeutschen Grenze mit ihrem Stacheldraht und dem Schießbefehl groß geworden ist, erinnere ich mich auch heute sehr genau an Ausflüge in die Rhön, die plötzlich im Niemandsland stoppen mussten. „Point Alpha“ war bekanntlich der heißeste Punkt im Kalten Krieg. Nach dieser erlebten Teilung meiner Heimat bin ich auch heute sehr froh und sehr dankbar, dass durch den Mut der Menschen und durch eine kluge politische Führung unter Kanzler Kohl und auch der letzten DDR-Regierung de Mazière die Einheit Deutschlands in Freiheit möglich wurde. Der Satz vorne auf dem Reichstagsgebäude „Dem deutschen Volke“ bedeutet für mich: „Dem deutschen Volke dienen.“ Es heißt Gott sei Dank auch wieder: „Dem gesamten deutschen Volke dienen.“ Das zu sagen, war mir persönlich wichtig. Das ist mir auch für die Menschen wichtig, die unter der Teilung gelitten haben und die sich an Einigkeit und Recht und Freiheit in Deutschland freuen können. Vielen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Brand, Sie haben schon darauf hingewiesen: Dies war Ihre erste Rede. Dazu gratulieren wir Ihnen als ganzes Haus sehr herzlich. ({0}) Ich erteile jetzt das Wort der Kollegin Eva BullingSchröter von der Fraktion Die Linke. ({1})

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung will die Abfallüberwachung ändern. Moderner, einfacher und vollzugsfreundlicher soll sie werden. Das ist natürlich auch von unserer Seite zu unterstützen. Diese Begründung gilt aber nur für einen Teil der Novelle, beispielsweise für die Anpassung des deutschen Überwachungsrechts an die Begrifflichkeiten des EU-Rechts. Begrüßenswert ist auch die Möglichkeit, die Nachweisführung auf EDV-Systeme umzustellen. Die Überwachung wird sicherlich unbürokratischer und effizienter. Probleme haben wir dagegen mit dem Abschnitt des Gesetzentwurfs, der vorsieht, die Pflichten der Unternehmen zur Erstellung von Abfallwirtschaftskonzepten und Abfallbilanzen abzuschaffen. Begründet wird dies damit, dass sich Erwartungen nicht erfüllt hätten, die an diese Instrumente geknüpft worden seien. Mich würde interessieren, wer hier welche Erwartungen hatte und wer meint, Abfallwirtschaftskonzepte hätten sich nicht bewährt. ({0}) Gibt es dazu überhaupt Untersuchungen? Ich denke, hier wird lediglich einer alten Forderung der Wirtschaft entsprochen, sich leidiger Überprüfungen zu entledigen. Im Rahmen der Debatte um das Umweltaudit hatten ja seinerzeit Unternehmen und FDP mehrmals gefordert, die Firmen sollten Abfallwirtschaftskonzepte und Abfallbilanzen selbst überwachen. Das wurde im Jahr 2000 aus gutem Grund abgelehnt. Frau Homburger hat jetzt diesen Entwurf gelobt. Nun soll beides gleich ganz abgeschafft werden, und zwar ohne Alternative und mit zweifelhafter Begründung. Firmen, die wenig Lust auf Abfallwirtschaftskonzepte hätten, erstellten in der Regel sowieso keine vernünftigen Pläne, ist im Entwurf zu lesen. Hört, hört! Doch wenn ich mich richtig erinnere, sollen Abfallkonzepte und -bilanzen - so ist das damals diskutiert worden - von den Behörden überprüft werden. Wenn dies nicht anständig geschieht, dann liegt das daran, dass in den Vollzugsverwaltungen immer mehr Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen eingespart werden. ({1}) Durch Abfallbilanzen und Abfallwirtschaftskonzepte wurden nicht wenige Unternehmen dazu veranlasst, das erste Mal gründlicher über ihre Abfallströme nachzudenken; ich kenne das aus eigener Erfahrung. Gleichzeitig sind sie ein Instrument, illegalen Entsorgungen vorzubeugen oder diese aufzudecken. Deswegen meinen wir, sie sollten erhalten bleiben. Ich weiß von Abfallbilanzen, Frau Homburger, an denen die großen Firmen richtig Geld verdienen. ({2}) In dem sensiblen Abfallbereich noch stärker auf Markt und Selbstkontrolle zu setzen, scheint uns dagegen naiv oder fahrlässig zu sein; denn die Realität spricht eine deutliche Sprache: Abfallströme werden sich stets den billigsten Weg suchen, unzählige Müllskandale belegen dies. Nehmen Sie das endlich einmal zur Kenntnis. Ich möchte nur an die illegale Scheinverwertung von Gewerbeabfällen erinnern. Dabei wurden in der Vergangenheit, um Kosten zu sparen, den öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgern der andienungspflichtige Gewerbemüll zur Entsorgung entzogen, grob sortiert und anschließend schlicht auf Billigdeponien abgelagert. Wer denkt, dieses dunkle Kapitel ist seit dem 1. Juni 2005 abgeschlossen, der irrt sich. Stattdessen geht das Ganze ins Ausland. In einem tschechischen Dorf in Nordböhmen sind beispielsweise kurz vor Weihnachten rund 4 000 Tonnen deutschen Mülls auf dem Gelände eines in Konkurs gegangenen landwirtschaftlichen Betriebes abgekippt worden. Auftraggeber: ein Recyclingunternehmen aus Deutschland. Ich frage Sie einfach: Sehen Sie eine solche Recyclingwirtschaft als in ihren Möglichkeiten beschränkt? Wir sehen das nicht. ({3}) Ich denke, hier muss etwas Wesentliches passieren. Die Abfälle waren als Kunststoffreste deklariert. Tatsächlich bestand das Abfallgemisch aber aus Plastikflaschen und Textilien. Das ist kein Einzelfall. Bitte befassen Sie sich mit diesem Thema! Wir lehnen den vorliegenden Gesetzentwurf ab. Abschließend möchte ich mich kurz zu Herrn Brand äußern. Wenn Sie darauf hinweisen, dass Sie dem deutschen Volk dienen, dann halte ich Ihnen entgegen, dass wir für die Belange der Bevölkerung in diesem Land wie auch - gerade im Bereich der Umwelt - in den anderen europäischen Staaten zuständig sind. Ich denke, Umweltschutz hat auch eine internationale Dimension. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl vom Bündnis 90/Die Grünen.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Im Gegensatz zu meiner ersten Rede in diesem Haus - damals ging es um REACH - haben meine Fraktion und ich mit dem heutigen Vorhaben der Regierung keine Probleme. Ich kann zwar die Bedenken der Kollegin BullingSchröter nachvollziehen, aber es geht nicht darum, die Verpflichtungen abzuschaffen, sondern die formalisierte Überwachung zu erleichtern und effizienter zu machen. Die gesetzlichen Pflichten zur Erstellung betrieblicher Abfallwirtschaftskonzepte und Abfallbilanzen haben in der Tat nicht in dem erwarteten Maß zur Optimierung der betrieblichen Abfallwirtschaft beigetragen. Es macht deshalb Sinn, auf den Einzelbetrieb zugeschnittenen Konzepten und Bilanzen - gegebenenfalls auch unter Hilfestellung der Industrie- und Handelskammer - den Vorzug zu geben und ihre Effektivität zu bewerten. Der Gesetzentwurf zur Vereinfachung der abfallrechtlichen Überwachung kann drei Ziele erreichen. Er macht erstens durch die Einführung der elektronischen Form die Überwachung effizienter. Er bewirkt zweitens, dass die Überwachung EU-kompatibel wird, und er lässt drittens Kostensenkungen bei Bund, Ländern und Kommunen einerseits und den überwachungspflichtigen Unternehmen andererseits erwarten. Die Investitionskosten für die Einführung der elektronischen Kommunikationstechniken werden durch die Vorteile der elektronischen Form mehr als ausgeglichen werden - ganz abgesehen davon, dass damit dieses Stück notwendiger Restbürokratie im 21. Jahrhundert ankommt. Schluss mit der Zettelwirtschaft! Da es sich hierbei um ein praktiziertes Beispiel möglichen Bürokratieabbaus handelt, will ich mit Ihrer Erlaubnis das Stichwort „Bürokratieabbau“ noch einmal beleuchten und stoße damit vielleicht auch bei der Kollegin Bulling-Schröter auf Zustimmung. Der Begriff „Bürokratieabbau“ hat sich zu einem wirkungsmächtigen Schlagwort entwickelt. Wer den Abbau von Bürokratie fordert, findet im Allgemeinen ohne großes Ansehen der Sache sofort regen Zuspruch. ({0}) Gerade bei Regelungen zum Schutz der Umwelt wird gerne propagiert, das sei alles zu bürokratisch, zu teuer, zu technikfeindlich und schade der Wirtschaft. ({1}) Niemand bestreitet, dass es - auch im Umweltrecht, wie das heutige Beispiel zeigt - Überregulierungen gibt. Eine reine Fokussierung auf die Regulierung kann aber den Blick auf inzwischen anstehende Aufgaben erschweren, zum Beispiel die Notwendigkeit in der Abfallthematik, die Ressourceneffizienz unserer Wirtschaft deutlich zu erhöhen und zu einem echten Kreislauf der Stoffströme zu kommen. Bürokratieabbau ist also an den Stellen notwendig, wo er dazu dient, effektive Gesetze und ihren effektiven Vollzug zu erreichen. Aber auch dies bleibt wahr: Jede staatliche Regelung zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger erzeugt Bürokratie. Auf eine hohe Komplexität des Umweltrechts können wir aber nicht verzichten. Eine Gesellschaft, die mit über 100 000 chemischen Stoffen in mehr als 1 Million Zubereitungen umgehen muss, kann nicht erwarten, die daraus resultierenden Risiken mit wenigen Federstrichen des Gesetzgebers in den Griff zu bekommen. Deshalb kann es beim Umweltrecht keinen undifferenzierten Schrei nach Bürokratieabbau geben. ({2}) Ein immer wieder guter Weg zum Bürokratieabbau ist, wie das heutige Beispiel zeigt, die Vereinheitlichung. Die Harmonisierung, Straffung und Vereinfachung des Umweltrechts in einem Umweltgesetzbuch steht auf der Agenda. Zentraler Bestandteil wäre hierbei die integrierte Vorhabenprüfung: Eine Behörde prüft in einem Verfahren die genehmigungsrelevanten Tatbestände. Lassen Sie mich zum Schluss noch eine deutlich kritische Bemerkung an die Regierung richten, wie es sich für eine Oppositionsfraktion gehört. Mit den Vorschlägen zur Föderalismusreform - über die wir noch zu reden haben werden - hat die Koalition der Absicht des Bürokratieabbaus und dem Ziel des UGB einen Bärendienst erwiesen. Der Kompetenzwirrwarr zwischen Bund und Ländern wird im Umweltbereich nicht entzerrt; er wird vielmehr verschärft. Konkurrierende Gesetzgebung einmal mit - im Abfallrecht -, einmal ohne Erforderlichkeitsklausel. Weit reichende Möglichkeiten der Bundesländer, vom Bundesrecht abzuweichen, werden weder den Belangen der Umwelt gerecht noch das Bedürfnis von Investoren nach Klarheit und Rechtssicherheit befriedigen. ({3}) Hier war der kleine Bürokratieteufel am Werk und wird sich ins Fäustchen lachen, falls diese Regelungen tatsächlich so in Kraft treten. Wir von Bündnis 90/ Die Grünen werden jedenfalls mit aller argumentativen Kraft versuchen, das zu verhindern. Einig können wir uns dagegen bei klarem Bürokratieabbau und Effizienzgewinn werden, wie bei dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung der abfallrechtlichen Überwachung. Vielen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herzlichen Dank. - Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/400 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe dazu keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie die Zusatzpunkte 3 bis 5 auf: 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich Maurer, Oskar Lafontaine, Dr. Gregor Gysi, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Guantanamo schließen - Drucksache 16/364 ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD Für die Einhaltung von grundlegenden Menschenrechten und Grundfreiheiten beim Umgang mit Gefangenen - Drucksache 16/431 ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian Toncar, Dr. Werner Hoyer, Sabine LeutheusserSchnarrenberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für die Schließung von Guantanamo Bay und die Überführung der Gefangenen in rechtsstaatliche Verfahren - Drucksache 16/454 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({0}) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ({1}), Jürgen Trittin, Marieluise Beck ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Rechtsstaatliche Verfahren und Menschenrechtsschutz für die Inhaftierten in Guantanamo Bay - Drucksache 16/443 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({3}) Auswärtiger Ausschuss Es ist vereinbart, hierüber eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem Kollegen Gregor Gysi von der Fraktion Die Linke. ({4})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn meiner Rede möchte ich etwas sagen, das mir eigentlich nicht so wichtig ist, das ich aber einmal gesagt haben will: Ich finde, es ist angesichts des Gewichts des Themas kleinkariert, dass alle anderen Fraktionen einen eigenen bzw. einen gemeinsamen Antrag eingebracht haben, nur weil sie den Adressaten unseres begründeten Antrags als nicht richtig empfinden. ({0}) Natürlich kenne ich ein solches Verhalten auch aus der Geschichte der Linken; das will ich gar nicht bestreiten. ({1}) - Ich sagte ja gerade, dass ich das kenne. - Ich bin froh, nun Mitglied einer Fraktion zu sein, die dieses Verhalten wirklich überwunden hat ({2}) und bereit ist, jeden vernünftigen Antrag zu unterstützen, selbst wenn er von der Union kommt; das geschieht allerdings relativ selten. ({3}) Inhaltlich geht es um eine gewichtige Frage. Das Völkerrecht, mit dem wir es heute überwiegend zu tun haben, ist in einer bestimmten Zeit entstanden, in einer Zeit des militärischen Gleichgewichts zwischen der Sowjetunion und den USA. Es hatte so lange einen relativ stabilen Bestand. Nichts Wichtiges geschah an der einen oder der anderen Weltmacht vorbei. Dann ist die eine Weltmacht weggefallen; das ist begrüßt worden. Aber damit sind auch viele Grundlagen des Völkerrechts entfallen. Es entspricht heute nicht mehr dem bestehenden Kräfteverhältnis. Das Vetorecht Russlands ist anders gewichtet als das der Sowjetunion. Die USA haben sehr schnell erkannt, dass sie die einzig verbliebene Weltmacht sind. Aber die einzig verbliebene Weltmacht zu sein darf nicht nur ein Ausdruck von Rechten, sondern muss auch ein Ausdruck von Verantwortung und enormen Pflichten sein. Dem stellen sich die USA nur sehr wenig. ({4}) Das Völkerrecht hat - genauso wie das innere Recht nur Substanz, wenn es für alle Staaten verbindlich ist, das heißt für Uganda genauso wie für Deutschland und die USA. Es darf nicht nur für bestimmte Staaten und für andere nicht gelten. So sind die Charta der Vereinten Nationen und viele andere völkerrechtliche Bestimmungen angelegt. Wir haben es mit der Entwicklung des Terrorismus und schrecklichen Ereignissen - diese muss ich hier sicherlich nicht im Einzelnen aufzählen - zu tun bekomDr. Gregor Gysi men. Die Antwort darauf lautete Krieg. Ich sage Ihnen, warum ich diese Antwort so falsch finde: Krieg bringt nur neuen Hass hervor. Im Krieg sterben immer Unschuldige - wenn man so will - aus politischen Gründen. Krieg, insbesondere der völkerrechtswidrige, ist eine der schlimmsten Formen des Terrorismus. ({5}) Deshalb wird in der Charta der Vereinten Nationen die Möglichkeit, Krieg zu führen, ungemein eingeschränkt. Dagegen ist aber verstoßen worden. Wir haben es nun mit einer Spirale der Gewalt zu tun und niemand von uns kann wirklich einschätzen, wohin das Ganze führt, wann wer wie darunter leidet, wann etwas passiert. Die USA haben daraus eine Schlussfolgerung gezogen: Sie bekämpfen den Terrorismus auf ihre Art mit allen Mitteln und verletzen dabei das Recht. Ich sage Ihnen aber: Terrorismus ist großes grobes Unrecht. Wir haben nur eine Chance gegen großes grobes Unrecht, wenn wir es mit Recht bekämpfen. ({6}) Wenn wir es mit Unrecht bekämpfen, werden wir dem, was wir bekämpfen, immer ähnlicher. Genau das darf aber nicht passieren. Ich kann Ihnen viele Beispiele nennen. Heute geht es um eines, um Guantanamo. Man muss sich überlegen, was nach dem Krieg in Afghanistan geschehen ist: Du machst Gefangene, sagst aber, dass das keine Kriegsgefangenen sind. Du willst die entsprechende Konvention nicht anwenden, du gibst ihnen nicht die Rechte von Kriegsgefangenen. Du sagst aber auch, dass es keine Beschuldigten sind und deshalb keine Ermittlungsverfahren in diesem Sinne durchgeführt werden. Du sagst, dass du dein eigenes Recht fürchtest. Die US-Administration sagt: Ich bringe die Gefangenen nicht in die USA; denn da haben sie Rechte. Da gibt es Richter, Verteidiger und vieles mehr. Das will ich nicht. - Man erklärt die Gefangenen für rechtlos. Das ist das Kernproblem. Wenn man sagt, Gefangene seien rechtlos, dann bringt man ein Stück zivilisatorische Entwicklung von weit über 100 Jahren ins Schwanken. Wir bewegen uns dann zurück. Der Terrorismus hat diesen Erfolg einer antizivilisatorischen Entwicklung bei uns oder im Westen überhaupt nicht verdient. Es wäre grotesk, wenn er Erfolg hätte. ({7}) Deshalb ist es so wichtig, gerade an einen Partner, gerade an eine so wichtige Macht wie die USA, immer wieder zu appellieren: Man kann Stärke auch missbrauchen. - Sie sind dabei, das zu tun; das ist ein grober Fehler. Schauen Sie sich die Entwicklung auf der Welt an. Wie denkt die Bevölkerung mancher Staaten heute über die USA? Ich habe den Eindruck, dass das die Administration in den USA gar nicht interessiert. Ich glaube, das ist ein großer Fehler. Wir hatten heute eine Diskussion über den Iran. Es gibt viele Länder, über die man in diesem Zusammenhang sprechen könnte. Wir haben hier eine katastrophale Entwicklung. Deutschland ist ein enger Verbündeter der USA. Sie alle kennen die Geschichte seit 1945. Ich brauche gar nicht darauf einzugehen, welche Rolle die USA gerade für die alte Bundesrepublik gespielt haben. Und weil das so ist, ist es so wichtig, dass ein Partner wie Deutschland den Mut hat - auch das Parlament -, zu sagen: Du begehst einen Fehler. Wir sagen das öffentlich, weil wir nicht wollen, dass du diese Entwicklung als Weltmacht weiter nimmst. Wir wollen, dass du deine Rechte wahrnimmst, vor allem aber auch deine Pflichten und deine Verantwortung gerade für das Völkerrecht. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sie sollten bitte zum Schluss kommen, Herr Gysi.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Lassen Sie mich als Letztes eines sagen, weil immer der Vorwurf des Antiamerikanismus nahe liegt: Abgesehen davon, dass ich in den USA Freunde habe, weise ich diese Anschuldigung zurück. ({0}) - Sie haben keine Ahnung. Das macht aber nichts. Wissen Sie, wer heute antiamerikanisch ist? Präsident Bush. Er erzeugt einen Antiamerikanismus wie kein anderer. ({1}) Eine Korrektur ist dringend erforderlich. Deshalb meine Bitte: Machen wir zusammen einen Antrag und sagen den USA: So geht es nicht weiter! ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat Ruprecht Polenz, CDU/CSU-Fraktion.

Ruprecht Polenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002751, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine Institution wie Guantanamo kann und darf auf Dauer so nicht existieren. Es müssen Mittel und Wege für einen anderen Umgang mit den Gefangenen gefunden werden. Das steht für mich außer Frage. Diese eindeutige und unmissverständliche Aussage von Bundeskanzlerin Angela Merkel findet, so denke ich, die Unterstützung von uns allen. ({0}) Wir sind der Bundeskanzlerin dafür dankbar, dass sie dies nicht nur vor ihrer USA-Reise in einem „Spiegel“Gespräch gesagt hat, sondern dass sie diese Position auch gegenüber dem amerikanischen Präsidenten mit Nachdruck vertreten hat. Wir teilen die Auffassung der Bundesregierung, dass diese Gefangenen in Übereinstimmung mit dem humanitären Völkerrecht und den menschenrechtlichen Mindeststandards zu behandeln sind. Dazu gehören menschliche Behandlung, Achtung der Person und der Ehre, Schutz vor Gewalttätigkeit und Einschüchterung, Anspruch auf ärztliche Behandlung sowie Gerichtsverfahren mit rechtsstaatlichen Garantien. Es geht um die Frage: Wie führen wir den Kampf gegen den internationalen Terrorismus? Wir verteidigen in diesem Kampf unser Recht auf Sicherheit für Leib und Leben. Wir verteidigen dieses Recht gegen Terroristen, die ihre Angriffe bevorzugt gegen so genannte weiche Ziele richten. „Weiche Ziele“ ist eine zweifelhafte Umschreibung für Kinder, Frauen, alte Menschen, Zivilisten, unschuldige Opfer. Wir verteidigen dieses Recht gegen Terroristen, die Angst und Schrecken verbreiten wollen durch immer grausamere Anschläge, denen möglichst viele Menschen zum Opfer fallen sollen. Wir verteidigen im Kampf gegen den internationalen Terrorismus unsere Freiheit, so zu leben, wie wir leben wollen, ohne dadurch anderen zu schaden. Außerdem verteidigen wir unsere Werte. Wir verteidigen die Unantastbarkeit der Menschenwürde gegen Terroristen, die in einem rigiden Freund-Feind-Denken gefangen sind und die für den Feind nur Vernichtung übrig haben. Wir verteidigen unseren Rechtsstaat gegen Terroristen, die sich keinerlei Recht verpflichtet fühlen. Deshalb ist der internationale Terrorismus die gewalttätige, mordende Antithese zur Zivilisation. ({1}) Das, was wir verteidigen, definiert auch die Grenze der zulässigen Mittel. Deshalb haben wir bei der Verabschiedung der so genannten Antiterrorpakete zur Erhöhung unserer inneren Sicherheit darauf geachtet, die Freiheit nicht stärker einzuschränken als unabdingbar notwendig. Aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde folgt zwingend ein absolutes Folterverbot. ({2}) Man darf auch nicht foltern lassen. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde verbietet auch Handlungen, die eine grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe darstellen. Rechtsstaatlichkeit gibt Anspruch auf rechtliches Gehör und faire Gerichtsverfahren. ({3}) Unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. September 2001 haben die Vereinten Nationen alle Staaten dazu aufgefordert, beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus zusammenzuarbeiten, weil dieser Kampf nur in dieser Gemeinsamkeit aller Staaten gewonnen werden kann. Das bedeutet, dass wir - nicht zuletzt um Gefahren für unser Land abzuwehren - diese Zusammenarbeit nicht nur auf solche Staaten begrenzen können, die rechtsstaatliche Demokratien sind wie wir. Aber wir dürfen bei dieser Zusammenarbeit die Grenzen nicht überschreiten, die uns unser Rechtsstaat setzt. ({4}) Die Zusammenarbeit kann umso enger sein, je mehr wir nicht nur im Ziel der Bekämpfung des Terrorismus einig sind, sondern auch im Hinblick auf die Grenze der zulässigen Mittel. Auch in den USA, der ältesten Demokratie der Welt, wird mit großem Ernst um die Grenzen gerungen, die es beim Kampf gegen den Terrorismus einzuhalten gilt. Welchen Rechtsstatus haben Mitglieder der Terrororganisation al-Qaida? Wie sollen Gefangene behandelt werden, die des Terrorismus beschuldigt werden? Welche Verhörmethoden sind zulässig und wo liegen die Grenzen? Ich finde die Offenheit und Intensität dieser inneramerikanischen Debatte beeindruckend. Mein Eindruck ist, dass sich die amerikanische Diskussion in den bisher unterschiedlich bewerteten Fragen immer mehr den Positionen annähert, die auch von uns für richtig gehalten werden. So hat die amerikanische Außenministerin Condoleezza Rice nach ihrem Europabesuch klargestellt, dass die US-Regierung ihre Verpflichtungen aus der Anti-Folter-Konvention anerkenne - Zitat -, „ob innerhalb oder außerhalb der USA“. ({5}) Außerdem hat sie zugesagt, dass internationale Vereinbarungen in den USA nicht anders ausgelegt werden als in Europa. Der US Supreme Court hat am 28. Juni 2004 in drei grundlegenden Urteilen entschieden, dass den Guantanamogefangenen der Rechtsweg zu US-Gerichten offen steht und sie sich auf die Justizgrundrechte der US-Verfassung berufen können. Umgekehrt wächst auch bei uns die Erkenntnis, dass der internationale Terrorismus neue völkerrechtliche Fragen aufgeworfen hat, auf die auch wir und die Europäer insgesamt noch keine befriedigende Antwort gefunden haben. Die Bundeskanzlerin hat dem amerikanischen Präsidenten vorgeschlagen, diese Fragen noch stärker als bisher im Rahmen der Vereinten Nationen zu diskutieren. Wir sollten diese Diskussion mit unseren amerikanischen Partnern und Freunden in einem Geist und mit einer Sprache führen, die deutlich machen, dass wir uns den gemeinsamen Werten verpflichtet fühlen. Lassen Sie mich mit einem Zitat des amerikanischen Senators John McCain schließen: Die Feinde, die wir bekämpfen, haben keine Achtung vor menschlichem Leben oder vor den Menschenrechten. Sie verdienen nicht unser Verständnis. Aber es geht nicht darum, wer sie sind. Es geht darum, wer wir sind. ({6}) Es sind unsere Werte, die uns von unseren Feinden unterscheiden, und wir dürfen unseren Feinden nie und niemals erlauben, uns diese Werte wegzunehmen. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Florian Toncar von der FDP-Fraktion.

