Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 1/24/2008

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich und wünsche Ihnen einen guten Morgen und uns gute Beratungen. Die heutige Sitzung des Bundestages beginnt gleich mit einem ersten Höhepunkt: Der Kollege Dr. Peter Struck feiert heute seinen 65. Geburtstag. ({0}) Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich dazu sehr herzlich und wünsche alles Gute. - Lieber Peter, ich empfinde es als Ausdruck des Respekts und der Einsicht, dass die guten Wünsche des ganzen Hauses nicht mit dem Kommentar „Die können mich mal!“ zurückgewiesen werden. ({1}) Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD: Energie- und Klimapaket der EU-Kommission ({2}) ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({3}) a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe Barth, Cornelia Pieper, Patrick Meinhardt, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Universitäre Exzellenz sichern - Exklusivität des Promotionsrechts wahren - Drucksache 16/7842 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Grietje Bettin, Dr. Harald Terpe, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Medienabhängigkeit bekämpfen - Medienkompetenz stärken - Drucksache 16/7836 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({4}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: Aufgaben von Bundeswehrkampftruppen als Quick Reaction Forces in Afghanistan ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Haltung der Bundesregierung zu den Äußerungen des ehemaligen Bundeswirtschaftsministers Wolfgang Clement zur Energiepolitik Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Die abschließende Beratung des Gesetzes zur Änderung des Bundespolizeigesetzes - das ist der Tagesordnungspunkt 4 - wird auf morgen verschoben. Das Thema soll nach dem Tagesordnungspunkt 21 aufgerufen werden. Außerdem wird der Tagesordnungspunkt 11 - dabei handelt es sich um die zweite und dritte Lesung des Aufsichtsstrukturmodernisierungsgesetzes - abgesetzt. Die anderen Tagesordnungspunkte der Koalitionsfraktionen werden dementsprechend vorgezogen. Sind Sie mit diesen Änderungen einverstanden? Das ist der Fall. Damit ist das so beschlossen. Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 3 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahreswirtschaftsbericht 2008 der Bundesregierung - Kurs halten - Drucksache 16/7845 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5}) Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Auch hierzu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Michael Glos. ({6})

Michael Glos (Minister:in)

Politiker ID: 11000691

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Titel des Jahreswirtschaftsberichts heißt: „Kurs halten!“ Das ist etwas, was natürlich auch ein Fraktionsvorsitzender tun muss. Deswegen gratuliere ich dem Peter Struck auch von hieraus ganz herzlich zu seinem Geburtstag. ({0}) Nun weiß ich aus eigener Erfahrung, dass man in einem wichtigen Führungsamt im Parlament viel mehr Gelegenheit hat, von einem ganz strengen Kurs abzuweichen, und mehr Manövriermasse hat. Wenn man Regierungsmitglied ist, ist das - das weiß auch Peter anders. Deswegen versuche ich, mich so weit als möglich exakt an den Kurs der Bundesregierung zu halten. ({1}) - Soweit das möglich ist. Kurs halten, das ist ein Appell, der sich, wie ich meine, an uns alle richtet, Herr Westerwelle. Wir sehen natürlich mit Sorge, was an den Börsen der Welt geschieht. Wir können das nicht direkt beeinflussen, sondern wir können nur durch unser eigenes Verhalten ein Stück weit ein Beispiel geben und vor allen Dingen den Menschen ein Stück weit Vertrauen in den Kurs unserer Wirtschaftspolitik geben. Worauf es ankommt, ist - ich sage es noch einmal Vertrauen in die Solidität unseres Banken- und Finanzsystems. Trotz der bekannten Einzelfälle kann es daran keinen Zweifel geben. Immer dann, wenn Banken in Deutschland in Krisensituationen geraten sind, haben die Sicherungsinstrumente ausgereicht, um sie zu stützen. Diese werden wir auch weiterhin nutzen. Wir hoffen allerdings, dass keine weiteren Fälle mehr auftreten. ({2}) Des Weiteren: Vertrauen in die Wirtschaftspolitik. Wir müssen alles tun, um unsere Wirtschaft zu stärken und sie gegen Konjunkturrisiken zu impfen. Der Titel „Kurs halten!“ ist ein Appell an diejenigen, die in Deutschland wirtschaftspolitische Verantwortung tragen, betrifft also auch das ganze Haus hier. Dies ist aber auch erstens ein Appell an die Unternehmen, ihre Wettbewerbsfähigkeit weiter zu verbessern, und zweitens ein Appell an die Tarifparteien, ihre verantwortungsvolle Lohnpolitik der vergangenen Jahre fortzusetzen. Die Tarifpartner wissen am allerbesten, wo Spielräume sind, wo man aufgrund der Gewinnentwicklung diese Spielräume besser nutzen kann und wo sich Spielräume möglicherweise verengen. Das verstehe ich unter einer verantwortungsvollen Lohnpolitik. ({3}) Dies ist drittens ein Appell an die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land. Auch wenn es uns die Bilder und die Nachrichten aus Bochum schwer machen: Wir müssen den Strukturwandel weiterhin als Chance begreifen und ihn da, wo wir können, aktiv gestalten. „Kurs halten“ ist vor allen Dingen eine Aufforderung an uns selbst in der Koalition, bei unserem erfolgreichen Kurs zu bleiben; denn Deutschland ist insgesamt auf einem guten Kurs. ({4}) Die Bilanz der Bundesregierung kann sich sehen lassen. Die Reformen der letzten Jahre zahlen sich aus: für den Staat in Form von gesunden Staatsfinanzen, für die Unternehmungen in Form von höherem Absatz und höheren Gewinnen. ({5}) - Ich freue mich sehr, Herr Lafontaine, dass Sie sich darüber freuen. ({6}) Denn nur prosperierende Unternehmungen können erfolgreich sein und den Menschen Arbeit und die Sicherheit geben, die sie gerne hätten. ({7}) Die Reformen zahlen sich auch für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Form von zusätzlichen und sichereren Arbeitsplätzen aus, ({8}) aber auch in Form von wieder günstigeren Einkommensperspektiven. Mit über 40 Millionen Erwerbstätigen wurde 2007 ein historischer Höchststand erreicht. Insbesondere die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nahm mit einem Plus von 0,7 Millionen Personen oder 2,6 Prozent außerordentlich kräftig zu. Seit 2005 haben wir zusätzlich über 1 Million Menschen, die wieder in Lohn und Brot stehen. ({9}) Nun haben vom Aufschwung auch diejenigen profitiert, die es bisher schwer hatten, einen neuen Job zu finden: die Älteren, die Langzeitarbeitslosen und die Arbeitnehmer mit einfachen Qualifikationen, ({10}) aber vor allen Dingen die Jugendlichen, die sehr viel leichter wieder Lehr- und Ausbildungsplätze finden. Auch das ist das Ergebnis der guten Konjunktur und der besseren wirtschaftlichen Lage. ({11}) Diesen Erfolg dürfen wir nicht kaputtmachen. Wir dürfen das Erreichte nicht verspielen. So hat es der Sachverständigenrat in seinem letzten Gutachten formuliert. Über dieses Gutachten diskutieren wir heute. Die Ausgangslage ist nach wie vor gut. Das Jahr 2007 war für Deutschland ein hervorragendes Jahr. Das Wachstum war mit 2,5 Prozent besser als prognostiziert. Der seit fast drei Jahren anhaltende Wachstumsprozess in Deutschland wird sich auch in diesem Jahr fortsetzen. Auch wenn die Risiken gestiegen sind und ein geringeres Tempo prognostiziert wird, geht es weiterhin vorwärts. Die Immobilienkrise in den USA ist die Korrektur realwirtschaftlicher Entgleisungen. Der Vergleich zur Internetblase am Anfang des Jahrtausends drängt sich auf. Jetzt ist der Gewinn- und Konsumrausch in den USA zunächst einmal vorbei. Wir sehen natürlich die Bemühungen, neues Geld in den dortigen Markt zu pumpen. Wir begrüßen die Maßnahmen, die die Fed dort getroffen hat. Wir Deutsche haben bisher über unseren Export und über die zusätzlichen Wachstumskräfte, die von dort ausgehen, von der Entwicklung in den USA profitiert. ({12}) Wer aber in die eine Richtung dabei war, kann nicht ausschließen, dass er auch in die andere Richtung ein Stück dabei ist. Wir wollen alles tun, was sich dagegen machen lässt. Aber Risiken sind einfach vorhanden. Wir kennen die genauen Folgen dieser Bereinigung, die jetzt zwangsläufig geschieht, nicht. Es gibt aber keinen Grund für Panikmache, wie sie von vielen selbsternannten Börsenexperten betrieben wird. Wir wissen, dass es an der Börse immer ein Auf und Ab gibt. Jeder, der sein Geld anlegt, muss wissen: Das ist keine Einbahnstraße. Der Gewinn ist nie garantiert. Es wird nicht geklingelt. Ich sage es noch einmal: Es gibt weder Grund für Panik noch Grund für Ignoranz. Der Außenhandel verliert etwas von der treibenden Kraft, die er bisher für unseren Aufschwung darstellte. Wir müssen schauen, dass wir die Inlandskonjunktur stärken. Die deutsche Wirtschaft steht, wie gesagt, im Vergleich zu anderen gut da. Es zeigt sich zum Beispiel an der anhaltend guten Investitionstätigkeit, dass immer noch Vertrauen in unser Land besteht. Auch beim Konsum der privaten Haushalte erwarten wir wie auch andere - das ist nicht nur die Erwartung der Bundesregierung, sondern auch die vieler Forschungsinstitute -, dass es in diesem Jahr wieder einen klareren Impuls nach oben gibt. Wir rechnen mit einem weiteren Arbeitsplatzaufbau in Deutschland. Das halte ich für ganz besonders wichtig. Wir rechnen damit, dass die Arbeitslosenzahlen im Jahresverlauf per saldo um 330 000 sinken werden. Auch das ist eine gute Nachricht. Alles in allem erwarten wir für das Gesamtjahr einen Zuwachs des realen Bruttoinlandsproduktes von 1,7 Prozent. Das liegt am unteren Ende der Spannbreite der aktuellen Prognosen. Sie wurden nicht unter kurzfristigen Eindrücken gemacht, wie sie zum Beispiel Bilder aus Indien auslösen, wo die Börsen geschlossen werden mussten. Sondern unsere Prognose beruht auf nüchterner, sachlicher Kalkulation und auf vieljähriger Erfahrung derer, die sie erarbeitet haben. Unsere Prognose im Jahreswirtschaftsbericht ist damit vorsichtiger als unsere Prognose im Herbst. Die Risiken sind durchaus mit berücksichtigt worden. Umso wichtiger ist es - das sage ich noch einmal -, dass wir den eingeschlagenen Kurs halten. Deswegen ist „Kurs halten!“ genau der richtige Titel für den Jahreswirtschaftsbericht. ({13}) Wir müssen weiter dafür sorgen, dass Beschäftigungschancen entschlossen und flexibel genutzt werden können. Wir haben flexible Elemente im Arbeitsmarkt: Teilzeitarbeit, tarifliche Öffnungsklauseln, befristete Arbeitsverträge, Zeitarbeit, Minijobs und Zeitkonten. Das alles sind Instrumente, die wir weiter nutzen und erhalten müssen. Ein wichtiges weiteres Reformziel ist es, die Lohnzusatzkosten dauerhaft unter 40 Prozent zu halten. Das ist immer eine anspruchsvolle Daueraufgabe. Je mehr Menschen Arbeit haben und Beiträge in unser Sozialversicherungssystem zahlen, umso leichter lässt sich dieses Ziel erreichen. Deswegen muss die Beschäftigung im Mittelpunkt unserer Maßnahmen stehen. ({14}) Wir haben zum 1. Januar 2008 den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung auf 3,3 Prozent senken können. Dies hat noch der Kollege Müntefering ins Werk gesetzt. Dafür bedanken wir uns noch einmal ausdrücklich. Dies entlastet die Wirtschaft und stärkt unsere Wettbewerbsfähigkeit. Gleichzeitig bleibt mehr Netto vom Brutto in den Geldbeuteln der Beschäftigten. Das ist ganz besonders wichtig. ({15}) Wo immer Spielraum bleibt, müssen wir ihn für weitere Entlastungen nutzen. Gleichzeitig müssen wir die staatlichen Ausgaben so trimmen, dass mehr für Bildung, Forschung und wachstumsfördernde Infrastrukturen übrig bleibt. Nur so können wir das Erreichte halten und sichern; denn wir wissen, dass sich die Welt täglich ändert. ({16}) Also weiter Vorfahrt für Wachstum! Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Mitarbeiter sind nur stark, wenn auch die Unternehmen stark sind. Das mag bei international tätigen Konzernen, die ausschließlich auf Gewinnmaximierung in der ganzen Welt Wert legen, anders sein. ({17}) Aber es ist gottlob so, dass die deutschen Unternehmen bis auf Ausnahmen beherzigen, dass sie nur so stark sind, wie ihre Mitarbeiter stark sind. Die Mitarbeiter wissen ebenfalls, dass sie nur so stark sind, wie ihre Unternehmen stark sind. ({18}) Das ist Teil unserer Unternehmenskultur, und das muss auch so bleiben. Wir haben mit der Unternehmensteuerreform international wettbewerbsfähige Steuersätze geschaffen. Das ist für die Investoren aus dem Ausland ganz besonders wichtig, um die wir ständig werben. Ich habe deswegen Invest in Germany noch einmal gestärkt und unsere Wirtschaftsförderinstrumente stärker unter einem Dach zusammengeschlossen. Wir müssen immer wieder selbst über unsere Stärken reden; andere werden es nicht tun. ({19}) Wir brauchen natürlich auch die Umsetzung von Versprochenem. Wenn etwas, was versprochen wurde, nicht eintritt, dann gibt es Enttäuschung. So ist zum Beispiel eine Erbschaftsteuerreform angekündigt, die Unternehmensübergaben erleichtert. Ich bin sehr optimistisch, dass das Parlament dies in die Tat umsetzen und es zu Lösungen kommen wird, die hinterher nicht mehr Enttäuschungen als erfüllte Erwartungen übrig lassen. Es wird auf jeden Fall eine Reform werden, die entlastet. Auch wenn nicht jeder einzelne Wunsch erfüllt wird, muss man das im Mittelpunkt sehen, worum es geht. Wir wollen insbesondere die Unternehmensübergänge erleichtern. ({20}) Ein Letztes, meine sehr verehrten Damen und Herren: Die hohen Energiekosten machen mir Sorge. Der Wirtschaftsstandort Deutschland muss sich im Wettbewerb bewähren. Dafür braucht unser Land eine sichere Energieversorgung und Preise, bei denen auch die energieintensiven Industrien in Deutschland noch eine Chance haben. Dort, wo die Vorschläge der Europäischen Kommission dies nicht entsprechend berücksichtigen, müssen wir dagegen kämpfen. Wir haben ein integriertes Energie- und Klimaschutzprogramm beschlossen. Es ist die richtige Antwort auf die anstehenden Herausforderungen. Wir müssen uns von importierter und fossiler Energie unabhängiger machen. Das ist gut für den Standort Deutschland und gleichzeitig gut für den Klimaschutz. ({21}) Ein Ministeramt zu übernehmen, heißt auch, ein Stück Kontinuität im Hinblick auf das zu übernehmen, was in diesem Haus geschehen ist. Ich kann nur sagen, dass ich mich, was Kontinuität angeht, stärker zu der Energiepolitik bekenne, die Wolfgang Clement gemacht hat, als zu der, die unter seinem Vorgänger Werner Müller gemacht worden ist. ({22}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, meine maritimen Kenntnisse sind zwar unterentwickelt - ich habe deswegen eigens eine Beauftragte für die maritime Wirtschaft -; aber ich weiß natürlich, dass Kurshalten bei schwerer See schwieriger als bei Sonnenschein ist. Wenn sich jetzt eine schwerere See zeigt, dann müssen wir das Ruder umso kräftiger halten. Dazu gibt es keine Alternative. Herzlichen Dank. ({23})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Rainer Brüderle für die FDP-Fraktion. ({0})

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das ist schon einmal richtig. - Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Finanzkrise hat die Banken in Deutschland und mittlerweile auch die Börse voll erreicht. Den freien Fall der Börsenkurse rund um die Welt hat die überraschend massive Zinssenkung der amerikanischen Notenbank zunächst gebremst. Die New York Times schreibt dazu, dass es keine Panik der Privatanleger, sondern eine Panik der Profis sei. Bundeskanzlerin und Bundeswirtschaftsminister erklären dazu, es gebe in Deutschland keinen Grund zur Sorge, die Konjunktur sei stabil. Allerdings haben Befürchtungen Hochkonjunktur, dass der Aufschwung schon bald zu Ende gehen könnte. Die Menschen in Deutschland sorgen sich. Sie haben auch Grund dazu. Noch ist die Lage der Wirtschaft gut. Die Aussichten sind allerdings trüber geworden. Wir haben eine Vertrauenskrise. Die Menschen vertrauen den Banken nicht mehr so recht. Das liegt auch an einer zum Teil miserablen Informationspolitik. Die Banken vertrauen sich untereinander nicht mehr. Der Geldmarkt drohte teilweise zusammenzubrechen. Die Regierung aber betreibt keine Politik, die das Vertrauen wieder stärken könnte. Vertrauen gewinnt man nur mit Ehrlichkeit zurück. Die Bundesregierung rechnet sich allenfalls die Dinge schön. Das ist auch im Jahr der Mathematik, das gerade begonnen hat, nicht seriös. In den Vereinigten Staaten geht das Gespenst der Stagflation um. Die Zinssenkung der Notenbank am Dienstag war eine Entscheidung zur Konjunkturstützung, die aber mit dem Risiko der Verstärkung der Inflationsgefahr verbunden ist. Wenn diese Aktion die drohende Rezession nicht auffangen kann, dann gerät Amerika in eine Stagflation. Schon im letzten Jahr sind die Verbraucherpreise in den Vereinigten Staaten um über 4 Prozent gestiegen. Durch Zinssenkung immer mehr Geld in die Märkte zu pumpen, löst langfristig keine Probleme, sondern schafft neue. Der Druck auf den Dollar wird weiter wachsen. Das verteuert unsere Exporte in den Dollarraum und verstärkt die Tendenzen einer schwächelnden internationalen Wirtschaft. Die Ursache der Misere - die Immobilienkrise - ist noch längst nicht behoben. Die Rezessionsgefahr in den Vereinigten Staaten ist der größte Risikofaktor für die deutsche Konjunktur. Professor Snower, der Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, warnt - ich zitiere -: Wenn es in den USA zu einer Rezession kommt, dann ist davon auch Deutschland mit höchstens einem Jahr Verspätung betroffen. In Ihrem Jahreswirtschaftsbericht warnen Sie deutlich vor diesen Risiken, Herr Minister Glos. Die Bundesregierung hätte aber schon längst Vorsorge dagegen treffen können, nein: treffen müssen. ({0}) Schwarz-Rot hat sich aber lieber darauf verlassen, dass andere Länder die Konjunktur für uns in Schwung bringen. ({1}) Ein exportgetriebener Aufschwung ist schön; aber ohne eine dauerhafte und robuste Binnenkonjunktur kann das schnell zu einem Strohfeuer werden. ({2}) Die Regierung hat sich zu lange in der guten Konjunktur gesonnt und Zeit verspielt, statt Strukturreformen, die die Abwehrkräfte der Volkswirtschaft - sozusagen ihr Immunsystem - stärken, auf den Weg zu bringen. Selbst als die Gewitterwolken über Amerika schon erkennbar waren, hatte Schwarz-Rot nichts Besseres zu tun, als eine Politik des Abschwungs zu betreiben. Die Steuererhöhungen werden 2009 fortgesetzt, wenn für Millionen Anleger die Besteuerung der Wertsteigerung eingeführt wird. Die geplante Gesundheitsreform mit der Einführung des Gesundheitsfonds treibt die Kassenbeiträge in die Höhe. Woher nimmt die Regierung die Hoffnung, dass die Bürger trotzdem mehr konsumieren werden? Der Jahreswirtschaftsbericht nennt das Risiko. Aber warum hat die Bundesregierung nicht längst die Einkommen- und Lohnsteuer gesenkt, damit die Menschen netto mehr zur Verfügung haben und deshalb mehr Geld ausgeben und den Konsum fördern können? Nein, Sie haben nichts Besseres zu tun, als die Steuern zu erhöhen. Die Steuerbelastung ist seit Amtsantritt dieser Bundesregierung 2005 um 23 Prozent gestiegen. ({3}) Die Antwort auf unsere Kleine Anfrage, wie sich die real verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte seit Amtsantritt der Regierung geändert haben, lautet: Sie sind um 0,4 Prozent gesunken. Die verfügbaren Einkommen in Deutschland sind nicht gestiegen, sondern gesunken. ({4}) All diese Maßnahmen wie die Einführung der Mindestlöhne und die Mehrwertsteuererhöhung sind nicht geeignet, wirtschaftliche Impulse auszulösen. Mindestlöhne bedeuten Arbeitslosigkeit auf Termin. ({5}) Damit kann allenfalls das Postmonopol zementiert werden. Die Bundesregierung ist in vielen Punkten zerstritten. Sie zankt sich öffentlich über den Mindestlohn. Herr Glos warnt zu Recht vor zu kräftigen Lohnerhöhungen in den anstehenden Tarifrunden. Seine SPD-Kollegen fordern landauf, landab, kräftig zuzulangen. Das ist genau das Gegenteil dessen, was der Bundeswirtschaftsminister sagt. Ich sage noch einmal: Wichtig ist, dass die Bürger netto mehr in der Tasche haben und dass der Aufschwung bei ihnen ankommt. ({6}) Das, was Sie mit der Einführung von Mindestlöhnen betreiben, ist ein Angriff auf die Tarifautonomie. Wir brauchen mehr Selbstbestimmung in den Betrieben und mehr Lohnflexibilität. Flächendeckende, staatlich sanktionierte Löhne, wie sie der SPD vorschweben, führen zu staatlich festgelegten Preisen auch in anderen Sektoren. Das ist der Weg in Dirigismus und planwirtschaftliche Steuerung. ({7}) Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie haben im vergangenen Jahr an dieser Stelle gesagt, Sie wollten den Aufschwung für Reformen nutzen. Was ist herausge14602 kommen? Eine Unternehmensteuerreform, die es für die Unternehmer noch komplizierter macht und die viele Unsicherheiten birgt, eine Gesundheitsreform, die die Krankenkassenbeiträge nach oben treibt, ein Anschlag auf die Tarifautonomie und auf den Wettbewerb in unserem Land. Sie haben diesen Jahreswirtschaftsbericht mit den Worten überschrieben: „Kurs halten!“ Das klingt nett. Aber welchen Kurs überhaupt? Man kann nur einen Kurs halten, der erkennbar ist. Das Prinzip Hoffnung allein ist kein Konzept und kein Kurs in der Wirtschaftspolitik. ({8}) Die Unternehmensnachfolge soll erleichtert werden, aber bei der Erbschaftsteuerreform ist bis zur Stunde nichts klar. Viele Betriebe müssen angesichts dessen, was diskutiert wird, befürchten, dass sie mehr Erbschaftsteuer zahlen. ({9}) Geben Sie Kompetenz an die Länder ab. Lassen Sie den Wettbewerb unter den Ländern dafür sorgen, dass die Erbschaftsteuer abgeschafft wird, was am besten wäre, weil sie eine unsinnige Steuer ist. ({10}) Der Wirtschaftsminister will ermöglichen, dass dem Mittelstand mehr Wagniskapital für Investitionen zur Verfügung gestellt wird. Gleichzeitig wird aber im Wirtschaftsministerium ein Gesetz vorbereitet, das ausländische Investitionen in Deutschland beschränken soll. Drahtzäune sind kein Weg. Der Weg in Protektionismus, in Kapitalverkehrsbeschränkungen führt zu Gegenreaktionen anderer Länder und nicht zur Stärkung der deutschen Volkswirtschaft. Das ist der falsche Weg. ({11}) Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Ihre Prognose eines Wachstums von 1,7 Prozent 2 Milliarden Euro weniger Steuereinnahmen bedeutet. Die Berechnungen, die Sie hierzu vorgelegt haben, basieren auf einem Wachstum von 2 Prozent und sind somit falsch. Sie hätten den Bundeshaushalt rechtzeitig kräftiger konsolidieren können. Sie hätten den Haushalt ohne Neuverschuldung verabschieden können. Das haben Sie nicht gemacht. Die einzige Vorsorge, die Sie gegen den drohenden Abschwung treffen, besteht darin, die Arbeitslosenstatistik zu schönen. Das ist aber keine Lösung. Was Sie tun müssten, ist, das Netto der Menschen zu erhöhen, indem Sie sie steuerlich entlasten. Damit stärken Sie die Binnenkonjunktur und die eigenen Abwehrkräfte gegen drohende Gewitterwolken draußen in der Weltwirtschaft. ({12}) - Herr Präsident, es gibt etwas zu tun.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Hinsken möchte eine Zwischenfrage stellen, und der Kollege Brüderle will sie offenkundig gerne beantworten. - Bitte schön.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Brüderle, ich habe aufmerksam gelauscht und gehört, was Sie alles zu Steuererhöhungen und dergleichen mehr gesagt haben. Sie haben aber etwas für die Wirtschaft und die Mitbürger ganz Wichtiges vergessen, nämlich dass wir zum Beispiel den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung halbiert haben und dass wir dadurch in den Taschen der Wirtschaft und der einzelnen Mitbürger jährlich 23 Milliarden Euro mehr lassen. Das sollte doch einer Erwähnung wert sein, wenn Sie einen sach- und fachgerechten Vortrag halten wollen. ({0})

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geschätzter Herr Kollege Hinsken, gern gehe ich auf Ihre Zwischenbemerkung ein. Ich hätte noch Vieles sagen müssen, aber das Zeitbudget ist leider begrenzt. ({0}) Ich hätte zum Beispiel sagen müssen, dass Sie zum 1. Januar 2007 die größte Steuererhöhung aller Zeiten in dieser Republik durchgeführt und damit bei den Menschen in einem Umfang wie noch nie abkassiert haben. ({1}) Ich sagte vorhin, dass wir heute in Deutschland eine um 23 Prozent höhere Steuerbelastung haben als 2005. Das ist fast ein Viertel mehr. Das bedeutet ein kräftiges Zulangen, das nicht ausreichend dadurch gerechtfertigt werden kann, dass Sie den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung gesenkt haben. Sie haben vielmehr die Balance zwischen der Ermöglichung privater Eigenverantwortung und staatlicher Gestaltung nicht zugunsten der privaten, eigenverantwortlichen Gestaltung verändert. Mein Kernvorwurf ist, dass Sie keine Vorsorge getroffen haben, um die Volkswirtschaft zu stärken und die Menschen in die Lage zu versetzen, etwas aus eigener Kraft konkret für die Alterssicherung, die Gesundheitsvorsorge und die Pflege zu tun. Die Nettoeinkommen, die verfügbaren Einkommen der Menschen in Deutschland, sind - so die Antwort der Bundesregierung auf eine unserer Anfragen - gesunken. Sie haben die Kaufkraft also nicht gestärkt. Sie haben die Wirtschaft nicht stärker gemacht. Sie haben vielmehr den billigsten Weg gewählt. Sie haben nämlich versucht, den Haushalt durch Abkassieren zu konsolidieren. Statt an die Ausgaben heranzugehen, haben Sie den Haushalt kräftig aufgebläht um 13 Milliarden Euro. In Deutschland sparen nur die Bürger. Das ist zu wenig. Der Mittelstand in Deutschland hat eine bessere Politik verdient; denn er ist Träger der Zukunftserwartungen und der Arbeitsplatzchancen für Deutschland. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Sie beabsichtigen hoffentlich nicht, nach der Beantwortung der Frage jenseits Ihrer Redezeit jetzt noch zu einem Schlusswort anzusetzen, Herr Kollege Brüderle; ({0}) das könnte ich nämlich nicht zulassen.

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Leider hat sich kein Kollege für eine weitere Frage gefunden. Ich hätte noch viel zu sagen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Vorbereitung war früher auch schon mal besser, Herr Brüderle. ({0}) Nächster Redner ist der Kollege Stiegler, SPD-Fraktion.

Ludwig Stiegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bemerkungen des Präsidenten zur Rede des Kollegen Brüderle waren so treffend, dass ich jetzt gar nicht weiter darauf eingehen muss. Der Kollege würde sich wünschen, dass er mit seinem Wunschpartner die Ergebnisse feiern könnte, die die deutsche Wirtschaft rechtzeitig zum 65. Geburtstag von Peter Struck in gemeinsamer Anstrengung mit uns geliefert hat. ({0}) Die Hauptaufgabe besteht darin, jetzt zu verhindern, dass die Spekulationskrise und die Folgen der Betrügereien auf den Finanzmärkten auf die Realwirtschaft durchschlagen. Wir haben es quasi mit zwei Reichen zu tun: der Welt der Spekulation, die nur immer behauptet, sie schaffe Werte, und der Welt der Mittelständler, überhaupt der Unternehmen, bei denen für die Menschen Güter erzeugt und Dienstleistungen erbracht werden. Unsere Aufgabe ist, diese reale Welt der Arbeit vor den Folgen der Spekulationen zu schützen. Man muss einmal daran denken, was manche dieser großmögenden Bankherren noch vor Jahren dazu gesagt haben, was sie an Werten geschaffen haben - alle diese Werte schmelzen jetzt dahin wie der Schnee in der Sonne -; nun bedrohen sie die Weltwirtschaft. Wer musste sie retten? Die Zentralbanken und letzten Endes die Staatsanleihen! Ohne die sicheren Häfen der Staatsanleihen wären alle diese Spekulanten abgebrannt. So sieht die Realität aus! Das gibt uns das Recht, diesen Herrschaften in Zukunft strenger auf die Finger zu schauen, damit sie die ordentliche Arbeit nicht verderben können. ({1}) Aber zum Thema: Der Jahreswirtschaftsbericht ist überschrieben mit „Kurs halten!“ und das Jahresgutachten mit „Das Erreichte nicht verspielen“. Ich habe wirklich meine hermeneutischen Künste bemüht, um herauszufinden, was uns die Dichter sagen wollen. Im Gutachten des Sachverständigenrats und zwischen den Zeilen des Wirtschaftsministers ist zu lesen, dass man die Sorge hat, man würde vom Kurs abweichen, weil man die Lage der Arbeitslosen verbessert habe. Dazu sage ich den Sachverständigen genauso wie ihren Sekundanten im Bundeswirtschaftsministerium: Wir wollen einen Aufschwung für alle. Dafür halten wir Kurs. Wir wollen mehr Freiheit durch gute Arbeit und nicht durch Hungerlöhne. ({2}) Wir wollen mehr Freiheit für die Menschen durch soziale Sicherheit. Wir haben ein paar gute Jahre hinter uns. Es gibt durchaus Streit über die Ursachen, darüber, was die Henne und was das Ei ist. Die Sachverständigen schreiben: Nur weil viele Instrumente flexibilisiert worden sind, ist der Aufschwung gekommen. - Ich sage umgekehrt: Nur weil wir am Anfang dieser Legislaturperiode eine aktive Politik für mehr Nachfrage betrieben haben, konnte die Nachfrage in Arbeitsplätze umgesetzt werden. ({3}) Das ist das Entscheidende, anstatt hier erst alles zu zerbrechen und zu glauben, die Menschen würden schon, wenn man die Sozialleistungen um 30 Prozent und mehr absenken würde, wie Roland Koch und andere das wollen, wie Rebhühner im kalten Winter in die Küche laufen. Nein, meine Damen und Herren, wenn in der Küche nicht gekocht wird, dann haben auch die Rebhühner da nichts zu suchen. ({4}) Der Bundeswirtschaftsminister lobt die Anpassungsfähigkeit des flexibilisierten Arbeitsmarktes. So weit, so gut. Wir sehen aber auch die Schattenseiten dieser Flexibilisierung, die wir in der Form, wie sie jetzt existiert, nicht gewollt haben. Bei „wir“ denke ich auch an die früheren Partner von den Grünen; ich sehe hier zum Beispiel Thea Dückert, die ja bei den Verhandlungen mit im Boot war. Wir wollten den Missbrauch bei der Leiharbeit, wie wir ihn heute beobachten können, nicht. ({5}) - Hören Sie doch auf! Sie können doch nur motzen. Sie haben doch überhaupt keine Vorstellung von dem, was da läuft. ({6}) Wir wollten mehr Flexibilität bei anständigen Tarifverträgen. Das war damals das Angebot. Daraus ist geworden, dass manche Konzerne unter Androhung von Auslagerungen und mithilfe von gelben Gewerkschaften Hungerlöhne vereinbart haben. Das hatten wir mit der Flexibilisierung bei der Leiharbeit nicht beabsichtigt. Das sind keine guten Arbeitsverhältnisse. ({7}) Unserem Programm entspricht auch nicht die Ausweitung der Niedriglohnzone. Es gibt ja manche, die sie weiter ausweiten wollen. Sie ist nicht nur groß genug, sondern schon zu groß. Deshalb kämpfen wir gegen Hungerlöhne. Wir wollen die Unsicherheiten, mit denen Arbeitnehmer leben müssen, die in befristeten Beschäftigungsverhältnissen stehen oder zur Generation Praktikum gezählt werden, beseitigen. Diese Aufgaben stehen vor uns. Diese müssen wir lösen und werden wir lösen. ({8}) - Sie können nur demonstrieren. Wir können handeln. Wer will, dass es in Deutschland besser wird, der muss auf die Sozialdemokratie und ihre Partner vertrauen. ({9}) Darum geht es letzten Endes. ({10}) Meine Damen und Herren, wir haben also dafür zu sorgen, dass der Aufschwung alle erreicht, dass Mindestlöhne auch gegen das Geschrei der FDP durchgesetzt werden. ({11}) - Ja, das werden wir auch gegen Ihr Geschrei durchsetzen. Mit uns gibt es keine Hungerlöhne. ({12}) Wir sehen auch, dass es nicht stimmig ist, wie das Bruttoinlandsprodukt verteilt wird. Der Anteil der Arbeitnehmereinkommen am Volkseinkommen stagniert. Hier besteht Entwicklungsbedarf. Wie soll der private Verbrauch zunehmen, wenn die Arbeitnehmereinkommen nicht steigen? Wir erinnern auch an die Ziffern 714 ff. ganz am Ende des Sachverständigengutachtens, wo schüchtern die Einkommensverteilung angesprochen wird. Wir stellen eine unverhältnismäßig hohe Konzentration von Einkommen und Vermögen bei einem ganz kleinen Personenkreis fest. So ist es kein Wunder, dass die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen stärker steigen als die der Arbeitnehmer. Dieses Verteilungsverhältnis müssen wir wieder umdrehen: Die Arbeitnehmereinkommen bestimmen den privaten Verbrauch, der zugleich das größte Aggregat für unser Bruttoinlandsprodukt darstellt. ({13}) Bei den Tarifrunden im Jahre 2008 muss dafür gesorgt werden - diese Forderung unterstützen wir -, dass die Arbeitnehmereinkommen wieder steigen. Demjenigen, der jetzt sagt, jetzt ziehen aber dunkle Wolken auf, entgegne ich: Die Ergebnisverbesserungen, die 2007 aufgrund der Lohnzurückhaltung der Arbeitnehmer eingefahren werden konnten, müssen nun fair verteilt werden. Dafür ist Platz. Das erfordert auch die soziale Gerechtigkeit. ({14}) Ich bin auch froh, dass die Bundesregierung ausdrücklich erklärt, dass sie die Initiative der beiden Koalitionsfraktionen, mehr Arbeitnehmerbeteiligung zu ermöglichen, unterstützt. Das ist eine ganz wichtige Aufgabe, mit der wir dafür sorgen, dass die Verteilungsschieflage unserer Volkswirtschaft begrenzt oder gar beseitigt wird. Wir müssen dafür sorgen, dass der Produktivitätsfortschritt auch bei den Arbeitnehmereinkommen ankommt. ({15}) Ich bin ganz froh, dass jetzt sogar Herr Piepenburg von der PIN Group sagt: Jawohl, ich stehe zu den Mindestlöhnen. - Interessant! Noch interessanter ist, dass er auf Folgendes hinweist: Viele Auftraggeber haben gesagt: Du bekommst keine Aufträge mehr, wenn du keine anständigen Löhne zahlst. Das ist die richtige Antwort der deutschen Wirtschaft auf die, die Geschäftsmodelle auf Hungerlöhnen aufbauen wollten. Das wollen wir nicht, und das werden wir verhindern. ({16}) Ich finde es zum Beispiel gut, dass die IG Metall bei BMW und Audi dafür gesorgt hat, dass auch die Leiharbeitnehmer anständig bezahlt werden. Früher war es häufig so, dass sich die Gewerkschaften und die Betriebsräte um ihre Kernbelegschaften gekümmert haben. Jetzt haben sie ihre schwächeren Brüder und Schwestern entdeckt und erfolgreich gehandelt. Herzlichen Dank dafür. Das ist ein richtiger Weg; wir kommen auf ihm voran. Die Aufnahme der Leiharbeit in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz ist einer der wichtigen nächsten Schritte, damit wir mehr soziale Gerechtigkeit im Aufschwung haben. ({17}) - Natürlich ist das Politik für den Abschwung, und zwar bei denen, die meinen, dass die Leute quasi für Hungerlöhne arbeiten müssen und dass der Staat sie am Leben hält. Das ist keine Wirtschaft, wie wir sie wollen. Sie haben mir das richtige Stichwort gegeben. Ich habe mit meinem Kollegen Laurenz Meyer immer wieder heftige Diskussionen. ({18}) Er sagt: Viele Unternehmer sind gegen die Mindestlöhne, weil sie wettbewerbsfähig bleiben wollen. Ich sage Ihnen dagegen: Ein Wettbewerb, der auf die KnoLudwig Stiegler chen der Arbeitnehmer geht, ist gegenüber den Arbeitnehmern nicht in Ordnung und ist auch volkswirtschaftlich nicht in Ordnung. Deshalb werden wir diesen Weg nicht mitgehen. ({19}) Also werden wir miteinander in den nächsten Wochen an das Arbeitnehmer-Entsendegesetz und an das „Franz-Müntefering-Jugendfreundin-Erinnerungsgesetz“, MiA, herangehen und werden die Mindestarbeitsbedingungen verbessern. Das wirkt noch nicht flächendeckend - das wissen wir -; die Union ist nämlich noch nicht so weit. Aber sie ist immerhin in Bewegung. Wir werden hier einen Schritt vorankommen. Michael Glos hat gesagt: Starke Unternehmen garantieren starke Arbeitsplätze. Ich sage Ihnen daher aus aktuellem Anlass: Große Unternehmen, ob nationale oder internationale, müssen wissen, dass sie hier in Deutschland auf dem Boden der sozialen Marktwirtschaft und des Grundgesetzes agieren; Arbeitnehmer sind nicht irgendwelche Zahlen auf einem Excel-Sheet, sondern Menschen mit Würde und Achtungsanspruch. Wir müssen gerade im Zeitalter der Globalisierung eine Kooperation zwischen Wirtschaft und Staat organisieren, die den Strukturwandel ordentlich begleitet und die Menschen nicht nur nach dem Prinzip „Heuern und Feuern“ behandelt. Das muss der Nokia-Vorstand hier lernen. ({20}) Wir müssen den Kurs halten, durch bessere Arbeit, durch einen Aufschwung für alle, mit mehr sozialer Gerechtigkeit, mit einer hohen Teilnahme am Erwerbsleben, mit Qualifikation und Weiterbildung, mit Forschung und Entwicklung. So weit, so gut. Der Blick ist dabei in den Rückspiegel gerichtet, und wenn man den Blick allein in den Rückspiegel richtet, dann fährt man nicht gut vorwärts, weil es vor der Hacke duster ist, wie Peer Steinbrück immer zu sagen pflegt. Wir müssen sehen, dass der Aufschwung schon vor der SubprimeKrise an Kraft verloren hat, weswegen die Kurve in eine andere Richtung ging. Wir müssen wissen: Nur Nachfrage schafft Arbeitsplätze. Alle, die den Keynesianismus für Teufelszeug halten, sollten sehen: Die Amerikaner sind dabei, wieder Keynesianer zu werden. Lassen Sie uns im Auge behalten: Nur dann, wenn wir die private und die öffentliche Nachfrage steigern, werden wir die notwendigen Arbeitsplätze sichern, nur dann werden wir aus der Staatsverschuldung herauswachsen. Wir können uns nicht heraussparen. Wir sind 2006 und 2007 durch Wachstum zu Ihrer Freude, Herr Kampeter, erfolgreich gewesen. Wenn wir damals Ihrem strengen Haushälterweg gefolgt wären, dann würden wir jetzt tief unten im Keller sitzen. Aber wir wollen mit Ihren Kolleginnen und Kollegen weiter herauswachsen. Wir haben noch eine Menge Pfeile im Köcher: private Investitionen, Gebäudesanierung und Klimaschutz, auch in der gewerblichen Wirtschaft. Vor allem müssen wir darauf aufpassen, dass die kleinen und mittleren Unternehmen nicht Opfer der Bankspekulationen werden und Probleme mit der Kreditversorgung bekommen. Wir haben gemeinsam mit den Förderbanken von Bund und Ländern die Aufgabe, das zu verhindern. Gott sei Dank hat die KfW nach wie vor gute Kreditprogramme, mit denen wir arbeiten können. Daher müssen wir nicht heute schon überstürzt Aktionen ankündigen. Wenn die Hurrikanmeldungen kommen, kann ich aber nicht sagen: Er wird schon an uns vorbeigehen. Dann muss ich schauen, wie ich mein Dach dichtmachen kann, wie ich Vorsorge treffen kann. - Wenn der Sturm kommt, sind wir vorbereitet. Das muss in aller Stille geschehen, damit es uns nicht wie den unklugen Jungfrauen geht, sondern wie den klugen Jungfrauen in der Bibel. Wir haben noch eines gelernt: Es kommt auch auf den Staat an. Die privaten Banken haben sich gegenseitig nicht mehr vertraut. Sie wären an ihrem gegenseitigen Misstrauen kaputtgegangen, wenn die Zentralbanken sie nicht gerettet hätten. Der Staat hat sichere Häfen geboten, ist lender of last resort, wie es in England heißt. Das heißt, wir können mit diesen Herrschaften in Zukunft etwas selbstbewusster umgehen; denn wenn sie sich verspekuliert haben, kommen sie zu uns und laden die Verluste bei Peer Steinbrück ab. Er muss nämlich ein Drittel dieser Spekulationsverluste tragen. Das möchten wir nicht. Herr Kampeter, das Geld soll lieber in die Kasse von Herrn Steinbrück fließen. Dafür zu sorgen, ist unsere Aufgabe. Rainer Wend wird nachher sagen, was wir von den Banken und den Aufsichtsbehörden erwarten, damit nicht private Gier und Spekulationen eine ganze Volkswirtschaft ins Elend stürzen. Im Reich der Realökonomie müssen wir die Lebensverhältnisse der Menschen auch in Zukunft durch gute Arbeit verbessern. Danke. ({21})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Oskar Lafontaine, Fraktion Die Linke. ({0})