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Guantanamo Bay ist nicht das einzige Gefangenenlager, das die USA unterhalten, aber es ist ein Stück weit zu einem Symbol geworden; denn es steht für eine Politik, die zur Bekämpfung des Terrors nach eigenem Bekunden die Samthandschuhe abgelegt hat. Doch wo es nicht mehr allein um wirksame Maßnahmen gegen den Terror geht, sondern um die Demonstration von hartem Durchgreifen, bei dem Häftlinge sinnlos gedemütigt werden, da ist eine Grenze überschritten. Terrorbekämpfung hat sich am Gebot effektiver Verhinderung und Verfolgung von Anschlägen zu orientieren; es geht gerade nicht um Vergeltung. Jedes andere Zeichen wäre ein Ausdruck nicht der Stärke, sondern der Schwäche. ({0}) Klar ist: Wir brauchen den Kampf gegen den Terror wie gegen seine Ursachen. Das bedeutet auch, dass Täter verfolgt, Terrorzellen überwacht und Gelder sichergestellt werden. Aber dies hat in einem rechtsstaatlichen Raum und nicht in rechtsleeren, abgeschirmten Grauzonen zu erfolgen. ({1}) Wo immer dieser Kampf mit zulässigen rechtsstaatlichen Mitteln geführt wird, haben die USA ein Anrecht auf unsere deutsche Unterstützung. Wo der notwendige Kampf gegen Terrorismus aber mit Mitteln geführt wird, die gegen grundlegende Wertvorstellungen, die wir ja gerade gegen die Terroristen verteidigen wollen, verstoßen, müssen wir dem entgegentreten. Die Existenz von Regeln zur Behandlung von Gefangenen ist eine unschätzbare Errungenschaft, die nicht preisgegeben werden darf. Das Lager in Guantanamo Bay ist mit bestehenden Regeln zur Behandlung von Gefangenen nicht vereinbar. Die Inhaftierten werden rechtsstaatlichen Mechanismen entzogen. Auf sie finden weder die Regeln der Genfer Konvention über Kriegsgefangene Anwendung, noch gelten sie als Beschuldigte im Sinne des amerikanischen Strafrechts. Diese Rechtlosstellung der Tatverdächtigen ist nicht hinnehmbar. Sie ist gerade vor dem Hintergrund der amerikanischen Rechtstradition und der amerikanischen Verfassung, in der der Schutz vor willkürlicher Inhaftierung durch das IV. Amendment ein zentrales Freiheitsrecht darstellt, ein kolossaler Salto rückwärts und wird zu Recht von einer zunehmenden Zahl von US-Bürgern abgelehnt. ({2}) Auch die Art und Weise, wie mit den Gefangenen in den Camps umgegangen wird, veranschaulicht, wie sehr hier im Hinblick auf Rechtsstaat und Bürgerrechte eine Schieflage entstanden ist. Die Berichte über das Zufügen von Schmerzen durch Schläge oder über Scheinhinrichtungen, beispielsweise durch die Praxis des so genannten Waterboarding, sind mehr als beunruhigend. Wenn der Sprecher des amerikanischen Heeres, Paul Boyce, auf Berichte, in denen kolportiert wird, es sei ab Mitte Februar möglich, in Guantanamo Inhaftierte durch das Militär auch hinrichten zu lassen, lediglich mit dem Satz reagiert, das sei pure Spekulation, dann ist das schlicht und einfach zu wenig, meine Damen und Herren. ({3}) „Guantanamo kann und darf auf Dauer so nicht existieren“ - so hat es die Bundeskanzlerin vor ihrem Abflug nach Washington ausgedrückt. Wir Freien Demokraten begrüßen es, dass die Kanzlerin diese Position eingenommen hat. Wir begrüßen das vor allem vor dem Hintergrund, dass unsere Fraktion in der letzten Legislaturperiode die erste war, die diese Forderung hier im Bundestag in Form eines Antrags eingebracht hat. Dieser wurde damals leider mit den Stimmen aller anderen Fraktionen abgelehnt. Insbesondere die Kollegen von der Union waren noch in der letzten Legislaturperiode nicht bereit, die angesprochenen Probleme insbesondere hinsichtlich des Status der Gefangenen auf Guantanamo auch nur als solche anzuerkennen. Es freut uns, dass die Forderung nach einer Schließung des Lagers und der Überstellung der Inhaftierten an ordentliche Gerichte mittlerweile in diesem Hause eine doch so breite Unterstützung erfährt, wie sich das jetzt abzeichnet. ({4}) Meine Damen und Herren, vor zwei Jahren wurde mit der rot-grünen Mehrheit hier im Bundestag ein Antrag beschlossen, der die USA zum Schutze menschenrechtlicher Mindeststandards in Guantanamo und zur Einhaltung aller ihrer völkerrechtlichen Verpflichtungen ermahnte. Bereits eineinhalb Jahre zuvor hatten deutsche Nachrichtendienste allerdings selbst auf Guantanamo Verhöre vorgenommen. Es ist doch unbestreitbar, dass es doppelzüngig ist, wenn der Deutsche Bundestag einerseits - und zu Recht - Resolutionen gegen dieses Lager beschließt und andererseits deutsche Geheimdienste vor Ort Inhaftierte befragen, womöglich auf Veranlassung der Bundesregierung. ({5}) Das ist inkonsequent und schadet der Glaubwürdigkeit unserer Haltung als Parlament zu Guantanamo insgesamt. Ich sage es ganz offen: Wäre ich vor zwei Jahren als Abgeordneter an jenem Entschließungsantrag, mit dem Guantanamo kritisiert wird, beteiligt gewesen, dann würde es mich heute doch interessieren, inwieweit deutsche Beamte dieses Lager zur Gewinnung eigener Erkenntnisse mitgenutzt haben. Was bisher dazu auf den Tisch gekommen ist, würde mich eher beunruhigen als beruhigen. ({6}) Meine Damen und Herren, uns liegen heute vier Anträge vor, die in eine ähnliche Richtung zielen. Wir wünschen uns für unseren Antrag die Überweisung in die Ausschüsse zur weiteren Beratung dort. Wie Sie dem Wortlaut des FDP-Antrags entnehmen können, unterstützen wir die Forderung der Bundeskanzlerin im Hinblick auf eine Schließung des Lagers in Guantanamo. Es wäre aus unserer Sicht jedoch geschickter gewesen, wenn auch die Koalitionsfraktionen diese Forderung in dieser wohltuenden Klarheit in ihren Antrag hineingeschrieben hätten, anstatt in Andeutungen stecken zu bleiben. ({7}) Denn ich finde es falsch, auch aus der Perspektive des Parlamentariers, wenn man zum Verständnis der Haltung des Parlaments auf Interviewäußerungen der Bundeskanzlerin verwiesen wird. Das sollten wir für uns selbst nicht so vorsehen. ({8}) Ich sagte eingangs, Guantanamo sei ein Symbol. Die dahinter stehende Frage, zu welchen Mitteln man im Kampf gegen den Terrorismus greifen darf, wird uns - da bin ich mir sicher - leider noch eine ganze Zeit lang und wahrscheinlich - auch diese Anmerkung sei gestattet - nicht immer mit der gleichen Einigkeit wie heute in diesem Parlament beschäftigen. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat jetzt für die Bundesregierung Staatsminister Gernot Erler.

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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung begrüßt, dass sich der Deutsche Bundestag heute erneut mit dem Thema Guantanamo beschäftigt. Die Frage des Status, der Rechte und der Behandlung der Gefangenen von Guantanamo ist seit langem Gegenstand des politischen Dialogs zwischen der Bundesregierung und der Regierung der Vereinigten Staaten. Die Bundesregierung hat dabei immer wieder den ungeklärten Status der Guantanamogefangenen angesprochen. Wir halten die Einstufung der Verdächtigen als „ungesetzliche Kämpfer“ bzw. „feindliche Kombattanten“ mit der Folge, dass sie keinen Anspruch auf rechtsstaatliche Verfahren haben, für nicht mit dem geltenden Völkerrecht vereinbar. ({0}) Nach unserer festen Überzeugung haben die Festgehaltenen unabhängig von der Festlegung ihres Status im Einzelfall einen Anspruch auf Behandlung nach den rechtlichen Standards des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte, das heißt konkret, Anspruch auf eine jederzeit menschenwürdige Behandlung, auf Schutz vor Folter und körperlicher Misshandlung, auf Schutz vor grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe und schließlich das Recht auf faire, rechtsstaatliche Verfahren. ({1}) Diese grundsätzliche Position der Bundesregierung hat die Unterstützung des Deutschen Bundestages erhalten. Besonders deutlich wurde das in der sehr differenzierten Entschließung des Deutschen Bundestages vom 25. März 2004 zum Thema Guantanamo - der Kollege Toncar hat diese Entschließung eben angesprochen -, die noch heute Gültigkeit beanspruchen kann. Die Bundesregierung hat diese grundsätzliche Position in ihrer Beantwortung von Fragen aus den Reihen des Deutschen Bundestags im Dezember 2005 erneut bekräftigt. Über diese Fragen gibt es, wie gesagt, seit längerem einen kritischen Dialog mit den Vereinigten Staaten. Vor ihrem Antrittsbesuch in Washington hat die Bundeskanzlerin dazu deutliche Worte gefunden und öffentlich gefordert - Herr Polenz hat es bereits gesagt; ich zitiere es noch einmal -: Eine Institution wie Guantanamo kann und darf auf Dauer so nicht existieren. Es müssen Mittel und Wege für einen anderen Umgang mit den Gefangenen gefunden werden. Das Thema war dann auch Gegenstand des Gesprächs der Bundeskanzlerin mit dem amerikanischen Präsidenten. Es wurde schon vorher von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier bei der Begegnung mit seiner Kollegin Condoleezza Rice im Dezember angesprochen. Dabei kann es nie darum gehen, vor der neuen Qualität der terroristischen Herausforderung, die wir nach dem 11. September 2001 erfahren mussten, die Augen zu schließen. Wir sind aber noch dabei, zu lernen, wie wir die Bürger vor Gefahren schützen können, die wir in dieser Form früher nicht kannten. Gilt zum Beispiel für jemanden, der über 150-mal mit den Hauptattentätern des 11. September in New York und Washington und des 11. März in Madrid telefoniert hat, die Unschuldsvermutung - Telefonieren ist ja nicht strafbar - oder müssen wir hier möglicherweise präventiv - zum Schutz der Bürger - tätig werden? Es geht also um jene schwierige Gratwanderung zwischen einer entschlossenen und gemeinsamen Abwehr des Terrorismus einerseits und der Bewahrung von rechtsstaatlichen und demokratischen Grundsätzen und Freiheitsrechten - gerade dagegen richtet der internationale Netzwerkterrorismus seine Attacken - andererseits. Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Washingtoner Rede vom 12. Januar dieses Jahres ausdrücklich die schwierige Aufgabe angesprochen, hier die richtige Balance zu finden. Dabei geht es auch nicht ausschließlich um rechtliche Fragen, sondern letztlich um die politische Frage, welche Art der Bekämpfung des Terrorismus auf Dauer erfolgreich sein kann. Solange das Lager in Guantanamo Bay besteht, wird diese Diskussion insofern immer wieder auf die Behandlung der dortigen Gefangenen zurückkommen müssen. Längst hat diese Diskussion auch die Vereinigten Staaten selbst erreicht, wo inzwischen über diese politischen und rechtlichen Fragen auf einem hohen Niveau diskutiert wird. Herr Kollege Gysi, ich würde mich freuen, wenn Sie auch diesen Teil der amerikanischen Realität zur Kenntnis nehmen würden. Ich meine damit unter anderem die Diskussion um das so genannte McCain Amendment, wodurch jetzt die weltweite Geltung des Folterverbots für alle US-Bediensteten in Bezug auf alle Verhörmethoden gesetzlich klargestellt wurde. Ich meine damit auch, dass amerikanische Gerichte klargestellt haben, dass Guantanamo kein rechtliches Niemandsland sein darf und dass jetzt neue und transparente Regelungen für Haftprüfungsverfahren gelten. Ich meine damit weiterhin die schon angesprochene Entscheidung des US Supreme Courts, dass ausländische Gefangene in Guantanamo dasselbe Recht wie amerikanische Bürger haben, nämlich die Autorität staatlicher Gerichte in Anspruch zu nehmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Entwicklungen ermutigen uns. Sie ermutigen die Bundesregierung, den in letzter Zeit sehr intensiv geführten Dialog mit unseren amerikanischen Partnern mit dem ausdrücklichen Ziel fortzusetzen, gemeinsam Mittel und Wege zu einem anderen Umgang mit den Guantanamogefangenen, aber auch mit allen anderen Gefangenen im Zusammenhang mit dem Kampf gegen den Terrorismus zu finden. ({2}) Damit stellen wir letztlich unter Beweis: Die Gemeinschaft der Staaten, die sich den Attacken der Feinde der Freiheit ausgesetzt sieht, kann Antworten finden, die unserem Anspruch als freie und offene Gesellschaften gerecht werden, die das Recht jedes Einzelnen achten und die den geltenden und unverzichtbaren Regeln des internationalen Völkerrechts ohne Einschränkung folgen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Volker Beck, Bündnis 90/ Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Terroristen wollen die Freiheit in unseren Gesellschaften angreifen. Sie wollen Angst und Schrecken verbreiten. Wir müssen die Einhaltung der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie als zentrale Grundwerte verteidigen und sichern. Beim Verteidigen und Sichern dürfen wir aber diese Prinzipien nicht selbst teilweise außer Kraft setzen und Grenzen überschreiten; ansonsten ist ein Teilziel dessen, was die Terroristen erreichen wollen, erfüllt. Deshalb müssen wir mit unseren amerikanischen Freunden weiter darüber sprechen und von ihnen fordern, dass auch sie sich beim Kampf gegen den Terrorismus ohne Wenn und Aber an das Völkerrecht und an internationale Menschenrechtskonventionen halten. ({0}) Guantanamo steht als Symbol für doppelte Standards des Westens beim Kampf gegen den Terrorismus und beschädigt damit den ideologischen Kampf um die Köpfe in einer Problemregion. Denn wir zeigen, dass der Westen in seinen Handlungen nicht konsequent ist. Wir dementieren damit unser Anliegen selber. Dies ist von großem außenpolitischen Schaden, weil es dadurch nicht gelingt, die Terroristen von der großen Mehrheit der dortigen Bevölkerung zu isolieren und die Bevölkerung zu überzeugen: Das sind Wirrköpfe und der Westen ist ganz anders, als er beschrieben wird. Die Amerikaner leisten mit Guantanamo einen Beitrag dazu, dass die falsche Beschreibung der Welt durch diese Wirrköpfe für manche Menschen ein gewisses Maß an Plausibilität gewinnt. Deshalb muss das Gefangenenlager Guantanamo geschlossen werden. Wir als Bundesrepublik Deutschland müssen mit einer Stimme sprechen und ein solches Vorgehen zurückweisen. Ich hoffe, dass es dieses Hohe Haus schafft, während des Verfahrens mit einer Stimme zu sprechen. Denn ich denke, die große Einheit zwischen den fünf Fraktionen sollte als Willensbildung des Parlamentes klar zum Ausdruck kommen. ({1}) Die Bundesregierung hat seit dem Afghanistankrieg und dem Bekanntwerden des Gefangenenlagers in Guantanamo die Praxis der Amerikaner in Regelmäßigkeit kritisiert. Ich bin sehr froh darüber, dass die neue Bundesregierung diese Politik der alten Bundesregierung nahtlos fortsetzt. ({2}) Deshalb begrüße ich es, dass Frau Merkel wie zuvor ihre Vorgänger wie Herr Fischer, Otto Schily und Frau Zypries in den USA klare Worte gefunden hat. ({3}) Volker Beck ({4}) - Auch der Bundeskanzler hat dies angesprochen. Aber erinnern Sie sich einmal, in welcher Zeit das damals war, welche außenpolitischen Diskussionen wir geführt haben und wie die Situation angesichts der Tatsache war, dass Angela Merkel nach Washington gefahren ist, um zu sagen: So ganz gegen den Irakkrieg, wie die deutsche Regierung es ist, sind wir nicht. Deshalb hat man damals nicht jedes Gespräch an die große Glocke gehängt. ({5}) Ich kann Ihnen eine lange Liste von Dokumenten vorlegen, die beweisen, dass Vertreter der Bundesregierung im Ausland, zum Beispiel in Washington, und in Deutschland, im Bundestag, ganz klar gesagt haben: Das Gefangenenlager in Guantanamo muss geschlossen werden. Es darf keine Differenzen beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus geben. Menschenrechte müssen gewahrt werden. - Da brauchen wir uns wirklich nicht zu verstecken. ({6}) Frau Merkel hat in diesem Zusammenhang gesagt: Eine Institution wie Guantanamo kann und darf auf Dauer so nicht existieren. Beim Wording wünsche ich mir eine größere Klarheit. Was heißt „auf Dauer“? Ich finde, sie darf überhaupt nicht existieren und sollte morgen und nicht erst in sechs Monaten geschlossen werden. ({7}) Kollege Toncar hat es schon angesprochen: Wenn uns Berichte aus den USA erreichen, in denen Sprecher des US-Verteidigungsministeriums erklären, dass in Guantanamo aufgrund einer neuen Verwaltungsvorschrift jetzt auch hingerichtet werden kann, und ein anderer Sprecher sagt, das sei falsch, das habe man falsch interpretiert, dann beunruhigt mich das außerordentlich. Da muss man ein klares Stoppsignal setzen und deutlich machen, dass wir als Europäer in großer Sorge darüber sind, dass ein weiterer Schritt in der Auflösung des Rechts gegangen wird, und wir uns dem klar entgegenstellen. ({8}) Wir müssen bei der Diskussion - das ist mir vor allen Dingen beim Einstiegsbeitrag aufgefallen - aber auch aufpassen, wie wir über die Amerikaner und mit den Amerikanern reden. McCain ist ein Beispiel dafür, dass im amerikanischen Parlament und in der amerikanischen Bevölkerung eine Position für Rechtsstaatlichkeit, für Menschenrechte und gegen Folter mehrheitsfähig ist und dass die Position der amerikanischen Regierung und des amerikanischen Präsidenten nicht für Amerika als Ganzes steht. ({9}) Das ist ganz wichtig. Wenn wir das sehen, dann können wir mit den Bündnispartnern in der amerikanischen Gesellschaft dafür sorgen, dass unseren Prinzipien vielleicht auch in den USA zum Durchbruch verholfen wird. Ich glaube, wir alle sollten an einem Strang ziehen, um das hinzubekommen. Vielen Dank. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Alois Karl von der CDU/ CSU-Fraktion.

Alois Karl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003784, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Guantanamo - welch ein Wort! Kaum ein anderes Wort in der politischen Diskussion ist heutzutage mit so viel Negativem belegt wie dieses. Der Begriff wird bei uns mit der Entziehung persönlicher Freiheiten, mit der Verweigerung rechtlichen Gehörs in Zusammenhang gebracht. Guantanamo kann aber doch nicht isoliert gesehen werden; der Bogen muss weltweit gespannt werden, zum international operierenden Terrorismus, der - wir haben das gehört - mit rechtsstaatlichen Mitteln bekämpft werden muss. Guantanamo ist gewiss kein Ruhmesblatt für die USA und kann aus unserer Sicht nicht dauerhaft Bestand haben. Guantanamo ist für uns, die wir uns zum Grundrechtskatalog bekennen, mehr als bloß ein Dorn im Auge; es ist sicher eine offene Wunde. Unsere Meinung ist eindeutig: Grundlegende Menschenrechte können keinem vorenthalten werden, nicht einmal dem, der sich selbst außerhalb der Rechtsordnung gestellt hat. Dies trifft auch auf die Gefangenen von Guantanamo Bay zu: Auch sie sind nicht vogelfrei. ({0}) Es ist nicht zweifelsfrei definiert, welchen Status die 600 Gefangenen auf dem US-Stützpunkt haben. Insbesondere die al-Qaida-Gefangenen werden als unrechtmäßige Kombattanten angesehen und sollen aus dem Rechtekatalog der Genfer Konvention herausfallen. Für sie, so die amerikanische Diktion, gelte das humanitäre Völkerrecht nicht; sie haben also keinen Zugang zu Anwälten, keinen Zugang zu Gerichten. Nach der amerikanischen Position sind die Gefangenen in Guantanamo Bay sozusagen rechtsschutzlos. Die Beurteilung hierzulande ist anders. Unabhängig vom juristischen Hin und Her geht es in Guantanamo um Menschen, und diese leben augenblicklich in ganz unerträglichen Verhältnissen. Ihre Situation kann uns aus dem Gesichtswinkel der Menschenrechte nicht gleichgültig sein. ({1}) Das große Verdienst von Angela Merkel ist es zweifellos, dass sie dieses Thema schon im Vorfeld der USAReise und dann beim Präsidenten offen angesprochen hat. Damit drückt die Bundeskanzlerin aus, dass uns im freien Teil Europas die Gefangenen von Guantanamo nicht egal sind. Wir sind ihr dankbar, dass sie damit auch dem Gebot des Art. 1 des Grundgesetzes Rechnung trägt, wonach sich das „Deutsche Volk … zu unverletzlichen … Menschenrechten“ bekennt. In diesem Grundrechtsartikel ist gerade das Wort „bekennen“ wichtig. Diese Forderung des Grundgesetzes, also das Bekennen, richtet sich an jeden, an den Feind und noch viel mehr an den Freund. Es gibt nicht nur eine Feigheit vor dem Feinde, sondern auch Tapferkeit vor dem Freund; das hat Angela Merkel bewiesen. ({2}) Wir danken unseren amerikanischen Freunden dafür, dass auch sie das Grundgesetz von 1949 und damit parlamentarische Demokratie, Freiheitsrechte, Rechtsstaatlichkeit usw. ermöglicht haben. ({3}) Aus diesem Grunde sind gerade jetzt die freundschaftlichen Beziehungen zu den USA die richtige Plattform, um erkannte Missstände anzusprechen. Angela Merkel hat dies in vorzüglicher Weise getan, und zwar offen, nicht bloß in bilateralen Gesprächen, ohne die Öffentlichkeit beizuziehen. Diese Position der Bundesregierung möchten wir als Parlament heute ausdrücklich bekräftigen. Alleinig von Guantanamo zu sprechen, wäre allerdings zu kurz gegriffen. Wir kennen den weltweit agierenden Terrorismus. Er wendet sich oft genug gegen die USA. Sie haben im Bemühen um die Terrorabwehr unsere volle Solidarität. Auch das sprechen wir heute mit unserem Antrag deutlich aus. ({4}) Guantanamo kann nicht relativiert werden. Es war richtig, die deutsche Position in Washington offen anzusprechen. Wir wollen das bekräftigen. Vor sechzig Jahren hat der Sieger des Zweiten Weltkrieges, Dwight D. Eisenhower, hier in Berlin ausgedrückt, dass der Sieg erst dann komplett sei, wenn nach Jahrzehnten in Deutschland und Europa Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit eingekehrt seien. In der gleichen Weise rufen wir unseren amerikanischen Freunden zu: In Afghanistan habt ihr erst dann gewonnen, wenn auch dort rechtsstaatliches Verhalten eingekehrt ist. Meine sehr geehrten Damen und Herren, als Deutscher Bundestag stellen wir uns ungeschmälert in die Tradition der Freiheitsrechte, die ja gerade in den USA postuliert worden sind. Darüber besteht im Deutschen Bundestag breite Einigkeit. Aus diesem Grunde ist es auch niemandem verwehrt, dem Antrag der Regierungsfraktionen zuzustimmen, weil wir alle Teil einer ganz großen Koalition zur Einhaltung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten, auch den Gefangenen gegenüber, sind. Nach all dem, meine Damen und Herren, bitte ich auch um Ihre Zustimmung zu dem Antrag der Koalitionsfraktionen. Ich danke Ihnen sehr herzlich. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Karl, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Wir gratulieren Ihnen ganz herzlich und wünschen Ihnen Erfolg bei der parlamentarischen Arbeit. ({0}) Das Wort hat der Kollege Johannes Jung von der SPD-Fraktion.

Johannes Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003779, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Guantanamo ist der tagtägliche systematische Verstoß gegen Menschenrechte und Menschenwürde, gegen internationales Völkerrecht und auch gegen USamerikanisches Recht. ({0}) Dieses Lager und die Behandlung der dort festgesetzten Personen stehen in schärfstem Widerspruch zur Tradition der Freiheitsrechte in den USA und sie diskreditieren zusätzlich die Politik der US-Administration. Die USA waren Jahrhunderte lang ein Zufluchtsort und die Chance auf eine hoffnungsfrohe Zukunft für Verfolgte und Geknechtete in dieser Welt, gerade auch aus Deutschland. Wie sehr die Bush-Administration diese Tradition von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit fürchtet, zeigt eben Guantanamo, wo „the rule of law“, die Herrschaft des Gesetzes - also in unseren Worten die Rechtsstaatlichkeit -, ausgehebelt und ferngehalten wird. Dort wird totale staatliche Gewalt widerrechtlich ausgeübt. Zahlreiche Gerichtsurteile in den USA belegen, dass die Sorgen der Bush-Administration aus ihrer Sicht sehr wohl berechtigt und begründet sind. Umso bedeutsamer ist die in den USA geführte Debatte über die Folter. Für diese Debatte steht Senator McCain, der übrigens die Freiheitsmedaille der Münchner Sicherheitskonferenz erhalten wird. ({1}) Dies ist ein gutes und ein wichtiges Signal. Es widerlegt vielleicht die alte Weisheit, dass man Preise dann bekommt, wenn man sie nicht mehr braucht. Ich denke, Senator McCain und die Debatte über die Folter in den USA brauchen diese Auszeichnung. Johannes Jung ({2}) ({3}) Ich gehöre einer Partei und einer Regierungsfraktion an, die im Kampf gegen den Terror unsere demokratische und aufgeklärte Lebensweise, die das Ziel dieses Terrors ist, mit rechtsstaatlichen Mitteln verteidigen will und weiterhin verteidigen wird. Wir haben die Beteiligung an der Intervention der internationalen Staatengemeinschaft in Afghanistan und am Wiederaufbau dort nicht gescheut. Wir haben aber den Krieg im Irak abgelehnt und immer wieder vor den verheerenden Folgen dieses Krieges gewarnt. ({4}) Leider muss ich sagen: Unsere Befürchtungen wurden wahr. Der Krieg im Irak, die illegalen Verschleppungen - die so genannten renditions - und Guantanamo sind verheerende politische Fehler und schlimmste Menschenrechtsverletzungen, die unter der Überschrift „Kampf gegen den internationalen Terror“ begangen werden. Wie sieht die parlamentarische Behandlung aus? Der Europarat hat im April letzten Jahres eine ausführliche und detaillierte Entschließung gefasst, in der die Haftbedingungen in Guantanamo als rechtswidrig und unmenschlich verurteilt werden. Das Europäische Parlament hat in der vergangenen Woche ebenfalls eine Entschließung verabschiedet, in der die „Überführung von Hunderten von Personen … in das illegale Haftzentrum Guantanamo, in dem Folter und andere Arten der Misshandlung … zahlreichen Zeugenaussagen zufolge an der Tagesordnung gewesen sind“, verurteilt wird, „und fordert die sofortige Schließung des Lagers“. Der Deutsche Bundestag hat wiederholt zur entwürdigenden Behandlung der Gefangenen in Guantanamo und zur Folter unmissverständlich Stellung bezogen. Es gilt heute, diese Position zu bekräftigen. ({5}) Es wird Sie dabei nicht wundern, dass ich für den Antrag der Koalitionsfraktionen werbe. Wir heben in diesem Antrag erstens die Unabdingbarkeit rechtsstaatlicher Mittel beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus hervor. Klar ist - das wurde oft genug betont; vielleicht doch nicht oft genug -: Der Rechtsstaat darf nicht auf dem Wege seiner vorgeblichen Verteidigung verengt und abgeschafft werden. Wir unterstützen zweitens die Bundesregierung und die Bundeskanzlerin ausdrücklich in ihrer öffentlich vorgetragenen kritischen Haltung zu Guantanamo. Wir bekräftigen drittens nochmals unsere grundsätzliche Forderung zur Einhaltung von Menschenrechten und dem Respekt vor den Grundfreiheiten von Gefangenen. Das Lager Guantanamo verstößt gegen alle demokratischen Regeln von Politik, Recht und Moral. Es ist Synonym für einen Ort der Rechtlosigkeit und der totalen Verfügung über Menschen. Da Guantanamo einzig zu dem Zweck eingerichtet wurde, den Rechtsstaat außen vor zu halten, muss dieses Lager geschlossen werden. ({6}) Ich darf Sie um Ihre Zustimmung zum Antrag der Koalitionsfraktionen bitten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege Jung, das war Ihre erste Rede hier im Deutschen Bundestag, wozu wir Ihnen herzlich gratulieren. ({0}) Mir ist mitgeteilt worden, dass zu diesem Punkt eine Debatte zur Geschäftsordnung gewünscht wird. Ich gebe das Wort dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/ Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben volles Haus, weil wir uns über die Frage unterhalten wollen, wie wir jetzt mit diesen Anträgen umgehen. Ich finde, bei einem solch ernsten Thema und bei einer solchen Debatte, bei der so viel Einvernehmen im Hohen Hause gezeigt wird, wäre es gut, wir kämen zu einem gemeinsamen Ergebnis, zu einer gemeinsamen Entschließung. ({0}) Nun habe ich - genau wie andere Redner - angesprochen, dass wir uns an bestimmten semantischen Feinheiten verschiedener Anträge stören. Das ist gar nicht verwunderlich. Dies kann man im Ausschuss glätten und dann zu einem gemeinsamen Text kommen. Das ist eigentlich gute Übung hier im Hohen Hause. Wir haben zum gleichen Thema vier Anträge aus fünf Fraktionen, in denen steht: Guantanamo muss geschlossen werden und die USA müssen sich an Rechtsstaatlichkeit, Völkerrecht und Menschenrechte halten. Ich glaube, es müsste uns gelingen, dies gemeinsam so zu schreiben, dass das Hohe Haus in der nächsten Sitzungswoche einstimmig eine Botschaft in die USA senden kann. Deshalb beantragt unsere Fraktion mit Unterstützung der FDP- und der Linksfraktion, alle vorliegenden Anträge der Fraktionen in die Ausschüsse zu überweisen, in der nächsten Sitzungswoche darüber zu beraten und dann hier im Plenum endgültig darüber abzustimmen. Alles andere wäre wirklich parteipolitische Nickeligkeit. Diese ist diesem Thema aber nun wirklich nicht angemessen. ({1}) Volker Beck ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und von der Union, Sie sind hier zahlreich angetreten, um abzustimmen. Vor der Abstimmung wäre es schön, wenn Sie noch einmal über Folgendes nachdenken: Was wäre das klarste Signal an die Amerikaner? Welches Verhalten von uns würde sie am meisten beeindrucken? Das Beeindruckendste wird sein, wenn wir uns auf einen gemeinsamen Text einigen. Ich glaube, alle Fraktionen sind kompromissbereit genug, um zu sagen, dass es richtig und unterstützenswert ist, dass die Regierung hier eine klare Sprache spricht. Lassen Sie uns diesen Versuch machen. Ich bitte Sie: Stimmen Sie unserem Geschäftsordnungsantrag zu und ersparen Sie uns nachher bei der Abstimmung über die Einzelanträge unterschiedliche Voten. Vielen Dank. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die Koalition hat die Kollegin Dr. Krogmann von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Dr. Martina Krogmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir als Koalition halten es für sinnvoll, über diese Anträge sofort abzustimmen, und zwar aus zwei Gründen: Erstens. Herr Kollege Beck, trotz vieler Gemeinsamkeiten werden in den einzelnen Anträgen wichtige unterschiedliche Akzente gesetzt, die wir nicht glätten wollen. Deshalb halten wir es für unwahrscheinlich, dass es nach den Ausschussberatungen überhaupt zu einem gemeinsamen Antrag kommen wird. ({0}) Zweitens. Wenn wir alle der Meinung sind - dass dem so ist, hat die Debatte gezeigt -, dass dieses Thema sehr wichtig ist, dann sollten wir die Entscheidung darüber nicht vertagen. Wir sollten kraftvoll sofort abstimmen und unmittelbar entscheiden. ({1}) Deshalb beantrage ich für die Koalition, dass über die vorliegenden Anträge sofort abgestimmt wird. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege van Essen hat das Wort für die FDPFraktion.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Krogmann, Ihre Argumentation hat mich überhaupt nicht überzeugt. ({0}) Es verschlägt doch gar nichts, wenn wir in der nächsten Sitzungswoche abstimmen. ({1}) Ich denke, dass die heutige Debatte gezeigt hat, wie breit die Übereinstimmung im Deutschen Bundestag ist. Wenn wir ein Signal aussenden wollen, dann ist es doch wichtig, dass unser Vorgehen vom ganzen Haus unterstützt wird. ({2}) Die Oppositionsfraktionen haben heute deutlich gemacht, dass sie bereit sind, mit Ihnen zusammen einen gemeinsamen Antragstext zu finden. ({3}) Diesen Versuch sollten wir unternehmen. Das ist jedenfalls der Wunsch meiner Fraktion. Wir werden für die Überweisung der Anträge stimmen, damit es ein klares und deutliches Signal des gesamten Deutschen Bundestages gibt. Genau das hat dieses Thema verdient. Vielen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin Enkelmann, bitte, für die Fraktion Die Linke.