Oskar Lafontaine (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bundesminister für Wirtschaft, Herr Glos, hat gesagt, dass der Jahreswirtschaftsbericht unter der Überschrift „Kurs halten!“ steht. Für die Fraktion Die Linke möchte ich hier sagen: Wir möchten, dass der nächste Wirtschaftsbericht und Ihr Handeln unter einer ganz anderen Überschrift stehen, nämlich: Kurs wechseln! ({0}) Denn wenn Sie den Kurs halten, dann setzen Sie all das fort, was in den letzten Jahren eingetreten ist. Ich beginne mit Ihrem Jahreswirtschaftsbericht: „Deutschland ist auf gutem Kurs: mit einem Aufschwung für alle“. Wenn Sie hier feststellen, der Aufschwung sei für alle da, dann ist das eine Verarschung der Bevölkerung. ({1}) 80 Prozent der Menschen in Deutschland sagen: Der Aufschwung kommt bei uns nicht an. Aber Sie erdreisten sich, hier zu sagen: Aufschwung für alle. ({2}) Erklären Sie das Wahlvolk für blöd, oder was ist Ihre Absicht? Wie können Sie so etwas sagen? Es gibt Gründe, warum die Bevölkerung sagt: Der Aufschwung kommt bei uns nicht an. Im ersten Satz des Jahreswirtschaftsberichtes heißt es weiter, dass wir eine „Rekord-Beschäftigung“ haben. Das ist richtig. Die Frage ist nur: Was für eine Art von Beschäftigung ist das? Weil Sie diese Frage nicht stellen, wissen Sie nicht, dass der Aufschwung nicht bei allen ankommt. Wenn die Menschen nur noch befristete Arbeitsverträge haben, schlechte Löhne erhalten und nur noch Minijobs oder Leiharbeit ausüben können, dann ist das kein Aufschwung für alle. Den Menschen nutzt Ihre Beschäftigungsbilanz überhaupt nichts! Das ist das, was die Menschen denken, die Ihnen draußen zuhören müssen, wie Sie hier solche Sprechblasen in die Welt setzen. ({3}) Natürlich gibt es Anzeichen für eine weltweite Krise. Die kann wirklich niemand mehr übersehen. Nun würde man vielleicht erwarten, dass der Bundesminister für Wirtschaft eine Idee hat, was er da machen könnte. Vielleicht hat die Bundeskanzlerin, die gerade in Gespräche vertieft ist, ja eine Idee; man soll die Leute ja nicht unbedingt überfordern. In der Financial Times Deutschland können wir lesen: „Glos denkt über Notfallplan nach.“ Bravo, Herr Bundesminister für Wirtschaft, die Fraktion Die Linke macht Ihnen ein Kompliment: Sie denken nach! Weiter ist aber zu lesen: „Die Schublade ist noch leer. Aber selbstverständlich muss man sich Gedanken machen.“ Bravo, muss man sagen. ({4}) Es wäre natürlich nett, wenn die Schublade wenigstens ein bisschen voll wäre. ({5}) Sie sollten versuchen, zu erreichen, dass die Schublade ein bisschen voll wird, damit Sie irgendetwas haben, falls die exportgetriebene Konjunktur der letzten Jahre nun durch die weltweite Krise - das wäre logisch - beschädigt wird. Es ist ja richtig - das hat ein Redner hier gesagt -, dass die Amerikaner wie selbstverständlich keynesianische Rezepte anwenden, wenn die Konjunktur nach unten rasselt. Die keynesianischen Rezepte, die hier immer von allen möglichen Fachleuten - ich will sie gar nicht alle zitieren - in großer Attitüde für falsch und überholt erklärt worden sind, heißen nun einmal: Wenn die Konjunktur schwächelt, setzt man die Geldpolitik ein. - Das ist überall auf der Welt so, nur in Europa ist es nicht so gemacht worden. Das hat dann natürlich Folgen. Der Kommentator, der heute in der Financial Times Deutschland fragt, warum denn die Geldpolitik nicht einsetzt, hat recht. Wir können nachweisen, dass die verfehlte Geldpolitik der Europäischen Zentralbank über viele Jahre mit dazu beigetragen hat, dass wir in Europa nicht Wachstumspotenziale erschlossen haben wie andere Industriestaaten dieser Welt. Das Zweite, das man einsetzen kann, ist die Binnennachfrage. Sie haben dafür gesorgt, dass die Binnennachfrage über viele Jahre nur stranguliert und abgewürgt wurde. Ich möchte hier deutlich sagen, dass Steuersenkungen ein Instrument der Binnennachfrage sind. Die Amerikaner setzen dieses Instrument wie selbstverständlich ein, und zwar rechtzeitig. Wenn man wegen der Staatsfinanzen zögerlich ist, dann sollte man zumindest dem Antrag stattgeben, den wir hier schon mehrfach vorgetragen haben: Man sollte den Steuertarif glätten und insbesondere die mittleren Einkommen entlasten, das heißt die Facharbeiter und die Kleinbetriebe. Dann kann man den Steuertarif durchziehen, wenn man aufgrund der Einnahmeausfälle Probleme hat. ({6}) Wir haben das hier immer wieder vorgetragen. Es ist ungerecht und wirtschaftlich unvernünftig, Facharbeiter und Kleinbetriebe über Gebühr zu belasten. Nun greife ich das auf, Herr Kollege Stiegler, was Sie hier gesagt haben. Natürlich geht Binnennachfrage nicht ohne steigende Löhne. Natürlich geht Binnennachfrage nicht ohne wachsende Renten. Natürlich geht Binnennachfrage nicht ohne steigende soziale Leistungen im Rahmen des Möglichen. Wenn man aber alles tut - da sind die meisten hier mitverantwortlich -, dass sowohl die Löhne und die Renten als auch die sozialen Leistungen sinken, dann trägt man die Verantwortung dafür, dass in Deutschland die Binnennachfrage über viele Jahre überhaupt nicht auf die Beine kommt. ({7}) Der Bundeswirtschaftsminister hat auf seine liebenswerte Art hier vorgetragen: Die Tarifparteien sollen ihre verantwortungsvolle Lohnpolitik fortsetzen. Mit solchen Sprechblasen kann man über die Wirklichkeit hinwegtäuschen. Auch im letzten Jahr hatten wir stagnierende Reallöhne. Das sieht man, wenn man die Tarifvertragsabschlüsse ansetzt und mit der Inflation verrechnet. Was in Wirklichkeit passiert, ist etwas ganz anderes. Das erfassen wir ja statistisch überhaupt nicht. Das heißt, in Wirklichkeit hatten wir auch im letzten Jahr ein zurückgehendes Volkseinkommen. Ich denke an Arbeitnehmer, an Rentner und an die, die soziale Leistungen empfangen. Sie setzen diese Politik ununterbrochen fort. Kollege Stiegler, wenn Sie das alles beklagen, dann dürfen Sie diesem Bericht nicht zustimmen, dann dürfen Sie die Politik nicht in vollem Umfang mitmachen. ({8}) Im Jahreswirtschaftsbericht steht, dass Sie weiterhin „Teilzeitarbeit und tarifliche Öffnungsklauseln, befristete Arbeitsverträge“ und Leiharbeit vorantreiben wollen. Die Leiharbeit nennen Sie im Bericht vornehmerweise „Zeitarbeit“. Als weitere Beispiele nennen sie „Minijobs und Zeitkonten“. All dies wollen Sie weiter einsetzen, um Anpassungsflexibilität zu erreichen. Das heißt, Sie wollen das Programm zur Lohnsenkung weiter vorantreiben. Das ist die Botschaft des Jahreswirtschaftsberichtes. ({9}) An einer Stelle ist der Bericht dann auch ehrlich. Er zeigt - wie in all den vergangenen Jahren - schlicht und einfach eine unverschämte Bilanz der Umverteilung, an der sich überhaupt niemand mehr stört. In jedem Jahreswirtschaftsbericht steht: Arbeitnehmerentgelte nix, Rentenerhöhungen wird es nicht geben und soziale Transfers sowieso nicht. Die große Mehrheit der Bevölkerung - das steht im Bericht - ist vom wirtschaftlichen Zuwachs ausgeschlossen. Nichts anderes steht hier seit Jahren. Das sieht man, wenn man bereit ist, Zahlen zur Kenntnis zu nehmen. Im Bericht steht zur Projektion, dass Unternehmensund Vermögenseinkommen diesmal nur in Höhe von 5,6 Prozent steigen werden. 7 Prozent war die Projektion in den letzten Jahren. Aber das ist ja nur die Hälfte dessen, was passiert. Im letzten Jahr sind allein die Aktienkurse um über 20 Prozent gestiegen. Die Einkommen der Arbeitnehmerschaft sind gesunken. Andere Gewinnspannen möchte ich hier gar nicht vortragen. Das alles schreiben Sie. Das ist weiterhin Ihre Absicht. Sie sind eine Große Koalition der Umverteilung. Wenn Sie das von den Erträgen der Arbeitnehmerentgelte usw. nicht ableiten wollen, dann schauen Sie nur Ihre Steuerpolitik an: Sie haben auf der einen Seite die große Mehrheit der Bevölkerung mit 20 Milliarden Euro pro Jahr durch die Mehrwertsteuererhöhung belastet und die Unternehmen - ich denke hier an Steuersenkungen und die Senkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrages - um 20 Milliarden Euro entlastet. Man muss kein großer Rechenkünstler sein, um zu wissen, dass hier eine reine Umverteilung vorgenommen wurde. ({10}) Ich möchte hier nun unsere Vorschläge zur Festigung der Konjunktur in Deutschland vortragen, die dann notwendig ist, wenn der Export nicht mehr läuft. Die Renten und die Löhne können noch so niedrig sein - wir könnten auch Sklavenlöhne einführen -: Der Export läuft trotzdem weiter. Aber die Binnenkonjunktur verkraftet die Philosophie, die in den letzten Jahren dominierte, nicht. Das Erste, was wir brauchen, ist eine Lohnpolitik, mit der die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer tatsächlich wieder am Wachstum der Volkswirtschaft beteiligt werden. Das muss als Allererstes geschehen. ({11}) Das heißt für uns: Im Gegensatz zur Entwicklung der letzten Jahre müssen die Löhne im Rahmen von Inflation und Produktivität steigen. Was nützt die Beschwörung der Produktivität, wie von Kollege Stiegler vorgetragen, wenn die Löhne in den letzten Jahren im Rahmen der Produktivität überhaupt nicht mehr gewachsen sind? Da muss man sich doch die Frage stellen, warum das der Fall war. Die Erklärung ist ganz simpel: Die Gewerkschaften wurden über Hartz IV, befristete Arbeitsverträge, Minijobs und Leiharbeit so systematisch geschwächt, dass sie nicht mehr auf die Füße kamen. Sie haben mit der fatalen Gesetzgebung, die Sie zu verantworten haben, das Sinken der Löhne programmiert. ({12}) Als Zweites müssen die Armutsrenten zurückgenommen werden. Ich rede hier von der unsinnigen Rentenpolitik, die Sie über all die Jahre gemacht haben. Wie wollen Sie denn die Binnenkonjunktur bei sinkenden Realeinkommen und sinkenden Einkommen der Rentnerinnen und Rentner in Gang bringen? Diese hören uns heute zu, und sie wissen genau, dass sie an Kaufkraft verloren haben. Sie wissen auch, dass Sie immer weiter darüber nachdenken, wie Sie die Renten weiter kürzen können. Sie waren schließlich stolz darauf, dass Sie eine Rentenreform verabschiedet haben, mit der die Rente für viele weiter gekürzt wird. Nehmen Sie doch zur Kenntnis, dass das Desaster, dass für die jetzt Beschäftigten in Zukunft Armutsrenten programmiert sind, bereits eingetreten ist. Wenn selbst der Vater dieser Reformen, Herr Rürup, begriffen hat, was er angerichtet hat, und wenn er deshalb vorschlägt, eine steuerfinanzierte Grundrente einzuführen, um dieses Desaster zu vermeiden, dann ist dies ein Ausweis von Ratlosigkeit. Ändern Sie die Rentenformel, damit die Rentnerinnen und Rentner endlich wieder am wachsenden Wohlstand teilnehmen können. ({13}) Zum Steuertarif habe ich bereits etwas gesagt. Ich möchte aber einen weiteren Punkt erwähnen. Wir brauchen gerade in der jetzigen Situation im Steuerrecht keine weiteren flächendeckenden Senkungen der Unternehmensteuern. Vielmehr brauchen wir im Unternehmensteuerrecht einen Umbau, der dazu führt, dass der investierende Unternehmer belohnt und der spekulierende Unternehmer nicht belohnt wird. Das heißt, die degressive Abschreibung von Investitionen muss wieder eingeführt werden. ({14}) Es war ein großer Fehler, dieses bewährte Instrument, das über viele Jahre Kernelement des Handelns von Wirtschaftsministern war, die die Steuerung der Konjunktur noch im Programm hatten, abzuschaffen. Was wir auch brauchen, sind Ausgaben in der öffentlichen Infrastruktur, um gegenzusteuern. Man kann es nicht oft genug sagen: Wir können es uns als Industriestaat nicht erlauben, dass die Investitionsquote in unseren öffentlichen Haushalten im Vergleich mit den europäischen Nachbarn nur halb so hoch ist. Das ist eine eindeutige Zahl. Wie lange, glauben Sie, können wir uns Versäumnisse auf einem Gebiet leisten, in dem die Zukunft des Staates definiert wird, nämlich bei den öffentlichen Investitionsausgaben? Die anderen sind nicht dümmer oder klüger als wir, aber sie haben teilweise deutlich bessere Ergebnisse. ({15}) Das, was ich gesagt habe, gilt natürlich auch für die Ausgaben in Bildung und Forschung, insbesondere für die Bildung. Das, was teilweise in den Ländern in den letzten Jahren geschehen ist - die Schulzeit wurde verkürzt, um die Menschen möglichst schnell auf den Arbeitsmarkt zu werfen -, ist ein Wahn. Dahinter steht nicht mehr die Idee, dass Bildung die Entwicklung einer Persönlichkeit ermöglicht und dazu beiträgt, eigene Aktivitäten zu entfalten. Vielmehr geht es darum, die Menschen möglichst schnell für den Arbeitsmarkt auszubilden. Das ist ein Fehler. Das wird noch durch den Abbau von Lehrpersonal ergänzt. Die Lehrpläne sind überfrachtet. Viele Eltern beklagen sich mittlerweile darüber, man raube den jungen Menschen die Kindheit. Deshalb brauchen wir in Deutschland eine andere Schul- und Bildungspolitik. ({16}) - Herr Finanzminister, ich hätte gerne die Zeit, mich mit Ihnen auseinanderzusetzen. Wir müssten eigentlich über all das reden, was Sie so auf den Finanzmärkten treiben. Ich kann Ihnen nur sagen: Was sollte hier eben das Gejammer über die Finanzmärkte, wenn Sie die Geldpolitik nach wie vor so missachten, wie das derzeit geschieht? Solange in Europa die aktuelle Verfassung der Zentralbank gilt, die im krassen Gegensatz zu den Verfassungen der Zentralbanken der übrigen Welt steht, insbesondere der amerikanischen Zentralbank und der britischen Zentralbank, so lange wird die Geldpolitik zur Steuerung der Konjunktur nicht eingesetzt werden können. Das aber geht zulasten der Beschäftigten in Gesamteuropa. ({17}) Wenn Ihnen sonst nichts einfällt, dann schreiben Sie einfach die Verfassung der amerikanischen Zentralbank ab. Ein weiterer Punkt ist die Regulierung der Finanzmärkte. Immer, wenn die Linke gefordert hat, die Finanzmärkte zu regulieren, dann haben Sie hier erklärt, dass das einzig Wichtige die Transparenz sei. Was meinen Sie mit Transparenz? Sie ist weitgehend vorhanden. Wir wissen, wo überall spekuliert wird. Wir wissen doch, wie unsicher die einzelnen Derivate sind. Wir wissen, wo die Risiken liegen. Nein, wir brauchen eine Reregulierung der Finanzmärkte, wenn wir wieder Ordnung in das Chaos der weltweiten Finanzmärkte bekommen wollen. ({18}) Mit der Reregulierung der Finanzmärkte müssen wir bei unseren eigenen Gesetzen beginnen. Wenn wir jetzt beklagen, dass Banken, die teilweise sogar in öffentlichem Besitz sind, Nebengeschäfte gemacht haben, dann müssen wir uns doch die Frage stellen, was wir da eigentlich versäumt haben. Nebenbei möchte ich sagen: Es gibt auch bedeutende Aufsichtsratsvorsitzende, die gepennt haben. Sie haben dort, wo sie verantwortlich waren, nicht erkannt, dass in großem Umfang Nebengeschäfte getätigt und sogar bilanziert wurden. Wenn wir so sehr pennen, dann werden wir keine Ordnung in die internationalen Finanzmärkte bekommen. Wir müssen bei uns selbst anfangen, meine sehr geehrten Damen und Herren; ({19}) ich hoffe, dass dieser Wink verstanden worden ist. Ich fasse zusammen: Natürlich könnte man diese Politik, die dem Export wenig schadet, fortsetzen. Auf den Glanzfeldern unserer Wirtschaft - dem Automobilbau, dem Maschinenbau, der Chemieindustrie, der Elektrotechnik usw. - verfügen wir Gott sei Dank über gute Ingenieure und Konstrukteure, die dafür sorgen, dass unsere Produkte weltweit vermarktet werden können und Absatz finden. Das ginge aber auch bei sehr niedrigen Löhnen, weil diese Ziele dadurch überhaupt nicht gefährdet werden. Wenn Sie irgendwann einmal zur Kenntnis nehmen, dass der Binnenmarkt für die Volkswirtschaft einer großen Industrienation von Bedeutung ist, dann müssen Sie daraus Konsequenzen ziehen. Vor allen Dingen eines dürfen Sie nicht tun: eine verfehlte Politik, die zu sinkenden Löhnen, sinkenden Renten und sinkenden sozialen Leistungen führt, betreiben und dann noch die Frechheit besitzen, zu behaupten: Der Aufschwung kommt bei allen an. ({20})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Fritz Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Jahreswirtschaftsbericht, über den wir heute sprechen, hat den Titel „Kurs halten!“. Ich finde, wenn man Kurs halten will, muss man erst einmal einen Kurs haben. ({0}) Wenn ich mir die Debatten über die aktuellen Probleme der Wirtschaftspolitik vor Augen führe, dann kann ich nicht feststellen, dass die Bundesregierung über einen gemeinsamen Kurs verfügt. Wenn es um die Mindestlöhne geht, verfolgen Sie völlig unterschiedliche Konzepte; das gilt übrigens für Lohnfragen insgesamt. Die Union dilettiert beim Thema Mindestlohn. Zuerst wollte sie überhaupt keinen Mindestlohn. Dann hat sie gesagt: In ein oder zwei Branchen können wir ihn vielleicht einführen. Nun wundert sich die Union, dass auch andere Leute auf die Idee kommen und fragen: Was ist bei uns? - Manche reden schon von einem flächendeckenden Mindestlohn. Es geht ständig hin und her. ({1}) Ein anderes Beispiel ist Ihre Gesundheitspolitik. Durch die geplante Einführung des Gesundheitsfonds zum 1. Januar 2009 werden die Beitragssätze zur Krankenversicherung wahrscheinlich um 0,7 Prozentpunkte steigen. Das ist doch einfach Murks, und man kann nicht sagen, das sei ein Kurs. Einerseits senken Sie die Lohnnebenkosten durch eine Senkung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung. Andererseits machen Sie eine Politik, die dazu führt, dass die Lohnnebenkosten im Gesundheitsbereich, nämlich beim Beitragssatz zur Krankenversicherung, steigen. Das ist kein Kurs, sondern ein unsystematisches Hin und Her, durch das unser Land und unsere Wirtschaft nicht vorangebracht werden. ({2}) Im Jahreswirtschaftsbericht von Michel Glos lesen wir: Diesmal soll es der Binnenmarkt richten, und das trotz all der finsteren Wolken, die sich unter anderem über den USA am Horizont zeigen. Im Jahreswirtschaftsbericht ist für den Binnenkonsum von einem Wachstum in Höhe von 3,1 Prozent die Rede; preisbereinigt entspricht das einem Wachstum des Binnenmarktes um 1,4 Prozent. Herr Glos, ich muss Sie fragen: In welcher Welt leben Sie eigentlich? ({3}) Die Leute bekommen gerade die Nachricht, dass die Preise in allen möglichen Bereichen steigen: beim Gas, beim Wasser, beim Öl usw. Wenn sie einkaufen gehen, stellen sie fest, dass auch die Preise für Grundnahrungsmittel steigen: bei der Milch, beim Fleisch und bei vielem, was die Familien in unserem Land brauchen. Sie aber sagen: Diesmal wird es der Binnenmarkt richten. Glauben Sie etwa, dass irgendjemand einkaufen geht, weil Sie in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht schreiben „Wir wollen Kurs halten! Beruhigt euch, Leute!“? Wie stellen Sie sich das eigentlich vor? ({4}) Außerdem fordern Sie eine maßvolle Lohnpolitik. Das heißt für die Leute: Es wird nicht mehr Geld geben. Hören Sie auf mit der Märchenstunde, der Binnenmarkt, der private Konsum werde es diesmal richten! Es gibt keine empirische Evidenz, dass das so sein wird. ({5}) Auch was jetzt über die Börsenkrise zu lesen ist, wird nicht dazu beitragen, dass die Leute Vertrauen entwickeln. Wir gehören nicht zu denen, die es als eine Aufgabe der Opposition sehen, die Konjunktur schlechtzureden. Wir können dieser Versuchung widerstehen, Herr Lafontaine. Wir machen dieses Spiel nicht mit. Die kleinen Leute, bei denen der Aufschwung noch nicht ankommt, haben nämlich umso größere Chancen, je besser sich die Konjunktur entwickelt. Wir bräuchten jetzt eine Bundesregierung, die mit ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik - das gehört ja zusammen - Vertrauen bei den Leuten schafft, dass der Aufschwung bei allen ankommt, auch bei denen, die sozial nicht so gut dastehen. ({6}) Anstatt herumzunölen, will ich Vorschläge machen und Ihnen sagen, wo Sie als Große Koalition agieren müssen und aufhören müssen, ihre Köpfe in den Sand zu stecken, Herr Glos: Das Erste ist die Frage der Lohnentwicklung, insbesondere die Frage, wie es bei den Mindestlöhnen weitergeht. Die Große Koalition kann sich nicht darauf einigen, wie das Prinzip, das ja alle bejahen - dass, wer ganztags arbeitet, von seiner Hände oder seines Kopfes Arbeit leben können muss -, in die Praxis umgesetzt werden soll. Solange Sie sich nicht einigen können, was Sie wollen - Kombilöhne oder Mindestlöhne, flächendeckend oder wie auch immer -, kann es an dieser Stelle nicht aufwärtsgehen. Wir sagen, dass wir Mindestlöhne brauchen - aber branchen- und regionalspezifisch. Der Vorschlag, den Bundesarbeitsminister Scholz gemacht hat, ist nicht schlecht; er geht ja auf unseren Vorschlag, eine Mindestlohnkommission einzurichten, zurück. Aber man muss beides machen: Man muss das Entsendegesetz entsprechend ausweiten, eine Mindestlohnkommission einrichten und, eines Tages, einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn einführen. Es darf nicht sein, dass jemand trotz Arbeit Aufstocker sein muss. ({7}) Die Leute können kein Vertrauen haben, Herr Meyer, wenn sie wissen: Du kannst ganztags arbeiten, aber leben kannst du davon nicht. - Auch wäre es ein falsches Signal an die Wirtschaft, aufzustocken und damit gewissermaßen einen flächendeckenden Kombilohn einzuführen. Es ist Murks und Unsinn, was die Union an der Stelle anbietet. ({8}) Das Zweite. Sie müssen sich endlich bemühen, doch mehr für den Mittelstand zu tun. Die Unternehmensteuerreform hat vielen Personengesellschaften, die Einkommensteuer zahlen, nichts gebracht. Im Gegenteil, Herr Steinbrück: Weil die Gewerbesteuer ausgedehnt wurde - es war ja richtig, Zinsen und Pacht einzubeziehen -, sind diejenigen Personengesellschaften, die, weil sie keine Einkommensteuer zahlen, Gewerbesteuer und Einkommensteuer nicht miteinander verrechnen können, sogar zusätzlich belastet worden. Deswegen sagen wir: Die Gewerbesteuer muss in diesem Sinne vorgetragen werden, damit die mittelständischen Betriebe in diesem Bereich tatsächlich entlastet werden. ({9}) - Da brauchen Sie nicht den Kopf zu schütteln! Hören Sie sich einfach einmal an, was die Mittelständler, die in dieser Situation sind, dazu sagen! Das Dritte ist der Gesundheitsfonds. Es würde schon einen Schub für die Konjunktur bringen, wenn Sie einsehen würden, dass dieser Fonds Murks ist, und darauf verzichten würden, etwas einzuführen, was neun Monate später - wenn wir eine andere Gesundheitspolitik haben werden - ohnehin wieder abgeschafft wird. Auch das wäre gut dafür, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher Vertrauen entwickeln. ({10}) Es gibt noch ein weiteres Thema, das wir wichtig finden. Darin unterscheiden wir uns massiv von Herrn Lafontaine, den ja das ganze Thema Lohnnebenkosten überhaupt nicht interessiert. Vieles, was er vorgetragen hat, ist schön und wünschenswert; aber es führt zu einer Steigerung der Lohnnebenkosten und damit zu einer Verschlechterung der Bedingungen für das Entstehen neuer Arbeitsplätze. In einem haben Sie allerdings recht, Herr Lafontaine, und da teilen wir Ihre Ansicht: Vor allem den Beziehern kleiner Einkommen bleibt zu wenig netto. Sie haben zwar einen Arbeitsplatz; aber sie verdienen zu wenig. Deswegen will ich unseren Vorschlag erneuern, die Lohnnebenkosten im unteren Bereich zu senken. Nicht überall haben wir hier ein Problem; aber den Geringverdienern bleibt zu wenig netto. ({11}) Ich frage mich, wann sich die Bundesregierung hier endlich bewegt. Wir Grünen haben zur Lösung dieses Problems ein Progressivmodell vorgeschlagen. Herr Glos, an dieser Stelle ist für die Mittelschicht auch die kalte Progression zu nennen. Wir müssen die Steuertarife ändern, weil die Menschen bei einer Lohnerhöhung ansonsten nicht das in der Tasche haben, was sie eigentlich haben sollten, da ihnen die Lohnerhöhung durch die Steuer doppelt wieder weggenommen wird. Ich nenne ein Thema, das für die CDU/CSU und die SPD ganz unangenehm ist. Es geht nämlich um die Frage, ob sich die Riester-Rente wirklich in allen Fällen lohnt. Selbstverständlich ist hier eine Verunsicherung entstanden. Ich frage mich, ob Sie eine passende Antwort haben. Wir von den Grünen sagen: Es ist richtig, dass die Menschen mit der Riester-Rente zusätzlich etwas ansparen und sich so privat für das Alter stärken. Aber natürlich sind die Leute verunsichert, weil sowohl beim Arbeitslosengeld II als auch bei der Rente - dann, wenn die Menschen eine Sozialrente erhalten - zu viel auf privat angespartes Geld für das Alter zugegriffen wird. Es ist einfach nicht okay, dass das dann verrechnet wird. ({12}) Daraus folgt aber keine pauschale Polemik gegen die Riester-Rente, wie sie Lafontaine gerne verwendet, sondern daraus folgt, dass die Mittel, die die Leute durch ihre Altersvorsorgemaßnahmen privat erwirtschaftet haben, zum Beispiel auf ein Altersvorsorgekonto überwiesen werden sollten und eben nicht angetastet werden dürfen. Wenn Sie das nicht wollen, dann machen Sie das über Freibeträge. Man kann den Leuten doch nicht erzählen - gerade den kleinen Leuten -: „Spart im Rahmen der Riester-Rente!“, während diese Mittel selbstverständlich verrechnet werden, wenn sie zu wenig Rente erhalten und aufgestockt werden muss. Mit Ihrer Verweigerung, eine neue Lösung auf den Tisch zu legen, verhindern Sie die Bewältigung des wichtigen Problems der privaten Altersvorsorge. Bei den Verhandlungen damals lagen ja viele Lösungen auf dem Tisch. Ich fordere Sie hier auf, sich an dieser Stelle zu bewegen. ({13}) Ich will einen weiteren Punkt nennen, der wichtig ist, wenn man etwas für die Wirtschaft tun will. Uns gehen in Deutschland viele Arbeitsplätze verloren, weil die Große Koalition nicht in der Lage ist, die Einwanderungsbedingungen für gut ausgebildete Arbeitskräfte zu erleichtern. Senken Sie die Grenze von 84 000 Euro, die man als Verdienst nachweisen muss, um hierher zu dürfen, und wir werden hochqualifiziertes Personal bekommen. Selbstverständlich wollen wir deutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausbilden, aber wir brauchen sofort Arbeitskräfte. In der Globalisierung kann man nicht sagen, dass man zwar überallhin exportieren, aber lieber keine Leute von woanders haben will, die eine gute Qualifikation haben. Das ist Wirtschaftspolitik von vorgestern, aus Gründen, die vielleicht mit Ihrer Politik im Innern zu tun haben. Wirtschaftspolitisch beweist dies jedenfalls keine Vernunft. ({14}) Herr Glos, eines stört mich an Ihrem Bericht und Ihrer Kommentierung noch mehr. Wir haben doch erkannt, dass es in Deutschland ein großes Wachstumsfeld gibt, nämlich die ökologische Modernisierung: Energie einsparen und effizienter mit Energie umgehen. - Sagen Sie doch einmal, dass Sie dies im Binnenmarkt zum Wachstumsfeld machen wollen, treten Sie nicht dauernd auf die Bremse und nölen Sie nicht dauernd gegen mehr Energieeinsparung und eine bessere Energiepolitik! Mit grünen Ideen kann man schwarze Zahlen schreiben und Arbeitsplätze schaffen. Das muss auch der Wirtschaftsminister dieses Landes endlich kapieren. ({15}) Sie würden also Vertrauen schaffen - auch in den Binnenmarkt -, wenn Sie diese Vorschläge beherzigen würden. Ich sage aber noch einmal: Die Große Koalition hat bei keinem dieser Punkte eine gemeinsame Linie. Deswegen ist sie an der entscheidenden Stelle auch nicht handlungsfähig. Zum Abschluss will ich noch etwas zur Börsenkrise, zur Immobilienkrise in den USA und dazu sagen, was das für uns bedeutet. Erst einmal: Die Entwicklung in den USA ist dramatisch. Das hat verschiedene Gründe. Die Zeit, dass man viel mehr ausgeben kann - auch im privaten Konsum -, als man systematisch einnimmt, ist jetzt endgültig vorbei. So gesehen findet dort auch eine Marktbereinigung statt, auf die man warten konnte, wenn man die Entwicklung in den letzten Jahren beobachtet hat. Selbstverständlich wird dies Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft haben. Gott sei Dank werden sie nicht so drastisch und wahrscheinlich auch nicht so schnell eintreten wie in den USA, aber es soll hier doch niemand so tun, als würde dies nicht auch wachstumsdämpfend wirken. Ich sage Ihnen voraus, dass das Wirtschaftswachstum stärker als um die 0,3 Prozent sinken wird, die Sie in Ihrer Prognose heruntergegangen sind. Das kostet uns Milliarden Euro. Ausgerechnet an einer solchen Stelle fängt die Bundesregierung - von der Bundeskanzlerin bis hin zu SPD mit der unseligen Debatte über die Staatsfonds an, nach dem Motto: Jetzt bitte nicht ohne Weiteres ausländisches Geld von ausländischen Staatsfonds in die Bundesrepublik Deutschland. Andere Länder, wie die Schweiz, die aufgrund der Immobilienkrise auch Milliardenbeträge abschreiben mussten, werden gerade durch ausländische Staatsfonds gestützt. Ich kann wirklich nicht verstehen, warum Sie gerade in Zeiten - das ist gegen jede politische Vernunft -, in denen man Geld braucht, sagen: Bitte kein Geld von ausländischen Staatsfonds. - Das ist gegen jede ökonomische Vernunft. Das, was Sie hier veranstalten, ist Unsinn. ({16}) Die Zockerökonomie, die wir zum Teil auf der Welt haben, ist zum Vertrauensproblem für die reale Ökonomie geworden. An die Adresse der Herrschaften von der FDP kann ich nur sagen: ({17}) Selbstverständlich brauchen wir neue und klare Regeln für die internationalen Finanzmärkte. Sie haben die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Kredite zu überschaubaren und nachvollziehbaren Risiken an die Stellen kommen, wo Investitionen stattfinden. Dafür sorgen sie aber nicht mehr, wenn wir systematisch das Verstecken, Verbriefen und Auslagern von Risiken bei Banken und Finanzmarktinstitutionen so lange zulassen, bis bei keinem Institut mehr durchblickt wird, wo genau die Risiken liegen. Das muss sich ändern. ({18}) Eigentlich haben alle begriffen, dass wir neue Regeln für die internationalen Finanzmärkte brauchen. Auch bei der Weltbank und dem IWF wird über nichts anderes mehr geredet, übrigens, Herr Lafontaine, weit mehr als über Transparenz. Die Einzigen, die es in Deutschland nicht begriffen haben, sind die Liberalen. Meine Damen und Herren von der FDP, ich fordere Sie daher auf, aufzuwachen und Vorschläge zu machen. ({19}) Wir müssen selbstverständlich die Finanzmarktaufsicht in Deutschland stärken. Das Aufsichtsstrukturmodernisierungsgesetz muss endlich auf den Weg gebracht werden. Union und SPD blockieren sich aber gegenseitig bei der Bewertung der Kompetenzverteilung zwischen BaFin und Bundesbank. Wir müssen die Risiken im Bankensektor auch in Deutschland besser wahrnehmen. Zweckgesellschaften der Banken müssen im Rahmen von Basel II in die Finanzmarktaufsicht einbezogen werden. Anders geht es nicht. ({20}) Dies muss systematisch sowie mit Ruhe und Kraft geschehen. Sonst kommt nur Unsinn dabei heraus. Die Hedgefonds und die Private-Equity-Gesellschaften müssen unter die Finanzaufsicht gestellt werden. Sie müssen weltweit registriert werden. Dabei sind auch viele nationale Fragen zu klären. Wir müssen die Rolle der öffentlichen Banken in Deutschland überdenken. Ich frage mich schon lange, warum Landesbanken in der Weise spekulative Geschäfte auf internationaler Ebene tätigen müssen, wie es zum Beispiel in Sachsen und bei der West LB geschehen ist. ({21}) Das ist nicht die genuine Aufgabe der Landesbanken. Ich erwarte von der Politik Schritte, das zu unterbinden. Vielleicht hilft es, wenn die Aufsichtsgremien nicht nach Parteibuch, sondern nach Sachverstand besetzt werden. Viele Probleme resultieren nämlich daraus, dass die Verwaltungsräte und Aufsichtsgremien nicht entsprechend agieren. ({22}) Ich komme zum Schluss. Herr Wirtschaftsminister, es gibt viel mehr zu tun, als zu beschwichtigen. Ich fordere Sie auf, den Schlafmichel aufzugeben und aktiv eine vertrauenschaffende Wirtschaftspolitik in Deutschland zu betreiben. Ihre Abwieglungsreden glaubt Ihnen sowieso niemand mehr. Vielen Dank. ({23})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Michael Meister, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Michael Meister (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002733, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir diskutieren über den Jahreswirtschaftsbericht 2008 vor dem Hintergrund der weltwirtschaftlichen Entwicklung und der aktuellen Börsenentwicklung. Es gibt aus meiner Sicht zwei wesentliche Punkte, die dazu beigetragen haben, dass diese Entwicklungen so einsetzen. Das eine ist, dass man nach dem 11. September 2001 versucht hat, mit dem süßen Gift billigen Geldes konjunkturell wieder Fahrt aufzunehmen. Das andere ist, dass man auf dieser Grundlage komplexe Finanzprodukte entwickelt hat. Ich möchte massiv davor warnen, die Probleme, die zum Teil auf billiges Geld zurückzuführen sind, erneut mit billigem Geld lösen zu wollen. Das führte nur zu neuen Problemen in der Zukunft. Wir brauchen stabiles Geld. In diesem Zusammenhang möchte ich der Europäischen Zentralbank ein Kompliment machen; denn sie hat im Zeitraum von ihrer Errich14612 tung bis heute einen Stabilitätskurs, einen für die Finanzmärkte stabilisierenden Kurs und einen Kurs für stabile wirtschaftliche Rahmenbedingungen verfolgt. ({0}) Ich möchte eine zweite Bemerkung machen. Kollege Lafontaine hat ja massive Kritik am Bundesfinanzminister geübt. Ich möchte namens meiner Fraktion erklären: Ich freue mich, dass Herr Steinbrück nach wie vor seine Verantwortung, die sowohl in puncto Haushaltskonsolidierung wie auch in puncto Herausforderungen durch die Finanzmärkte schwierig ist, wahrnimmt. Er ist nicht bei Nacht und Nebel durch die Hintertür vor den Problemen geflüchtet, sondern er versucht gemeinsam mit der Koalition, die sich ergebenden Herausforderungen anzugehen. ({1}) Das ist das, was wir von einem verantwortlichen Politiker in diesem Land erwarten: nicht groß reden, sondern Verantwortung wahrnehmen. ({2}) Wir haben eine Wachstumsprognose von 1,7 Prozent. In dieser Debatte wurden sehr deutlich die Risiken vorgetragen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Das ist zu Recht geschehen. Ich will allerdings auch darauf hinweisen, dass die Wachstumsprognose auf Annahmen basiert, die schon von einem Ölpreis von 95 Dollar pro Barrel und einem Leitzins von 4 Prozent ausgehen. Was ich mit diesen beiden Beispielen sagen will: Ein Teil der genannten Risiken ist in den Annahmen des Jahreswirtschaftsberichts abgebildet. Deshalb halte ich die Wachstumsprognose, die hier unterstellt wird, für einen vernünftigen und realistischen Wert. Meine Antwort lautet nicht, dass wir in dieser Situation mehr Verteilungspolitik brauchen, wie das heute Morgen schon verschiedentlich gefordert worden ist. Meine Antwort lautet an dieser Stelle: Wir müssen die Wachstumspolitik der vergangenen drei Jahre weiterführen, indem wir bei einem klaren Reformkurs bleiben, für mehr strukturelles Wachstum in Deutschland sorgen und damit Wohlstand für alle, Wachstum für alle und Arbeit für alle in diesem Land schaffen. ({3}) Es gibt auch positive Anzeichen, die man in einer solchen Debatte nicht vergessen sollte: Die Zahl der Auftragseingänge in der Industrie ist im Zweimonatsvergleich um 5 Prozent gewachsen. Wenn man das in Verbindung mit dem Geschäftsklima sieht, das weiterhin auf einem ansprechenden Niveau ist, und wenn man sieht, wie sich der Arbeitsmarkt entwickelt - immerhin war im vergangenen Jahr bei der Beschäftigung ein Zuwachs von 600 000 Menschen zu verzeichnen, und der Ausblick zeigt, dass wir auf dem Arbeitsmarkt auch im laufenden Jahr eine positive Entwicklung haben werden -, dann ist klar: Es gibt durchaus Anlass zu einem optimistischen Blick auch auf die Binnenkonjunktur. Deshalb sollten wir das nicht herunterreden, Herr Kuhn. Sie haben so getan, als würde die Regierung nichts für die Schaffung von Vertrauen tun. Wir müssen klarmachen, dass wir ein Konzept haben - das haben wir; das kommt auch im Jahreswirtschaftsbericht zum Ausdruck -, dass wir uns nicht durch irgendwelche Tagesmeldungen nervös machen lassen und dass wir unser Konzept Schritt für Schritt umsetzen. Wenn Sie sich die Arbeit der Koalition in den letzten beiden Jahren anschauen, dann stellen Sie fest, dass wir unsere Agenda konsequent abgearbeitet haben. Wir haben nicht ständig korrigiert, wie Sie das in Ihrer Regierungszeit getan haben. Das schafft Vertrauen, und auf diesem Weg werden wir weiteres Vertrauen bei den Menschen gewinnen. ({4}) Wir haben, Herr Brüderle, durch Haushaltskonsolidierung, Unternehmensteuerreform und sinkende Lohnnebenkosten strukturelle Vorsorge für eine bessere Konditionierung des Wirtschaftsstandorts Deutschland getroffen. Ich wundere mich, wenn Sie hier gegen diese Punkte polemisieren. Die Unternehmensteuerreform war nicht nur für die Aktiengesellschaften und GmbHs, sondern auch für den deutschen Mittelstand. ({5}) Wir haben sowohl bei den Steuersätzen als auch bei den Ansparmöglichkeiten für neue Investitionen entlastet, und wir haben bei der Gewerbesteuer dafür gesorgt, dass die Messzahl sinkt und dass die Anrechenbarkeit auf die Einkommensteuer verbessert wird. Das sind alles Maßnahmen, die im Mittelstand positiv ankommen. Wir sollten diese Ergebnisse nicht zerreden, sondern den Menschen deutlich machen, dass es an dieser Stelle seit 1. Januar wesentlich bessere Konditionen gibt. ({6}) Es gibt in diesem Haus Stimmen, die sagen, wir sollten jetzt endlich mit den Reformen innehalten. Es gibt auch Stimmen in diesem Haus, die sagen, wir müssten vielleicht einen Teil der Reformen wieder zurückdrehen. Meine Antwort ist: Wir sollten nicht innehalten und nicht zurückdrehen, sondern wir müssen den Reformweg konsequent weiter vorangehen. Das ist das, was wir jetzt brauchen; ansonsten geraten wir auf einen Irrkurs. Unsere Fraktion steht zu weiteren Reformen, nicht zum Innehalten und nicht zum Zurückdrehen, meine Damen und Herren. ({7}) Wir halten an dem Ziel der Haushaltskonsolidierung und des Haushaltsausgleichs im Jahr 2011 fest. Das ist ein sehr anspruchsvolles Ziel, das wir dort formulieren. Ich möchte in diesem Zusammenhang sagen: Alle Wünsche nach Mehrausgaben, die gegenwärtig vorgetragen werden, müssen sich in den nächsten drei Jahren dem Ziel eines ausgeglichenen Bundeshaushaltes unterordnen. ({8}) Wir müssen auch an dieser Stelle Vertrauen in diesem Land schaffen. Das gelingt uns, wenn wir das Ziel eines ausgeglichenen Haushaltes 2011 erreichen. ({9}) Durch unsere Entscheidungen, speziell durch die Absenkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrages, haben wir die Quote bei den Lohnnebenkosten auf unter 40 Prozent gedrückt. Dieses Ziel, das wir jetzt erreicht haben, haben wir lange mit vielen harten Entscheidungen angesteuert. Ich will an dieser Stelle sagen: Auch bei den Entscheidungen, die in diesem Jahr vor uns liegen, müssen wir darauf achten, dass wir bei den Lohnnebenkosten unter der Grenze von 40 Prozent bleiben. Es steht noch die Entscheidung über den allgemeinen Beitragssatz in der gesetzlichen Krankenversicherung an. Es steht eine Entscheidung über die Pflegeversicherung an. Außerdem steht - hoffentlich - die Entscheidung an, den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung weiter zu senken, wenn die Beschäftigungssituation noch besser geworden ist. In diesem Kontext müssen wir dafür sorgen, dass Arbeit in Deutschland weiterhin günstiger wird und dass die Menschen netto mehr in der Tasche haben. Das ist der Effekt von sinkenden Lohnnebenkosten. Dadurch kommt es zur Teilhabe aller Arbeitnehmer. Das ist eine Politik, bei der alle vom Aufschwung profitieren. ({10}) Heute Morgen ist auch das Thema Tarifverhandlungen angesprochen worden. Ich würde mir wünschen, dass wir Tarifautonomie großschreiben würden. Ich wundere mich darüber, dass zwar die Tarifautonomie im Grundgesetz vorkommt, die Politik aber bei vielen Gelegenheiten gute Ratschläge erteilt. Uns würde etwas mehr Zurückhaltung besser anstehen. Trotzdem müssen wir die Verantwortung derjenigen anmahnen, die die Tarifverhandlungen führen. Sie haben in den vergangenen Jahren einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass wir wirtschafts- und arbeitsmarktpolitisch eine solch tolle Bilanz haben, indem sie vernünftige Tarifergebnisse erzielt haben. Meine Bitte ist, dass sie diesen Weg der Vernunft gemeinsam weitergehen und ihre Verantwortung wahrnehmen. Damit tun sie den Menschen in unserem Lande etwas Gutes. ({11}) Es wird suggeriert, dass man für die Sicherheit der Arbeitsplätze etwas tun könnte, wenn man mehr Sicherheitsregeln und mehr Starrheit ins Arbeitsrecht einbaut. Meine These ist: Das ist eine Scheinsicherheit. Wenn wir Arbeitsplätze in Deutschland sicherer machen wollen und wenn wir mehr Arbeit in Deutschland schaffen wollen, brauchen wir mehr Flexibilität. Durch mehr Flexibilität, aber nicht durch mehr Starrheit bekommen die Menschen eine größere Chance auf Arbeit. Wenn wir für die Menschen etwas tun wollen, sollten wir uns darum bemühen, dass wir an dieser Stelle mehr Flexibilität schaffen. Das gibt ihnen eine Zukunftsperspektive. Ein wesentliches Thema, das heute Morgen am Rande angeklungen ist, ist die Energiepreisentwicklung. Viele Menschen leiden unter dem Anstieg der Lebensmittelpreise und der Energiepreise. Ich will an dieser Stelle darauf hinweisen, dass diese Entwicklung auch etwas mit Angebot und Nachfrage zu tun hat. Die Nachfrage ist über einen gewissen Zeitraum relativ konstant. Aber auf der Angebotsseite wird permanent eingegriffen. Deshalb bin ich nicht der Meinung, dass wir Sozialtarife bei den Energiepreisen brauchen. Wir brauchen vielmehr soziale Energiepreise insgesamt, die wir hinbekommen können, indem wir die Politik der Angebotsverknappung beenden. ({12}) Wir brauchen eine Angebotserweiterung; denn die Angebotserweiterung führt zu günstigeren Tarifen für alle. ({13}) Ich bin sehr wohl für den weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien. Ich halte es für verdienstvoll, dass man nicht nur die Produktion, sondern auch den Grundlastanteil erneuerbarer Energien ausbaut. Ich bin aber auch der Meinung, dass wir nicht durch Herausnahme der Kernkraft aus dem Strommarkt und der Grundlast zu einer Angebotsverknappung kommen dürfen. Denn dadurch greift man den Menschen in den Geldbeutel. Das kostet die Menschen Wohlstand. Deshalb möchte ich eine solche Politik, die zulasten der Menschen in unserem Land geht, nicht verantworten. ({14}) Ich freue mich, dass der Bundeswirtschaftsminister in den vergangenen beiden Jahren eine sehr erfolgreiche Politik gemacht hat und einen realistischen Kurs bei der Energiepolitik in Deutschland eingeschlagen hat. Ich möchte ausdrücklich dafür Danke sagen, dass er nicht mit zu starken ordnungsrechtlichen Eingriffen, sondern mit Förderung und Marktanreizen versucht, die Ziele, die wir uns energiepolitisch und klimapolitisch gesetzt haben, zu erreichen. Das ist der Versuch, politische Ziele mit marktwirtschaftlichen Instrumenten in Deutschland umzusetzen. An dieser Stelle ist er auf dem richtigen Weg. ({15}) Meine Damen und Herren, wir alle haben in den vergangenen Tagen mit großem Bedauern die Entwicklung bei Nokia in Nordrhein-Westfalen verfolgt. Ich glaube, unsere Antwort muss sein, zu versuchen, den Mittelstand in Deutschland mit seinen Talenten, seinen Fertigkeiten, seiner Flexibilität zu stärken. Deshalb will ich Ihnen hier sagen: Wir als Union setzen eine Erbschaftsteuerreform um, die verfassungsgemäß ist und dafür sorgt, dass mittelständische Unternehmen günstiger an die nächste Generation weitergegeben werden können; dafür stehen wir. Damit schaffen wir ein Stück Vertrauen in diesem Land, und mittelständische Strukturen werden gestärkt. ({16}) Wir sorgen dafür, dass über das Thema Mitarbeiterbeteiligung gesprochen wird. Das stärkt die mittelständi14614 schen Unternehmen, das stärkt die Arbeitnehmer. Wir wollen ein mittelstandsfreundliches Vergaberecht, wir wollen den Abbau von Bürokratie, und wir wollen die Erfolgsgeschichte der Zeitarbeit weiterführen, um auch dort für mehr Flexibilität zu sorgen. ({17}) Wenn wir das tun, dann werden neue, tragfähige Strukturen errichtet, und dann wird nicht nur über Strukturen gejammert, die leider momentan in Gefahr sind. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und hoffe, dass wir gemeinsam tatkräftig an der Umsetzung arbeiten. ({18})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Martin Zeil ist der nächste Redner für die FDP-Fraktion. ({0})

Martin Zeil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003868, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Jahreswirtschaftsbericht trägt die Überschrift „Kurs halten!“. Der Sachverständigenrat sagt über die Politik dieser Regierung: Es ist keine klare wirtschaftspolitische Strategie und Richtung erkennbar. Das ist der Grund, warum viele Menschen gerade im Mittelstand das Motto „Kurs halten“ eher als Drohung empfinden. ({0}) Haben Sie denn überhaupt einen Kurs und, wenn ja, einen, der gehalten werden sollte? Ich nenne ein paar Beispiele: Sie machen ein bürokratisches Gesetz über Mindestarbeitsbedingungen, statt endlich Barrieren beim Eintritt in den Arbeitsmarkt abzubauen. ({1}) Sie machen ein Steuerrecht, das immer komplizierter statt einfacher und gerechter wird. Sie haben es ja jetzt wieder vom Bundesfinanzhof um die Ohren gehauen bekommen: Was Sie machen, ist zum Teil auch verfassungswidrig. Sie treiben die Abgaben und Lohnnebenkosten in allen Bereichen - Rente, Pflege, Krankenversicherung per saldo in die Höhe, statt sie wirklich spürbar abzusenken. Sie machen eine Unternehmensteuerreform überwiegend auf Kosten des Mittelstandes, Herr Wirtschaftsminister, statt den Mittelstand so zu entlasten, dass er es auch wirklich merkt. ({2}) Sie legen eine Erbschaftsteuerreform vor, mit der Sie nicht nur hinter Ihre eigene Koalitionsvereinbarung zurückfallen, sondern die so bürokratisch, so übergabefeindlich, so arbeitsplatzgefährdend ist, dass sie geradezu ein Schlag in das Gesicht der mittelständischen Familienunternehmen ist. ({3}) Ja, wir sind heute alle durch die Entscheidung von Nokia betroffen, vor allen Dingen durch die Art und Weise. Wo aber ist die Glaubwürdigkeit der Regierung bei diesem Thema, wenn sie ein Vielfaches an Arbeitsplätzen durch gesetzlich verordnete Mindestlöhne vernichtet? Das ist nur ein kleiner Ausschnitt aus Ihrem konkreten Regierungshandeln. All das hat mit den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft, mit dem Mut zu Reformen nicht das Geringste zu tun. Noch schlimmer: Mit diesem Zickzackkurs schaden Sie auch der Glaubwürdigkeit von Politik insgesamt. Nehmen wir nur das Thema Mindestlohn. Ich zitiere den Beschluss des CDU-Parteitages im Dezember letzten Jahres. Die Überschrift heißt: Was mit uns nicht zu machen ist Dann kommt: Wer Unternehmen zwingen will, einen Lohn zu zahlen, der nicht zu erwirtschaften ist, der sorgt dafür, dass viele Menschen gar keinen Lohn mehr bekommen. Deshalb wird es mit der CDU Mindestlöhne, die Arbeitsplätze vernichten und Wettbewerb aushebeln, nicht geben. Nur eine Woche später hatten wir den ersten Mindestlohn. ({4}) Sie brechen Ihr Wort und erwarten, dass die Menschen Ihnen noch glauben. Das kann nicht funktionieren und schafft kein Vertrauen. Ich möchte noch ein Wort zur aktuellen Diskussion über Subventionen in Deutschland und Europa sagen. Wir sollten über einen grundsätzlichen Politikwechsel nachdenken. Wäre es oft nicht besser, öffentliche Mittel in den Ausbau unserer Infrastruktur zu stecken und unsere Standorte nachhaltig zu stärken, anstatt eine Ansiedlungspolitik zu treiben, die das Risiko des Verfallsdatums schon in sich birgt? ({5}) Der Bericht, den wir heute debattieren, soll mit schönen Überschriften verschleiern, dass diese Regierung längst einen Kurswechsel zu mehr Staat und weniger Marktwirtschaft eingeleitet hat. Damit kann man vielleicht vorübergehend Ängste dämpfen, aber man verspielt damit auch die Zukunftschancen der Menschen. Soziale Marktwirtschaft heißt Verbindung von Freiheit, Wettbewerb und sozialem Ausgleich. Die soziale Marktwirtschaft hat sich als einzigartiges Erfolgsmodell erwiesen. Wir können aber die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft nur dann glaubwürdig exportieren und ihre Beachtung auch von anderen erwarten, wenn wir sie im eigenen Land nicht ständig mit Füßen treten, sondern endlich wieder zur Geltung bringen. Herzlichen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Spiller hat nun als Nächster für die SPDFraktion das Wort.

Jörg Otto Spiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir schauen auf ein wirtschaftlich erfolgreiches Jahr 2007 zurück, das uns die besten Zahlen seit langem gebracht hat: einen kräftigen Rückgang der Arbeitslosigkeit, eine Zunahme der Beschäftigung insbesondere bei den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen, eine sehr mäßige Inflationsrate von um die 2 Prozent und einen brillanten Abschluss unserer Leistungsbilanz im Wirtschaftsverkehr mit dem Rest der Welt. Normalerweise bestünde nur Grund für Zuversicht und für Zufriedenheit über das Erreichte. Die Auftragsbücher der deutschen Unternehmen sind gut gefüllt, und die Wettbewerbsfähigkeit ist ungebrochen. Aber es gibt weltweit und auch bei uns Krisensorgen. Sie resultieren - Herr Kollege Stiegler hat das am Anfang sehr deutlich dargestellt - aus unverantwortlichem Handeln bei spekulativen Bankgeschäften. Es ist geradezu bedrückend, dass genau in jenen zwei, drei Jahren, in denen wir im Deutschen Bundestag, aber auch in vielen internationalen Gremien darüber gesprochen haben, wie man sicherstellen kann, dass Kreditrisiken besser als bisher erfasst werden und Banken ein saubereres System der Risikoabschätzung und der Risikokontrolle einführen - Stichwort: Basel II; das ist, wie ich finde, nach langen Anstrengungen zu einem sehr eindrucksvollen und guten Ergebnis gebracht worden -, weltweit, aber eben auch in Deutschland bei den Kreditinstituten eine Welle des unverantwortlichen Zockens begonnen hat. Wir stehen jetzt in der wirklich bedrückenden Konstellation, dass die hervorragenden realwirtschaftlichen Grundlagen durch Sorgen in der Finanzwirtschaft gefährdet werden. Dies geht so weit, dass auch die Europäische Zentralbank und die Deutsche Bundesbank abwägen müssen, ob sie ihre Geldpolitik an den primären Belangen von Geldwertstabilität ausrichten oder ob sie wie die amerikanische Notenbank sagen, sie müssten für mehr Liquidität sorgen, um weitere Erschütterungen an den Finanzmärkten zu vermeiden. Was ist die Antwort? Was muss man in dieser Situation tun? Alles, was in der Vergangenheit über Deregulierung, lieber Herr Kollege Zeil, ({0}) und die Freiheit der Marktwirtschaft gesagt worden ist, kann meines Erachtens nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in der Finanzwirtschaft klare Regelungen geben muss. ({1}) Das fängt nicht mit der staatlichen Aufsicht an, sondern mit der Leitung der Institute selbst und der Verantwortung des Vorstandes. Die Vorstände müssen sich der Verantwortung dafür bewusst sein, was sie tun, wenn sie die dritte oder vierte Ableitung von irgendeinem Produkt für eine risikobewusste Anlage halten. Das setzt auch voraus, dass die vorhandenen Gremien - insbesondere der Aufsichtsrat - ihre Verantwortung wahrnehmen. Der Aufsichtsrat hat ein sehr wichtiges Hilfsorgan, nämlich die Wirtschaftsprüfer. Es ist niederschmetternd, dass bei jeder größeren Krise eines Unternehmens - insbesondere bei den Banken - der Prüfungsvermerk des Wirtschaftsprüfers bescheinigt, dass alles in Ordnung ist und die Risiken gut erfasst sind. Wenn wir zu den Schlussfolgerungen kommen, dann müssen wir uns also nicht nur mit der Organisation der Bankenaufsicht in Deutschland befassen, sondern auch mit den Aufgaben, der Haftung und vielleicht auch den Möglichkeiten von Wirtschaftsprüfern. Wir müssen auch zu einer Verbesserung der Bankenaufsicht in Deutschland kommen. Das ist nicht nur eine nationale Aufgabe, aber jeder muss in dem Bereich anfangen, für den er zuständig ist, und wir sind für die Bankenaufsicht in Deutschland zuständig. Die Bankenaufsicht in Deutschland wird seit langem von zwei Institutionen getragen. Die laufende Kontrolle ist Aufgabe der Deutschen Bundesbank. Darüber hinaus gibt es die BaFin, die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, die aus der Zusammenlegung der drei Bundesaufsichtsämter für das Kreditwesen, das Versicherungswesen und den Wertpapierhandel hervorgegangen ist. Die beiden Institutionen, in denen viel Sachkenntnis vorhanden ist, versuchen zu Recht, sich möglichst selbstständig über ihre Richtlinien der konkreten Ausführung der Bankenaufsicht zu verständigen. Aber wir warten jetzt schon eine ganze Weile darauf, dass diese Verständigung zu einem Ergebnis führt. Ich erinnere daran, dass es nach dem Kreditwesengesetz möglich ist, dass der Bundesfinanzminister Vorgaben macht oder Beschlüsse fasst. Das mag der Bundesbank nicht recht sein, aber in diesem Bereich ist die Bundesbank keine autonome Behörde; sie ist an die Regeln des Kreditwesengesetzes gebunden. Auch das ist zu berücksichtigen, wenn es darum geht, zu einem Ergebnis zu kommen. Ich bin sicher, dass wir in den nächsten Monaten zu einer umfassenden Neuregelung kommen müssen. Auch der Bundestag wird sich damit befassen müssen; er kann das nicht ausschließlich der Bundesbank und der BaFin überlassen. Erlauben Sie mir noch eine Schlussbemerkung zu der Eigenverantwortung der Banken. Es gibt die große Sorge, dass sich die Unsicherheit bis in den Frühsommer hinein fortsetzt, weil die Hauptversammlungen zum Teil erst im Mai oder Juni stattfinden. Es wäre angemessen, wenn die Banken, die derzeit einander misstrauen - es ist ein Problem, dass die Banken nicht nur bei dem Rest der Wirtschaft und bei vielen Kunden Vertrauen verloren haben, sondern dass sie auch einander nicht mehr trauen -, ({2}) zumindest die Termine ihrer Bilanzpressekonferenzen vorziehen. Es kann nicht sein, dass sich diese Unsicherheit bis in den Frühsommer fortsetzt. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Laurenz Meyer ist der nächste Redner für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Laurenz Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003592, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man sich die Debatte heute Morgen anhört, dann stellt man zunächst fest, dass es wohltuend ist, dass der Wirtschaftsminister in einer sehr unaufgeregten Art ({0}) die Risiken, die am Horizont sind, behandelt und erklären kann - das unterscheidet uns von Vorgängerregierungen -, dass man sich bei den Prognosen im Jahreswirtschaftsbericht unter Beachtung der Risiken an dem unteren Ende der heute vorhandenen Prognosen zur Wirtschaftsentwicklung orientiert hat; denn die Verunsicherung in der Bevölkerung, die wir bisher hatten, lag zu guten Teilen darin begründet, dass immer wieder nach unten korrigiert werden musste. Dass die Bundesregierung diesen Weg nicht einschlägt, ist wirklich verdienstvoll. Das schafft Sicherheit über den Kurs und sorgt für Stabilität. ({1}) Ich verstehe manche Reaktionen zurzeit überhaupt nicht. Man konnte die Risiken in die Prognosen einbeziehen; denn wer sich als interessierter Laie nur halbwegs mit der Finanzierungssituation am amerikanischen Immobilienmarkt und mit der Verschuldungssituation amerikanischer Privathaushalte beschäftigt hat, der musste wissen, dass das System auf Dauer so nicht funktionieren kann, und der musste froh sein, dass wir in Deutschland ein solches System nicht haben und es deshalb bei uns solche Vorgänge nicht geben wird. ({2}) Lassen Sie mich an der Stelle zwei Punkte sagen, in denen ich mich von dem Kollegen Brüderle unterscheide. Er ist gerade nicht da, aber er wird wahrscheinlich noch irgendwo sein. ({3}) Ich sage es trotzdem: Wir brauchen mehr Transparenz über die Vorgänge an den Finanzmärkten, und die Absicht der Bundesregierung, diese herzustellen, unterstützen wir als Fraktion nachdrücklich. ({4}) Ich sage auch ganz klar zu dem, was er hier etwa zum Thema Staatsfonds vorgetragen hat: Die FDP sollte in sich gehen und ihre Haltung überprüfen. Ich sage Ihnen klipp und klar meine Meinung dazu: Wenn ich will - möglicherweise im Gegensatz zu der einen oder anderen Fraktion hier im Parlament -, dass sich der deutsche Staat aus deutschen Unternehmen zurückzieht und keinen politischen Einfluss auf Unternehmensentscheidungen ausübt, ({5}) dann will ich erst recht nicht, dass ausländische Staaten mit ihren Staatsfonds auf deutsche Unternehmen politischen Einfluss nehmen. Dass wir da Beschränkungen vorsehen, Grenzen setzen und für Transparenz sorgen müssen, müsste, so glaube ich, jedem einleuchten, eigentlich auch der FDP, weil sie die Grundannahme teilt. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Lieber Herr Meyer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fricke?

Laurenz Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003592, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Otto Fricke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Meyer, es ist immer einfach, wenn man sich Vorurteile sucht und darauf die Argumentation aufbaut. Ich glaube, wir sind uns vollkommen darüber einig, dass wir nicht wollen, dass irgendeiner aus der Politik - sei er aus dem Binnenland, sei er aus dem Ausland politischen Einfluss nimmt. Dazu will ich fragen: Heißt das, Sie wollen grundsätzlich nicht, dass ausländische Fonds, etwa aus Norwegen, sich an deutschen Unternehmen beteiligen, etwa an deutschen Banken, um den Bankenstandort zu sichern? Heißt das, Sie wollen, wenn es keinen politischen Einfluss gibt - den wollen wir beide nicht -, die Beteiligung trotzdem nicht, oder sagen Sie: Wenn es ohne politischen Einfluss geht, dann hätte ich sie gerne? Diese Differenzierung hätte ich recht gerne. Das andere wäre mir doch ein bisschen zu einfach.

Laurenz Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003592, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es ist klar gesagt worden - das haben wir in der bisherigen Diskussion auch zum Ausdruck gebracht, lieber Kollege Fricke -: Es geht darum, ob an irgendeiner Stelle entscheidend Einfluss genommen werden kann. ({0}) Wir wollen Transparenz darüber. Die Frage ist nicht, ob sich privatwirtschaftlich organisierte Fonds an deutschen Unternehmen beteiligen - auch da wollen wir Transparenz; wir wollen um die Vorgänge wissen und Kenntnis davon haben, wer dahinter steht -; vielmehr geht es um die Frage, inwieweit zum Beispiel Staatsfonds aus Russland, aus China oder aus anderen Ländern hier entscheidend Einfluss nehmen. ({1}) - Norwegen müssen wir nach unserer Rechtslage selbstverständlich genauso behandeln wie andere auch. Wenn es um Staatsfonds geht, sollten ausländische Staatsfonds, wenn sie denn Anteile in einem Umfang erwerben, dass politischer Einfluss möglich ist, nicht anders behandelt werden als etwa der deutsche Staat und Laurenz Meyer ({2}) die übrigen EU-Staaten. Anders können wir im Übrigen gar nicht handeln. Wir müssen die Beteiligung aus Drittländern und die Beteiligung aus EU-Ländern gleich behandeln. Wir würden sonst Vertrauen in unsere Kapitalmärkte zerstören. Der Kollege Stiegler hat vorhin zur Entwicklung der Arbeitnehmereinkommen und der Kapitaleinkommen vorgetragen. Unter Bezugnahme auf die aktuelle Situation könnte man sagen: Lieber Ludwig Stiegler, alles das ist überholt. Innerhalb von zwei Tagen ist die Statistik, die Sie hier zitiert haben und aus der hergeleitet wird, was wir alles tun sollen, hinfällig geworden. Das hat sich in Wohlgefallen aufgelöst. Innerhalb von zwei Tagen hat sich das völlig geändert. ({3}) Manch ein Arbeitnehmer wird sich darüber freuen, dass er ein gesichertes Einkommen hat und nicht von solchen Einnahmen abhängig ist. Meine Damen und Herren, liebe Freunde aus dem Parlament hier, wir müssen uns mit der Grundfrage beschäftigen: Was ist die Lösung - das ist auch von Herrn Kuhn angesprochen worden -, wenn man feststellt, dass die Arbeitnehmer netto letztlich zu wenig in der Tasche behalten? ({4}) Das ist die Frage, die uns am meisten beschäftigt, wobei ich das eingrenzen will. Ich betone: Wir beschäftigen uns zu viel, in manchen Bereichen ausschließlich mit der Situation von Transferempfängern. Die eigentlich Gekniffenen in unserer Bevölkerung, die unsere höchste Aufmerksamkeit verdienen, sind die Arbeitnehmer, die kein BAföG mehr bekommen, die keine Energiekostenzuschüsse mehr bekommen, die für sich und ihre Familie mit ihrem Einkommen selbst sorgen müssen. Das ist die Gruppe, mit der wir uns beschäftigen müssen. ({5}) - Damit sind wir voll beim Thema. Dazu haben Sie zwei Lösungswege aufgezeigt. Sie haben die Progression bei den Sozialversicherungsbeiträgen angesprochen und haben sich zum Mindestlohn geäußert. Zunächst zu dem, was Sie zum Mindestlohn gesagt haben - ich hätte Ihnen gar nicht zugetraut, dass Sie das hier wirklich vortragen, weil ich Sie für einen intelligenten Menschen halte -: Niemand soll mehr Aufstocker sein in Deutschland. - Lieber Herr Kuhn, wollen Sie Mindestlöhne von 12 Euro für eine Familie mit zwei Kindern? Sie wissen doch - wenn nicht, dann lesen Sie das bitte in der Studie des IAB über die Zusammensetzung der Gruppe der Aufstocker nach -: Wenn wir von einem Mindestlohn von 7,50 Euro reden, geht es maximal um 60 000 Arbeitnehmer in Deutschland, und zwar alleinstehende Vollzeitbeschäftigte. Alle anderen sind von dieser Diskussion überhaupt nicht betroffen. Der Sozialminister führt immer die Zahl von 1,2 Millionen im Munde. Das ist eine Phantomdiskussion. Hier soll etwas geschürt werden, weil man ein bestimmtes politisches Ziel hat. Wir müssen den Menschen sagen, dass sich in ihrem Portemonnaie überhaupt nichts ändert, wenn diese Pläne für einen flächendeckenden Mindestlohn umgesetzt werden. Maximal wird ein Teil der sozialen Transferleistungen, die der Bundesfinanzminister zur Verfügung stellen muss, gegen einen Teil, der vom Arbeitgeber kommt, ausgetauscht. Und für dieses Risiko sollen wir den Kollateralschaden von ein paar Hunderttausend wegfallenden Arbeitsplätzen einplanen? Das wird es mit der Unionsfraktion nicht geben. ({6}) Zu der Ankündigung, dass nach den Tarifverhandlungen bei der Bahn ein Antrag auf Mindestlohn gestellt werden soll - die Bitte war an Sie, sehr verehrte Frau Bundeskanzlerin, und Ihre Bundesregierung gerichtet; ich habe das heute Morgen im Fernsehen gesehen -, will ich klipp und klar sagen: Es gibt bei der Bahn anders als bei der Post kein Gesetz, das uns zwingt, irgendwelche Bedingungen zu schaffen. Wir werden bei der Bahn nicht bereit sein, die Tarife in einen Mindestlohntarifvertrag zu kleiden; das würde den aufkeimenden Wettbewerb, den es da in Ansätzen gibt, zerstören. Hier soll Wettbewerb stattfinden. Den werden wir nicht kaputtmachen. Das ist die Meinung der Unionsfraktion; da bin ich mir ganz sicher. ({7}) Wir müssen hier auch über den zweiten Punkt diskutieren, den Sie, Herr Kuhn, angesprochen haben, nämlich die Sozialversicherungsbeiträge. Da gehen Sie ja einen Schritt weiter als wir. Nach unserer Meinung sollte man die Krankenversicherungsbeiträge teilweise von den Arbeitnehmereinkommen abkoppeln. Deshalb unser Vorschlag zur Einführung einer Gesundheitsprämie. Sozial gestalten könnte man das, indem ein Ausgleich über steuerfinanzierte Leistungen stattfindet, also eine Umschichtung in der Form, dass man die für Sozialversicherungssysteme typische Bindung an die Arbeitnehmereinkommen aufhebt und das stärker über Steuern finanziert. Ich halte das für den richtigen Weg. Wir müssen in diesen Bereichen umschichten, damit insbesondere die, die wenig verdienen, mehr in der Tasche haben. Der Weg über steuerfinanzierte Leistungen ist da der richtigere, weil er der sozial gerechtere ist. Sie schlagen im Kern nichts anderes vor, als eine neue Steuer für Gesundheit einzuführen; das gilt ja auch für andere Bereiche wie die Pflege, während Sie bei der Rente diesen Weg nicht beschreiten wollen. Indem Sie nun fordern, eine neue Steuer für diesen Bereich einzuführen, gehen Sie noch einen Schritt weiter und treten für eine völlige Abkopplung ein. Man muss sich da über die Frage unterhalten - ich halte das für eine spannende Diskussion -, wie man das machen kann. Sinnvoll erscheint es mir auf alle Fälle, dass der Normalarbeitnehmer nicht mehr alle Rentner und die entsprechenden Laurenz Meyer ({8}) Ausgaben für Kinder mitfinanzieren muss. Hier hat die Bundesregierung entsprechende Beschlüsse gefasst. Wir werden das nach und nach, Schritt für Schritt umsetzen; denn das ist richtig so. ({9}) Meine Damen und Herren, es ist hier vorgetragen worden, welche Folgen die Globalisierung im Moment mit sich bringt. Ich will ganz klar sagen, dass Deutschland zu den Gewinnern der Globalisierung gehört. ({10}) 600 000 neue Arbeitsplätze im letzten Jahr - das ist ein deutlicher Beweis dafür. ({11}) Natürlich müssen wir uns mit dem Problem beschäftigen, dass es die Geringqualifizierten, also diejenigen, die keinen Schulabschluss oder keine Berufsausbildung haben, in Zeiten der Globalisierung schwerer haben als andere. Darauf müssen wir reagieren und uns über die Frage unterhalten, wie wir dafür sorgen können, dass die Arbeitsplätze, die aufgrund der Globalisierung bei uns gefährdet sind, erhalten werden können bzw. die Arbeitnehmer und ihre Familien genügend Einkommen haben. Unsere Antwort darauf ist die Sicherstellung eines Mindesteinkommens für jeden in Deutschland unter sozialen Gesichtspunkten. Ich bitte Sie, lieber Kollege Stiegler, darüber noch einmal nachzudenken. Dies macht mehr Sinn, als sich darüber zu beklagen, dass immer mehr Arbeitsplätze abwandern. Das ist einfach eine Tatsache. Da zieht auch ein Vergleich mit Großbritannien nicht; denn von London aus kann man zum Beispiel Wäsche nicht zum Waschen nach Polen schaffen, von Berlin aus aber jederzeit. Das ist doch der Punkt, auf den wir hinweisen müssen. Wir werden das immer und immer wieder tun. Ich habe heute Morgen gelesen, dass der Kollege Stiegler gestern Abend einen anderen SPD-Politiker als „Endmoräne des Montanzeitalters“ bezeichnet hat. Dazu sage ich klipp und klar: In Wahlkampfzeiten nehme ich es ja noch hin, dass der Kollege Stiegler so etwas sagt. Aber er ist viel zu intelligent, um nicht zu wissen, dass das Unsinn ist, was er da vorträgt. Wenn wir uns gemeinsam darum bemühen und es schaffen, dass bis 2020 30 Prozent oder gar - Herr Kuhn, lassen Sie uns einmal theoretisieren; das halte ich technisch durchaus für möglich - 40 Prozent des Energiebedarfs aus regenerativen Energien erzeugt werden, dann ist zugleich klar, dass die anderen 60 Prozent auch irgendwie erzeugt werden müssen; denn ohne ausreichende Energie geht unsere Wirtschaft ein. Zur Deckung dieser 60 Prozent bleiben nur Kohle und Kernenergie übrig, weil auf zusätzliches Erdgas aus Russland für Kraftwerke niemand in diesem Saal mehr setzen will. Wer angesichts dieser Situation den Leuten in Hessen weiszumachen versucht, wir bräuchten keine neuen Kohlekraftwerke, um die alten zu ersetzen, und damit eine völlig andere Position als die eigene Partei hier im Bundestag vertritt, der erzählt den Leuten schlicht und ergreifend die Unwahrheit; denn das ist Unsinn. ({12}) Wer dann noch hinzufügt, sämtliche Alternativenergien, Wind, Wasser und Sonne, seien umsonst, der soll doch einfach einen Blick in die Haushaltszahlen für das CO2Programm werfen: Dort sind Milliardenbeträge zur Finanzierung der Umsteuerung unserer Volkswirtschaft eingestellt. Es kommt noch etwas hinzu - lieber Ludwig Stiegler, ich bitte Sie, ernsthaft darüber nachzudenken -: Technikfeindlichkeit und Angst vor Neuerungen - Chemie, Biound Gentechnik, Energietechnik, all diese Bereiche - sind in unserem Land weit verbreitet. ({13}) Wir müssen uns aber dazu bekennen, dass Deutschland ein Industrieland ist und bleiben muss, wenn wir hier die Dienstleistungen finanzieren wollen, von denen bei uns in Zukunft immer mehr Menschen leben sollen. Deshalb müssen wir bereit sein, Neuerungen vorzunehmen. Wir müssen uns darauf einstellen - darauf hat Frau Merkel schon hingewiesen, bevor sie Bundeskanzlerin wurde -: Da die Erzeugung in unserem Land teuer ist, müssen wir immer so viel besser sein, wie wir teurer sind. Das ist ein einfacher Satz; aber er stimmt nach wie vor und ist nicht umzustoßen. Ich halte manche Argumente, die in den jetzt stattfindenden Wahlkämpfen vorgetragen werden, für sehr gefährlich, weil sie Feindlichkeit schüren. Ich komme zum Schluss. Um die Debatte komplett zu machen, Herr Lafontaine - Sie haben einen Kurswechsel gefordert -: Fragen Sie einmal die 600 000 Menschen, die im letzten Jahr einen neuen Arbeitsplatz bekommen haben - manchmal nach Langzeitarbeitslosigkeit -, ob sie den Kurs wechseln wollen! Ich füge hinzu: Fragen Sie vor allen Dingen die Leute, die in Bundesländern leben, in denen die PDS oder Die Linke jemals mit an der Regierung gewesen ist. Überall dort, wo sie mit an der Regierung war, ging es nach unten und befand man sich am Ende der Skala; nirgendwo gab es Erfolge. Immer dann, wenn die Regierung gewechselt hat und Sie aus der Regierung herausflogen, ist es besser geworden. ({14}) Deswegen sind wir nach wie vor der Überzeugung: Mit unserem Kurs geht es den Menschen in Deutschland besser, und deshalb wird er fortgesetzt. ({15})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die FDP-Fraktion hat nun das Wort die Kollegin Gudrun Kopp. ({0})

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! Lieber Kollege Meyer, bei Ihnen klaffen Reden und Handeln völlig auseinander. ({0}) Sie beklagen die Debatte um den Mindestlohn. Dennoch hat die Union gerade dem Postmindestlohn zugestimmt, und das trotz der Wettbewerbsnachteile, die für alle Wettbewerbsteilnehmer damit verbunden sind. Denken Sie an den Mehrwertsteuervorteil und weitere Vorteile - Stichwort „Unfallversicherung“ -, durch die die Deutsche Post AG privilegiert ist und bleibt. Sie wundern sich, dass auch an anderen Stellen Debatten aufkommen und Begehrlichkeiten geweckt werden, Stichwort - Sie haben es eben genannt - „Deutsche Bahn“, das Quasistaatsunternehmen. Schauen Sie doch einmal nach Großbritannien: Die Bahn hat dort gerade eine Regionalbahn im Wert von 200 Millionen Euro gekauft. In Großbritannien wird Offenheit praktiziert. Sie hier in Deutschland denken dagegen darüber nach, das Außenwirtschaftsgesetz dahin gehend zu ändern, dass sensible Infrastruktur künftig durch Staatsfonds und staatliche Beteiligungen vor Einflussnahme geschützt wird. An dieser Stelle haben Sie also einen völlig anderen Weg eingeschlagen. ({1}) Wir haben in der Tat eine Vertrauenskrise in verschiedenen Bereichen - der Kollege Brüderle hat es heute Morgen hier sehr deutlich gesagt -: bei den Banken, in der Energiewirtschaft und auch, wie der Fall Nokia zeigt, im Telekommunikationssektor. Ich als NordrheinWestfälin möchte ausdrücklich sagen: Wir prangern die mangelnde Kommunikation in dieser Sache an, und wir nehmen die Ängste und Nöte der Menschen sehr ernst. Es ist aber nicht zu akzeptieren, dass hier einige durch Boykottaufrufe Symbolpolitik zu betreiben versuchen. Ich halte das für in größtem Maße unseriös. Wir müssen über politische Handlungen nachdenken und darüber, ob wir an bestimmter Stelle noch richtig aufgestellt sind. ({2}) Ich will etwas vertiefen, was auch der Kollege Zeil eben angesprochen hat, nämlich unsere Förderpolitik. Als Beispiel nenne ich die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, die in den letzten fünf Jahren mit 4,4 Milliarden Euro ausgestattet war. Wir müssen überlegen, ob wir an dieser Stelle richtig handeln. Der Bericht des Bundesrechnungshofs stellt richtigerweise dar, dass erstens der Einsatz dieser Bundesmittel unzureichend kontrolliert wird, zweitens das Parlament über die Wirkung der Fördermittel unvollständig informiert wurde und wird sowie drittens die Angaben der Länder über neugeschaffene Dauerarbeitsplätze überhaupt nicht vorliegen. Für mich ist völlig klar, dass wir uns mit folgenden Fragen auseinandersetzen müssen: Was nützen Förderungen eigentlich? Sind sie nicht eher wettbewerbsfeindlich? Bringen sie die Strukturen nicht eher durcheinander, als dass sie hilfreich sind? Darüber müssen wir natürlich diskutieren. Die GA-Fördermittel werden ohne Prüfung einer wirtschaftlichen Bedürftigkeit des Empfängers verteilt. Diese Mittel werden ausschließlich eingesetzt, um in strukturschwachen Regionen Unternehmen anzulocken. Wenn das der einzige Grund ist, hat diese Förderung kein tragfähiges Fundament. Ich fordere insbesondere die Große Koalition auf, sich hierüber Gedanken zu machen. Wir jedenfalls tun das und fordern ein entsprechendes Handeln von Ihnen ein. Lieber Kollege Stiegler, ich möchte auf Sie zu sprechen kommen. ({3}) - Ich habe Sie gesehen. - Ich bitte Sie, in Sachen Energiepolitik seriös und wahrheitsgemäß zu argumentieren. 71 Prozent der Stromproduktion werden im Augenblick aus Kernenergie und Kohle gewonnen: 27 Prozent aus Kernenergie und 44 Prozent aus Kohle. Diese Zahl wird nach neuesten Gutachten bis zum Jahr 2020 in etwa bestehen bleiben. Sie haben Herrn Clement angeprangert, weil er darauf hingewiesen hat, dass es eine unseriöse Aussage Ihrer Kollegin in Hessen zum Thema Energiepolitik gibt, weil er darauf hingewiesen hat, dass die Lücke in der Stromproduktion nicht allein durch den Einsatz erneuerbarer Energien zu füllen ist - ganz zu schweigen von den Energiepreisen und der Frage der Versorgungssicherheit.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, darf ich Sie an Ihre Redezeit erinnern?

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Letzter Satz. - Es ist unseriös, wenn Sie der Bevölkerung weismachen wollen, das sei tatsächlich leistbar. Ich bitte Sie wirklich, in sich zu gehen, seriös zu argumentieren und den Energiestandort Deutschland nicht auf ein unsicheres Fundament zu stellen. Vielen Dank. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat noch einmal der Kollege Ludwig Stiegler das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Ludwig Stiegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Kollege Laurenz Meyer hat wie in alten Zeiten, als wir noch gegeneinander arbeiten durften, meinen Adrenalinspiegel erhöht. ({0}) - Nein, wir arbeiten jetzt gut und freundschaftlich zusammen. Wir kommen zwar von unterschiedlichen Ufern, aber wir finden immer wieder Brücken, und seien es Pontonbrücken. ({1}) Da, wo die Liberalen sich scheuen, gehen der Meyer und ich hinüber. Wir kommen schon ans Ufer. Frau Kopp, Sie verbreiten hier Unwahrheiten über die hessische Energiepolitik. Hier wird unterstellt, Andrea Ypsilanti oder Hermann Scheer hätten gesagt, sie wollten alles mit erneuerbaren Energien machen. Die Wahrheit ist, dass sie auf Kraft-Wärme-Kopplung setzen - auch und gerade aufbauend auf Kohlebasis - und wir als SPD hinterher sind, dass die Unternehmen gerade in einem dicht besiedelten Land wie Hessen, wo es Wärmesenken genug gibt, das Thema Kraft-Wärme-Kopplung angehen. Wir setzen nicht auf Riesenkraftwerke, sondern gehen die Dezentralisierung an. Hessen wird mit dieser Energiepolitik nicht schlechter dastehen, sondern besser. Es wird regionale Arbeitsplätze und regionale Wertschöpfung haben, was es heute so nicht hat. Deshalb sind die Vorwürfe an Andrea Ypsilanti und Hermann Scheer falsch. ({2}) Die hessische SPD steht für Hessen als ein Industrieland. Der Kollege Meyer hat erklärt, er mache sich wegen der Technologiefeindlichkeit Sorgen. Es gibt keine bessere Hochtechnologie als die erneuerbare Energie. ({3}) Die Energie, genauer gesagt, die Primärenergie, ist zwar umsonst. Aber wir wissen natürlich, dass wir Intelligenz und Geld investieren müssen, damit wir die in Überfülle vorhandene erneuerbare Energie nutzen können. Hermann Scheer hat eindrucksvoll nachgewiesen, dass Roland Koch mit seiner Sturheit, etwa gegen die Windenergie, sehr viele Entwicklungschancen für Hessen verpasst hat. Hessen zahlt für Energie von außen, statt die eigenen Kräfte zu nutzen. Deshalb ist die Energiepolitik der hessischen SPD gut aufgestellt. Herr Riesenhuber, Sie müssen keine Angst haben, dass die von Ihnen kontrollierten Unternehmen ohne Stoff dastehen. ({4}) Diese werden weiter - das sieht man schon jetzt in Hessen-Süd - ihre Energie aus Bayern kaufen. Es ist interessant, dass die CSU zwar manchmal von erneuerbarer Energie spricht und sich dabei wie Laurenz Meyer anhört. Aber in der alltäglichen Praxis geht sie den Pakt mit dem Teufel durchaus ein und nutzt die Möglichkeiten der erneuerbaren Energien. Fliegen Sie einmal über Bayern. Die bayerischen Landwirte sind in Sachen Solarenergie und Biogasanlagen in Deutschland führend. Ich sage Ihnen: Die Vorwürfe, die Wolfgang Clement, der aufgrund seiner NRW-Vergangenheit an Großkraftwerken hängt - allerdings reden wir über Hessen und nicht über NRW -, gegen die hessische SPD erhoben hat, sind und bleiben unberechtigt. Wir können sie zurückweisen. Der Kurs der SPD in der hessischen Energiepolitik, die ab Sonntag eine Mehrheit vom hessischen Volke haben wird, ({5}) sichert Hessen auch in Zukunft eine Energieversorgung ohne Atomkraft und damit in Frieden mit der Natur. Das gönne ich den Hessen; denn Hessen muss vorn bleiben. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meyer? Sie haben eben so schnell ohne Punkt und Komma geredet, dass ich Sie nicht unterbrechen wollte.

Ludwig Stiegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist zwar gefährlich, aber ich wage es einmal.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Meyer, bitte sehr. ({0})

Ludwig Stiegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Technikfeindlichkeit, darüber haben wir gerade gere- det!)

Laurenz Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003592, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich stelle so selten Zwischenfragen. - Herr Kollege Stiegler, wir sind doch über die Ziele beim Ausbau der regenerativen Energien einer Meinung. Darüber gibt es keinen Streit. Habe ich Sie richtig verstanden - so wie Sie das vorgetragen haben, fand ich das sehr amüsant -, dass wir der regenerativen Energie, die eigentlich umsonst ist, mit sehr viel Geld zum Durchbruch verhelfen müssen? Ist es Ihre Diktion, dass diese Energieform eigentlich umsonst ist, wir ihr aber doch mit viel Geld auf die Beine helfen müssen? Eine zweite Frage: Sind Sie mit mir der Meinung, dass im Vergleich zu den Mitteln, die wir dafür einsetzen müssen, selbst die Subventionen für die deutsche Steinkohle eine relativ wirtschaftliche Angelegenheit waren?

Ludwig Stiegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Sonne scheint umsonst. Aber damit wir sie nutzen können, müssen wir Geld und Intelligenz - so habe ich das gesagt - einsetzen. Das schafft Arbeitsplätze in Hessen und sichert auf lange Zeit die Energie, weil die Sonne erst dann versiegt, wenn wir alle schon dahin sind. Diese Energiequelle sollten wir nutzen. ({0}) Genau das macht die hessische SPD. Wer sich anschaut, wie sich die Kosten für die erneuerbaren Energien und wie sich die Energiepreise für die fossilen Energieträger entwickeln, der wird sehen, dass es nicht zu der von Ihnen befürchteten finanziellen Überforderung kommen wird. Das ist immer ein Rechenwerk für sich. Jeder rechnet sich nach Belieben reich oder arm. Die hessische SPD hat ein Konzept vorgelegt, mit dem der hessischen Industrie Versorgungssicherheit gewährt wird und der hessischen Bevölkerung Arbeitsplätze gesichert werden. Damit wird insgesamt eine nachhaltige Energieversorgung ohne Atomkraft begründet. Das sollte uns alle Anstrengungen wert sein. Glück auf! ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Kopp?