Dr. Dagmar Enkelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000479, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir unterstützen den Antrag auf Überweisung aller Anträge an die Ausschüsse. Ich denke, die Debatte hat tatsächlich gezeigt: Es gibt viele Gemeinsamkeiten. Es geht um ein gemeinsames politisches Signal aus diesem Haus. ({0}) Wir hatten unseren Antrag rechtzeitig eingebracht und es gab tatsächlich das Angebot - die Kollegen Parlamentarische Geschäftsführer wissen das -, einen gemeinsamen Antrag zu formulieren. Wir wollten nicht unbedingt auf unser Recht der ersten Nacht pochen; denn wir hätten schon gerne gesehen, dass es zu einem gemeinsamen Antrag kommt. Aber jetzt haben wir die widersinnige Situation, dass vier Anträge zum gleichen Thema vorliegen. Es ist durchaus möglich, aus ihnen einen gemeinsamen Antrag zu machen. Diese Arbeit sollten wir in den Ausschüssen leisten. Deswegen bitte ich Sie alle ganz herzlich: Lassen Sie uns die vorliegenden Anträge gemeinsam an die Ausschüsse überweisen, lassen Sie uns dort einen gemeinsamen Antrag formulieren und lassen Sie uns aus diesem Haus ein gemeinsames politisches Signal aussenden! ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Vielen Dank. - Damit schließe ich die Aussprache zur Geschäftsordnung. Wir kommen zu den Abstimmungen. Die Fraktionen der FDP, der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen beantragen, die Anträge auf den Drucksachen 16/364, 16/431, 16/454 und 16/443 fe- derführend an den Auswärtigen Ausschuss und zur Mit- beratung an den Ausschuss für Menschenrechte und Hu- manitäre Hilfe zu überweisen. Die Koalitionsfraktionen hingegen wünschen sofortige Abstimmung in der Sache. Nach ständiger Übung geht die Abstimmung über den Überweisungsvorschlag vor. Ich bitte diejenigen, die für den Vorschlag auf Überweisung an die genannten Aus- schüsse stimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegen- stimmen? - Enthaltungen? - Dieser Antrag ist hiermit abgelehnt mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion der FDP, der Fraktion Die Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. Wir stimmen daher in der Sache ab. Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/364 mit dem Titel „Guantanamo schlie- ßen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstim- men? - Enthaltungen? - Dieser Antrag ist abgelehnt mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stim- men der Linke-Fraktion und einzelner Abgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der FDP und ei- ner Mehrheit der Abgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen. Damit kommen wir zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/431 mit dem Titel „Für die Einhaltung von grundlegenden Menschenrechten und Grundfreihei- ten beim Umgang mit Gefangenen“. Wer stimmt für die- sen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dieser Antrag ist angenommen mit den Stimmen der Koalition bei Enthaltung der übrigen Mitglieder des Hauses. Ich komme zu Zusatzpunkt 4. Abstimmung über den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/454 mit dem Titel „Für die Schließung von Guantanamo Bay und die Überführung der Gefangenen in rechtsstaatliche Ver- fahren“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstim- men? - Enthaltungen? - Dieser Antrag ist abgelehnt mit den Stimmen von SPD und CDU/CSU gegen die Stim- men der FDP, des Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke. Schließlich kommen wir zum Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/443 mit dem Titel „Rechtsstaatliche Verfahren und Menschen- rechtsschutz für die Inhaftierten in Guantanamo Bay“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Ent- haltungen? - Dieser Antrag ist abgelehnt. Für den An- trag haben gestimmt die Fraktionen der FDP, der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen, dagegen gestimmt haben die Abgeordneten von CDU/CSU und SPD. Ich rufe hiermit die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Thea Dückert, Margareta Wolf ({0}), Matthias Berninger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Die Dienstleistungsrichtlinie verbessern - Das europäische Sozialmodell bewahren - Drucksache 16/373 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Lötzer, Dr. Diether Dehm, Werner Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN EU-Dienstleistungsrichtlinie ablehnen - Drucksache 16/394 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Hierfür ist eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. ({3}) Ich eröffne gleich die Aussprache, wenn die Kolleginnen und Kollegen den Saal verlassen haben, die dieser Debatte nicht folgen möchten. ({4}) - Möglicherweise könnten die Gespräche, die nicht zur Sache gehören, draußen geführt werden. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Ich gebe das Wort der Kollegin Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ({0}) - Auch auf die Gefahr hin, dass es Sie stört: Ich habe Ihnen hier zu einem sehr zentralen Thema etwas mitzuteilen. Meine Fraktion, Bündnis 90/Die Grünen, bringt einen Antrag ein mit dem Titel „Die Dienstleistungsrichtlinie verbessern - Das europäische Sozialmodell bewahren“. Warum? In naher Zukunft, und zwar am 14. Februar, findet in Brüssel eine ganz zentrale Abstimmung über die Dienstleistungsrichtlinie statt, die das Ziel hat, den gemeinsamen Binnenmarkt auf den Dienstleistungsbereich auszudehnen. Auf die Ausgestaltung der Dienstleistungsrichtlinie müssen wir Einfluss nehmen. Die Bundesregierung sucht noch nach ihrer Linie, wie überall zu lesen ist. Wir wollen ihr dabei helfen, ihre Position zu finden, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und der CDU/CSU. ({1}) Worum geht es? Der Binnenmarkt bietet eine große Chance für Europa, der Binnenmarkt im Dienstleistungsbereich allemal. Es könnten - auch in Deutschland - viele Arbeitsplätze geschaffen werden. Diese Chance dürfen wir nicht verspielen. ({2}) Den Antrag bringen wir ein, weil wir verhindern wollen, dass in Europa durch die Dienstleistungsrichtlinie in ihrer jetzigen Form Tür und Tor für Sozialdumping, Lohndumping und Umweltdumping geöffnet werden. Das Ziel, einen Binnenmarkt für den Dienstleistungsbereich zu schaffen, ist richtig. Auf die Ausgestaltung aber müssen wir von der Bundesrepublik Deutschland wie auch von Brüssel aus Einfluss nehmen. Es müssen folgende Schritte umgesetzt werden: Erstens darf das Herkunftslandprinzip nur für den Marktzugang gelten. Dadurch erreichen wir, dass die bürokratischen Hürden für kleinere und mittlere Betriebe beim Zugang auf den Dienstleistungsmarkt in den Nachbarländern abgebaut werden. Zweitens muss bei der Durchführung von Dienstleistungen das Ziellandprinzip gelten. Das bedeutet, dass die sozialen Standards, Umweltstandards und arbeitsrechtlichen Standards der Zielländer gelten, also unsere Standards hier in Deutschland. ({3}) Dadurch müssen sich unsere Verbraucherinnen und Verbraucher nicht durch den Dschungel von 25 Rechtssystemen und 25 unterschiedlichen Standards in Europa kämpfen, wobei die Gefahr besteht, dass sie die Orientierung verlieren. Wir wollen hier zu diesem Thema eine Debatte führen. Sie ist zielführend und es besteht die Chance, dass die Ergebnisse in Europa Realität werden. Evelyne Gebhardt von der SPD hat den Kompromissvorschlag eingebracht. Unser Antrag mit seinen klaren Änderungsvorschlägen, nämlich der Berücksichtigung des Herkunftslandprinzips und des Ziellandprinzips, hat eine Chance auf Umsetzung, wenn wir uns hier einig werden. Ich glaube, im Ziel sind wir uns einig. In unserem Antrag werden noch andere Punkte angesprochen. Auch darüber gilt es zu diskutieren. Wir wollen, dass besonders sensible Bereiche, die vom zuständigen Binnenausschuss des Europäischen Parlaments noch nicht berücksichtigt worden sind - dazu zählen die Bereiche Pflege und Leiharbeit, aber auch Bereiche der Daseinsvorsorge -, aus dieser Dienstleistungsrichtlinie herausgenommen werden. In Deutschland könnte es, auch wenn das Entsendegesetz auf alle Branchen ausgeweitet wird, möglicherweise noch Bereiche geben, die in manchen Regionen oder je nach Branche über Tarifverträge nicht abgesichert sind. Deswegen wollen wir auf Regionen bzw. auf Branchen bezogene Mindestlöhne möglich machen. ({4}) Dieser Weg ist gangbar - das sage ich noch einmal und wird für Deutschland und für Europa große Chancen eröffnen. Er ist gangbar, wenn sich die Koalition an ihren Koalitionsvertrag hält. Damit kommen wir zu des Pudels Kern: Im Koalitionsvertrag steht, dass das Herkunftslandprinzip beim Schutz der sozialen Standards nicht wirklich zum Ziel führt. Herr Koch zum Beispiel hat im Bundesrat einen interessanten Antrag eingebracht, in dem steht, dass das Herkunftslandprinzip nur für den Marktzugang gelten soll; das hat auch Frau Evelyne Gebhardt in Brüssel so vorgetragen. Man könnte meinen, in der Bundesregierung existiere hierzu eine klare Linie. Wo ist das Problem? In Wirklichkeit existiert keine klare Linie. Der Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, Herr Wuermeling, hat in Brüssel sehr viel Energie investiert, damit das Herkunftslandprinzip nicht verändert wird. Er hat sich dem in den Weg gestellt und hat dafür gesorgt, dass gerade die Konservativen in Brüssel diesen notwendigen Veränderungen nicht zugestimmt haben. Er hat sogar klare Worte gefunden und gesagt, dass das eine unredliche Panikmache vonseiten der Linken sei. Ich muss Ihnen übrigens sagen, dass er ganz offensichtlich auch Herrn Koch damit gemeint hat. Nun gut. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition, Sie haben die Chance, an dieser Stelle die Einigung zu finden, nach der Sie suchen, indem Sie sich auf Ihren Koalitionsvertrag beziehen, indem sich die Union zum Beispiel auf einen bestimmten Ministerpräsidenten bezieht und indem wir alle gemeinsam die positiven Chancen, die es im Binnenmarkt für Dienstleistungen gerade auch für die Entwicklung des Arbeitsmarktes in Deutschland gibt, aufgreifen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Redezeit.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss. - Ich möchte noch eine Bemerkung machen, weil hier noch ein zweiter Antrag vorliegt, nämlich der der PDS. Das ist ein ziemlicher Zwitterantrag. Sie rufen in erster Linie zum Boykott der Dienstleistungsrichtlinie und erst in zweiter Linie zu Änderungen auf. Liebe Kolleginnen und Kollegen der PDS, ich glaube, Sie täten den sozialen Standards sowie den Arbeitsrechts- und Umweltschutzstandards in Europa Gutes, wenn Sie von Ihrem Boykott Abstand nehmen und dieses Europa mitgestalten würden; denn ein soziales und ein umweltfreundliches Europa ist möglich. Danke schön. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Laurenz Meyer, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Laurenz Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003592, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der freie Dienstleistungsverkehr ist Bestandteil des EU-Vertrages. In Art. 49 EG-Vertrag ist das vorgesehen. Die Liberalisierung der Dienstleistungsmärkte ist integraler Bestandteil. Das müssen wir einfach sehen. Als Dienstleistungen gelten insbesondere gewerbliche, kaufmännische, handwerkliche und freiberufliche Tätigkeiten. So steht es in Art. 50 des EG-Vertrages. Die Öffnung der europäischen Dienstleistungsmärkte bietet große Chancen für mehr Wachstum und Beschäftigung in Deutschland. Das sollten wir bei all den Diskussionen über Einzelpunkte nicht unterschlagen. Wir haben hochmoderne und leistungsfähige Dienstleistungsbranchen, die von dieser Marktöffnung sehr stark profitieren können. Diese Chancen gilt es zu nutzen. Wir sind bisher Weltmeister beim Export von Industrieprodukten. Wir sollten in Zukunft auch einen Spitzenplatz beim Handel mit Dienstleistungen einnehmen können, wenn wir es richtig anstellen. ({0}) In dem ganzen Konzept ist zu bedenken - das nehmen wir sehr ernst -, dass aufseiten der Bevölkerung, insbesondere der Arbeitnehmerschaft, mit der Liberalisierung der Dienstleistungsmärkte Sorgen verbunden sind, denen durch geeignete gesetzliche Regelungen begegnet werden muss. Deshalb wollen wir die wünschenswerte Liberalisierung in einen geeigneten Rahmen stellen. Das haben wir die ganze Zeit getan. Das wichtigste Ziel ist, drohende Nachteile, etwa gar Sozialdumping, zu vermeiden und auszuschließen. Deshalb ist es wichtig, dass wir jetzt die Dienstleistungsrichtlinie als gesetzlichen Rahmen bekommen, da die Regelungskompetenz für den ganzen Bereich ansonsten ausschließlich dem Europäischen Gerichtshof zufiele. Das kann niemand von uns wünschen. Meine Damen und Herren, wir müssen eine vernünftige Balance zwischen den sozialen und den ökologischen Schutzinteressen einerseits und der Erleichterung des zwischenstaatlichen Handels andererseits erreichen. Deshalb wollen wir eine weitere Öffnung der Dienstleistungsmärkte. Diese Liberalisierung ist im Übrigen auch Teil der Lissabonstrategie, durch die Europa zum dynamischsten Wirtschaftsraum werden soll. Wenn wir hier keine vernünftigen Regelungen finden, dann werden wir dieses Ziel ganz bestimmt nicht erreichen. Deshalb will ich Ihnen hier die Position, die die Union die ganze Zeit verfolgt hat und deren Durchsetzung wir in den letzten Monaten - auch in Abstimmung mit unseren Kollegen im Europaparlament - vorangetrieben haben, noch einmal nennen. Wir haben bisher schon viel erreicht. Ich möchte die Position aber noch einmal wiederholen, damit wir alle den für uns vorgegebenen Rahmen kennen: Erstens. Durch die Richtlinie muss deutschen Unternehmen die Chance gegeben werden, in Zukunft leichter und mehr Aufträge in europäischen Ländern zu erhalten und durchzuführen, und müssen die Voraussetzungen für mehr Wachstum und Arbeitsplätze geschaffen werden. Gleichzeitig wollen wir sicherstellen, dass die Anwendung der Richtlinie in Bezug auf die Erbringung von Leistungen der Daseinsvorsorge und die Ausübung öffentlicher Gewalt eingeschränkt wird. Die Definitions-, Gestaltungs- und Finanzierungshoheit der Mitgliedstaaten bei der Daseinsvorsorge muss unangetastet bleiben und die Besonderheiten von Dienstleistungen im allgemeinen Interesse müssen innerhalb der Richtlinie berücksichtigt werden. Notare, die sich mit der Ausübung öffentlicher Gewalt beschäftigen, und Tätigkeiten, die damit verbunden sind, sind vom Anwendungsbereich der Richtlinie auszunehmen. Der Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie die staatliche Kulturförderung dürfen nicht eingeschränkt oder ausgehöhlt werden. Deshalb ist es unsere Strategie, von dieser Diskussion über das Herkunfts- und Bestimmungslandprinzip wegzukommen und zu einer klaren Regelung der einzelnen Bestandteile zu kommen, die aus unserer Sicht notwendig ist, um das Subsidiaritätsprinzip in Europa sicherzustellen. ({1}) Ich will noch einige Punkte nennen, die von dieser Diskussion um Begriffe klar wegführen, und Ihnen zeigen, an was wir im Einzelnen denken. Wir dürfen unsere nationalen Umwelt- und Sicherheitsstandards sowie unsere Gesundheitsstandards nicht aushöhlen. Das nationale Arbeitsrecht muss in vollem Umfang unberührt bleiben. Das geht bis hin zur Entsenderichtlinie. Hier hat die nationale und nicht die europäische Gesetzgebung den Vorrang. Die Überlassung von Arbeitnehmern muss ebenso wie die Steuerung von Arbeitsmigration nach deutschen Standards geregelt werden. Hier muss die nationale Laurenz Meyer ({2}) Ebene zuständig bleiben. Das geht bis hin zu der Frage, welche Drittstaatenangehörigen in unser Land entsandt werden dürfen. Die Mitgliedstaaten müssen in der Lage sein, all das zu beschließen, was in ihrem Interesse ist und was sie für richtig halten, um den Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Volksgesundheit, Umwelt und die Vorbeugung gegen Risiken vor Ort wirklich sicherzustellen. Das Herkunftslandprinzip - bei dieser Meinung sind wir geblieben, schließlich liegt in der Zusammenarbeit die große Chance - darf sich eben nicht auf Fragen des anwendbaren Zivilrechts und auf das internationale Privatrecht ausdehnen. Dass Verträge nicht nach dem Herkunftslandprinzip gestaltet werden dürfen, ist gerade für die Verbraucher in Deutschland von ganz entscheidendem Interesse; denn wenn es um Dienstleistungen aus dem Ausland geht, wollen die Menschen sichergestellt wissen, dass zum Beispiel Gewährleistungs- oder Schadensersatzansprüche bei uns und nach unserem Recht abgewickelt werden und sie nicht etwa irgendwo in Polen oder Tschechien vorstellig werden müssen. Deutsche Gerichte müssen für diese Bereiche zuständig bleiben. ({3}) Die Finanzierungshoheit im öffentlichen Gesundheitswesen ist sicherzustellen. Im Übrigen - dieser Punkt ist offen, darüber müssen wir in Europa noch sprechen - geht es darum, dass der Gesundheitssektor insgesamt nach unserer Überzeugung von der Richtlinie auszuschließen ist. Das gilt für den staatlichen Bereich, aber nach unserer Meinung auch für private Gesundheitsdienstleistungen. Hier muss die Einbeziehung in die Richtlinie geprüft werden, weil es sich bei dem Gesundheitsbereich in unseren Augen um einen Wachstumssektor handelt. Hier müssen wir unsere Rahmenbedingungen selber gestalten können. Die Anerkennung von Berufsqualifikationen ist ein weiterer Punkt, der nicht durch die Dienstleistungsrichtlinie geregelt werden sollte, sondern durch die dafür vorgesehene Richtlinie, die dann Vorrang haben muss. Die Berufsqualifikation sollte durch eine eigene Richtlinie geregelt werden und nicht durch die Dienstleistungsrichtlinie ausgehebelt werden können. Das heißt, dass die Rahmenbedingungen aus unserer Sicht durch die Dienstleistungsrichtlinie festgelegt werden, diese jedoch subsidiär gilt. Dort, wo Sondertatbestände existieren, die einzeln geregelt werden, gelten diese Sonderregelungen und nicht das allgemeine Rahmenwerk der Dienstleistungsrichtlinie. Das betrifft etwa die Bereiche von audiovisuellen Dienstleistungen oder auch Rechtsanwälte. Diesen Bereich haben wir bereits besprochen. Auch den Bereich Fernsehen oder audiovisuelle Dienstleistungen haben wir im Zusammenhang mit dem Petitor unserer öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten debattiert. Sie sind aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie herauszunehmen und damit nationale Angelegenheiten. Das Gleiche gilt, wenn es um die Bekämpfung illegaler Beschäftigung und die Bekämpfung von Schwarzarbeit geht. Hier dürfen keine Erschwernisse auftreten. Angesichts der geltenden Regelung zur Verwaltungszusammenarbeit bin ich ganz sicher, dass dieser Bereich bisher schon gut geregelt ist und nicht neu gestaltet werden muss. Im Übrigen - das möchte ich abschließend feststellen - sollten Regelungen, die neue bürokratische Lasten wie unnötige zusätzliche Evaluierungsvorschriften oder überzogene Informations-, Berichts- und Prüfungsvorschriften mit sich bringen, konsequent aus der Richtlinie herausgenommen werden, um das, was wir in Deutschland machen, auch auf der europäischen Ebene fortzusetzen. Wenn wir diese Vorstellungen in den Prozess hin zur Verabschiedung der Richtlinie durch das Europaparlament einbringen, dann bin ich optimistisch, dass wir in Europa zu guten Lösungen kommen. Das erreichen wir nicht, indem wir uns verweigern und auf einzelne Begriffe abstellen, sondern indem wir uns hart an der Sache orientieren und uns bemühen, Rahmenbedingungen zugunsten von Wachstum und Arbeitsplätzen zu schaffen, damit in Europa ein wichtiger weiterer Sektor geregelt werden kann. Vielen Dank. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Martin Zeil, FDP-Fraktion.

Martin Zeil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003868, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Diskussion über die Dienstleistungsrichtlinie ist ein Test dafür, wie wir es mit den Chancen des europäischen Binnenmarktes und dem Abbau bürokratischer Hindernisse halten. Jenseits aller Detailaspekte geht es um unsere Vision von Europa: Wollen wir ein Europa auf der Basis von Freiheit und Wettbewerb, das wirtschaftlich zusammenwächst, oder verkrümeln wir uns in einem Akt der Selbsttäuschung in die heimelige Wärmestube des Protektionismus? ({0}) Grüne und Linke - auch Teile der SPD - bevorzugen offenbar die Wärmestube. So wäre zum Beispiel die von ihnen vorgeschlagene Spaltung von Zugangs- und Ausübungsregelungen zwischen Herkunfts- und Bestimmungsländern ein erheblicher Rückschritt gegenüber dem geltenden Recht. Die Bedenkenträger übersehen, dass es im Zeitalter der Globalisierung nicht hilft, wenn man sich in die Furche duckt und hofft, der Wind des Wettbewerbs würde irgendwie an uns vorüberziehen. Frau Merkel hat in Davos zu Recht festgestellt: Der Staat muss loslassen können - das gilt auch europaweit -, wenn wir wieder eine Wachstumsregion werden wollen. ({1}) Die Koalition muss aber den Worten der Kanzlerin auch Taten folgen lassen, Herr Meyer. Sonst riskieren Sie, dass sie zur Frühstücksdirektorin wird. ({2}) Ich zitiere den früheren Wirtschaftsminister Clement, der im Februar 2005 im „Tagesspiegel“ festgestellt hat: Wir brauchen mehr Wettbewerb im Dienstleistungssektor in Europa. Gerade die deutschen Unternehmen sollten in der Richtlinie mehr Chancen als Risiken sehen. Der Mann hatte Recht! Mit der Richtlinie soll endlich europaweit Bürokratie abgebaut werden. Das begrüßen wir schon deshalb, weil aus Europa bisher oft mehr Bürokratie gekommen ist. Die Kritiker der Richtlinie verschweigen, dass der zuständige Ausschuss des Europaparlaments - der Kollege Meyer hat es schon erwähnt - einer Reihe von Anregungen Rechnung getragen hat: Erstens. Bei der staatlichen und kommunalen Daseinsvorsorge bleibt es bei der Definitions-, Gestaltungs- und Finanzierungshoheit der Mitgliedstaaten. Zweitens. Das Arbeitsrecht - auch die Entsendung von Arbeitnehmern - fällt aus dem Herkunftslandprinzip heraus. Weder die Bestimmungen zu Arbeits- und Tarifverträgen noch zum Arbeitsschutz können umgangen werden. Drittens. Die Bekämpfung von Schwarzarbeit und Scheinselbstständigkeit bleibt Sache der Behörden vor Ort und ist durch grenzüberschreitende Verwaltungszusammenarbeit sicherzustellen. Hierbei kommt es darauf an, dass die Kommission endlich Vorschläge für die Umsetzung der grenzüberschreitenden Kooperation der Behörden vorlegt. ({3}) Viertens. Der vereinfachten Verwaltungszusammenarbeit zwischen den Behörden muss ein möglichst breiter Anwendungsbereich eingeräumt werden, damit das Ziel der Entbürokratisierung auch wirklich erreicht werden kann. Dabei muss das Prinzip der Gegenseitigkeit zwischen den Ländern gelten. Die Vereinfachungen müssen auch inländischen Wettbewerbern nutzbar gemacht werden. ({4}) Der Vorschlag des Binnenmarktausschusses garantiert nun dem Zielstaat, dass er seine Gemeinwohlinteressen wirkungsvoll sichern kann. Im Ergebnis bekommen wir keine unbeschränkte, sondern eine kontrollierte Dienstleistungsfreiheit. Wer jetzt noch das Gespenst des Sozial- und Umweltdumpings an die Wand malt, der will oder kann nicht verstehen, was wirklich Sache ist. ({5}) Auch der Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung hinkt mit der Forderung nach einer weiteren Überarbeitung dem aktuellen Stand ein wenig hinterher. Ich habe den Eindruck, dass Herr Staatssekretär Wuermeling, der noch im November des letzten Jahres die Position des Binnenmarktausschusses zu Recht gelobt hat, ihn nicht mehr Korrektur gelesen hat. Laut einem Gutachten des Kopenhagen-Instituts können durch die Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie kurzfristig bis zu 600 000 zusätzliche Arbeitsplätze in Europa - davon allein 100 000 in Deutschland - geschaffen werden. Können wir es uns wirklich leisten, darauf zu verzichten? ({6}) Es geht nicht - das ist ein beliebtes Argument, das auch in einem Antrag steht - um die Interessen von Großunternehmen. Vielmehr geht es hier um die Verwirklichung der Dienstleistungsfreiheit vor allem der kleinen und mittleren Unternehmen, des Mittelstandes also, der in den Sonntagsreden ständig so sehr gelobt wird. Große Unternehmen haben zumeist Niederlassungen im Ausland und brauchen diese Richtlinie am allerwenigsten. ({7}) Gerade der deutsche Mittelstand mit seiner bekannten Qualität hat hier die Chance, grenzüberschreitend zu expandieren, ohne durch absolut widersinnige Hürden behindert zu werden. Nicht protektionistische Ängstlichkeit, sondern Mut zu Wettbewerb und Bürokratieabbau ist das Gebot der Stunde. Wenn wir nicht einmal in Europa diesen Mut aufbringen, wie wollen wir dann eigentlich im Wettbewerb mit anderen dynamischen Regionen der Welt bestehen? ({8}) Lassen Sie mich abschließend an die Adresse der Bundesregierung und insbesondere an die des Wirtschaftsministers Glos sagen: Verbauen Sie dem Mittelstand und den Arbeitsuchenden bei uns, aber auch in anderen Ländern diese Chance nicht! Stehen Sie zu dem, was Ihre Parteifreunde gemeinsam mit den Liberalen im Europaparlament umgesetzt haben! Reden Sie nicht nur von mehr Freiheit, sondern handeln Sie auch danach! Auf unsere Unterstützung können Sie dabei zählen. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Garrelt Duin, SPDFraktion.

Garrelt Duin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003751, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Selten hat ein Richtlinienentwurf der EUKommission für so viel Aufmerksamkeit gesorgt wie dieser; das hat gute Gründe. Ich möchte vorab anmerken, dass es sich künftig lohnen würde, hier und in der deutschen Öffentlichkeit noch öfter und rechtzeitig über solche Richtlinienentwürfe intensiv zu diskutieren. ({0}) Die Dienstleistungsrichtlinie hat in den vergangenen zwei Jahren zu regelrechten Proteststürmen geführt, weil die hinter diesem Entwurf stehende Denkweise - ich bin geneigt, zu sagen: die Ideologie, seinerzeit durch Herrn Bolkestein verkörpert und heute vom Kollegen Zeil noch einmal vorgetragen - Kern des Problems ist. ({1}) Welches Europa wollen wir? So ist die Frage richtig gestellt. Aber im zweiten Schritt geht es um die Fragen: Bedeutet Europa eigentlich mehr als Markt, Markt und nochmals Markt? Überlassen wir Europa denjenigen, die glauben, dass das freie Spiel der Kräfte alles zum Guten wenden wird und dass alleine der Markt die Dinge regeln kann? Diese Fragen und die damit verbundenen Ängste haben unter anderem dazu geführt, dass die Referenden in Frankreich und den Niederlanden negativ ausgegangen sind. ({2}) Immer wieder stoßen wir auf diese Denkweise, zuletzt beim Port Package II. Wir können unseren Kolleginnen und Kollegen aus dem Europäischen Parlament nur gratulieren, dass sie diesen Angriff auf die Beschäftigten in unseren Häfen abgewehrt und das Port Package II versenkt haben. ({3}) Wenn wir Europa so gestalten wollen, dass es von den Menschen, den europäischen Bürgerinnen und Bürgern getragen wird, dann brauchen wir neben dem intensiven Bemühen um Wettbewerbsfähigkeit auch den sozialen Zusammenhalt in Europa. Sozialer Zusammenhalt verkommt zur Worthülse, wenn wir nicht in der Normsetzung, in der Gesetzgebung, wie jetzt hier ganz konkret bei der Dienstleistungsrichtlinie, darauf achten und ihr Geltung verschaffen. Diese Verbindung von dem Bemühen um Wettbewerbsfähigkeit und dem sozialen Zusammenhalt ist unser Anliegen. Natürlich braucht der Wirtschaftsraum der EU einen intensiveren Austausch von Dienstleistungen, sowohl zur Stärkung der Wirtschaftskraft insgesamt, als auch um dem Ziel der Angleichung der Lebensverhältnisse, der Kohäsion, näher zu kommen. Die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen ist wesentliches Element des Binnenmarktes und der Abbau von Hindernissen ist für die Wirtschaftsentwicklung dieses Sektors und nicht zuletzt für die Verbraucher von grundlegender Bedeutung. Aber - auch das hat Frau Merkel in Davos gesagt - diese Freiheit braucht Regeln. ({4}) Ohne oder mit falschen Regeln wird es einen ruinösen Wettbewerb um die niedrigsten Löhne, die niedrigsten Sozialstandards und die niedrigsten Umweltstandards geben. Wir dürfen dabei in der Tat - Herr Meyer hat es angesprochen - nicht vergessen, dass der Dienstleistungsbinnenmarkt mit all seiner Unzulänglichkeit bereits existiert und der Europäische Gerichtshof ihn mit seinen Urteilen gestaltet, allerdings - das will ich hinzufügen - nahezu ungetrübt von der Logik des freien Wettbewerbs. Ruinöser Wettbewerb schadet nicht nur den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, sondern auch den kleinen und mittelständischen Unternehmen. So ist es nämlich zu erklären, dass die Proteste der Gewerkschaften nahezu wortgleich auch von vielen Verbänden, zum Beispiel dem Zentralverband des Deutschen Handwerks - es gab sogar eine Preisverleihung durch mittelständische Unternehmen an die sozialdemokratische Berichterstatterin -, unterstützt werden. Das können Sie nicht einfach wegwischen und sagen, der Mittelstand sei davon begeistert. Das entspricht nicht den Tatsachen. ({5}) Die Kommission hat mit der Vorlage der Dienstleistungsrichtlinie eine große Chance vertan, weil sie mit der Brechstange des Herkunftslandprinzips versucht, eine Überliberalisierung des Binnenmarktes zu erreichen. Das führt zu praxisfernen Ergebnissen und sozialund wirtschaftspolitischen Verwerfungen. Die Kommission hätte der Sache einen viel besseren Dienst erweisen können, wenn sie einen anderen, einen bescheideneren Ansatz gewählt hätte. Es wäre ausreichend gewesen, die zahlreichen Vorschläge zur Erleichterung der grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung zu systematisieren und praxisgerecht auszugestalten. Die Bundesregierung ist zurzeit genauso wie die im Europäischen Parlament vertretenen maßgeblichen Parteien dabei, nach Möglichkeiten zu suchen, diesen Bedenken Rechnung zu tragen. Ich bin der Überzeugung, dass dort, sowohl in der Bundesregierung als auch bei den maßgeblichen Vertretern im Europäischen Parlament, ein guter Weg gefunden werden kann, wenn wir von den zwei folgenden Eckpunkten ausgehen. Der erste Punkt ist, dass der Anwendungsbereich klar definiert wird, und der zweite Punkt ist - Bezug nehmend auf das, was wir im Koalitionsvertrag geschrieben haben -, dass das Herkunftslandprinzip à la Bolkestein nicht die Richtschnur dieser Richtlinie sein kann. ({6}) Bezüglich des Anwendungsbereiches muss klar sein, dass sektorale Richtlinien Vorrang vor der Dienstleistungsrichtlinie haben. Als zentrales Beispiel nenne ich hier die Entsenderichtlinie. Sie ist ein, wie ich finde, sehr gutes Instrument, von dem wir in Deutschland - das sei zugegeben - noch zu wenig Gebrauch machen. Vielleicht - so ist jedenfalls meine Hoffnung - kommen wir im Rahmen der Diskussion über den Niedriglohnsektor bei dem Thema Mindestlöhne dort noch ein Stückchen weiter. Aber vom Regelungsansatz her - das muss man sich vor Augen führen - steht das Herkunftslandprinzip der Entsenderichtlinie diametral entgegen. Während die Entsenderichtlinie gerade die Anwendbarkeit inländischer Normen auf ausländische Dienstleistungserbringer bezweckt, verfolgt das Herkunftslandprinzip den genau entgegengesetzten Ansatz. ({7}) Warum dennoch in Art. 24 und 25 der Dienstleistungsrichtlinie der Versuch unternommen wurde, Teilaspekte der Entsendung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu regeln, bleibt nach wie vor unverständlich. Es ist doch inzwischen jedem klar, dass eine Kontrolle aus dem Herkunftsland des Dienstleistungserbringers heraus nicht stattfinden wird und somit die Gefahr eines rechtsfreien Raumes besteht. Deswegen kann das unsere Zustimmung nicht finden. ({8}) Es muss ebenso geklärt werden, dass alle Bereiche der Daseinsvorsorge unter die Gestaltungshoheit der Mitgliedstaaten fallen. Der gesamte Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge, also Gesundheit, Bildung, Wasser, Abwasser, Abfall und öffentlicher Verkehr, gehört genauso wie die sozialen Dienstleistungen nicht in eine Richtlinie, die vor allem kommerzielle Dienstleistungen regeln soll. Mit der Einbeziehung aller Dienstleistungen, für die Entgelte erhoben werden, wird die sehr unterschiedliche Praxis in diesem Bereich in den 25 Mitgliedstaaten völlig ignoriert. Ebenso wichtig ist - Herr Meyer, ich bin Ihnen für Ihre Aussage zu diesem Punkt sehr dankbar -, dass der gesamte Gesundheitssektor von dieser Richtlinie ausgeschlossen wird. Wichtig ist also, dass nicht nur der öffentliche Bereich ausgeschlossen wird, wie es von manchen - auch von ehemaligen Abgeordneten des Europäischen Parlaments, die jetzt in anderer Funktion ganz nah bei uns sind - gefordert wird. Ich mag mir jedenfalls die Auswirkungen des alten Richtlinienentwurfs, zum Beispiel auf private Pflegedienste, nicht ausmalen. Deswegen sollten wir dafür eintreten - ich wiederhole -, dass der gesamte Gesundheitssektor und nicht nur der öffentliche Bereich von dieser Richtlinie ausgeschlossen wird. ({9}) Das Herkunftslandprinzip widerspricht allen Bemühungen, Standards, die das soziale Europa ausmachen, zu harmonisieren. Ich bin aber der Überzeugung, dass Harmonisierung ein wesentlich besserer Weg ist als ein Wettlauf um die geringsten Standards. Die Berichterstatterin im Europäischen Parlament will unterscheiden - darauf ist schon hingewiesen worden - zwischen dem Zugang einerseits und der tatsächlichen Erbringung einer Dienstleistung andererseits, die dann dem Ziellandprinzip unterliegen müsste. Der Zugang kann demnach nach den Regeln des Herkunftslandes erfolgen, solange klar ist: Dort, wo die Dienstleistung erbracht wird, gelten die Bedingungen ebendieses Ortes. Die Herkunft des Erbringers spielt dann keine Rolle und die Behörden vor Ort kontrollieren die Erbringung der Dienstleistung, nichts anderes. ({10}) Ich glaube, dass diese klare Unterscheidung sowohl im Sinne der anbietenden Unternehmen wie auch der Beschäftigten und der Verbraucher wäre. Dies gilt umso mehr, wenn uns ein deutlicher Abbau von Dokumentationspflichten und Verwaltungsaufwand gelingt. Diese Linie hat - so sind alle Informationen - im Europäischen Parlament eine realistische Chance auf eine Mehrheit. Sie ist konstruktiv, nach vorne gerichtet. Von uns sollte heute das Signal ausgehen, dass wir alle unterstützen, die in diesem Sinne agieren: für einen funktionierenden Binnenmarkt, aber eben auch für ein Europa des sozialen Zusammenhalts, das die Interessen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, Verbraucherinnen und Verbrauchern wie auch von kleinen und mittleren Unternehmen erkennbar schützt. Das verloren gegangene Vertrauen in Europa kann zurückgewonnen werden - ich habe auf die Referenden Bezug genommen -, wenn wir mit dieser Frage verantwortungsvoll umgehen. Vielen Dank. ({11})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Duin, das war Ihre erste Rede in diesem Haus. Ich beglückwünsche Sie dazu sehr herzlich und wünsche Ihnen für die weitere Arbeit alles Gute. ({0}) Nun hat das Wort die Kollegin Ulla Lötzer, Fraktion Die Linke. ({1})