Ludwig Stiegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte sehr, Frau Kopp.

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Danke schön. - Herr Kollege Stiegler, gehen Sie davon aus, dass die gesamte Energieversorgung für Hessen ohne den Einsatz von Großkraftwerken sichergestellt werden kann? Denn darum geht es gerade.

Ludwig Stiegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es geht um Folgendes: Wir haben in Hessen Großkraftwerke, und es geht um den verstärkten Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung. Die Kraft-Wärme-Kopplung hat, wie wir wissen, eine hohe Effizienz. Sie kann die notwendigen Bedarfe decken. Es stellt sich die Frage: Will man das? Die Großkraftwerke haben, weil die Wärmesenken nicht in der Nähe sind, in aller Regel nicht diese Effizienz. Deshalb ist der hessische Weg, auf erneuerbare Energien, auf Kraft-Wärme-Kopplung und auf Energieeffizienz zu setzen, auf Dauer effizienter, billiger, wirtschaftlicher und sicherer. Darum haben die Hessen am Sonntag eine gute Wahl. ({0}) - Dass Sie das nicht hören wollen, ist klar. Man kann einem Ochsen ins Ohr petzen. Wenn er es nicht hören will, kann auch ich es nicht ändern. ({1}) Aber so ist die Situation. Sie sind hier verblendet. Sie werden sehen, dass Sie, wenn Andrea Ypsilanti in den nächsten Jahren ihre Politik entfaltet, sagen werden: Ui, das hätte ich nicht gedacht. Wir sagen: Die, die vom Irrtum zur Wahrheit reisen, das sind die Weisen. Die, die im Irrtum verharren, das sind die Narren. Danke. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/7845 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf: a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des Steuerberatungsgesetzes - Drucksachen 16/7077, 16/7485 - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Steuerberatungsgesetzes - Drucksache 16/7250 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0}) - Drucksache 16/7867 - Berichterstattung: Abgeordnete Leo Dautzenberg b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Christine Scheel, Kerstin Andreae, Dr. Gerhard Schick, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Steuerberatung zukunftsfähig machen - Drucksachen 16/1886, 16/7867 Berichterstattung: Abgeordnete Leo Dautzenberg Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe und höre dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort für die Bundesregierung der Frau Parlamentarischen Staatssekretärin Nicolette Kressl.

Nicolette Kressl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002706

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Parlament wird heute - die Mehrheit vorausgesetzt einen Gesetzentwurf verabschieden, der nach langer Diskussion nun doch noch zu einem sehr guten Ergebnis führt. Das Gesetz zum Berufsrecht der steuerberatenden Berufe wird nicht nur europäische Vorgaben umsetzen, sondern zusätzlich ein weiteres Stück frischen Wind - so nenne ich es einmal - in dieses Berufsrecht bringen. ({0}) Es ist gelungen, die ursprüngliche Zielsetzung der Bundesregierung, das Berufsrecht der steuerberatenden Berufe zu liberalisieren, erfolgreich umzusetzen. Besonders erfreulich ist dabei, dass wir nach den konstruktiven Beratungen im Finanzausschuss - so habe ich es empfunden; ich darf den Kolleginnen Westrich und Tillmann danken - heute ein Gesetz verabschieden werden, das in wesentlichen Teilen nicht nur die Zustimmung des Deutschen Bundestages, sondern auch der betroffenen Berufsverbände findet. Es ist immer wichtig, dass wir ein Stück Akzeptanz erreichen. Der Gesetzentwurf hat im Wesentlichen drei Schwerpunkte: die Liberalisierung des Berufsrechts der steuerberatenden Berufe, die Umsetzung der entsprechenden europäischen Richtlinie und die Neuorganisation der Steuerberaterberufe. Lassen Sie mich auf einige Aspekte etwas näher eingehen. Es ist endlich gelungen - das hat, wie ich finde, die Zustimmung des ganzen Ausschusses gefunden -, die Zulassung des sogenannten Syndikus-Steuerberaters durchzusetzen. Das wird vielen Unternehmen erleichtern, steuerlichen Sachverstand zu rekrutieren. Steuerberater erhalten die Möglichkeit, sich zukünftig auch in der Rechtsform der GmbH und Co. KG zusammenzuschließen, Kooperationen mit partnerschaftsfähigen Berufen einzugehen und Bürogemeinschaften mit Lohnsteuerhilfevereinen zu bilden. Die Steuerberaterkammern erhalten die Möglichkeit, Ausnahmen vom Verbot gewerblicher Tätigkeiten von Steuerberatern zuzulassen, wenn dadurch - das betone ich ausdrücklich - keine Verletzung von Berufspflichten zu befürchten ist. Die bewährte Arbeit der Lohnsteuerhilfevereine wird durch die im Gesetzentwurf enthaltenen Regelungen, insbesondere die Anhebung der Beratungsgrenzen, die im Laufe der Beratungen noch ein Stück höher angesetzt worden sind, auch für die Zukunft gesichert. Was sicherlich und nicht erst seit dieser Gesetzesberatung heiß umstritten war: Buchhalter, geprüfte Bilanzbuchhalter und Steuerfachwirte erhalten keine weitergehenden Befugnisse als im bisherigen Recht. Immerhin: Es wird zu einer Neufassung ihrer Werbebefugnisse kommen. Wir gehen davon aus, dass es dadurch viel weniger standardisierte Abmahnungen geben wird. Das ist für die Betroffenen sicherlich eine Erleichterung. In Zukunft sollen allein die Grundsätze des für alle Gewerbetreibenden geltenden Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb Anwendung finden. Ich will noch kurz auf den Bundesrat zu sprechen kommen; denn uns ist wichtig, dass wir in dieser Frage zusammenzuarbeiten. Die Fraktionen haben im Finanzausschuss einen Kompromiss zur Durchführung der Steuerberaterprüfung gefunden. Wir sind davon überzeugt, dass er den berechtigten Interessen der Finanzverwaltung, aber auch denen des Berufsstandes Rechnung trägt. Die Qualität der Steuerberaterprüfung bleibt erhalten. Staatlichkeit und Bundeseinheitlichkeit werden gewährleistet. Die Finanzverwaltung wird von ihren Aufgaben bei der Abwicklung der Steuerberaterprüfung entlastet. Die Bundesregierung ist der Meinung: Dieser Kompromiss ist fachlich sinnvoll, und es gibt für uns guten Grund, anzunehmen, dass diese Regelung auch die Zustimmung des Bundesrates finden wird. Zusammengefasst: Wir beschließen heute einen weiteren sinnvollen Schritt zur Modernisierung des Berufsrechts. Es wäre gut, wenn dieser Schritt anschließend mit so viel parlamentarischer Unterstützung wie möglich beschlossen werden könnte. Vielen Dank. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist nun der Kollege Dr. Volker Wissing für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann Ihnen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, attestieren: Ihr Gesetzentwurf ist nicht ganz schlecht. ({0}) Zumindest ist er nicht so schlecht, dass man ihn durchweg ablehnen müsste. Ich übersehe nicht, dass Sie mit Ihrem Gesetzentwurf einen relevanten Beitrag zur Modernisierung eines wichtigen Berufsstandes leisten wollen. Ja, man findet darin sogar Schritte der Liberalisierung, zum Beispiel die Einführung des SyndikusSteuerberaters; das begrüße ich ausdrücklich. Sie dürfen auch klatschen, wenn Sie einmal gelobt werden. ({1}) Das gilt übrigens auch für die SPD; denn an dieser Stelle lobe ich auch Ihre Staatssekretärin. Bevor ich auf die Punkte, die kritisch zu bewerten sind, zu sprechen komme, möchte ich auf einige positive Aspekte eingehen. Wir begrüßen die Übertragung der Steuerberaterprüfung auf die Kammern. Auch die gesetzliche Regelung der Fortbildung begrüßen wir. Diese Punkte sind in diesem Hause erfreulicherweise weitgehend Konsens. Ich glaube, das ist ein gutes Zeichen. Wie gesagt, ist Ihr Gesetzentwurf nicht ganz schlecht. In einem wichtigen Punkt hätte er sich aber noch verbessern lassen: hinsichtlich der Zulassung von Bürogemeinschaften von Steuerberatern und Dritten. Dazu hat die FDP dem Ausschuss einen Änderungsantrag unterbreitet, den Sie leider abgelehnt haben. Ich sage „leider“, weil es hierbei um einen wirklich wichtigen Bereich geht, nämlich um die datenschutzrechtlichen Interessen der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Sie wollen zulassen, dass Vereine, die zum Teil noch nicht einmal einer gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht unterliegen, künftig eine Bürogemeinschaft mit Steuerberatern eingehen können. Sie wollen, dass die Akten der Steuerzahler künftig in Bürogemeinschaften verwaltet werden, für die nur noch zum Teil das Beschlagnahmeverbot und das Zeugnisverweigerungsrecht gelten. Sie wollen, dass Mitarbeiter von Vereinen der Land- und Forstwirtschaft in einer Bürogemeinschaft mit Steuerberatern arbeiten. Diese Mitarbeiter könnten mit sensiblen Daten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Berührung kommen, obwohl sie nicht einmal einer gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht unterliegen. Die Frage, wie dabei die schutzwürdigen Interessen der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler gewahrt bleiben sollen, lassen Sie unbeantwortet. ({2}) Das bedauert die FDP außerordentlich. ({3}) Es wäre konsequent gewesen, wenn Sie zumindest eine Hinweispflicht eingeführt hätten. Sonst sind Sie überall für Hinweispflichten. Auch hier hätten Sie zumindest die Hinweispflicht einführen können, dass der Datenschutz in solchen Bürogemeinschaften künftig nur noch eingeschränkt gewährleistet ist. Dann würde jeder Mandant wissen: Wenn ich zu einem Steuerberater gehe, der in einer Bürogemeinschaft tätig ist, dann muss ich damit rechnen, dass in dieser Bürogemeinschaft auch solche Personen mit meinen Daten in Kontakt kommen können, die keiner gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht unterliegen und für die Beschlagnahmeverbot und Zeugnisverweigerungsrecht nicht gelten. Das ist für mich ein wichtiger Aspekt des Verbraucherschutzes, den Sie einfach ausgeklammert haben. Die Grünen halten all das sowieso für überflüssig. Sie beschäftigen sich mit Fragen des Datenschutzes im Bereich des Steuerrechts schon lange nicht mehr. ({4}) - Als es um die Abschaffung des Steuergeheimnisses ging, haben Sie kräftig mitgemacht, Frau Scheel. ({5}) Wenn man es mit dem Verbraucherschutz ernst meint, hätte man an dieser Stelle etwas tun müssen. Die Große Koalition hat das gläserne Konto, den gläsernen Computer geschaffen. Datenschutz spielt für Sie - was Sie hier zeigen, ist mehr als eine Tendenz - im Steuerrecht bestenfalls die Rolle eines Stiefkindes. Besonders ärgerlich ist, dass Sie mit zweierlei Maß messen: Bei der Verabschiedung des Rechtsdienstleistungsgesetzes hat die Große Koalition die Möglichkeit der Bildung von Bürogemeinschaften für Rechtsanwälte, Patentanwälte und Notare auf eng begrenzte Berufsgruppen beschränkt. Hier verabschiedet die gleiche Koalition das Gegenteil. Logisch ist das nicht, und es ist auch nicht im Interesse der Bürgerinnen und Bürger, die ihren Steuerberatern ja Einblick in sehr sensible Daten geben müssen. ({6}) Ihr Gesetzentwurf mag gegenüber der bisherigen Rechtslage viele Verbesserungen enthalten; in Sachen Datenschutz hätten Sie besser auf die FDP gehört und unserem Antrag zugestimmt. ({7}) Dann wäre der Entwurf an dieser Stelle um einiges besser. Wir machen doch nicht Gesetze für die Verwaltung, wir machen Gesetze für die Bürgerinnen und Bürger. Ich kann verstehen, dass das Steuergeheimnis für den Staat und die Verwaltung immer wieder störend sein mag. So überrascht es nicht, dass wir vom BMF im Ausschuss gehört haben, dass das alles völlig unproblematisch sei und dass man nicht nachvollziehen könne, was die FDP da bemängele. Nicht nachzuvollziehen ist ganz im Gegenteil, dass Sie als Große Koalition in diesem Parlament die Interessen der Bürgerinnen und Bürger nicht verteidigen. Darum ging es bei unserem Änderungsantrag. Für die Menschen sind die datenschutzrechtlichen Belange enorm wichtig, und es ist unsere vornehmste Aufgabe hier im Parlament, diese Dinge zu verteidigen. Die Große Koalition hat es bisher nicht fertiggebracht, auch nur ein Gesetz zu verabschieden, das die Rechte der Bürgerinnen und Bürger im Bereich des Datenschutzes verbessert. Hier hätten Sie erneut eine Chance gehabt. Sie haben sie vertan. Ich bedauere das, gestehe aber ein, dass das Gesetz unter dem Strich viele Verbesserungen bringt. Ich habe schon eingangs die Liberalisierungsbestrebungen erwähnt. Schade, dass Sie auf unsere Verbesserungsvorschläge nicht eingegangen sind, vielleicht beim nächsten Mal. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin Antje Tillmann das Wort. ({0})

Antje Tillmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003646, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrte Zuhörer! Nach jahrelangen Bemühungen haben wir heute die Möglichkeit, die Verhandlungen über die Änderung des Steuerberatungsgesetzes zu einem guten Ende zu führen. Wir haben in den Finanzausschussberatungen und in den Anhörungen Kompromisse gefunden, bei denen selbst die Opposition eingesteht, dass das Gesetz, das wir heute vorlegen, „nicht ganz schlecht ist“. Das spricht für dieses Gesetz. Die Bedenken, die Sie haben, Herr Dr. Wissing, teilen wir nicht; ich werde gleich darauf eingehen. ({0}) Es ist uns gelungen, Verbesserungen für alle Berufsverbände durchzusetzen. Wir haben Anliegen aufgegriffen, die von den Einzelverbänden seit Jahren angemahnt wurden. Ich glaube, es liegt ein Gesetz vor, das von ei14624 nem guten Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessen geprägt ist. Insbesondere bringt das Gesetz Verbesserungen für die ratsuchenden Bürgerinnen und Bürger. Der Datenschutz ist natürlich ein wichtiges Anliegen; dem tragen wir aber durchaus Rechnung. Wir haben die gesetzlichen Vorgaben aus der EU-Berufsqualifizierungsrichtlinie umgesetzt und die Verfahren an den Bologna-Prozess angepasst. Darüber hinaus haben wir Anliegen der Berufsverbände aufgegriffen, so die Einführung des Syndikus-Steuerberaters. Wir alle wissen, dass die Steuerberater seit langem darum bitten, ihren Titel, wenn sie eine Angestelltentätigkeit aufnehmen, weiterführen zu dürfen. Das wird mit diesem Gesetz möglich. Ich bitte Sie dringend, den Weg dafür freizumachen. ({1}) Eine Liberalisierung ist insofern durchgesetzt, als Kooperationen mit anderen freien Berufen zulässig werden: Steuerberater dürfen demnächst mit Ärzten, Wirtschaftsprüfern und Architekten zusammenarbeiten. Auch diese Berufe haben kein Zeugnisverweigerungsrecht, zumindest was die Architekten anbetrifft; doch da hat die FDP keine Sorgen gehabt, dass der Schutz der Mandanten nicht gewährleistet sein könnte. Wir haben andere Rechtsformen für Steuerberatungsgesellschaften zugelassen. Es kann nämlich nicht unsere Aufgabe sein, zu reglementieren. Wir vertrauen darauf, dass die Berufsstände ihre Pflichten so organisieren, dass der Schutz der Mandanten sichergestellt ist. Wir haben eine Fortbildungspflicht für Steuerberater in das Gesetz aufgenommen. Das ist uns wichtig, weil das zur Qualitätssicherung beiträgt. Und die Qualität ist die Rechtfertigung dafür, dass wir zum Beispiel in der Frage der Erweiterung der Befugnisse der Bilanzbuchhalter zurückhaltend reagiert haben. Wir wollen, dass die Beratung mit einem sehr hohen Qualifizierungsgrad erfolgt. Deswegen haben wir hier auch die gesetzliche Verpflichtung eingeführt. Erst in den Beratungen nach der Anhörung und mit den Betroffenen ist uns eine Lösung hinsichtlich der Steuerberaterprüfung gelungen. Hier weichen wir sowohl vom Regierungsentwurf als auch vom Bundesratsentwurf ab. Beide Seiten haben aber signalisiert, dass sie mit diesem Kompromiss gut leben können. Uns ist wichtig, dass die Steuerberaterprüfung staatlich bleibt und dass es eine einheitliche schriftliche Prüfung gibt. Selbst die Kammern weisen darauf hin, dass es nötig ist, dass diese Prüfung auch von den Finanzministerien legitimiert wird, weil bei einer hohen Durchfallquote, wie sie bei den Steuerberaterprüfungen üblich ist, natürlich sehr schnell der Verdacht aufkommt, man wolle sich unliebsame Konkurrenz vom Hals halten. Das ist nicht der Fall. Wir werden diese staatliche Prüfung weiter forcieren und den Ländern trotzdem die Möglichkeit geben, sich von unnötigen Verwaltungsaufgaben zu befreien. ({2}) So weit zu den Verbesserungen für die Steuerberater. Auch die Lohnsteuerhilfevereine haben natürlich die Gelegenheit genutzt, uns ihre Sorgen mitzuteilen. Wir haben noch einmal auf die Anhörung reagiert und in vielen Punkten den vorgetragenen Anliegen aus der Anhörung Rechnung getragen. Schon im Gesetzentwurf war ja eine Befugniserweiterung - Frau Staatssekretärin hat darauf hingewiesen für Lohnsteuerhilfevereine enthalten, zum Beispiel aufgrund der Veränderung des Gemeinnützigkeitsgesetzes, aber auch der Änderungen bei der Kinderbetreuung. Gleichzeitig haben wir die Beratungsbefugnis für Lohnsteuerhilfevereine hinsichtlich der anderen Einkünfte - außer Einkünfte aus nichtselbstständiger Tätigkeit erweitert, indem wir die Einnahmegrenze von bisher 9 000 und 18 000 Euro auf 13 000 und 26 000 Euro erhöht haben. Das war ein wesentliches Anliegen der Lohnsteuerhilfevereine und ist auch im Sinne der Mandanten, weil es immer wieder vorkommt, dass Mandanten aufgrund der Einkommensschwankungen und der entsprechenden Befugnis zwischen Lohnsteuerhilfevereinen und Steuerberatern hin und her gehen müssen. Wir wollten die Möglichkeit geben, sich langfristig nur einer Vertrauensperson zu öffnen. ({3}) Herr Dr. Wissing, dem gleichen Ziel, nämlich dem Interesse der Mandanten und nicht dem Interesse von Steuerberatern oder Lohnsteuerhilfevereinen, dient auch die Möglichkeit, Bürogemeinschaften zu bilden. Denn es ist wichtig, dass ein Berater auch die vorangegangene Beratungspraxis kennt. Deshalb lassen wir Bürogemeinschaften zwischen Lohnsteuerhilfevereinen und Steuerberatern zu, aber selbstverständlich nur unter der Voraussetzung, dass der Datenschutz gewahrt ist und dass die Mandantenrechte geschützt werden. Das ist möglich. Die Berater können das so organisieren, dass diese Rechte geschützt bleiben. ({4}) Damit aber nicht genug: Die Kammern und die Finanzministerien haben eine Aufsichtspflicht. Das ist für die Berater auch nur ein Angebot. Die Berater, die ihre Meinung teilen und es für schwierig halten, den Mandantenschutz zu sichern, sind ja nicht gezwungen, in einer solchen Bürogemeinschaft aufzugehen. Ich weiß, dass die Kammern eher zurückhaltend darauf reagieren. Sie werden in ihren Berufsordnungen mit Sicherheit sicherstellen, dass der Mandantenschutz gewahrt bleibt. ({5}) Bei den Lohnsteuerhilfevereinen haben wir darüber hinaus der Tatsache Rechnung getragen, dass wir mit der Unternehmensteuerreform zum 1. Januar 2009 die Abgeltungsteuer eingeführt haben. Durch die Abgeltungsteuer werden die meisten Kapitaleinkünfte gar nicht mehr erklärungspflichtig. Wir wollen vermeiden, dass Mandanten nur deshalb diese Kapitaleinkünfte erklären müssen, um beim Lohnsteuerhilfeverein beratungsfähig zu sein. Deshalb sagen wir: Solange die Kapitaleinkünfte der Abgeltungsteuer unterliegen, fallen sie nicht unter die Höchstgrenze bei den „anderen“ Einkünften. Erst dann, wenn der Mandant von dem Veranlagungswahlrecht Gebrauch macht, sind die Grenzen einzuhalten, sodass es dann durch eine Beratung des Steuerberaters gegebenenfalls zu einer Veranlagung kommen wird. Auch hier kommen wir Mandanten und Lohnsteuerhilfevereinen entgegen. Wir vereinfachen das Verfahren und ziehen Folgen aus den Gesetzen, die wir im letzten Jahr beschlossen haben. Die nächsten Berufsgruppen sind die Buchhalter, die geprüften Bilanzbuchhalter und die Steuerfachangestellten. Sie sind mit der Regelung hinsichtlich der Befugniserweiterung auf Umsatzsteuervoranmeldungen natürlich nicht zufrieden. Das war auch die einzige kritische Stimme in den Anhörungen. Wir haben sehr lange darüber diskutiert. Im Referentenentwurf war ursprünglich eine andere Regelung vorgesehen. Wir haben dieses Thema über Jahre hinweg diskutiert, was immer wieder dazu geführt hat, dass das Steuerberatungsgesetz nicht geändert werden konnte. Jetzt sind wir aber zu dem Ergebnis gekommen, dass diese Befugniserweiterung nicht sachgerecht ist. Die Stimmen in der Anhörung haben uns recht gegeben. Die überwiegende Mehrheit der Angehörten hat darauf hingewiesen, dass eine Befugniserweiterung zu zusätzlichen Risiken bei der Steuererhebung führen könnte. Trotzdem haben wir den Berufsangehörigen versprochen, uns der Gruppe der Buchhalter und geprüften Bilanzbuchhalter auch in Zukunft mehr zu widmen, indem wir zum Beispiel ein Berufsbild für einen Buchhalter erstellen. Bisher ist es möglich, sich Buchhalter zu nennen, ohne eine Prüfung abzulegen. Es gibt keinen geschützten Titel Buchhalter und auch keinen Ausbildungsberuf Buchhalter. Wir haben den betreffenden Verbänden direkt nach der Anhörung zugesagt, uns dieses Problems anzunehmen und zu versuchen, Verbesserungen für diesen Berufsstand herbeizuführen. ({6}) Wir haben ein weiteres wichtiges Anliegen dieses Berufsstandes aufgegriffen; Frau Staatssekretärin Kressl hat bereits darauf hingewiesen. Neben der Befugniserweiterung sind die Abmahnverfahren bei unlauterer Werbung ein Problem für diesen Berufsstand. Auch hier konnten sich die Koalitionspartner nach der Anhörung auf eine Lösung verständigen. Wir werden darauf verzichten, eine eigene Lösung im Steuerberatungsgesetz zu formulieren. Wir wollen, dass Gesetze übersichtlich bleiben, und wollen nur das regeln, was zwingend erforderlich ist. In diesem Fall ist aus unserer Sicht eine Regelung im Steuerberatungsgesetz nicht erforderlich, weil wir das Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb haben. Wir sind optimistisch, dass diese Regelung auch den Bedürfnissen des Berufsstandes der Bilanzbuchhalter, der Steuerfachangestellten und der Buchhalter Rechnung trägt. Abschließend danke ich allen Beteiligten für die gute Zusammenarbeit, sowohl dem Ministerium und meiner Kollegin Westrich als auch den Vertretern der Oppositionsfraktionen im Finanzausschuss. Ich glaube, es waren gute Beratungen, die heute zu einem guten Abschluss geführt werden. Die Zustimmung zu den Änderungsanträgen im Finanzausschuss hat gezeigt, dass wir - bis auf wenige Einzelpunkte - eine breite Mehrheit für dieses Konzept haben. Das ist gut als Rückendeckung für die Berufsstände und die ratsuchenden Steuerpflichtigen. Wir sollten den Weg heute frei machen. Wir haben für das Gesetz schon viel zu lange gebraucht. Die Betroffenen warten auf uns. Deswegen bitte ich um Ihre Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf. Danke schön. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Barbara Höll für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bürgerinnen und Bürger interessiert natürlich, wie es sich zukünftig mit den steuerberatenden Berufen verhält, insbesondere mit dem Steuerberater oder der Steuerberaterin sowie den Lohnsteuerhilfevereinen. Hier ist viel erreicht. Wir werden den Gesetzentwurf heute verabschieden. Aber das Grundübel der Steuergesetzgebung bleibt bestehen. Sie ist in den letzten Jahren nicht einfacher, sondern auch in der Zeit der Großen Koalition immer komplizierter geworden. Sie von der CDU/CSU und der SPD haben mit Ihrer Mehrheit und gegen die Stimmen der Opposition dafür gesorgt, dass die Steuerberaterhonorare nicht mehr als Sonderausgaben im privaten Teil der Einkommensteuererklärung anerkannt werden. Zudem gibt es insbesondere bei den Kosten für die Beratung bei Lohnsteuerhilfevereinen - das sind Pauschalen weiterhin Schwierigkeiten der Unterscheidung. Das ist noch immer ein Grundärgernis für viele Bürgerinnen und Bürger, die aufgrund der komplizierten Steuergesetzgebung Beratung in Anspruch nehmen müssen. Wir, die Linke, bemessen den vorliegenden Gesetzentwurf nach drei Kriterien. Erstens. Verbessert sich durch das Gesetz der ordnungsgemäße Vollzug der Steuergesetze? Zweitens. Inwieweit ist eine kompetente Beratung der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler gewährleistet? Drittens. Inwieweit erfolgte tatsächlich eine Anpassung an veränderte Lebensrealitäten? Es handelt sich sicherlich um ein Spannungsfeld, wenn man für Qualitätssicherung sorgen will, ohne eine Zementierung der ständischen Interessen vorzunehmen. Ich glaube, in dieser Hinsicht ist einiges gelungen. Aus diesem Grund haben wir im Ausschuss unsere Zustimmung zu den Änderungsanträgen der Koalition deutlich gemacht, die sich auf die Staatlichkeit und Bundeseinheitlichkeit der Steuerberaterprüfung beziehen; das ist ein wichtiger Punkt. Aber wir werden darüber nachdenken müssen, wie es sich bei den anderen steuerberatenden Berufen verhält. Was ist zum Beispiel mit den Steuerfachwirtinnen und Steuerfachwirten? Wir begrüßen ausdrücklich das Eingehen auf die Forderungen der Lohnsteuerhilfevereine: die Erhöhung der Einnahmegrenze für die Beratungsbefugnis und die teilweise Nichtberücksichtigung von Kapitaleinkünften bei der Berechnung hinsichtlich der Einnahmegrenze. Das ist ein wirklicher Beitrag zur Wahrung einer kostengünstigen Steuerberatung für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer insbesondere vor dem Hintergrund, dass ein Teil der Beratungskosten nicht mehr absetzbar ist. Wir begrüßen ebenfalls die Möglichkeit zur Bildung von Bürogemeinschaften zwischen Lohnsteuerhilfevereinen sowie Steuerberaterinnen und Steuerberatern. Auch das ist eine Qualitätsverbesserung. Kritisch bleibt anzumerken, dass es keine Erweiterung der Befugnisse für geprüfte Buchhalterinnen und Buchhalter sowie Steuerfachwirtinnen und Steuerfachwirte gibt, zumindest wenn es um das Anfertigen der Umsatzsteuervoranmeldung geht. Ich glaube, die damit verbundenen Probleme sind lösbar: bezüglich der Qualifizierung, bezüglich der Haftpflicht, aber auch bezüglich solcher Anforderungen, wie sie Steuerberaterinnen und Steuerberater haben, die selbst ausbilden, was Bilanzbuchhalter bisher noch nicht können und nicht machen. Man muss sagen, dass diese Nichterweiterung der Befugnisse tendenziell insbesondere Frauen behindert; denn die steuerberatende Tätigkeit ist etwas, was man, zumindest zum Teil, von zu Hause aus erledigen kann. Deshalb ist bei diesem Berufsbild eine gute Vereinbarkeit von Beruf und Familie gegeben und ein flexibles Reagieren auf sich verändernde Familiensituationen möglich. Kritisch möchte ich auf alle Fälle noch etwas zu Ihrer Gebührenanpassung bei den Steuerberaterprüfungen sagen. Die Begründung der Kostendeckung für diese Anpassung kann man teilen; aber die Erhöhung ist doch massiv. Für die Zulassungsverfahren wollen Sie die Gebühren von 75 auf 200 Euro erhöhen, für das Prüfungsverfahren von 500 auf 1 000 Euro. Vor dem Hintergrund, dass 55,58 Prozent, also etwas über die Hälfte, der in 2005/2006 zur Prüfung zum Steuerberater Angetretenen diese nicht geschafft haben und vielleicht noch eine zweite Prüfung machen müssen, ist das natürlich eine sehr hohe Hürde. Man könnte die Vermutung haben, dass hier Ständeinteressen gewahrt werden sollen. Aber auch die Steuerberaterinnen und Steuerberater brauchen Nachwuchs. Deshalb können wir dem nicht zustimmen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Insgesamt überwiegt das Negative das Positive. Deshalb werden wir uns bei der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf enthalten. Ich danke Ihnen. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Christine Scheel das Wort.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorab eine Bemerkung zu den Ausführungen von unserem Kollegen Volker Wissing, der behauptet hat, die Grünen hätten kein Interesse am Thema Datenschutz im Zusammenhang mit dem Steuerrecht. Ich muss das klar zurückweisen und die FDP daran erinnern, dass es in diesem Zusammenhang einen Antrag der Grünen gibt, der Kooperationen von allen freien Berufen, von selbstständigen Buchhaltern bis hin zu den Lohnsteuerhilfevereinen, begrüßt, aber auch verlangt, dass mit Blick auf die Bildung von Bürogemeinschaften „berufsrechtliche Rechte und Pflichten, vor allem Verschwiegenheitspflicht, Gewissenhaftigkeit, Auskunftsverweigerungsrecht, Zeugnisverweigerungsrecht und Beschlagnahmeverbot,“ entsprechend angepasst werden. Entweder haben Sie unseren Antrag nicht gelesen, oder es ist eine gemeine Unterstellung. ({0}) Ich hätte mir sehr gewünscht - es ist ja anders ausgegangen -, dass wir eine tiefgreifende Novelle des Steuerberatungsgesetzes bekommen. Wir haben jahrelang darüber diskutiert. Wenn ich mir anschaue, was dabei herausgekommen ist, sehe ich, dass es zwar ein bisschen vorangegangen ist; aber ich glaube nicht, dass das mit Blick auf die Existenz von vielen selbstständigen Bilanzbuchhaltern und Bilanzbuchhalterinnen, Steuerfachwirten und Steuerfachwirtinnen ausreicht. Dass wir mit diesem Gesetz die Erhaltung von deren Arbeitsplätzen und einen Ausbau in diesem Bereich erreichen, glaube ich nicht. Das finde ich sehr schade; denn das hätte zu einer Liberalisierung dazugehört. ({1}) Hier siegt - das muss man an dieser Stelle auch einmal sagen - ein Stück weit die Klientelpolitik. Wir hatten ja heute Morgen die Debatte über die Wirtschaftspolitik. Dabei wird immer auf faire Wettbewerbsbedingungen verwiesen. Wenn aber auf der einen Seite faire Wettbewerbsbedingungen gefordert werden, die natürlich volkswirtschaftlich sinnvoller sind als hohe Marktzugangsbarrieren, und auf der anderen Seite, wenn es konkret wird, die Pfründe von bestimmten Berufsgruppen geschützt werden sollen, dann ist das nicht in Ordnung. Wir fordern: Reden Sie nicht nur über faire Wettbewerbsbedingungen, sondern setzen Sie sie für die Berufsgruppen dann auch um! Das ist genau der Punkt, auf den wir hier verwiesen haben. Deswegen sind wir ziemlich enttäuscht, was diese Regierungsvorlage anbelangt. Gestern haben wir im Finanzausschuss eine Debatte darüber geführt, was denn noch geändert werden könnte. Die grüne Seite hat sich den drei Änderungsanträgen angeschlossen. Ich weiß, dass der grüne Vorschlag mit Blick auf die Beratungsgrenzen bei den LohnsteuerhilfeChristine Scheel vereinen nicht eins zu eins umgesetzt worden ist. Aber man muss sagen, es geht in die richtige Richtung. Es bleibt gesichert, dass sich die durchschnittlichen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen und auch Rentner und Rentnerinnen weiterhin kostengünstig bei den Lohnsteuerhilfevereinen beraten lassen können. Dies ist gut. Es ist auch gut gewesen, dass die Abgeordneten diese Regelung gemeinsam geändert haben. Ich halte es auch für richtig, dass der Status eines Syndikus-Steuerberaters endlich eingeführt wird. Das bringt mehr Flexibilität; das haben die Grünen schon sehr lange gefordert. Jetzt ist es umgesetzt. Auch das ist positiv. Letztendlich muss man aber sagen, dass der Gesetzentwurf den Anforderungen an ein modernes und liberales Berufsrecht der Steuerberater bei weitem nicht gerecht wird. Es fehlt der Mut, in diesem Kontext überfällige Reformen anzugehen und alte Zöpfe abzuschneiden. Deswegen lehnen wir den Gesetzentwurf ab. Wir fordern Sie auf, dem grünen Antrag zuzustimmen. Das richtet sich vor allem an die Adresse der Oppositionsfraktionen. Wir könnten an dieser Stelle einmal zusammenhalten und für ein gutes Recht stimmen. Ich denke, dass der grüne Antrag allen Selbstständigen im Steuer- und Buchhaltungswesen ausreichende Marktchancen und faire Wettbewerbsbedingungen einräumt, wobei wir den notwendigen Verbraucherschutz im Auge haben. Vielen Dank. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin Lydia Westrich für die SPD-Fraktion.

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von einem Gesetz, das so viele Jahre der Vorbereitung braucht, erwarten wir Bedeutungsvolles. Dass Änderungen im Bereich des Berufsrechts so viel Zeit in Anspruch nehmen, ist eher selten. Etwa 50 000 Steuerberater - das gilt natürlich auch für die Lohnsteuerhilfevereine und andere - freuen sich, dass ihre teilweise langjährigen Forderungen jetzt endlich bei der achten Änderung des Steuerberatungsgesetzes umgesetzt worden sind. ({0}) Die Anforderungen an den Berufsstand sind relativ hoch. Deshalb müssen wir auch die Ausbildungs-, Prüfungs- und Arbeitsbedingungen ständig den wechselnden Bedingungen unserer Volkswirtschaft anpassen. ({1}) - Herr Ausschussvorsitzender, Sie stören ein bisschen. So ist mir die Verankerung der Fortbildungspflicht wichtig, weil sie das Vertrauensverhältnis zu den Klienten weiter stärkt. Ich freue mich auch, dass wir die Frage der zukünftigen Regelung der Steuerberatungsprüfung so einvernehmlich mit Kammerverband und Bundesrat behandelt haben. Die Länder können ihren Verwaltungsaufwand erheblich reduzieren, was von ihnen auch immer wieder gefordert wird. Die Prüfung bleibt trotzdem staatlich und vor allem bundeseinheitlich. Das ist, wie wir aus bitterer Erfahrung wissen, längst nicht selbstverständlich. Die hohe Qualität der Prüfung schlägt sich natürlich auch in den Gebühren nieder, Frau Höll. Aber sie bilden beileibe keine unüberwindliche Hürde für diesen Berufsstand, wie Sie das darstellen. ({2}) Wir haben mit diesem Gesetz den Berufsstand gestärkt und es tatsächlich geschafft, zumindest einige Liberalisierungen durchzusetzen. Liberalisierungen bei Berufsrechten, um nicht zu sagen: Standesrechten, sind in den freien Berufen immer etwas schwerfällig durchzusetzen. Sie sind im Rahmen früherer Änderungen häufig vom Bundesverfassungsgericht quasi erzwungen worden. Zur Einführung des Syndikus-Steuerberaters habe ich Briefe vorliegen, die viele Jahre alt sind. Es ist für uns alle immer wieder eine Freude, wenn wir alte Vorgänge positiv erledigt zur Seite legen können. Es ist wirklich nicht mehr zeitgemäß, dass man einen durch eine schwere Prüfung erworbenen Titel ablegen muss, wenn man in eine abhängige Beschäftigung tritt. Wir haben den Steuerberatern die Bildung von GmbH und Co. KGs erlaubt, die Kooperation mit freien Berufen - nicht nur den artverwandten, Herr Wissing - zugelassen. Das unterscheidet dieses Gesetz zum Beispiel vom Berufsrecht der Rechtsanwälte. Wir werden deshalb darüber hinaus auch Bürogemeinschaften mit Lohnsteuerhilfevereinen und mit landwirtschaftlichen Buchstellen zulassen. Ich bin davon überzeugt, dass dies nicht nur zum Vorteil dieser Bürogemeinschaften, sondern auch zum Vorteil aller ratsuchenden Bürgerinnen und Bürger ist. Solche Gemeinschaften existieren ja schon. Der Wunsch kam nicht vom Gesetzgeber, sondern von Betroffenen, die ihre Zusammenarbeit gerne legalisieren wollen. Herr Wissing, Sie können ja einmal herumfragen, wie viele Steuerberater, die landwirtschaftliche Klientel haben, bei ihren speziellen steuerrechtlichen Fragen gerne auf den Sachverstand der landwirtschaftlichen Buchstellen zurückgreifen. Dann würden Sie einsehen, dass die Zulassung dieser Bürogemeinschaften eine sinnvolle Liberalisierung des Berufsstandes darstellt. Das gilt in gleicher Weise natürlich für die Lohnsteuerhilfevereine. Natürlich gibt es hier eine Verschwiegenheitspflicht. Sie ist nicht strafbewehrt. Aber für Leute, die täglich mit dem Steuergeheimnis umgehen, muss das auch nicht extra sein, sondern das ist selbstverständlich. Sie als FDPFraktion messen einfach mit zweierlei Maß, wenn Sie hier Bedenken anmelden. Was eine drohende Beschlagnahme von Akten betrifft, weiß ich keinen Fall aus den letzten Jahren, der Lohnsteuerhilfevereine betroffen hätte. Aber ich habe allein in meinem Wahlkreis drei Fälle, in denen Lohnsteu14628 erhilfevereine sich bei gegebenen Bürogemeinschaften Sorge um ihr eigenes Renommee machen müssten. Trotzdem ist es für mich wichtig, dass der Charakter der Lohnsteuerhilfevereine als Selbsthilfeeinrichtungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erhalten bleibt. Wir haben ihre Beratungsbefugnisse deshalb angemessen angepasst, Frau Scheel, zum Beispiel den Grenzbetrag für Einnahmen aus anderen Einkunftsarten um fast 45 Prozent auf jetzt 13 000 Euro angehoben. Das war überfällig. Zudem haben wir eine sinnvolle Regelung zur Beratungsbefugnis bei Kapitaleinkünften ergänzt. ({3}) Wie starr das Berufsrecht noch ist, zeigen die Abmahnverfahren gegen Buchhalter. Schon etliche Male haben wir versucht, diese Flut einzudämmen ohne Erfolg. Sogar Einträge in Gelbe Seiten, die ja kurz sein müssen, ziehen Abmahnverfahren nach sich. Da wir das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb haben, muss eine Werberegelung für Gewerbetreibende nicht noch zusätzlich im Berufsrecht verankert werden. Deswegen hoffen wir, dass diese Maßnahme gegen die Abmahnverfahren hilft. Aber wir werden das weiter überprüfen. Die SPD-Fraktion stellt sich unter liberalisierten Regelungen eine breitere Öffnungsmöglichkeit vor. Selbst unter Verbraucherschutzaspekten könnten geprüfte Bilanzbuchhalter mehr, als sie dürfen. Die breite Unterstützung des DIHK bei der Forderung nach einer begrenzten Befugniserweiterung für die hochqualifizierten Bilanzbuchhalter zeigt, dass ein Verband, der kleine und mittelständische Unternehmen vertritt, durchaus keine Sorge um die Qualität der Beratung seiner Mitglieder hat. Deswegen hätten wir da durchaus etwas machen können. ({4}) Die Finanzverwaltung, die Länder und die Steuergewerkschaft waren da leider anderer Meinung. Wir warten also, bis das Bundesverfassungsgericht oder europäisches Recht eingreift, um da eine weitere Liberalisierung voranzubringen. Insgesamt gesehen hat sich die lange Beratungszeit für dieses Gesetz gelohnt. So viel Lob hat der Finanzausschuss selten bei einer Anhörung vernommen. Wir bieten den Steuerpflichtigen und dem beratenden Berufsstand eine sichere Basis, weiterhin unser kompliziertes Steuerrecht zu meistern. Vielen Dank. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen nun zu einer Reihe von Abstimmungen. Zunächst Tagesordnungspunkt 6 a. Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Steuerberatungsgesetzes. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 16/7867, den Gesetz- entwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 16/7077 und 16/7485 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitions- fraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent- wurf ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis an- genommen. Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zum Entwurf eines Gesetzes des Bundesrates zur Änderung des Steuerberatungsgesetzes: Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Druck- sache 16/7867, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 16/7250 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 6 b, Beschlussempfehlung des Fi- nanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen mit dem Titel „Steuerberatung zukunftsfähig machen“: Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7867, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/1886 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltun- gen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Ge- genstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 c sowie die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf: 24 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des InVeKoS-DatenGesetzes und des Direktzahlungen-Verpflichtungengesetzes - Drucksache 16/7827 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) Haushaltsausschuss b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die Maßnahmen zur Förderung der Kulturarbeit gemäß § 96 Bundesvertriebenengesetz in den Jahren 2003 und 2004 - Drucksache 15/5952 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({1}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Straßenbaubericht 2006 - Drucksache 16/3984 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus ZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe Barth, Cornelia Pieper, Patrick Meinhardt, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Universitäre Exzellenz sichern - Exklusivität des Promotionsrechts wahren - Drucksache 16/7842 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Grietje Bettin, Dr. Harald Terpe, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Medienabhängigkeit bekämpfen - Medienkompetenz stärken - Drucksache 16/7836 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({3}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Es handelt sich dabei um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 16/7827 zu Tagesordnungspunkt 24 a soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz und zur Mitberatung an den Haushaltsausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 25 a bis 25 o. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 a auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Grundstoffüberwachungsrechts - Drucksache 16/7414 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({4}) - Drucksache 16/7828 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Marlies Volkmer Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7828, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/7414 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dieser Gesetzentwurf ist damit mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 25 b: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung seeverkehrsrechtlicher, verkehrsrechtlicher und anderer Vorschriften mit Bezug zum Seerecht - Drucksache 16/7415 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({5}) - Drucksache 16/7843 Berichterstattung: Abgeordneter Peter Hettlich Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt unter Ziffer I seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7843, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/7415 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen. Wir sind noch beim Tagesordnungspunkt 25 b. Unter Ziffer II seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7843 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP.

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Betriebsprämiendurchführungsgesetzes - Drucksache 16/7685 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) - Drucksache 16/7846 Berichterstattung: Abgeordnete Marlene Mortler Gustav Herzog Dr. Kirsten Tackmann Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7846, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/7685 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, den Stimmen der FDP und der Fraktion der Linken bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis, das heißt bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, angenommen. Tagesordnungspunkt 25 d: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Grietje Bettin, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Den kostenfreien Empfang von Rundfunk via Satellit sicherstellen - Drucksachen 16/3545, 16/7346 Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Grindel Jörg Tauss Christoph Waitz Dr. Lukrezia Jochimsen Grietje Bettin Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7346, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/3545 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke. Tagesordnungspunkt 25 e: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({2}) zu dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Erhaltung der Weinbaukultur durch vernünftige Reform der EU-Weinmarktordnung - Drucksachen 16/6959, 16/7568 Berichterstattung: Abgeordnete Julia Klöckner Gustav Herzog Dr. Kirsten Tackmann Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7568, den Antrag auf Drucksache 16/6959 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? Dann ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 25 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({3}) Übersicht 9 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht - Drucksache 16/7770 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 25 g: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Das Internationale Polarjahr 2007/2008 und Konsequenzen für eine deutsche Beteiligung - Drucksachen 16/4454, 16/7854 Berichterstattung: Abgeordnete Axel E. Fischer ({5}) Dr. Ernst Dieter Rossmann Cornelia Pieper Dr. Petra Sitte Priska Hinz ({6}) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7854, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/4454 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion und Enthaltungen der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 25 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7}) Sammelübersicht 337 zu Petitionen - Drucksache 16/7755 Wer stimmt dafür? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 337 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 25 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8}) Sammelübersicht 338 zu Petitionen - Drucksache 16/7756 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 338 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 25 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9}) Sammelübersicht 339 zu Petitionen - Drucksache 16/7757 - Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltun- gen? - Die Sammelübersicht 339 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Die Linke und der FDP-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen angenommen.1) Tagesordnungspunkt 25 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10}) Sammelübersicht 340 zu Petitionen - Drucksache 16/7758 - Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltun- gen? - Die Sammelübersicht 340 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion der FDP und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. 1) Anlage 2 Tagesordnungspunkt 25 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11}) Sammelübersicht 341 zu Petitionen - Drucksache 16/7759 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 341 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 25 m: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12}) Sammelübersicht 342 zu Petitionen - Drucksache 16/7760 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 342 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 25 n: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13}) Sammelübersicht 343 zu Petitionen - Drucksache 16/7761 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 343 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion der FDP angenommen. Tagesordnungspunkt 25 o: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14}) Sammelübersicht 344 zu Petitionen - Drucksache 16/7762 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 344 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Damit haben wir die Abstimmungen zu diesem Block erledigt. Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf: Aktuelle Stunde Aufgaben von Bundeswehrkampftruppen als Quick Reaction Forces in Afghanistan Die Fraktion Die Linke hat diese Aktuelle Stunde beantragt. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Oskar Lafontaine für die Fraktion Die Linke das Wort. ({15})

Oskar Lafontaine (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gestern lasen wir in der Onlineausgabe der Welt: NATO fordert Kampftruppe der Bundeswehr an. Der erste Kampfeinsatz der Bundeswehr in Afghanistan rückt offenbar immer näher. Die Nato hat jetzt unmissverständlich klargemacht, dass sie von der Bundeswehr Kampfeinsätze erwartet. Das bringt Verteidigungsminister Franz Josef Jung in Nöte. Der will den neuen Einsatz erst nach der Hessen-Wahl verkünden. Aus diesem Grunde haben wir den Punkt heute auf die Tagesordnung gesetzt. Ich bin der Auffassung, vor zwei so wichtigen Wahlgängen wäre es nur ein Gebot der Ehrlichkeit und der Wahrhaftigkeit, hier zu sagen, ob Sie vorhaben, Kampftruppen in diesen Krieg zu schicken. ({0}) Wenn der Chef der Eingreiftruppe sagt, Deutschland müsse sich auf Tote einstellen, dann müssten eigentlich alle Bürgerinnen und Bürger, die uns zuhören, sehen, worum es hier geht, und müssten sich die Frage stellen, ob wir berechtigt sind, das zu tun. Im Übrigen darf man daran erinnern, dass schon in der Vergangenheit Tote zu beklagen waren. Hier soll nur gesagt werden, dass bei Kampfeinsätzen noch mehr deutsche Soldaten ums Leben kommen werden. Wir wollen hinzufügen, dass bei dieser sogenannten Militärintervention im letzten Jahr über 6 000 Todesopfer zu beklagen waren, darunter viele Zivilisten. Wir halten diesen Krieg nicht mehr für verantwortbar. Ziehen Sie die Bundeswehr zurück! ({1}) Bisher ist nach außen immer gesagt worden, bei ISAF handele es sich um eine Friedensmission. Es wird der Eindruck erweckt, als gehe es darum, Brunnen zu bohren, Schulen zu bauen usw. So haben Sie das der Bevölkerung immer wieder erklärt. Langsam wandelte sich die Argumentation. Jetzt ist klar, dass alles das, was in den letzten Jahren gesagt worden ist, nicht zutrifft. Auch diese Truppe wird immer weiter in den Krieg einbezogen. Das ist das, was wir gesagt haben. Kürzlich habe ich im Stern etwas gelesen, das mir die Sprache verschlagen hat. Das möchte ich hier doch erwähnen, weil ich den Aufschrei vermisst habe. Dort wurde geschildert, wie ISAF-Truppen überprüfen, ob ein Feld minenfrei ist. Es wurde geschildert, dass die Soldaten Äpfel auf ein Feld werfen und Kinder dann auf das Feld laufen sollen. Wenn keine Mine hochgeht, ist das Feld minenfrei. Welch ein Zynismus! Sind wir berechtigt, uns an Missionen zu beteiligen, bei denen solche Dinge einreißen? Das ist in meinen Augen ein unglaublicher Skandal. ({2}) Ich hätte zu gern erlebt, dass irgendjemand dazu irgendetwas gesagt hätte. ({3}) - Entschuldigen Sie! Wenn Sie behaupten, alles das, was in der Presse dargestellt werde, sei falsch, dann müssen Sie das hier klarstellen. ({4}) - Es genügt nicht, dass Sie das in irgendwelchen Ausschusszirkeln klarstellen. Sie sollten hier klarstellen, ob diese Meldungen richtig oder falsch sind. ({5}) Wir haben in der letzten Zeit viel zu oft gehört, dass Erklärungen der zuständigen Kommandeure nicht zutrafen. Darauf können Sie sich nicht berufen. So einfach kommen Sie hier nicht davon. ({6}) Im Übrigen ist es eine Tatsache, dass wir 6 000 zivile Opfer zu beklagen haben. Wir machen in Zukunft dabei mit. Tun Sie doch nicht so, als könnten Sie das mit läppischen Bemerkungen vom Tisch wischen! ({7}) Wir von der Linken wollen das schlicht und einfach nicht. ({8}) Wir sind in diesen Krieg tiefer verstrickt, als Sie das hier zugeben wollen; das wird sich in nächster Zeit immer wieder zeigen. ({9}) Wir haben nach wie vor festzustellen, dass dieser Krieg völkerrechtswidrig ist und dass all diejenigen das zu verantworten haben, die diesem völkerrechtswidrigen Einsatz zugestimmt haben. Die deutsche Bevölkerung hat in ihrer großen Mehrheit kein Verständnis für diesen Einsatz der Bundeswehr. Wir überwachen dort die Opiumproduktion. Hier muss ich einmal die Frage stellen: Ist das wirklich Aufgabe unserer Soldatinnen und Soldaten? In der Regierung - das weiß jeder - sitzen Kriegsverbrecher. Die Situation im Land wird immer schlechter, von Jahr zu Jahr. Dennoch will man aus der Sackgasse nicht wieder heraus. Kehren Sie endlich um! Ziehen Sie die Bundeswehr aus Afghanistan zurück! ({10}) - Zu dem Zwischenruf „Und überlassen Sie das Land den alten Kriegsverbrechern!“ muss ich sagen: Die sitzen doch in der Regierung. Haben Sie das immer noch nicht gemerkt? Sie paktieren mit alten Kriegsverbrechern. Das ist die Wahrheit in Afghanistan. ({11}) Im Übrigen haben Sie die Aufgabe - wir sagen das noch einmal ganz klar -, unser Land sicherer zu machen. Das ist die Aufgabe der Sicherheitspolitik. Ein unverdächtiger Zeuge, der Ministerpräsident des Landes Bayern, hat vor einiger Zeit gesagt: Mit solchen Auslandseinsätzen erhöhen wir die Terroranschlagsgefahr im eigenen Land. Das ist seine Feststellung. Sie gehen einfach blind darüber hinweg. Wir sagen: Holen Sie die Truppen zurück! Sonst erhöhen Sie die Terroranschlagsgefahr im eigenen Land. Es ist nicht unsere Aufgabe, den Terror nach Deutschland zu holen. ({12})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Ernst-Reinhard Beck für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ernst Reinhard Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003497, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Lafontaine, was Sie hier abgeliefert haben, war unverantwortlich. ({0}) Das war Wahlkampf pur. Sie haben auf einen bestimmten Vorfall angespielt, der leider auch im deutschen Fernsehen groß herausgestellt worden ist. Dazu hätten Sie von Ihrem Kollegen Schäfer erfahren können, dass wir im Verteidigungsausschuss diese Angelegenheit besprochen haben und dass niemand da war, der so etwas unterstützt hätte. Wir stellen ausdrücklich fest: Es waren keine deutschen Soldaten beteiligt. Das müssen Sie den Leuten sagen. ({1}) Ich finde es einfach auch unverantwortlich, wenn Sie meinen, für den hessischen Wahlkampf noch ein paar Stimmen einsammeln zu können, indem Sie hier als Friedensengel auftreten. ({2}) Sie haben sich mit der Art und Weise, wie Sie argumentieren, längst aus einer seriösen sicherheitspolitischen Debatte verabschiedet. ({3}) Ich halte Ihre Forderung, die Truppen abzuziehen, für verantwortungslos. Ich stimme da dem Kollegen Nachtwei ausdrücklich zu, der sagte: Wenn wir unsere Truppen abziehen, überlassen wir Afghanistan den Kriegsverbrechern. Das wäre unverantwortlich. ({4}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, worum geht es eigentlich in dieser Geschichte? Sie, Herr Lafontaine, haben gesagt, es gehe um Kampftruppen. ({5}) - Herr Lafontaine, hören Sie bitte einmal einen Augenblick zu. - Soldaten, die eingesetzt werden, müssen auch kämpfen können. ({6}) Dies ist doch ganz klar. Es sollte auch ausgesprochen werden. Im Rahmen des ISAF-Mandats haben sie den Auftrag, dieses Land zu stabilisieren, Aufbauarbeit zu verrichten und dort, wo Sicherheit hergestellt werden muss, dies auch mit militärischen Mitteln zu tun. ({7}) Dies ist ganz klar. Wer hat das denn bisher gemacht? Ein bisschen Sachlichkeit würde dieser Debatte schon gut tun. ({8}) - Nein. Der Zeitpunkt und das Vorgehen überraschen doch gar nicht. Jeder weiß, dass Norwegen am 30. Juni das Kommando über die Quick Reaction Force abgibt. Das ist doch schon lange bekannt. Was heißt Quick Reaction Force? Schnelle Eingreiftruppe. ({9}) Ernst-Reinhard Beck ({10}) Sie stellt, gnädige Frau, eine Art Feuerwehr, eine taktische Reserve dar, die jeder verantwortliche militärische Kommandeur vorhalten muss. Sie hat die Stärke einer Kompanie. Das ist, für eine Region, die gemessen an der europäischen Geografie vom Rhein bis nach Warschau reicht, im Grunde wenig genug. Welche Aufgaben hat diese Einsatzreserve? Sie gehen her und sagen, sie nehme im Grunde die Aufgabe einer Kampftruppe wahr. ({11}) Was haben denn die Norweger in den letzten zwei Jahren, Frau Enkelmann, getan? Das kann ich Ihnen sagen: Es liefen ganze zwei Einsätze als Alarmreserve. Der erste Einsatz fand beim Absturz eines Hubschraubers und der zweite beim Beschuss des deutschen Lagers in Masar-i-Scharif statt. Alle übrigen Einsätze waren Patrouillen oder Sicherungsmaßnahmen, die der Unterstützung der PRT-Tätigkeit dienten. Diese Aufgaben haben die Norweger wahrgenommen. Wenn man auf diese Erfahrungen zurückgreift, dann kommt man doch zu dem Schluss: Es handelt sich um eine fatale Verdrehung, wenn Sie davon sprechen, man trete jetzt in eine neue Kampfphase ein. Dies ist schlichtweg falsch. Wir weisen das in aller Klarheit und Deutlichkeit zurück. ({12}) Die Frage ist: Wer übernimmt diese wichtige Aufgabe? Da ist, wie ich meine, noch nichts entschieden. Die Truppenstellerkonferenz wird die Entscheidung treffen. Ich sage Ihnen aber auch ganz klar: Wir als führende Nation, als Lead-Nation, stehen im Norden in der Verantwortung und können uns nicht darauf verlassen, dass im Falle eines Falles schon irgendjemand kommen wird. Ich sage auch ganz klar: Wir sind bereit und in der Lage, diese Aufgabe zu übernehmen, weil es sich um eine wichtige Aufgabe für die Sicherung der Aufbauarbeit im gesamten Nordbereich handelt. Dieses sollte man an dieser Stelle einfach festhalten. Bei einer seriösen Diskussion hierüber ist in der Tat das ISAF-Mandat maßgebend. Es handelt sich bei der Eingreiftruppe nicht um eine Wiederaufbautruppe; das ist richtig. Aber es handelt sich um eine Truppe, die im Rahmen des ISAF-Mandats eine Stabilisierungsfunktion wahrnimmt. Dies ist der Hauptauftrag, zeitlich und räumlich begrenzt; außerhalb dieser begrenzten Region nur dann, wenn der Gesamtauftrag von ISAF infrage gestellt ist. Sie kennen diese Klausel, die unser Mandat enthält. Dafür Verantwortung zu übernehmen, sind wir bereit. Für unsere Fraktion und die Regierung möchte ich sagen: Unsere Soldaten können mit unserer weiteren Unterstützung bei diesem gefährlichen und schwierigen Auftrag rechnen. Vielen Dank. ({13})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die FDP-Fraktion spricht nun die Kollegin Birgit Homburger. ({0})

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Worum es hier geht, zeigen die von der Linken benannten Redner und der Auftritt, den der Kollege Lafontaine eben hingelegt hat. ({0}) Neben dem „Verteidigungsexperten“ Lafontaine soll ja auch noch der „Verteidigungsexperte“ Gysi sprechen. Daran wird deutlich: Es geht Ihnen schlicht und ergreifend nur um Wahlkampf. ({1}) Wenn Sie hier sagen, es gehe Ihnen um die Sache, dann entgegne ich Ihnen: Diese Sache war letzte Woche aktuell. Letzte Woche hat ein Kollege hier erklärt, es sei schon alles entschieden und beschlossen. Daraufhin gab es eine Debatte, nicht nur im Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages, sondern auch in aller Öffentlichkeit. Daran haben Sie nicht teilgenommen, und das war Ihnen völlig egal. ({2}) Das zeigt klipp und klar, dass es Ihnen nicht um die Sache geht. Dieses Thema diese Woche zu behandeln, passt Ihnen schlicht und ergreifend besser ins Kalkül. ({3}) Es kommt etwas hinzu: Der Sachstand seit der letzten Woche ist unverändert. Vielleicht muss man Sie einmal darüber aufklären, Herr Lafontaine: Die Sache ist nicht neu. Die Norweger haben sehr frühzeitig erklärt, dass sie diese Aufgabe ab Mitte dieses Jahres nicht mehr werden wahrnehmen können. Darüber hat der Generalinspekteur im Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages informiert. Wir haben darüber diskutiert. Es hat im Übrigen in der Haushaltsdebatte letztes Jahr - auch öffentlich - eine Rolle gespielt. Das heißt, es geht nicht darum, dass wir hier irgendwelche Informationen von der Bundesregierung erzwingen müssten. Was Sie wollen, ist, Angst machen und Verunsicherung der Menschen schüren. Sie machen Wahlkampf auf dem Rücken der Soldatinnen und Soldaten, vor allen Dingen derer, die in Afghanistan einen gefährlichen Dienst versehen. ({4}) Das, Herr Lafontaine, ist durchsichtig, unredlich und schäbig. ({5}) Ich möchte hier in aller Deutlichkeit noch einmal klarstellen: Es geht hier nicht um Krieg gegen Afghanistan. ({6}) Wir sind auf Anforderung und auf Wunsch der afghanischen Regierung in Afghanistan, um den Wiederaufbau zu unterstützen. Es ist Ihnen so klar wie uns, dass dieser Wiederaufbau nur mit militärischer Absicherung funktionieren kann. Genau deshalb wird es gemacht. Darüber haben wir hier zigmal diskutiert. Es bleibt dabei: Es geht hier nicht um Krieg, sondern darum, die afghanische Regierung dabei zu unterstützen, dieses Land zu stabilisieren und beim Wiederaufbau zu helfen. ({7}) Ich sage ebenfalls ganz klar, an die Bundesregierung und auch an den Vorredner, Herrn Beck, gerichtet: Wir brauchen einen ehrlichen Umgang mit der Sache. ({8}) Ein ehrlicher Umgang im Zusammenhang mit der schnellen Eingreiftruppe bedeutet, dass man die Qualität dieser Eingreiftruppe so darstellen muss, wie sie ist. An dieser Stelle geht es nicht nur um Patrouille, Evakuierung und Absicherungsmaßnahmen, sondern auch um offensive Operationen. Auch das ist nichts Neues. Das wüssten Sie, wenn Sie im Verteidigungsausschuss wären und wenn Sie sich damit schon einmal auseinandergesetzt hätten, Herr Lafontaine. ({9}) Es ist tatsächlich so, dass es an dieser Stelle um offensive Operationen geht. Offensive Operationen sind eben keine Stabilisierungseinsätze; dabei geht es vielmehr ganz klar um Kampf. Das muss man in aller Nüchternheit und aller Klarheit so sagen. Das sind die Rahmenbedingungen. Herr Verteidigungsminister, sollten Sie sich entscheiden, diese Aufgabe zu übernehmen, dann wäre das nach der Entscheidung, Tornados nach Afghanistan zu entsenden, eine erneute Erweiterung des Aufgabenspektrums und hätte eine neue Qualität. ({10}) Ich möchte sehr deutlich sagen: Wenn diese Aufgabe übernommen wird, dann erwarten wir von der Bundesregierung, dass sie nicht immer nur mit weiteren Aufgaben und noch mehr Soldaten kommt. Sie sollte vielmehr klarstellen, was das Ziel dieses Einsatzes ist. Ich erwarte, dass die Bundesregierung der Öffentlichkeit vermittelt, dass das politische Ziel im Zentrum steht. ({11}) Ich möchte an dieser Stelle noch Folgendes sagen: Sollte sich die Bundesregierung für die Übernahme dieser Aufgabe entscheiden, dann muss das Augenmerk noch stärker als bisher auf Ausrüstung und Ausstattung gelegt werden. Ich möchte hier auf einen Bericht des Kommandeurs Warnecke aufmerksam machen, der mitgeteilt hat, dass es bei der Operation „Harekate Yolo-2“, die im letzten Herbst stattgefunden hat, Schwierigkeiten gab, weil das ISAF-Kontingent im Verantwortungsbereich Nord offensichtlich nicht entsprechend ausgestattet war. Hier, Herr Bundesverteidigungsminister, erwarten wir, dass die Bundesregierung bei ihrer Entscheidung berücksichtigt, ob sie die nötige Ausrüstung stellen kann. Es ist nur verantwortbar, Soldatinnen und Soldaten in einen Einsatz zu schicken, wenn sie mit der bestmöglichen Ausrüstung ausgestattet sind. ({12}) Abschließend, Herr Bundesverteidigungsminister, bitte ich noch um eines: dass Sie endlich dazu übergehen, eine offensive Informationspolitik zu betreiben. Der Bericht der Generäle vom Juli des vergangenen Jahres, in dem eine Bewertung vorgenommen wird, liegt dem Parlament immer noch nicht vor. Wir haben erneut aus der Öffentlichkeit davon erfahren. Ich fordere Sie auf: Legen Sie diesen Bericht endlich auch dem Parlament vor! Sie schaden mit dieser Geheimniskrämerei der Bundeswehr und sich selbst. Machen Sie endlich eine offensive Informationspolitik! Vielen Dank. ({13})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Walter Kolbow für die SPD-Fraktion. ({0})