Ursula Lötzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003174, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Tatsächlich hat noch nie ein Vorhaben der Europäischen Kommission in der deutschen Öffentlichkeit eine so breite gesellschaftliche Diskussion ausgelöst wie die EU-Dienstleistungsrichtlinie. Die Zeit, in der weitreichende Entscheidungen hinter verschlossenen Türen in Brüssel getroffen werden konnten, ist vorbei. Menschen mischen sich für ein soziales und ökologisches Europa ein und das begrüßen wir ausdrücklich. ({0}) Folgerichtig stößt diese Richtlinie bei Gewerkschaften, Verbänden der kleinen und mittleren Unternehmen, Sozialverbänden, kommunalen Arbeitgebern und vielen anderen auf einhellige Ablehnung. Doch auf diesem Ohr ist die konservativ-liberale Mehrheit im Europaparlament taub. Das gilt auch für Sie, Herr Meyer. Mit den bisher beschlossenen Änderungsvorschlägen - auch Sie haben sie hier eben im Großen und Ganzen als Ihre vorgetragen - soll das Herkunftslandprinzip nämlich nur abgemildert, aber nicht abgeschafft werden. Länder sollen auf Einhaltung ihrer nationalen Bestimmungen dann bestehen können, wenn dies für den Schutz der öffentlichen Ordnung, der Gesundheit oder der Umwelt unerlässlich ist. Dazu frage ich Sie, Herr Meyer: Wer bestimmt das denn dann? ({1}) Gerade damit wird doch die politische Gestaltung Europas an den Europäischen Gerichtshof abgetreten. Verbraucherschutz, Qualitätsstandards, Leih- und Zeitarbeit sollen weiterhin dem Herkunftslandprinzip unterliegen. Auch mit den aktuellen Änderungsvorschlägen tickt die Bombe für einen uneingeschränkten Dumpingwettbewerb zulasten der Löhne und der Arbeitsbedingungen, der Sozial-, Verbraucher- und Umweltstandards weiter. Mit der völligen Deregulierung des Niederlassungsrechts und den Einschränkungen für kommunale Aufgaben werden demokratische Rechte der Kommunen gerade in der kommunalen Selbstverwaltung und der öffentlichen Daseinsvorsorge ausgehöhlt. Unternehmen aus Ländern mit hohen Standards werden diskriminiert. Entweder werden dann die Vorschriften geschliffen oder die Unternehmen flaggen aus; Briefkastenfirma genügt. Genauso werden kleine und mittlere Unternehmen auf der Verliererstraße enden und nicht profitieren. Die Ersetzung des Herkunftslandprinzips durch die Gesetze, Standards und das Tarifrecht des Landes, in dem die Dienstleistung erbracht wird, ist und bleibt Minimum einer sozialverträglichen Lösung. ({2}) Nach wie vor sollen auch große Teile der öffentlichen Daseinsvorsorge von der Richtlinie erfasst werden. Sie haben einige Ausnahmen genannt, Herr Meyer. Aber zum Beispiel der Bildungsbereich soll nach wie vor erfasst werden. ({3}) Das hat die Europäische Kommission in der Anhörung ausdrücklich bestätigt. Die Vertreterin der Kultusministerkonferenz hat dies als nicht tragbar abgelehnt. Recht hat sie. Das ist mit einem demokratischen und sozialen Bildungswesen tatsächlich unvereinbar. Genauso gilt das für die Pflege und für andere soziale Dienstleistungen. Einzelne Ausnahmen und Erweiterungen der Ausnahmen reichen nicht aus. Die Herausnahme der gesamten öffentlichen Daseinsvorsorge aus dem Geltungsbereich der Richtlinie ist unverzichtbar. ({4}) Die Daseinsvorsorge hat im Geltungsbereich dieser Richtlinie nichts zu suchen. ({5}) Die Regierung hat das mit in der Hand. Ohne ihre Zustimmung im Europäischen Rat wird es keine Richtlinie geben. Vor der Wahl haben SPD und auch die Grünen, Frau Dückert, im Bundestag beschlossen, die EU-Kommission aufzufordern, die Richtlinie zurückzuziehen - diese Aufforderung kreiden Sie uns in unserem Antrag jetzt als Boykott an -; ({6}) eine Folgenabschätzung sollte her; das Herkunftslandprinzip wurde abgelehnt. Auch Sie, Herr Duin, lehnen das Herkunftslandprinzip ab. Gleichzeitig ruft der Vorsitzende Ihrer Fraktion im EU-Parlament, Herr Schulz, in den letzten Tagen zur Bereitschaft zum Kompromiss mit den Konservativen auf, damit die Dienstleistungsrichtlinie auf jeden Fall verabschiedet wird. Das nenne ich Nebelkerzen werfen. ({7}) Ihr Parteivorstand ruft zur Demo auf. Das freut uns. Aber dann müssen Sie auch im EU-Parlament und in der Regierung klare Positionen vertreten. ({8}) Herr Meyer, unter Federführung der Hessischen Landesregierung hat sich der Bundesrat komplett gegen das Herkunftslandprinzip ausgesprochen. Ihre Abgeordneten im Europäischen Parlament aber sind es, die die Ablehnung des Herkunftslandprinzips bisher verhindern und das auch am 15. Februar weiter tun wollen. Frau Merkel war am Montag bei Herrn Chirac. Man solle doch eine gemeinsame Position finden, umarmt sie ihn - aber nicht, um die Richtlinie mit ihm gemeinsam abzulehnen, sondern mit dem Ziel, ihn von seiner konsequenten Ablehnung abzubringen. Das teilen wir nicht. Dieser Entwurf ist insgesamt noch immer schlecht für die Menschen, auch in der aktuellen Fassung, auch mit Ihren Änderungsvorschlägen. Deshalb fordern wir Sie nach wie vor auf - wie es auch in unserem Antrag steht -: Kehren Sie zu Ihrer alten Position zurück, Kolleginnen und Kollegen von der SPD und den Grünen! Lehnen Sie die Richtlinie ab! Statt Herkunftslandprinzip und Privatisierung brauchen wir einen Prozess der Harmonisierung von sozialen und ökologischen Standards in Europa sowie Rahmenrichtlinien für die öffentliche Daseinsvorsorge, die sie vor Privatisierung und Liberalisierung schützen. ({9}) Dafür werden jedenfalls wir am 11. Februar in Berlin und dann auch in Straßburg mit vielen Menschen auf die Straße gehen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Die Demo wird die Aufmerksamkeit für diese Forderung noch erhöhen. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Kollegin Lena Strothmann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Lena Strothmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003699, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Selten ist über den Entwurf einer Richtlinie so intensiv und emotional diskutiert worden. Im Augenblick wird, so kann man sagen, alles in den Ring geworfen, was nur den Anschein von Dienstleistungsfreiheit hat. Viele sehen einen Zusammenhang mit den Fleischerkolonnen aus Osteuropa und den berühmten Fliesenlegern. In Frankreich und den Niederlanden hat der Entwurf sogar die Zustimmung zur EU-Verfassung verhindert. Gemeinsam spiegeln all diese Diskussionen vor allen Dingen die Angst um die Arbeitsplätze wider. Ich bin der Auffassung, dass es grundsätzlich gut ist, diese Diskussion zu führen. Es ist positiv, weil dadurch im Vorfeld eines europäischen Beschlusses ausführliche Beratungen stattfinden. Im Klartext heißt das: Es bestehen Einflussmöglichkeiten bezüglich der EU-Vorgänge. Das ist gut so. ({0}) Ich bin auch froh, dass wir heute mit dieser Debatte zur Versachlichung des Themas beitragen können. Sachlichkeit ist notwendig; denn die Aufgeregtheit um die Dienstleistungsrichtlinie verhindert einen Blick auf die Fakten. Die Dienstleistungsrichtlinie stellt den letzten Teil der Verwirklichung der vier Grundfreiheiten dar. Nach den entsprechenden Regelungen für Personen, Waren und Kapital sollen nun Erleichterungen bei den Dienstleistungen folgen. Die Dienstleistungsfreiheit ist auch eingebunden in den Lissabonprozess. Die Lissabonstrategie strebt einen Dreiklang von Beschäftigung, Wirtschaftsreform und sozialem Zusammenhalt - Stichwort: europäisches Sozialmodell - an. Auch hier lautet ein Ziel: Schaffung von Arbeitsplätzen. Das Potenzial dafür ist da. 70 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts sind mittlerweile Dienstleistungen. Der grenzüberschreitende Teil daran aber ist gering. Beim Güterexport sind wir Weltmeister; auch Fußballweltmeister wollen wir werden. ({1}) Aber wir wollen und müssen auch beim Export von Dienstleistungen stärker werden. Leider ist es so, dass zwischen den Mitgliedstaaten viele Hindernisse bestehen. Viele dienen der Abschottung. Die Kommission hat dies aufgrund einer Reihe von Beschwerden festgestellt. Zwei Beispiele dazu: Ein Aachener Gärtnereibetrieb hatte in England einen Auftrag zur Dachbegrünung. Dafür wurde ein zwölfstündiger Baustellenabsicherungskurs verlangt. Ein Elektroinstallationsauftrag bei der niederländischen Armee ist nicht zustande gekommen, da zuvor eine Prüfung gefordert wurde. Das besondere Problem dabei war, dass sie in holländischer Sprache gefordert wurde. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Dienstleistungsrichtlinie ist als Rahmenrichtlinie konzipiert, die nach außen einen Orientierungsrahmen setzt und nach innen viele Möglichkeiten zulässt. Sie war letztlich unausweichlich und ist in jedem Fall besser als Dutzende von Sektorenrichtlinien, die sich möglicherweise widersprechen. Unnötige Hemmnisse gilt es also abzubauen. Eines ist klar: Standards und Vorschriften müssen sein. Eines aber muss nicht sein: Schikanen, die zur Abschreckung von Mitbewerbern oder gar zur Marktabschottung missbraucht werden. ({2}) Ausländische Dienstleister haben es bei uns relativ leicht, in den Markt zu kommen; das muss man feststellen. Wir dagegen haben es im Ausland erheblich schwerer. Daher wäre unser Nutzen von einer Dienstleistungsrichtlinie erheblich größer. Hier liegen die Chancen für unsere Betriebe und deren Mitarbeiter. Deshalb müssen wir uns in die Gestaltung der Dienstleistungsrichtlinie konstruktiv einbringen. Auf dem ursprünglichen Kommissionstext, dem Bolkestein-Entwurf, herumzureiten, macht dabei eigentlich keinen Sinn mehr. ({3}) Die grundsätzlichen Kritikpunkte sind bekannt: der Anwendungsbereich, das Herkunftslandprinzip, der Umfang der bestehenden Beschränkungen und die Kontrollmöglichkeiten vor Ort. Nun hat der Binnenmarktausschuss des Europaparlaments am 22. November 2005 über 1 000 Änderungsanträge beraten. Mein Kollege Meyer hat eben ausführlich darüber berichtet. Am 14./15. Februar wird das Europaparlament entscheiden. Es wird sicherlich noch Veränderungen geben; das steht fest. Auch die Meinungsbildung im Deutschen Bundestag läuft noch. Anzunehmen ist aber, dass der Vorschlag des Binnenmarktausschusses die künftige Linie des Parlaments und wahrscheinlich auch die der Kommission sein wird. Die Änderungen bedeuten - ich sage das der Vollständigkeit halber -: Unser Arbeitsrecht, unser Sozialrecht und die Anerkennung unserer Berufsabschlüsse bleiben stehen. Auch die Entsenderichtlinie bleibt unberührt. Die Daseinsvorsorge bleibt in unserer Hoheit. Der gesamte Gesundheitsbereich bleibt ausgeklammert. Steuern und internationales Privatrecht werden ausgenommen. Wir können unsere Standards, was Sicherheit und Umwelt angeht, einfordern. Briefkastenfirmen können die Dienstleistungsrichtlinie nicht als Schlupfloch nutzen. Das heißt, den Sorgen über Sozial- und Lohndumping wurde Rechnung getragen. Der Handlungsbedarf für eine Verwirklichung des Binnenmarkts für Dienstleistungen ist durch etliche Urteile des EuGH bestätigt. Würde die Kommission die Dienstleistungsrichtlinie ersatzlos zurücknehmen - wie viele das fordern -, bestünde die Gefahr, dass all die bestehenden Probleme über Einzelklagen gegen jedes einzelne Land in jedem einzelnen Fall gerichtlich geklärt werden. Gerichtsverfahren würden in dem Falle zunehmend zum Korrektiv der Politik. Das kann doch tatsächlich keine Lösung sein. ({4}) Die Akzeptanz der Menschen für die europäische Sache würde nochmals abnehmen. Deshalb lassen Sie uns gemeinsam an der Verwirklichung des Dienstleistungsbinnenmarktes arbeiten! Herzlichen Dank. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Kurt Bodewig, SPDFraktion.

Kurt Bodewig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003051, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute konnten wir lesen, dass laut Eurobarometer mittlerweile 64 Prozent der Deutschen die europäische Einigung als negative Entwicklung ansehen. Bei Themen wie der Dienstleistungsrichtlinie manifestieren sich entsprechende Ängste. Ich glaube, wir alle sind gut beraten, wenn wir solche Sorgen sehr ernst nehmen. Ich will die Gelegenheit nutzen, einige Punkte klarzustellen. Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt die Weiterentwicklung der Europäischen Union. Wir halten diese auch im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie der Bürgerinnen und Bürger für notwendig. Wir sind aber sehr skeptisch, wenn in der Europäischen Union falsche Instrumente entwickelt und zum Handlungsprinzip erhoben werden. Deswegen sage ich: Wir sind für die Öffnung von Dienstleistungsmärkten, aber gegen die Bolkestein-Richtlinie, weil damit der falsche Weg eingeschlagen wird und die Ängste in Deutschland wie in allen anderen Mitgliedstaaten der EU weiter verstärkt werden. ({0}) Herr Zeil, ich will kurz auf Sie zurückkommen. Sie kennen wahrscheinlich andere kleine und mittelständische Unternehmen als die, mit denen meine Kollegen in ihren Wahlkreisen zu tun haben. Es mag sein, dass Sie zum Handwerk einen anderen Zugang haben. Ich kann Ihnen nur sagen, dass die Rechtsanwälte geschützt sind. Aber sie bilden nicht den Mittelstand. Schauen Sie sich also die Situation sehr genau an! Auch in Ihrem Bereich, Frau Strothmann, die Sie Präsidentin der Handwerkskammer Ostwestfalen-Lippe zu Bielefeld sind, wird über dieses Thema sehr intensiv diskutiert. Die Unternehmen haben zum Teil sehr begründete Ängste. Es ist daher richtig, dass wir der Entbürokratisierung bei bestimmten Verfahrensweisen zustimmen, aber nicht der Einführung von Prinzipien, die mit der Bolkestein-Richtlinie in ihrer originären Form vorgesehen waren. Denn diese führen dazu, dass Unternehmen, die sich an Regeln und Standards halten, unter Druck geraten. Das ist eine Form von Inländerdiskriminierung und damit eine sehr reale Gefahr. ({1}) - Ich glaube, dass Sie sich die Berichte des Binnenmarktausschusses und der anderen Ausschüsse des EP sehr genau anschauen sollten, bevor Sie so etwas sagen. Auch wenn man Ausnahmen bildet, hat man nach wie vor ein gültiges Prinzip, mit dem wir uns auseinander setzen müssen. ({2}) Ich sage ganz klar: Keine Aushöhlung von Arbeitnehmerrechten, keine Aushöhlung von Tarifautonomie, keine Verletzung des Tarifvertragsrechts und keine Absenkung von Standards. Ich füge hinzu: Die Proteste der Gewerkschaften gegen die vorliegende Fassung der Kommission und gegen bestimmte Aspekte, die in einzelnen Ausschüssen des Parlaments behandelt wurden, sind berechtigt. Ich will hier deutlich machen: Es geht darum, eine klare Aussage gegen die Aushöhlung der Daseinsvorsorge zu machen. Herr Kollege Meyer, vielleicht noch eine Ergänzung: Das Prinzip der Daseinsvorsorge ist nicht nur von allgemeinem Interesse, sondern aus unserer Sicht natürlich auch von wirtschaftlichem Interesse. ({3}) Ich hätte kein Verständnis dafür, wenn man etwa eine Abwasseranlage installieren will und es dafür noch nicht einmal eine Niederlassung in Deutschland gibt. Ich glaube, in der Diskussion haben sich die Dinge verschoben. Diese Entwicklung ist in Brüssel entstanden. Die PDS macht es sich wie immer relativ leicht und sagt: Wir sind dagegen. Wenn man in der Rolle der Totalverweigerung dagegen ist, kann man hinterher immer sagen, man habe das moralische Recht. Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall. Sie geraten in ein moralisches Unrecht, wenn das Herkunftslandprinzip durch EuGHUrteile dauerhaft bestätigt wird. ({4}) An der Totalverweigerung, wie sie etwa im EP auf der einen Seite bei den Rechtspopulisten, zum Beispiel bei der Independence Party aus Großbritannien, und auf der anderen Seite bei den Linkspopulisten, also in Teilen Ihrer Fraktion, existiert, kann man sehen, dass das Gegenteil von gut nicht immer schlecht ist. Manches ist gut gemeint und in Ihrem Fall auch taktisch. Ich halte diese Position für höchst gefährlich. Über 30 beim EuGH anhängige Verfahren haben gute, brauchbare Anknüpfungspunkte, das Herkunftslandprinzip durchzusetzen. Deshalb ganz klar: Wir sollten zwischen dem Zugang zur und der Erbringung und Kontrolle der Leistung unterscheiden. Es kann nicht sein, dass die Erbringung nach Standards anderer Länder erfolgt und Unternehmen, die hier qualifiziert ausbilden und hohe Standards entwickelt haben - dies ist übrigens auch ein Wettbewerbsvorteil für den Standort Deutschland -, unter Druck kommen, weil sie mit unzulässiger Konkurrenz konfrontiert werden. ({5}) Es gibt im Deutschen Bundestag nach den Beschlüssen vom 9. Juni des letzten Jahres eine klare Position. ({6}) Auch der Bundesrat hat immerhin mit einer 16 : 0-Entscheidung gegen das Herkunftslandprinzip votiert. Ich glaube, das ist eine Verpflichtung. Ich würde mich freuen, wenn wir bei der Abstimmung am 13. bzw. 14. Februar im Europäischen Parlament auch die Kollegen der EVP in Gänze dafür gewinnen könnten, unseren Vorschlägen zu folgen. ({7}) Frau Gebhardt hat mit der Unterscheidung zwischen dem Zugang unter Anerkennung des Herkunftslandsprinzips und der Erbringung und Kontrolle nach den Standards des Ziellands einen wichtigen Anstoß für den Diskussionsprozess gegeben. Das entspricht der Intention des Koalitionsvertrages, also unserer gemeinsamen Position. ({8}) Insofern bin ich sehr zuversichtlich. Es wird sich eine Menge bewegen. Gleichzeitig sage ich aber auch: Wir sollten die Ängste der Menschen ernst nehmen. Die Proteste der Gewerkschaften sind begründet. Wir müssen alles Notwendige dafür tun, dass aus Ängsten keine Realitäten werden. Das können wir, wenn wir gemeinsam konsequent handeln. Dies dient dem Standort Deutschland. Für Europa ist eine europäische Harmonisierung die beste Lösung. Sie führt dazu, dass sich die Menschen nicht hinter Gräben verschanzen, sondern zusammenkommen ({9}) und sagen: Wir wollen gemeinsame europäische Rechte entwickeln. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/373 und 16/394 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen dann zum Tagesordnungspunkt 13: Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Hans-Joachim Otto ({0}), Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Die Modernisierung des Urheberrechts muss fortgesetzt werden - Drucksache 16/262 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist auch dies so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDPFraktion. ({2})

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Urheberrecht ist Eigentumsrecht. Der Schutz durch das Urheberrecht ist eine wesentliche Garantie dafür, dass sich kreative Leistung lohnt. Das Urheberrecht muss deshalb wirksam geschützt werden. Die Notwendigkeit für einen solchen Schutz besteht gerade im Umfeld der digitalen Medien. Im Koalitionsvertrag, Herr Staatssekretär, lesen wir, dass die große Koalition das Urheberrecht zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit machen möchte. Die FDP unterstützt dies ausdrücklich. Mit unserem Antrag nehmen wir die Koalition beim Wort; denn es gibt noch einiges aufzuarbeiten. ({0}) Wir begrüßen, dass die Bundesregierung die Arbeiten am so genannten Zweiten Korb - heute mit einer internen Anhörung im Justizministerium - aufgenommen hat. Wir wollen, dass der Bundestag schnellstmöglich einen Gesetzentwurf vorgelegt bekommt, der die Rechtsstellung der Urheber und ausübenden Künstler im digitalen Umfeld wirklich stärkt. ({1}) Das Justizministerium hat Anfang des Monats den Referentenentwurf aus der vergangenen Legislaturperiode wieder hervorgeholt. Es war nicht mehr möglich, ihn weiter zu beraten. Er hatte damals schon in einigen Punkten heftige Kritik erfahren. Ich sage ausdrücklich: Wir begrüßen einige Regelungspunkte in diesem Referentenentwurf. Ich darf hier die Regelungen zu den unbekannten Nutzungsarten, zum Verzicht auf Cessio legis bei den Filmherstellern und zum Pressespiegel erwähnen. Ich möchte aber, Herr Staatssekretär, ganz klar sagen: Zentrale Punkte, die wir kritisieren, sind unverändert. Das gilt etwa für die Bagatellklausel, die wir dezidiert ablehnen. ({2}) Es ist rechtspolitisch verfehlt, rechtswidrige Vervielfältigungen in geringer Zahl von vornherein von der Strafbarkeit auszunehmen. In der öffentlichen Wahrnehmung käme die Bagatellklausel einer faktischen Legalisierung privater Urheberrechtsverletzungen gleich. Wenn wir uns aber darüber einig sind, dass wir das Urheberrecht stärken wollen, dann wäre genau dies das falsche Signal. ({3}) Niemand käme doch auf die Idee, den Diebstahl von Büchern in geringer Anzahl für straflos zu erklären, wenn der Täter die Bücher nur für den eigenen Gebrauch stiehlt. Mit dieser absurd klingenden Begründung will jetzt das Justizministerium die Schlechterstellung des geistigen Eigentums gegenüber dem Sacheigentum rechtfertigen. Wir hoffen, dass es angesichts der kontroversen Debatte zu diesem Punkt innerhalb der Bundesregierung doch noch zu einer Änderung im Entwurf kommt. Kulturstaatsminister Neumann hat sich ausdrücklich unserer Haltung angeschlossen. ({4}) Deshalb fordere ich Sie auf: Streichen Sie diese Klausel aus Ihrem Referentenentwurf und legen Sie uns dann den Gesetzentwurf vor. ({5}) Ich hoffe, dass wir ansonsten eine entsprechende Korrektur mit einer Mehrheit hier im Hause vornehmen können. Das zweite Thema unseres Antrages ist das Urhebervertragsrecht. Es wurde vor knapp vier Jahren umfassend geändert, um die Stellung der Urheber und der ausübenden Künstler zu stärken. Wir, die FDP, haben auch in der Opposition dieses Anliegen immer unterstützt. Wir haben aber zugleich immer zu bedenken gegeben, dass der Gesetzgeber bei einer Beschränkung der Privatautonomie auf einem schmalen Grat wandert. Auch die Bundesregierung hat das neue Urhebervertragsrecht seinerzeit als „juristisches Neuland“ bezeichnet. Aus diesem Grund brauchen wir einen soliden Zwischenbericht über die ersten praktischen Auswirkungen des neuen Urhebervertragsrechts. Wir wissen: Es liegen erste Urteile dazu - einige Verfahren sind auch noch anhängig in nächsten Instanzen - vor. Der Gesetzgeber, wir als Parlamentarier müssen in die Lage versetzt werden, mögliche Fehlentwicklungen rechtzeitig zu erkennen und auch zu korrigieren. ({6}) Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, dem Bundestag einen solchen Bericht über das Urhebervertragsrecht vorzulegen. Am liebsten wäre es uns, wenn Ihnen das bis zum Sommer gelingen würde. ({7}) Es wird gewiss eine Zeit dauern, bis sich Routine bei der Anwendung des neuen Urhebervertragsrechts einstellt. Manche Fragen müssen durch die Gerichte geklärt werden. Eine nachträgliche Anpassung des vertraglich Vereinbarten durch die Gerichte muss aber auch im Urheberrecht die Ausnahme bleiben. Das neue Urhebervertragsrecht baut auf die Vernunft und den Respekt der Beteiligten vor den legitimen Interessen des jeweils anderen. Deshalb würden weder die prinzipielle Verweigerung der einen Seite noch überzogene Forderungen der anderen Seite dem Anliegen des neuen Urhebervertragsrechts gerecht. Da die große Koalition dieses Thema zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit macht, bin ich mir sicher, dass jetzt auch Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, unseren Antrag in den Beratungen unterstützen werden. Recht herzlichen Dank. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Günter Krings, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Günter Krings (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003574, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Dem Antragsteller gebührt zunächst Dank dafür, dass er das Urheberrecht nach fast drei Jahren der parlamentarischen Abstinenz wieder einmal zum Gegenstand einer Debatte in diesem Hohen Haus gemacht hat. ({0}) Die politische Aufmerksamkeit für dieses komplizierte Gebiet kann gar nicht hoch genug sein; denn das geistige Eigentum ist sowohl kulturpolitisch als auch wirtschaftspolitisch, aber nicht zuletzt auch rechtspolitisch von höchster Bedeutung. ({1}) Wenn wir den Wohlstand unseres Landes erhalten wollen, werden wir dies nicht allein damit erreichen können, dass wir Kohle fördern, Stahl produzieren, uns gegenseitig die Haare schneiden oder die Pizza nach Hause bringen. Es sind die Köpfe, die Ideen und geistigen Leistungen der Menschen in Deutschland, die unseren Reichtum ausmachen und auf denen unsere wirtschaftlichen Chancen im 21. Jahrhundert ruhen. ({2}) Die Aufgabe der Politik ist daher nicht mehr und nicht weniger, als geeignete Rahmenbedingungen für kreative Leistungen, aber auch für ihre wirtschaftliche Verwertung zu schaffen. Sosehr ich mich deshalb zunächst über den FDP-Antrag gefreut habe, so war ich beim Durchlesen der zwei mageren Textseiten dann doch etwas enttäuscht. ({3}) Viel Neues hat der Antrag nun wirklich nicht zu bieten. Statt inhaltlicher Aussagen verbrauchen Sie viel Tinte, um die Chronologie des Urheberrechts aus den vergangenen Jahren nachzuerzählen. ({4}) Vielleicht war das auch nötig und aus Ihrer Sicht geboten, um den Parlamentsneulingen eine gewisse Einführung in das Thema Urheberrecht zu geben. Wenn das die Absicht war, dann verstehe ich das natürlich. Hinter Ihre erste und offenbar zentrale Forderung, die Arbeiten am so genannten Zweiten Korb der aktuellen Urheberrechtsnovelle wieder aufzunehmen, können wir allerdings einen Haken machen. Ihrer Aufmerksamkeit ist offenbar entgangen, dass die Arbeiten hieran längst wieder unter Dampf stehen. Die betroffenen Verbände haben den Referentenentwurf zur Stellungnahme erhalten. Gerade heute Morgen hat wenige hundert Meter von hier im Bundespresseamt eine große Verbändeanhörung dazu stattgefunden. Der Kollege Manzewski und ich waren dort zugegen und haben uns mit dem Thema noch einmal eingehend befasst. Umgekehrt vermisse ich im Antrag jeden Hinweis auf die notwendige Umsetzung der Durchsetzungsrichtlinie der Europäischen Union. Diese Richtlinie fordert die Staaten der Europäischen Union bekanntermaßen auf, den Opfern von Verletzungen des geistigen Eigentums einen zivilrechtlichen Auskunftsanspruch zu gewähren. Auskunft erteilen muss danach insbesondere ein Internetprovider, dessen Portal für die Rechtsverletzung genutzt wurde. Die Einführung eines solchen Anspruchs ist eine ebenso berechtigte wie dringende Forderung der Urheberrechtswirtschaft. Es wird daher auch auf die genaue Ausgestaltung des Anspruches ankommen. Wenn wir gerade nicht wollen, dass der Staatsanwalt bei allen Urheberrechtsverletzungen tätig wird, so brauchen die Opfer ein effektives Mittel des zivilrechtlichen Schutzes ihrer Rechte. ({5}) Unser Verständnis als Unionsfraktion ist es jedenfalls nicht, Eigentumspositionen nur gesetzlich zu definieren. Ich hoffe, jetzt für das ganze Haus sprechen zu können: Wir wollen Eigentumspositionen nicht nur gesetzlich definieren, sondern den Berechtigten auch die Mittel an die Hand geben, sie gegenüber Störern durchzusetzen und zu verteidigen. Mit Ihren Ausführungen zum Urhebervertragsrecht sprechen Sie immerhin ein vor allem für den deutschen Buchmarkt wichtiges aktuelles Thema an. Wenn Sie allerdings laut Ihrem Antrag bis zur Jahresmitte von der Bundesregierung Berichte haben wollen, zum Beispiel über die bislang ergangene Rechtsprechung, den Abschluss gemeinsamer Vergütungsregeln oder über die Bewertung der Gesetzesänderung durch die betroffenen Kreise, so frage ich mich schon, ob Sie mit einem simplen Rechercheauftrag an den Wissenschaftlichen Dienst nicht eher und besser etwas erreicht hätten. ({6}) Ihnen scheint es hier offenbar weniger um politische als um Wissensfragen zu gehen. Dabei bleibt das Urhebervertragsrecht natürlich auch in der aktuellen Wahlperiode ein hochsensibles Thema. Dessen rechtstatsächliche Entwicklung müssen wir sorgfältig verfolgen. Der Gesetzgeber hat mit dem Anspruch auf angemessene Vergütung vor vier Jahren - Sie haben es eben zitiert, Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger - auch nach Aussagen der damaligen Bundesregierung gesetzgeberisches Neuland betreten. Die Frage nach der angemessenen Vergütung ist letztlich die ganz alte, aber ungelöste Frage nach dem gerechten Preis. Den Gesetzgeber trifft daher umso mehr die Pflicht, zu beobachten, was die Praxis aus einer solch allgemeinen Vorgabe macht. Wir sind als Bundestag gut beraten, auch die Sorgen der Verlagswirtschaft bei diesem Thema ernst zu nehmen. Die jüngsten Gerichtsentscheidungen zur Frage der Übersetzerhonorare können vor allem manch kleineren Verlag in Bedrängnis bringen. Profitieren werden letztlich wohl eher die wenigen Übersetzer, die das Glück haben, einen Bestseller zu übersetzen. Zu befürchten ist hingegen der Rückgang fremdsprachlicher Übersetzungen auf dem deutschen Buchmarkt. Dann könnten die Mischkalkulationen vieler Verlage untergraben werden, wonach gut verkaufte Bücher viele unrentable Projekte mittragen müssen. Ich finde es jedenfalls kulturpolitisch allemal sympathischer, dass Verlage in Deutschland ihr Programm selbst quer subventionieren statt nach staatlichen Subventionen zu rufen. ({7}) Dass die Übersetzerhonorare nach der Novelle des Jahres 2002 tendenziell steigen, kann wiederum niemanden ernsthaft überraschen. Denn immerhin hatte schon die Begründung des Regierungsentwurfes ausdrücklich auf die vermeintlich mangelnde Angemessenheit der Übersetzervergütung hingewiesen. Ich würde mir aber wünschen, dass Verlage und Übersetzer in den nächsten Monaten noch einmal einen ernsthaften Versuch machen, zu fairen und vernünftigen Regeln zu kommen. ({8}) Bundestag und Bundesregierung sind gut beraten, diese Bemühungen positiv zu begleiten. ({9}) Ein kurzfristiges Eingreifen der Gesetzgebung wird es in dieser Frage daher nicht geben können. Das fordert der Antrag der FDP - das will ich Ihnen zugestehen - zu Recht nicht. Für den Bundestag sollte die erste Priorität jetzt darin bestehen, den bis zum Rand gefüllten Zweiten Korb der Urheberrechtsnovelle und die Einführung eines Auskunftsanspruches zu einem guten Abschluss zu bringen. Der Referentenentwurf aus dem Justizministerium bietet eine gute Grundlage für die Beratungen. Den Fachleuten aus den Ministerien gebührt bereits jetzt unser Dank für die hochkomplexe schwierige Arbeit, einen gesetzgeberischen Pfad durch den Dschungel der mitunter sehr gegensätzlichen Interessen im Urheberrecht zu schlagen. Erfreulich ist etwa, dass der Entwurf davon absieht, aus der Erlaubnis der Privatkopie ein durchsetzungsstarkes Recht auf Privatkopie zu machen. Der Referentenentwurf markiert aber natürlich nicht das Ende, sondern den Beginn einer politischen Diskussion, die im Bundeskabinett und dann vor allen Dingen auch hier im Deutschen Bundestag geführt werden muss. Das gilt insbesondere - aber nicht nur - für die so genannte Bagatellklausel. ({10}) Ich begrüße es sehr, dass unser Kulturstaatsminister Bernd Neumann vor einigen Tagen sehr klare Worte zum Wert des Urheberrechts im Allgemeinen, aber auch zur Problematik dieser Klausel gefunden hat. ({11}) Diese Klausel nützt meines Erachtens niemandem so richtig, schadet aber dem geistigen Eigentum. ({12}) Schon heute und nach geltendem Recht - das ist wichtig, festzuhalten - klagen die Staatsanwaltschaften Urheberrechtsverletzungen zu Recht gar nicht an, wenn sie nur ein geringes Ausmaß annehmen. Die Bagatellklausel könnte allerdings die Rechtsunsicherheit vertiefen und dies in einem Bereich, in dem die Grenze zwischen Rechts- und Unrechtsbewusstsein - das wissen wir alle schon sehr verschwommen ist. Die von Raubkopien betroffenen Unternehmen haben in der Vergangenheit erhebliche Anstrengungen unternommen, um die Menschen für strafbare Handlungen im Bereich des Urheberrechts zu sensibilisieren. Diese Arbeit darf der Gesetzgeber nicht konterkarieren, indem er mit der Einführung einer Bagatellklausel bestimmte Urheberrechtsverletzungen als Kavaliersdelikt darstellt. ({13}) Das Signal wäre nämlich ebenso eindeutig wie problematisch, ja sogar falsch: Geistiges Eigentum wäre danach eben doch nicht so richtig Eigentum. Niemand würde ernsthaft auf den Gedanken kommen, beispielsweise eine vergleichbare Bagatellklausel für den Diebstahl beweglicher Sachen zu fordern. Ein § 242 a Strafgesetzbuch zum Beispiel, der etwa den Diebstahl von Oberhemden straffrei stellt, wenn der Täter sie anschließend selber trägt oder allenfalls an enge Freunde verschenkt, würde zu Recht als Niederlage des Rechtsstaates gewertet werden. ({14}) Es ist ganz offensichtlich und, wie ich finde, auch absolut in Ordnung, dass es innerhalb unserer großen Koalition hierzu noch einiges zu besprechen gibt. Ich bin zuversichtlich, dass uns eine Einigung vielleicht auch - hören Sie gut zu - über die große Koalition hinaus gelingen kann. Auch beim Ersten Urheberrechtskorb in der letzten Wahlperiode lagen die Positionen anfangs weit auseinander. Aber es ist uns dennoch gelungen, zwischen Regierung und Opposition einen Kompromiss auszuhandeln. Wir sind damit der langen parlamentarischen Tradition gefolgt, gerade im Bereich des Urheberrechts zu möglichst konsensfähigen Lösungen zu kommen. Ich will aber auch an eines erinnern: Eine Partei ist damals ausgeschieden. Die FDP hat diese Tradition durchbrochen und sich dafür entschieden, Profilierung vor die Suche nach einem Kompromiss zu setzen. ({15}) Ich hoffe einmal, dass der Antrag, den Sie jetzt hier vorlegen, nicht die Fortsetzung dieser Strategie ist. Es wäre schon wichtig, dass wir gemeinsam den Versuch starten, einen sachgerechten Kompromiss zu finden. ({16}) Ich gestehe Ihnen freimütig zu: Es ist ein gut gemeinter Antrag. Nur leider wissen wir alle, dass gut gemeint oftmals das Gegenteil von gut ist. Danke schön. ({17})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich erteile das Wort der Kollegin Frau Dr. Lukrezia Jochimsen, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Lukrezia Jochimsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003777, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Auch die Fraktion Die Linke begrüßt den gut gemeinten Antrag der FDP und stimmt den darin genannten Argumenten größtenteils zu. Das Urheberrecht muss modernisiert werden - keine Frage. Allerdings: Geistiges Eigentum im digitalen Zeitalter zu schützen, lässt sich natürlich leicht fordern, ist aber nur äußerst schwer durchzusetzen in einem Land, in dem über 40 Prozent der Haushalte über einen CD- und DVD-Brenner und 60 Prozent der Bürger über einen Internetzugang verfügen. Wofür sind wir? Wir sind für ein Recht auf Privatkopie ({0}) - ja, natürlich -, wohlgemerkt zum privaten, nicht zum gewerblichen Gebrauch. Aber was machen wir angesichts des massenhaften Kopierens zu nicht gewerblichen Zwecken, das es ja auch gibt? Wir wollen die Millionen Kinder und Jugendlichen, die das tun, nicht kriminalisieren. Aber es muss etwas geschehen, wenn sie massenhaft auf CDs oder DVDs kopierte Musik und Filme nutzen und weitergeben; denn wir sind natürlich gegen den Diebstahl geistigen Eigentums. Wir wollen, dass Künstlerinnen und Künstler, Autorinnen und Autoren sowie Übersetzerinnen und Übersetzer eine angemessene Vergütung für ihre Werke bekommen. Mit einem kommen wir dabei auf keinen Fall weiter: mit der Einführung einer Bagatellklausel. ({1}) Sie würde genau das schwächen, was unsere Gesellschaft dringend braucht: das Rechtsbewusstsein, welches geistiges Eigentum respektiert und es nicht zu einem x-beliebigen Schnäppchen degradiert, welches man sich jederzeit zum Nulltarif besorgen kann. ({2}) Das Beispiel mit den Hemden wurde bereits angesprochen. Dem könnte ich hinzufügen: Dann könnten wir auch gleich „Ladendiebstahl unter 20 Euro“ legalisieren. Mit der Einführung einer Bagatellklausel kommen wir hier auf keinen Fall weiter. Die Novelle des Urhebervertragsrechts aus dem Jahr 2002 war ein erster Schritt, die verfassungsrechtlich gebotene angemessene Vergütung der Urheber durchzusetzen. ({3}) Die PDS hat diesem Gesetzentwurf zugestimmt, vor allem deshalb, weil in ihn auch der Rechtsanspruch auf angemessene Vergütung aufgenommen worden war. In einem Entschließungsantrag haben wir damals weiter gehende Forderungen aufgestellt. Wir hatten nämlich Zweifel daran, dass es zwischen Urhebern und Verwertern tatsächlich zu einem fairen Interessenausgleich kommen würde. Die Entwicklung hat gezeigt, dass unsere Zweifel vollkommen berechtigt waren. Unser Entschließungsantrag wurde damals übrigens abgelehnt. ({4}) Nun muss ein Ordnungsrahmen geschaffen werden, der Kreativität und Innovation fördert und damit zum Erhalt und Wachstum unserer nationalen und der europäischen Kunst beiträgt. Wir meinen, dass eine Stärkung der Rechte und Wirkungsmöglichkeiten der Kunstschaffenden dringend notwendig ist, wobei die öffentliche Zugänglichkeit ihrer Werke natürlich gewährleistet bleiben muss. Dabei sind wir uns im Klaren, dass es ohne Verwerter nicht möglich ist, für die öffentliche Zugänglichkeit der Werke zu sorgen. Aber in seinem Kern muss ein Urheberrecht ein Recht für die Urheber bleiben und kein Recht für die Verwerter sein. Der Staat darf sich nicht für die Durchsetzung der Partikularinteressen der Medienindustrie, der Entertainmentkonzerne und der Computer- und Druckerhersteller einspannen lassen. ({5}) In diesem Sinne hoffen wir auf eine gründliche Diskussion mit allen Beteiligten und unterstützen insbesondere die Forderung nach einer bilanzierenden Berichterstattung über die Folgen der jetzigen Regelung. Danke schön. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Bundesregierung hat nun der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach das Wort. ({0})