Walter Kolbow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001175, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zu Beginn meiner Rede die kanadischen Kolleginnen und Kollegen auf der Tribüne sehr herzlich begrüßen und bei uns im Parlament willkommen heißen. ({0}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Ihre Anwesenheit gibt dieser Debatte eine besondere Bedeutung. Wir sprechen in dieser Aktuellen Stunde über gemeinsame Aktionen und gemeinsames Leiden in Afghanistan. Kanada hat viele Opfer gebracht, derer wir mit Solidarität in dieser Debatte gedenken. Wir sind an Ihrer Seite. Deswegen sage ich: Politische Entscheidungen, die letztlich eine Entscheidung über Leben und Tod sein können, zu Wahlkampfzwecken zu benutzen, halte ich für nicht erlaubt, ({1}) auch nicht unter Bezug auf die Frage, die Sie, Herr Kollege Lafontaine, zu Beginn Ihrer Einlassungen vorgetragen haben. Ich weiß, dass wir mit der Verantwortung für die Entscheidung Schuld auf uns laden können und wir uns in Kämpfe verstricken können. Das ist die Verantwortung des Parlaments. Daraus populistischen Nutzen zu ziehen, ist jedoch nicht nur antiaufklärerisch - wir sollten eigentlich aufgeklärt sein -, sondern schlicht und einfach nicht in Ordnung, meine Damen und Herren von der Linksfraktion. ({2}) Von dieser Stelle aus ist wiederholt gesagt worden, dass dieser Einsatz, den das Parlament beschlossen hat, nicht völkerrechtswidrig ist, sondern den Stempel der Vereinten Nationen trägt und in der Verantwortung der internationalen Gemeinschaft liegt. ({3}) Wollen Sie dem kanadischen Parlament vorhalten, völkerrechtswidrig entschieden zu haben? Ich denke, dass Sie Ihre Einlassungen relativieren müssen. Herr Kollege Lafontaine, Sie müssen auch Ihre Aussage relativieren, in Afghanistan seien Kinder als Minensucher missbraucht worden. Sie wollen damit Wahlkampf machen. Lassen Sie sich informieren: Über diese Vorkommnisse liegen keine Erkenntnisse vor, ({4}) außer dass sie vor fünf Jahren zwar von jemandem zur Kenntnis genommen worden sind, dieser es aber nicht für notwendig gehalten hat, einen so markanten Vorgang seinen Vorgesetzten sofort zur Kenntnis zu bringen, was die Regel ist. ({5}) Informieren Sie sich bei den Fach- und Sachkundigen über den Sachstand, bevor Sie hier Behauptungen einbringen, die durch nichts, aber auch gar nichts zu belegen sind. ({6}) Der Außenminister und der Verteidigungsminister sind ihrer Aufgabe mehr als nur gerecht geworden. Alle Informationen werden nicht nur den Ausschüssen, sondern auch der interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Diese Informationen weisen eindeutig darauf hin, dass eine Einheit im Rahmen eines normalen Truppenstellerverfahrens ersetzt werden muss. Diese Einheit wird dringend gebraucht, damit die internationale Gemeinschaft die Ziele, die sie in Afghanistan verfolgt - ziviler Wiederaufbau, Verhinderung von Krieg und Vermeidung von terroristischen Anschlägen, und zwar auch bei uns in Europa -, erreichen kann. Das ist der Sinn. Dafür ist auch die Rapid Reaction Force notwendig. Wenn wir diese Entscheidung treffen müssen, wird uns die Regierung rechtzeitig informieren. Ich will an dieser Stelle darauf hinweisen, dass wir die Erfolge, die wir im Norden von Afghanistan zu verzeichnen haben, in der Debatte nicht untergehen lassen dürfen. Millionen von Flüchtlingen, die auf die Entwicklung in ihrem Land vertrauen, sind nach Afghanistan zurückgekehrt, weil sie der internationalen Gemeinschaft und zunehmend auch den afghanischen Streitkräften, der afghanischen Polizei und den afghanischen Autoritäten Vertrauen schenken. Diese Entwicklung kann sich nicht nur sehen lassen, sondern sie kann und muss auch ausgesprochen werden. ({7}) Dass da natürlich - um es einfach auszurücken - noch eine Menge zu tun ist, wissen wir alle. Aber das geht nicht in der Art und Weise, dass wir aus Afghanistan abziehen, sondern das geht nur in der Art und Weise, dass wir mit der vernetzten Sicherheitsstrategie, die wir in Deutschland mit Herrn Jung, Herrn Steinmeier, der Bundeskanzlerin, Frau Wieczorek-Zeul und mit der Mehrheit dieses Hauses entwickelt haben, auch mit den notwendigen militärischen Entscheidungen, wenn sie denn anstehen, Afghanistan eine Zukunft geben. Wir warten auf die Erkenntnisse, die unsere Regierungsvertreter aus den Truppenstellerkonferenzen in der NATO mitbringen. Dann werden sie uns mit ihrer verantwortungsbewussten Entscheidung an ihrer Seite sehen. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Winfried Nachtwei für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte die Kolleginnen und Kollegen aus dem kanadischen Parlament sehr herzlich begrüßen. Kanada hat eine sehr lange Tradition der Teilnahme an Friedensmissionen im Auftrag der Vereinten Nationen. Als wir kürzlich in Ottawa waren und dort die Ausstellung Afghanistan: A Glimpse of War gesehen haben, haben wir erfahren und empfunden, wie die kanadische Gesellschaft mit dem Afghanistan-Engagement, das für ihre Soldaten tatsächlich auch ein Kriegseinsatz ist, umgeht und um den richtigen Weg ringt. Kollege Lafontaine, die Vorfälle, die Sie aus dem Stern zitieren, sind, wenn sie tatsächlich so geschehen sind, schändlich. Ich denke, das ist hier die einmütige Bewertung. ({0}) Es ist versucht worden, weitere Hinweise dafür zu bekommen, ob diese Meldungen der Wahrheit entsprechen. Bisher haben wir keine gefunden. Aber die Bewertung ist völlig eindeutig. ({1}) Unabhängig von dem, was Sie gerade genannt haben: Kollege Lafontaine, vielleicht haben Sie Anfang Dezember 2007 die Umfrage von ABC, BBC und ARD zur Kenntnis genommen, die überraschende Ergebnisse brachte. Die Leute, die mit dieser Umfrage zu tun haben, sind bekannt, und es handelt sich hier mit Sicherheit um eine seriöse Umfrage. Das Ergebnis war, dass die Bevölkerung gegenüber dem internationalen Engagement und auch gegenüber ISAF viel positiver eingestellt ist, als wir das hierzulande wahrnehmen. Zwar ist - das muss man ganz nüchtern dazusagen - die Tendenz bröckelnd, aber die Mehrheit ist eindeutig dafür. Vielleicht sollte Ihnen das etwas zu denken geben. ({2}) Unabhängig von der Auseinandersetzung mit Ihnen finde ich, dass die Fragen und Befürchtungen zum Einsatz der Quick Reaction Force völlig berechtigt sind. Geraten wir in eine Eskalation hinein? Geraten wir in einen Kriegssumpf hinein? Diese Fragen treiben sicherlich alle um. Man muss auch angesichts der Tatsache misstrauisch sein, dass gewichtige Stimmen darauf drängen, dass die Quick Reaction Force ausdrücklich an Kriegseinsätzen teilnimmt. Worum geht es bei dieser „Schnellen Reaktionstruppe“? Was ist zu verantworten und was nicht? Um es klar zu sagen: Es geht um eine relativ kleine militärische Reserve und Verstärkungseinheit für bestimmte Notsituationen, wenn die sowieso schon sehr schwachen Kräfte der Wiederaufbauteams, die in einem riesigen, komplizierten Raum verteilt sind, nicht mehr klarkommen. Kollege Beck hat vorhin schon Beispiele aus dem letzten Jahr dafür genannt, welche Einsatzformen das waren. Diese bewegen sich vollkommen im Rahmen der bisherigen Erfahrungen der ISAF im Norden des Landes. Sie gestatten, dass ich regional differenziere, weil es in anderen Regionen, mit denen auch unsere kanadischen Freunde zu tun haben, ganz krass anders aussieht. Darüber kann man nicht hinwegsehen. Allerdings - auch das ist völlig richtig - ist diese Quick Reaction Force Ende Oktober, Anfang November letzten Jahres zum ersten Mal in ein Gefecht gekommen und hatte einen ausdrücklichen Kampfeinsatz. Das kann man nicht verniedlichen. Zusammengefasst: Diese Truppe liegt mit ihrer Aufgabenstellung noch im Rahmen des bisherigen ISAFNord-Mandates; das ist eindeutig. Allerdings sind bestimmte Punkte klar zu garantieren. Erstens darf es nur eine Unterstellung unter den Commander Nord geben. Zweitens ist es - wie es im Mandat festgelegt ist - ein Einsatz im Norden. Drittens ist die Aufgabenstellung nicht so, wie sie von manchen fahrlässig beschrieben wurde, dass es jetzt um offensive Terroristenjagd oder offensive Aufstandsbekämpfung gehe. Nein, es geht weiterhin um Stabilisierungsunterstützung, allerdings mit härteren militärischen Anforderungen, und es ist auch riskanter; da gibt es kein Vertun. Wir sind hier auf dem Sicherheitssektor. Hier geht es um schnelle Reaktion. Gestatten Sie, dass ich noch zu einem anderen Punkt komme, nämlich zu Yolo II. Dieser Einsatz in Nordwest-Afghanistan war notwendig, weil die Polizeikräfte vor Ort äußerst schwach waren. Wie sieht es nun - Herr Staatssekretär Bergner, das geht jetzt auch sehr stark an Ihre Adresse - mit dem Polizeiaufbau aus, von dem wir alle wissen, dass er für nachhaltige Sicherheit in Afghanistan von strategischer Bedeutung ist? ({3}) Wir haben im letzten August, September und Oktober festgestellt, dass die EUPOL-Mission der Europäischen Union nicht in die Pötte kam, dass sie viel weniger schaffte als das deutsche Polizeiprojekt. Wie sieht es zurzeit aus? Im März sollen dort 195 Polizisten sein. Zurzeit sind dort 30 internationale Polizisten. Wie sieht es mit den deutschen Polizisten aus? Bis zum letzten Jahr waren über 40 da. Jetzt sind gerade noch 15 dort. Das bedeutet nichts anderes als: Hier wird die Kapitulation der Europäischen Union und der Bundesrepublik Deutschland im entscheidenden Bereich des Polizeiaufbaus vorbereitet. ({4}) Ich muss der Bundesregierung sagen: Ich bin inzwischen ausgesprochen zornig darüber, wie die Beschönigung der Situation in diesem Bereich aus den Reihen der Bundesregierung bis gestern - heute haben Sie die Chance, das zu ändern - fortgesetzt wurde.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, ich muss Sie an Ihre Redezeit erinnern.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss; aber ich bin zornig. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das ändert nichts daran, dass Sie Ihre Redezeit überschritten haben.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Worauf das so hinausläuft: Wir verlieren das besondere Vertrauen der Afghanen. Wir machen uns in der Staatengemeinschaft lächerlich. Jetzt tut das not, was die Kanadier und die Briten machen, was die Amerikaner zweifach machen: endlich einmal eine unabhängige Überprüfung des Afghanistan-Engagements, um klar zu sehen, wie es aussieht, und nicht nur immer zu erzählen, was Schönes gemacht wird. Wie sieht es aus? Was kommt dabei heraus? Wo müssen wir umsteuern? Bitte, die Entscheidung drängt! ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Bernd Schmidbauer für die Fraktion CDU/CSU.

Bernd Schmidbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001995, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir sind im siebten Jahr unserer Anstrengungen, Afghanistan zu helfen und nicht mehr zuzulassen, dass es Terror gibt und dass es von diesem Gebiet aus unter einem terroristischen Regime in allen Ländern dieser Erde zu Anschlägen kommt, die, lieber Herr Lafontaine, ungeheuer viele unschuldige Opfer gefordert haben. ({0}) Auch Menschen, die in keinem Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen in Afghanistan standen, wurden Opfer dieses Terrors, der sich über viele Jahrzehnte aufgebaut hat. Alle Anschläge in unseren Ländern haben ihren Ausgangspunkt irgendwo in Afghanistan. Schon dies ist Grund dafür, sich zu engagieren, Terror in der Welt zu verhindern. ({1}) Was Sie gemacht haben, war sehr einfach. ({2}) - Da täuschen Sie sich gewaltig. Denken Sie auch an die Zehntausende Toten in Afghanistan selbst. Sportplätze wurden als Hinrichtungsstätten genutzt. Denken Sie daran, welche Chancen Kinder hatten, in die Schule zu gehen, und welche Chancen Frauen hatten, in diesem Land an der Gestaltung der Gesellschaft mitzuwirken. Lieber Herr Lafontaine, Sie müssten aus Ihrer Erfahrung, die Sie teilweise auch in Regierungsverantwortung gemacht haben, ({3}) sehr genau wissen: Es gibt nichts Verbrecherischeres auf dieser Welt als das, was in der Vergangenheit in Afghanistan passiert ist. Und dann sollen die Bürger und soll die Bundesrepublik Deutschland etwa wegsehen? Soll die Solidarität aller Demokraten, zu der es nach den Anschlägen in den Vereinigten Staaten gekommen ist, beendet werden? Nein, ich denke, dass wir gut daran tun, unser Engagement fortzusetzen. Mit Ihnen und Ihren Genossen werden wir diese Debatten immer wieder führen müssen. ({4}) Dass sie ständig vor Landtagswahlen stattfinden, ist allerdings äußerst billig. ({5}) Glauben Sie bloß nicht, dass die Hessen darauf hereinfallen, wie Sie hier auftreten! ({6}) Glauben Sie nicht, dass es Hessen gibt, die so primitiv sind, dass sie Ihre Manöver nicht durchschauen und entsprechend reagieren! ({7}) Von den Argumenten, die Sie anführen, habe ich persönlich die Nase voll. ({8}) Was wollen Sie eigentlich erreichen? Sie wollen, dass wir Pazifismus praktizieren, unser Engagement beenden und uns aus Afghanistan zurückziehen; denn Sie meinen, dann kehrt dort Frieden ein. ({9}) Würden wir so vorgehen, würde sich der Terror überall ausbreiten, und zwar noch viel schlimmer als bisher. Das würden Sie in Kauf nehmen. Zu dem, was Sie im Hinblick auf den bayerischen Ministerpräsidenten gesagt haben, stelle ich fest: Natürlich hat er recht. Natürlich ist es möglich, dass sich der Terror gegen diejenigen, die sich engagieren, wendet. Man muss damit rechnen, selbst im Visier dieser Verbrecher zu sein. Sie wollen nämlich nicht, dass wir uns engagieren. Genau deshalb möchte ich, dass wir unser Engagement fortsetzen. Wir müssen die Prinzipien, die wir selbst entwickelt haben, einhalten. Dabei geht es vor allem um die Konzentration unseres Engagements im Norden des Landes. Täglich können wir dort viele positive Meldungen vernehmen. Unser Engagement wird positiv aufgenommen, und unsere Soldaten tun gemeinsam mit der Bevölkerung alles, um dieses Land aufzubauen. Richtig ist aber auch, dass uns aus dem Süden des Landes und aus den angrenzenden Provinzen Pakistans jeden Tag negative Meldungen erreichen. Tatsache ist aber - das sage ich auch an die anwesenden Gäste gerichtet -: Wir müssen uns solidarisch verhalten. ({10}) Ich glaube nicht, dass wir andere Nationen einfach außen vor lassen können und bestimmen sollten: Die einen machen die Arbeit im Süden, die anderen machen die Arbeit im Norden. Hier steht die Solidarität auf dem Prüfstand. Auch die NATO steht auf dem Prüfstand. Wir müssen uns im Norden und im Süden gemeinsam engagieren. ({11}) - Das ist überhaupt kein Problem. Allerdings ist es schwierig, Ihnen das klarzumachen; das versuche ich aber schon gar nicht mehr. Ich will noch einige Bemerkungen zu den Ausführungen von Herrn Nachtwei machen. Lieber Herr Nachtwei, mit dem, was Sie zu EUPOL gesagt haben, haben Sie völlig recht. Ich rede mir in den letzten Monaten den Mund fusselig, um darauf hinzuweisen, was sich im Bereich von EUPOL abspielt. ({12}) Leider ist hier nur sehr wenig passiert. Es muss allerdings positiv hervorgehoben werden, dass unsere Soldaten derzeit verstärkt mit der Ausbildung von Polizisten beschäftigt sind. Das ist nicht ihre primäre Aufgabe, aber hier tut sich wenigstens etwas. Das möchte ich an dieser Stelle gerne positiv herausstellen. ({13}) Ich sage ganz deutlich: Wir setzen den Schwerpunkt unseres Engagements im Norden Afghanistans. Wenn es um Nothilfe geht, sind wir aber auch im Süden des Landes vertreten. Gerade in den jüngsten Tagen ist wieder einiges zu tun. Wir müssen unsere Solidarität unter Beweis stellen. Im Norden des Landes sind wir im Rahmen ziviler und militärischer Missionen vertreten. Wir verfügen über ein Aufgabenprofil, an das wir uns halten. Erfolg wird uns aber nur dann zuteil - das wiederhole ich; denn das muss immer wieder betont werden -, wenn wir uns im Rahmen der NATO insgesamt solidarisch verhalten. Allerdings gibt es Indiskretionen. Von Frau Homburger wird uns vorgeworfen, es gebe nicht genug Informationen. Frau Kollegin, Sie haben sich toll aufgeregt. Das hat aber nur zur Folge, dass der Verteidigungsminister seine Anstrengungen zur Information an der richtigen Stelle fortsetzen wird. ({14}) Es gibt auch solche Indiskretionen, die ich nicht verstehe und die vielen erneut einen Vorwand liefern können, das gesamte Engagement infrage zu stellen. Da wird polemisiert, da wird diskriminiert, und da wird aus Büchern zitiert, die derzeit auf dem Markt sind. Wenn man genau hinsieht, stellt man allerdings fest, dass die Verfasser dieser Bücher ihre Aussagen schon relativiert haben und an bestimmten Stellen Abstriche machen. Zum Beispiel wird argumentiert, OEF sei nicht durch das Mandat gedeckt, und die Ausrüstung wird kritisiert. Selbst Bob Gates hat sich in den letzten Tagen zum Einsatz im Süden Afghanistans geäußert. 48 Stunden später hat er seine Aussage relativiert. Durch dieses Verhalten trägt man dazu bei, dass die Öffentlichkeit immer weniger Sympathie für unser Engagement hat. Das ist natürlich Absicht. Man möchte den Einsatz unserer Soldaten in der Öffentlichkeit diskreditieren.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, darf ich Sie an Ihre Redezeit erinnern?

Bernd Schmidbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001995, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke. Auch ich bin zornig, aber ich halte mich an das, was Sie sagen. ({0}) Vielleicht ist es ein guter Hinweis, dieses Argument anzuführen. Ich glaube, dass wir am 6. oder 7. Februar dieses Jahres die Entscheidung treffen werden, uns am Einsatz der Quick Reaction Forces zu beteiligen. Warum eigentlich nicht? Er dient der Sicherheit aller Soldaten. Dies dient auch der Sicherheit in diesem Land; deswegen unterstütze ich das sehr. Soldaten in Afghanistan sind - das will ich noch einmal sagen - keine Entwicklungshelfer; aber sie garantieren die Sicherheit, ohne die Entwicklungshelfer nicht tätig sein können. Deshalb müssen wir unseren Soldaten für ihren Einsatz danken. Ohne die Hilfe unserer Soldaten gibt es keinen Frieden in diesem Land.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, mit oder ohne Zorn: Die Redezeit ist weit überschritten. ({0})

Bernd Schmidbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001995, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, ich beuge mich. - Herzlichen Dank. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist nun der Kollege Dr. Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die FDP, die Union und die SPD haben uns vorgeworfen, hier Wahlkampf zu führen. Es ist interessant, darüber nachzudenken. Man müsste zunächst einmal definieren, was Wahlkampf ist. Für mich ist Wahlkampf der Versuch, Menschen von meinen politischen Auffassungen zu überzeugen. Das mache ich als Politiker die ganze Zeit; so gesehen bin ich immer im Wahlkampf, ist das für mich nichts Besonderes. ({0}) Aber es gibt fairen Wahlkampf und es gibt unfairen Wahlkampf, und da muss man unterscheiden. Nichts von dem, worum es hier geht, hat die Linke entschieden; das alles haben andere entschieden. Deshalb stellen wir das zur Diskussion. Wie man auf Welt Online lesen kann, rückt laut NATO der erste Kampfeinsatz der Bundeswehr offenbar immer näher. Das bringt den Bundesverteidigungsminister in Nöte, sodass er diesen Einsatz erst nach der Hessenwahl verkünden will. Da Sie mir das nicht glauben werden, zitiere ich den SPD-Verteidigungspolitiker Jörn Thießen, der, wie es in Bild steht, „vermutet, dass die Bekanntgabe des neuen Einsatzes bewusst nach den Landtagswahlen erfolge“. Ein ganz übler Wahlkampf ist das, unehrlich ist das! Sagen Sie so etwas vorher! ({1}) Herr Schmidbauer, Sie haben gesagt, kein Hesse werde auf uns hereinfallen. Ich sage Ihnen: Den miesesten Wahlkampf führt nun wirklich Herr Koch. Ich möchte, dass von der Hessenwahl ein Signal ausgeht: dass man in Deutschland mit ausländerfeindlichen Parolen keine Wahlen mehr gewinnt. ({2}) Oskar Lafontaine hat über einen Bericht des Stern gesprochen. Als Sie sich in diesem Zusammenhang aufregten, dachte ich, Sie wollten das dementieren. Das wollten Sie gar nicht. Sie wollten nur sagen, dass die Bundeswehr nicht beteiligt war und Sie dagegen sind. Er hat gar nicht behauptet, dass Sie dafür sind; ich glaube, es ist eine Selbstverständlichkeit, dass wir alle dagegen sind. Aber wir werden doch noch sagen dürfen, was in Afghanistan passiert, woran man sich beteiligt, wenn man Truppen dorthin schickt! ({3}) Noch etwas Interessantes: Norwegen zieht seine schnelle Eingreiftruppe ab, weil die politischen Kräfte sagen: Das ist der falsche Weg. ({4}) Und dann meldet sich Deutschland und bietet an, entsprechende Truppen zu schicken! ({5}) Sie reden hier die ganze Zeit davon, dass es darum geht, Afghanistan aufzubauen. Eine schnelle Eingreiftruppe hat mit der Ausbildung der Polizei, mit der Ausbildung der Armee, mit Mädchen, die zur Schule gehen können, nichts zu tun. ({6}) Die Bundeswehr ist jetzt seit fast sieben Jahren dort. Was hat sie in den sieben Jahren gemacht? Es gibt keine nennenswerte Polizei, es gibt keine nennenswerte Armee, das Bildungswesen ist rückständig. ({7}) Aber Sie haben immer noch die Illusion, mittels Krieg Terror bekämpfen zu können. ({8}) Nun zum Inhalt; was uns vorgeworfen wird, ist ja schwerwiegend. Der Chef der norwegischen Eingreiftruppe hat gesagt, die Soldaten seien darauf vorzubereiten, Krieg zu führen und das eigene Leben zu verlieren. Das sagt Rune Solberg, nicht wir. Was meint Bundeswehrgeneral Kasdorf dazu? In der FAZ vom 17. Januar steht zu lesen, wie er gefragt wurde: Ist das sogenannte Targeting, - das muss man übersetzen gezieltes Ausschalten gegnerischer Kämpfer, ein Vorgehen der Isaf wie von OEF? Seine Antwort: Das gibt es in beiden Operationen. Das ist Teil des Targeting, das ist Teil der Operationsführung. Das ist gezieltes Töten, und das hat mit der Ausbildung von Mädchen nichts zu tun, wenn ich das einmal sagen darf. ({9}) Herr Schmidbauer, Sie haben behauptet, dass man mittels Krieg Terror bekämpfen kann. Terror verurteilen wir alle. Doch ist dieser Weg der Bekämpfung des Terrors wirklich der richtige? Denken Sie einmal darüber nach: Wir sind in einer Spirale der Gewalt. Wenn Sie eine Bombe werfen, wenn Sie gezieltes Töten und andere Dinge verrichten, treffen Sie immer auch Unschuldige. Das gilt auch in Afghanistan. Sie wissen, dass Sie zum Beispiel Unbeteiligte und Unschuldige in Hochzeitsgesellschaften und Geburtengesellschaften getroffen haben. Diese haben Freunde und Angehörige. Dort entsteht Hass. Irgendein reicher Bin Laden nutzt dann diesen Hass und rekrutiert Terroristen - übrigens auch Selbstmordterroristen. Er macht das ja nicht selber, sondern findet immer andere. Sie müssen meine Wut gar nicht schüren; die ist schon da. Wir antworten dann wieder mit Bomben. Dann entstehen wieder neuer Hass und neuer Terror. Wenn die Industriegesellschaften nicht endlich Vernunft zeigen und aus der Spirale der Gewalt herausgehen, dann gibt es keine Lösung. ({10}) Deshalb sagen wir: Die Bundeswehr muss aus Afghanistan zurückgezogen werden. ({11})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat der Kollege Rainer Arnold für die SPD-Fraktion das Wort.

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Gysi und Herr Lafontaine hätten wirklich einen Oscar für diese reife schauspielerische Leistung, die sie hier abgeliefert haben, verdient. Sie war wirklich sensationell. ({0}) Der Inhalt Ihres Stückes ist aber wirklich so billig, dass ich fast versucht bin, in diesem Zusammenhang von einer Schmierenkomödie zu reden. ({1}) Wir führen heute deshalb eine überflüssige Debatte, ({2}) weil wir uns im Rahmen des im Oktober sehr sorgsam beratenen Mandates bewegen. Die Anzahl der Soldaten, die Aufgaben und die nördliche Provinz - all das haben wir sorgsam abgewogen und im Oktober diskutiert und entschieden. Deshalb ist diese Debatte heute wirklich überflüssig. Wir bewegen uns im Rahmen des Mandates der Vereinten Nationen. Sie versuchen immer, das Völkerrecht für sich zu reklamieren. Sie sollten sich das Kapitel 7 der UN-Charta einmal sorgsam durchlesen. Dann würden Sie nämlich feststellen, dass alle Mitglieder der Vereinten Nationen aufgefordert sind, Beistand zu leisten, wenn die Vereinten Nationen rufen. Sie koppeln sich von dieser ethischen und moralischen Verpflichtung leider dramatisch ab. ({3}) Es wurde hier auch deutlich, dass die Aufgaben, die diese schnelle Eingreiftruppe hat, nicht mit einem Wort zu fassen sind. ({4}) Es sind vielfältige Aufgaben. Klar ist: Für die deutschen Soldaten wäre nur ein Modul neu, nämlich, dass sie auch eine Sicherheitsvorsorge betreiben. Was läge denn näher, als dass die Deutschen im Norden Sicherheitsvorsorge für die Deutschen betreiben? Ohne dieses Modul wäre der gesamte Einsatz nicht verantwortbar. Sie sagen hier die Unwahrheit, wenn Sie behaupten, die Norweger zögen ab, weil sie das Risiko nicht mehr eingehen wollen. Die Norweger leisten in Afghanistan weiterhin sehr schwierige und ernsthafte Beiträge. Nach einer seriösen einjährigen Vorankündigung leisten sie dieses Modul nun nicht mehr, weil ihre kleine Armee in diesem Bereich keine Durchhaltefähigkeit für viele Jahre hat. Dies und nichts anderes ist die Wahrheit. ({5}) Zu dieser Sicherheitsvorsorge gehört natürlich auch - das gibt die UNO vor -, dass die staatliche Ordnung in Afghanistan im Zweifelsfall mit militärischen Mitteln durchgesetzt werden muss. Deshalb sind auch Soldaten und nicht nur technische Hilfswerke da. Wir brauchen beides; denn beides ist wichtig. Dies ist aber die Aufgabe der Soldaten. Das ist auch verantwortbar und im Übrigen nicht gefährlicher als die Aufgaben, die das PRT auf der Straße oder bei den Patrouillen ansonsten leistet. Die Norweger haben in diesem Bereich in den vergangenen Jahren glücklicherweise keine Verluste gehabt. Nein, wir müssen das einmal vor dem Hintergrund von Schuld und Verantwortung diskutieren, Kolleginnen und Kollegen von den Linken. Wir wissen, dass wir eine große Verantwortung übernehmen. ({6}) Entsprechend sorgsam beraten wir das auch in meiner Partei. Wir machen es uns nicht leicht. Wir machen uns diese Gedanken, und wir machen es uns auch intern wirklich sehr schwer. Das Gegenteil von Verantwortung übernehmen ist verantwortungsloses Handeln. Wir wissen, dass man in einem solchen Einsatz möglicherweise auch Schuld auf sich lädt. Eines ist aber auch klar: Wer in der Welt helfen kann und wissentlich zuschaut, wie ein Volk unterdrückt und ermordet wird, der lädt auf jeden Fall Schuld auf sich. Diesen Zusammenhang müssen sich die Linken wirklich einmal klarmachen. ({7}) Meine Damen und Herren von der Linken, Sie klatschen, wenn Herr Schmidbauer von Pazifismus spricht. In unserer Gesellschaft muss Pazifismus sicherlich Platz haben. Auch in meiner Partei, der Sozialdemokratie, sind Pazifisten willkommen. Aber Afghanistan ist möglicherweise kein besonders geeigneter Ort, um den Menschen mit pazifistischen Ideen zu helfen. Herr Lafontaine, in Wirklichkeit bedienen Sie eine ganz andere, eine rechte, national denkende Klientel, wenn Sie den Menschen einreden, es sei gut, wenn sich Deutschland zuerst um sich selber kümmere und wenn es die Schotten dicht mache. Sie wollen keine Verantwortung in der Welt übernehmen. Es ist schlimm, dass Sie als sogenannter Linker dieses Lager ansprechen. ({8}) Klar ist: Folgten der Deutsche Bundestag und 37 Nationen - eine ist auf der Zuschauertribüne vertreten - Ihrem Ratschlag, fielen die Menschen in Afghanistan in einen Steinzeitislamismus und eine Welt zurück, in der Drogenkartelle allein das Sagen hätten. Sie sind damit völlig isoliert. Wir sind auf einem schwierigen Weg. Aber wir werden ihn in aller Sorgfalt weitergehen, bis die Menschen in Afghanistan selbst in der Lage sind - und darum geht es -, für ihre eigene Sicherheit zu sorgen. Dabei helfen ihnen die deutschen Soldaten jeden Tag, und zwar nicht als Haudraufs, sondern verantwortungsvoll, vorsichtig und mit angemessenen Mitteln. Dafür sind wir sehr dankbar. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Gert Winkelmeier. ({0})

Gert Winkelmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003864, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Von Skandinavien kann man eine Menge lernen, zum Bespiel wie eine Volkswirtschaft so organisiert wird, dass bei den Menschen genügend für ein soziales Leben ankommt. Man kann aber auch lernen, wie in der Bevölkerung geführte Debatten von der Politik aufgenommen und die Anregungen in die Praxis umgesetzt werden. Aus dem Unmut über das Missverhältnis zwischen militärischen Ausgaben und ziviler Aufbauhilfe hat die norwegische Regierung Konsequenzen gezogen: Die Mittel für die Aufbauhilfe wurden gesteigert, die militärischen Kosten wurden gesenkt. Diese deutliche Akzentverschiebung führt dazu, dass die norwegische schnelle Eingreiftruppe ab Mitte 2008 dem deutschen Kommandeur des Regionalkommandos Nord nicht mehr als Kampftruppe zur Verfügung stehen wird. Sie wird stattdessen zum besseren Schutz der eigenen Aufbauteams eingesetzt. Angesichts der kriegstreiberischen Rhetorik und des rücksichtslosen Vorgehens anderer Verbündeter ist dieser Schritt geradezu ein Akt der Vernunft. ({0}) In Deutschland hingegen gehen die Uhren offensichtlich völlig anders. Sie wollen dem Beispiel von gleich hohen Ausgaben für zivile Hilfe und militärischen Einsatz nicht folgen. Bundesregierung und parlamentarische Mehrheit scheren sich auch keinen Deut darum, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr ist, wie eine AllensbachUmfrage vom Oktober 2007 zeigt. Offenkundig verfängt die Propaganda nicht mehr, den Krieg in Afghanistan als eine Art Entwicklungshilfe in Uniform zu beschönigen. Die Regierung in einer funktionierenden Demokratie muss doch Konsequenzen daraus ziehen, wenn ihr Souverän, das Volk, in den fundamentalen Fragen von Krieg und Frieden nicht mehr hinter ihr steht. ({1}) Sie hingegen haben das Politische verlassen und sich auf die Ebene der militärischen Logik begeben. Das ist jedoch nicht Ihre Aufgabe. Mit der leider absehbaren Entscheidung, das norwegische Kontingent durch eine deutsche schnelle Eingreiftruppe zu ersetzen, geben Sie einem seit Monaten medial aufgebauten Druck nach, der ausschließlich mit militärischen Argumenten unterlegt wurde, einem Druck, an dem sich auch Ihre eigenen Generale vor Ort und der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes beteiligt haben. Das norwegische Beispiel zeigt aber, auf welchem Irrweg Sie voranschreiten. Zug um Zug lassen Sie zu, dass Deutschland immer tiefer in einen neokolonialen Krieg verstrickt wird, der den Widerstand der Afghanen gegen Besatzung und Besetzung brechen soll. Die Zahl der Anschläge im Winter 2007/2008 ist signifikant höher als ein Jahr zuvor. Was dies für den Sommer bedeuten kann, kann sich jeder ausrechnen. Wollen Sie dann wiederum militärisch eskalieren? General Kasdorf, der Chef des ISAF-Stabes, hat am 17. Januar in einem FAZ-Interview schon Kampfpanzer ins Gespräch gebracht. Ich kann Ihnen nur eines sagen: Hören Sie auf, sich von Generälen politisch beraten zu lassen! ({2}) Wohin das führt, hat schon Hindenburg gezeigt und zeigt heute der ehemalige Vorsitzende des NATO-Militärausschusses Naumann mit seinen hanebüchenen Forderungen nach einer nuklearen Ersteinsatzdoktrin für die NATO. Stimmen Sie stattdessen dem Antrag der Linken zu, damit Sie nicht ebenso von Ihren Sünden eingeholt werden wie jetzt im Fall Kosovo! Danke schön. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Parlamentarischer Staatssekretär Thomas Kossendey hat jetzt das Wort.

Thomas Kossendey (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001188

Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Präsidentin! Ich bedanke mich im Namen der Bundesregierung für die intensive Anteilnahme, die das Parlament an der möglichen Entsendung einer Quick Reaction Force nach Afghanistan nimmt. Ich will allerdings neben den vielen konstruktiven Beiträgen, die es hier gegeben hat, sehr deutlich sagen: Das, was die Kollegen Lafontaine und Gysi hier vorgetragen haben, gehört einer Art Demagogie an, die wir in Deutschland eigentlich überwunden glaubten. ({0}) Über diese Einheit, die möglicherweise in Afghanistan ihren Dienst tun soll, ist hier einiges gesagt worden, was nicht ganz richtig war. Deswegen lassen Sie mich noch einmal einige Fakten zusammentragen: Im November hat unser Generalinspekteur die Generalinspekteure der anderen im Norden Afghanistans vertretenen Nationen zu einer Besprechung über die Frage eingeladen, wer nach dem Ausscheiden der Norweger die Quick Reaction Force übernimmt. Daraufhin hat die NATO eine Umfrage unter den zehn beteiligten Nationen veranstaltet, die Ende Januar beendet sein soll. Bis dahin sollen mögliche Kontingente für die Nachfolge der Norweger genannt werden. Die Ergebnisse werden dann ausgewertet und am 7./8. Februar in Vilnius zu einer konkreten Entscheidung gerinnen. ({1}) - Lieber Herr Gehrcke, halten Sie doch die NATO nicht für so kleinkariert, dass sie auf deutsche Landtagswahlen Rücksicht nimmt! Ich glaube, da gibt es andere Kriterien. ({2}) Ich denke, wenn die Entscheidung ansteht, wird das Ministerium die entsprechenden Ausschüsse und das Parlament unterrichten. Dann können wir gerne in Ruhe weiter darüber diskutieren. Lassen Sie mich aber zu der Art und Weise, wie die Quick Reaction Force arbeiten soll, noch einige Stichworte sagen; die Erfahrungen der Norweger zeigen, was dort zu tun ist. Die Truppe der Norweger war in den letzten zwei Jahren insgesamt 26-mal im Einsatz, davon zweimal in Alarmeinsätzen. Im Wesentlichen ging es um Patrouilleneinsätze, Absicherungsoperationen, den Einsatz gegen gewaltbereite Menschenmengen, vor denen Menschen geschützt werden sollten, auch um Evakuierungsaktionen, Zugriffs- und Durchsuchungsoperationen, um offensive Operationen gegen gegnerische Kräfte; außerdem waren sie als taktische Reserve im Norden Afghanistans eingesetzt. Ich glaube, diese Truppe ist wichtig, weil dadurch der Ansatz, den wir mit unseren über 3 000 Soldaten in Afghanistan verfolgen, unterstützt wird. Das Arbeiten unserer Soldatinnen und Soldaten, aber auch der zivilen Hilfsorganisationen wird dadurch sicherer. Ich denke, deswegen ist es auch wichtig, dass sie gemeinsam mit den afghanischen Sicherheitskräften, mit der afghanischen Armee, die übrigens mittlerweile durch gute Ausbildung zur Hälfte aufgebaut worden ist, und mit den afghanischen Polizeikräften, die schon zu einem gerüttelt Maß existent sind und ihre Aufgabe wahrnehmen, operiert. Dies bedeutet auch keine neue Qualität unserer Arbeit. Das ist zwar eine neue Aufgabe - das sollte man sehr deutlich sagen -; aber diese Eingreiftruppe war schon immer eine wichtige Teilkomponente der Arbeit der Soldatinnen und Soldaten im Norden. Sie wurde bislang von den Norwegern gestellt und unterstand dem Kommando des deutschen Generals. Das heißt, wir hatten auch bislang schon für die Quick Reaction Force der Norweger nicht nur eine politische, sondern auch eine militärische Verantwortung. Wir brauchten diese Soldaten dort nicht, wenn es nicht zumindest ein in Teilen feindliches Umfeld gäbe. Was einige glauben, was unsere Soldaten dort tun könnten - in Oliv Brunnen bohren oder Schulen bauen, sozusagen als Ersatz für das Technische Hilfswerk -, hat Ihnen diese Regierung nie vorgegaukelt. ({3}) Wir haben immer wieder sehr deutlich gemacht, dass im Rahmen der ISAF-Operationen Soldaten helfen, aber auch kämpfen können müssen, um den Aufbau dort voranzubringen. Sie müssen kämpfen können, wenn es darauf ankommt; das hat Minister Jung in diesem Hause mehrfach gesagt. Frau Kollegin Homburger hat die Ausrüstung angesprochen. Ich möchte Sie, Frau Kollegin Homburger, darauf hinweisen, dass gerade in den letzten zwei Jahren die Ausrüstung in den Einheiten, die in Afghanistan stationiert sind, massiv verbessert worden ist. Wir haben einen Anteil an geschützten Fahrzeugen, der so hoch ist wie noch nie. Mit Blick auf den Bericht von General Warnecke sollten Sie sich vielleicht das in Erinnerung rufen, was gestern im Ausschuss gesagt wurde. General Warnecke hat an keiner Stelle seines Berichtes die Meinung geäußert, dass die Ausrüstung seiner Einheiten unzureichend sei. Er hat Optimierungsbedarf aufgezeigt. Wir erwarten von unseren Kommandeuren, dass sie in ihren Berichten die Situation ehrlich und ungeschönt darstellen. Ich komme nun zu dem vom Stern abgedruckten Buch, das hier erwähnt worden ist. Das Ministerium hat jedes einzelne Kapitel daraufhin durchgesehen, was sowohl für deutsche wie auch für NATO-Soldaten zutreffen könnte. Wir haben bei keinem dieser Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen einen präzisen Anhaltspunkt dafür gefunden, dass sie zutreffen könnten. Das Beispiel mit den Äpfeln haben wir ausführlich besprochen. Wir haben bei unseren Verbänden und bei allen anderen NATO-Verbänden nachgeforscht, ob es irgendjemanden gibt, der davon Kenntnis hat. Es hat sich niemand gemeldet. Ich muss Sie fragen: Wie glaubwürdig ist eigentlich ein Zeuge, der fünf Jahre mit diesem schrecklichen Geheimnis lebt, um es dann - wahrscheinlich gegen Geld - einer Illustrierten zu verkaufen? Sie sollten bei der Nennung von Zeugen etwas vorsichtiger sein. ({4}) Der Kollege Gysi hat wieder einmal gefragt: Was hat das, was wir als QRF bezeichnen, mit den Rechten von Frauen, mit dem Bau von Schulen usw. zu tun? Sehr viel, Herr Kollege Gysi. Denn die Frauen könnten heute nicht frei in Afghanistan leben, wenn es dort nicht die ISAF-Truppe gäbe. ({5}) Die Schulen würden nicht wieder aufgebaut, wenn es die Truppe dort nicht gäbe. Es wären dort auch keine 8 Millionen Schülerinnen und Schüler in der Lage, in die Schule zu gehen, wenn wir dort nicht wären. ({6}) Wir werden an unserem Konzept festhalten. Es lassen sich für unsere Aufgabe vier Stränge nennen: Wir werden schützen, helfen, vermitteln, und wir werden da, wo es notwendig ist, auch kämpfen. Das ist ein Auftrag, den unsere Soldaten dort schon haben. Wir werden auch in Zukunft so handeln, wie es der Deutsche Bundestag beschlossen hat. Egal um welche Aufgabe unserer Soldaten es sich in Afghanistan handelt: Wir werden sie mandatskonform wahrnehmen. ({7}) - Herr Kollege Gehrcke, zu dem Thema „gezielte Tötungen“ wird der Kollege Ströbele eine sehr ausführliche Antwort bekommen. Denn das, was Sie aus dem Interview von General Kasdorf herauslesen, nämlich dass sich unsere Soldatinnen und Soldaten dort möglicherweise völkerrechtswidrig verhalten, trifft in keinem einzigen Fall zu. Dies wird auch in Zukunft nicht so sein, weil sich unsere Soldatinnen und Soldaten nach den ihnen vorgegebenen Regeln richten. Darauf können Sie sich verlassen. ({8}) Wir werden mandatskonform arbeiten. Wir werden in der Nordregion bleiben und die Obergrenze von 3 500 Soldaten einhalten. Wenn irgendein Einsatz außerhalb des Nordens erforderlich sein sollte, werden wir dies so regeln, wie es durch das Mandat festgelegt worden ist. Wir werden darüber in den Ausschüssen berichten. Von der politischen Leitung wird dann entschieden. Daran brauchen Sie keinen Zweifel zu haben. Das haben wir in der Vergangenheit auch so gemacht. Lassen Sie mich abschließend sagen: Ich bitte Sie alle ganz herzlich um Ihre Unterstützung hinsichtlich einer sachgerechten Information über den Afghanistan-Einsatz vor allem mit Blick auf mögliche Veränderungen. Wir brauchen in Afghanistan einen langen Atem. Unsere Maßnahmen und die unserer Partner zur Ausbildung der afghanischen Streitkräfte und der afghanischen Polizei beginnen langsam Früchte zu tragen. Was der Kollege Nachtwei in Bezug auf die Polizeiausbildung angemahnt hat, ist ein Kapitel - das wissen wir aus langen Beratungen im Ausschuss -, das uns natürlich nach wie vor beschäftigt. Wir werden Ende März mit 195 Kräften bei EUPOL vertreten sein. Wir werden durch die Verstärkung der Feldjäger die Arbeit effektiver gestalten. Es ist uns aber auch klar, dass es dabei zu Rückschlägen kommen kann. Wir werden uns davon nicht beirren lassen und werden unseren Beitrag im Rahmen eines vernetzten Ansatzes auch in Zukunft einbringen. Wer heute den Abzug unserer Soldatinnen und Soldaten fordert, der gibt grünes Licht für die Rückkehr des Terrors. Das kann nicht unser Wille sein. Herzlichen Dank. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die SPD-Fraktion ist Detlef Dzembritzki der nächste Redner. ({0})

Detlef Dzembritzki (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren wahrlich nicht zum ersten Mal über das Thema Afghanistan. Einige in diesem Haus wollen allerdings immer wieder den Eindruck erwecken, als wenn wir über die Ereignisse, die im Augenblick in Afghanistan stattfinden, überrascht sein müssten. In einigen Reden ist gesagt worden, es gehe nur um Wahlkampf. Herr Gysi, Sie haben diesen Gedanken hier zu Recht eingebracht. Auch ich finde es bedrückend, mit welchen stilistischen Mitteln bei uns Wahlkampf geführt wird. Eines muss ich Ihnen allerdings sagen: Sie werfen dem hessischen Ministerpräsidenten zu Recht vor, er versuche, mit Ausländerfeindlichkeit Wahlkampf zu machen. Ich kann Sie nur dringend bitten, nun nicht den Versuch zu machen, mit Populismus, der noch überzogener ist, gleichzuziehen und unsere Bevölkerung im Wahlkampf mit völlig falschen Informationen zu bedenken. ({0}) Herr Kollege Lafontaine, ich finde es wirklich vermessen, ({1}) wenn Sie aus einem Buch zitieren, dessen Argumente nicht belastbar sind, und wenn Sie den Eindruck erwecken - dies versuchen Sie zumindest -, wir, das Parlament, könnten mit dem Tatbestand einverstanden sein, den Sie uns hier vorgeworfen haben. Dieser Versuch ist in schlimmer Weise populistisch und reicht fast an demagogisches Verhalten heran. Herr Kollege Lafontaine, ich habe alle Ihre Zurufe bei den Reden zuvor ertragen müssen. Sie sagen, es gehe um Menschenleben. Natürlich geht es um Menschenleben: um das Leben unserer Soldatinnen und Soldaten, um das Leben unserer Entwicklungshelferinnen und Entwicklungshelfer und um das Leben der afghanischen Bevölkerung, um Menschen, die auf unsere Hilfe angewiesen sind. ({2}) Bei dem furchtbaren Attentat in der Zuckerfabrik in Baghlan ist kein einziger Militär ums Leben gekommen. Es waren ausschließlich afghanische Zivilisten, Abgeordnetenkolleginnen und -kollegen, die dort umgebracht worden sind. Natürlich geht es um Menschenleben. Menschen zu schützen, das ist mit die Aufgabe, die unsere Bundeswehr und ihre Partner dort haben. Es ist doch überhaupt nicht wegzudiskutieren, dass die Lage in Afghanistan höchst schwierig und komplex ist. Wenn das nicht der Fall wäre, wären wir nicht da. Ich habe vorhin gehört, dass wir von der Koalition den Eindruck erweckt hätten, bei der Bundeswehr handele es sich um eine Art THW. Ich habe von dieser Stelle aus mehrfach darauf hingewiesen, dass wir zur Bewältigung der Aufgaben dort nicht das THW entsenden können, sondern dass wir auf das Militär, auf eine entsprechende Robustheit, angewiesen sind, um uns die notwendige Zeit, die wir für den zivilen Aufbau brauchen, zu erarbeiten, der ohne diesen militärischen Schutz nicht denkbar ist. ({3}) Kollege Nachtwei hat dankenswerterweise die Meinungsumfragen, die zu unterschiedlichen Zeiten zum einen von kanadischer Seite und zum anderen von der ARD angestellt worden sind, angesprochen. Ich fand das hochinteressant, weil wir hier ja häufig über ein Bild diskutieren, das zum Teil nur durch die veröffentlichte Meinung gezeichnet wird und nicht durch Präsenz im Land. Wir haben hier zum Beispiel gehört, dass die große Mehrheit der afghanischen Bevölkerung mit der militärischen Präsenz nicht nur einverstanden ist, sondern sie auch weiterhin wünscht. Das Empfinden ist dort doch nicht, dass wir als Besatzer oder als Kriegstreiber gekommen wären. Die Menschen wissen vielmehr, dass wir eine Schutzfunktion wahrnehmen. Sie wären bitter enttäuscht, wenn wir aus Afghanistan herausgingen. ({4}) Wenn Sie sich einmal die Mühe machen, sich diese Untersuchung anzuschauen, dann stellen Sie natürlich fest, dass die Hoffnungen nicht voll erfüllt worden sind. Sie sehen auch, dass es 2006 und 2007 minimale Enttäuschungen gab. Sie werden aber feststellen, dass eine breite Mehrheit die Erwartung hat, dass die Solidarität mit Afghanistan weitergeht; sie ist im Norden noch größer als im Süden. 60 Prozent der Menschen in ganz Afghanistan sind der vollen Überzeugung, dass wir dort unsere Arbeit leisten müssen. Schauen Sie sich zum Beispiel die Zustimmung zur Militärausbildung und zur Polizei an: Über 75 Prozent der Menschen in Afghanistan finden das richtig. Umso wichtiger ist es dann - ich unterstreiche dies auch von unserer Seite noch einmal -, die Effektivität im zivilen Tun enorm zu erhöhen. Dies gilt für die Polizei, die Justiz, die Bildung und die Gesundheit. All die Diskussionen, die wir hier im Augenblick führen, ob nun zur schnellen Eingreiftruppe oder zu unserem militärischen Einsatz, machen nur dann Sinn, wenn wir in der Lage sind, im zivilen Bereich die Erwartungen zu erfüllen, die etwa im Afghanistan Compact zusammengetragen worden sind und die die Menschen in Afghanistan an uns haben. Nur dann ist die Sinnhaftigkeit des militärischen Handelns gegeben. Deswegen mein dringender Appell an die Bundesregierung: Nehmen Sie all die Debatten ernst, die wir gerade zum zivilen Bereich geführt haben, unterstützen Sie die internationale Zusammenarbeit und steigern Sie die Effektivität. Die Menschen in Afghanistan, aber auch die Menschen hier in Deutschland warten darauf. Vielen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Hans Raidel spricht jetzt für die CDU/CSU-Fraktion.

Hans Raidel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001768, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Damit es nicht untergeht, will ich zuallererst unseren Soldaten im Einsatz für ihren verantwortungsvollen Dienst herzlich danken und sie vor jedem Klamauk und Krawall sowie vor jeder unseriösen Behandlung dieses Themas in Schutz nehmen. Das ist notwendig. Lieber Herr Lafontaine, lieber Herr Gysi, Sie wollen doch ernst genommen werden. Denken Sie bitte einmal darüber nach, dass es von der Erhabenheit zur Lächerlichkeit nur ein ganz kleiner Schritt ist. ({0}) - Ja, an Ihnen; das haben Sie heute bewiesen. Das ist genau der Punkt. Meine Damen und Herren, Fakt ist: Wir haben dieses Mandat beschlossen und unsere sicherheitspolitischen Interessen und Verpflichtungen seinerzeit ausreichend begründet. Die Zielsetzungen und die politischen Vorgaben sind unverändert geblieben. Wir bewegen uns mit unseren Aufgaben, auch wenn neue dazukommen, nur innerhalb dieses Mandates. Alles andere erforderte eine neue Beschlussfassung in diesem Hause. Derzeit liegt noch keine konkrete Anfrage vor. Diese Debatte ist also eigentlich nicht zwingend erforderlich. Sie macht nur dann Sinn, wenn wir militärisch wie politisch die richtigen Signale geben. Das erste Signal heißt Solidarität. Unsere Verbündeten bei der NATO und unsere Partner im Einsatz haben einen Anspruch darauf - dies sollen sie zweifelsfrei wissen -, dass wir unverändert engagiert bleiben. Wir tragen für die Nordregion in Afghanistan die Führungsverantwortung, in die übrigens auch die Norweger eingeschlossen sind. Wenn sich Norwegen jetzt aus dieser Aufgabe zurückzieht, bleiben sie nach ihrem eigenen Bekunden mit einer neuen Aufgabenstellung weiterhin dort. Für uns bedeutet dies Folgendes: Fiele diese Schutzkomponente ersatzlos weg, entstünde ein nicht vertretbares Sicherheitsrisiko für die ISAF insgesamt, aber natürlich insbesondere für unsere Soldaten. Im Sinne der Sicherheitsvorsorge ist es also zwingend erforderlich, dass diese Lücke wieder geschlossen wird. Für unseren eigenen Selbstschutz ist es notwendig, auch darüber nachzudenken, diese Aufgabe selbst zu übernehmen, natürlich bei bester Ausbildung und bester Ausrüstung sowie mit besten Kräften und bei entsprechend großem Verantwortungsbewusstsein der politischen und militärischen Führung. Das zweite Signal sollte an unsere Bevölkerung gehen. Unsere Sicherheitsinteressen müssen der Bevölkerung immer wieder klargemacht werden. Es muss hervorgehoben werden, dass unser ISAF-Einsatz ein ernsthaftes politisches und militärisches Engagement ist, das, wie ich meine, mehr gesellschaftliche Aufmerksamkeit verdient. Jeder Bürger weiß - wir sollten das noch einmal klarmachen -, dass solche Einsätze immer auch ein Wagnis für Leib und Leben unserer Soldaten sind. Vorhin wurde gesagt, dass der Tod näherrückt. Das ist je nachdem, wie sich kritische Situationen entwickeln, durchaus richtig und darf auch nicht verschwiegen werden. Das dritte Signal muss an unsere Soldaten gehen. Von Anfang an war klar, dass das Mandat auch Bewährung im Kampf bedeuten kann. Deswegen darf es keinen Zweifel daran geben, dass wir, das Parlament bzw. die Regierung, in schwierigen und fordernden Situationen eine besondere Verantwortung haben und an der Seite unserer Soldatinnen und Soldaten stehen. Wir müssen die politische Verantwortung und die Fürsorge für unsere Soldaten in den Mittelpunkt stellen. Ich meine, alles andere wäre ein falsches Signal. Deswegen ist die Forderung richtig, den Ausschuss sehr detailliert über das Einsatzkontingent, die Ausbildung und die Ausrüstung zu informieren, damit wir dazu beitragen können, die Weichen richtig zu stellen. Wir haben volles Vertrauen in die militärische und politische Führung. Das vierte Signal muss an die afghanische Regierung und die afghanische Bevölkerung gehen. Sie sollen wissen, dass wir dort verstärkt engagiert bleiben. Das gilt auch für die militärische Versorgung und Absicherung. Denn wie jeder weiß, ist ohne diese Absicherung der Wiederaufbau in allen Bereichen der Daseinsvorsorge nicht möglich. Das fünfte Signal muss an die Taliban gehen. Sie müssen verstehen lernen, dass wir mit verbesserten operativ-taktischen Maßnahmen auch ein klares politisches Zeichen für unseren festen Willen geben,

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Hans Raidel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001768, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- in Afghanistan weiter für Menschenwürde, Demokratie, Frieden, Freiheit und Wohlstand einzutreten. Ich hoffe, dass diese Zeichen dort auch richtig verstanden werden.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege!

Hans Raidel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001768, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Für den Fall, dass die NATO-Anfrage kommt, signalisieren wir schon heute unsere positive Einstellung dazu. Herzlichen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Als letzter Redner in der Aktuellen Stunde bekommt der Kollege Gert Weisskirchen für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Lafontaine, lieber Kollege Gysi, ich habe eine herzliche Bitte, auch wenn ich nicht weiß, ob das noch zu Ihnen vordringt ({0}) - ich bin mir da nicht ganz sicher -: Es geht in der Tat um Menschenleben, um Tod und um Gewalt. Beides gibt es in diesem Land, wie Sie wissen. Herr Lafontaine, ich darf Sie als früheren Sozialdemokraten in allem Freimut bitten, eine Lehre, die uns Herbert Wehner mitgegeben hat, sehr ernst zu nehmen. Diese Lehre besagt, dass man sich in den politischen Debatten auch darüber im Klaren sein sollte, ob nicht die Argumente und Instrumente, die man in der Debatte gebraucht, bestimmte Grenzen überschreiten. Wenn - wie Herbert Wehner, glaube ich, zutreffend festgestellt hat - kriegswissenschaftliche Methodik in einer Debatte in der Weise eingesetzt wird, dass die Verantwortung der Politik im Mark getroffen werden soll, dann muss man genau wissen, welche Grenzen man überschreitet. Was Sie vorgetragen haben, hat die Grenzen überschritten. ({1}) Das will ich Ihnen deutlich sagen. ({2}) Es gibt nämlich sehr wohl das Problem, lieber Kollege Lafontaine, dass man Menschenleben als Instrument einsetzt. Sie sind derjenige, der den Tod instrumentalisiert und als Waffe in der Politik benützt. Damit ist die Grenze deutlich überschritten, lieber Kollege Lafontaine. ({3}) Ich will dazu nur eines sagen: ({4}) Gert Weisskirchen ({5}) Es wird die Zeit kommen, in der über Schuld und Verantwortung im Detail debattiert werden wird. Ich reklamiere, dass wir, die Sozialdemokratie, in jedem Fall unserer historischen Verantwortung dann, wenn es darum ging, unschuldigen Menschen zu helfen und, wenn es sein musste, auch begrenzte militärische Gewalt einzusetzen, gerecht wurden und wir uns in langwierigen, ernsthaften und quälenden Diskussionen darüber verständigt haben. Im Falle von Afghanistan sind wir diesen Weg gegangen, und er ist richtig, weil dies den Menschen in Afghanistan hilft, ihren eigenen, selbstbestimmten Weg zu gehen, lieber Kollege Lafontaine. ({6}) Der entscheidende Schlüssel - insofern finde ich es etwas bedauerlich, dass wir dieses Jahr gerade mit dieser Diskussion beginnen -, um Afghanistan voranzubringen, ist Entwicklung. ({7}) Der Außenminister sagte, dass wir den Menschen in Afghanistan in diesem bitteren Winter helfen und ihnen zusätzliche Millionen an Finanzmitteln zur Verfügung stellen. Die Menschen in Afghanistan haben Angst vor dem Wintereinbruch, der gegenwärtig erkennbar ist. Wir wollen ihnen helfen, damit sie über den Winter hinwegkommen und im Frühling und Sommer Perspektiven haben, ihr Land durch Arbeit voranzubringen. Das ist es, was nötig ist. Wir müssen mithelfen, damit dieses Land eine Chance hat, sich selbst zu verändern und die Situation zu verbessern. Lieber Kollege Lafontaine, wir alle sollten die Ängste, Sorgen und Nöte, die alle in diesem Land haben, nicht instrumentalisieren, sondern wir sollten unsere Verantwortung wahrnehmen und helfen, damit Afghanistan eine Chance hat, sich so zu entwickeln, dass ein ziviler Aufbau in diesem Land möglich ist. Das ist unsere erste und wichtigste Aufgabe hier in diesem Parlament. Wir erfüllen diese Aufgabe; aber wir wissen auch, dass es notwendig ist, diesen Aufbau in begrenzter Weise militärisch zu sichern und zu unterstützen. Die Afghanen sollen wissen: Wir lassen sie nicht allein. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Aktuelle Stunde ist damit beendet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Diana Golze, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Kinderarmut bekämpfen - Kinderzuschlag ausbauen - Drucksache 16/6430 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschuss Hierzu ist verabredet, eine Stunde zu debattieren. Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem Kollegen Dr. Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke. ({1})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bevor mir wieder vorgeworfen wird, dass wir Wahlkampf machen - man traut sich kaum noch, etwas zu sagen -, räume ich ein, dass ich wirklich viele Menschen davon überzeugen möchte, ernsthaft etwas gegen Kinderarmut nicht nur bei uns hier in Deutschland, aber auch bei uns zu tun. ({0}) Wir sind eine der reichsten Gesellschaften auf der Erde. Das kann niemand leugnen. Wir sind eines der ökonomisch stärksten Länder. Es besteht aber eine zunehmende Kinderarmut. Es gibt in jeder Gesellschaft nur eine unschuldige Gruppe. Wir alle gehören nicht dazu. Wir alle haben schon unsere Fehler begangen etc. Es gibt aber eine unschuldige Gruppe: die Neugeborenen. In Deutschland liegen aber schon Welten zwischen den Chancen des einen und der anderen Neugeborenen. Die Gesellschaft kann all diese Probleme nicht lösen; das weiß ich. Wir müssen aber ernsthafte Maßnahmen ergreifen, um Kinderarmut zu überwinden. Kinderarmut kann man natürlich nur überwinden, wenn man Elternarmut überwindet. Einen anderen Weg gibt es nicht. ({1}) Ich will Ihnen, Sozialdemokraten und Grünen, eine Sache sagen - Sie werden die Sache nicht los; es sei denn, sie korrigieren sich an diesem Punkt mal richtig -: Das Deutsche Kinderhilfswerk hat am 15. Dezember 2007 im Kinderreport Deutschland 2007 festgestellt, dass sich die Zahl der armen Kinder in Deutschland seit der Einführung von Hartz IV Anfang 2005 verdoppelt hat; das ist eine direkte Folge. Es sind derzeit 2,6 Millionen. Jetzt möchte ich etwas zum Wahlkampf sagen: Sowohl Herr Jüttner als auch Frau Ypsilanti sagen: Die Agenda 2010 ist richtig. Hartz IV ist richtig. - Wenn man so etwas sagt, dann will man die Kinderarmut fortsetzen. Wir aber wollen hier einen anderen Weg gehen. ({2}) Das Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe hat für den Vergleichszeitraum 2005 und 2006 festgestellt, dass die Anzahl der Kinder, die auf Sozialgeld angewiesen sind, um 12,2 Prozent gestiegen ist. Sie reden immer vom Aufschwung. Sie sagen, er komme überall an. Die Realität ist aber, dass wir immer mehr arme Kinder in Deutschland haben. ({3}) Ich sehe diese Kinder in Berlin und in anderen Städten, auch in Suppenküchen. Ich möchte Herrn Koch einmal sagen: Wenn man etwas gegen Jugendkriminalität und gegen Gewaltbereitschaft tun will, muss man dort ansetzen. Gewaltbereitschaft entsteht, wenn ich Kinder in die Suppenküche schicke und sie damit frustriere. ({4}) Das Gefängnis kommt viel zu spät. Hier müssen wir früher etwas tun. ({5}) Wir haben immer mehr Kinder in Ostdeutschland, deren Familien auf Arbeitslosengeld II angewiesen sind, und vor allem ausländische Jugendliche, deren Familien zunehmend darauf angewiesen sind. Die Bundeskanzlerin hat am 28. November 2007 hier im Bundestag zum Thema Kinderzuschlag Folgendes erklärt - ich bitte heute hier um Aufklärung -: Wir wollen, dass niemand wegen der Kinder in die Bedürftigkeit fällt; deshalb muss der Kinderzuschlag weiterentwickelt werden. Dann: Deshalb werden wir den Kinderzuschlag erhöhen und vereinfachen. Daraufhin hat unsere Fraktion eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung gestellt. Zwei Wochen später, am 14. Dezember 2007, kam die Antwort der Familienministerin. Was teilte Sie mit? Wörtlich: Die Bundesregierung beabsichtigt nicht, den Kinderzuschlag zu erhöhen. Das können Sie in der Drucksache 16/7586 auf Seite 8 nachlesen. Das heißt, die Kanzlerin erklärt in der Debatte hier gegenüber der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland, dass sie das Kindergeld erhöhen wird. ({6}) Die zuständige Ministerin sagt zwei Wochen später: An eine Erhöhung wird gar nicht gedacht. ({7}) Gestern hat sie das im Ausschuss noch einmal bestätigt. Ich sage Ihnen: Das ist ein Skandal! ({8}) - Kinderzuschlag. Habe ich „Kindergeld“ gesagt? Dann habe ich mich versprochen; Entschuldigung. Beide meinten den Kinderzuschlag. Ich rede nicht vom Kindergeld, sondern vom Kinderzuschlag. Die Kanzlerin hat gesagt, dieser Zuschlag werde erhöht; die Familienministerin schließt es aus. Das ist die Wahrheit. Jetzt kommen wir zum nächsten Punkt: Der Kinderzuschlag ist ohnehin viel zu gering. Er beträgt nur 140 Euro. ({9}) Wissen Sie, wie viele Familien den Zuschlag bekommen? Geplant waren 530 000 Familien. Bis jetzt sind es gerade mal 130 000. Also haben wir uns entschieden, fünf Forderungen zu stellen. Erstens. Erhöhung und Reform des Kinderzuschlags. Wir müssen den Kinderzuschlag von maximal 140 Euro erhöhen, und zwar für unter 14-Jährige auf 200 Euro und für 14-Jährige und Ältere auf mindestens 270 Euro. Die Einkommensgrenzen der Eltern nach unten müssen entfallen. Es geht doch nicht an, dass man jemandem sagt: Sie sind so arm; Sie können schon Sozialhilfe beantragen; dann bekommen Sie keinen Kinderzuschlag mehr. Wo leben wir denn hier? ({10}) Diese Grenzen müssen entfallen. Wenn das geschieht, wird auch der Kreis derjenigen viel größer, die den Kinderzuschlag beziehen. Wir müssen das Wohngeld um 15 Prozent erhöhen, weil es entsprechende Mietsteigerungen gegeben hat. Wir müssen zweitens den Hartz-IV-Regelsatz für Kinder erhöhen, und zwar auf rund 300 Euro; sonst können Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfänger nicht dafür sorgen, dass ihre Kinder in der Bundesrepublik Deutschland auch nur halbwegs chancengleich aufwachsen können. ({11}) Dann kommen wir zu einem dritten Punkt - er ist mir ganz wichtig -: Die öffentliche Bildung muss gebührenfrei sein und muss flächendeckend in höchster Qualität bereitgestellt werden. Wir sind hier nicht in Dubai. Unsere Gold- und Erdölvorkommen sind sehr begrenzt. Die Stärke Deutschlands bestand immer darin, eine top ausgebildete Bevölkerung zu haben. Jetzt sind wir in Europa unterdurchschnittlich geworden. Das ist die Wahrheit. Der Punkt ist, dass Kinder aus ärmeren Familien besonders schlechte Chancen in unserem Bildungssystem haben. Das muss sich ändern. ({12}) Deshalb müssen wir ganz andere Angebote machen, ob in Krippen, Kindertagesstätten, Schulen oder Unis. Dazu gehört auch ein kostenloses Mittagessen. Ich möchte nicht, dass Schulkinder in die Suppenküche gehen müsDr. Gregor Gysi sen. Das demütigt sie, das frustriert sie. Das können wir uns als eines der reichsten Länder der Erde nicht leisten. ({13}) In dem Zusammenhang möchte ich auch darauf hinweisen, dass der Anteil der Kinder aus einkommensstarken Familien an den Studierenden enorm zugenommen hat. Dagegen ist der Anteil der Kinder aus einkommensschwachen Familien an den Studierenden von 23 auf 12 Prozent gesunken. Damit liegt bei uns der Anteil aus dieser Gruppe noch unter dem Niveau in den USA. Das ist doch nicht hinnehmbar. Wir brauchen keine Studiengebühren. In Berlin gibt es keine Studiengebühren. Wissen Sie, was jetzt passiert, nachdem Hessen, Niedersachsen und viele andere Länder Studiengebühren eingeführt haben? Die Kinder aus ärmeren Familien kommen zum Studieren nach Berlin. Nun regen sich natürlich die Berliner Eltern auf, weil ihre Kinder hier keinen Platz mehr bekommen. So geht es nicht. Es darf in ganz Deutschland keine Studiengebühren geben, wenn wir Chancengleichheit bei der Bildung herstellen wollen. ({14}) Wir brauchen auch mehr Gesamtschulen. Bis zur zehnten Klasse können alle Kinder sehr wohl gemeinsam zur Schule gehen. Damit erhöhen sich nämlich die Bildungschancen für Kinder aus ärmeren Familien ganz gewaltig. Behaupten Sie bloß nicht, dass man da schlecht ausgebildet würde. Ihre Bundeskanzlerin hat eine Gesamtschule besucht; ich habe eine Gesamtschule besucht. Auf uns trifft vieles zu, aber nicht, dass wir schlecht ausgebildet wären. Das ist die Wahrheit. ({15}) Weiterhin müssen wir den Sonderfonds zur Stärkung der Kinder- und Jugendarbeit aufstocken. Das haben wir beantragt. Mindestens 150 Millionen Euro brauchen Bund, Länder und Kommunen jährlich. Schließlich muss auch das Kindergeld aufgestockt werden, in einem ersten Schritt auf 200 Euro. So können wir Kinderarmut bekämpfen. Jetzt werden Sie argumentieren, das alles sei nicht bezahlbar. Dazu sage ich Ihnen nur eines: Die Steuer- und Abgabenquote, also nicht nur die Steuerquote, beträgt in Deutschland 35,6 Prozent. Im EU-Durchschnitt unter Einschluss von Bulgarien, der Slowakei, von Estland etc. beträgt die Steuer- und Abgabenquote 40,8 Prozent. ({16}) Würden wir sie nur auf den EU-Durchschnitt anheben, hätten wir jährlich 120 Milliarden Euro Mehreinnahmen. Damit könnten wir all das bezahlen und Kinderarmut in Deutschland überwinden. ({17})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Ingrid Fischbach hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin baff. Herr Gysi, dass ich auf Sie direkt antworten darf, ist mir eine besondere Freude. Sie haben sich ja gerade so aus dem Fenster gelehnt, dass die Zuhörer und Zuschauer vor dem Fernseher und hier auf der Tribüne glauben, Sie wollten etwas gegen Kinderarmut tun und sie sogar beseitigen. ({0}) - Wollen Sie? ({1}) Dann frage ich Sie ernsthaft, wie Sie es mit Ihrem Gewissen verantworten können, gegen Kinderarmut zu kämpfen und zugleich einem Konzept wie dem der „Arche“ in Berlin - in diesem Land tragen Sie ja auch Regierungsverantwortung -, das bundesweit Anerkennung findet, die Mittel komplett zu streichen. ({2}) In der „Arche“ bekommen Kinder eine warme Mahlzeit, wenn sie sie brauchen; indem in ihr Kinder betreut werden, übernimmt sie auch Aufgaben der Jugendhilfe. Sieht so Ihre Bekämpfung von Kinderarmut aus? ({3}) Sie haben in Berlin die Mittel für die Kinder- und Jugendhilfe um 160 Millionen Euro gekürzt. Jetzt behaupten Sie hier ernsthaft, Sie wollten etwas dagegen tun? Eine Lachnummer ist das. ({4}) Ich könnte die Liste noch verlängern und Sie an vielen Beispielen vorführen. ({5}) Das ist ja das Herrliche, Herr Gysi: Sie verkünden Dinge, die Ihnen die Menschen draußen gerne glauben, weil sie denken, Sie erzählten hier die Wahrheit. Aber in Wirklichkeit erzählen Sie wissentlich die Unwahrheit. Sie wollen gar nicht das, was Sie hier erzählen. Ihnen geht es nur um Propaganda und Populismus. ({6}) Das möchte ich aber nicht, weil die Sache zu wichtig ist. Ich wäre froh, Herr Gysi, wenn Sie jetzt zuhörten, denn Sie können jetzt noch etwas lernen. Sie haben nämlich offensichtlich noch nicht verstanden, worum es bei dem Kinderzuschlag eigentlich geht. Deshalb werde ich Ihnen jetzt etwas dazu sagen. ({7}) Außerdem werde ich Ihnen gleich noch ein Wort zur Kanzlerin sagen. Hören Sie zu! Sie lernen etwas für das Leben. Das ist manchmal ganz gut. Herr Gysi hat hier über den Kinderzuschlag gesprochen. Ich habe festgestellt, dass er nicht verstanden hat, warum der Kinderzuschlag zu welchem Zeitpunkt und mit welchen Zielsetzungen eingeführt wurde. Als er zu Beginn des Jahres 2005 eingeführt wurde, sollte denjenigen Eltern geholfen werden, die, nur weil sie Kinder haben - sie selbst haben genügend Einkommen, um ihren eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten -, Arbeitslosengeld II beziehen müssen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Fischbach!