Alfred Hartenbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002669

Frau Präsidentin! Verehrtes Präsidium! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich rede heute für das Bundesjustizministerium und möchte gleich vorweg eines sagen: Da ich möchte, dass der Konsens aller fünf Fraktionen bestehen bleibt, verzichte ich auf eine Bewertung dessen, was bisher gesagt worden ist; denn ich glaube, das ist besser. ({0}) Verehrte Frau Leutheusser-Schnarrenberger, dem Antrag, den die FDP-Fraktion eingebracht hat, können wir allerdings nicht zustimmen. ({1}) Ich will auch begründen, warum: Erstens. Wenn Sie die letzten Jahre einmal an sich vorüberziehen lassen und sich erinnern, werden Sie feststellen, dass die Bundesregierung wiederholt in verschiedenen Ausschüssen des Deutschen Bundestages über die Arbeiten am Referentenentwurf zum so genannten Zweiten Korb des Urheberrechts berichtet hat. Wir haben diesen Entwurf allerdings nicht mehr ins Kabinett gebracht, weil ab Mai Wahlkampf war und wir eben eine konsensfähige Entscheidung wollten; wir wollten ihn uns nicht im Wahlkampf zerreden lassen. ({2}) Selbstverständlich ist und bleibt die zügige Modernisierung des Urheberrechts das Ziel dieser BundesregieParl. Staatssekretär Alfred Hartenbach rung; das haben wir ja gesagt. Ich kann mich jetzt sehr kurz fassen, weil Herr Krings bereits etwas dazu gesagt hat und vermutlich auch Herr Manzewski noch etwas dazu sagen wird. Heute hat eine Anhörung stattgefunden, die genau in diese Richtung weist. Ich denke, wir alle werden zu einer vernünftigen Regelung kommen. ({3}) Deswegen ist Ihre Aufforderung, dass wir etwas tun sollen, völlig überflüssig, so überflüssig wie ein Kropf; wieder einmal tragen Sie Eulen nach Athen. ({4}) - Seien Sie nicht so neugierig, Herr Koppelin. ({5}) Kommen wir zum nächsten Punkt, zum Urhebervertragsrecht. Es ist richtig, dass wir mit dem Urhebervertragsrecht etwas Neues gemacht haben: Wir wollten vor allen Dingen, dass die Vertragsparteien nicht irgendwo eine starre Gebührentabelle haben, wie wir das von den Architekten und den Anwälten kennen, sondern dass sie die Honorare aushandeln, dass die Kreativen eine gerechte Entlohnung bekommen - aber auch die Verlage haben ihr Existenzrecht. Nur so können wir Kultur und Kunst in Deutschland am Leben erhalten. Für die Belletristik ist eine einvernehmliche Regelung ja bereits gelungen. Zurzeit verhandeln Übersetzer und Verleger miteinander und sie haben bekundet, dass auch sie nach wie vor an einer einvernehmlichen Lösung interessiert sind. Deshalb bieten wir an, wenn es gewünscht wird, wieder als Mediator aufzutreten, wie wir das als Bundesministerium der Justiz schon einmal getan haben. Aber schon jetzt, nach einer so kurzen Zeit, zu evaluieren, ergibt keinen Sinn. Dann würden wir möglicherweise die eine Seite bevorzugen, was die Konsensfähigkeit, die wir wollen, wieder konterkarieren würde. Sie haben uns aufgefordert, auf europäischer Ebene für die Stärkung eines Urheberrechts einzutreten. Verehrte Frau Kollegin, das ist so selbstverständlich, dass wir dazu nicht erst aufgefordert werden müssen. ({6}) Wir können höchstens sagen: Wir unterstützen die Bundesregierung sehr gern. Ein Letztes. Unser Altmeister Hucko, Ministerialdirektor und langjähriger Abteilungsleiter, hat einmal gesagt: Das Urheberrecht ist eine ewige Dombaustelle. Wir wollen doch etwas erreichen. Dann fordere ich Sie alle auf: Fühlen Sie sich als Dombaumeister! Ich will Ihnen gerne dabei helfen. Vielen Dank. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Jerzy Montag, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Dr. Krings, nicht alles, was Sie gesagt haben, verdient und bekommt meine Unterstützung. Aber da, wo Sie Recht haben, sage ich aus vollem Herzen und gerne: Ja, richtig! Zu dem Antrag der FDP, über den wir heute zu diskutieren haben, ist zu sagen: Er ist zu 50 Prozent überholt, weil die Bundesregierung schon gemacht hat, was Sie hier einfordern; sie hat die Arbeit bereits aufgenommen. ({0}) Es ist der jetzigen Koalition leicht gefallen, das zu tun, weil sie auf gute und weit reichende Vorarbeiten der alten Regierung, von Rot-Grün, hat zurückgreifen können. Die andere Hälfte Ihres Antrags ist eine Aufforderung. Dazu ist ja schon gesagt worden: Das hätte man auch mit einer schlichten Abfrage machen können. Aber nutzen wir die Gelegenheit, einmal über das Urheberrecht zu reden und weisen wir darauf hin, dass das Urheberrecht nicht nur die eine Seite im Blick haben kann, nämlich die Urheber von geistigem Eigentum: Wissenschaftler, Künstler, Schauspieler, Übersetzer oder wen auch immer. Sie alle schaffen geistiges Eigentum doch aus dem Grund, damit andere daran teilhaben können. Sie schaffen es für die Nutzer, für die Konsumenten, für die Rezipienten ihrer Werke. Zwischen diesen beiden Seiten stehen die wirtschaftlich Mächtigen: die Verwertungsgesellschaften und die große Geräteindustrie, die die Mittlergeräte bereitstellt. Meine Damen und Herren von der FDP, Ihr Antrag krankt daran, dass Sie bei der Gestaltung des Urheberrechts nach Ihren Vorstellungen den Nutzer von geistigem Eigentum überhaupt nicht im Blick haben. Er ist nicht Bittsteller auf dem Markt, sondern muss in einer modernen Wissensgesellschaft auch eine Rechtsposition haben. Ich will hierzu nur einen Satz aus Ihrem Antrag zitieren. Sie schreiben: Auch bei der künftigen Weiterentwicklung und Modernisierung des Urheberrechts müssen die Interessen der Urheber und Leistungsschutzberechtigten deshalb stets im Zentrum der rechtspolitischen Überlegungen stehen. Ich sage Ihnen: Nein, das reicht nicht aus. Auch diejenigen, die die Werke rezipieren, diejenigen, für die die Werke gemacht werden, müssen Rechte haben. In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass im vorliegenden Referentenentwurf in einem Punkt Verbesserungsbedarf besteht - das werden wir in den Beratungen noch zur Sprache bringen -: Im Ersten Korb haben wir, und zwar einvernehmlich bis auf die FDP, die Privatkopie - damit meine ich nicht die illegale Raubkopie - als eine erlaubte Kopie rechtlich ausgestaltet. ({1}) - Aber selbstverständlich. Sie kennen das Gesetz nicht. Sie haben an der Arbeit offensichtlich nicht mitgewirkt. Wir haben die Privatkopie im Urheberrecht ganz klar als eine legale Kopie definiert. Nun müssen wir in der digitalen Welt auch dafür sorgen, dass das durchgesetzt werden kann und dass die Menschen das Recht nicht nur auf dem Papier bekommen. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Otto?

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage. Herr Kollege Otto, wir werden darüber noch in den Ausschüssen zu reden haben. ({0}) Deswegen ist es wichtig, dass die Bundesregierung und die große Koalition bei der Bagatellklausel bleiben. Hier habe ich Befürchtungen und Hoffnungen gleichermaßen. Wir müssen uns darüber klar werden, was damit tatsächlich gemeint ist: Darunter fällt nicht die massenhafte Herstellung von Raubkopien, sondern die Herstellung von Kopien durch Kinder, Jugendliche und junge Menschen, die eine andere Beziehung zu CDs haben. Wir Grünen wollen nicht, dass die Polizei und die Staatsanwaltschaften auf die Schulhöfe gehen und dort mit dem Mittel des Strafrechts agieren. In diesem Fall bedarf es anderer Mittel. Wir werden uns in den Ausschüssen darüber noch zu unterhalten haben. Ich glaube, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, dass wir auch in diesem Punkt zum Schluss einen guten Kompromiss finden werden. An uns soll es jedenfalls nicht scheitern. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort für die SPD-Fraktion der Kollege Dirk Manzewski.

Dirk Manzewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um es gleich vorweg deutlich zu sagen: Herr Kollege Otto, ich habe relativ wenig Verständnis für den heute hier debattierten Antrag der FDP-Fraktion. ({0}) Von Ihnen wird die weitere Modernisierung des Urheberrechts angemahnt. Dabei weiß die FDP doch ganz genau, dass die Arbeiten hierzu kurz vor dem Abschluss stehen. Bereits Ende der letzten Legislaturperiode lag der erste Referentenentwurf vor. Wäre es nicht zu der vorgezogenen Bundestagswahl gekommen, stünden wir vermutlich kurz vor der Verabschiedung des Gesetzes. Herr Kollege Otto, die neue Bundesregierung hat dieses Gesetzgebungsverfahren zügig aufgegriffen - das muss man positiv werten - und den ersten Referentenentwurf überarbeitet. Auch dieser zweite Referentenentwurf ist den Fraktionen bereits zugegangen. Es ist schon angesprochen worden, dass im Bundespresseamt vor einigen Stunden die letzte große Verbandsanhörung hierzu endete. Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, anstatt Anträge zu stellen, hätte man vielleicht die Angebote, die das BMJ an uns alle gerichtet hat, annehmen sollen. Dann wäre man nämlich hervorragend über den Stand des Gesetzgebungsverfahrens informiert gewesen. ({1}) Ich gehe davon aus, dass es in Kürze zu Ressortabstimmungen kommen wird und dass der Entwurf in Kürze auch dem Kabinett vorgelegt wird. ({2}) Da das alles der FDP bekannt ist, kann ich die Kritik überhaupt nicht nachvollziehen - dies umso weniger, als man ganz genau weiß, wie komplex das Thema Urheberrecht ist und wie vielfältig die Interessen der Beteiligten sind. Auch deshalb halte ich persönlich gar nichts davon, jetzt einen Einzelpunkt wie die Bagatellklausel herauszugreifen und hier zu debattieren. ({3}) Das wird sicherlich ein Streitpunkt sein, über den wir später intensiv diskutieren müssen. Auch ich habe meine Bedenken, ob es immer richtig ist, die Probleme auf die Justiz zu schieben, anstatt gesetzgeberisch konsequentere Lösungen zu suchen. Ich meine aber, dass wir dieses Problem im Gesamtkontext behandeln müssen. Deshalb gehört dieser wichtige Streitpunkt auch zu der umfassenden Diskussion über den so genannten Zweiten Korb und nicht hierhin. Sie mögen dann Ihre entsprechenden Anträge stellen. Soweit die FDP mit ihrem Antrag quasi eine Evaluierung des Urhebervertragsrechts begehrt, sind die Gründe dafür für mich nun wirklich nicht ersichtlich. Zumindest meine ich, dass ein solcher Antrag verfrüht ist. Als wir das Urhebervertragsrecht geschaffen haben, waren wir uns alle darin einig, dass die Entlohnung der Urheber angemessen zu sein hat. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, dass die FDP damals eine andere Auffassung vertreten hat. Durch § 36 Urhebergesetz haben wir es den Beteiligten freigestellt - der Herr Staatssekretär hat es deutlich gemacht -, sich zusammenzusetzen und entsprechende gemeinsame Vergütungsregeln als Indiz für eine solche Angemessenheit aufzustellen. Das macht auch Sinn, da die entsprechenden Leistungen derart vielschichtig und vielseitig sind, dass sich der Gesetzgeber insoweit tunlichst heraushalten sollte. Leider haben es die Verbände in der Folgezeit zunächst nicht geschafft, hier auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Erst mithilfe des BMJ als Mediator ist es im letzten Jahr zumindest zwischen den Autoren und den Verlagen der Belletristik zu einer einvernehmlichen Lösung gekommen. Diese Vorgehensweise soll, soviel ich weiß, auch zwischen den Verlagen und den Übersetzern angedacht sein. Schon deshalb kommt Ihr Antrag etwas zu früh. ({4}) Kollege Otto, selbst wenn wir als Gesetzgeber solche Vergütungsregeln festsetzten, würden sie nicht vor Gerichtsverfahren schützen. Wenn man sich Ihren Antrag genau durchliest, erkennt man, dass genau diese Kritik darin enthalten ist. Wenn sich ein Autor oder ein Übersetzer trotz gemeinsamer Vergütungsregeln unterbezahlt fühlt, kann er dies gleichwohl gerichtlich klären lassen. Das war bereits vor In-Kraft-Treten des Urhebervertragsrechts so - das müssten Sie eigentlich wissen - und wird auch immer so sein. Wenn die Gerichte in einigen Fällen in der Vergangenheit festgestellt haben, dass die beanstandete Entlohnung im Einzelfall nicht angemessen gewesen ist, sollten die Verlage dies nicht einfach monieren, sondern sich einmal Gedanken darüber machen, ob sie ihren Übersetzern in dem einen oder anderen Fall nicht vielleicht doch zu wenig gezahlt haben. Ich habe in den streitbefangenen Fällen, die ich alle durchgearbeitet habe, nicht den Eindruck erlangt - den Bereich der Nebenrechte nehme ich einmal aus, da ich hier eine etwas andere Auffassung vertrete als die derzeitige Rechtsprechung -, dass die Verlage durch diese Entscheidung überobligatorisch belastet worden sind. Im Übrigen - Sie haben es selbst angesprochen - liegen meines Wissens bislang nur erstinstanzliche Entscheidungen vor. Ich meine, wir sollten ruhig abwarten, bis sich eine gefestigte Rechtsprechung herausgebildet hat. Ich gehe nicht davon aus, dass die Justiz damit große Probleme hat, weil das ihren originären Bereich betrifft. Alles in allem sehe ich derzeit keinen Handlungsbedarf. Wir werden Ihren Antrag deshalb zurückweisen. Ich danke Ihnen. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/262 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Koczy, Thilo Hoppe, Undine Kurth ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Für starke soziale und ökologische Standards in der Internationalen Finanz-Corporation ({2}) der Weltbank - Drucksachen 16/374, 16/466 Berichterstattung: Abgeordnete Bernward Müller ({3}) Hellmut Königshaus Michael Leutert Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Gabriele Groneberg, SPD-Fraktion. ({4})

Gabriele Groneberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003540, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich könnte fast genauso anfangen wie der vorherige Redner. Ich habe vom Grundsatz her Verständnis für den vorliegenden Antrag der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen, weil es für die jetzige Oppositionsfraktion natürlich verführerisch ist, die Beschlüsse des Bundestages der letzten Wahlperiode, die wir zusammen gefasst haben, zu nehmen und daraus einen neuen Antrag zu formulieren, um das Ganze zu toppen. Ich muss aber ganz ehrlich zugeben, dass mein Verständnis da auch schon aufhört. Bei den Inhalten stellt man nämlich fest, dass die Forderungen in weiten Teilen bereits erfüllt sind oder sich auf Befürchtungen beziehen, die sich in der vorangegangenen Diskussion als nicht stichhaltig erwiesen haben, weil sie durch entsprechendes Handeln widerlegt worden sind. Einig sind wir uns sicherlich insoweit, als das oberste Ziel der IFC als Teil der Weltbankgruppe die Armutsbekämpfung durch Förderung einer nachhaltigen Entwicklung sein soll. Dies ist ausdrücklich als Ziel der IFC definiert worden; denn die Überarbeitung der Umweltund Sozialstandards, der Safeguard-Policies, um die es hier geht, soll dazu beitragen, eine bessere Orientierung zur Entwicklungspolitik zu erreichen. Einig sind wir uns sicherlich auch insoweit, als eine Überarbeitung der sozialen und ökologischen Standards, ebendieser Leitlinien, zwingend notwendig ist. ({0}) Gerade weil es in der Vergangenheit von den unterschiedlichsten Seiten Kritik an den Safeguard-Policies gegeben hat, gerade weil man bei der Weltbank und ihren Töchtern erkannt hat, dass eine bessere Balance zwischen ökologischen, ökonomischen und sozialen Zielsetzungen herzustellen ist, ist eine Neufassung der Safeguards so wichtig. Selbstverständlich muss man sehr wohl darauf achten - Frau Koczy, da sind wir uns einig -, dass man nicht hinter das bisher verbindliche Regelwerk für die Projekte der IFC zurückfällt. Das strategische Rahmenwerk, das hier entwickelt wird, soll die alten Safeguards ersetzen. Nach breit angelegten Konsultationsprozessen werden die bisherigen Entwürfe des Rahmenwerkes überarbeitet. Der dritte und endgültige Entwurf wird vermutlich erst Ende Februar vorliegen. ({1}) Wir haben gestern im Ausschuss darüber gesprochen, dass wir uns dann mit diesem Entwurf ausführlich beschäftigen werden. Selbstverständlich haben wir uns bereits mit der Überarbeitung der bisherigen Richtlinien befasst. Es ist ja nicht so, als wären sie vom Himmel gefallen. Bereits im Jahre 2004 haben wir uns mit dem von der Weltbank in Auftrag gegebenen Untersuchungsbericht zur Wirksamkeit von Projekten der Weltbank im Bereich Rohstoff- und Energiepolitik auseinander gesetzt. ({2}) Die Ergebnisse unserer Beratungen haben wir in einem Beschluss des Bundestages festgehalten, den wir gemeinsam gefasst haben. Die damit verabschiedeten Forderungen sind auch für unsere Beratungen zu den neuen Richtlinien aktuell und nicht etwa überholt; sie gelten nach wie vor. ({3}) - Frau Koczy, Sie wissen doch ganz genau, dass unsere Positionen im laufenden Diskussionsprozess eingebracht worden sind. ({4}) - Natürlich hat es etwas genützt; das können wir doch feststellen. Ich werde Ihnen das gerne noch einmal erläutern. Uns und bestimmt auch Ihnen - es ist ja nicht so, dass nur wir diese Informationen bekommen; auch Sie werden sie erhalten haben - liegen zu den kritischen Punkten, die Sie vorgetragen haben, schriftliche Aussagen des BMZ und des deutschen Vertreters bei der Weltbank, Herrn Eckhard Deutscher, vor, die Ihre Befürchtungen entkräften. Demnach sind bei den Beratungen der IFC folgende Punkte vom BMZ und von Herrn Deutscher als unabdingbar deutlich gemacht worden - ich will sie kurz nennen, weil dadurch deutlich wird, worum es geht -: Erstens. Die allgemeine Konsistenz von IFC- und Weltbank-Safeguards muss sichergestellt bleiben und es darf kein Absenken der Standards erfolgen. Die Standards - darin sind wir uns einig - müssen sozial und ökologisch ausgewogen sein. Zweitens. Die im Rahmen des Extractive Industries Review vereinbarten Empfehlungen müssen Berücksichtigung finden. ({5}) Darin sind wir uns ebenfalls einig. Drittens. Bei den Fragen der Umsiedlung und Kompensation muss weiterhin das Prinzip gelten, dass dadurch kein Betroffener schlechter gestellt wird. ({6}) Auch darin sind wir uns einig. Viertens. Durch explizite Bezugnahme auf einschlägige internationale Abkommen und Konventionen sollen Definitionen präzisiert und internationales Recht gestärkt werden. Auch dagegen ist nichts einzuwenden. Fünftens. Die Umsetzungsvorschriften zu den Performance-Standards müssen eindeutige Definitionen und Benchmarks enthalten. Auch dagegen ist nichts zu sagen. Ich stelle deshalb fest: Wir alle wollten einen Revisionsprozess. Die neue Bundesregierung setzt sich massiv dafür ein, dass das neue strategische Rahmenwerk eine positive Weiterentwicklung der alten Safeguards sein wird. Insofern kann ich Ihre Sorge nicht teilen, liebe Frau Koczy, dass zum Beispiel die Änderung, die Umwelt- und Sozialverträglichkeit von vornherein als Zielvorgabe zum überprüfbaren Bestandteil von Projekten zu machen, statt sie wie bisher durch Auflagen sicherzustellen, zwangsläufig dazu führen wird, Standards im sozialen und ökologischen Bereich zu schleifen. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass es jetzt offensichtlich erstmalig gelingen wird, im Performance-Standard Nr. 2 „Labor and Working Conditions“ einschlägige ILO-Konventionen zu verankern. Das war bisher nicht gegeben. Ich frage mich, wie Standards verwässert werden können, wenn bei der Berücksichtigung der Rechte indigener Bevölkerung im Performance-Standard Nr. 5 Entschädigungen auch für Personen vorgesehen werden, die keinen Landtitel vorweisen können? Diese Befürchtung haben Sie in unserer gestrigen Diskussion vehement zum Ausdruck gebracht. Ebenso unberechtigt finde ich Ihr tiefes Misstrauen gegenüber der Privatwirtschaft. Warum soll nicht auch der Investor eine umfassende Abschätzung und Überprüfung im Hinblick auf soziale und umweltrelevante Belange vornehmen? Sicherlich muss man dann - das ist doch der Knackpunkt - bei der Überprüfung dessen, was er vorgelegt hat, durchaus kritisch vorgehen. Bei dieser Überprüfung, die anschließend durch das IFC erfolgt - das ist doch sichergestellt - muss darauf geachtet werden, dass das Vorhaben auch anständig ist. ({7}) Wie im Übrigen auch Herrn Trittin bekannt ist, sind bei Bauprojekten in Deutschland ähnliche Verfahrensweisen üblich. Der Investor legt Unterlagen zur Prüfung vor und muss gegebenenfalls noch einmal nacharbeiten. ({8}) Ich frage mich allen Ernstes, ob Sie wollen, dass so hohe Hürden für Projekte errichtet werden, dass sie sich für einen Investor wirtschaftlich nicht mehr lohnen. Das könnte durchaus passieren. ({9}) Ich gebe Ihnen zwar Recht, Frau Koczy, dass die Prüfung durchaus zum Drahtseilakt werden kann, aber dann muss eben eine Abwägung unter Berücksichtigung aller Interessen erfolgen. Dass hier Rolle und Verantwortlichkeiten zwischen der IFC und dem Kunden klar definiert und getrennt werden, kann ich nicht als negativ empfinden. Wichtig ist in jedem Fall - das will ich gern noch einmal betonen - die kritische Überprüfung der eingereichten Analysen. Ich denke, die klarere Trennung der Verantwortlichkeiten wird dabei hilfreich sein. Die Einführung des Development-Impact-Reporting, des jährlichen Berichts über den Entwicklungsbeitrag der IFC-Aktivitäten, ist positiv zu bewerten. Ich denke, dieser Bericht wird zukünftig von allen interessierten Seiten mit großer Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen werden und die notwendige Transparenz schaffen. Im Übrigen teile ich nicht Ihre Auffassung, dass der von Ihnen vorgelegte Antrag eine Konkretisierung oder Präzisierung - wie auch immer - des damals von uns gemeinsam erarbeiteten Antrags zur nachhaltigen Rohstoff- und Energiepolitik der Weltbank darstellt. Da liegen wir nicht auf einer Linie. Ihr Antrag ist im Prinzip als erledigt zu betrachten. Es wird Sie deshalb sicherlich nicht wundern, dass wir ihn ablehnen. Danke schön. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Hellmut Königshaus, FDP-Fraktion. ({0})