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Deshalb war der Ansatz, an dieser Stelle etwas zu tun, richtig und wichtig.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Fischbach, der Kollege Wunderlich möchte eine Zwischenfrage stellen. Möchten Sie sie zulassen?

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön, Herr Wunderlich.

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Fischbach, es geht um das Thema „Arche“. Der Berliner Senat, der Mangel bewirtschaften und verwalten muss, hat die Zuschüsse für den Verein „Arche“, der, um seinen Betrieb aufrechtzuerhalten, jährlich Hunderttausende von Euro - exakte Zahlen kann ich nicht nennen - braucht, gekürzt. Dieser Zuschuss war im Verhältnis zu den Betriebskosten gering, weil diese Kosten durch Spendenmittel bei weitem gedeckt wurden. Daher hat der Senat die eingesparten Mittel lieber Vereinen gegeben, die ohne diese Zuschüsse nicht überleben könnten. Stimmen Sie mir zu, dass der Senat damit sozialverträglich gehandelt hat? Im Übrigen ist der Ausbau des Kinderzuschlags im Koalitionsvertrag vereinbart. Ich weiß nicht, ob Sie mir auch in diesem Punkt zustimmen können.

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, lesen Sie doch einmal nach, was Ihr Kollege nach der Abstimmung gesagt hat: Er bedauerte, dass das abgelehnt werden musste; er hätte gern anders gehandelt. ({0}) Ein weiteres Beispiel. Sie geben mir jetzt die Gelegenheit, die Situation hier vor Ort - Sie sprechen über den Berliner Senat - aufzugreifen. ({1}) - Ich bin noch nicht fertig. Ich würde auf Ihre Frage, Herr Wunderlich, gern noch weiter antworten. Ich hoffe, Sie sind damit einverstanden, Frau Präsidentin. Herr Wunderlich, Sie geben mir jetzt die Gelegenheit, noch etwas auszuholen. Das würde ich gerne tun. Sie haben gerade auch gesagt: Wir wollen, dass jedes Kind ein kostenloses Mittagessen bekommt. ({2}) Hier vor Ort hat der Senat beschlossen, den Anteil an der Finanzierung dieses Vorhabens zu erhöhen. Das, was man beschlossen hat, sieht aber anders aus, als das, was zum Beispiel Roland Koch in Hessen oder Christian Wulff in Niedersachsen gemacht haben. Beide ließen ihren Beschlüssen Taten folgen, das heißt, die Landeszuschüsse flossen, unmittelbar nachdem diese Beschlüsse gefasst worden waren. Hier in Berlin wurde der Beschluss gefasst; aber es steht noch gar nicht fest, wie er umgesetzt werden soll. Obwohl das Ganze seit dem 1. Januar dieses Jahres angeboten werden soll, gibt es noch nicht die notwendigen Verordnungen. Also wurden auch hier wieder leere Versprechungen gemacht. So viel zu Ihrer Arbeit hier im Senat. - Danke schön. ({3}) Durch den Kinderzuschlag sollte denjenigen Eltern geholfen werden - an diesem Punkt war ich, bevor der Kollege Wunderlich den Exkurs in die Berliner Landespolitik begann -, die wegen der Kosten für ihre Kinder Arbeitslosengeld II beziehen müssen. Nach geltendem Recht beträgt der Kinderzuschlag pro Kind bis zu 140 Euro im Monat. Er wird um eventuelle Einkommen und Vermögen des Kindes gemindert; das ist gar keine Frage. Die Eltern müssen, um den Kinderzuschlag zu bekommen, eine Mindesteinkommensgrenze in Höhe des Bedarfs der Eltern erreichen und dürfen die Höchsteinkommensgrenze nicht überschreiten. Außerdem muss im konkreten Fall die Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II vermieden werden. Die Einkommen aus der Erwerbstätigkeit werden zu 70 Prozent angerechnet. Die Dauer des Bezuges war auf 36 Monate beschränkt. Wie Sie gerade schon gemerkt haben, ist es sehr kompliziert; es gibt sehr viele Details. Deshalb hat die Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag beschlossen - ({4}) - Über die Dauer haben wir schon das letzte Mal geredet, Frau Golze. Angesichts dessen, wie viel Zeit Sie für etwas brauchen, sollten Sie ganz ruhig sein. - Ich wiederhole: Die Bundesregierung hat in ihrem KoalitionsIngrid Fischbach vertrag beschlossen, den Kinderzuschlag zu überarbeiten und weiterzuentwickeln. Das ist richtig und wichtig. Der erste Schritt wurde bereits im letzten Jahr vollzogen, als die Befristung aus der Regelung herausgenommen wurde. ({5}) Jetzt komme ich auf Ihren Irrtum oder auf das Missverständnis bezüglich der Worte der Kanzlerin zu sprechen. Auch wir wollen, dass mehr Eltern in den Genuss des Kinderzuschlags kommen. Wenn sie ihn brauchen, dann müssen sie die Möglichkeit haben, diesen Zuschlag zu erhalten. Deshalb werden wir die Anzahl derjenigen, die den Kinderzuschlag beziehen können, erhöhen. Wir wollen, dass die Bewilligungsquote höher ist als 12 oder 13 Prozent: Mehr bedürftige Familien sollen den Kinderzuschlag bekommen, sodass über 500 000 Kinder nicht mehr unter die Arbeitslosengeld-II-Regelung fallen. ({6}) Wir werden im Ministerium prüfen, wie wir die Regelung zum Kinderzuschlag in Zukunft vereinfachen und mehr Transparenz erreichen können. ({7}) - Sie haben den Antrag im letzten Jahr geschrieben. Jetzt ist Januar. Insofern sind Sie der Zeit nicht gerade voraus gewesen. Das hätten Sie eher machen können. Wir setzen auf drei Bausteine: Erstens. Das Ministerium will auf die Begrenzung nach unten und oben verzichten. Wir wollen eine einheitliche Bemessungsgrenze einführen, nach der pauschal gehandelt werden kann. So wollen wir eine flexiblere Ausgestaltung des Kinderzuschlags ermöglichen. Durch den Wegfall der Begrenzung nach unten sollen die Eltern die Möglichkeit haben, zwischen Arbeitslosengeld II und Kinderzuschlag zu wählen. Das ist richtig und wichtig. Herr Müntefering lächelt. Ich weiß, dass es zu dem einen oder anderen Punkt andere Vorschläge gibt. Um der Sache willen werden wir hinsichtlich der Ausgestaltung des Kinderzuschlages zu einer vernünftigen Einigung kommen. Jetzt muss ich erst einen Schluck trinken. Herr Gysi hat mich doch erregt. Dass er das noch schafft, hätte ich nie gedacht. ({8}) - Auch bei diesem ernsten Thema sollten wir das Lachen ab und zu nicht vergessen. Die zweite Säule ist die Anrechnung des Erwerbseinkommens. Wir sollten darüber nachdenken, die Anrechnungsquote von 70 auf 50 Prozent zu reduzieren. Dann würde es sich gerade für Eltern lohnen, mehr zu verdienen und das eigene Erwerbseinkommen zu erhöhen. Das würde sich für die Familien netto rechnen, weil sie dann nicht durch Gegenrechnung wieder weniger in der Tasche hätten. Die dritte Säule ist die Herausnahme der Befristung. Das ist bereits erledigt. Bildung ist nichtsdestotrotz wichtig. Sie ist der Hauptschlüssel im Kampf gegen Armut. Wir haben diesbezüglich die eine oder andere Initiative auf den Weg gebracht. Bildung sorgt dafür, dass man auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen kann, und nur wer arbeitet, hat die Möglichkeit, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Dazu wird gleich meine Kollegin reden.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Dann können Sie ja jetzt zum Schluss kommen.

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Genau. Ich bin beim letzten Punkt, Frau Präsidentin. Ich folge den Worten des Bundespräsidenten Horst Köhler, der sagte: Wir brauchen Achtsamkeit für Kinder vor allem in den Herzen und Köpfen der Erwachsenen. Wenn das überall angekommen ist, bin ich mir sicher, dass wir gemeinsam für eine Verbesserung beim Kinderzuschlag eintreten werden. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt spricht für die FDP-Fraktion die Kollegin Ina Lenke. ({0})

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir stellen fest: Herr Gysi und die Linken haben diesen Showantrag in dieser Woche platziert, um gute Munition für die Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen zu haben. Das ist kein ernstgemeinter Antrag, sondern ein für die Wahlen hergestellter. ({0}) Herr Gysi hat, wie Frau Fischbach gesagt hat, die Katze aus dem Sack gelassen. Herr Gysi, Sie brauchen Steuererhöhungen, damit Sie all die Versprechen, die Sie Ihrer Wählerklientel gemacht haben, bezahlen können. Die FDP wollte die Mehrwertsteuererhöhung nicht haben. Die FDP fordert - um ins Detail zu gehen -, dass Kindern und Erwachsenen bei Einkommensteuer und Lohnsteuer der gleiche Grundfreibetrag eingeräumt wird. Keiner von Ihnen ist auf diese Idee gekommen, und unsere Anträge dazu sind immer abgelehnt worden. Sie geben den Eltern für ihre Kinder einen geringeren Freibetrag, obwohl Kinder im Jahr vier Paar Schuhe brauchen und Erwachsene nur ein Paar, weil ihre Füße nicht mehr wachsen. Sie sollten einmal darüber nachdenken, ob da nicht etwas passieren müsste. ({1}) Die Linke fordert in ihrem Antrag die Erweiterung der Regelungen des Kinderzuschlages, der als Konzept der Bundesregierung die Menschen nicht erreicht. Das Konzept des Kinderzuschlages dieser und auch der alten Bundesregierung - Sie müssen hier wahrhaftig sein - ist gescheitert. Eben hat Frau Fischbach das ganz klar gesagt: Nur 12 Prozent der Antragsteller - das waren im Jahr 2006 circa 600 000 - haben überhaupt den Kinderzuschlag bekommen. Frau Fischbach, diese Menschen haben garantiert nicht die Höchstsumme von 140 Euro im Monat erhalten. Man muss auch sehen, dass das Verfahren sehr bürokratisch ist. 18 Prozent der Gesamtsumme sind Verwaltungskosten, also Bürokratiekosten. Was haben Sie dagegen gemacht? Bei diesem bisher erfolglosen Konzept, Kinder aus der Armut zu holen, setzt nun die Linke-Fraktion darauf, alles zu verschlimmbessern. Familienministerin von der Leyen und Herr Müntefering, SPD, haben zu Beginn ihrer Zusammenarbeit - dieses Ziel stand schon im Koalitionsvertrag; das wusste ich gar nicht - vor zwei Jahren die Chance verpasst, die Regelungen des bereits seit 2005 bestehenden Kinderzuschlages im Bundeskindergeldgesetz zu verbessern. Dieses Gesetz ist nicht verbessert worden. Vor zwei Jahren haben Sie sich das in die Hand versprochen. Jetzt wollen Sie in der letzten Phase dieser Legislaturperiode etwas machen. Die Entfristung des Kinderzuschlages bringt zwar den Familien jetzt etwas, aber es ist kein Gesamtkonzept. Das Konzept ist falsch. Diese Regelung ist nur eine Notmaßnahme der Großen Koalition; denn die Strukturen des Kinderzuschlages sind grundsätzlich nicht verbessert worden. Das heißt, die Große Koalition ist bis heute nicht in der Lage, sich auf vernünftige Regelungen des Kinderzuschlages zu einigen. Frau Fischbach, auch Ihre Rede war kein positiver Beitrag; denn Sie selber haben gesagt, dass der Kinderzuschlag viel zu kompliziert ist. ({2}) Die FDP-Bundestagsfraktion fordert die Bundesregierung auf, erst einmal - damit ist sie schon seit fast anderthalb Jahren beschäftigt - die 145 ehe- und familienbezogenen Leistungen zu überprüfen, die 180 Milliarden Euro ausmachen. Wenn sie das gemacht hat, dann müssen die Fraktionen, alle, wie sie hier in ihren unterschiedlichen Farben vertreten sind, Gesamtkonzepte auf den Tisch legen. Es darf nicht wieder an irgendwelchen kleinen Schräubchen in die falsche Richtung gedreht werden. Unter der alten Regierung, an der die SPD beteiligt war, und auch unter der neuen Regierung, an der die SPD wiederum beteiligt ist, ist die Kinderarmut gewachsen. Das können Sie nicht wegdiskutieren. Da hat das Drehen an kleinen Schrauben überhaupt keine Wirkung. Sie müssen sich schon etwas anderes einfallen lassen. ({3}) Auf die Bewertung der Analyse der 145 ehe- und familienbezogenen Leistungen im Umfang von 180 Milliarden Euro warten wir schon seit 2007. Was sagt das Ministerium? Herr Kues, Sie haben gesagt, die Analyse werde im April vorliegen. Wollen wir mal sehen, ob sie im April tatsächlich auf dem Tisch liegt. Danach muss man über die Analyse nachdenken. Erst Ende des Jahres werden wir eine echte Analyse auf dem Tisch haben. Dann aber ist das dritte Jahr dieser Legislaturperiode verstrichen, ohne dass ein Konzept vorliegt. Wir hören immer wieder: Wir wollen mal sehen. Aus diesem Grunde pocht die FDP darauf, dass die Analyse endlich auf den Tisch kommt. Ich jedenfalls dränge im Ausschuss darauf. Auch die Antworten auf die Anfragen an die Bundesregierung lassen auf sich warten. Bisher liegt also nichts auf dem Tisch. Ich komme zum Schluss. Die FDP-Bundestagsfraktion schlägt vor, erst einmal die Analyse über die Wirkungen der ehe- und familienbezogenen Leistungen aufzuzeigen. Erst dann werden wir die Leistungen an Familien, bei denen keine positiven Effekte zu beobachten sind, und solche, mit denen Familien wirklich geholfen wird, bewerten können. Erst danach sollten wir über effektivere Familienleistungen nachdenken. Aus diesem Grund werden wir diesem aufgeregten Antrag der Linken kurz vor den Wahlen in Hessen und Niedersachsen jedenfalls unsere Stimme nicht geben. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Wolfgang Spanier spricht jetzt für die SPD-Fraktion. ({0})

Wolfgang Spanier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002803, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, Herr Gysi, ob ich Sie jetzt enttäusche, aber Ihre Rede hat mich nicht erregt, sondern eher enttäuscht. Sie haben hier wieder einmal den üblichen Katalog von Forderungen heruntergerasselt. Vor ein paar Monaten lag Ihre Forderung bei etwa 157 Milliarden Euro an jährlichen zusätzlichen Ausgaben. Diese Summe - das habe ich in den letzten Wochen gehört - ist mittlerweile weit überschritten. Ich vermute, Ende des Jahres sind Sie so weit, dass Sie in Ihren Forderungen die Höhe der Steuereinnahmen des Bundes mit 238 Milliarden Euro erreicht haben. Das heißt, letztlich fordern Sie indirekt eine Verdopplung der Steuern. Aber gut, das ist Ihre Sache. ({0}) Zu Ihnen, Frau Lenke: Ich glaube, das ist der falsche Weg. So recht Sie haben, dass wir alle Familienleistungen überprüfen sollten, so unrecht haben Sie, wenn Sie sagen: Erst einmal die Analyse, dann eine Auswertung, dann ein Gesamtkonzept, und dann entscheiden wir über konkrete Maßnahmen. Ich glaube, so viel Zeit sollten wir uns nicht lassen. Möglicherweise sind wir dann im Jahr 2009 oder 2010. ({1}) Für uns Sozialdemokraten ist das Ziel klar - ich gehe davon aus, dass wir alle in diesem Parlament darin übereinWolfgang Spanier stimmen -: Wir wollen gleiche Lebenschancen für alle Kinder. Ich glaube, da stimmen wir überein. ({2}) Es geht nicht nur um materielle Armut, es geht auch um das, was Wissenschaftler die Lebenslage der Kinder nennen, zum Beispiel das erhöhte Gesundheitsrisiko, die deutlich schlechteren Bildungschancen, natürlich auch das Wohnumfeld und viele andere Faktoren. Herr Gysi hat es vorhin angesprochen. Es ist natürlich eine Binsenweisheit, wenn man sagt: Armut der Kinder ist letztlich die Armut der Eltern. Aber es ist wichtig, dass man das berücksichtigt und betont. Ursachen der Armut - auch da sind wir uns alle einig sind in erster Linie Arbeitslosigkeit, aber auch Scheidung und in unserem Land leider auch Kinderreichtum. Wenn man etwas gegen Kinderarmut tun will, dann ist das Wichtigste, dass man an genau diesen Ursachen, vor allem an der Hauptursache, nämlich Arbeitslosigkeit der Eltern, ansetzt. Mir ist aufgefallen, Herr Gysi, dass Sie dazu kein Wort gesagt haben. ({3}) - Das lag vielleicht an den sieben Minuten Redezeit, das will ich Ihnen zugestehen. Zu Ihrem Antrag zum Kinderzuschlag. Sie äußern sich gar nicht zum Kinderzuschlag, wie wir ihn konzipiert haben, sondern Sie fordern etwas in Richtung bedarfsorientierter Grundsicherung. Darüber kann man sicherlich diskutieren. Aber der Antrag ist so kurz gefasst, dass er Wichtiges übersieht, nämlich die Zusammenhänge mit anderen Leistungen: Kindergeld, Steuerfreibeträge usw. Wenn das, wie Sie es vorschlagen, verwirklicht würde, würden wir große Schwierigkeiten und Probleme bekommen; von den Kosten - das habe ich vorhin schon angesprochen - ganz zu schweigen. Der Kinderzuschlag ist nicht so erfolglos, wie er hier heute dargestellt worden ist. Immerhin haben 120 000 Kinder davon profitiert. Das heißt, mithilfe dieses Kinderzuschlags sind die Eltern zusammen mit ihren Kindern aus dem Bezug von Leistungen nach dem SGB II herausgekommen. Ich denke, das ist zunächst einmal gut. ({4}) Die zusätzliche Leistung pro Kind beträgt im Durchschnitt 93 Euro. Nachweislich haben in erster Linie kinderreiche Familien davon profitiert. Soweit, so gut. Wir haben gemerkt - das ist das Problem -, dass die übergroße Zahl der Anträge abgelehnt werden musste und dass die Einkommensgrenzen überarbeitet werden müssen. Das heißt im Klartext - ich will hier nicht in die Einzelheiten gehen; Frau Fischbach ist schon darauf eingegangen -: Wir müssen die Hürden abbauen, um auf diese Weise zu erreichen, dass mehr Familien und damit mehr Kinder den Kinderzuschlag bekommen. So können wir sie aus der Armut, aus dem Bezug von Leistungen nach dem SGB II, herausholen. Das ist unser Ziel. ({5}) Dann ist es ein Dreiklang von Familienleistungen: Kindergeld plus Kinderzuschlag plus Wohngeld. Ich persönlich - ich glaube, da stehe ich in diesem Saal nicht allein da - habe mich darüber gefreut, dass Minister Tiefensee einen Vorschlag in dieser Richtung gemacht hat. Diesen Dreiklang müssen wir dabei im Auge behalten. Beim Wohngeld ist der Aspekt der Kinder sicherlich stärker zu berücksichtigen. Das haben wir bereits bei der letzten Wohngeldreform so gemacht. Ich will Ihnen gern zugestehen - Herr Müntefering hat das als Minister eingeleitet -, dass wir noch einmal über die Regelsätze und vor allen Dingen über die zeitlichen Abstände ihrer Anpassung beim Bezug von Leistungen nach dem SGB II nachdenken müssen. Das ist sicherlich nicht ganz so leicht zu bewerkstelligen. Das ist jetzt keine Ausrede, sondern Fakt. Ich glaube, dass die Neubemessung im zeitlichen Abstand von fünf Jahren der tatsächlichen wirtschaftlichen Entwicklung nicht gerecht wird. Schlüssel zur Bekämpfung von Armut und Kinderarmut ist also Arbeit. So ist der Kinderzuschlag konzipiert. Er erreicht die Eltern, die Leistungen nach dem SGB II beziehen und arbeiten, aber ein Einkommen erzielen, das unterhalb der Regelsätze der Sozialhilfe liegt. In meinem Wahlkreis, in Herford, sind 25 Prozent der Anträge, die bei der Arge gestellt werden, Anträge auf Aufstockung. Diese Anträge werden von Eltern gestellt, die zwar Arbeit haben, die aber mit ihrer Arbeit ein Einkommen erzielen, das unterhalb der Sozialhilfesätze liegt. Nicht wenige von ihnen sind Vollzeitbeschäftigte. Deswegen sage ich Ihnen - jetzt schaue ich zu denen, die in diesem Hause rechts von der Mitte sitzen -: Wer über Kinderarmut redet, darf zum Thema Mindestlohn nicht schweigen. ({6}) Wir brauchen existenzsichernde Löhne. Armut hat nicht nur mit materiellen Aspekten zu tun. Zur Bekämpfung von Armut ist Geld wichtig, aber nicht hinreichend. Ein ganz entscheidender Schlüssel zur Bekämpfung und Vermeidung von Kinderarmut ist Bildung. Die Entwicklung, die in unserem Land in diesem Bereich stattfindet, ist ein Skandal; das sage ich mit meinem beruflichen Hindergrund als Lehrer. ({7}) - Hier geht es nicht nur um ein paar Jahre. Das ist in unserem Land seit 30, 40 Jahren der Fall. Es ist völlig wurscht, wer regiert. ({8}) Es handelt sich um verfestigte Strukturen, die dazu führen, dass die soziale Herkunft für die Bildungschancen in unserem Land ganz entscheidend ist. Wer gleiche Lebenschancen für alle Kinder schaffen will, muss an genau dieser Stelle ansetzen. ({9}) Wir haben das erkannt. Der Stellenwert der frühen Förderung der Kinder, vor allen Dingen der sozial benachteiligten Kinder, ist in Deutschland in den letzten Monaten deutlich gestiegen. Wir haben Maßnahmen ergriffen. In diesem Zusammenhang muss man sehen, dass wir bis zum Jahre 2013 für 35 Prozent der unter Dreijährigen Kitaplätze schaffen wollen. In diesem Zusammenhang muss man auch sehen - darauf pochen wir ganz besonders -, dass es danach einen Rechtsanspruch geben wird. Das ist ein ganz entscheidender Schritt, um die Lebenschancen und die Bildungschancen aller Kinder zu verbessern. Zu diesen Maßnahmen gehört auch das Ganztagsschulprogramm. Ich darf daran erinnern, dass unser Land durch das Investitionsprogramm des Bundes deutlich vorangebracht wurde. In meinem Wahlkreis nehmen fast alle Grundschulen an dem Ganztagsschulprogramm, das ein offenes Angebot ist, teil. Das ist ein Schritt, um gleiche Lebenschancen für alle Kinder zu verwirklichen. ({10}) Es hilft überhaupt nicht, im Bildungsbereich zusätzliche finanzielle Hürden aufzubauen. Dazu gehören Studiengebühren. Ob man Studiengebühren in Form von Darlehen oder auf anderem Wege organisiert, ändert nichts daran, dass es sich um eine zusätzliche Hürde handelt und dass sie kontraproduktiv sind. Sicherlich müssen wir über gezielte finanzielle Hilfen im Bildungsbereich nachdenken. Das betrifft den Elternbeitrag, das wichtige Thema Lernmittelfreiheit und den Essenszuschuss. Das ist nicht auf Bundesebene zu regeln, sondern muss auf Landes- bzw. auf kommunaler Ebene geregelt werden. Damit wird eines klar: Wenn wir es mit der Vermeidung und Bekämpfung der Kinderarmut ernst meinen - wir meinen das ernst -, dann müssen Bund, Länder und Kommunen in ihrer jeweiligen Zuständigkeit zusammenarbeiten. Dabei ist die kommunale Ebene, die dicht und direkt an den Menschen ist, entscheidend; meine Kollegin Marlene Rupprecht wird gleich Ausführungen zur Bedeutung der kommunalen Ebene und zur Kinder- und Jugendhilfe machen. Zum Schluss habe ich eine Bitte. Ich glaube, wir alle sind uns einig, dass wir etwas an der erschreckenden Zahl von 2,5 bis 2,6 Millionen sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen in Deutschland ändern wollen. Kinder und Jugendliche haben eine Lobby; als Beispiele seien die Wohlfahrtsverbände und der Kinderschutzbund genannt. Ich würde mir wünschen - das ist wirklich nicht die übliche Floskel -, dass sich auch der Bundestag als Lobby sozial benachteiligter Kinder versteht. Erste Ansätze haben wir gemacht. Wir müssen sie konsequent weiterentwickeln. Das halte ich für eine der wichtigsten sozialpolitischen Aufgaben, die wir bewältigen müssen, wenn es uns ernst ist, dass wir für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen wollen. Wir Sozialdemokraten werden uns daran beteiligen. Schönen Dank. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ina Lenke hat eine Kurzintervention angemeldet.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Spanier, Sie und ich, wir arbeiten partnerschaftlich zusammen. Trotzdem muss ich diese Kurzintervention machen. Sie haben der FDP vorgeworfen, dass sie Zeit ins Land gehen lässt, dass sie erst einmal abwartet, was die Analyse der familienpolitischen Leistungen ergibt. Herr Spanier, Sie haben das in Ihrem Koalitionsvertrag stehen. Jetzt ist die Hälfte der Legislaturperiode vorbei. Deshalb muss ich Ihnen vorwerfen, dass Sie bisher nichts getan haben. Ich möchte, dass sich die SPD-Bundestagsfraktion - die ja diese Regierung stützt, nicht stürzt - für diese Dinge einsetzt und der Regierung Beine macht. Ich finde, es ist durchaus seriöse Politik, einzuräumen, dass man die mittlerweile 145 familien- und ehebezogenen Leistungen zunächst einmal analysieren muss. Diese Leistungen bauen ja nicht aufeinander auf. Vielmehr hat jede Regierung der Vergangenheit etwas für die Familien tun wollen und irgendeine neue Leistung eingeführt. Es geht der FDP darum, ob dieser Aufbau stringent ist, ob er effektiv ist, ob er die Familien erreicht; es geht der FDP nicht darum - wie ich das aus Ihren Worten heraushören konnte -, die Umsetzung neuer Ideen zu verzögern. Sie wissen genau - das ist im besten Sinne typisch für die FDP -: Wenn Sie im Bundestag gute Vorschläge vorlegen, stimmen wir mit Ihnen dafür. Deshalb ist mir das auch so ernst.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Spanier.

Wolfgang Spanier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002803, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich gebe Ihnen recht: Natürlich ist die Überprüfung aller Familienleistungen vielleicht nicht überfällig, aber doch dringend geboten. Ich gebe Ihnen auch recht, dass wir erst auf dieser Grundlage an der einen oder anderen Stelle zu einer Neujustierung kommen. Was Sie vorgetragen haben, klang aber anders: Erst noch eine gründliche Analyse, dann ein Gesamtkonzept. Wissen Sie, bei „Gesamtkonzept“ werde ich unruhig. Das ist ein so schwammiger Begriff; dahinter verbirgt sich nichts. Und dann erst wollen Sie entscheiden. Ich glaube, dass wir über den Kinderzuschlag, über das Wohngeld und anderes zügiger entscheiden müssen. Ich will gerne einräumen: Auch ich persönlich - da bin ich nicht alleine - bin ein wenig unzufrieden, dass es mit den konkreten Vorschlägen der Bundesregierung zum Kinderzuschlag und zu anderem, was damit zusammenhängt, doch schon - ich weiß, dass das kompliziert ist einige Zeit gedauert hat. Ich hoffe, dass wir das im Frühjahr vorgelegt bekommen, beraten und dann zügig auf den Weg bringen können. Das ist das Entscheidende. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt spricht die Kollegin Ekin Deligöz für Bündnis 90/Die Grünen.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! An diesem Schlagabtausch wird eines deutlich: dass die Koalition in der Frage Kinderarmut/Kinderzuschlag mit leeren Händen dasteht, dass sie keine Konzepte hat. Herr Spanier, wenn Sie sagen, das Wort „Gesamtkonzept“ macht Sie unruhig, dann macht es mich unruhig, dass dieses Wort Sie beunruhigt; denn ein Gesamtkonzept ist genau das, was Sie liefern müssen. ({0}) Ich muss Frau Lenke recht geben: Im Koalitionsvertrag heißt es nicht: „Wir wollen irgendwann“, sondern es heißt: Wir wollen materielle Kinderarmut reduzieren und hierzu den Kinderzuschlag mit Wirkung ab dem Jahr 2006 weiterentwickeln. ({1}) Wir sind jetzt schon ein Jahr weiter. ({2}) - Zwei Jahre weiter. - Das Einzige, was Sie uns hier präsentieren, ist die Entfristung des Kinderzuschlags. Dieser Schritt ist durchaus begrüßenswert; aber er geht nicht weit genug. Anstatt dass Sie den Kinderzuschlag endlich so ausgestalten, dass er bei den Familien, die ihn benötigen, ankommt; anstatt dass Sie dieses Instrument - das ich nach wie vor für richtig und wichtig halte - weiterentwickeln, bekommen wir von Frau von der Leyen und Herrn Müntefering - der gar nicht mehr im Amt ist - ein Schauspiel aufgeführt, wer eigentlich dafür zuständig sein soll. ({3}) Wir brauchen eine Entbürokratisierung und eine Vereinfachung, wir bekommen aber nur Profilierungskämpfe der beiden Koalitionsfraktionen zu sehen - und nichts anderes. ({4}) Kommen wir zu dem eigentlichen Antrag, über den wir heute reden. Bei diesem Antrag der Linken ergeben sich für mich ehrlich gesagt mehr Fragen als Antworten. Sie schlagen unter anderem vor, dass der Kreis der anspruchsberechtigten Empfänger des Kinderzuschlages deutlich erweitert werden soll. Das ist richtig. Das muss man fordern. Das ist ein richtiges Ziel. Sie wollen diesen Kreis aber nach unten hin ausweiten. Was heißt das? Sie wollen, dass insbesondere Familien, die über kein eigenes Erwerbseinkommen verfügen, dieses Geld bekommen. Ich kann nur sagen: Sie haben das Instrument nicht verstanden. ({5}) Bei diesem Instrument geht es nämlich nicht darum, den Kreis der Hartz-IV-Empfänger zu vergrößern, sondern darum, die Menschen aus dem Hartz-IV-Bezug herauszuholen. ({6}) Es geht darum, die Rahmenbedingungen so auszugestalten, dass sich Erwerbstätigkeit rentiert. Es geht darum, dass wir Familien aus diesem Armutskreislauf herausholen. Mit dem, was Sie hier vorschlagen, erreichen Sie genau das Gegenteil. Sie werfen uns vor, dass wir die Anzahl der Kinder in Armut erhöht und dass wir sie in das Dunkelfeld der Armut hineingebracht haben. Ich kann Ihnen vorwerfen: Mit Ihrem Vorschlag wird sich die Anzahl der Kinder im Hartz-IV-Bezug nicht verdoppeln, sondern verdreifachen oder gar vervierfachen. Das sollten Sie sich genau überlegen. ({7}) Sie sagen einerseits, dass die Regelleistungen gemäß SGB II und SGB XII durch den Kinderzuschlag ersetzt werden sollen. In einer Pressemitteilung vom 21. Januar 2008 sagte Herr Ernst für die Fraktion Die Linke aber, dass das Kindergeld auf 200 Euro erhöht wird und dass die Regelsätze auf 300 Euro erhöht werden. Der Kinderzuschlag solle zusätzlich erhöht werden. Das, was Sie hier vorschlagen, und das, was Herr Ernst äußert, ist zweierlei. Das passt nicht zusammen. ({8}) Man kann hier nicht von einem Gesamtkonzept reden. Man kann überhaupt nicht von einem Konzept reden. Man kann nicht einmal von Stückwerk reden. ({9}) Sie wollen einfach verschiedene Dinge. Wenn ich das richtig verstanden habe, dann fordern Sie faktisch eine Grundsicherung von 420 Euro für alle Kinder, ohne übrigens zu sagen, wie viele Milliarden Euro das erstens verschlingt und woher das Geld zweitens überhaupt kommen soll. ({10}) Das verschweigen Sie uns lieber in Ihren Anträgen. Ehrlich gesagt: Auch das, was Herr Gysi gesagt hat, hat mich nicht überzeugt. Das war zwar eine allgemeine, wunderbare Wahlkampfrede, ({11}) wenn Sie es so haben wollen, aber das war nicht zu diesem Thema. Man kann nur sagen: Setzen, sechs, Thema verfehlt. ({12}) Sie sagen: Wir brauchen eine Stärkung der Bildung, der Jugendhilfe und der Sozialhilfe. - Ja, das ist richtig. Schauen wir uns doch einmal an, was gerade hier in Berlin passiert. Ich nenne jetzt nicht die „Arche“, sondern ich sage das nur einmal im Allgemeinen. Ich habe einen Blick in den Haushaltsplan geworfen: ({13}) Die Mittel für die Jugendhilfe sind gekürzt worden. Die Mittel für die Familienhilfe sind gekürzt worden. Die Mittel für die Gesundheitshilfe wurden gekürzt. Selbst die guten neuen Schulkonzepte scheitern in der Praxis daran, dass Sie nicht genug Personal haben, also unter Personalmangel leiden. Das, was Sie hier behaupten, und das, was Sie in der Regierung tun, passt nicht zusammen. ({14}) Sie sorgen hier in Berlin für einen Scherbenhaufen. ({15}) Das ist kein kinderpolitischer Aufbruch, sondern eine Volksverdummung. ({16}) Man muss sagen, dass man die finanzielle Unabhängigkeit der Kinder nicht unabhängig vom Status der Eltern erreichen kann. Nicht die Kinder sind arm, sondern die Haushalte, in denen sie leben, sind arm. ({17}) In den Haushalten herrscht Erwachsenenarmut. Das spiegelt sich auch bei den Kindern wider. Selbst dann, wenn die Kinder finanziell unabhängig sind, sind sie von ihren Eltern nach wie vor abhängig. Weiter zum Thema. Was brauchen wir? Wir brauchen eine hochwertige Betreuungs- und Bildungsinfrastruktur, die die bestehende Ungleichheit nicht zementiert, sondern dabei hilft, Armutskarrieren zu durchbrechen, damit sie nicht fortgeschrieben werden. Herr Gysi, ich weiß nicht, ob es Ihnen bewusst ist: Ihre Fraktion hat in dieser Woche einen Antrag in unseren Ausschuss eingebracht, mit dem genau das Gegenteil gemacht wird. Sie haben gesagt, dass die Studiengebühren bei den BAföG-Empfängern in Zukunft hinzugerechnet werden sollen. Damit ist Ihre Fraktion die erste Fraktion in diesem Bundestag, die Studiengebühren akzeptiert und die das legalisiert. ({18}) Das muss man doch deutlich sagen. Sie stellen einen Antrag, mit dem Sie die Studiengebühren akzeptieren. ({19}) Hier tun Sie so, als seien Sie dagegen. Warum stellen Sie dann einen solchen Antrag? Seien Sie doch einmal ehrlich und stehen Sie zu Ihren Anträgen, die Sie stellen. ({20}) - Nein, Herr Gysi. Sie sollten sich Ihren Antrag einmal genau anschauen. ({21}) Wir wollen die Erwerbstätigkeit der Eltern steigern. Das ist das Beste gegen Kinderarmut. Aber das können wir nur durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen erreichen. Wir müssen die Eltern bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie der Aufnahme von Jobs unterstützen, bei denen die Einkommen so hoch sind, dass sie nicht nur ihren eigenen Lebensunterhalt, sondern auch den ihrer Kinder bestreiten können. Wir brauchen eine Infrastruktur für Kinder, die ihnen Chancen gibt. Deshalb schlagen wir Grüne nicht nur eine Reform des Kinderzuschlags und des Wohngeldes vor, was das Mindeste ist. Vielmehr müssen die Lohnnebenkosten gerade im Niedriglohnbereich gesenkt werden. Wir brauchen zudem Mindestlöhne. ({22}) Wir brauchen ein Arbeits- und Beschäftigungsfördersystem, das wirkliche Chancen gibt. Wir brauchen zielgruppen- und sozialraumorientierte Hilfssysteme. Diese werden in Berlin gerade abgeschafft. Wir wollen nicht, dass Familien zu ALG-II-Empfängern werden, sondern wir wollen die Selbsthilfe stärken. Klar ist: Strukturelle Hilfen sind erst dann wirksam, wenn eine materielle Existenzsicherung gegeben ist. Das gilt aber auch umgekehrt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Deligöz, Sie müssen zum Ende kommen.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Alle bisherigen Vorschläge dienen dem nicht, weder die von der PDS noch die von der Regierung. Danke schön. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Elisabeth Winkelmeier-Becker hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kollegen und Kolleginnen! Wir debattieren heute über einen Antrag, den die Linke-Fraktion schon vor anderthalb Jahren fast wort- und inhaltsgleich eingebracht hat, aber ohne Erfolg. Der federführende Familienausschuss hat schon damals mit einer breiten Koalition aller Parteien ({0}) diesen Antrag abgelehnt. So wurde es vom Parlament im Zusammenhang mit der Debatte über den Zwölften Kinder- und Jugendbericht beschlossen. ({1}) Sie haben wahrscheinlich nicht zur Kenntnis genommen, mit welchen abstrusen Forderungen Sie an den Bundestag herantreten. ({2}) Sie wärmen das Ganze nun noch einmal auf, wahrscheinlich mit dem gleichen Erfolg. Das prognostiziere ich Ihnen. ({3}) Eigentlich reichte es, Ihnen die Protokolle von damals zum Lesen zu geben, ({4}) anstatt eine Stunde bester Debattenzeit mit einem solchen abstrusen Antrag zu verbringen. ({5}) Es ist Fakt, dass in Deutschland zu viele Kinder und Jugendliche in Armut leben. Wir alle hier im Haus nehmen die Aufgabe sehr ernst, hier zu Verbesserungen zu kommen sowie allen Kindern ein gesundes Aufwachsen und Chancengleichheit bei Bildung und Ausbildung zu garantieren. ({6}) Aber Fakt ist auch, dass das nicht geht, wenn man einfach voraussetzungslos Transferleistungen gewährt und diese ständig erhöht. Mehr Geld für arme Kinder, das ist eine zutiefst populistische Forderung. Gerade die Väter und Mütter, die morgens aufstehen und ihre Kinder in eine Betreuungseinrichtung bringen, bevor sie zur Arbeit gehen, Geld verdienen, Steuern zahlen und 154 Euro Kindergeld bekommen, ({7}) werden wenig Verständnis haben, wenn sie Ihre Forderung nach 420 Euro pro Monat - das bezeichnen Sie als sozioökonomisches Existenzminimum - finanzieren sollen. Zu den Kosten und der Finanzierbarkeit sagen Sie weder im ersten noch im zweiten Aufguss Ihres Antrags ein Wort. Nun hat Herr Gysi eben gesagt, woher er das Geld nehmen will. Sie wollen zusätzlich 120 Milliarden Euro Steuereinnahmen generieren. Wir haben gerade gerechnet und festgestellt, dass das ungefähr 1 500 Euro pro Person sein müssten. ({8}) Woher soll das denn kommen? Wie viele Firmen werden Sie damit aus Deutschland vertreiben? ({9}) Wie viele Familienväter werden ihren Arbeitsplatz verlieren, wenn die Unternehmen ins Ausland gehen, weil sie dort billiger produzieren können? ({10}) Es wurde bereits gesagt, dass Kinderarmut immer damit einhergeht, dass Eltern zu wenig verdienen. Es ist ebenfalls gesagt worden, dass die Eltern in die Lage versetzt werden müssen zu arbeiten. ({11}) Sie brauchen Infrastruktur und mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Hier haben wir schon weitreichende Schritte unternommen und gute Erfolge vorzuweisen. Ganz wichtig ist in diesem Zusammenhang das Phänomen der vererbten Armut. Es ist gefährlich, wenn Kinder es als normal erleben, dass die Familie von Transferleistungen lebt, dass Eltern dauerhaft nicht arbeiten. Das führt dazu, dass Kinder das für sich als Lebensmodell übernehmen. Der Leiter der Hamburger Arche hat eine junge Frau mit den Worten zitiert: Ich habe mehr Angst vor der Arbeit als vor der Arbeitslosigkeit. - Das ist eine ganz symptomatische Äußerung, die zeigt, dass hier die sozialen Kompetenzen für die Teilnahme am Arbeitsmarkt verloren gehen und dass es notwendig ist, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Wenn wir das nicht erreichen, dann perpetuieren wir diese Leistungen ad infinitum und schaffen uns im Prinzip die nächste Generation, die genauso leben und das weitergeben wird. Das kann ja wohl nicht das Ziel unserer Sozialpolitik sein. Es ent14658 spricht jedenfalls nicht unserem Menschenbild in der Politik. ({12}) Deshalb ist es so wichtig, hier Anreize zur Aufnahme von Arbeit zu schaffen, und deshalb muss es einen Unterschied machen, ob die Erwachsenen wenigstens ihren Bedarf aus eigener Arbeit decken können. Niemand, der seinen eigenen Bedarf selber deckt, soll nur deshalb ALG II beziehen müssen, weil er Kinder hat. Da setzt der Kinderzuschlag an; mit ihm soll der zusätzliche Bedarf gedeckt werden. Wir tun doch auch etwas. Die Befristung haben wir schon aufgehoben. Als Nächstes geht es um die Ausweitung, ({13}) damit mehr Familien davon profitieren können. Wir peilen an, dass dann bis zu 550 000 Kinder davon profitieren können. Wenn das Geld, das ja immer fehlt, dafür schon einmal zur Verfügung steht, dann können Sie eine gewisse Hoffnung haben, dass auch die entsprechende Regelung bald kommen wird. ({14}) Das Familienministerium hat bereits ein Konzept dazu vorgelegt; das kennen Sie alle. Sie wissen, dass viele, eigentlich alle entscheidenden Punkte, die auch hier genannt worden sind, darin enthalten sind. Jetzt geht es darum, das intern mit dem Bundesarbeitsministerium abzustimmen. Ich freue mich, dass wir den früheren Bundesarbeitsminister in den Kreis der Familienpolitiker aufnehmen konnten. Vielleicht führt das dazu, dass alles noch etwas konstruktiver und schneller vonstatten geht. Ich bin optimistisch, dass wir hier zu einem guten Konzept kommen, das genau diesen Arbeitsanreiz setzt. ({15}) Unabhängig davon möchte ich noch einmal sagen: Es muss selbstverständlich sein, dass in Deutschland das Existenzminimum des Kindes sichergestellt ist. Wo Eltern nichts verdienen, geschieht das in Deutschland durch Sozialgeld und Wohngeld. Über die Höhe werden wir uns dieses Jahr noch unterhalten, wenn der neue Bericht zum Existenzminimum vorgelegt wird. Man kann, glaube ich, ohne die Sphinx zu sein, voraussagen, dass das Existenzminimum heraufgesetzt wird. Aber 420 Euro wird es mit Sicherheit nicht erreichen. Das ist schlichtweg utopisch. Wenn das Existenzminimum erhöht wird, werden davon alle Familien profitieren; denn das macht sich beim Freibetrag, beim Kindergeld und beim Sozialgeld bemerkbar. Aber für den Kinderzuschlag, der ja zusätzlich gegeben wird, muss weiterhin Beschäftigung ein Kriterium sein. Vielleicht muss man die schematische Berechnung, die 60 Prozent für Kinder und 80 Prozent für Jugendliche vorsieht, noch einmal überdenken. Ich weiß, was Kinder, wenn sie wachsen, am Tag so alles verputzen und wie viele Klamotten sie brauchen. Deshalb ist die Rechnung vielleicht zu schematisch und noch einmal zu überdenken. Aber es bleibt dabei: Wir müssen Anreize zur Arbeitsaufnahme schaffen. Eine Megasozialleistung nach Ihrem Stil, die Sie nur mit „Kinderzuschlag“ etikettieren, wird es in diesem Sinne nicht geben.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin.

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Unser Konzept des Kinderzuschlags ist zielführend und wird uns helfen, die Kinderarmut in Deutschland deutlich zu bekämpfen. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Miriam Gruß spricht jetzt für die FDP-Fraktion.

Miriam Gruß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003760, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Sonntag hat die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung zutreffend daran erinnert, dass früher von der Armut an Kindern die Rede war; heute müssen wir uns mit der Armut von Kindern auseinandersetzen. Kinderarmut geht uns alle an. Wir brauchen aber etwas mehr Unaufgeregtheit in der Debatte. Daher werde ich zum Schluss noch auf den Herrn Kollegen Gysi eingehen. Wir müssen uns einmal die Fakten in Deutschland ansehen. Es gibt 2,5 Millionen arme Kinder. Mehrheitlich sind es Kinder von Alleinerziehenden oder Kinder aus Zuwandererfamilien. Der Tagesablauf jedes sechsten Kindes wird von Armut geprägt. Wenn ich von Armut spreche, dann meine ich nicht nur das fehlende Geld im Portemonnaie, sondern eben auch - das ist auch schon angesprochen worden - die ideelle Armut. In der ersten World-Vision-Kinderstudie von den renommierten Forschern Professor Klaus Hurrelmann und Frau Professor Andresen, die im letzten Herbst veröffentlich wurde, werden Fakten genannt, die zeigen, was Armut für den Lebensalltag von Kindern bedeutet. Fakt ist, dass eben nur 1 Prozent der Kinder aus der Unterschicht ein Gymnasium besuchen; 19 Prozent besuchen die Förderschule. Regelmäßigen Freizeitaktivitäten gehen nur 47 Prozent der Kinder aus der Unterschicht nach. Der Durchschnitt liegt bei 73 Prozent. Mit einem Anteil von 60 Prozent erleben diese Kinder mehrheitlich Mobbing und Gewalt in ihrem Alltag. Der Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte nimmt auch mit Sorge zur Kenntnis, dass, wie Studien gezeigt haben, neben erhöhten Gesundheitsrisiken als Folge von Fehlernährung und Bewegungsmangel auch eine höhere Wahrscheinlichkeit psychosomatischer und psychischer Erkrankungen bei armen Kindern besteht. Aber eben nicht die Kinder sind arm, sondern die Familien, in die sie hineingeboren werden. Es ist tatsächlich unsere Aufgabe, diesen Zyklus aus oftmals vererbter Armut und Perspektivlosigkeit zu durchbrechen. ({0}) Es hat tatsächlich nichts mit Chancengleichheit, die wir alle wollen, zu tun, wenn nicht der Grips über den Bildungsweg entscheidet, sondern der soziale Status der Eltern. Deshalb brauchen wir vor allen Dingen Bildung, Bildung, Bildung. ({1}) Das ist die soziale Frage des 21. Jahrhunderts. Wir brauchen qualitativ hochwertige Kindertagesstätten, um Kinder so früh wie möglich fördern zu können. Da kann sich die CSU nicht aus der Verantwortung stehlen. Wir brauchen kein Betreuungsgeld, das gerade Eltern mit geringem Einkommen motiviert, die Kinder nicht in die Krippe zu schicken, wodurch den Kindern die frühkindliche Bildung vorenthalten wird. ({2}) Wir müssen das Geld direkt in die Kinder investieren statt in staatliche Umverteilungsmaßnahmen. Wir geben in Deutschland im OECD-Vergleich verhältnismäßig viel für Finanzhilfen an Familien aus. Aber das Geld kommt nicht dort an, wo es gebraucht wird. ({3}) Wir müssen all jene entlasten, die Kinder haben. Sie sind es nämlich, die in Deutschland nach wie vor die höchste Steuer- und Abgabenlast zu tragen haben. Meine Damen und Herren von der Großen Koalition, Sie haben es geschafft, dass eine durchschnittliche Familie im letzten Jahr 1 400 Euro mehr ausgeben musste als in den Jahren zuvor. ({4}) Es kommt hinzu, dass wir die Elternkompetenz stärken und den Eltern Möglichkeiten eröffnen müssen, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, damit sie ihr Leben in die eigenen Hände nehmen können. Kinder können nicht arbeiten gehen; sie können auch kein Geld verdienen. Sie sind es auch nicht, die wider besseres Wissen das Kindergeld für Smarties statt für Spinat ausgeben. Handeln muss die Devise für 2008 lauten, aber ohne Ideologie und ohne Propaganda. Ich lade Sie, Herr Gysi, ganz herzlich in den Familienausschuss ein; wir haben dort schon einen prominenten Gast, nämlich Herrn Müntefering. Dann können Sie einmal die Ausgaben zusammenzählen, die Ihre Kolleginnen und Kollegen uns jeden Mittwoch unterbreiten. Mit diesen Mehrausgaben werden Sie noch mehr Väter und Mütter in die Arbeitslosigkeit bringen, anstatt sie herauszuholen. ({5}) So wird die nächste soziale Frage des Jahrhunderts entstehen. Danke. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt spricht die Kollegin Marlene Rupprecht für die SPD-Fraktion. ({0})

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich habe lange Zeit mit Kindern gearbeitet; das wissen Sie. Wenn man mit Kindern zu tun hat, dann benutzt man Bilder. Ich will Ihnen ein Bild beschreiben, anhand dessen deutlich wird, worum es geht. Über den Teich des Lebens führt ein Steg. Er ist aber an vielen Stellen morsch und daher nicht mehr sehr stabil. Jetzt fallen welche in den See. Ich kann ihnen einen Rettungsring zuwerfen; das ist in der akuten Situation vernünftig. Ich kann ihnen einen Luxusrettungsring zuwerfen und sagen: „Schwimmt ruhig weiter!“ Oder ich tue zwei Dinge: Ich repariere erstens den Steg und überprüfe, ob er noch tauglich ist für die, die darüber gehen, um das Leben zu bewältigen, und ich bringe ihnen zweitens das Schwimmen bei. Ich will Ihnen mit diesem Bild zeigen: Wir haben auf zwei Ebenen zu arbeiten. Die eine Ebene sind die Strukturen, die die Gesellschaft setzen muss. Bei dem, was jemand auf dieser Ebene fordert, kommt dessen Menschenbild zutage. Zu meinem Menschenbild gehören selbstständige, eigenverantwortliche, freie Entscheidungen und aufrechter Gang, ohne Almosen erbitten oder Transferleistungen beziehen zu müssen. Dazu brauche ich den Steg. Damit ich im Falle von Unbill nicht absaufe, muss ich schwimmen lernen. Diese Forderung geht an mich: Ein bisschen anstrengen muss ich mich, um nicht unterzugehen. Diese beiden Dinge setzen ein Gesellschaftsbild voraus, in dem Teilhabe aller Menschen, ob gescheit oder dumm, ob behindert oder nicht behindert, möglich ist. ({0}) Dies setzt voraus, dass wir frei entscheiden können. Frei zu entscheiden, heißt aber auch, keine Anträge stellen und keine Bittgänge machen zu müssen, sondern das, was ich brauche, dank meiner Fähigkeiten zur Verfügung zu haben, und zwar - in der Erwerbsgesellschaft aufgrund von Erwerbstätigkeit. Dazu muss ich Menschen durch Bildung befähigen. Kinder kommen - das sage ich als Kinderbeauftragte; ich glaube, da stimmen alle zu - wissbegierig zur Welt. Sie wollen die Welt entdecken. Wir Erwachsene schaffen es nur sehr häufig, ihnen diese Wissbegierde zu nehmen. Aber Kinder wollen die Welt entdecken. Sie sind manchmal schneller, manchmal langsamer. Wir als Gesellschaft müssen die Einrichtungen, die wir vorhalten, für Marlene Rupprecht ({1}) alle gestalten. Das nennt man heute Inklusion. Ich finde es schön, die Welt in Vielfalt zu denken und die Kinder dort abzuholen, wo sie sind. Unseren Kindern müssen alle Fördermöglichkeiten offenstehen, damit die Fähigkeiten in ihnen tatsächlich zutage treten. Das, denke ich, ist das Wichtigste. Aus der Hirnforschung wissen wir: Wenn ich gelernt habe, dass es schon irgendwie geht, dass ich mich gar nicht anstrengen muss, dann kenne ich nicht das gute Gefühl des Erfolgs, nachdem ich mich angestrengt habe. Wenn ich diese Kultur des Sich-Anstrengens nicht kennengelernt habe, dann ist das in meinem Hirn nicht verankert, dann weiß ich gar nicht, wie gut sich das anfühlt. Deshalb müssen wir bei den Kindern anfangen, sie aus dieser Mühle herausholen. Dazu müssen aber alle, die Gesellschaft und die Wirtschaft, umdenken. Es genügt nicht, dass die einen von den Kindern fordern, sich anzustrengen, wenn die anderen sagen: Wir wollen euch gar nicht. Du kannst dich zwar anstrengen, du kannst schwimmen und alles Mögliche tun; aber eigentlich hättest du gar nicht auf die Welt kommen müssen. Damit du nicht stirbst, geben wir dir jetzt eine Grundsicherung. Eine solche Haltung halte ich in einer Demokratie für fatal. Sie setzt voraus, dass man nicht alle Menschen als vor Gott gleich ansieht, wie es im Grundgesetz verankert ist. Gleichheit bedeutet, dass man jedem, der hier ankommt, das Gefühl vermittelt: Ich bin mit Fähigkeiten ausgestattet, die ich entwickeln darf und mit denen ich mir die Teilhabe ermöglichen kann. - Das bedeutet aber auch: Ich muss heraus aus dem Bezug von Transferleistungen, wenn ich Demokratie will. Ein Versorgungsstaat beschränkt die Freiheit kolossal. Er ist nicht mein Ziel. Ich muss die Menschen durch Erwerbstätigkeit in die Lage versetzen, frei zu sein und frei ihr Leben zu gestalten. Ich muss Familien so weit bringen, dass sie ihre Kinder gut aufziehen können. ({2}) Dazu brauche ich natürlich ab und zu einen Rettungsring. Wir brauchen Rettungsringe, und wir müssen überprüfen, ob sie das aushalten, was wir von ihnen fordern. Aber nur die Welt mit Rettungsringen auszustatten, damit man nicht absäuft, halte ich für fatal und menschenverachtend. Deshalb ist es mein Wunsch, dass wir die Wirtschaft auffordern, die Menschen aufzunehmen, sie auszubilden und in Arbeit zu bringen und ihnen gerechte Löhne zu zahlen, und von klein auf Strukturen für ein „Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung“ - davon spricht der Elfte Kinder- und Jugendbericht - schaffen. Wir dürfen nicht weggucken, sondern müssen hingucken, damit unsere Kinder die guten Demokraten der Zukunft werden. Danke schön. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Paul Lehrieder spricht jetzt für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Lieber Herr Gysi, Kollegin Fischbach hat vorhin versehentlich gesagt, Sie hätten sie erregt. In Abstimmung mit der Kollegin stelle ich klar: Sie haben sie nicht erregt, Sie haben sie aufgeregt. ({0}) Sie hätten sich einiges an Aufregung sparen können - bei allem engagierten Vortrag und angesichts Ihrer geschwollenen Halsschlagader während Ihres Vortrags -, wenn Sie sich zumindest der Mühe unterzogen hätten, Ihren eigenen Antrag anzuschauen. Der Antrag datiert vom 18. September 2007; das ist per se noch nichts Schlechtes. Aber in dem Antrag steht eine Ziffer 5 - ich weiß nicht, ob Sie es gelesen haben -, in der es heißt: Die Befristung der Bezugsdauer des Kinderzuschlages auf höchstens 36 Monate wird aufgehoben. In welcher Welt leben Sie denn? Was haben Sie denn in den letzten Monaten mit Ihren Familienpolitikern besprochen? Diese Befristung ist mit Wirkung vom 1. Januar 2008 aufgehoben. Die Ziffer 5 Ihres Antrags hätten Sie sich also komplett schenken können. Ich muss noch einige weitere Sätze zu Ihnen sagen, lieber Herr Gysi, bevor ich zu meinem eigenen Thema komme. Sie haben ausgeführt, in der DDR hätten unsere Kanzlerin Angela Merkel und Sie eine Ganztagsschule besucht. ({1}) Meines Wissens waren das Polytechnische Oberschulen. - Eine Ganztagsschule? ({2}) - Eine Gemeinschaftsschule; das lasse ich mir gern sagen. Gleichwohl liefert diese Gemeinschaftsschule immerhin den Beweis dafür, dass auch aus diesem Schulsystem sehr differenzierte, qualitativ unterschiedliche Ergebnisse herausgekommen sind. ({3}) - Das ist wahr, Herr Gysi. Meine Damen und Herren, trotz der konjunkturellen Belebung in den letzten beiden Jahren - die Vorredner haben zum Teil bereits darauf hingewiesen - und der Tatsache, dass nunmehr im Vergleich zum Dezember 2006 immerhin 1,2 Millionen Mitbürgerinnen und Mitbürger weniger in Arbeitslosigkeit sind und innerhalb von zwei Jahren fast 900 000 Mitbürgerinnen und Mitbürger mehr in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen sind, bleibt die traurige Tatsache, dass in Deutschland eine zunehmende Anzahl von Kindern, insbesondere von Kleinkindern, nach wie vor in Armut aufwachsen muss. Nach EU-Definition ist ein Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren dann armutsgefährdet, wenn er monatlich über weniger als 1 640 Euro verfügt. Doch auch bei einem derart geringen Einkommen ist in Deutschland keine Familie von akuter Hungersnot bedroht. Wohl aber gehen mit der drohenden Armut häufig gesundheitliche Probleme, Lernschwierigkeiten - Herr Kollege Spanier hat dies ebenfalls angesprochen -, niedrigere Schulabschlüsse und eine höhere Wahrscheinlichkeit delinquenten Verhaltens mit der Häufung späterer Arbeitslosigkeit einher. Zunehmende Kinderarmut ist nicht nur im Einzelfall tragisch, sondern kann auch zu erheblichen negativen Langzeitfolgen für die Gesellschaft als Ganze führen. Deshalb ist es unserer Fraktion klar, dass es mehr Sinn macht, Kinder schon in der Kindertagesstätte zu fördern, anstatt später Schulabbrecher in sogenannten Hartz-IVKarrieren - das ist fast das Unwort des Jahres geworden zu unterstützen. Wir wollen lieber Geringqualifizierte mit einem Mindesteinkommen in Arbeit bringen, anstatt sie mit Sozialleistungen für den Verlust von Arbeit und Teilhabe an der Gesellschaft abzufinden. Kollege Laurenz Meyer hat im Rahmen der Wirtschaftsdebatte heute Morgen genau dies bestätigt. Vorbeugen statt hartzen - so lässt sich auch das Ergebnis eines Symposiums unserer Fraktion zum Thema „Familien in sozial schwierigem Umfeld“ auf den Punkt bringen, das wir in der vergangenen Woche im Reichstagsgebäude veranstaltet haben. Kinder aus dem Sozialtransfer zu holen, das ist zwar vor allem aufseiten der Kommunen ein Kostenfaktor, entlastet aber auf Dauer die sozialen Sicherungssysteme. An diesem Symposium hat auch die „Arche“ Berlin teilgenommen. Ich nutze die Gelegenheit, allen engagierten Mitbürgerinnen und Mitbürgern landauf, landab, ob in München, Frankfurt, Hamburg oder Berlin, die in ähnlichen Projekten mitarbeiten und uns helfen, Kinder in ein vernünftiges, menschenwürdiges Leben zu geleiten, herzlich für ihren Mut, ihr Engagement und ihre Arbeit zu danken, die zum Teil eine Sisyphusarbeit ist. ({4}) Wir sollten parteiübergreifend prüfen - damit greife ich den Vorschlag des Kollegen Spanier auf -, inwiefern wir unter dem Gesichtspunkt „mens sana in corpore sano“ - ein gesunder Geist in einem gesunden Körper mit einer gesunden Ernährung, angefangen bei den kleinsten Kindern von null bis drei Jahren bis zum Schulalter über die Bezuschussung eines warmen Mittagessens, den Kindern da helfen können, wo es am allernötigsten ist. Mit einem vollen Bauch kann man sich den Aufgaben und Anforderungen - sei es in der Kinderkrippe, im Kindergarten oder in der Schule - besser stellen. Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn in einer Kindertagesstätte - ob in der Krippe oder im Kindergarten manche Kinder ein vernünftiges und gesundes Mittagessen von zu Hause mitbringen, während andere gar nichts dabei haben. Es darf nicht an den Kosten scheitern, diese Kinder in gleichem Maße zu versorgen. ({5}) - Ich kenne Ihren Antrag, Frau Lopez. - Wir sollten uns damit befassen, welche Möglichkeiten wir in diesem Bereich haben und wie die Kosten gerecht verteilt werden können. Wie wichtig das ist, wird deutlich, wenn wir uns vor Augen führen, dass in Deutschland schätzungsweise 2,6 Millionen Menschen in der sogenannten ererbten Sozialhilfe leben. Diese Menschen leben bereits in zweiter oder dritter Generation ausschließlich von staatlichen Transferleistungen. Die betroffenen Kinder erleben damit staatliche Transfers als langfristige Lebensnormalität. Sie kennen keine Eltern oder Großeltern, die morgens zur Arbeit gehen und das Einkommen der Familie sichern. Diese Kinder leben nicht nur in Armut, sondern laufen auch Gefahr, den zum Teil apathischen Lebensstil ihrer Eltern nachzuleben. Mit einer finanziellen Steigerung der Sozialtransfers allein ist diesen Kindern nicht geholfen. ({6}) Ihre Familien brauchen vor allem eines: Hilfe zur Selbsthilfe. Umgekehrt kann über die Hilfe für die Kinder in vielen Fällen auch eine Veränderung in der Lebenseinstellung der Eltern erreicht werden. Dazu müssen die aufsuchenden Strukturen verstärkt werden; wir müssen auf die Familien zugehen und sie im Alltag stärken, damit das Vererben des Lebensstils, von Sozialtransfers abhängig zu sein, wirkungsvoll verhindert werden kann. Leistungsfähige, starke und intakte Familien sind der beste Kinderschutz und auch der beste Weg, Kinderarmut entgegenzuwirken. ({7}) Dazu gehört aber auch, dass wir uns für bessere Chancen für alle Eltern auf dem Arbeitsmarkt starkmachen. Kinder geraten insbesondere dann in Armut, wenn ihre Eltern keine Arbeit haben. Deshalb ist die wachsende Nachfrage am Arbeitsmarkt gemeinsam mit dem zügigen Ausbau der Kinderbetreuung der entscheidende Weg, Kinderarmut mittelfristig und dauerhaft zu senken. Mehr Betreuungsangebote für unter Dreijährige sind insbesondere eine gute Antwort auf das hohe Armutsrisiko von Alleinerziehenden. Der Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen und die Einführung des Elterngeldes sind wirksame Maßnahmen, die die Bundesregierung bereits ergriffen hat.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege!

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe gesehen, dass Sie mich mahnen, zum Ende zu kommen, Frau Präsidentin. Ich habe mich am Anfang leider mit Herrn Gysi aufhalten müssen und bin deshalb noch nicht ganz fertig mit meinen Ausführungen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das ist aber zulasten Ihrer Redezeit gegangen.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte gestatten Sie mir, meine Bemerkung noch zu Ende zu bringen. Die Bundesregierung hat, wie gesagt, bereits wirksame Maßnahmen ergriffen, um Armut gerade auch bei den jüngsten Mitgliedern der Gesellschaft - den unter Dreijährigen - entgegenzuwirken. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und Ihnen, Frau Präsidentin, für Ihre Geduld. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat Caren Marks das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Caren Marks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003587, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Armut beschämt nicht die betroffenen Menschen, Armut beschämt die Gesellschaft. Dieses Zitat von Ruth Dreifuss, einer Schweizer Sozialdemokratin, fordert uns alle auf, Armut nicht hinzunehmen und aktiv zu werden. Mit Populismus wird allerdings kein einziges Kind aus der Armut geholt, Herr Gysi. ({0}) Es ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, Kindern gleiche Chancen auf Teilhabe an der Gesellschaft zu eröffnen. Die SPD findet sich nicht damit ab, dass immer mehr Kinder in Armut aufwachsen. Deswegen ist die Bekämpfung von Familien- und Kinderarmut seit jeher ein Schwerpunkt unserer Politik. ({1}) Dabei ist uns bewusst, Herr Gysi, dass Kinderarmut viele Gesichter hat. Materielle Armut ist nur eines davon. Ausreichende finanzielle Mittel sind die Voraussetzung, um am sozialen und wirtschaftlichen Leben teilzuhaben. Aus diesem Grunde haben wir in der letzten Legislaturperiode den Kinderzuschlag auf den Weg gebracht, und wir werden ihn auch weiterentwickeln. Der beste Schutz vor Kinderarmut ist aus unserer Sicht, Eltern Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. Auch hier waren wir erfolgreich; die Zahlen für den Arbeitsmarkt belegen dies. Ein weiterer wichtiger Schritt ist der Abbau der Einkommensarmut durch existenzsichernde Löhne. Der von der SPD geforderte gesetzliche Mindestlohn - das richte ich an unseren Koalitionspartner - würde Eltern und ihre Kinder unabhängiger von staatlichen Transfers machen. Eltern zu ermöglichen, Familie und Beruf wirklich besser miteinander zu vereinbaren, verringert ebenfalls Kinderarmut. Dies gilt insbesondere für Alleinerziehende. Hier haben wir viel erreicht. Wir haben Milliardenbeträge in die Hand genommen und in frühkindliche Bildung und Betreuung sowie Ganztagsschulen investiert. Bildungschancen für alle führen dazu, dass wichtige Potenziale von Kindern und Jugendlichen nicht verloren gehen. Gute Bildung verbessert die Chance auf ein wirklich selbstbestimmtes Leben ohne Armut. Gleiche Bildungschancen beginnen bei den Kleinsten. So hat sich die SPD auch in der Großen Koalition erfolgreich für den Ausbau der frühen Kinderbetreuung und -förderung ab eins eingesetzt. Wir investieren noch einmal 4 Milliarden Euro. Der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz ab eins und der Ausbau von Ganztagsschulen sorgen für optimale Förderung von Kindern, und zwar unabhängig von ihrer sozialen Herkunft. ({2}) Die SPD setzt sich darüber hinaus für die Beitragsfreiheit der Kitas und die Lernmittelfreiheit ein. All diese Aspekte, meine Damen und Herren von der Linken, haben Sie in Ihrem Antrag komplett ausgeblendet. Defizite im sozialen Umfeld von Kindern sind ein weiteres Gesicht von Kinderarmut. Wir setzen seit Jahren auf bewährte Programme wie „Soziale Stadt“ oder „Lokale Bündnisse für Familie“; denn wir wissen: Aktive Stadtteilpolitik in den Kommunen, das Entschärfen sozialer Brennpunkte sowie die Stärkung von Elternkompetenz verbessern die soziale Lebenslage von Kindern. Kinderarmut zeigt sich aber auch in Form von schlechter Ernährung und mangelnder Bewegung. Deshalb fördert gerade unsere Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt gesundheitliche Prävention, gesunde Ernährung und Früherkennung von Krankheiten bei Kindern. All dies zeigt: Die SPD hat die unterschiedlichen Gesichter von Kinderarmut im Blick. Unter der Leitung von Wolfgang Jüttner haben wir aktuell alle Kräfte gebündelt ({3}) und eine Gesamtstrategie entwickelt. Unsere Ziele sind eine kinderfreundliche Gesellschaft und gleiche Lebensund Verwirklichungschancen für wirklich jedes Kind. Hier sind wir alle gefordert, nicht nur im Bund, sondern auch in den Ländern und in den Kommunen. Herzlichen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Es ist zwischen den Fraktionen verabredet, die Vor- lage auf Drucksache 16/6430 an die in der Tagesordnung Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- sung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c auf: a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Wahl- und Abgeordnetenrechts - Drucksache 16/7461 - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes - Drucksache 16/1036 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0}) - Drucksache 16/7814 Berichterstattung: Abgeordnete Stephan Mayer ({1}) Gisela Piltz Silke Stokar von Neuforn b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Achtzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({2}) - Drucksache 16/7815 Berichterstattung: Abgeordnete Stephan Mayer ({3}) Dr. Max Stadler Silke Stokar von Neuforn c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch, Petra Pau, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Wahlmanipulationen wirksam verhindern - Drucksachen 16/5810, 16/7816 Berichterstattung: Abgeordnete Stephan Mayer ({5}) Gisela Piltz Silke Stokar von Neuforn Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Redner dem Kollegen Stephan Mayer für die CDU/CSUFraktion das Wort. ({6})

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kollegen! Sehr verehrte Kolleginnen! Das Wahl- und Abgeordnetenrecht steht zugegebenermaßen auf der politischen Agenda nicht immer ganz oben, aber alle politischen Parteien sollten gut daran tun, sich intensiv mit dem Wahl- und Abgeordnetenrecht zu beschäftigen; ({0}) denn Wahlen sind neben Abstimmungen nach unserem Grundgesetz die Form, in der das Volk die Staatsgewalt ausübt. Die Volkssouveränität ist die Materie, die für unsere demokratische Gesellschaftsordnung grundlegend ist. Das Wahl- und Abgeordnetenrecht dient meines Erachtens auch dazu, der offenbar zunehmenden Politikund Politikerverdrossenheit entgegenzuwirken. Ein gutes Wahl- und Abgeordnetenrecht kann meines Erachtens auch dazu beitragen, die Partizipation der Bevölkerung am politischen Geschehen und damit letztendlich an Wahlen zu erhöhen. Es trifft nicht zu - dies wurde teilweise kolportiert -, dass wir nichts am Wahlrecht ändern. Ganz im Gegenteil: Das Wahl- und Abgeordnetenrecht wird einfacher, unbürokratischer und bürgerfreundlicher. ({1}) Ich möchte die wichtigsten Aspekte der Novellierung des Wahl- und Abgeordnetenrechts darstellen. Wir ändern das Berechnungsverfahren für die Verteilung der Wahlkreise auf die Länder sowie für die Verteilung der Sitze auf die Landeslisten. Von dem bisherigen Berechnungsverfahren nach Hare/Niemeyer wird zum Verfahren nach Sainte Laguë/Schepers übergegangen. Ein Vorteil des neuen Berechnungsverfahrens - es wird beispielsweise schon bei den Bürgerschaftswahlen in Bremen und Hamburg angewandt, aber auch bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg - ist, dass es nicht zu paradoxen Ergebnissen kommen kann - das ist zugegebenermaßen sehr selten der Fall -, wie das bei dem Berechnungsverfahren nach Hare/Niemeyer möglich ist. Dies wäre der Fall, wenn Parteien, die mehr Stimmen bekommen, einen Rückgang der Mandate zu verzeichnen haben. Ein weiterer Vorteil des Berechnungsverfahrens nach Sainte Laguë/Schepers ist, dass die Wahlkreiskontinuität erhöht wird. Das heißt, dass es weniger Hin und Her bei der Berechnung der Wahlkreise gibt, die auf die einzelnen 16 Bundesländer verteilt sind. ({2}) Des Weiteren führen wir nunmehr das aktive Wahlrecht für alle im Ausland lebenden Deutschen ein. Das mag auf den ersten Blick vielleicht etwas verwundern. Bisher war es so, dass nur die im Ausland lebenden Deutschen, die sich in Mitgliedsländern des Europarates aufhielten, ein unbefristetes aktives Wahlrecht hatten. Das ist aber anachronistisch, weil es mittlerweile im Zeitalter des Internets und der modernen Kommunika14664 Stephan Mayer ({3}) tionsmethoden meines Erachtens von überall auf der Welt gleichermaßen möglich ist, sich über das politische Geschehen in Deutschland und über die politischen und gesellschaftlichen Vorgänge zu informieren. Ein wichtiger Punkt im Bereich der Entbürokratisierung ist folgender: Wir verzichten in Zukunft darauf, dass die Bürgerinnen und Bürger, die die Briefwahl in Anspruch nehmen, die Gründe ihrer Verhinderung glaubhaft machen müssen. Die Briefwahl ist ein wichtiger Bestandteil der Wahlen insgesamt. Allein bei der Bundestagswahl 2005 haben 18,7 Prozent der Wählerinnen und Wähler nicht von der Urnenwahl, sondern von der Briefwahl Gebrauch gemacht. Es waren immerhin 9 Millionen Wählerinnen und Wähler, die man dazu verpflichtet hat, ihre Verhinderungsgründe am Wahltag glaubhaft zu machen. Einmal abgesehen davon, dass das eine Regelung war, die im Einzelfall ohnehin nicht überprüft werden konnte, damit meines Erachtens vollkommen sinnlos war und übertriebenen und unnötigen Formalismus darstellte, ist es wichtig, mit dem Verzicht auf die Glaubhaftmachung den Weg zur Teilnahme an der Briefwahl zu erleichtern und zu vereinfachen. Deswegen ist es ein wichtiger Aspekt zum Thema Entbürokratisierung, wenn nunmehr auf die Glaubhaftmachung verzichtet wird. ({4}) Ich komme zu einem Punkt, der dazu beitragen soll, dass die Wahlbeteiligung nicht, wie in der Vergangenheit, zurückgeht, sondern vielleicht sogar wieder steigt. Auch in Zukunft ist die Teilnahme an der Briefwahl kostenlos. Diese Regelung war erforderlich, nachdem das Briefmonopol für Briefe unter 50 Gramm zum 1. Januar 2008 aufgehoben wurde. Nunmehr bleibt es bei der Kostenfreiheit der Teilnahme an der Briefwahl. Eine Regelung hat in der Vergangenheit nie Relevanz gehabt: Nach der Wahl zum Bundestagsabgeordneten musste man erst eine förmliche Mandatsannahmeerklärung abgeben. - Es gab keinen einzigen Fall, in dem ein Kollege oder eine Kollegin von uns das errungene Direktmandat nicht angenommen und diese Mandatsannahmeerklärung nicht abgegeben hat. In Zukunft verzichten wir auf die Mandatsannahmeerklärung. Auch das ist ein positiver Aspekt. Im Wahlgesetz soll ausdrücklich festgestellt werden, dass eine Nachwahl - eine solche war leider Gottes immer wieder einmal notwendig - auch am Tag der Hauptwahl stattfinden kann. Diese Praxis ist schon bisher geübt worden. Jetzt schreiben wir das explizit ins Wahlgesetz. In diesem Zusammenhang möchte ich kurz auf den Gesetzentwurf des Bundesrates eingehen, der die Möglichkeit vorsieht, in Zukunft fakultativ Ersatzbewerber aufzustellen. Ich möchte uns ermahnen, diesen Gesetzentwurf nicht anzunehmen. Hintergrund des Entwurfs ist die Nachwahl in Dresden, die bei der Bundestagswahl 2005 erforderlich gewesen ist. Dazu möchte ich ganz deutlich sagen: So unschön diese Nachwahl, wenn auch nicht hinsichtlich des Ergebnisses, für die Union war, so wenig würde diese Fallkonstellation durch die im Gesetzentwurf des Bundesrates vorgeschlagenen Regelungen gelöst werden. Zum einen steht im Gesetzentwurf des Bundesrates, dass die Aufstellung von Ersatzbewerbern nur fakultativ ist, also keine Verpflichtung besteht, Ersatzbewerber aufzustellen. Zum anderen besteht theoretisch die Möglichkeit, dass auch ein Ersatzbewerber noch vor der Durchführung der Hauptwahl verstirbt. Selbst wenn die Gesetzeslage so wäre, wie sie der Bundesratsentwurf vorsieht, wäre bei bestimmten Fallkonstellationen die Notwendigkeit einer Nachwahl nicht gänzlich ausgeschlossen. Ein weiterer Punkt: Für den Fall, der immer wieder einmal vorkommt, dass Stimmzettel aus einem anderen Wahlkreis in einer Wahlurne landen, ist zukünftig vorgesehen, dass zumindest die Zweitstimme gewertet wird. Die Erststimme kann natürlich nicht gewertet werden, aber die Zweitstimme soll gewertet werden, um dem Wählerwillen, der ja erkennbar ist, in größtmöglicher Art und Weise Rechnung zu tragen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, in politischer Hinsicht vielleicht der wichtigste Punkt der Novellierung des Wahl- und Abgeordnetenrechts ist meines Erachtens, dass es in Zukunft nicht mehr erlaubt sein wird, dass parteifremde Bewerber auf Listenplätzen kandidieren. Bei der Bundestagswahl 2005 gab es diese Konstellation. Es besteht gerade in Zukunft die große Gefahr, dass sich verstärkt kleine und Kleinstparteien zusammentun und in produktiver Weise zusammenarbeiten, um damit über die 5-Prozent-Sperrklausel zu kommen. Das Verfassungsgericht hat ja ganz klar festgestellt, dass es das Monopol der Parteien ist, Kandidaten aufzustellen, und zwar deshalb, weil die Homogenität eines Wahlvorschlages insbesondere durch das Parteiprogramm, auf das sich die Mitglieder einer Partei verständigt haben, hergestellt wird. Ich glaube, es würde zunehmend zu Wählertäuschungen kommen, wenn wir es zulassen würden, dass weiterhin verdeckt gemeinsame Listen aufgestellt werden. Es ist deshalb in politischer Hinsicht eine ganz wichtige Neuerung, dass diese verdeckt gemeinsamen Listen in Zukunft nicht mehr erlaubt sind. Parteilose Bewerber dürfen natürlich auf Wahllisten kandidieren; aber parteifremde Bewerber dürfen in Zukunft, nach der Novellierung des Wahlrechts, nicht mehr kandidieren. ({5}) Natürlich war es, wie in jeder Legislaturperiode, auch unsere Aufgabe, die 299 Wahlkreise neu einzuteilen. Dies ist nicht immer einfach. Man kann bei diesem Vorhaben nicht immer allen Wünschen und allen Vorstellungen gerecht werden. Wir haben dies meines Erachtens in größtmöglicher Seriosität und Geschlossenheit geschafft. Es war leider nicht zu verhindern - das möchte ich nicht verhehlen -, zwei Wahlkreise aufgrund des Bevölkerungsrückgangs in den betreffenden Bundesländern zu transferieren. Es trifft dieses Mal die beiden Ostländer Sachsen und Sachsen-Anhalt. ({6}) Stephan Mayer ({7}) Das ist bedauerlich; ich möchte das hier in aller Deutlichkeit festhalten. Um aber bei der Bundestagswahl 2009 wirklich mit Sicherheit verfassungsgemäße Wahlen durchführen zu können, war es, um dem Grundsatz der Wahlgleichheit Genüge zu tun, erforderlich, zwei Wahlkreise zu verschieben, und zwar einen Wahlkreis von Sachsen nach Baden-Württemberg und einen anderen Wahlkreis von Sachsen-Anhalt nach Niedersachsen. Wir werden insoweit den Vorgaben des Wahlgesetzes und auch des Bundesverfassungsgerichtes gerecht. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, wir bieten mit diesem Vorschlag, den wir zur Novellierung des Wahl- und Abgeordnetenrechts unterbreiten, insgesamt eine ausgewogene, eine sachgerechte und eine vernünftige Grundlage für die Durchführung der Bundestagswahl 2009 an. Wir legen Hand ans Wahlrecht. Wir tun etwas. Es könnte natürlich immer noch mehr gemacht werden, aber dazu bedarf es einer Verständigung. Das wird jetzt nicht die letzte Novellierung des Wahlund Abgeordnetenrechts sein. Es wird mit Sicherheit auch in der nächsten Legislaturperiode wieder einer Novellierung bedürfen. Ich glaube aber, wir können mit Stolz feststellen: Nach dieser Novellierung haben wir ein außerordentlich modernes, sachgerechtes und praktikables Abgeordneten- und Wahlrecht. Herzlichen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz für die FDPFraktion.

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist zu begrüßen, dass die Koalitionsfraktionen uns heute einen Gesetzentwurf vorgelegt haben, um eine Anpassung der Wahlkreise vorzunehmen. Das ist notwendig, damit wir den Grundsatz der Gleichheit der Wahl in unserem Land auch wirklich realisieren können. Jeder Wahlkreis repräsentiert circa 250 000 Wähler. Man muss feststellen: Durch die Ost-West-Abwanderung ist die Anzahl der Menschen in einzelnen Wahlkreisen, vor allem in Sachsen und Sachsen-Anhalt, so weit gesunken, dass eine Anpassung dringend notwendig ist. Eines bedauern wir als FDP-Fraktion besonders: Es ist uns immer noch nicht gelungen, mindestens zwei Wahlkreise, nämlich Krefeld und Rotenburg-Verden, so zurechtzuschneiden, dass es dem Willen der Bürger entspricht und mehr oder weniger den Stadtkreis abbildet. Manchmal ist das nicht so einfach möglich. ({0}) Auch wenn die Zeit drängt, weil die Wahlvorbereitungen für die Bundestagswahl ab März beginnen und damit eine intensive Phase des Wahlkampfs vor uns liegt, sollten wir uns in diesem Parlament immer noch auf einen respektvollen Umgang verständigen. In Angelegenheiten, die das Parlament selbst betreffen - dazu gehören natürlich Wahlangelegenheiten -, werden vor der Einbringung eines solchen Gesetzentwurfs normalerweise Berichterstattergespräche geführt. Das hat es diesmal nicht gegeben. Wir stellen fest, dass das eine weitere Perpetuierung des Zustands der „groben Koalition“ ist. Sie sind sich selbst genug, Koalition und Opposition in einem. Da muss man nicht mehr mit der wahren Opposition sprechen. Wir bedauern das sehr. ({1}) Eines ist klar: Das Wahlrecht für den Bundestag geht uns alle an, die wir hier sitzen, und nicht nur Sie in der Mitte des Hauses. - Das ist aber auch alles an Mitte. ({2}) Den meisten Punkten, die Sie geändert haben - das haben wir im Ausschuss schon besprochen -, können wir zustimmen. So haben wir seit langem gefordert, das Berechnungsverfahren, um Wählerstimmen in Abgeordnetenmandate umzurechnen, zu ändern. Ungereimtheiten, die bei anderen Berechnungsmethoden auftreten können, werden mit dem Verfahren Sainte Laguë/ Schepers vermieden. Zudem wird mit diesem Verfahren die Gleichheit des Erfolgswertes der Stimmen optimiert. Auch dem Vorschlag, den im Ausland lebenden Deutschen ein zeitlich unbefristetes Wahlrecht einzuräumen, können wir folgen. Ich glaube, das ist in Zeiten, in denen man sich über das Internet immer gut darüber informieren kann, was zu Hause los ist, eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Es ist übrigens auch ein Beitrag zur Entbürokratisierung. Einen Beitrag zum Bürokratieabbau stellt ebenfalls - das haben auch Sie, Herr Mayer, gesagt - der Vorschlag zur Briefwahl dar. Die Briefwahl erfreut sich einer steigenden Beliebtheit. Das können wir alle verstehen: Wenn man nicht genau weiß, ob man am Wahltag zu Hause sein wird oder nicht, dann möchte man seine Stimme abgeben können. Ich denke, es ist nachvollziehbar und sicher sehr richtig, dass wir jetzt dafür sorgen, dass den Bürgern Briefwahl möglich ist, ohne dass sie lügen müssen - so muss man es einmal nennen - und ohne dass die Verwaltung gehalten ist, Nachprüfungen vorzunehmen. Auch das, was Sie zu den Briefumschlägen, mit denen die Stimmzettel verpackt werden, vorgeschlagen haben, ist klug. Ich weiß, wovon ich rede: Ich habe früher in einem Amt für Wahlen und Statistik gearbeitet. Ich kann Ihnen sagen: Es ist nicht selbstverständlich, dass diese Umschläge in der richtigen Reihenfolge eingetütet werden. Auch da leisten wir unseren Beitrag dazu, dass jede Stimme beim Auszählen gewertet wird. So viel zu Ihrem Gesetzentwurf. Dem Gesetzentwurf der Bundesregierung können wir hingegen nicht folgen. Dieser Entwurf sieht zwar die fakultative Benennung eines Ersatzkandidaten für einen Wahlkreisbewerber vor. ({3}) - Des Bundesrats natürlich. Entschuldigung, ich habe mich versprochen. So nah wollte ich Ihnen jetzt nicht treten, dass ich Ihnen das unterstelle. ({4}) - Ach, Herr Benneter, morgen führen wir doch eine sehr spannende Debatte zur Bundespolizei. Diese Woche wäre ich, ehrlich gesagt, nicht so vorlaut. Aber bitte! ({5}) Wir können dem Gesetzentwurf des Bundesrats nicht zustimmen; denn danach wären die für einen ausgefallenen Wahlkreiskandidaten abgegebenen Stimmen ungültig. Ich glaube, es ist klar: Das ist nicht der richtige Weg. Wir als FDP-Bundestagsfraktion hätten uns eine Änderung in diesem Fall sehr gewünscht. Das, was wir in dieser Legislaturperiode erleben mussten - Kollegen waren faktisch im Bundestag und fielen durch eine Nachwahl wieder heraus -, war nämlich sicherlich keine Sternstunde für dieses Haus. Dem Antrag der Linken, den wir hier mit beraten, werden wir nicht zustimmen. Es ist keine Frage, dass man sich damit beschäftigen muss, inwieweit Wahlmaschinen unseren Anforderungen technisch entsprechen. Im Prinzip tun sie das aus unserer Sicht im Moment noch nicht, weil man nicht überprüfen kann, ob eine Stimme tatsächlich so abgegeben worden ist, wie sie gezählt wurde. Dabei haben wir es in den letzten Jahren mit vielen Problemen zu tun gehabt. Wären wir allerdings technikfeindlich - Sie schlagen vor, ein für alle Mal festzulegen, dass wir das nicht machen -, verschlössen wir, glaube ich, unsere Augen vor dem, was möglich ist. In anderen Ländern wird uns das vorgemacht, zum Beispiel mit Onlinewahlen. Wenn wir die Leute auf Dauer zur Abstimmung bewegen wollen, müssen wir neue Möglichkeiten in Erwägung ziehen. Wir lehnen Ihren Antrag ab, weil wir der Ansicht sind, dass man das auf Dauer nicht ablehnen kann. Wir sehen aber das Problem. Ich komme damit zum Schluss. Wir würden uns in diesem Hause gerne mit anderen Möglichkeiten der Organisation von Wahlen und Partizipation beschäftigen. Dazu liegen drei Gesetzentwürfe vor. Wir würden uns freuen, wenn Sie uns bei dem einen oder anderen Gesetzentwurf unterstützen würden. Ob Menschen zur Wahl gehen, hängt nach unserer Ansicht nämlich nicht nur davon ab, dass sie ihre Stimme per Briefwahl abgeben können. Sie müssen auch das Gefühl haben, sich wirklich einbringen zu können. Herzlichen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Klaus Uwe Benneter von der SPD-Fraktion. ({0})

Klaus Uwe Benneter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Kollege Mayer hat zwar die meisten Punkte, auf die ich hinweisen wollte, schon angesprochen; lassen Sie mich aber trotzdem ganz kurz auf ein paar Aspekte eingehen. Frau Piltz, Frau Stokar von Neuforn, entschuldigen Sie, dass wir Sie nicht einbezogen haben. Ich bitte um Nachsicht. ({0}) Wir haben viele Gespräche führen müssen und sind deshalb aus Zeitnot nicht dazu gekommen. Frau Piltz, ich habe Ihren Worten entnommen, dass wir in ideeller Hinsicht all das berücksichtigt haben, was Sie sich wünschen. So habe ich Sie verstanden. ({1}) Bewerber, die einer anderen Partei angehören als der, auf deren Landesliste sie stehen, werden in Zukunft zur Wahl nicht mehr zugelassen. Bei der letzten Bundestagswahl haben WASG und PDS gemeinsame Kandidaten aufgestellt. ({2}) Die Landeswahlausschüsse mussten darüber entscheiden, hatten aber keine gesetzliche Grundlage dafür. Sie haben das oftmals mit Bauchschmerzen zugelassen, obwohl unser Gesetz Listenverbindungen nicht vorsieht. ({3}) Wir haben Parteien, weil sich viele Menschen auf gemeinsame Ziele und gemeinsame Ideen verständigt haben. Bei einer Wahlentscheidung geht es um Klarheit für die Wählerinnen und Wähler. Sie müssen wissen, für wen sie sich entscheiden können. Deswegen muss jede Partei mit einer eigenen Liste antreten. Auf diese Art und Weise soll verhindert werden, dass sie die Zielsetzung, keine Splitterparteien im Parlament zu haben, umgehen können. Zu diesem Zweck haben wir die Fünfprozentklausel, die Grundmandatsklausel sowie die Unterschriftsquoren für Wahlkreisbewerber und für Parteien, die sich bisher in keinem Parlament bewährt haben. All das sind Kriterien, die helfen, den Parlamentarismus vernünftig zu organisieren. Deshalb haben wir solche Verbindungen für die Zukunft ausgeschlossen. Die neue Regelung wird für alle Parteien gelten, auch für die inhaltlich und personell zerstrittenen Parteien am äußersten rechten Rand. Auf diese Art und Weise können sie sich auch in Zukunft nicht gegenseitig ins Parlament helfen. Ich denke, das ist ein großer Vorteil. Lassen Sie mich noch einen Wermutstropfen anbringen: Auch wenn das Wahlrecht durch dieses Gesetz hinsichtlich der Berechnungsmethoden besser und für die Bürger in der Anwendung unbürokratischer, klarer und zielgenauer wird, ist es uns nicht gelungen, uns auf eine gemeinsame Regelung für die Nachfolge bei Überhangmandaten zu verständigen. Ich halte es weiterhin für ein Unding, dass Mandate während der Legislaturperiode ersatzlos wegfallen können, weil Abgeordnete aus Bundesländern, die Überhangmandate hatten, sterben, schwer erkranken oder aus sonstigen Gründen auf ihr Mandat verzichten müssen und aus dem Parlament ausscheiden müssen. Die Bürger der betroffenen Wahlkreise wünschen sich eine Nachfolgeregelung. In diesem Fall verlieren sie nämlich eine wichtige Stimme für ihre Region im Deutschen Bundestag. Ich denke, auch das sollte man berücksichtigen. Mir geht es vor allem darum, dass eine der wichtigsten Funktionen des Wahlrechts sichergestellt wird: Das am Stichtag festgestellte Wahlergebnis muss eine stabile Grundlage für eine während der ganzen Legislaturperiode stabile Regierung bilden. Das ist bisher nicht immer gewährleistet. Insoweit bleibt dieses Problem für die nächste Wahlperiode auf der Tagesordnung. Kollege Mayer hat schon darauf hingewiesen, dass auch in der nächsten Wahlperiode wieder über eine weitere Verfeinerung des Wahlrechts nachzudenken sein wird. Ich komme noch zum Antrag der PDS-Fraktion. Wir sollen auf ein Verbot von Wahlcomputern und der Internetwahl hinwirken. Die Internetwahl gibt es bei uns gar nicht. Deshalb ist sie nicht verboten. Aus diesem Grunde braucht man sich dazu nicht zu äußern. Die Möglichkeit des Einsatzes von Wahlgeräten steht in Deutschland seit 1975 - das sind nun schon mehr als 30 Jahre - im Wahlgesetz. Wir haben bisher nicht einen einzigen ernst zu nehmenden Hinweis darauf, dass es beim bisherigen Einsatz von Wahlgeräten - sie sind tatsächlich schon umfassend eingesetzt worden - zu Wahlmanipulationen gekommen ist. Im Übrigen ist beim Bundesverfassungsgericht in Sachen Wahlcomputer eine - zugegeben gut begründete Wahlprüfung anhängig. Falls sich nach einer Entscheidung Handlungsbedarf ergeben sollte, können wir diese Frage ganz in Ruhe angehen. Jetzt werden wir erst einmal den Antrag der PDS ablehnen. Danke. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Jan Korte für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Verfahren ist hier schon etwas gesagt worden. Auch wir finden es äußerst bedenklich, dass man bei einer solchen Frage nicht die Oppositionsfraktionen einbindet. Es sollte beispielsweise darauf Rücksicht genommen werden, dass in Sachsen-Anhalt, Herr Bergner, gerade eine Kreisgebietsreform durchgeführt wurde. Für die Abgeordneten aus Sachsen-Anhalt, die nicht der SPD oder der CDU angehören, ist nicht nachvollziehbar, inwieweit das berücksichtigt wurde. Das erschließt sich aus Ihrer Vorlage überhaupt nicht. Deswegen hätten wir es sinnvoll gefunden, wenn hier alle eingebunden worden wären. Mir haben Kollegen aus allen Fraktionen, die dem Bundestag schon mehrere Jahre oder sogar Jahrzehnte angehören, gesagt, dass das früher möglich gewesen ist. Trotzdem stehen in dem Gesetzentwurf einige sinnvolle Sachen; das ist völlig unbestritten. Ich möchte nur an zwei Punkten deutlich machen, warum es politisch ein Problem ist, dass über den Gesetzentwurf nicht diskutiert wurde. Der erste Punkt ist, dass Ostdeutschland zwei Wahlkreise in Sachsen und Sachsen-Anhalt verliert. Das ist nicht nur ein arithmetisches Problem, das man mit der Notwendigkeit der Reform erklären könnte. Vielmehr ist es auch ein politisches Problem. Das hätten wir doch gemeinsam diskutieren müssen. ({0}) Die Folge ist, dass die Regionen in diesem Land, die die größten strukturellen und sozialen Probleme haben, dadurch an Repräsentanz verlieren. Das hätte man zum Anlass nehmen können, über folgende Fragen zu diskutieren: Wie können wir die weitere Abwanderung aufhalten? Wie können wir jungen Menschen im Osten Perspektiven geben? Wie können wir endlich zu gleichwertigen Lebensverhältnissen in Ost und West kommen? ({1}) Genau das interessiert die Menschen. Ich finde, das ist nur bedingt witzig. Diese wichtigen Fragen hätte man diskutieren können, um so mit den Menschen aus Ostdeutschland ins Gespräch zu kommen. Der zweite Punkt, der angesprochen worden ist und bei dem es einen Dissens gibt, ist die Regelung der Wahllisten. Es geht darum, dass Parteimitglieder nicht für eine andere Partei kandidieren dürfen. Wir als Linke haben mit genau dieser Regelung sehr gute Erfahrungen gemacht, was auch unsere Debatten sehr bereichert hat. Deswegen finde ich diese Regelung nicht sehr sinnig. Vielmehr empfinde ich sie als einen Eingriff in die Autonomie der Parteien. ({2}) Kollege Benneter, das Problem der Rechtsextremen ist bei allen Debatten, die wir führen, zuallererst eine Sache der politischen zivilgesellschaftlichen Auseinandersetzung. Das werden wir mit einem solchen Gesetzentwurf nicht lösen können. So viel dazu. Abschließend komme ich zu unserem Antrag „Wahlmanipulationen wirksam verhindern“. Es ist eben nicht so, dass es mit dem Einsatz von Wahlcomputern keine Erfahrungen gibt. Im Gegenteil: Es gibt damit sehr schlechte Erfahrungen. Diese wurden in den Niederlanden gemacht; die niederländische Regierung hat die Wahlgeräte daher aus dem Verkehr gezogen. Warum ist das auch grundsätzlich ein Problem? Das Verfahren der Wahl, vom Aufstellen der Urne über das Einwerfen des Wahlzettels bis hin zum Auszählen, ist öffentlich. Der Bürger kann also nachvollziehen, was dort passiert. Das Problem ist, dass das bei einem Wahlcomputer nicht möglich ist. Nicht möglich ist es auch, Fehler auszuschließen, wie jeder an seinem PC mindestens einbis zweimal im Jahr feststellen kann. Auch das ist ein Problem.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Korte, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Mayer?

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja.

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wie viele Fälle von Wahlmanipulation mit Wahlcomputern in Deutschland sind Ihnen bekannt?

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das Problem ist, dass Wahlmanipulation möglich ist. Einen solchen Fall gab es gerade in Hamburg; dort hat übrigens auch die SPD nun gesagt: Die Wahlcomputer müssen wir aus dem Verkehr ziehen. Der Chaos Computer Club hat nachgewiesen, dass eine Manipulierbarkeit jederzeit möglich ist. Wir wollen das von vornherein ausschließen. Deswegen haben wir diesen Antrag gestellt. Er ist weit in die Zukunft schauend, aber doch praktisch in der Tagespolitik. Es ist nun in mehreren Fällen nachweisbar gewesen, dass Manipulationen möglich und technisch ein Leichtes sind und vor allem dass es Anfälligkeiten bei Computern gibt. Das ist doch völlig unbestritten. Auch hier kann wohl niemand ernsthaft begründen, warum es bei Wahlcomputern anders sein sollte als bei privaten PCs. Der Antrag blickt in die Zukunft und soll Irritationen im Vorfeld verhindern. Letzte Anmerkung, die ich dazu machen will. Wir wollen nicht irgendwann wie in Florida enden, dass wir also Wahlcomputer haben, die nicht funktionieren. Dort wurde zu allem Überfluss der Falsche zum Präsidenten gewählt, weil der Computer nicht funktionierte. Das geht nicht. Ich glaube, auch hier im Hause gibt es eine Mehrheit, die nicht unbedingt will, dass Angela Merkel, wenn sie real knapp verliert, wegen einer Computerpanne noch einmal Bundeskanzlerin wird. Das wollen wir ausschließen. Es sollte eine genaue Wahl geben. ({0}) Deswegen fände ich es sinnig, wenn Sie diesem, wie ich finde, sehr guten Antrag zustimmen würden. Eine letzte Anmerkung an Kollegin Piltz gerichtet: Natürlich ist es so, dass wir das wieder ändern können, wenn nachgewiesen ist, dass Wahlcomputer sicher sind. Das wäre kein Problem. Das kann ja nicht davon abhalten, dem Antrag jetzt zuzustimmen. Denn klar ist: Wo der Fortschritt ist, ist auch immer die Linke. ({1}) Deswegen ist das kein Hinderungsgrund. Schönen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Silke Stokar von Neuforn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hätte mich gern intensiv mit den Änderungen des Bundeswahlgesetzes befasst. Ich hätte mich auch gern damit befasst, ob zum Beispiel in Niedersachsen die Neuaufteilung der Wahlkreise genau so vonstatten gehen muss. Lieber Kollege Benneter, Ihre Bitte um Entschuldigung, dass der Dauerstreit der Großen Koalition nun zu einem Verlust an gewachsener parlamentarisch-politischer Kultur führt, kann ich nicht annehmen. Es kann nicht sein, dass Sie sich so lange mit Herrn Grindel streiten ({0}) und uns, den Oppositionsfraktionen, dann sagen, dass wir aufgrund des Dauerstreits in der Großen Koalition jetzt halt nicht mehr, obwohl das in den vergangenen Jahren immer der Fall gewesen ist, ({1}) an der Neuaufteilung der Bundestagswahlkreise beteiligt werden. Ich erinnere mich sehr gut, dass wir unter Rot-Grün Verfahren hatten, die den ganzen Tag in Anspruch genommen haben, und zwar aus guten Gründen. Ich möchte es weder der Software WEGIS überlassen, die Bundestagswahlkreise aufzuteilen, noch ist es eine vernünftige Vorgehensweise, wenn die Regierungsfraktionen das hinter verschlossenen Türen selbst bestimmen, uns die Ergebnisse einen Abend vor der Sitzung des Innenausschusses zukommen lassen und wir hier nur noch zustimmen können. Ich kann den Niedersachsen nicht erklären, warum es diese Neuaufteilung gibt. Ich hätte es gern gemacht, wenn ich eingebunden worden wäre. ({2}) Zu den anderen Punkten im Bundeswahlgesetz ist einiges gesagt worden. Auch wir begrüßen die Umstellung des Auszählverfahrens. Es scheint das bessere mathematische Verfahren zu sein. Auch wir begrüßen das unbeschränkte aktive Wahlrecht für im Ausland lebende Deutsche. Ähnlich wie die Linksfraktion, obwohl sie hier ja eigentlich in klammheimliche Freude ausbrechen müsste, sind auch wir gegen die Änderung, dass es jetzt ein so restriktives Verbot gibt, Mitglieder einer anderen Partei mit auf die Liste zu nehmen. Hier hätten andere Regelungen für Transparenz sorgen können, indem man das zum Beispiel auf dem Wahlzettel kenntlich macht. Das Ergebnis ist: Die Linkspartei muss sich nicht mehr mit dem Wunsch der DKP, ihre Mitglieder in ihre Listen aufzunehmen, auseinandersetzen. ({3}) Deshalb sage ich: Eigentlich müssten Sie eine klammheimliche Freude empfinden. Aus Demokratiegründen halte ich dieses Mittel für zu restriktiv. Für mich gilt hier die Autonomie der Parteien. Mit anderen Regelungen hätten wir für Transparenz sorgen können. Ich komme zu meinem letzten Punkt: den Wahlcomputern. Ich finde es bemerkenswert, dass 45 000 Wählerinnen und Wähler beim Bundestag eine Petition eingereicht haben, in der sie ausgeführt haben, dass sie Manipulation durch den Einsatz von Wahlcomputern befürchten und dass sie den Bundestag auffordern, eine gesetzliche Regelung zu schaffen, die es verhindert, dass entsprechende Modellverfahren durchgeführt werden. Damit würde man natürlich ein bestimmtes Interesse verfolgen; deswegen ist die FDP in dieser Frage auf einmal nicht mehr Bürgerrechtspartei, sondern Wirtschaftspartei. ({4}) Es gibt in Europa nur wenige Unternehmen, die die Wahlen in Deutschland nutzen wollen, um in einem Modellversuch mit Wahlmaschinen, die überhaupt noch keine Marktreife haben, in die Wahlen einzugreifen. ({5}) Dies ist in Hamburg nachgewiesen worden. Ich finde es peinlich, dass ausgerechnet Herr Koch in Hessen Wahlmaschinen der Firma Nedap zulässt, die in den Niederlanden aufgrund ihrer Fehleranfälligkeit gerade erst aus dem Verkehr gezogen worden sind. ({6}) Ich kann gut nachvollziehen, dass sich Herr Koch an den letzten Strohhalm klammert. Er hat wohl im Hinterkopf, dass ihm Wahlmaschinen vielleicht noch zu einem zweifelhaften Sieg verhelfen könnten. ({7}) Eines ist eine Selbstverständlichkeit: Solange die Bürgerinnen und Bürger berechtigte Sorgen haben, dass Wahlen durch den Einsatz von Wahlmaschinen manipuliert werden können, darf das ökonomische Interesse hier nicht im Vordergrund stehen. Wir stehen dem Einsatz technischer Verfahren bei Wahlen offen gegenüber, wenn sie ausgereift sind. Bundestags- und Landtagswahlen sind aber ein viel zu ernster demokratischer Vorgang, als dass sie zu einem Experimentierfeld für zweifelhafte Geschäftsideen gemacht werden sollten. Danke schön. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Fograscher für die SPDFraktion.

Gabriele Fograscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke schön. - Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich werde mich in meinem Beitrag zur Änderung des Bundeswahlgesetzes äußern. Dahinter verbirgt sich die Neueinteilung der Bundestagswahlkreise für die Wahl zum 17. Deutschen Bundestag. In jeder Wahlperiode legt die Bundeswahlkreiskommission dem Deutschen Bundestag einen Bericht über Änderungen der Bevölkerungszahlen im Bundesgebiet vor. Um eine verfassungsgemäße Bundestagswahl - Stichwort „Gleichheit der Stimmen“ - zu gewährleisten, müssen die Wahlkreise annähernd gleiche Einwohnerzahlen haben. Änderungen der Verteilung der Bundestagswahlkreise auf die Länder und die Einteilung innerhalb der Länder ergeben sich aufgrund von Bevölkerungswanderungen. Die Grundsätze, an die wir uns auch bei dieser Neueinteilung gehalten haben, sind: Die Ländergrenzen werden eingehalten. Die Zahl der Wahlkreise in den einzelnen Ländern muss soweit wie möglich dem Anteil an der Gesamtbevölkerung entsprechen. Der Wahlkreis muss ein zusammenhängendes Gebiet umfassen. Kommunale Grenzen sollten möglichst weitgehend eingehalten werden. Eine Neuzuschneidung von Wahlkreisen kann durchgeführt werden, wenn die Bevölkerungszahlen plus/minus 15 Prozent vom Bundesdurchschnitt abweichen. Sie muss durchgeführt werden, wenn die Abweichung mehr als plus/minus 25 Prozent beträgt oder eine solche Entwicklung im Laufe der Legislaturperiode als sehr wahrscheinlich gilt. Leider setzte sich in den vergangenen Jahren die Bevölkerungswanderung von Ost nach West fort. So verloren Sachsen und Sachsen-Anhalt knapp 50 000 Einwohner. Baden-Württemberg dagegen registrierte einen Zuzug von mehr als 55 000 Einwohnern. Herr Korte, natürlich kann eine Wahlkreisreform diese strukturellen Probleme nicht lösen. Aufgrund der Daten, die dem Bericht der Wahlkreiskommission und dem Nachbericht zugrunde liegen, sind zwei Wahlkreistransfers nötig. Die Länder Sachsen und Sachsen-Anhalt verlieren jeweils einen Wahlkreis, Baden-Württemberg und Niedersachsen erhalten je einen zusätzlichen Wahlkreis. Sowohl beim Wegfall eines Wahlkreises als auch bei der Schaffung eines zusätzlichen Wahlkreises in einem Bundesland sind erhebliche Eingriffe in die bestehenden Wahlkreisgrenzen unvermeidlich. Die abgebenden Länder Sachsen und Sachsen-Anhalt stehen vor einer Kreisgebietsreform bzw. haben diese schon durchgeführt. Deshalb orientiert sich die Neuzuschneidung der Wahlkreise weitgehend an den neuen kommunalen Grenzen. In Baden-Württemberg gibt es im Regierungsbezirk Tübingen den neuen Wahlkreis Ravensburg. Deshalb mussten die umliegenden Wahlkreise neu zugeschnitten werden. Drei Wahlkreise in diesem Regierungsbezirk bleiben unverändert. Für den Zuschnitt des Wahlkreises Biberach hätten sich meine Kollegen im Bundestag und viele vor Ort eine andere Lösung vorstellen können. Aber in Abwägung der für die anderen Wahlkreise gefundenen Lösungen tragen wir diesen eigenwilligen Zuschnitt mit. In Niedersachsen wird der neu zu bildende Wahlkreis den Landkreis Harburg umfassen. Die erheblichen Veränderungen der umliegenden Wahlkreise sind Folge dieses neu zu schaffenden Wahlkreises. In Brandenburg haben wir aufgrund des enormen Bevölkerungswachstums Verschiebungen zwischen dem Wahlkreis 61 und dem Wahlkreis 62 vornehmen müssen. Auch beim Wahlkreis Hamburg-Mitte hätten wir uns einen anderen Zuschnitt vorstellen können; doch darauf konnten wir uns nicht einigen. Deshalb bleibt es bei dem Vorschlag der Wahlkreiskommission, jetzt nichts zu verändern. Es ist schon heute abzusehen, dass die Bevölkerungsentwicklung in einigen Bundesländern in der nächsten Legislaturperiode erneut Wahlkreisanpassungen notwendig machen wird. Deshalb haben wir dieses Mal nur diejenigen Anpassungen vorgenommen, die unbedingt notwendig waren, um eine verfassungsgemäße Wahl des 17. Deutschen Bundestages zu gewährleisten. Ich bedanke mich an dieser Stelle nochmals bei allen, die sich sehr kenntnisreich in die Diskussion eingebracht haben, und beziehe diesen Dank auch auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Innenministeriums und des Statistischen Bundesamtes. Ich bitte um Ihre Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf. Danke sehr. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak- tionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Ent- wurf eines Gesetzes zur Änderung des Wahl- und Abge- ordnetenrechts. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7814, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/7461 in der Ausschussfas- sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD- Fraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetz- entwurf des Bundesrates zur Änderung des Bundeswahl- gesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 2 sei- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7814, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 16/1036 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Ge- schäftsordnung die weitere Beratung. Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 7 b, zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurf eines Achtzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes. Mir liegen hierzu Erklärungen nach § 31 unserer Ge- schäftsordnung des Kollegen Scheelen aus der SPD-Frak- tion sowie der Kollegen Fricke, Lenke und Ackermann aus der FDP-Fraktion vor; diese nehmen wir zu Proto- koll.1) Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 16/7815, den Gesetzent- wurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/7462 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz- entwurf ist damit mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der Mehrheit der FDP-Fraktion gegen die Stimmen von zwei Abgeordneten der FDP- Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 7 c. Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel: „Wahlmanipulationen wirksam verhin- dern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 16/7816, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5810 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Die Beschlussemp- fehlung ist damit mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen angenommen. 1) Anlage 3 Vizepräsidentin Petra Pau Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Fahrlehrergesetzes - Drucksachen 16/7080, 16/7417 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) - Drucksache 16/7819 Berichterstattung: Abgeordneter Patrick Döring Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich bitte diejenigen, die an dieser Debatte nicht mehr teilhaben wollen oder können, ihre Gespräche draußen zu führen, damit ich die Aussprache eröffnen kann. Die Aussprache ist eröffnet. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Ulrich Kasparick. - Bitte. ({1})

Ulrich Kasparick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003158

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa wächst zusammen. Durch den Verkehrsbereich ist ein besonderer Beitrag zu leisten, weil die grenzüberschreitenden Verkehre dazu beitragen müssen, dass wir schnell und zügig einen gemeinsamen Wirtschaftsraum entwickeln. Die europäische Rechtsetzung wächst zusammen. Wir sprechen heute an dem Beispiel von Fahrlehrern über die wechselseitige Anerkennung von Berufsabschlüssen. Davon ist ein ganzes Gewerbe maßgeblich und umfassend betroffen. Wir vollziehen damit die Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 und setzen sie eins zu eins in nationales Recht um. Davon sind Staatsbürger der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, des Europäischen Wirtschaftsraumes und der Schweiz betroffen. Wir regeln die vorübergehende und gelegentliche Dienstleistungserbringung, die auch grenzüberschreitend erfolgen kann, und erklären sie ausdrücklich für zulässig. Wir stellen daneben sicher, dass die Qualität der Ausbildung, die wir in Deutschland erreicht haben, auch künftig gesichert bleibt, weil sich jeder, der in Deutschland eine solche Ausbildung anbieten will, einem Anerkennungsverfahren zu unterziehen hat, das nach deutschen Standards geregelt ist. Wer die Voraussetzungen nach deutschem Recht nicht erfüllt, muss sich einem Anpassungslehrgang oder einer Eignungsprüfung unterziehen. Auf diesem Wege wollen wir sicherstellen, dass es zu keinem Niveauverlust bei den Qualitätsstandards der deutschen Ausbildung kommt. ({0}) Es ist in der Vergangenheit diskutiert worden, ob die Voraussetzungen, die in Deutschland gelten, dass man nämlich im Besitz der Fahrerlaubnis für alle Fahrzeugklassen sein muss, Bestand haben. Das ist der Fall. Wenn beispielsweise ein Bewerber aus der Schweiz in Deutschland eine solche Ausbildung anbieten will, dann muss er die Fahrerlaubnisse für alle Fahrzeugklassen vorlegen. Wenn er das nicht kann, dann gibt es Anpassungsmaßnahmen - in der Regel in Form von Weiterbildungsmaßnahmen und Lehrgängen -, denen er sich zu unterziehen hat. Wichtig ist, dass es eine unterschiedliche Regelung für vorübergehende oder gelegentliche Dienstleistungen gibt. Das ist von dem Fall zu unterscheiden, dass jemand dauerhaft eine Fahrschule in Deutschland eröffnen will. In der zurückliegenden Debatte mit den Abgeordneten des zuständigen Ausschusses ist darüber ausführlich diskutiert worden. Wichtig ist für uns die Arbeitsteilung mit den Ländern. Die Überwachung der Fahrschulen obliegt den Ländern. Der Bund hat keine Regelungskompetenz. Wir haben aber vonseiten des Verkehrsministeriums den Ländern eine Kooperation angeboten, damit wir uns auf Kriterien für die Anerkennungsverfahren verständigen können. Die zuständigen Landesbehörden sind diejenigen Stellen, bei denen diejenigen, die diese Dienstleistung erbringen, jährlich formlos Meldung zu erstatten haben. Wer gegen diese Meldepflicht verstößt, begeht eine Ordnungswidrigkeit, die mit einem Bußgeld geahndet werden kann. Bei der praktischen Durchführung der Richtlinie, die wir nun in Deutschland umsetzen, hat das Bundesverkehrsministerium den Ländern eine enge Kooperation angeboten. Uns freut besonders, dass die Bundesvereinigung der Fahrlehrerverbände ihre Mitarbeit zugesagt hat. Wir stehen also in engem Kontakt mit den Fachleuten aus der Community. Wir haben auch die deutschen Botschaften in den betreffenden Ländern gebeten, uns entsprechende Informationen über die Ausbildung und die Berufsqualifikation der dort tätigen Fahrlehrer zu übermitteln. Ein wichtiges Ziel ist, auf der einen Seite europäisches Recht umzusetzen - das Verkehrsressort ist davon besonders betroffen - und auf der anderen Seite Verkehrssicherheit und Qualität der deutschen Fahrschulausbildung zu sichern. Wir sind der Überzeugung, dass das mit dem Gesetz, das als Entwurf vorliegt, gelingen wird. Deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Döring das Wort. ({0})

Patrick Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003748, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär, es wäre vielleicht einer Erwähnung wert gewesen, dass die Bundesregierung den Gesetzentwurf verspätet eingebracht hat. Fast ein halbes Jahr nachdem er hätte umgesetzt werden müssen, haben Sie das Parlament damit befasst. Dafür hätten Sie sich in Ihrer Rede entschuldigen können; denn das Parlament sollte zeitnah an der Umsetzung einer solchen Richtlinie beteiligt werden. ({0}) Wir haben im Ausschuss intensiv darüber diskutiert, ob es bei der Umsetzung nicht zu Inländerdiskriminierung kommt. Dazu war bei Ihnen kein Wort zu hören. ({1}) Ich will die Wirklichkeit deutlich machen, Frau Kollegin Wright. Der Markt der Fahrschulen ist außerhalb Deutschlands völlig anders organisiert. In Frankreich gibt es Fahrschulen mit bis zu 1 500 angestellten Fahrlehrern und in den Niederlanden Fahrschulen mit mehr als hundert angestellten Fahrlehrern. Wir setzen mit dem Gesetz nun europäisches Recht um. Aber einige Auflagen, die wir Fahrschulen, die ihren Betriebssitz in Deutschland haben, auferlegen, erlegen wir den europäischen Fahrschulen nicht mehr auf. Das sind die obligatorische Betriebshaftpflichtversicherung und die Verpflichtung für den Inhaber einer Fahrschule, den Führerschein in den Klassen zu haben, die unterrichtet werden. Zukünftig müssen europäische Unternehmer das nicht mehr nachweisen. Dieser Vorteil für Wettbewerber außerhalb Deutschlands ist aus unserer Sicht falsch. ({2}) Man kann sicherlich den Zugang zum Beruf des Fahrlehrers vereinfachen und die Gründung eines Betriebes erleichtern - gerne und jederzeit -, aber dann zu gleichen Bedingungen für alle. Was wird in den grenznahen Gebieten passieren? Ich denke an Niedersachsen an der Grenze zu den Niederlanden und an Gebiete an der Grenze zu Frankreich. Wir werden die dort tätigen deutschen Fahrschulen durch die Erleichterungen für europäische Unternehmer in eine Wettbewerbssituation bringen, in der sie nicht gewinnen können. Es ist leicht dahingesagt, dass es bei einer Berufshaftpflichtversicherung nur um ein paar Hundert Euro Prämie gehe. Aber auch das hat eine wirtschaftliche Schlechterstellung des Inländers gegenüber dem ausländischen Kettenkonzern zur Folge. Heute Morgen haben Herr Stiegler und andere wohlfeile Reden zum Thema Mittelstand gehalten. Wenn es aber konkret wird, sind Sie diejenigen, die die Strukturen nicht befördern. ({3}) Mir geht es darum, die hohe Qualität der Fahrlehrerinnen und Fahrlehrer sowie die mittelständische Struktur der Fahrschulen in Deutschland zu erhalten, gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, ob in den Niederlanden, in Portugal oder in Deutschland, und sicherzustellen, dass die Fahrlehrerinnen und Fahrlehrer, die deutsche Jugendliche bzw. in Deutschland lebende Jugendliche ausbilden, so organisiert und ausgebildet sind, dass das hohe Niveau der Ausbildung in Deutschland gehalten wird und dass die Zahl der Toten und Verletzten unter den Fahranfängern weiter zurückgeht, und dass nicht Fahrlehrerinnen und Fahrlehrer aus europäischen Ländern mit einer geringeren Ausbildung aufgrund wirtschaftlicher Erleichterungen hier einen Betrieb aufmachen. ({4}) Es ist, Herr Staatssekretär, zum Beispiel überhaupt nicht klar, auch nicht nach der Novelle, wer von den 1 500 angestellten Fahrlehrern in einer französischen Fahrschulkette überhaupt die Nachprüfung machen muss. Ist das der Betriebsleiter? Ist das einer? Sind das alle? Und wer soll überhaupt kontrollieren, ob einer der angestellten Fahrlehrer, der dann in Baden-Württemberg eine Ausbildung macht, diese Nachschulung gemacht hat oder nicht? Es ist wirklich naiv zu glauben, dass das in dieser Wettbewerbssituation geschieht. Deshalb wäre es vernünftig gewesen, Sie hätten die Änderungsanträge, die wir im Ausschuss gestellt haben, mitgetragen. Die Oppositionsfraktionen haben das getan. Manchmal kann man auch Dingen zustimmen, wo FDP draufsteht. Aus meiner Sicht ja fast immer; ({5}) aber auch aus Ihrer Sicht hätte man an dieser Stelle tatsächlich zustimmen können. Das wäre gut gewesen für die mittelständische Struktur und für die Sicherheit. Darum, liebe Kolleginnen und Kollegen, können Sie nicht erwarten, dass wir jetzt dieser Novelle zustimmen. Herzlichen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Gero Storjohann das Wort. ({0})

Gero Storjohann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003643, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute werden wir das Vierte Gesetz zur Änderung des Fahrlehrergesetzes verabschieden. Mit diesem Gesetz soll - das hat der Herr Staatssekretär Kasparick ausgeführt - eine Richtlinie der Europäischen Union für den Bereich des Fahrlehrerrechts in nationales Recht umgesetzt werden, welche die Anerkennung von Berufsqualifikationen, die in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union erworben wurden, erleichtert. Es geht hier darum, in einem zusammenwachsenden Europa den Arbeitnehmern die Möglichkeit zu eröffnen, sich in jedem EU-Mitgliedsland niederzulassen oder dort den Beruf auszuüben. Das ist und bleibt das Ziel des europäischen Binnenmarktes. Die Richtlinie gilt für alle Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates, die als Selbstständige oder als abhängig Beschäftigte einen reglementierten Beruf in einem anderen Mitgliedstaat ausüben wollen als in dem, in welchem sie ihre Berufsqualifikation erworben haben. Damit dient die Richtlinie der Beseitigung der Hindernisse für den freien Personen- und DienstleistungsGero Storjohann verkehr zwischen den Mitgliedstaaten. Dies ist ein grundsätzlich zu begrüßender und ein weiterer Schritt zur Verwirklichung der Freizügigkeit von Arbeitnehmern in Europa. Dazu steht die Union. ({0}) Herr Döring hat hier nach meiner Auffassung überzeichnet. Er hat zu Recht angesprochen, dass die Einszu-eins-Umsetzung eher hätte erfolgen können. Wenn die Umsetzung jedoch rechtzeitig erfolgt, manchmal auch schon vorzeitig, wird gerade von der FDP ein Vorwurf erhoben: Könnte man mit der Umsetzung nicht etwas warten? Warum müssen wir Musterknabe sein? ({1}) - Das habe ich von der FDP sehr wohl gehört. Insofern gibt es beide Aspekte. ({2}) Hier haben wir das so festzustellen. Zu Ihrer Kritik, dass der Markt in Deutschland sich plötzlich ganz anders gestalten wird, wenn Berufskollegen aus anderen Ländern sich hier bewerben und ihre Dienstleistung anbieten können: Ich glaube nicht, dass das Fahrschulgewerbe in Deutschland so schwach ist, dass es überrollt wird. ({3}) Deswegen bin ich sehr zuversichtlich, dass wir hier einen guten Schritt machen. Wir werden den europäischen Binnenmarkt mit dieser Richtlinie gestalten, und wir werden ihn insgesamt vereinheitlichen. Gegenstand ist die Neuregelung der Anerkennung von Berufsqualifikationen für Fahrlehrer, die entweder von Staatsangehörigen eines EU-Landes, eines Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum, also des EWR, oder der Schweiz erworben wurden. Deswegen müssen fahrlehrerrechtliche Vorschriften hieran angepasst werden. Der Gesetzentwurf enthält allgemeine Regelungen zur Wirkung der Anerkennung einer Befähigung zur Fahrschülerausbildung, die nicht in Deutschland erworben wurde. Um es gleich vorweg klar zu sagen: Es geht hier nicht um eine grenzenlose Anerkennung aller ausländischen Fahrlehrer. Es geht einzig und allein um solche Befähigungen von Fahrlehrern der eben genannten europäischen Staaten. Die Richtlinie erfasst dabei im Übrigen bewusst auch die inländischen Staatsangehörigen, welche ihre Berufsqualifikation nicht in Deutschland, sondern in der EU, einem EWR-Staat oder der Schweiz erlangt haben. Damit sind alle Anforderungen an die Berufsqualifikation, also an Eignung und Befähigung der Bewerber, in der Richtlinie abschließend geregelt worden. Dies schließt auch die Fälle ein, in denen Unterschiede zwischen der bisherigen ausländischen Qualifikation der Bewerber und der bei uns in Deutschland geforderten Fahrlehrerausbildung bestehen. Im Interesse einer qualifizierten und fundierten Ausbildung sieht das Gesetz hier die Teilnahme ausländischer Fahrlehrer an einem Anpassungslehrgang oder an einer Eignungsprüfung vor. ({4}) Dies ist etwa dann der Fall, wenn beispielsweise ein Fahrlehrer aus einem EU-Mitgliedstaat in Deutschland Fahrunterricht für Pkw, also für die Klasse BE, erteilen will. Wir haben hier mit § 2 a Abs. 2 des Gesetzentwurfs eine Regelung, die sicherstellt, dass der Bewerber in einem solchen Fall zur Teilnahme an einem Anpassungslehrgang oder einer Eignungsprüfung herangezogen wird - das gilt für jeden Bewerber und nicht nur für den Inhaber einer großen Fahrschule -, da er im Gegensatz zu seinen deutschen Kollegen nicht im Besitz der Fahrerlaubnisklassen A und CE für Motorräder und Lkw sein muss. Mit der Aufnahme dieser Regelung in das Gesetzeswerk hat die Bundesregierung daher im Interesse der Chancengleichheit für die Marktteilnehmer gehandelt. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt deshalb die hierfür vorgesehenen Maßnahmen ausdrücklich. Die Regelungen unterscheiden darüber hinaus zwischen der eben erwähnten Niederlassung, bei welcher der Beruf dauerhaft in einem anderen Mitgliedstaat ausgeübt wird, und der Dienstleistungserbringung, also der vorübergehenden und gelegentlichen grenzüberschreitenden Erbringung. Diese Dienstleistungserbringung wird dabei entsprechend der Richtlinienvorgabe ausdrücklich für zulässig erklärt. Dabei muss die Dienstleistungserbringung aber von vorübergehendem und auch gelegentlichem Charakter sein. Dies kann natürlich nur im Einzelfall anhand der Kriterien Dauer, Häufigkeit, regelmäßige Wiederkehr und Kontinuität der Dienstleistung beurteilt werden. Ich denke da etwa an den dänischen Fahrlehrer - jeder denkt in diesem Zusammenhang an seine Nachbarstaaten -, der gelegentlich auch deutsche Fahrschüler in meiner Heimat Schleswig-Holstein unterrichtet. Für ihn würde bei vorliegender Voraussetzung die eben erwähnte Eignungsprüfung gemäß § 2 a Abs. 3 des Gesetzentwurfs entsprechend gelten. Auch in diesem Fall wahren wir also die Chancengleichheit im europäischen Markt. Außerdem enthält das Gesetz die Regelung, dass alle Fahrlehrer über die für die Fahrschülerausbildung erforderlichen Sprachkenntnisse verfügen müssen. Dies ist für eine effektive und sichere Ausbildung der deutschen Fahrschüler unabdingbar. Um Qualitätsverluste in der Fahrschülerausbildung im Interesse der Verkehrssicherheit zu vermeiden, müssen wir bei allen Bestrebungen zur Dienstleistungsfreiheit weitere Schritte unternehmen. Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, die Fahrlehrerausbildung durch ein Praktikum zu Beginn der Ausbildung und durch eine anschließende Eignungsprüfung zu ergänzen. Damit könnte verhindert werden, dass unqualifizierte Fahrlehreranwärter bis zuletzt eine kostenintensive Ausbildung durchlaufen, dann zu scheitern drohen oder nur deshalb die Prüfung bestehen, weil man vielleicht alle Augen zudrückt. Das passiert heute leider schon sehr häufig und gefährdet im Endergebnis die Verkehrssicherheit. Außerdem unterstütze ich die Bestrebungen der deutschen Fahrlehrerschaft, ein effektives und wirksames Qualitätssicherungssystem von Fahrschulen zu etablieren. Dabei müssen Anforderungen gesetzt werden, die über den bloßen gesetzlichen Mindeststandard hinausgehen. Das Bundesverkehrsministerium ist deshalb aufgefordert, den Entwurf einer Verordnung hierzu, der sich bereits in der Anhörung befindet, alsbald in diesem Sinne auf den Weg zu bringen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion will Unterschiede im Ausbildungsniveau ausländischer Fahrlehrer möglichst ausgleichen. Wir setzen auf Dienstleistungsfreiheit und eine hohe Qualität der Ausbildung gleichermaßen. Auf diesem Wege können wir allen Interessen - national und auch auf europäischer Ebene - gerecht werden. Deshalb wird die Union dem Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Fahrlehrergesetzes ihre Zustimmung erteilen. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Dorothée Menzner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dorothee Menzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003808, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Fahrlehrergesetzes ist ein Lehrstück dessen, was nicht sein darf. Der Gesetzestext, den uns hier die Ministerialbürokraten vorgelegt haben, ist absolut missverständlich, sodass sich sein Anliegen kaum einem erschließt oder gar allgemeinverständlich ist. Werte Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen und aus dem Ministerium, Ihre Intention, Fahrlehrer aus EU-Staaten, aus assoziierten Staaten und der Schweiz bei der Ausbildungsberechtigung mit inländischen Fahrlehrern gleichzustellen, ist ja in Ordnung. Das begrüßen wir. Schließlich müssen Ausbilder hierzulande neben dem Pkw-Führerschein auch Fahrerlaubnisse für Motorrad und Lkw besitzen. Aber wenn selbst der Fachverband der Fahrlehrer den Gesetzentwurf so interpretierte, als würden die Änderungen nichtinländische Fahrlehrer begünstigen, dann ist an diesem Text irgendetwas faul, dann zeugt das schlicht von grober handwerklich-sprachlicher Undeutlichkeit. Dem können wir unsere Zustimmung nicht geben. ({0}) Wenn selbst Fachverbände, in denen Fachleute und der Sachverstand sitzen, Gesetzestexte nicht mehr verstehen oder fehlinterpretieren, wie sollen wir Abgeordnete, unsere wissenschaftlichen Mitarbeiter oder gar der Bürger draußen dann das, was wir hier beschließen wollen, verstehen und diese Gesetze dann anwenden und realisieren? Martin Luther erwartete einmal, dass man dem Volk aufs Maul schaue. Aber das reicht nicht. Wir sollten auch so sprechen und schreiben, dass das Volk uns versteht. Das ist zumindest hier nicht gelungen. ({1}) „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, steht im Grundgesetz. Dann müssen Gesetze aber so gefasst sein, dass sie vom Volk auch verstanden werden können. Wenn uns das nicht mehr gelingt, dann ist das bürokratische Geisterfahrerei. Aber dafür werden wir Linke nicht die Hand zur Zustimmung heben. ({2}) Wir haben am Sonntag in Hessen und Niedersachsen Wahlen. Das ist heute hier schon ein paarmal angesprochen worden. Aber wenn ich im Wahlkampf mit Bürgern so spräche, sei es am Stand, sei es an der Haustür oder in der Kneipe, wenn ich so kryptisch antwortete, wie dieser Gesetzestext formuliert ist, dann würde ich keine Wählerin, keinen Wähler gewinnen. Das ist unabhängig davon, welcher Partei man angehört: Die Menschen müssen uns und das, was wir wollen, verstehen. Wir Linken sprechen aber die Sprache des Volkes, ({3}) sei es beim Thema Mindestlohn, bei der Rente mit 67, bei Hartz IV oder bei der Börsenbahn, ({4}) wo wir jeweils die Mehrheitstrends auf unserer Seite haben. In den Landtagen in Hessen und Niedersachsen, wo die Linke künftig vertreten sein wird, werden wir verständlich und volksnah reden. Deswegen lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab, allein weil dieses Kauderwelsch niemandem verständlich ist. Bürger, die auf Gesetze hören sollen, müssen sie erst einmal verstehen können. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Anton Hofreiter für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der vierten Änderung des Fahrlehrergesetzes wird die EU-Richtlinie vom 7. September 2005 in nationales Recht überführt. Es wurde schon erwähnt, dass wir mit der Umsetzung mal wieder etwas zu spät dran sind. Auch sind bereits die Kernpunkte dargestellt worden. Es geht um die Anerkennung unterschiedlicher Berufsqualifikationen. Für uns ist entscheidend, dass dabei die hohen Standards erfüllt werden. Denn die Ausbildung von Fahrlehrern hat etwas mit Verkehrssicherheit zu tun. Wie ist nun dieser Gesetzentwurf zustande gekommen, und wie verliefen die Beratungen im Ausschuss? Es ist, glaube ich, relativ unumstritten, dass es sich hier um kein ideologisch besonders hoch aufgeladenes Gesetz handelt. ({0}) - Patrick hat jetzt etwas heftig und durchaus sehr engagiert dargestellt, was die FDP in den Ausschuss eingebracht hat. ({1}) Aber - ehrlich gesagt - handelte es sich dabei nur um ein paar technische Verbesserungen und Klarstellungen, die den Gesetzentwurf eindeutiger gemacht hätten. Im Ausschuss haben dem FDP-Änderungsantrag die FDP, aber auch die Grünen und die Linke zugestimmt. Allein dies macht deutlich, dass er nicht sonderlich stark ideologisch umstritten ist. Es war auch zu bemerken, dass eine ganze Reihe von Abgeordneten der Großen Koalition dem Änderungsantrag eigentlich gern zugestimmt hätte. Stattdessen haben sie ihn abgelehnt. Da fragt man sich schon, wie weit es eigentlich mit der Gesetzgebungskompetenz des Parlaments gekommen ist. Es ist Ihnen nicht einmal möglich, in einer nichtöffentlichen Ausschusssitzung bei einem ideologisch völlig unumstrittenen Thema technische Veränderungen zu akzeptieren, wenn sie von der Opposition eingebracht werden. ({2}) Ist das nicht peinlich, Leute? ({3}) Man hat manchmal das Gefühl, dass in den Zeiten der Großen Koalition dieses Parlament vom Gesetzgeber - offiziell sind wir die erste Gewalt im Staate - zum Gesetzesentgegennehmer verkommen ist. Wer macht denn Gesetze, die Regierung oder wir? Offensichtlich macht die Gesetze inzwischen die Regierung, die sie eigentlich ausführen sollte. Das liegt nicht daran, dass das Parlament formale Rechte abgegeben hätte, sondern schlichtweg daran, dass die beiden ach so großen, aber in Wirklichkeit völlig schwachen Regierungsfraktionen nicht das Rückgrat haben, einmal ihrer Regierung zu widersprechen und etwas Eigenständiges zu machen. ({4}) Dies bemerkt man ganz eindeutig auch bei wichtigen Themen. Wie gehen Sie denn zum Beispiel mit dem Thema Bahn um? Die Regierung hat einen Gesetzentwurf eingebracht, und Sie sind nicht in der Lage, im Ausschuss über ihn zu debattieren. Das ebenso wichtige Thema deutsche Flugsicherung lassen Sie mit Ihrer Mehrheit von der Tagesordnung absetzen. Fragt man nach einem so wichtigen Thema wie der Weiterentwicklung des ÖPNV, wird einem geantwortet, man sage nichts darüber, was in der Debatte sei. Nachher könnte noch darüber gesprochen werden! Das war gerade in der letzten Ausschusssitzung so. ({5}) Was ist denn das für ein Zustand? Ist das hier der Gesetzgeber? ({6}) - Schweigen im Raum. Offensichtlich hat die Große Koalition es aufgegeben. ({7}) Ganz unabhängig von den inhaltlichen Fragen ist allein die Art und Weise, wie die beiden großen und doch so schwachen Koalitionsfraktionen inzwischen die Gesetzgebungsarbeit in diesem Parlament haben verkommen lassen, Grund genug, dass diese große und doch schwache Koalition so schnell wie möglich weg gehört. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Heidi Wright das Wort.