Hellmut Königshaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003709, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit April 2003 überarbeitet die IFC ihre Sozial- und Umweltstandards. In diesen fast drei Jahren hat die Weltbanktochter mit Umweltaktivisten, Menschenrechtsgruppen und Gewerkschaften, aber auch mit ihren Partnern, den Banken, Investoren und Verbänden, gesprochen und die Standards diskutiert. Der Diskussionsprozess wurde in aller Breite öffentlich geführt. Die IFC und alle Gremien waren daran interessiert, dass er auch von politischer Seite begleitet wurde. Der Termin, bis zu dem Vorschläge erbeten waren, war der 25. November 2005. Nun kommt eine Woche, bevor die Ergebnisse des Diskurses bekannt gegeben werden sollen, aber nach dieser Frist, eine Ideensammlung der Grünen. Wenn man polemisch sein wollte, würde man sagen: Guten Morgen, liebe Freundinnen und Freunde! Schön, dass Sie aufgewacht sind! Darauf hat die Welt gewartet. ({0}) Wieso kommen Sie erst jetzt mit Ihren Vorschlägen? Sie waren doch all die Jahre in der Regierung. Warum haben Sie dort nicht damals das umgesetzt, was Sie jetzt so ausdrücklich fordern? Wir sind offenbar fraktionsübergreifend - zu diesem Schluss kommt man, wenn man sich an die Ausschussberatung erinnert - der Auffassung, dass wir Ihrem Antrag nicht folgen sollten. Wir wollen erst einmal abwarten, was der dritte Entwurf bringen wird. ({1}) - Natürlich warten wir. - In ihm werden Standards beispielsweise in den Bereichen Soziales, Umwelt und Arbeitsbedingungen - ich will nicht alle aufzählen; das ist nur eine Auswahl - und in einem ergänzenden Papier die entsprechenden Sanktions- und Überwachungsmöglichkeiten beschrieben. Warum wollen Sie also vorab draufsatteln, abgesehen davon, dass sich niemand darum kümmerte, was wir jetzt beschließen würden, wenn wir es denn täten? Ich vermute Folgendes: Die IFC fördert und finanziert vor allem privatwirtschaftliche Investitionen in Entwicklungsländern. Ich glaube, dass das der eigentliche Grund ist, warum Sie noch einmal draufsatteln wollen. Ihnen ist das Ganze schon aus ideologischen Gründen suspekt. Jedenfalls hat man den Eindruck, dass es Ihnen nicht darum geht, in der Sache voranzukommen, sondern darum, die Arbeit der IFC zu erschweren. Sie wollen mehr Bürokratie, obwohl wir gerade in diesem Bereich eine Entbürokratisierung bräuchten. Genau das ist das Problem: Überbürokratisierung und Aufblähung der Apparate. Das, was Sie wollen, ist nichts anderes als ein Beschäftigungsprogramm beispielsweise für Consultants und Anwälte. Dann kann man gleich eine Behörde schaffen, die gängelt, überprüft und überwacht. Ich habe den Eindruck, dass Sie, die Grünen, die privaten Anleger und Investoren mehr überwachen wollen als unsere Partner in der Bundesregierung und bei den Nachrichtendiensten. ({2}) - Wieso ist das eine Unverschämtheit? Sie wollen keinen Untersuchungsausschuss, wohl aber, wie wir gehört, Coca-Cola zunehmend strengeren Assessments unterwerfen. Erledigen Sie hier erst einmal Ihre Aufgaben! Verstehen Sie eigentlich nicht, dass gerade die privaten Investitionen in den Entwicklungsländern von besonderer Bedeutung sind? ({3}) Denn gerade diese sind es doch, die dauerhafte Arbeitsplätze schaffen, die Menschen in Lohn und Arbeit bringen sowie einen sozialen Aufstieg ermöglichen. ({4}) Die privaten Investitionen dürfen nicht behindert, sondern müssen gefördert werden. Es ist beinahe unverantwortlich, dass Sie nun auch noch die Nutzung der innovativen Technologien in den Entwicklungsländern einschränken und Ihren Standards, die ja nicht denjenigen der Entwicklungsländer entsprechen, unterwerfen wollen. Vor allem das von Ihnen geforderte Verbot der grünen Gentechnik ist im Hinblick auf die Entwicklungsländer abwegig. ({5}) Die EU hat sich ja um die betreffenden Fragen schon gekümmert. Sicherlich wird uns das in Europa noch einiges bescheren. Auch das ist auf Ideologie zurückzuführen. Aber Ideologie muss man sich leisten können. Ich glaube, dass die Entwicklungsländer das nicht können. Wir lehnen Ihren Antrag ab. Kehren Sie zur Sacharbeit zurück und hören Sie auf, draufzusatteln! Danke schön. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Bernward Müller, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Bernward Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fordert in ihrem Antrag die Einführung stärkerer sozialer und ökologischer Standards bei der Internationalen Finanzgesellschaft, der IFC, einem Tochterunternehmen der Weltbank. Da meine Kollegin Groneberg schon auf bestimmte Kritikpunkte eingegangen ist, die Sie gestern im Ausschuss angesprochen haben, habe ich nun die Möglichkeit, einige andere Aspekte in den Focus zu bringen. Einerseits möchte ich meine Sorge darüber zum Ausdruck bringen, wie Sie gestern - das machen Sie sicherlich auch nachher - diesen Antrag vorgetragen und begründet haben, um nicht zu sagen, mit welcher „Urgewald“ Sie zu Werke gegangen sind. Urgewalt kann man mit d oder t schreiben; Sie wissen, was ich meine. ({0}) Das läuft meiner Ansicht nach alles wieder nach dem alten Schema ab: Sie zeichnen ein Horrorbild, Sie schüren Ängste, Sie schüren Misstrauen und dann kommen Sie mit Ihren Lösungen. Die Lösungen heißen einfach immer: mehr Kontrolle, mehr Staat, mehr Aufwendungen für die Unternehmen, letztendlich auch teurere Aufwendungen. ({1}) Eines muss ich Ihnen sagen - Herr Kollege Trittin ist ja auch da -: Wir haben auf nationaler Ebene bereits erlebt, dass diese Wege nicht zu Lösungen führen. Denken wir an das Beispiel Ökoaudit. Wir haben das Ökoaudit in Deutschland eingeführt und waren in Europa, was die Teilnehmerzahl angeht, das führende Land. Die Teilnehmerzahl hat sich erheblich reduziert - das lässt sich nachweisen -, als für die Unternehmen der Eindruck entstand, dass es zu einer zusätzlichen Belastung und zu keiner Entlastung bei der Kontrolle kommt. Somit hatten wir nicht ein Mehr an Ökologie, sondern letztendlich eine Flucht aus der Ökologie bzw. eine Flucht in niedrigere Standards. Ich denke, das wollen auch Sie nicht. Das wollen wir alle nicht. ({2}) Ich habe zum anderen auch die Gelegenheit, hier einige Aspekte unserer entwicklungspolitischen Arbeit, der Arbeit der Fraktionen und der Bundesregierung, darzulegen. Unser Ziel ist es, die Wirksamkeit der deutschen Entwicklungspolitik zu steigern. Dazu gehört auch eine effizientere Gestaltung der bi- und multilateralen Organisationsstrukturen und Instrumente. Zur Verbesserung der kooperativen Bewältigung der globalen Herausforderungen wollen wir die Weiterentwicklung internationaler Einrichtungen und weltweit gültiger Regelwerke voranbringen. Dazu gehört auch, dass die Reformen der Institutionen der Weltbank fortgesetzt werden. ({3}) Ende der 90er-Jahre hat die Weltbank angefangen, neue ökologische und soziale Standards und neue Prüfverfahren einzuführen. Diese Politik soll Umwelt und Menschen und, weil Sie gerade die indigenen Völker ansprachen, auch das Naturerbe vor Zerstörung und den Auswirkungen von Projekten schützen, die in den 80erJahren berechtigte Kritik hervorgerufen haben. ({4}) - Sie wissen doch ganz genau, dass diese Kritik das auslösende Moment für das Umdenken bei den Institutionen der Weltbank war. Bernward Müller ({5}) Heute müssen sich private Investoren und Exporteure an den von der Weltbank gesetzten Standards messen. Sie lassen sich messen und das bringt ihnen Vorteile; denn das ökologische und soziale Siegel der Weltbank auf ihren Projekten eröffnet ihnen Wege zu neuen Finanzierungsmöglichkeiten. Ich nenne hier als Beispiel die Hermesbürgschaften. Die Fortentwicklung dieser Richtlinien ist in unserem Interesse, da wir uns den effizienten Einsatz der vorhandenen Mittel zum Ziel gesetzt haben. Die Weltbank hat die Erkenntnisse aus dem so genannten Salim-Report umgesetzt. Dr. Emil Salim empfahl, eine Balance zwischen ökologischen, ökonomischen und sozialen Zielsetzungen herzustellen. Dazu sollte die Weltbank unter anderem ihre Umwelt- und Sozialstandards reformieren und effektiv umsetzen. Gute Regierungsführung und Achtung der Menschenrechte sowie Korruptionsverhinderung sollten im Bereich der Firmen und Regierungen Fördervoraussetzung werden. Die Forderungen aus dem Salim-Report decken sich mit den Leitvorstellungen, die im Koalitionsvertrag formuliert sind und zu denen wir uns bekennen. Die drei Säulen nachhaltiger Entwicklungsarbeit - Umwelt, Wirtschaft und Soziales - sind gleichberechtigte und grundlegende Faktoren entwicklungspolitischen Handelns. Dazu wollen wir dem Aspekt der guten Regierungsführung ein stärkeres Profil geben. Die Stärkung von Good Governance ist das zentrale Bestimmungselement unserer künftigen Entwicklungszusammenarbeit. ({6}) Nachhaltige Entwicklung kann nur dort stattfinden, wo gute Regierungsführung die Grundlage für die Entfaltung der Selbsthilfekräfte in einer Gesellschaft legt. Doch auch für die Fälle von Bad Governance müssen wir uns im Rahmen einer pragmatischen Entwicklungspolitik rüsten. „Transformation“ ist ein wichtiges Stichwort, wenn es um den Umgang mit Gewaltökonomien und Projekten in Bürgerkriegsländern geht. Die Union begrüßt daher, dass Weltbank und IFC planen, am 21. Februar 2006 die im Salim-Report geforderten Maßnahmen zu beschließen. Zu Ihrem Antrag ganz konkret: Es ist eine Neuauflage des schon erwähnten Antrags aus dem Jahre 2004. Was Sie vorlegen, ist zwar gut gemeint; aber sowohl im sachlichen Bereich als auch in Bezug auf neue Ansätze kann ich keine wesentlichen Unterschiede zu dem bereits genannten Antrag erkennen. ({7}) Ich sehe daher weder in der Sache noch in der politischen Dimension eine Neuerung gegenüber der gegenwärtigen Beschlusslage des Deutschen Bundestages und der Regierungspraxis. Aus diesem Grunde lehnen wir diesen Antrag ab. Ich möchte noch zwei Punkte erwähnen: Erstens. Was nützen uns Standards, wenn wir sie nicht kontrollieren? Die Bundesregierung wird in Zukunft die Aufgabe haben, die sozialen und ökologischen Standards auf ihre Effektivität und auf ihre Umsetzbarkeit hin zu überprüfen. Dazu brauchen wir auch ein Monitoring. Das haben Sie in Ihrem Antrag gar nicht erwähnt. Die Bundesregierung ist also gefordert, auch auf dem Gebiet des Controllings tätig zu werden. ({8}) Zweitens; damit nehme ich Bezug auf einen Antrag, den die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bereits in der letzten Legislaturperiode gestellt hat. Ich sehe ein Missverhältnis von finanzieller und personeller Beteiligung Deutschlands an den internationalen Institutionen. Ich wiederhole hier, was ich gestern gesagt habe: Deutschland stellt 2,7 Prozent des Personals der Weltbank, während die Beitragsquote Deutschlands bei 4,5 Prozent liegt. Ein Vergleich mit den Vereinigten Staaten: Deren Personalquote liegt bei 25 Prozent, während die Kapitalquote bei 16,9 Prozent liegt. Auch diesen Aspekt müssen wir beleuchten, auch das dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren, um deutsche Interessen angemessen vertreten zu können. Es bleibt festzuhalten, dass die Reform der Umweltund Sozialstandards der Weltbank und ihrer Institutionen ein großer Schritt für die Wirksamkeit entwicklungspolitischer Arbeit sein wird. Die Bundesregierung ist aufgerufen, diese Fortentwicklung unterstützend zu begleiten und die Umsetzung der neuen Maßstäbe kontinuierlich zu überprüfen. Herzlichen Dank. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich erteile das Wort dem Kollegen Alexander Ulrich, Fraktion Die Linke. ({0})

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die IFC hat ihre Aufgabe, die Förderung von Privatinvestitionen in Entwicklungsländern zum Zwecke der Armutsreduzierung, in der Praxis bisher nicht ausreichend erfüllt. Zu ihren Geschäftspartnern und Nutznießern gehören vornehmlich Großkonzerne wie CocaCola, Exxon Mobil oder Halliburton. Wie das prägnante Beispiel der Tschad-Kamerun-Ölpipeline zeigt, wird die Weltbank ihren eigenen bisherigen Standards nicht gerecht. Es sollte ein Musterprojekt werden, um Ölreichtum in direkten Nutzen für die Armen umzusetzen. Das Gegenteil ist erreicht: bisher entschädigungslose Enteignungen, rapide steigende Gesundheitsprobleme der Bevölkerung und erneute Arbeitslosigkeit der Wanderarbeiter, die die Pipeline gebaut haben. Auf eine von der Weltbank selbst geforderte Umweltverträglichkeitsstudie wurde bei der Projektrealisierung verzichtet. Der Plan für die Einrichtung von zwei Nationalparks als Kompensation für die beim Bau der Pipeline geschädigten Waldgebiete existiert nur auf dem Papier. Seit Juli 2003 fließt Öl durch die Pipeline. Die Ziele der Armutsreduktion wurden nicht hinreichend verfolgt. Für den Tschad ist zudem eine dramatische Verschlechterung der Menschenrechtslage zu beobachten. Wie dieses Beispiel eindrucksvoll zeigt, ist die Weltbank nur vordergründig eine Institution zur Finanzierung entwicklungsorientierter Projekte. Das genannte Beispiel ist leider kein Einzelfall. Die Nichteinhaltung der Umwelt- und Sozialstandards ist vielmehr typisch für IFC-Projekte. Die Profite, die Interessen der privaten Kreditnehmer stehen an erster Stelle; Menschen und Umwelt geraten in den Hintergrund. Die IFC will nun am 21. Februar einen neuen Regelentwurf verabschieden. Bisher liegen uns ebenso wie dem Bundesministerium nur die so genannten Performance-Standards vor. Wir sehen in dieser Neuabfassung der Standards eine völlige Abkehr von bisherigen Normen und Regeln. Die neuen Standards übertragen sehr viel Verantwortung auf die Kunden der IFC, sprich: auf die Konzerne, und lassen dem IFC-Management erhebliche Spielräume in der Interpretation dessen, was das Minimalerfordernis bei jedem einzelnen Projekt ist. Es ist absurd, der Industrie selbst die Entscheidung darüber zu überlassen, ob ihre eigenen profitorientierten Projekte im entwicklungspolitischen Interesse sind. ({0}) Das aber ist der Kern der neuen Performance-Standards. Die IFC wird demgemäß künftig auf unabhängige Umwelt- und Sozialverträglichkeitsprüfungen verzichten. In der Konsequenz bedeutet das eine Anpassung der Standards an die bisherige entwicklungsfeindliche Praxis. Die Regierungsparteien aber tun so, als läge überhaupt kein Problem vor. Sie wollen uns auf einen dritten Entwurf vertrösten, den sie uns bis heute nicht vorlegen können und dessen Inhalt ihnen selbst nicht geläufig ist. Sie sagen uns: Vertraut der IFC! Die IFC sagt: Vertraut den Investoren! - Das ist die Kapitulation der Bundesentwicklungspolitik. ({1}) Wir stimmen mit der Kritik von Ihnen, Frau Koczy, an der IFC-Praxis in der gestrigen Ausschusssitzung völlig überein. Doch warum schreiben Sie das, was Sie hier verurteilen, nicht auch so in Ihrem Antrag nieder? Der Antrag der Grünen verschweigt, dass es sich bei den Profiteuren der IFC-Kredite um Großkonzerne handelt. In Ihrem Text suggerieren Sie sogar, sich ganz im Einklang mit dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu befinden, als stünde nicht die Verschlechterung der Standards, sondern ihre Verbesserung auf der Tagesordnung. Warum erwähnen Sie in ihrem Antrag mit keinem Wort die Performance-Standards, die Sie zu Recht so lautstark kritisieren? Wir, die Fraktion der Linken, haben den Grünen vorgeschlagen, eine entsprechende Änderung in ihrem Antrag vorzunehmen. Wir schlagen vor, dass das zuständige Bundesministerium den deutschen Exekutivdirektor im Verwaltungsrat der Weltbank anweist, Verschlechterungen, wie sie die vorliegenden Performance-Standards vorsehen, abzulehnen. Leider haben Sie diesen Vorschlag nicht angenommen. Ihr Ziel scheint zu sein, die zuständige Ministerin und die Bundesregierung insgesamt - trotz aller verbalen Kritik - aus der praktischen Verantwortung zu entlassen. Wir können Ihrem Antrag, dem Antrag der Grünen, deshalb nicht zustimmen. Sie, die Grünen, sollten endlich in Ihrer Rolle als Oppositionspartei ankommen! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Ulrich, das war Ihre erste Rede in diesem Haus. Herzlichen Glückwunsch dazu und weiterhin alles Gute. ({0}) Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat nun das Wort die Kollegin Ute Koczy, Bündnis 90/Die Grünen.

Ute Koczy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003788, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu später Stunde ein schwerer Antrag, ein Antrag, der die Zukunft der Weltbankpolitik bestimmen und Weichen stellen kann, aber nicht wird, weil die Mehrheit - alle vier übrigen Fraktionen - aus unterschiedlichen Gründen, die ich nicht nachvollziehen kann, dagegen ist. Unser Antrag ist sehr konkret. Er macht pointiert Vorschläge, und zwar explizit zum vorliegenden zweiten Entwurf, zu den Performance-Standards der International Finance Corporation. Wir stehen damit in der Kontinuität dessen, was der Bundestag beschlossen hat; hier ist darüber diskutiert worden. Mit unserem Antrag setzen wir diese Kontinuität fort und konzentrieren uns auf das, was nun ansteht. ({0}) Wir greifen damit vor der Sitzung der Exekutivdirektoren am 21. Februar in Washington die Anregung des Salim-Reports auf, der ernsthafte Verbesserungen der Standards in der Weltbank fordert, wenn es um die Förderung von Rohstoffen geht. Dass wir ein Problem mit der Rohstoffförderung haben, das werden Sie, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Ausschuss, wohl nicht bestreiten können. ({1}) Sie tun hier so, als würde auf diesem Politikfeld eine heile Welt existieren. Kein Wort der Kritik haben wir von Ihnen gehört. ({2}) Eigentlich müssten Sie anders reagieren. Ich erwarte von Ihnen einen Gegenantrag, einen Antrag zu dem, was die Exekutivdirektoren beschließen müssen; denn das, was uns vorliegt, wird all dem, was Sie hier in schönen Worten formuliert haben, einfach nicht gerecht. ({3}) Bislang gehörten die Standards der Weltbank, was Schutz und Unterstützung von Mensch und Tier angeht, zur Champions League. Damit wird es jetzt vorbei sein, wenn die Performance-Standards so, wie sie uns vorliegen, die Verantwortung dafür in die Hand der Unternehmen legen, und zwar ohne Referenzrahmen. Herr Bernward Müller, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass wir Controlling brauchen. Das ist richtig. Aber dieses Controlling fehlt in dem zweiten Entwurf. Wir wollen mit unserem Antrag erreichen, dass es klare Kriterien gibt, mit denen man arbeiten kann. Denn Sie täuschen sich, wenn Sie meinen, unser Anliegen sei allein von NGO-Interessen geleitet. Es liegt im Interesse der Länder, die gegen Armut und für den Aufbau von Infrastruktur kämpfen, und im Interesse der Unternehmen, die für die Durchsetzung der IFC-Standards in ihrer Unternehmensphilosophie nachhaltige Kriterien eingeführt haben. Selbstverständlich liegen verbindliche, transparente und rechtlich durchsetzbare Kriterien auch im Interesse der benachteiligten Völker, die keine Chance hätten, eine faire Entschädigung zu erhalten, wenn sie sich nicht durch internationales Recht geschützt wüssten. Nicht erwähnt haben Sie, dass vor kurzem 219 Nichtregierungsorganisationen einen Brief geschrieben haben, in dem sie darauf hingewiesen haben, dass dieser zweite Entwurf schlecht ist. ({4}) Diese Nichtregierungsorganisationen haben in tiefer Sorge auf den Weg der Weltbank reagiert, weil sie befürchten, dass da einiges aus dem Ruder läuft, zum Beispiel was die Zwangsumsiedlung, den Schutz der indigenen Völker und die Biodiversität angeht. Was jetzt kommen wird, bedeutet einen Rückschritt. Hier wird auf den dritten Entwurf verwiesen. Normalerweise ist es so, dass ein Entwurf erst drei Wochen vor einer Sitzung der Exekutivdirektoren verteilt wird. Ich gehe nicht davon aus, dass wir ihn so rechtzeitig bekommen, dass wir ihn hier tatsächlich beraten können. Meine Damen und Herren, wir haben doch schlechte Erfahrungen in Ländern wie Nigeria, Tschad, Kamerun und Ecuador gemacht. Wir sind misstrauisch, weil wir der Meinung sind, dass wir in dem Augenblick, wo wir Unternehmen einfach erlauben, ohne Referenzrahmen, ohne Controlling und ohne klare Standards in die Länder zu gehen, etwas zulassen, was den Entwicklungsinteressen dieser Länder widerspricht. Das ist die Mahnung, die hinter diesem Antrag steht. Eigentlich - dieser Auffassung bin ich - können Sie gar nicht anders, als diesem Antrag zuzustimmen. Ich danke Ihnen. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin Koczy, für Sie war es ebenfalls die erste Rede in diesem Haus. Auch Ihnen gilt unser Glückwunsch, verbunden mit den besten Wünschen für die weitere Arbeit. ({0}) Ich schließe nun die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache 16/466 zu dem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Für starke soziale und ökologische Standards in der Internationalen Finanz-Corporation ({1}) der Weltbank“. Dazu liegt eine Erklärung zur Abstimmung des Kollegen Alexander Ulrich vor, die zu Protokoll gegeben wird.1) Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/374 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen bei Zustimmung aller anderen Fraktionen des Hauses angenommen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 8. Februar 2006, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.