Heidemarie Wright (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002832, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe am Anfang befürchtet, dass wir eine einfache Sache, die kompliziert aufgeschrieben wurde, langweilig diskutieren. Nein, es ist Stimmung hereingekommen. ({0}) Ich versuche, jetzt zusammenzufassen, worum es geht: um den Regierungsentwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Fahrlehrergesetzes, um die Eins-zu-einsUmsetzung einer europäischen Richtlinie. Weil es um die Umsetzung geht, war in diesem Moment kein Handlungsspielraum für weitere Regelungen gegeben. ({1}) - Wir machen eine Eins-zu-eins-Umsetzung in einem etwas verzögerten Zeitablauf, wie Sie schon sagten, und wir setzen es so um, wie wir es in Abstimmung mit dem Bundesrat aufgeschrieben haben. Ich weise nochmals ausdrücklich darauf hin, dass bei wesentlichen Unterschieden zwischen der bisherigen ausländischen Qualifikation der Bewerber und der im Inland geforderten Fahrlehrerausbildung Bewerber um eine inländische Erlaubnis wie bisher - das ist wichtig an einem Anpassungslehrgang oder einer Eignungsprüfung teilnehmen müssen. Das ist gut so; denn nur so wird sichergestellt, dass die Fahrschulausbildung in jedem Fall nur durch Fahrlehrer erfolgt, die ausreichend qualifiziert sind. Das ist unser Anliegen, Kolleginnen und Kollegen, und das ist auch das Anliegen der Fahrlehrerverbände. Deshalb nehmen wir den Brief, der uns zugegangen ist, ernst. Wir haben ihn überprüfen lassen, und wir werden dem Verband auch schreiben. Wir können die Kritikpunkte durchaus aushebeln. Es ist schon deutlich gesagt worden: Die Bedenken in Bezug auf eine Gefährdung der Verkehrssicherheit und der Qualität der deutschen Fahrschulausbildung sind nicht begründet. Das ist mir als Berichterstatterin für Verkehrssicherheit außerordentlich wichtig. Es wird weiter befürchtet, dass die gesetzlichen Berufsregelungen umgangen werden können, indem die Berufsanerkennung von Inländern im Ausland erworben wird. Auch das kann ich in Abrede stellen. Ich kann Ihnen versichern, dass die Anerkennung der Berufsqualifikation von Inländern schon wegen des Gleichheitsgrundsatzes nicht untersagt werden kann, wenn diese Qualifikation anderswo erworben wurde. ({2}) Bewerber müssen aber, wie gesagt, an einem Anpassungslehrgang oder an einer Eignungsprüfung teilnehmen. ({3}) Es wird auch kritisiert, dass mit dem Gesetzentwurf eine altbewährte Regelung aufgegeben wird, nach welcher ein Fahrlehreranwärter, auch wenn er nur die Fahrlehrererlaubnis für die Pkw-Ausbildung erwerben will, im Besitz der Fahrerlaubnis für Motorrad und Lkw sein muss. Das bleibt auch weiterhin der Fall. Frau Kollegin Menzner hat das verstanden. Herr Kollege Döring, Ihnen versichere ich noch einmal ausdrücklich, dass das so bleibt. ({4}) Weiter ist festzustellen, dass die neu einzuführende Fahrlehrererlaubnis und die Fahrschulerlaubnis der vollen Fahrschulüberwachung durch die zuständigen Landesbehörden unterliegen. Verstöße sind - das hat der Staatssekretär deutlich gemacht - Ordnungswidrigkeiten und somit bußgeldbewehrt. Die Fahrschulüberwachung wird von den Ländern in eigener Zuständigkeit wahrgenommen. Bundesrechtliche Regelungen zu Umfang und Verfahren der Fahrschulüberwachung sind verfassungsrechtlich ausgeschlossen. Wir erleichtern die Überwachung durch die Einführung einer neuen Meldepflicht. Der Inhaber einer Fahrlehrer- bzw. Fahrschulerlaubnis, die zur vorübergehenden und gelegentlichen Fahrschülerausbildung berechtigt, muss den zuständigen Landesbehörden jährlich formlos Meldung machen, wo er beabsichtigt, in dem betreffenden Jahr Fahrschüler auszubilden. Auch der Verstoß gegen diese Meldepflicht ist eine Ordnungswidrigkeit und somit bußgeldbewehrt. Ich komme zum Schluss. Ich begrüße, dass zur praktischen Durchführung der Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen das Bundesverkehrsministerium den Ländern seine aktive Mitarbeit angeboten hat. Auch die Bundesvereinigung der Fahrlehrerverbände wird sich beteiligen. Ich erinnere daran, dass der Bundesrat in seiner Stellungnahme vom 30. November 2007 mehrere Änderungen des Gesetzentwurfs empfohlen hat. Die Bundesregierung hat in ihrer Gegenäußerung zwei dieser Änderungsvorschläge akzeptiert. Ich bitte um Ihre Zustimmung und danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Fahrlehrergesetzes. Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7819, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 16/7080 und 16/7417 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit mit den Stimmen der Unionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der FDPFraktion und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Markus Kurth, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Gegen Armut trotz Arbeit - Strategie zur Stärkung geringer Einkommen - Drucksache 16/7751 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss Vizepräsidentin Petra Pau Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten Redezeit erhalten soll. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Armut trotz Arbeit ist inzwischen für viele Menschen in Deutschland die Wirklichkeit ihres Alltags geworden. Sie wissen: Weit über 1 Million Menschen erhalten ergänzend zu ihrer Erwerbstätigkeit Arbeitslosengeld II. Über die Hälfte von ihnen sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Die weitere Gruppe, die davon betroffen ist, ist die Gruppe derer, die im Niedriglohnbereich arbeiten und deren Zahl zunimmt. Eine Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat ergeben, dass der Niedriglohnbereich in wenigen Jahren von 15,3 auf 18,3 Prozent angestiegen ist. Diese Entwicklung hält leider ungebrochen an. Armut ist aber nicht nur eine Frage der Höhe von Löhnen. Armut hat in Deutschland leider auch sehr viel mit dem Familienstand zu tun. Immer noch sind in Deutschland Kinder ein Armutsrisiko. In besonderer Weise negativ betroffen sind die Alleinerziehenden, aber auch die Paare mit mehreren Kindern. Es ist nicht so, dass die Bundesregierung dieses Problem nicht sieht, aber sie hat keine abgestimmte Strategie, um der Verarmung von Erwerbstätigen wirklich entgegenzuwirken. Sie können sich nicht über den Mindestlohn verständigen - dieses Theater haben wir hier über Monate miterlebt -, Sie können sich aber leider auch nicht darüber verständigen, mit welchen anderen unterstützenden Maßnahmen Sie Armut verhindern wollen. Ich kann Ihnen nur eines sagen: Der im Bundesarbeitsministerium diskutierte Erwerbstätigenzuschlag ist mit Sicherheit nicht die Lösung. ({0}) Damit schaffen Sie letztlich nichts anderes als ein Parallelsystem zum Arbeitslosengeld II, das überhaupt keine Verbesserungen für die Geringverdienerinnen und Geringverdiener bringt. Die Erstbeantragung, aber auch die Wiederbeantragung ist hochbürokratisch, und die Prüfbürokratie unterscheidet sich nicht wirklich von der bei der Beantragung von Arbeitslosengeld II. Was ich als Skandal empfinde: Die Kosten für diesen Erwerbstätigenzuschlag sollen die Beitragszahler übernehmen. Ich bitte Sie. Warum sind eigentlich die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler dafür zuständig, die Rahmenbedingungen für den Niedriglohn zu verbessern? ({1}) Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und müsste im Zweifel aus Steuern finanziert werden. ({2}) Sie müssten dafür viel Geld in die Hand nehmen; denn die Mitnahmeeffekte, die zu erwarten sind, sind nicht von Pappe. Der Erwerbstätigenzuschlag bringt denjenigen mit geringen Einkommen nichts, er ist hochbürokratisch und teuer. Das scheint nun auch der neue Arbeitsminister Scholz langsam begriffen zu haben. Es dämmert ihm, dass die Erbschaft, die er von Herrn Müntefering übernommen hat, wirklich keine gute Erbschaft ist. ({3}) Ich kann Ihnen, Herr Scholz, nur sagen: Beerdigen Sie dieses Projekt, und zwar schnell, und beerdigen Sie es lautlos! ({4}) Wenn wir die Abhängigkeit von Menschen von der Grundsicherung wirklich beenden wollen, dann brauchen wir kein ALG light. Wir sollten stattdessen die kleineren Einkommen stärken und die vorgelagerten Systeme verbessern, sodass die Menschen erst gar nicht in die Abhängigkeit von ALG II kommen. Dafür haben wir als Oppositionsfraktion Ihnen ein wirklich gutes, abgestimmtes Konzept vorgelegt. Ich will die Punkte ganz kurz nennen. Wir wollen die Situation der Geringverdienerinnen und Geringverdiener verbessern, indem wir ganz gezielt die Lohnnebenkosten im unteren Einkommensbereich mit unserem Progressivmodell absenken. Wir wollen Mindestlöhne für alle Branchen - partielle Lösungen reichen bei weitem nicht aus -, und wir müssen die Maßnahmen zur Existenzsicherung von Kindern verbessern. Wir haben heute umfangreich über den Kinderzuschlag diskutiert. Das ist ein Instrument, um die Situation von Eltern und auch Alleinerziehenden zu verbessern. Schließlich müssen wir das Wohngeld reformieren. Da reichen verwaltungstechnische Änderungen wirklich nicht aus. ({5}) Von dem, was Sie vorlegen, kann sich nun wirklich keiner und keine etwas kaufen. Die Aufwertung des Wohngeldes wäre ein Instrument, das dazu führen würde, dass die Menschen erst gar nicht Arbeitslosengeld II beziehen müssten. Es ist ein umfangreiches und sehr konsistentes Konzept, das wir Ihnen hier vorlegen. Die Bundesregierung liefert nur einen Streit um den Mindestlohn, einen Profilierungskampf zwischen Familienministerium und Arbeitsministerium in Sachen „Kinderzuschlag versus Erwerbstätigenzuschlag“ und einen Streit um die Erhöhung des Wohngelds - Tiefensee gegen Steinbrück. Wie Kai aus der Kiste kommt jetzt auch noch Umweltminister Gabriel und sagt: Armutsbekämpfung? Das können wir doch auch lösen, indem wir die Energieversorger auffordern, Sozialtarife anzubieten. (Beifall der Abg. Bettina Herlitzius ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Pothmer, Sie müssen jetzt bitte zum Schluss kommen.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme sofort zum Schluss. Ich sage Ihnen: Das ist kein Konzept gegen Armut. Es hilft den Armen nicht. Es ist armselig. Ich danke Ihnen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Karl Schiewerling für die Unionsfraktion. ({0})

Karl Schiewerling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003839, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Reformen am Arbeitsmarkt, Neustrukturierung der Betriebe, insbesondere der inhabergeführten Klein- und Mittelbetriebe, motivierte, gut qualifizierte und verantwortungsbewusste Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, eine gute Weltkonjunktur und nicht zuletzt eine verlässliche Politik der Großen Koalition haben zu mehr Beschäftigung, einem erheblichen Abbau von Arbeitslosigkeit und besseren Bedingungen für die Arbeitnehmer geführt. ({0}) Die Zahl der Arbeitslosen ist im Dezember 2007 auf knapp 3,4 Millionen gesunken. Das ist ein Rückgang um 1,2 Millionen seit 2005. Vor zwei Jahren war in den Umfragen bei den Bürgerinnen und Bürgern die Sorge um den Arbeitsplatz noch das Topthema. Bei aktuellen Umfragen ist dies zurückgefallen. Wir sagen Ihnen: Das mag ein gutes Zeichen sein. Es wird uns in der Großen Koalition aber nicht davon abhalten, das Thema Arbeitslosigkeit weiterhin in den Mittelpunkt unserer Politik zu stellen. ({1}) Besonders freue ich mich darüber, dass auch Langzeitarbeitslose vom konjunkturellen Aufschwung profitieren. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen konnte in den letzten zwei Jahren um über 400 000 gesenkt werden. Aber hierzu sage ich Ihnen: 2,37 Millionen Langzeitarbeitslose sind auch aus unserer Sicht noch zu viel. ({2}) Es gibt geringe Löhne, die dazu führen, dass immer mehr Erwerbstätige trotz Beschäftigung vom Staat unterstützt werden müssen. Diese Menschen bezeichnen Sie in Ihrem Antrag per se als arm. Als Beleg dafür wird die wachsende Zahl der sogenannten Aufstocker angeführt, also derjenigen, die zusätzlich Mittel nach dem Sozialgesetzbuch II bekommen. Die Zahl der Aufstocker an sich ist nach meinem Dafürhalten aber noch kein hinreichendes Indiz für die gesamte Situation, die Sie skizziert haben. Wir müssen die Bewertung des Bundeswirtschaftsministeriums und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung ernst nehmen, nach der die große Zahl der Aufstocker auch eine Folge von Regelungen im SGB II ist. Wir finden unter den Aufstockern eine hohe Zahl solcher Personen, die nur vorübergehend in dieser Empfängersituation sind. Untersuchungen zeigen, dass bereits nach 65 Tagen nur noch die Hälfte Leistungen nach dem SGB II beziehen. Das wechselt also. Wir haben es nicht mit einem monolithischen Block zu tun, sondern mit ständiger Veränderung. In der Untersuchung des Bundeswirtschaftsministeriums wird übrigens auch festgestellt, dass sich für Alleinstehende eine Arbeitsaufnahme erst bei einem Brutto von 1 200 Euro und für einen Alleinverdiener mit zwei Kindern erst bei einem Brutto von 2 050 Euro lohnt. Das hängt mit der Familienkomponente zusammen und stellt sich in dieser Kombination arbeitsmarktpolitisch durchaus als Problem dar. Frau Pothmer, der Titel Ihres Antrags lautet „Gegen Armut trotz Arbeit“. ({3}) Doch was bedeutet „arm“? Arm nach der Definition der Vereinten Nationen ist, wer weniger als 1 US-Dollar am Tag zum Leben hat, keine medizinische Versorgung, kein sauberes Wasser und keine Chance hat, Lesen und Schreiben zu lernen. ({4}) Davon sind 1,2 Milliarden Menschen betroffen. Ich sage Ihnen: eine Katastrophe. ({5}) Die Weltgesundheitsorganisation definiert denjenigen als arm, der weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens seines Heimatlandes zur Verfügung hat. Armut hat viele Facetten, doch in Deutschland - das sage ich an dieser Stelle sehr bewusst - fällt dank der Grundsicherung niemand ins Bodenlose. Um es auf den Punkt zu bringen: Arbeitslosengeld II macht nicht arm, sondern bewahrt vor absoluter Armut. ({6}) Ich kann es nicht nachvollziehen, warum diese Grundsicherung zu einem Schimpfwort geworden ist, obgleich die Menschen Geld, übrigens von Steuerzahlern erarbeitet und eingezahlt, und gemäß den gesetzlichen Grundlagen Hilfe erhalten, um aus der Arbeitslosigkeit herauszukommen. Meine Damen und Herren, ja, es gibt arme Menschen in Deutschland. Es gibt auch zu viele arme Menschen in Deutschland. Aber an dieser Stelle rate ich uns, den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung abzuwarten. Wir werden über ihn in diesem Hause sicherlich diskutieren. Frau Pothmer, in Ihrem Antrag fordern Sie de facto die Einführung von Mindestlöhnen für alle Branchen. ({7}) Sie vermeiden dabei den Begriff des gesetzlichen Mindestlohns. Sie wollen die Tarifautonomie stärken. Das halten wir für richtig. Aber Sie setzen die Bedingungen so, dass de facto doch ein gesetzlicher Mindestlohn dabei herauskommt. ({8}) Ich will mich nicht auf eine volkswirtschaftliche Diskussion einlassen. Ich will auch nicht sagen, wie die einzelnen Diskussionsstränge zu bewerten sind. ({9}) Gestatten Sie mir jedoch einige grundsätzliche Ausführungen zu dieser Frage unter anderen Gesichtspunkten. Wir wollen, dass die Tarifpartner untereinander die Löhne aushandeln. Der Staat hat hier nicht einzugreifen. ({10}) Die Tarifautonomie ist ein Pfeiler der freiheitlich-demokratischen Grundordnung unseres Staates und muss dies auch in Zukunft bleiben. Selbst bei den Gewerkschaften ist die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns umstritten. Hubertus Schmoldt und der Vorsitzende der IG Metall in Nordrhein-Westfalen haben jüngst darauf hingewiesen. In einer sich zunehmend individualisierenden Gesellschaft wird immer mehr vom Staat gefordert. Statt der Gesellschaft soll der Staat alle Probleme lösen. In unserer sozialen Marktwirtschaft haben allerdings die Arbeitnehmerorganisationen, sprich die Gewerkschaften, und die Arbeitgeberverbände die Aufgabe, im Rahmen ihrer wirtschaftspolitischen Verantwortung Löhne auszuhandeln. Mit großer Besorgnis sehe ich, dass immer mehr Arbeitgeber ihren Organisationen den Rücken kehren (Dr. Thea Dückert ({11}): Reden Sie über unseren Antrag oder worüber? und sich nicht mehr genügend Mitglieder in den Gewerkschaften organisieren. Ordnungspolitisch geht das in Deutschland auf Dauer gesehen nicht gut. Das müssen wir den Arbeitgebern genauso wie den Arbeitnehmern sagen. ({12}) Wenn der Staat alle Probleme lösen soll, wird er überfordert. Das gilt übrigens auch für alle anderen Bereiche unserer Gesellschaft. Die Konsequenz wären mehr Gesetze, mehr Regelungen, zusätzliche Bürokratie und mehr Politikverdrossenheit bei den Menschen. Mehr Staat heißt nämlich nicht mehr Gerechtigkeit. ({13}) Allerdings treibt mich wie viele andere hier in diesem Hohen Hause die Sorge um, dass bestimmte Arbeitgeber die Gesamtsituation zu Lohndumping nutzen ({14}) und sich so einen Wettbewerbsvorteil gegenüber ihrer lästigen Konkurrenz verschaffen. Ich halte dies unter dem Gesichtspunkt, dass wir eine Marktwirtschaft haben, für eine Katastrophe. ({15}) Deswegen erwarte ich, dass sich die betroffenen Branchen wehren und mit den Gewerkschaften auch aus eigenem betrieblichen Interesse eine Lohnuntergrenze vereinbaren. Im Übrigen ist die Koalition dabei, genau diese Frage im Mindestarbeitsbedingungengesetz und im Entsendegesetz zu regeln. Ich teile ausdrücklich das von den Grünen in ihrem Antrag formulierte Ziel, zukünftig die Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen zu verringern. Hierzu fordern Sie in Ihrem Antrag, die Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familienarbeit zu verbessern. Das wollen wir auch. Deswegen hat die Große Koalition den Ausbau der Betreuungsangebote für unter Dreijährige beschlossen und familienpolitische Maßnahmen ergriffen, die zwischenzeitlich schon auf den Weg gebracht wurden. Frau Pothmer, Sie fordern in Ihrem Antrag die Senkung der Lohnnebenkosten. ({16}) Genau das haben wir gemacht. ({17}) Wir haben den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung kontinuierlich gesenkt. Gestartet sind wir bei 6,5 Prozent. Jetzt liegt dieser Beitrag bei 3,3 Prozent. Ein Arbeitnehmer mit 2 000 Euro brutto hat im Jahr etwa 750 Euro mehr in der Tasche. ({18}) Ich sage Ihnen: Wir müssen die Lohnnebenkosten für alle senken. Dann haben alle etwas davon, nicht nur alle Beschäftigten, nicht nur die sogenannten Geringverdiener, also die, die wenig verdienen, sondern auch und besonders die sozialen Sicherungssysteme; denn die Senkung von Lohnnebenkosten schafft Beschäftigung, und Beschäftigung schafft mehr Beitragszahler. Das haben wir getan. Das nenne ich eine erfolgreiche Politik. ({19}) Auch wenn das Bemühen im Antrag von Bündnis 90/ Die Grünen um eine sachgerechte Lösung sichtbar ist - das sage ich ausdrücklich -, so können wir diesem Antrag aus den inhaltlichen Gründen, die ich gerade dargelegt habe dennoch nicht zustimmen. ({20})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Jörg Rohde das Wort. ({0})

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Schiewerling, was Ihren Beitrag angeht, möchte ich etwas Lob und Kritik äußern. Zunächst möchte ich Kritik üben. Die Definition von Armut der EU hat mir bei Ihnen gefehlt. Hätten Sie diese Definition zugrunde gelegt, wären Sie ein bisschen näher an den deutschen Verhältnissen. Loben möchte ich ausdrücklich Ihr Bekenntnis zur Tarifautonomie. Das hat uns als Liberale sehr gefreut. Aber ein richtig klares Bekenntnis „Wir machen keinen gesetzlichen Mindestlohn“ hat mir in Ihren Ausführungen gefehlt. ({0}) Werte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, auf vier Seiten führen Sie aus, was die FDP schon seit langem mit vier Worten zum Ausdruck bringt: Mehr Netto vom Brutto. ({1}) Das ist es, was die Geringverdiener in Deutschland brauchen. Ihr Antrag enthält viele richtige Feststellungen. Leider ziehen Sie aus den meisten Erkenntnissen aber die falschen Schlüsse. Zugegeben, auf den ersten Blick erscheint Ihr Vorschlag einer Progression der Sozialversicherungsbeiträge interessant. Aber schon einem zweiten Blick hält er leider nicht stand; denn, erstens, entziehen Sie den Sozialversicherungen Beiträge in erheblicher Höhe und, zweitens, segmentieren Sie den Arbeitsmarkt zusätzlich. Wenn Sie bei 2 000 Euro eine Grenze einziehen, ab der erst volle Sozialversicherungsbeiträge fällig werden, müssen Sie in Kauf nehmen, dass viele Arbeitnehmer diese Hürde niemals überwinden werden. Jeder Arbeitgeber wird sich zweimal überlegen, ob er einen Arbeitsplatz nicht so gestalten kann, dass er ihn auch mit weniger als 2 000 Euro entlohnen kann, weil die Lohnnebenkosten dann niedriger sind. ({2}) Leidtragend bei einer solchen Sozialversicherungsprogression wäre die breite Mitte der Gesellschaft. Das können Sie nicht wirklich wollen. ({3}) Lohnnebenkosten senken ist richtig, aber wenn, dann für alle und nicht nur für wenige. ({4}) Die Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf weitere Branchen oder die Einführung eines allgemeinen Mindestlohns ist nicht der richtige Weg zu mehr Beschäftigung, sondern maximaler Unsinn. ({5}) Ein zu hoch angesetzter Mindestlohn vernichtet Arbeitsplätze und stärkt allein die Schwarzarbeit. Ein zu niedrig angesetzter Mindestlohn ist wirkungslos. Das tragen wir Liberalen Ihnen gebetsmühlenartig vor. ({6}) Im Lohngefüge spiegeln sich die Nachfrage nach Arbeitskräften und die Produktivität der Beschäftigten wider. Hier per Gesetz einzugreifen, ist nichts anderes als Planwirtschaft. Die Konsequenzen kennen wir: Unternehmen und Arbeitsplätze wandern ab, und allein die Schwarzarbeit wird blühen. ({7}) Vor allem Geringverdiener wären dabei die Leidtragenden; denn um deren Arbeitsplätze geht es. Wenn Sie Geringverdiener stärken wollen, müssen Sie bei den Lohnnebenkosten entlasten. Dann bleibt vom Brutto auch mehr übrig. Herr Schiewerling, Sie haben die Arbeitslosenversicherung angesprochen. Daher will ich nur an die Rentenversicherung und an die Pflegeversicherung erinnern. Bezüglich der Krankenversicherung machen wir alle ein großes Fragezeichen, wenn es um die Frage geht, was am Ende des Jahres auf uns zukommt. ({8}) - Ich würde Ihnen ausnahmsweise zustimmen, wenn Sie behaupten, dass es in diesem Jahr vielleicht noch zu einer Entlastung kommt. Wir haben es schon gesagt: Im letzten Jahr gab es erhebliche Belastungen, die durch die kleine Entlastung in diesem Jahr nicht ausgeglichen werden können. ({9}) Das alles holen Sie über die mittleren und hohen Einkommen nicht wieder herein. Auch die Forderung, die Existenzsicherung von Kindern zu verbessern, ist zweifellos richtig. Ob aber allein eine Ausweitung des Kinderzuschlags auf mehr Anspruchsberechtigte die Lösung ist, bezweifle ich. ({10}) Wie wollen Sie sicherstellen, dass die Förderung auf jeden Fall beim Kind ankommt und zu dessen Wohle verwandt wird? Ich habe die Sorge, dass bei einer reinen Geldleistung zu viele Kinder durchs Raster fallen. Mir scheint es richtig zu sein, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass alle Kinder die gleichen Startchancen haben. Wir brauchen ein breites, vielfältiges und für alle bezahlbares Kinderbetreuungsprogramm, das jedem Kind zugute kommt, optimale Bildungsangebote ab dem Kindergartenalter, und vor allem müssen wir bessere Rahmenbedingungen für erwerbstätige Eltern schaffen; denn der beste Schutz gegen Kinderarmut ist die Berufstätigkeit beider Elternteile. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, das stellen Sie in Ihrem Antrag selbst fest. Schade finde ich, dass Sie, werte Grüne, in Ihrem Antrag keine Auskunft darüber geben, wie die von Ihnen geplante Aufwertung des Wohngeldes finanziert werden soll und vor allem von wem. Mehr Anspruchsberechtigte, höhere Freibeträge bei der Einkommensanrechnung, eine Erhöhung und eine stärkere Berücksichtigung der Nebenkosten - das sind ja gleich vier Wünsche auf einmal. Das geht nun wirklich nicht, vor allem nicht bei den Kommunen. Ich stimme Ihnen zu, dass wir beim Wohngeld etwas machen müssen. Es ist nicht hinnehmbar, dass Bezieher von Arbeitslosengeld II Unterkunfts- und Heizkosten fast vollständig vom Staat ersetzt bekommen, während Bezieher von Wohngeld nur einen Zuschuss zur Grundmiete und zu den sogenannten kalten Betriebskosten erhalten. Auch steigende Nebenkosten müssen Berücksichtigung finden. Wir dürfen aber nicht so tun, als müsse man das Geld nur drucken. Lassen Sie bitte Vernunft einkehren und uns nach einer gerechten Lösung suchen, die auch finanziert werden kann. Meine Damen und Herren aller Fraktionen, ich fasse noch einmal zusammen: ({11}) Wir brauchen keinen Mindestlohn, wir brauchen keinen Erwerbstätigenzuschuss, wir brauchen keinen Rabatt bei den Sozialversicherungsbeiträgen, sondern wir brauchen mehr Arbeitsplätze, und zwar in allen Lohngruppen. ({12}) Der einfachste Weg dahin liegt in einer konsequenten Senkung der Beiträge zur Sozialversicherung. Dann rechnet sich Arbeit in Deutschland besser, und dann können mehr Arbeitsplätze in Deutschland entstehen. Damit würde sich auch die Finanzierung der Sozialversicherungssysteme in Deutschland entspannen. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Rohde, Sie müssen bitte zum Schluss kommen. ({0})

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ein letzter Satz, Frau Präsidentin. Eine flexible Regelung des Renteneintrittsalters bei gleichzeitiger Abschaffung aller Zuverdienstgrenzen und die Einführung des liberalen Bürgergeldes wären die richtigen Weichenstellungen für mehr Arbeitsplätze. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Rolf Stöckel das Wort. ({0})

Rolf Stöckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003240, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unbestritten ist, dass tatsächliche oder relative Armut für zu viele Menschen trotz Arbeit Realität ist. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fordert deshalb zu Recht ein abgestimmtes Konzept, mit dem die „Verarmung Erwerbstätiger erfolgreich bekämpft und ihre Abhängigkeit von der Grundsicherung“ nach SGB II „vermieden werden kann“. Das fordert sie in Übereinstimmung mit der SPDBundestagsfraktion und der überwältigenden Mehrheit der Menschen in der Bundesrepublik, wenn man den repräsentativen Umfragen Glauben schenken kann. Die große Zustimmung in der Bevölkerung zeigt sich übrigens auch bei der Unterschriftenaktion für Mindestlöhne, die die SPD in Hessen durchführt. Ich darf daran erinnern, dass wir während der rot-grünen Regierungszeit gemeinsam ein abgestimmtes Konzept arbeitsmarktpolitischer Reformen entwickelt haben, das wir nun in der Großen Koalition gemeinsam mit der CDU/CSU-Fraktion auf der Grundlage des Koalitionsvertrages und im Lichte der Realitäten weiterentwickeln. Ich erinnere daran, dass die Regelungen der Mini- und Midijobs, die zu widersprüchlichen Wirkungen geführt haben, von SPD und Grünen gemeinsam beschlossen worden sind. Das heißt nicht, dass sie nicht verändert werden könnten. Darüber werden wir uns mit unserem Koalitionspartner auseinandersetzen. ({0}) Ich glaube, beiden Regierungen ist eines gemeinsam, nämlich das Ziel - das ist heute wie damals unbestritten -, möglichst viele Menschen zu qualifizieren und in gut bezahlte Beschäftigung zu vermitteln. Gerade für Familien mit Kindern und Alleinerziehende ist das aber keine Garantie für ein existenzsicherndes Einkommen, das oberhalb der Bedürftigkeitsgrenze liegt; das müssen auch Sie eingestehen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass sowohl seitens der Arbeitgeber als auch der Erwerbstätigen das Bedürfnis nach Teilzeitarbeit steigt, und es zunehmend gebrochene Erwerbsbiografien gibt. Wir müssen auch die Entwicklungen im Bereich der Zeitarbeit zur Kenntnis nehmen. Bezüglich der Zahlen zu den sogenannten Aufstockern beziehen Sie sich auf eine IAW-Studie von November 2007. Ich will an dieser Stelle deutlich machen, dass man die Problematik der Aufstocker nicht so pauschal beurteilen kann. Rund 459 000 Personen gehörten 2005 zehn Monate und länger zu den Aufstockern. 325 000 Personen bezogen 2005 ganzjährig aufstockend ALG II; das sind fast 10 Prozent aller erwerbsfähigen Hilfsbedürftigen. Wer nicht mehr aufstockt, beendet noch lange nicht den Bezug von ALG II. In 20 Prozent der Fälle endet das Aufstocken nach einem Monat, und zwar je hälftig wegen Aufgabe der Erwerbstätigkeit oder wegen Beendigung der Hilfsbedürftigkeit. Ich will damit nur sagen, dass wir dieses Problem nicht so pauschal beurteilen können, wie Sie es in Ihrem Antrag getan haben. Vielmehr brauchen wir differenzierte Lösungskonzepte. Frau Pothmer, es ist eindeutig ein Erfolg unserer gemeinsamen Anstrengungen, dass die Arbeitslosigkeit insgesamt spürbar gesunken ist, mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigung geschaffen wurde und zunehmend auch Langzeitarbeitslose wieder eine Perspektive erhalten. Die Zahl der Arbeitsuchenden ist von 5 Millionen im Jahre 2005 auf 3,8 Millionen gesunken. Nach den neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes ist die relative Armutsquote von 13,5 Prozent im Jahre 2002 um knapp einen Prozentpunkt auf 12,7 Prozent im Jahre 2005 gesunken, bei den erwerbstätigen Personen sogar auf 5,5 Prozent. Das reicht uns noch lange nicht; aber die Zahlen zeigen, dass wir mit Sicherheit auf dem richtigen Weg sind. ({1}) Im Übrigen haben wir im Rahmen der Reformen der Agenda 2010 geregelt, dass Geringverdiener ihren Lohn mit ALG II aufstocken können und damit quasi ein Kombi-Einkommen erzielen. Die Zahl derjenigen, die als Aufstocker ALG II beziehen, ist gewachsen, weil wir Rechtsansprüche auf höhere Hinzuverdienste und ein höheres Schonvermögen und damit Beschäftigungsanreize im Bereich der Teilzeitarbeit geschaffen haben. Dazu kann man sich bekennen; es war nämlich gewollt. Es ist besser, wenigstens einen Teil des Lebensunterhalts als Arbeitnehmer selbst zu verdienen, als voll von staatlichen Transferleistungen zu leben. ({2}) Davon profitieren nicht nur Erwerbstätige, sondern auch die Steuerzahler. Würde sich ein Aufstocker arbeitslos melden - etwa weil er die falsche Moral vertritt, man müsse sich vom Staat holen, was er bietet -, dann stiegen die Ausgaben für ALG II. Auch die Hilfe für Teilzeitler war vom Gesetzgeber gewollt. Damit sollten vor allem Alleinerziehende unterstützt werden; der Einstieg in den Beruf sollte insgesamt erleichtert werden. ({3}) Insgesamt kann die Aufstockerregelung als Sprungbrett in eine existenzsichernde Arbeit betrachtet werden. Es ist wahrscheinlich nie ganz auszuschließen, dass es Mitnahmeeffekte gibt und dass Arbeitgeber die Regelung für Lohndumping missbrauchen. Dem wollen wir - da sind wir uns einig - mit Mindestlöhnen entgegentreten. ({4}) Ich freue mich, dass die Schlussfolgerung aus unserer damaligen Zusammenarbeit zu der Frage der Ursachen von Armut - beispielsweise die fehlende Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie der Mangel an Kinderbetreuung und Ganztagsschulen - der europäischen Sichtweise entspricht, dass die Berufstätigkeit beider Elternteile - Kollege Schiewerling hat es gesagt - der beste Schutz vor Armut, insbesondere vor Kinderarmut, ist. ({5}) Wenn Sie das skandinavische Sozialstaatsmodell zum Vorbild nehmen - dafür spricht eine Menge, nicht nur Ihr Antrag -, dann müssen Sie der Öffentlichkeit aber die ganze Wahrheit sagen. Wenn das seriös finanziert werden soll, müssen nicht nur die sozialen Leistungssysteme effizienter werden, sondern auch die Staatsquote - Steuern und Abgaben - konsequent erhöht werden. Dazu sagen Sie in Ihrem Antrag aber überhaupt nichts. Er ist offensichtlich mit heißer Nadel gestrickt und ist damit ein typischer Oppositionsantrag. Er enthält keine Angaben zu den Finanzierungsfragen. Man sucht vergebens ein abgestimmtes Konzept und eine Einschätzung der Wirkungen im Gesamtzusammenhang. ({6}) Sie etikettieren das Freibetragsmodell des DGB in das grüne Progressivmodell um. Sie plädieren also für eine Absenkung der Sozialversicherungsbeiträge der Geringverdiener und ihrer Arbeitgeber und tun so, als sei das schon die Lösung. Sie behaupten, höhere Einkommen würden stärker belastet; irgendeinen Hinweis darauf, wie das geschehen soll, suche ich in Ihrem Antrag aber vergebens. ({7}) Sie verwerfen das Konzept des Beschäftigtenbonus, wollen aber gleichzeitig mit einem Kinderzuschlag und einer Wohngelderhöhung dafür sorgen, dass Aufstocker den Bezug von Arbeitslosengeld II beenden können. ({8}) Die SPD hat ein abgestimmtes Konzept zur guten Arbeit vorgelegt. Darüber verhandeln wir mit unserem Koalitionspartner. Wir haben einen Koalitionsbeschluss vom 18. Juni 2007. Der Arbeitsminister wird zeitnah - wir hoffen, noch vor der Sommerpause - ein Konzept für ein neues Arbeitnehmer-Entsendegesetz und für ein Mindestarbeitsbedingungengesetz vorlegen, um die Mindestlöhne durchzusetzen, und zwar mit dem Vorrang tariflicher Mindestlöhne, so wie Sie es auch verfolgen. Dass die CDU/CSU da noch nicht ganz folgen kann, wird sich vielleicht nach dem nächsten Sonntag ändern. Wir hoffen das sehr. Ich bin sicher, dass unser Konzept im Sinne unserer gemeinsamen Zielsetzung, nämlich gute Arbeit, gerechte Löhne und vor allen Dingen neue Regelungen, neue soziale Sicherungen im Sinne einer flexiblen Sicherheit und neue Arbeitsverhältnisse in einer neuen Kultur der Arbeit, gelingen wird. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch das Wort. ({0})

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mein persönlicher Wahlslogan im Jahr 2005 war: Von Arbeit muss man leben können. ({0}) Darum unterstütze ich jede grundlegende Reform, die diesem Ziel dient. ({1}) Aber ich glaube, wir müssen an die Dinge grundlegend herangehen. Ich möchte daran erinnern, dass im Jahr 2003 auf Vorschlag von Bundeskanzler Schröder Rot-Grün die HartzGesetze beschlossen hat. Meine Kollegin Petra Pau, die jetzt als Präsidentin hier vorne sitzt, und ich haben vor diesen Hartz-Gesetzen gewarnt und darauf verwiesen, dass diese Gesetze massenhaft Armut erzeugen werden. Wir haben die Situation in den USA beschrieben. Dort lebten schon viele Menschen trotz Arbeit in Armut. Sie waren schon damals gezwungen, mehrere Mc-Jobs anzunehmen, um ihren Lebensunterhalt finanzieren zu können. Unsere Warnungen wurden damals einfach ignoriert. Jetzt müssen wir feststellen, dass die HartzGesetze genau die Wirkungen hervorgerufen haben, vor denen wir damals gewarnt haben. ({2}) CDU/CSU, SPD und Grüne haben die Verarmung von Millionen von Menschen billigend in Kauf genommen. ({3}) Dazu, dass Kollege Stiegler von der SPD heute Morgen im Plenum sagte, man konnte ja nicht wissen, dass die Unternehmen die Gesetzgebung über die Leiharbeit so ausnutzen würden, frage ich: Wie naiv können führende Sozialdemokraten sein? Das ist doch wirklich nicht zu fassen. ({4}) Meine Damen und Herren von den Grünen, ich fordere aber auch Sie auf, einmal darüber nachzudenken, ob es nicht redlich wäre, in Ihrem Antrag selbstkritisch über Ihre Fehler einige Worte zu verlieren und eine grundlegende Reform der Hartz-Gesetze einzufordern. Sie versuchen, über Ihre eigene Geschichte stillschweigend hinwegzugehen. Doch ich kann Ihnen versichern: So vergesslich sind die Menschen nicht. ({5}) - Wir gehen über unsere eigene Geschichte, verehrter Herr Kollege Brauksiepe, nicht stillschweigend hinweg. Wir setzen uns damit intensiv auseinander. ({6}) Das unterscheidet uns voneinander. ({7}) Im Antrag der Grünen wird auf die schnell steigende Zahl von Menschen hingewiesen, die trotz Arbeit ihren Lebensunterhalt nicht finanzieren können. Wir haben - das muss man hier einmal betonen - die absurde Situation, dass es eine Anzahl von Unternehmen in unserem Land gibt, die die Löhne ihrer Mitarbeiter mit dem Hinweis senken, dass sie sich das restliche Geld doch vom Staat holen können. Ich denke, diese Situation ist nicht hinnehmbar. ({8}) Uns von den Linken wird gern vorgeworfen, wir könnten nicht rechnen und wüssten nicht, wie man Geld zusammenzählt. Darum möchte ich hier, obwohl ich nicht kleinkariert bin, auf eine sehr ärgerliche Geschichte eingehen. Ich hatte die Bundesregierung gefragt, wie viel Geld der Bund im Jahr 2007 für die Aufstocker gezahlt hat. Vor einigen Monaten wurde mir erst die Zahl von 8 Milliarden Euro pro Jahr genannt, dann waren es plötzlich 13 Milliarden Euro. ({9}) Ich muss Ihnen sagen: Wenn das Ministerium, das dafür verantwortlich ist, sich um 50 Prozent irrt und uns von Kollegen aus der SPD vorgeworfen wird, wir könnten nicht rechnen, dann ist das für mich keine Kleinigkeit. Dann sage ich das auch in aller Öffentlichkeit. ({10}) Ungefähr 9 Milliarden Euro werden im Jahr für Aufstocker ausgegeben. Auch das ist keine Kleinigkeit. Um das für die Zuhörer einmal im Vergleich darzustellen: So viel gibt der Bund in einem Jahr für Wissenschaft und Forschung aus. Um die Situation zu verbessern, gibt es ein Mittel, das uns allen bekannt ist: den gesetzlichen Mindestlohn. Es ist an der Zeit, den gesetzlichen Mindestlohn endlich einzuführen, nicht mit Unterschriftenlisten dafür durch Landtagswahlkämpfe zu ziehen, sondern hier im Deutschen Bundestag, wo er beschlossen werden kann, dafür die Hand zu heben und abzustimmen ({11}) und nicht zu behauten, dass diejenigen, die ordnungsgemäße Anträge in den Deutschen Bundestag zu dieser Frage einbringen, Populisten seien. Die Populisten sind die, die mit Unterschriftenlisten in die Wahlkämpfe ziehen, dann aber im Bundestag Anträge auf Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes ablehnen, ({12}) obwohl es hier im Plenum eine strukturelle Mehrheit für den Mindestlohn gibt. ({13}) Frau Präsidentin, ich bin sofort fertig. - Über die Kinderarmut haben wir heute Nachmittag schon gesprochen; darauf kann ich nicht mehr eingehen. ({14}) Wir müssen die grundlegenden Ursachen beseitigen, die dazu führen, dass Menschen nicht von ihrer Arbeit leben können. Was wir brauchen, sind gute Arbeit und sichere Arbeitsverhältnisse. Wir müssen die Gesetze im Bundestag so gestalten, dass sich die Menschen darauf verlassen können. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({15})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/7751 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Kontopfändungsschutzes - Drucksache 16/7615 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe dem Parlamentarischen Staatssekretär Hartenbach das Wort erteilt, nicht dem gesamten Plenum. Ich bitte darum, die nötige Aufmerksamkeit herzustellen. ({2})

Alfred Hartenbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002669

Frau Präsidentin, ich bedanke mich sehr herzlich für diese Bevorzugung. - Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Verehrtes Präsidium! Eine Reform des Kontopfändungsschutzes ist notwendig. Viele Menschen in Deutschland warten schon ungeduldig auf das neue Recht. ({0}) Wir wollen - Herr Thiele, an dieser Stelle sollten auch die Finanzpolitiker zuhören -, ({1}) dass die Schuldner auf einem besonderen Girokonto, dem Pfändungsschutzkonto, einen automatischen Basispfändungsschutz erhalten. Dazu wird es auf diesem Konto einen Sockelpfändungsschutz von knapp 1 000 Euro geben. Das entspricht dem Freibetrag, den ein alleinstehender Arbeitnehmer oder Rentner mindestens behalten darf, wenn sein Einkommen gepfändet wird. Wenn Unterhaltspflichten bestehen, wird dieser Betrag natürlich entsprechend erhöht. Diese Reform hängt eng mit der Forderung nach einem Girokonto für jedermann zusammen. Schätzungen besagen, dass in Deutschland circa 500 000 Haushalte kein Girokonto haben. ({2}) Viele von Ihnen können sich vielleicht gar nicht vorstellen, was das für die Betroffenen heißt. Jede Rechnung muss bar bezahlt werden. Das ist umständlich und kostet jedes Mal zusätzliche Gebühren, und das gerade diejenigen, die oft nicht wissen, ob ihr Geld bis zum Monatsende reicht. Wer kein Girokonto hat, bekommt oft keinen Telefonanschluss und wird es schwer haben, einen Arbeitsplatz zu finden. Wegen Kontopfändungen erfolgen derzeit circa 60 Prozent der Kontokündigungen, weil den Banken bei einer Kontopfändung, wie sie sagen, ein zu großer Aufwand und zu hohe Kosten entstehen. Das können und dürfen wir nicht hinnehmen. ({3}) Jetzt reformieren wir den Pfändungsschutz, wie wir es im vierten Bericht zur Umsetzung der Empfehlungen des Zentralen Kreditausschusses zum Girokonto für jedermann angekündigt haben. Der Aufwand für den Pfändungsschutz wird in Zukunft deutlich geringer sein, weil auf dem Pfändungsschutzkonto ein automatischer Pfändungsschutz in Höhe eines Sockelbetrages von knapp 1 000 Euro pro Monat besteht. Es muss also nicht erst noch die Entscheidung eines Gerichts herbeigeführt werden. Das entlastet die Banken und auch die Gerichte ganz erheblich ({4}) und kann von den Banken deshalb künftig nicht mehr als Begründung für die Kündigung eines Girokontos herangezogen werden. ({5}) Im Übrigen gilt: Der Staat darf seinen Zwangsapparat nicht zur Verfügung stellen, um einem Schuldner die Mittel zu entziehen, die er für seinen eigenen Mindestunterhalt und den seiner Familie benötigt. Das liegt auch im öffentlichen Interesse. Ließe man zu, dass die Gläubiger alles bis zum letzten Euro pfänden, wäre es wieder die Allgemeinheit, die mit Sozialtransfers für den Unterhalt des Schuldners aufkommen müsste. Damit würden private Verlustgeschäfte sozialisiert. So etwas ist nicht nur in Zeiten knapper Kassen abzulehnen. Wir können nicht mit der Rechten beim Wegnehmen helfen und das mit der Linken wiedergutmachen; das war jetzt nicht politisch gemeint. ({6}) Das Argument des Missbrauchs durch den Schuldner lasse ich nicht gelten. Die Instrumente der Kontrolle und Überwachung reichen aus, vor allem die Androhung einer Bestrafung. Wir brauchen auch keine Registrierung; wir wollen doch gerade weniger Bürokratie. Meine Bitte daher: Lassen Sie uns die Beratungen über diesen Gesetzentwurf zügig durchführen! Dann kann das neue Gesetz noch am Ende dieses Jahres in Kraft treten. Viele Bürgerinnen und Bürger in unserem Land warten darauf. ({7}) Ich appelliere von dieser Stelle aus auch an die Kreditwirtschaft: Leisten Sie Ihren Beitrag zum Gelingen der Reform und unterstützen Sie das Pfändungsschutzkonto! Dann entschärfen Sie auch die Diskussion über den Rechtsanspruch auf ein Girokonto. Ich danke Ihnen. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Mechthild Dyckmans das Wort. ({0})

Mechthild Dyckmans (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003752, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Zunahme des bargeldlosen Zahlungsverkehrs ist ein stetiger Anstieg der Zahl der Kontopfändungen verbunden. Nach Angaben der Bundesregierung erfolgen bundesweit 350 000 bis 370 000 Kontopfändungen pro Monat. War die Kontopfändung bei der Zwangsvollstreckung in früheren Jahren die Ausnahme, so ist sie heute fast der Regelfall. Es ist deshalb grundsätzlich zu begrüßen, wenn die Bundesregierung nach einigen Anläufen nun einen Gesetzentwurf für eine umfassende Reform des Kontopfändungsrechts vorgelegt hat. ({0}) Ich begrüße für die FDP-Fraktion auch ausdrücklich, dass die Bundesregierung zugleich von der Einführung eines Girokontos für jedermann Abstand genommen hat. Ich weiß, dass das eine Forderung ist, die seit Jahren erhoben wird und die allgemein populär ist. ({1}) Dennoch sind wir ebenso wie die Bundesregierung der Auffassung, dass die gesetzliche Einführung eines Girokontos für jedermann nicht der richtige Weg ist. Die Kreditwirtschaft hat gezeigt, dass sie sehr wohl in der Lage ist, dieses Problem durch ein funktionierendes System der Selbstregulierung in den Griff zu bekommen. ({2}) Nun zu dem Gesetzentwurf im Einzelnen. Die Bundesregierung schlägt vor, dass der Kunde bei seiner Bank auf vertraglicher Grundlage die Einrichtung eines Pfändungsschutzkontos beantragen kann. Damit soll, wie der Herr Staatssekretär es eben erwähnt hat, ein monatliches Guthaben von etwa 1 000 Euro automatisch geschützt werden. Wird nach dem geltenden Recht ein Konto gepfändet, so muss der Schuldner bei Gericht die Aufhebung der Pfändung beantragen. Die Kontopfändung - das ist eine Tatsache - führt dann oft zur Kündigung des Girovertrags. Das kann so nicht mehr hingenommen werden. Mit dem Pfändungsschutzkonto erspart sich der Schuldner den Gang zum Gericht und kann künftig trotz der Vollstreckung seine täglichen Geldgeschäfte bargeldlos abwickeln. Die Neuregelung erscheint daher auf den ersten Blick sachgerecht. Mit dem Gesetzentwurf wird das Ziel verfolgt, so die Bundesregierung in ihrer Begründung, den Aufwand für die Banken und Sparkassen in vertretbarem Rahmen zu halten. Wir haben gewisse Zweifel, ob dies gelingt. Schließlich muss man sehen, dass hier Aufgaben, die bisher die Gerichte wahrgenommen haben, auf die Kreditwirtschaft verlagert werden. Zwar soll der Pfändungsschutz für Guthaben einheitlich ausgestaltet werden und deshalb zu Deregulierung führen - auf die Art der Einkünfte soll es nicht mehr ankommen; aber auch hier liegt ein Problem -; man muss aber sehen, dass dafür andere Prüfungsaufträge auf die Bank zukommen. Denn wenn das geschützte Guthaben erhöht werden soll, etwa weil der Schuldner Unterhaltsverpflichtungen nachkommen muss, haben die Kreditinstitute zu prüfen, welche Beträge von der Pfändung erfasst werden und welche nicht. Ob es da tatsächlich zu einer Entlastung auch der Kreditinstitute kommen wird, erscheint mir fraglich. ({3}) Ebenso glaube ich, dass die Vollstreckungsgerichte nur zum Teil entlastet werden; ({4}) denn wenn ein bestimmtes Guthaben nicht von der Vollstreckung erfasst wird, kann man erst einmal einen Antrag bei dem Vollstreckungsgericht stellen. Auch bei Zweifeln an der konkreten Berechnung kann das Vollstreckungsgericht angerufen werden. Es gibt also nur geringfügige Entlastungen. Kritisch gesehen werden muss meines Erachtens auch die Regelung, wonach der Schuldner gegenüber dem Kreditinstitut lediglich zu versichern hat, dass er nur ein einziges Pfändungsschutzkonto hat. Ob diese Versicherung des Schuldners ausreicht, bedarf meines Erachtens noch der ausführlichen Prüfung. Die Reform des Kontopfändungsrechts kann für uns nur dann zustimmungsfähig sein, wenn die Regelungen zu einem fairen und sachgerechten Interessenausgleich zwischen Schuldner, Gläubiger und Kreditinstitut führen. Das heißt erstens, dass das verfassungsrechtlich garantierte Existenzminimum geschützt werden muss. Das heißt zweitens aber auch, dass die legitimen Rechte des Gläubigers durchsetzbar bleiben müssen. Drittens heißt das, dass die Verlagerung der Berechnung von Pfändungsschutzfreibeträgen von den Vollstreckungsgerichten auf die Kreditinstitute diese nicht unverhältnismäßig belasten darf. Ich nehme an, dass wir das Gesetz ausführlich beraten werden. Wir werden sehen, wie weit wir damit kommen werden und ob die eine oder andere Änderung noch vorgenommen wird. Danke schön. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Michael Grosse-Brömer das Wort. ({0})

Michael Grosse-Brömer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003541, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Den Menschen, die dieser Debatte jetzt folgen, wird es so wie mir gehen, als ich gehört habe, dass wir einen Kontopfändungsschutz einrichten wollen. Da stellt man sich erst einmal die Frage, warum es so etwas geben muss. Diejenigen, die ein zu pfändendes Konto haben, haben im Zweifel nämlich Schulden gemacht. Wenn man pfänden kann, dann besitzt man auch schon einen Titel, um diese Schulden einzutreiben. Das heißt, dass sich ein Gericht im Regelfall damit beschäftigt und gesagt hat: Es gibt einen Anspruch, der zu Recht besteht. Man stellt sich dann die Frage, warum man einen Kontenpfändungsschutz braucht. ({0}) - Sie werden in wenigen Minuten ja noch einmal Ihre fulminanten Rechtsausführungen dazu machen. Ich glaube, für die allermeisten Menschen ist es eine Selbstverständlichkeit, ihr Girokonto Tag für Tag zu benutzen, um die Miete zu bezahlen, um ihr Gehalt zu kassieren und um Überweisungen zu tätigen. Dieser bargeldlose Zahlungsverkehr ist eben Alltagsgeschäft. Demzufolge ist die Sperrung oder Kündigung eines solchen Kontos natürlich eine massive Einschränkung der finanziellen Mobilität. Wenn man nicht aufpasst, kann es auch schnell in eine finanzielle Abwärtsspirale gehen. Wem ein Konto gekündigt wird, sodass er keines mehr hat, der bekommt irgendwann keine Wohnung und auch keine Arbeit mehr. Deswegen ist es richtig, wenn man sich Gedanken darüber macht, wie man dem Einhalt gebieten kann. Um den Folgen einer Kontolosigkeit zu begegnen, hat der Zentrale Kreditausschuss schon im Jahre 1995 eine Empfehlung - Stichwort: „Girokonto für jedermann“ herausgegeben. Die in diesem Ausschuss zusammengeschlossenen Verbände haben sich verpflichtet, für jedermann ein Girokonto zur Verfügung zu stellen, sofern das nicht unzumutbar ist. So weit, so gut. Wir wollen jetzt gesetzlich etwas daran ändern. Im vierten Bericht zu den Auswirkungen dieser ZKA-Empfehlung über dieses Girokonto für jedermann stellt die Bundesregierung fest, dass dieses Konto weitgehend zur Wirklichkeit geworden ist. Es existieren nur noch Einzelfälle, für die es einen Handlungsbedarf - zum Beispiel hinsichtlich einer Härtefallregelung - gibt. Schätzungsweise 97 Prozent der Bevölkerung verfügen über ein Girokonto. Gleichwohl ist es eines der wesentlichen Ziele, das mit dem Kontopfändungsschutz verfolgt wird, die Zahl der aufgrund von Pfändungen ausgesprochenen Kontokündigungen zu reduzieren. Daneben sollen auch eine Vereinfachung des Pfändungsrechts und damit insgesamt eine größere materielle Gerechtigkeit erreicht werden. - So weit zu den Zielen, die mit dem Gesetzentwurf verfolgt werden. Ich bin heute bei der ersten Lesung noch nicht der Auffassung, dass diese Ziele vollständig erreicht werden. Wir sind uns sicherlich darüber einig, dass SchuldMichael Grosse-Brömer nerschutz, so sinnvoll er ist, nicht zu einer Benachteiligung der Gläubiger führen darf. ({1}) Beide, Gläubiger und Schuldner, haben verfassungsrechtlich abgesicherte Interessen. Keinem Schuldner darf das letzte Hemd vom Leib gepfändet werden. Es gibt das Gebot der Menschenwürde und das Sozialstaatsgebot in Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes. Umgekehrt gilt: Dem Gläubiger kommt die Eigentumsgarantie in Art. 14 des Grundgesetzes zugute. Es gibt zudem sinnvollerweise einen Justizgewährungsanspruch, also einen Anspruch auf Durchsetzung gerichtlich festgestellter Rechte. Wird der vorliegende Gesetzentwurf der notwendigen Abwägung der unterschiedlichen Interessen gerecht? Kern des Gesetzentwurfs ist die Einrichtung eines sogenannten P-Kontos mit einem Sockelfreibetrag in Höhe von 985,15 Euro. Warum es genau dieser Betrag sein soll, habe ich nicht genau verstanden. Aber so ist es jedenfalls festgelegt. Weiterhin gibt es bei diesem Konto eine Begrenzung der Pfändungswirkung auf 90 Tage. Danach kann erneut gepfändet werden. Wenn ich es richtig verstanden habe, soll es die Möglichkeit geben, nicht verbrauchte Freibeträge in den nächsten Monat zu übertragen. Es handelt sich also um ein kleines pfändungsfreies Sparbuch. Möglichkeiten zur Vollstreckungsumgehung ist damit meiner Ansicht nach Tür und Tor geöffnet. Es wird den raffinierten Schuldner geben, der neben seinem P-Konto diverse andere Konten haben wird. Es wird den betrügerischen Schuldner geben - dieser ist für den Gesetzentwurf nicht maßgebend -, der auf die Idee kommen wird, mehrere P-Konten einzurichten. Die spannende Frage ist: Wer überprüft das alles eigentlich? Nach meinem Verständnis wird diese Frage im Gesetzentwurf nicht beantwortet. Lediglich die Banken sollen sich darum kümmern. Aber eine Erklärung reicht aus. Mit dem Gesetz wird sicherlich mehr Schutz vor Kontopfändung erreicht - darauf wird auch in der Überschrift der Presseerklärung des BMJ hingewiesen -, allerdings aus meiner Sicht ein Stück weit zulasten der Gläubiger. Aufgrund dieses Gesetzes wird es wohl zur Rückkehr zur guten alten Lohntüte kommen; denn jeder Schuldner ist gut beraten - man muss noch nicht einmal Anwalt sein wie die meisten im Rechtsausschuss, um auf diese Idee zu kommen; dafür braucht man keine anwaltliche Empfehlung -, sich künftig Gehalt und Sozialleistungen bar auszahlen zu lassen, ({2}) auf dem P-Konto nur einen Betrag in Höhe von 985,15 Euro stehen zu lassen und alles, was darüber hinausgeht, in den nächsten Monat mitzunehmen. ({3}) - Sie waren doch einmal Staatssekretär. Sie sind so klug und intelligent, dass ich Ihnen meine Sätze nicht erklären muss. Sie sollten nicht so viel dazwischenrufen, sondern vorrangig zuhören. ({4}) Gerade durch die Möglichkeit, überhängende Beträge anzusparen, kann es zum Beispiel dazu kommen - darüber sollten wir diskutieren -, dass ein Gläubiger seine titulierten 1 000 Euro nicht pfänden kann, obwohl 2 000 Euro auf dem Konto des Schuldners sind. Darauf müssen wir eine Antwort finden. ({5}) Es gibt eben unterschiedliche Interessen, die hierbei eine Rolle spielen. Handelt es sich tatsächlich um eine Stärkung der materiellen Gerechtigkeit, wenn die von mir beschriebene Abwägung der Interessen stattfindet? ({6}) Ich glaube, auch eine Vereinfachung des Kontopfändungsrechts wird nicht unbedingt erreicht. Frau Kollegin Dyckmans hat darauf hingewiesen, dass das P-Konto und der damit verbundene Schutz vorrangig sind. Aber nach wie vor gelten die bestehenden Pfändungsschutzmaßnahmen. Künftig sollen nicht mehr Gerichte, sondern Banken sich darüber Gedanken machen, wie hoch der pfändungsfreie Betrag sein soll, und festlegen, ob der pfändungsfreie Sockelbetrag gegebenenfalls erhöht werden kann, wenn der Schuldner entsprechende Möglichkeiten nutzt, wenn er zum Beispiel Kinder hat. Wenn es dabei bleibt, wird es spannend sein, zu sehen, wie sich das in der Praxis auswirkt. Zusätzliche Kosten für zusätzliche Aufgaben, die den Banken wohl entstehen, sind nach BGH-Rechtsprechung zwar nicht direkt an den Kontoinhaber weiterzugeben. Aus meiner Sicht ist es aber nicht auszuschließen, dass es nach Inkrafttreten unseres Gesetzentwurfes eventuell zu mehr Kontokündigungen kommt und nicht zu weniger. Damit träfe das Gesetz dann eher diejenigen, die es eigentlich schützen wollte. Eine zentrale Datei über bestehende P-Konten wird es wohl nicht geben. Wer überprüft also, wie viele P-Konten für einen einzelnen Schuldner bestehen? Da haben wir noch keine vernünftige Antwort gefunden; jedenfalls habe ich im Entwurf keine gesehen. Ich denke, die gute Entwicklung aufgrund der ZKAEmpfehlung „Girokonto für jedermann“ wird durch den Entwurf, zumindest nach meiner ersten Sicht, nicht unbedingt gefördert. Ungeachtet dessen finden sich auch positive Punkte in diesem Entwurf, zum Beispiel der verbesserte Pfändungsschutz für Selbstständige. Das gab es bislang nicht. § 850 i ZPO war bislang nach allgemeiner Auffassung unzureichend. Ich will deswegen abschließend zu dem Fazit kommen, dass der Entwurf in der derzeitigen Fassung die Interessenabwägung zwischen Gläubiger und Schuldner noch nicht perfekt löst. Ich glaube, da haben wir noch ein Stück weit Diskussionsbedarf. Das sehen nicht nur Gläubigerschutzverbände oder die Bankenvertretung so, sondern ebenso der Bundesrat und im Übrigen auch Vertreter der Wirtschaft. Vielleicht lesen Sie da einmal nach. ({7}) Professor Bitter von der Universität Mannheim hat da ähnliche Auffassungen. Lassen Sie uns bei den anstehenden Beratungen diesen Gesetzentwurf optimieren. Ich denke, wenn wir keine Anhörung durchführen, sollten wir uns zumindest in einem erweiterten Berichterstattergespräch darüber unterhalten, wie dieser Entwurf zu optimieren ist. Ich sehe dafür jedenfalls die Notwendigkeit. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Der nächste Redner ist Wolfgang Nešković, Fraktion Die Linke. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn der Gesetzgeber die Instrumente für die zwangsweise Durchsetzung privatrechtlicher Forderungen bereitstellt, so ist er - Herr Hartenbach sagte es bereits - auch gehalten, dafür zu sorgen, dass diese Instrumente dem Schuldner nicht die Mittel für ein menschenwürdiges Dasein entziehen können. Das folgt auch aus dem Sozialstaatsprinzip unseres Grundgesetzes. Zur Erfüllung dieser Verpflichtung bemüht sich der Deutsche Bundestag seit dem Jahre 1972 um einen wirksamen Kontopfändungsschutz. Während dessen gesetzgeberische Ausgestaltung eher mühsam vorankam, verwandelte die Informationstechnologie unsere Lebenswirklichkeit in Siebenmeilenschritten. So trat zum ersten sozialen Problem ein zweites. Die elektronische Kontoführung und der digitale Zahlungsverkehr sind die gesellschaftliche Regel geworden. Sie mögen einen erheblichen Vorteil darstellen für jeden, der daran teilnehmen darf. Für solche Menschen aber, die - das wurde hier schon erwähnt - ihr Girokonto verloren haben oder schon keines erhalten können, bedeutet dies wirtschaftliche und soziale Ausgrenzung. Bargeld lacht schon lange nicht mehr. Die Einführung eines einheitlichen Pfändungsschutzkontos, dessen Pfändungsfreibetrag auch im Falle der Pfändung weiter verfügbar bleibt, gibt nicht nur dem Schuldner mehr sozialen Schutz, sondern - davon geht die Begründung aus - verringert wohl tatsächlich die Neigung der Banken, im Falle einer Kontopfändung den Girovertrag mit dem Schuldner zu kündigen. Damit ist allerdings noch nichts für die Gruppe von Menschen getan, die überhaupt kein Girokonto besitzt. Auf dem Weg zum Girokonto für jedermann kommt dieser Entwurf als zweiter Schritt vor dem ersten daher. Dass diese Art des Gehens zu Stürzen führen kann, ist allgemein bekannt. Denn anders als die Entwurfsverfasser meine ich nicht, dass der Entwurf die jahrelange Diskussion mit den Kreditinstituten zur Einführung eines Girokontos für jedermann erleichtert. Ich denke, eine verringerte Neigung zu Kündigungen und eine gesteigerte Neigung zu Neuabschlüssen von Giroverträgen sind zwei Paar Schuhe. ({0}) Dazu zwei Beispiele: Erstens. Nach dem Entwurf sollen den Banken die Kosten, die ihnen aus der Bearbeitung von Kontopfändungen entstehen, nicht ersetzt werden. Zweitens. Wegen § 394 BGB - „Keine Aufrechnung gegen unpfändbare Forderung“ - haben die Kreditinstitute auch keine Möglichkeit, die Kontoführungsgebühren mit dem geschützten Pfändungsfreibetrag zu verrechnen. Ich kann mir gut vorstellen, dass diese Umstände die Banken ganz und gar nicht beflügeln werden, kontolosen, überschuldeten Personen ein Pfändungsschutzkonto erstmals einzurichten. Als zweiter Schritt vor dem ersten sorgt der Entwurf also nicht für weniger, sondern für mehr Gegenwind. Mit meiner Fraktion sehe ich allerdings diesem Mehr an Gegenwind sehr gelassen entgegen. Denn sollte der Entwurf Gesetz werden, so sorgt er als zweiter Schritt vor dem ersten im Grunde genommen nur dafür, dass der erste Schritt umso konsequenter nachzuholen sein wird: in Form einer gesetzlichen Lösung, die die Banken nicht im Wege der Selbstverpflichtung, sondern im Rahmen ihrer Gemeinwohlverpflichtung nach Art. 14 Abs. 2 Grundgesetz verpflichtet, ein Girokonto für jedermann vorzusehen. Dazu hat unsere Fraktion Ihnen bereits eine taugliche Vorlage geliefert, ({1}) die am 9. März 2006 zur Beratung in die Fachausschüsse überwiesen wurde. Nutzen Sie diese Vorlage! ({2}) Dann kann das zwölfjährige, wie ich finde, peinliche Warten auf die soziale Einsichtigkeit der deutschen Kreditinstitute noch in dieser Legislaturperiode ein Ende finden. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt Kollege Jerzy Montag.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Grosse-Brömer, Sie haben eine große Anzahl hochinteressanter Fragen ausgebreitet. Allerdings haben wir von Ihnen keine Antwort gehört. ({0}) Als Ergebnis Ihrer Fragen habe ich aber Ihre Position verstanden: Sie wollen dieses Gesetz eigentlich nicht. ({1}) Ich sage Ihnen: Wir Grüne wollen dieses Gesetz. Wir finden es richtig; Kontopfändungsschutz muss sein. Es gibt allerdings noch einige Fragen, über die zu diskutieren sein wird. Das werden wir im Ausschuss tun. Der vorliegende Gesetzentwurf löst aber das Hauptproblem nicht. ({2}) Das Problem ist, dass man in der heutigen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland ohne ein Girokonto keine Arbeit bekommen kann und keine Wohnung mieten kann. ({3}) Man kann also am täglichen Leben nicht teilnehmen. ({4}) Deswegen ist es richtig, was Ihre Bundesregierung ({5}) 2006 in ihrem Bericht geschrieben hat - ich darf zitieren -: Gemeinsames Ziel von Staat und Kreditwirtschaft muss es … sein, allen Bürgerinnen und Bürgern schnell, einfach und auf praktikable Weise die Teilnahme am bargeldlosen Zahlungsverkehr zu ermöglichen. Aber die Bundesregierung legt keinen Gesetzentwurf für die Umsetzung der Forderung eines Girokontos für alle vor. Das wäre aber ein notwendiger Schritt. Dieser Schritt wird mit dem vorliegenden Gesetzentwurf allerdings nicht verwirklicht. ({6}) Stattdessen redet dieses Parlament inzwischen seit zehn Jahren über ein Girokonto für alle. Die erste Beschlussfassung dieses Hohen Hauses stammt vom 5. Juni 1997, die zweite vom 31. Januar 2002 und die dritte vom 30. Juni 2004. In allen diesen Beschlussfassungen hat das Parlament die Bundesregierung aufgefordert, doch dafür zu sorgen, dass es zu einem Girokonto für alle kommen möge. Bis heute ist die Forderung dieses Hohen Hauses nicht erfüllt worden. Nein, wir haben keine Selbstverpflichtung der Kreditwirtschaft für ein Girokonto für alle, sondern lediglich eine Empfehlung des Dachverbandes, ein solches Girokonto einzuführen. Zu dieser Empfehlung und zu der Tatsache, dass sich nichts verbessert hat, schreibt die Bundesregierung - Herr Kollege Grosse-Brömer, Sie müssen den Bericht einmal lesen -: Dieses nach zehnjähriger Implementierungspraxis ernüchternde Ergebnis ist … in erster Linie dem Charakter der Empfehlung geschuldet. Sie verpflichtet gegenüber dem Kunden zu nichts - sie ist weder für den Zentralen Kreditausschuss noch für die einzelnen Kreditinstitute mit einer Rechtspflicht verbunden. Es ist völlig klar: Wir brauchen zumindest eine Selbstverpflichtung, die einen rechtsverbindlichen Charakter hat. Dazu sagt der Bundesverband der deutschen Banken Nein. Die Bundesregierung hat in ihrem Bericht als kleinen Schritt vorgeschlagen, dass zumindest die Entscheidungen der Schlichtungsstellen verbindlich sein sollen. Dazu sagt der Bundesverband der deutschen Banken Nein. Seit zehn Jahren bestreiten die Banken die Zahl, die wir jetzt gerade von der Bundesregierung gehört haben: Es gibt mindestens eine halbe Million Menschen in Deutschland, die gar kein Konto haben. Hinzu kommt eine hohe Dunkelziffer, die nicht erfasst ist. Deswegen sagen wir Grüne: Wir brauchen das Girokonto für jedermann und jedefrau. Wir brauchen auch den Kontrahierungszwang. Die Voraussetzungen dafür sind gegeben. Dass das kein Ende der Vertragsfreiheit in Deutschland ist ({7}) - nein -, das zeigen uns die Sparkassen. Die Sparkassen haben sich nämlich bereits ({8}) freiwillig zu einem Kontrahierungszwang verpflichtet. In zehn Bundesländern gibt es das. ({9}) Dort sind die Marktwirtschaft und die Vertragsfreiheit aber nicht abgeschafft. Deswegen können wir das auch im ganzen Bundesgebiet einführen. Wir Grüne werden uns dafür einsetzen. Danke schön. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Dirk Manzewski, SPDFraktion.

Dirk Manzewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen und zahlreiche Freunde der Rechtspolitik! Dem Girokonto kommt aufgrund des zunehmenden bargeldlosen Zahlungsverkehrs in der heuti14690 gen Zeit - das ist hier schon deutlich gemacht worden eine immer größere Bedeutung zu. Dementsprechend wiegen natürlich die im Zusammenhang mit der Pfändung von Guthaben immer häufiger vorkommenden Kündigungen von Girokontoverbindungen umso schwerer. Der Grund liegt - auch das ist schon gesagt worden in der Regel in der weitreichenden Blockadewirkung, die durch solch eine Kontopfändung ausgelöst wird. Für den Betroffenen stellt das aufgrund der Bedeutung des Girokontos in der Regel einen schwerwiegenden Eingriff mit weitreichenden persönlichen Folgen dar. Herr Staatssekretär, das Ansinnen der Bundesregierung, hier eine Verbesserung zu erreichen, wird daher von mir ausdrücklich geteilt, zumal das sich meist anschließende Pfändungsschutzverfahren für die Vollstreckungsgerichte einen ungeheuren Aufwand bedeutet. Dies führt oft genug dazu - das muss man ganz deutlich sagen -, dass kein rechtzeitiger Schutz gewährt wird. Die Reform hat daher das berechtigte Ziel, einerseits für einen effektiveren Schutz des Schuldners zu sorgen und andererseits - da gebe ich dem Kollegen Grosse-Brömer recht - das Bankkonto als Objekt für den Zugriff von Gläubigern zu sichern. Nur, richtig ist natürlich - wer will dem widersprechen? -, dass dabei versucht wird, das Verfahren möglichst unkompliziert auszugestalten und auch den Aufwand der Banken in einem vertretbaren Rahmen zu halten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen uns darüber unterhalten - einige Debattenbeiträge gingen, wie ich finde, am Thema vorbei -, wie das Ziel des Kontopfändungsschutzes umgesetzt werden soll. Diese Frage ist entscheidend. Die Bundesregierung plant, die der Existenzsicherung dienenden Einkünfte von Schuldnern einem sogenannten P-Konto, also einem Pfändungsschutzkonto, gutzuschreiben. Dadurch soll dann der Schuldner im Rahmen der Pfändungsfreigrenzen, die für Arbeitseinkommen gelten, die Geldgeschäfte des täglichen Lebens trotz Pfändung weiter vornehmen können. In der Diskussion, die sich an die heutige Debatte anschließt, werden wir abzuklären haben, ob es für die Kreditinstitute tatsächlich immer so unproblematisch, wie prognostiziert wurde, ist, bei den durch Eingänge und Abbuchungen stetig wechselnden Beständen auf den Konten den Pfändungsfreibetrag feststellen zu können. Ich persönlich bin davon noch nicht überzeugt. Es handelt sich, Kollege Montag, Kollege Nešković, um ein rein praktisches Problem. Es geht darum, wie die Umsetzung erfolgen soll. In diesem Zusammenhang ist für mich auch noch nicht ganz klar - auch diese Frage möchte ich aufwerfen -, wie eigentlich das grundsätzliche Regressrisiko der Kreditinstitute aussieht, wenn sie fehlerhaft über den Pfändungsfreibetrag entscheiden. ({0}) Gut finde ich, dass die Bundesregierung sich in ihrer Gegenäußerung für Fälle erhöhter Pfändungsfreigrenzen die Meinung des Bundesrates zu eigen gemacht hat und für die Kreditinstitute die Gefahr der Haftung im Falle der Unrichtigkeit der in diesem Zusammenhang vorzulegenden Bescheinigungen minimieren will. Jeder Schuldner darf natürlich nur ein Pfändungsschutzkonto führen. Die Pfändungsfreigrenze soll dem Schuldner dabei quasi automatisch gewährt werden, und auf die Art der Einkünfte soll es dabei nicht mehr ankommen. Gerade dadurch, dass nur noch das eine Konto Pfändungsschutz genießt, soll nach dem Gesetzentwurf zugunsten der Gläubiger verhindert werden, dass der Pfändungsschutz durch Führen mehrerer Konten mit der Möglichkeit der entsprechenden Inanspruchnahme von Freibeträgen ausgehöhlt wird. Die Bundesregierung - auch dies ist von den Kollegen angesprochen worden geht dabei davon aus, dass die Strafbarkeit nach § 288 StGB und die vom Schuldner abzugebende Versicherung, keine weiteren Pfändungsschutzkonten mehr zu führen, ausreichend sind, Personen hiervon tatsächlich abzuhalten. Ich kann nicht ignorieren, dass es dazu kritische Stimmen gibt. So habe ich den Kollegen Grosse-Brömer verstanden, und auch der Bundesrat und die BRAK haben dies als nicht ganz unproblematisch angesehen. Darauf stelle ich ab, und deswegen sage ich an dieser Stelle nur, ohne eine Wertung abzugeben, dass wir uns in den anstehenden Beratungen mit dieser Problematik ausgiebig werden auseinandersetzen müssen, nicht mehr und nicht weniger. ({1}) Geklärt werden sollte auch noch, warum bei der Kontenpfändung Befristungen eingeführt werden sollen - das habe ich noch nicht ganz verstanden - und warum offenbar keine Dauerpfändungen mehr möglich sein sollen. Darüber werden wir ebenfalls reden müssen. Ich will damit nicht sagen, dass ich das nicht als richtig erachte. Aber dazu fehlt mir im Gesetzentwurf eine vernünftige Begründung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluss. Sie sehen, dass wir ein sehr interessantes Gesetzgebungsverfahren vor uns haben, dem jedenfalls ich gespannt entgegensehe. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/7615 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Frank Schäffler, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Martin Zeil, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Konsequenzen aus dem Entschädigungsfall Phoenix Kapitaldienst GmbH - Drucksachen 16/5786, 16/7645 Berichterstattung: Abgeordnete Leo Dautzenberg Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Hans-Ulrich Krüger, SPD-Fraktion. ({1})

Dr. Hans Ulrich Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003575, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn nichts mehr geht, wird es der Staat schon richten und den Zahlmeister spielen. Dieser Eindruck drängt sich einem förmlich auf, wenn man sich die Geschichte des skandalösen Betrugsfalls der Phoenix Kapitaldienst GmbH einmal anschaut. Auf der einen Seite möchten Wertpapierhandelsunternehmen im großen Geschäft mitspielen und hohe Gewinne einfahren, auf der anderen Seite wollen sie Verluste sozialisieren, die aufgrund strafbarer Handlungen eines Anlegerdienstes begangen wurden. Dies ist nicht in Ordnung. Hintergrund der ganzen Tragödie ist die Tatsache, dass Anleger, die eine möglichst schnelle und höchstmögliche Rendite erwarteten, bekanntlich bei der Phoenix Kapitaldienst GmbH in die falschen Hände geraten sind. 30 000 Menschen sind wegen dieser kriminellen Machenschaften um ihr Geld geprellt worden und erwarten nun, zumindest einen Großteil ihres Geldes zurückzuerhalten. Keine Frage, sie müssen entschädigt werden. Nur, den Bund und damit den Steuerzahler in Haftung zu nehmen, ist nicht nur falsch, sondern das geht auch an der Sachproblematik vorbei. ({0}) Die Sachproblematik besteht nämlich in folgenden Fragen: Erstens. Was können wir tun, damit ein solcher Worst Case, wie wir ihn bei Phoenix erlebt haben, nicht wieder eintritt? Zweitens. Wie kann ein Sicherungssystem entwickelt werden, das funktioniert? Drittens. Wie können letztendlich die Anleger durch die EdW entschädigt werden? Wie wir alle wissen, belaufen sich die möglichen Entschädigungszahlungen bzw. Forderungen auf circa 180 Millionen Euro, während die EdW aus den Beiträgen ihrer Mitglieder die vergleichsweise lächerliche Summe von 5 bis 10 Millionen Euro zur Verfügung hat. Die FDP sieht einen Ausweg aus diesem Dilemma in einer einheitlichen Sicherungseinrichtung, die alle Sparkassen, Banken, Genossenschaftsbanken und Wertpapierhandelsunternehmen erfasst. Ich lehne dies ab. Es wäre nicht sachgerecht, Wertpapierunternehmen zu gestatten, auf der einen Seite Geschäfte mit Maximalrenditen zu machen und sich auf der anderen Seite in das gemachte Nest der Einlagensicherungssysteme der Banken zu setzen. ({1}) Zudem würde bei einem einheitlichen Sicherungssystem ein bürokratischer Apparat entstehen, der die Risikokontrolle, das Management und den Informationsaustausch viel zu komplex und undurchsichtig machen würde. Aber ein Sicherungssystem, das sich nur auf die Funktion einer Paybox im Sinne eines zahlungsbereiten Dritten, der immer bereitsteht, konzentriert, ist schon aus volkswirtschaftlicher Sicht nicht sinnvoll. Des Weiteren würde die Chance, künftige Krisenlagen frühzeitig zu erkennen, aufgrund der Unübersichtlichkeit eines solchen Systems sinken. Der dabei entstehende Vertrauensverlust wäre in der Tat nachhaltig und beträchtlich. Als wichtigstes und vorrangiges Ziel zur Vermeidung künftiger Schadensfälle bei der EdW sind daher präventive Maßnahmen notwendig. Zu denken ist an eine Vertrauensschadenversicherung bzw. eine effiziente Risikokontrolle. Auch müssten Sicherungseinrichtungen wie die EdW Sanktionskompetenzen erhalten, wenn einzelne Institute Risiken erkennen lassen bzw. ihrer Pflicht zur Zahlung der Beiträge nicht oder nur vermindert nachkommen. Ein weiteres wichtiges Kriterium ist eine Neubeurteilung der Beitragsstruktur im Bereich der EdW. Die einzelnen Wertpapier- und Vermögensverwaltungen müssen verstärkt nach ihrer Größe und ihrem Risikoverhalten Beiträge entrichten. Beiträge in Höhe von 300 Euro minimal sollten und müssen der Vergangenheit angehören. ({2}) Es bleibt festzuhalten, dass es notwendig ist, ähnlich gute Standards für eine Risikosteuerung und Risikokontrolle einzuführen, wie dies bei Banken und Sparkassen bereits der Fall ist. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch auf ein Argument der Mitgliedsunternehmen der EdW eingehen, die der Ansicht sind, die aktuelle mitgliedschaftliche Zusammensetzung sei verfassungswidrig und nur durch eine Zusammenlegung mit den Entschädigungseinrichtungen der Banken und Sparkassen könne man diese Verfassungswidrigkeit beseitigen. ({3}) Ich meine, eine solche Zusammenlegung wäre erst recht verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt. ({4}) Denn eines ist klar: Die Risiken, die bei der Einlagensicherung und beim Institutsschutz einerseits sowie bei der Anlegerentschädigung andererseits abgesichert werden, sind völlig unterschiedlich. ({5}) - Danke. - Bei den Wertpapierhandelsunternehmen werden Schadensfälle durch Kriminalitätsrisiken, wie wir sie bei Phoenix erlebt haben, ausgelöst. Bei der Einlagen- und Institutssicherung geht es um realisierte Kreditrisiken, die ein Institut bedrohen können. ({6}) - Das kommt noch hinzu. - Insofern geht das Argument der EdW-Mitglieder fehl. Fakt ist: Nur durch eine funktionierende Prävention können Insolvenzen durch Betrügereien zwar nicht immer vermieden, aber hinsichtlich der Schadenssumme nachhaltig beschränkt werden. Den Staat als Zahlmeister außerhalb des gültigen Sicherungssystems in die Pflicht zu nehmen und ihm den Schwarzen Peter aufzubrummen, ist zwar bequem, aber der falsche Weg. Lassen Sie mich zum Schluss auf die Situation der 30 000 geprellten Anleger zu sprechen kommen, die heute noch auf ihr Geld warten und, wie es aussieht, leider noch weiter warten müssen. Es hat in der Vergangenheit konstruktive Überlegungen gegeben. Ich erinnere nur an den Vorschlag, die erforderlichen Geldleistungen durch einen Kredit der KfW abzusichern bzw. zu beschaffen. Dieser Vorschlag hätte meines Erachtens allerdings auch von der Bereitschaft der EdW-Mitglieder getragen werden müssen, sich freiwillig ihrer finanziellen Verantwortung zu stellen. ({7}) Dies alles ist bis heute nicht geschehen. Es liegt auch noch kein rechtskräftiger Insolvenzplan vor. Der Gläubigerausschuss hat ihn zwar am 18. April 2007 angenommen, aber Anleger haben dagegen Beschwerde eingelegt. Das führte letztendlich dazu, dass die EdW Ende des vergangenen Jahres Sonderbeiträge erhoben hat, gegen die jetzt wiederum Wertpapierhandelsunternehmen klagen. Ob diese Unternehmen mit ihrer Entscheidung zu einer Staatshaftungsklage gut beraten waren, möchte ich nicht beurteilen. Das werden die Gerichte entscheiden. In einer Zeit - wie in der Welt vom 15. Januar dieses Jahres zu lesen ist -, in der alle Seiten ganze Legionen von Anwälten beschäftigen, um sich gegenseitig mit Klagen zu überziehen, ist die Politik meines Erachtens gut beraten, der Judikative den Vortritt zu lassen. Natürlich hat dies leider zur Folge, dass Entschädigungszahlungen nicht prompt und schnell erfolgen, sondern noch weiter auf sich warten lassen werden. Aber dessen ungeachtet wird der Bund alle Handlungsmöglichkeiten zu prüfen - ich denke, da sind wir uns einig und das Gutachten, das demnächst vorliegt, zu analysieren und zu bewerten haben. Auf dieser Grundlage sollten wir hier bzw. im Finanzausschuss des Deutschen Bundestages zukunftsorientiert über ein qualifiziertes Sicherungssystem für Wertpapierhandelsunternehmen nachdenken, sicherlich mit mehr Fakten versehen, als es heute der Fall ist. Ich danke Ihnen. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat Kollege Frank Schäffler, FDP-Fraktion. ({0})

Frank Schäffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit wir Anfang letzten Jahres erstmalig im Finanzausschuss über den Fall Phoenix gesprochen haben und wir unseren Antrag hier vor einem halben Jahr zum ersten Mal debattiert haben, haben Sie seitens der Bundesregierung keinerlei Fortschritte im Fall Phoenix erzielt. Dabei ist der größte Anlegerbetrugsskandal in Deutschland im Kern eine Bilanz des Versagens staatlicher Institutionen. Erst wurde ein schlechtes Gesetz gemacht, dann hat die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht ihren eigenen Bescheid auf Trennung der Sammelkonten bei Phoenix fünf Jahre lang nicht durchgesetzt, und jetzt sind Sie nicht einmal bereit, daraus Konsequenzen zu ziehen. Dabei haben die BaFin und das Bundesfinanzministerium unmittelbar Mitschuld. Nur durch das Aufsichtsversagen der BaFin konnte das Schneeballsystem so lange - bis zum Insolvenzfall von Phoenix unentdeckt bleiben. Jetzt ziehen Sie nicht einmal Konsequenzen, sondern Sie drücken den überwiegend mittelständischen Finanzdienstleistungsunternehmen eine Last von fast 200 Millionen Euro auf. Sie haben in diesem Parlament zwei Jahre Zeit gehabt, sich um dieses Problem zu kümmern. Sie haben es aber immer wieder verschoben. Sie haben ein Gutachten in Auftrag gegeben, auf das wir jetzt schon mehrere Monate warten und das immer noch nicht fertig ist. Gleichzeitig haben Sie versprochen, eine Bürgschaft der KfW bereitzustellen. ({0}) Auch dazu ist es nicht gekommen, weil sie im zuständigen Haushaltsausschuss wegen der schlampigen Vorbereitung des Bundesfinanzministeriums nicht bewilligt wurde. Fakt ist: Deutschland hat auf der einen Seite die Anlegerentschädigungsrichtlinie der EU europarechtswidrig umgesetzt. Die Entschädigungseinrichtung für Wertpapierhandelsunternehmen ist keine tragfähige Einrichtung. Gleichzeitig sind die rechtschaffenen mittelständischen Finanzdienstleister in einen Topf mit dem grauen Kapitalmarkt gesteckt worden. Nun sollen diese Unternehmen die Zeche bezahlen. Das ist mit uns von der FDP nicht zu machen. Auf der anderen Seite funktioniert das bestehende System nicht. Der Entschädigungsfall wurde 2005 festgestellt, und die Anleger haben noch nichts von ihrem Geld gesehen. Stattdessen hat eine Diskussion über die Besteuerung von Scheingewinnen begonnen. So machen Sie Politik. Sie wollen, dass sogar Steuern auf etwas gezahlt werden sollen, was in Wirklichkeit nie existiert hat. ({1}) Auch das ist mit uns nicht zu machen. ({2}) Die Bundesregierung hat auf Anfrage der FDP angekündigt, dass sie in diesem Jahr 6 000 Anleger entschädigen will. Tatsächlich sind die Beitragsbescheide der EdW um Weihnachten herum direkt vor den Gerichten gelandet. Es gibt eine Vielzahl juristischer Einwände, die die EdW nur schwerlich wird entkräften können. Das aber bedeutet, dass die Anleger noch länger auf ihr Geld warten müssen. Wir haben in Deutschland keine funktionierende Anlegerentschädigung. Das wissen Sie. Deshalb schieben Sie das Problem hinaus. Weder bekommen die Anleger fristgerecht ihre Entschädigung, noch gibt es eine Entschädigungseinrichtung, die zügig Rechtssicherheit für die Finanzdienstleister schafft und sie mit ihren Beiträgen nicht überfordert. Deshalb beantragen wir, die bestehenden Anlegerentschädigungssysteme zusammenzulegen und nicht die Einlagensicherungssysteme zusammenzulegen. Das sind zwei Paar Stiefel. Es gibt zwei Richtlinien, die unterschiedliche Themen behandeln. Hier geht es um den Wertpapierhandel. Es geht um Unternehmen, die mit Wertpapieren handeln. Es geht nicht um Einlagen oder ähnliche Dinge. Erst wenn wir die Systeme zusammenlegen, setzen wir auch die Anlegerentschädigungsrichtlinie korrekt um. Wir werden Sie nicht aus Ihrer Verantwortung entlassen. Sie beaufsichtigen durch das Bundesfinanzministerium die staatliche Finanzaufsicht. Gerade das Versagen der BaFin hat den Fall Phoenix erst ermöglicht. Sie haben aber mit Ihrer Parlamentsmehrheit eine Verantwortung dafür, dass die deutschen Gesetze, in diesem Fall das EAEG, den europäischen Vorgaben entsprechen. ({3}) Dies ist derzeit nicht der Fall, da unser System erkennbar nicht funktioniert. ({4}) - Ja, so ist es. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Klaus-Peter Flosbach, CDU/CSUFraktion. ({0})

Klaus Peter Flosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003528, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schäffler, Sie haben in einigen Bemerkungen durchaus recht gehabt; da werde ich Sie gleich unterstützen. Sie haben allerdings auch von einem schlechten Gesetz aus dem Jahre 1998 gesprochen. Sie wissen, dass Sie als FDP damals natürlich wesentlich an diesem Gesetz beteiligt waren. ({0}) Gerade weil dieses Gesetz viele Probleme aufgeworfen hat, geht es für uns als Union um das Thema: Sorgfalt vor Schnelligkeit. Deswegen ist Ihr Antrag heute meines Erachtens fehl am Platz. ({1}) Den Fall Phoenix diskutieren wir seit gut einem Jahr in den Sitzungen des Finanzausschusses, ({2}) obwohl Phoenix in der breiten Kapitallandschaft schon seit zehn Jahren Thema ist. Wer Zeitschriften aus den Jahren 1995 und 1996 heranzieht - Kapitalzeitschriften, Testzeitschriften oder Kapitalinformationsdienste -, sieht, dass Phoenix schon viele Jahre ein Thema gewesen ist, ({3}) weil diese Gesellschaft schon früh den Ruf hatte, unsolide zu arbeiten und die Menschen abzuzocken. ({4}) Deswegen ist natürlich die Frage zu stellen, was wir tun müssen, wenn wir eine neue Sicherungseinrichtung schaffen. Dazu müssen wir auch die Informationen aus der Vergangenheit haben. Die Gesellschaft Phoenix hat Termingeschäfte und Optionsgeschäfte gemacht. Das kann man ja noch akzeptieren, aber sie hat es auf besondere Weise gemacht: Sie hat betrogen. Sie hat die Anleger systematisch betrogen. In ihren Prospekten stand sogar, dass man wahrscheinlich das Kapital verlieren wird. Dennoch haben wir eine Sicherungseinrichtung geschaffen, die auch bei Betrug jedem Zocker das Geld zurückerstattet. Da muss man fragen: Ist das der richtige Weg? ({5}) So haben sich auch beim Fall 2005, als der Skandal aufgedeckt wurde, die Insolvenz von Phoenix bestätigt wurde, viele Anleger keine Sorgen gemacht. Es ging um 30 000 Anleger, die im Durchschnitt 22 000 Euro angelegt hatten. Die Entschädigungseinrichtung sagte: Egal was passiert, bis 90 Prozent der Einlage oder höchstens 20 000 Euro werden von uns finanziert. - Das gab natürlich manchen die Sicherheit, ruhig zu zocken, auf das Versprechen zweistelliger Renditen zu vertrauen in dem Wissen: Das Geld ist doch ohnehin gesichert. Insgesamt konnten von den Kapitalien 200 Millionen Euro gerettet werden. Dennoch fehlen 180 Millionen Euro, die noch finanziert werden müssen. Der Kollege Krüger hat darauf hingewiesen, dass sich die Beiträge auf ungefähr 5 Millionen Euro belaufen. Das heißt, wir haben einen Schaden von 180 Millionen Euro, aber nur Beiträge von 5 Millionen Euro. Zumindest das 36-Fache müsste jetzt finanziert werden. Nun gibt es Unternehmen, die Einzelkämpfer sind. Die zahlen 300 Euro. Sie müssen jetzt das 6,6-Fache bezahlen. Aber es gibt auch Unternehmen, die 2,2 Prozent vom Umsatz bezahlen müssen. Das mal 6,6! Sie müssen also 15 Prozent vom Umsatz als Beitrag bezahlen. ({6}) Es geht um den Umsatz, nicht um den Gewinn. Viele können das unmöglich finanzieren. ({7}) Das Interessante ist eigentlich, dass in den letzten acht Jahren schon 16 Fälle aufgetreten sind, die zu Schäden in Höhe von 14 Millionen Euro geführt haben. Deswegen ist für mich immer noch fraglich: Wie konnte so etwas passieren? Hat die Kontrolle nicht funktioniert? ({8}) Die Situation ist jetzt wie folgt: Es muss gezahlt werden. Herangezogen werden die 733 Mitglieder, die der EdW, der Entschädigungseinrichtung der Wertpapierhandelsunternehmen, angeschlossen sind. Das betrifft 27 große Kapitalanlagegesellschaften und Tochtergesellschaften von großen Banken, aber zu 90 Prozent kleine Finanzdienstleistungsinstitute. ({9}) Das Besondere an diesen Finanzdienstleistungsinstituten - das sind zumeist Vermögensverwalter - ist, dass sie niemals die Möglichkeit hätten, Geld zu veruntreuen, weil sie gar nicht an das Konto herankommen. ({10}) Sie haben nur ein Dispositionsrecht. Das heißt, sie können nur entscheiden, welche Papiere gekauft oder verkauft werden, und die Depotbank kann als einzige auf das Konto zugreifen. Diese werden jetzt mit herangezogen, obwohl sie niemals einen Schaden verursachen können. Für unsere Fraktion kann ich nur sagen: Eine Strafsteuer für diese Gruppe, möglicherweise in Höhe von 15 Prozent des Umsatzes, ist für uns absolut nicht hinnehmbar. ({11}) Die Kollegen haben bereits darauf hingewiesen, dass man bezüglich aller 733 Bescheide, die drei Tage vor Weihnachten mit den besten Weihnachtswünschen herausgeschickt wurden, mit Widersprüchen rechnen kann. Wir wissen, dass viele der größeren Einrichtungen abwandern wollen und bereits Gesellschaften im Ausland gegründet haben. Möglicherweise bleiben nur die kleinen hier. Dadurch entstünde ein Schaden, der nicht eintreten darf, den die Politik verhindern muss. Liebe Kolleginnen und Kollegen, laut Gesetz müssen jetzt die Sonderbeiträge erhoben werden, aber es sind meines Erachtens bis jetzt noch sehr viele Fragen nicht geklärt. Deswegen sage ich auch in Richtung FDP: Wir können hier nicht weiterdiskutieren, bevor wir nicht das Gutachten des Bundesministeriums der Finanzen haben. ({12}) Wir werden natürlich dann, wenn das Gutachten da ist, auch die Frage stellen: Welche Rolle hat das Bundesaufsichtsamt für den Wertpapierhandel, die heutige BaFin, in den entsprechenden Jahren gespielt. Wir wissen, der Betrug war nur möglich, weil alle Anleger auf ein Sammelkonto eingezahlt haben und Phoenix dadurch, dass es frei über dieses Sammelkonto verfügen konnte, im Grunde den Anlagebetrug durchführen konnte. Bei einer ersten Prüfung 1999 ist bereits durch das Bundesaufsichtsamt festgestellt worden, dass dieses Sammelkontoverfahren nicht legal sei. Man hat sogar gegen Phoenix geklagt. Erst im Jahre 2003 hat das Bundesverwaltungsgericht endgültig entschieden, dass es nicht notwendig war, ein solches Sammelkonto einzurichten. Es ist aber nie ein Bescheid erlassen worden. Es ist nie wieder überprüft worden, ob dieses Sammelkontoverfahren überhaupt noch rechtens war. ({13}) Selbst Wirtschaftsprüfungsunternehmen, die das geprüft haben, haben hier keinen Fehler festgestellt, da die Kommunikation zwischen Aufsicht und Wirtschaftsprüfern nicht funktioniert hat. ({14}) Deshalb stellen wir auch die Frage, welche Pflichten Depotbank, Geschäftsführer oder auch der Insolvenzverwalter in den letzten Jahren verletzt haben. Der Stand heute jedenfalls ist: Die Gläubiger klagen gegen den Insolvenzplan, sodass selbst die 200 Millionen Euro nicht ausgezahlt werden können. Wir rechnen hier mit weiteren Verfahren vor dem Bundesgerichtshof. Die Finanzinstitute klagen, dass das EdW-System, also das Entschädigungssystem, verfassungswidrig sei. Hinzu kommt inzwischen eine Staatshaftungsklage wegen mangelnder Aufsicht und schlechter Umsetzung der EU-Richtlinie. Es sind noch viele Fragen offen. Ich weiß auf jeden Fall, dass dieses Gesetz von 1998 den Anforderungen nicht gerecht wird. Nach Vorlage des Gutachtens werden wir also prüfen müssen, ob nicht zunächst das vorhandene Guthaben ausgeschüttet werden kann. An die Adresse der FDP kann ich sagen: Eine Aufnahme des Anspruchsübergangs bei Haftung Dritter in das Gesetz halten auch wir für den richtigen Weg. ({15}) Wir werden aber auch darüber sprechen müssen, wie der Verbraucherschutz ausgestaltet werden soll. Hier stellt sich die Frage: Wo beginnt die Eigenverantwortung des Anlegers? Muss jede Zockerei durch den Staat abgeKlaus-Peter Flosbach sichert werden? - Meines Erachtens ist das nicht der Fall. ({16}) Wir werden auch fragen müssen, welche Kontrollaufgaben die Aufsicht wahrnehmen kann, also was sie kann und, vor allen Dingen, was sie nicht kann. Meines Erachtens ist es weiterhin wichtig, dass wir bei einer Novellierung die Vermögensverwalter aus dem Entschädigungssystem herausnehmen. Für sie würde allemal eine vernünftige Vermögensschadenhaftpflicht bzw. Vertrauensschadenhaftpflicht genügen, um alle Sicherungsansprüche zu erfüllen. ({17}) Auf jeden Fall muss dieses Gesetz novelliert werden. In Richtung FDP sage ich noch einmal: Wir sollten aber aufpassen, dass wir nicht etwas kaputtmachen, was funktioniert. ({18}) Die Einlagen- und Institutssicherungssysteme der Banken, Sparkassen und Volksbanken funktionieren meines Erachtens bisher bestens. Wir sollten also genauestens prüfen, ob wir wirklich ein einheitliches System in Deutschland benötigen oder ob wir damit nicht, wie der Kollege Krüger sagte, unnötige Bürokratie aufbauen, die Sie von der FDP ja normalerweise nicht befürworten. ({19}) Zusammenfassend sage ich nur: Es geht in dieser Frage nicht um weniges. Es geht hier um die Zukunft des Finanzplatzes Deutschland. Es geht hier um die große Gruppe der privaten Vermögensverwalter, die in unserem Finanzmarkt eine hohe Bedeutung haben. Deswegen sage ich: Sorgfalt vor Schnelligkeit. Wir können Ihren Antrag nicht unterstützen. ({20})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Axel Troost, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Axel Troost (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003857, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, Sie rufen nach dem Staat. Das lässt natürlich aufhorchen; denn gewöhnlich tun Sie in Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik das Gegenteil. Staatsinterventionen sind für Sie sonst ohne Wenn und Aber eher ein rotes Tuch. Daher stellt sich für uns die Frage: Ist der Ruf nach dem Staat im Fall Phoenix eigentlich gerechtfertigt? Ich fürchte, dass davon auszugehen ist, dass in diesem Fall der Ruf nach dem Staat - zumindest was Ihre Intention angeht - eher fragwürdig ist. ({0}) Erstens. Ist der Staat schuld, dass der Phoenix-Eigner mit unlauterem Geschäftsgebaren Geld verzockt hat? Nein! Zweitens. Hat der Staat Schuld, dass die Anleger Geld verloren haben? Ich meine, nein. Trotzdem rufen Sie nach dem Staat. Daher drängt sich unmittelbar die Frage auf: Für wen eigentlich? Wem sollen diese Maßnahmen helfen? Den vielen Tausend Kleinanlegern - die meisten davon übrigens aus Ostdeutschland -, die mit gutem Glauben Ihre segensreichen Loblieder auf die hervorragenden Chancen des freien Kapitalmarktes für bare Münze genommen haben und ihr Erspartes Betrügern gegeben haben? Denen hätte man helfen können, wenn man sehr kurzfristig Liquiditätskredite zur Verfügung gestellt hätte, damit sie entsprechend hätten entschädigt werden können. Ich glaube, der Antrag der FDP richtet sich vor allem auf die Klientel Vermögensverwalter und Finanzdienstleister. Die wollen keinen Kredit, mit dem schnell Schadensersatz geleistet werden kann. Sie wollen überhaupt nicht einstehen und verzögern deswegen, wo sie können. Das werden wir nicht unterstützen. Trotzdem ist nicht alles, was Sie fordern, in Bausch und Bogen abzulehnen. Das Problem muss aus unserer Sicht allerdings umfassender angegangen werden, als es in Ihrem Antrag durchscheint. Phoenix könnte ein bedauerlicher Einzelfall sein, würden wir nicht regelmäßig die Erfahrung machen, dass aufsichtsrechtliche und vollzugspraktische Schwierigkeiten - bisweilen sehenden Auges - in Kauf genommen und ignoriert werden, um den interessierten Lobbygruppen schnellstmöglich Vollzug melden zu können. Wir müssen - daran kann aus unserer Sicht kein Zweifel bestehen - die Aufsicht über diesen Bereich des Finanzmarkts verbessern. Dazu muss die Aufsicht neu organisiert werden und personell so ausgestattet sein, dass die Stellen ihren Verpflichtungen auch wirklich nachkommen können. ({1}) Wir müssen - da stimmen wir mit Ihnen überein auch verschiedene Entschädigungsstellen besser organisieren und neu einrichten. Wir müssen insgesamt ein Aufsichtssystem schaffen, das ganz generell im Einklang mit den entsprechenden EU-Richtlinien, insbesondere mit der EU-Entschädigungsrichtlinie, steht. Das ist bislang - das hat der Fall Phoenix gezeigt - nicht gegeben. Hauptkonsequenz ist für uns aber: Unabhängig von den Folgewirkungen wird die Linke auch in Zukunft keinerlei Kapitalmarktpolitik unterstützen, bei der es den Aufsichtsbehörden - sei es durch eine unzureichende Gesetzeslage, sei es durch eine unzureichende Personalund Sachmittelausstattung - unmöglich gemacht wird, ihre Aufgaben im Sinne des Verbraucherschutzes wirklich zu erfüllen. Danke schön. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Christine Scheel, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, es ist schon gut, dass wir heute wieder einmal über das Thema diskutieren, welche Konsequenzen wir aus dem Fall Phoenix zu ziehen haben und welche Handlungsmöglichkeiten es für die Politik überhaupt gibt. Was geschehen ist, ist in erster Linie eine Katastrophe für die Anleger und Anlegerinnen. Das sage ich, obwohl auch ich ein Stück weit die Meinung von Herrn Flosbach vertrete: Nicht jeder, der zockt, und zwar extrem, muss die Sicherheit haben, dass er sein Geld immer wieder zurückbekommt. Irgendwo gibt es auch Grenzen; das ist völlig klar. Wir haben es mittlerweile mit der Situation zu tun, dass Anwälte betrogener Anleger Schadensersatz von der Bundesregierung fordern. Diese Anwälte weisen auf das Kontrollversagen der Bundesfinanzaufsicht und auf Fehler bei der Umsetzung der EG-Anlegerentschädigungsrichtlinie hin.Ich finde, die Regierung hat die Pflicht, deutlich zu machen, ob diese Vorwürfe ein Stück weit berechtigt sind. Es ist auch ihre Aufgabe, Probleme, die man in diesem Zusammenhang bereits erkannt hat, sehr zügig zu lösen und für die Zukunft mehr Sicherheit für Anlegerinnen und Anleger zu schaffen. ({0}) Wir Grünen wollen den Anlegerschutz insgesamt verbessern. Aus diesem Grund sind wir dafür, dass alle aktuellen Gesetzesvorlagen, die Gesetzesvorlagen, die in Zukunft vorgelegt werden, sowie alle Anträge, die in diesem Zusammenhang gemacht werden, unter dem Aspekt abgeprüft werden, ob sie Sinn machen und im Interesse der Anlegerinnen und Anleger sind. Man muss sich klarmachen, dass über viele Jahre hinweg - das kann fast kein Mensch verstehen - über 30 000 Personen um ihr Erspartes betrogen worden sind. Ich habe gehört, dass auch IKEA und andere große Unternehmen zum Kreis der Geschädigten zählen. Da denkt man, diese Unternehmen haben Finanzabteilungen, die sich ein paar Gedanken machen, aber auch die sind darauf reingefallen. Sie alle sind betrogen worden, streiten immer noch vor Gericht und haben noch keinen Euro Entschädigung gesehen. Wenn man sich das bewusst macht, sieht man ein, dass wir präventive Möglichkeiten zum Schutz brauchen, vor allem, was die Verbesserung der Aufsicht anbelangt. Wir müssen uns auch überlegen, ob die gegenwärtige Regelung der Entschädigung der Wertpapierhandelsunternehmen vernünftig und zielführend ist. Im Fall Phoenix liegen die Entschädigungsansprüche bei circa 180 Millionen Euro - die Zahlen wurden schon genannt -, während die Einlagen nur circa 7 Millionen Euro betragen. Die Angaben schwanken: Die einen sagen, es sind zwischen 6 und 7 Millionen Euro, und die anderen sagen, es sind zwischen 7 und 8 Millionen Euro. Irgendwo dazwischen wird die richtige Zahl liegen. Zu den zwei Forderungen, die die FDP in ihrem Antrag gestellt hat, möchte ich gerne etwas sagen: Erstens. Der automatische Übergang von Forderungen der Geschädigten gegen Dritte kann etwas zur finanziellen Stabilisierung einer reformierten Anlegerentschädigungseinrichtung beitragen. Ich denke, das ist so. Das muss aber so geregelt sein, dass eine Abtretung kraft Gesetzes für die Anlegerinnen und Anleger keinen Nachteil bedeuten kann. Das kann nämlich zum Nachteil gereichen, wenn das nicht ordentlich gestaltet ist. Deswegen bedarf eine Novellierung entsprechender Vorgaben. Wir müssen uns in Richtung Insolvenzordnung Gedanken machen. Das muss mit einer zügigen Entschädigungsleistung verbunden und an dieser Stelle in Einklang gebracht werden. Das bedeutet, dass wir uns auf der einen Seite aktiv für die Rechte der Anlegerinnen und Anleger einsetzen müssen. Auf der anderen Seite müssen wir aber auch die Leistungsfähigkeit der Finanzdienstleister berücksichtigen. Ihre zweite Forderung ist die Zusammenlegung der bestehenden Sicherungssysteme. Mir geht es da wie den Kollegen der Union und der SPD: Ich halte diese Zusammenlegung für nicht zielführend. Wenn selbst der Zentrale Kreditausschuss darauf hinweist, dass die EdW kein ausreichendes Prüf- und Sanktionierungsinstrumentarium an der Hand hat, zeigt das doch, dass im System Probleme bestehen, ({1}) die nicht dadurch gelöst werden, dass man das Ganze größer macht. Dann ist zwar mehr Geld vorhanden. Das eigentliche Problem, das in der Struktur liegt, wird aber nicht gelöst. Deswegen müssen wir uns über die Struktur unterhalten und fragen, wie man Krisenfälle frühzeitig erkennen kann. ({2}) Wir sollten nicht noch anderes mit hineinnehmen, obwohl wir genau wissen - der Kollege Krüger hat zu Recht darauf hingewiesen -, dass das in den Bereichen Management, Risikokontrolle und beim Zusammenführen von Informationen in Krisenlagen dann noch eher zu Problemen führen kann, weil diese Strukturen eine hohe Komplexität haben und undurchsichtig sind. Ich glaube, das führt uns insgesamt nicht weiter. Interessant ist, dass in der Vergangenheit eigentlich immer die Prüfungseinrichtungen der Sicherungsfonds die Probleme aufgedeckt haben und nicht die Aufsicht, die oben drüber steht. Auch das ist ein interessantes Phänomen, das man sich genauer anschauen muss. Auf jeden Fall ist die Entschädigung bei Phoenix ein Beispiel für unklare Zuständigkeiten. Deswegen brauchen wir eine Reform. Wir müssen für die Zukunft aufgestellt sein. Es geht um den Finanzplatz Deutschland, es geht um Sicherheit und um das Vertrauen der Anlegerinnen und Anleger. Danke. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Konsequenzen aus dem Entschädigungsfall Phoenix Kapitaldienst GmbH“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7645, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/5786 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU, SPD und der Linken gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der Grünen angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vierter Bericht über die Entwicklung der Pflegeversicherung - Drucksache 16/7772 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Hilde Mattheis, SPD-Fraktion, das Wort.

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Gesundheitsministerin hat hier schon in der letzten Woche zum Vierten Bericht über die Entwicklung der Pflegeversicherung Stellung genommen. Ich möchte mich an dieser Stelle dafür bedanken. Der Bericht enthält grundlegende Informationen für die geplante und auf den parlamentarischen Weg gebrachte Reform der Pflegeversicherung; dies hat sich nicht zuletzt in der elfstündigen Anhörung zum Pflege-Weiterentwicklungsgesetz gezeigt. Prinzipiell bestätigt der Bericht, dass die Pflegeversicherung ein wichtiger Baustein im System der sozialen Sicherheit ist. Er listet auf, bei welchen gesetzgeberischen Maßnahmen Aussagen des Dritten Berichtes von 2004 aufgegriffen und umgesetzt worden sind. Im Bericht wird anhand statistischer Erhebungen verdeutlicht: Bei allen positiven Aspekten dieses Versicherungszweiges brauchen wir Leistungsverbesserungen, eine Reform der Strukturen und die Stabilisierung der Finanzen. Die Solidarität mit Pflegebedürftigen und der Wunsch nach Erhalt der Würde in dieser Lebensphase waren wichtige Beweggründe für den Aufbau der Pflegeversicherung. Die Versicherung sollte von Sozialhilfe unabhängig machen. Das ist gelungen, denn von 1994 bis 2000 sind die gesamten Bruttoausgaben der Träger der Sozialhilfe für die Hilfe zur Pflege von 9,1 Milliarden Euro auf 2,9 Milliarden Euro zurückgegangen. Die Pflegeversicherung hat also zu einer deutlichen Entlastung der Träger der Sozialhilfe beigetragen und hat dafür gesorgt, dass Pflegebedürftige nicht mehr Bittsteller sind. ({0}) Allerdings ist in den letzten Jahren des Berichtszeitraums ein leichter Anstieg der Sozialhilfebedürftigkeit zu verzeichnen. Ebenfalls ist die Zahl derjenigen angestiegen, die ambulant oder stationär gepflegt werden, und zwar um 2,2 Prozent bzw. 7,3 Prozent. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung und unter Berücksichtigung des Grundsatzes „ambulant vor stationär“ ist erstmals seit 1995 eine deutliche Leistungsverbesserung geplant. Der Ausbau der Infrastruktur soll beschleunigt werden. ({1}) Die Leistungsansprüche in den Pflegestufen der ambulanten Pflege und in Pflegestufe III der stationären Pflege sowie für Härtefälle werden erhöht. Außerdem werden Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz einen Anspruch auf Betreuung in Höhe von bis zu 200 Euro erhalten. ({2}) Diese Pauschale wird zusätzlich zu den Leistungen für die ambulante Pflege gezahlt. Sie wird benötigt, da das Pflegegeld einen Anteil von 23,5 Prozent an den Leistungsausgaben in der ambulanten Pflege ausmacht und damit vor den Ausgaben für die Pflegesachleistungen liegt, die mit 14,1 Prozent zu Buche schlagen. So kann das Ziel einer deutlichen Entlastung der pflegenden Angehörigen erreicht werden. ({3}) Die Anzahl der Pflegeeinrichtungen ist gestiegen. 11 000 ambulante Pflegedienste betreuen 472 000 Pflegebedürftige, und 9 400 Pflegeheime bieten 676 000 Menschen Heimat. Grundsätzlich ist zwar zu bemerken, dass die Länder für den Aufbau der Pflegeinfrastruktur zuständig sind, aber natürlich ist der Grundsatz „ambulant vor stationär“ im SGB XI verankert und daher zu unterstützen. Laut Bericht sind 40,3 Prozent der Menschen, die sich für eine stationäre Pflege entscheiden, in Pflegestufe I, 40,2 Prozent sind in Pflegestufe II und 19,6 Prozent in Pflegestufe III. Diese Zahlen verdeutlichen, dass der Ausbau der Pflegeinfrastruktur vielen Menschen ermöglichen würde, weiter in ihrer Wohnung zu bleiben, die zum jetzigen Zeitpunkt oftmals deshalb in eine stationäre Einrichtung gehen, weil sie die Alternativen nicht kennen. ({4}) Um eine bessere Beratung, Vernetzung und Koordinierung zu erreichen, sollen gerade für Menschen, die noch nicht eingestuft sind, als erste Anlaufstelle Pflegestützpunkte eingerichtet werden, ({5}) die genau an der Schwäche dieses Systems ansetzen und bei der Beantwortung einfacher W-Fragen helfen: Wo muss ich hingehen, wenn ich die Wohnung an die neue Situation anpassen muss? Wie beantrage ich eine Pflegestufe? Welche Hilfsdienste gibt es? Wer ist für welche Unterstützung zuständig? - Das alles sind Fragen, für deren Beantwortung die Menschen heute oft von Pontius zu Pilatus laufen und vor denen sie eventuell kapitulieren. Wer am Montag und am Mittwoch bei den Anhörungen zugehört hat, hat die breite Unterstützung für dieses Vorhaben von Betroffenenverbänden und dem Verbraucherschutz gehört. ({6}) - Ich war dort. Die Zeitung schreibt nicht unbedingt das, was das Protokoll offenbaren wird. Gemach, liebe Kollegen! ({7}) Ich bin mir sicher, dass Sie, wenn Sie das im Protokoll nachlesen, Ihr Urteil revidieren werden. ({8}) Wenn Sie, Herr Zylajew, auf die Internetseite des Landkreises Siegen-Wittgenstein - der Landrat gehört der Union an - gehen, dann werden Sie feststellen, dass auch Kommunen mit einer schwarzen Regierung durchaus erkennen - auch der Kämmerer erkennt das ({9}) - ja -, dass Pflegestützpunkte im Prinzip dazu beitragen, nicht nur den Grundsatz „ambulant vor stationär“ zu verwirklichen, sondern ein Stück weit auch die Haushalte zu schonen. ({10}) Mit der Zahl der Pflegebedürftigen ist auch die Zahl der in der Pflege Beschäftigten gestiegen. Im Bericht wird offenbar, dass wir in diesem Bereich sehr viel tun können und wollen, nicht zuletzt - Entschuldigung, die Kollegen werden sich jetzt vielleicht wieder etwas echauffieren - durch einen Mindestlohn für in der Pflege Beschäftigte. ({11}) Auch das ist ein Punkt, den wir weiter im Blick haben. Es geht nicht zuletzt um die Finanzen. Auch da beziehe ich mich auf die Anhörung. Nicht alle Sachverständigen sind neutral; das wissen wir ja. Das betrifft vor allen Dingen einen von der FDP benannten, der heute in der Zeitung verkündet, dass die Beitragssätze vielleicht auf bis zu 7 Prozent steigen. Dazu muss ich sagen: Diese Auftragsarbeiten von Versicherungsunternehmen und Banken tragen nicht unbedingt zur Seriosität bei. ({12}) Wir haben uns geeinigt, dass durch eine Erhöhung des Beitragssatzes um 0,25 Prozentpunkte die Pflegeversicherung bis 2014, 2015 eine gesicherte Finanzierung hat. Auch das wurde von Sachverständigen bestätigt. Es ist kein Geheimnis und wird Sie nicht erstaunen, dass unsere Idee einer Bürgerversicherung nach wie vor ein Ziel für uns ist. ({13}) Genauso haben wir den Ausgleich der privaten Versicherung an die soziale Pflegeversicherung weiter im Blick. Dazu muss ich sagen, dass uns nicht zuletzt der Sachverständige, der von der CDU/CSU benannt worden ist, unmissverständlich gesagt hat, dass das durchaus möglich ist und er sich nicht sicher ist, ob dieses Vorhaben verfassungswidrig ist. ({14}) In vielen Punkten des Vierten Berichts über die Entwicklung der Pflegeversicherung sehen wir Diskussionsbedarf; das ist klar. Mein Fazit an dieser Stelle lautet: Mit dem PflegeWeiterentwicklungsgesetz leiten wir richtige und wichtige politische Schritte aus diesem Bericht ab. Wir haben wichtige Punkte wie die Bürgerversicherung, den Finanzausgleich, die bezahlte Freistellung und die Überarbeitung des Pflegebegriffs im Blick und wissen, dass es dabei immer um die Lebensqualität der Menschen geht, die es zu verbessern gilt. Danke für das Zuhören. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Heinz Lanfermann, FDP-Fraktion.

Heinz Lanfermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002717, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Natürlich beginnt jede Politik mit dem Erkennen der Realität, Frau Kollegin Mattheis. Ich glaube, Sie hätten in der Anhörung besser wach bleiben und zuhören sollen. ({0}) Im Hinblick auf die im vorliegenden Bericht erwähnte Frage der Pflegestützpunkte will ich nur den Sachverständigen Professor Thüsing erwähnen, der sinngemäß gesagt hat: Was gewünscht wird, geht nicht, und was gehen würde, hilft nicht. ({1}) Die Leistungsgewährung aus einer Hand, durch die die von Ministerin Schmidt eindrucksvoll beschriebenen Massenwanderungen von Pontius zu Pilatus beendet werden sollten, kann es aus den verschiedensten praktischen und rechtlichen Gründen gar nicht geben. So kann der bei den Pflegekassen angestellte Berater zwar für den Pflegebedürftigen einen individuellen Versorgungsplan aufstellen, der auch die Sozialleistungen enthält, die ihm sinnvoll erscheinen. Die Sozialhilfeträger haben aber in der Anhörung deutlich gemacht, dass die Pflegeberater nicht für sie verbindlich Leistungen bewilligen können; Frau Kollegin Mattheis, das haben doch wohl auch Sie gehört. Die Kompetenz der Pflegeberater bleibt vielmehr auf die Leistungen der Pflegeversicherung beschränkt. ({2}) Auch bei der Bewilligung von Leistungen der Pflegeversicherung und insbesondere der Krankenversicherung gibt es einfache, aber wirkungsvolle Hürden. Stellen Sie sich folgenden einfachen Fall vor: Ein Pflegebedürftiger wird in einem Pflegestützpunkt von einem Berater der Krankenkasse und damit wohl auch der Pflegekasse A beraten, ist selbst aber bei der Krankenkasse B versichert. Mit der Beratung und vor allen Dingen mit der Leistungsbewilligung könnte die Kasse A Einfluss auf die Ausgaben der Kasse B nehmen. Das wollen die aber nicht, und das werden sie auch nicht akzeptieren. Es ist gar nicht möglich, zu garantieren, dass die Bearbeitung durch einen Mitarbeiter der jeweils zuständigen Kasse erfolgt. Schon an diesem einfachen Beispiel wird deutlich, was das wahre Ziel dieser Aktion ist. Funktionieren kann der Schmidt’sche Vorschlag der Pflegestützpunkte am Ende nämlich nur im Rahmen der von ihr angestrebten Einheitskasse. ({3}) Ich sage Ihnen: Es werden sogar Schwierigkeiten provoziert, damit man später sagen kann: Seht mal, es würde ja gehen. Wir könnten diese Probleme überwinden, wenn wir nur eine Einheitskasse hätten. Mit dem Aufbau von bis zu 4 100 Stützpunkten im gesamten Bundesgebiet, dessen Kosten in dreistelliger Millionenhöhe den Großteil der durch die Beitragssatzerhöhungen erzielten Mehreinnahmen verschlingen werden, werden vielerorts Doppelstrukturen geschaffen. Das haben uns diejenigen berichtet, die landauf, landab viele Beratungen durchführen. Dass Sie die Pflegestützpunkte im vorliegenden Bericht unter „Maßnahmen zur Entbürokratisierung“ aufführen, ist eine reine Realsatire. ({4}) Meine Damen und Herren, wenn ein Stützpunkt errichtet wird - auch das haben uns die Sachverständigen bestätigt -, werden viele vor Ort bereits existierende Beratungs- und Koordinierungsangebote die Segel streichen müssen. Damit wird der Pflegeberater zu einem Beratungsmonopolisten, der mit der Entscheidung, bei welchem Anbieter der Versorgungsplan umgesetzt wird, natürlich auch Einfluss auf die Marktchancen der vor Ort vorhandenen Leistungsanbieter nehmen kann. Über die Pflegekassen gelingt so der Einstieg in die planwirtschaftliche Staatspflege. Wenn man sich Ihren Gesetzentwurf, der wirklich bemerkenswert ist, ansieht, ist all dies ziemlich durchschaubar. Mit keinem Wort wird die Ausgangslage, welche Beratungsangebote es eigentlich gibt, dargestellt. Es wird eine Problemlösung angeboten, ohne dass das Problem auch nur im Geringsten beschrieben wird. Es werden keinerlei Zuschreibungen von Kompetenzen aufgeführt. Die Frage, wer in welchem Fall über wessen Gelder verfügen soll, bleibt weitestgehend offen. ({5}) Welche Größe diese Stützpunkte haben sollen, welche Kosten dort entstehen, wer das - abgesehen von der Anschubfinanzierung, die nicht viel bringt - bezahlen soll, all das bleibt offen. Leistungen aus einer Hand wurden versprochen. Kaum ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Betreuung der Arbeitslosen in den Argen ergangen, wird zurückgerudert und erklärt, es solle lediglich beraten und koordiniert werden. Wenn aber nur beraten und koordiniert wird, kann man nichts entscheiden. Wenn derjenige, der eigentlich entscheiden soll, nur unterschreiben darf, was ein anderer aufschreibt, ist seine Kompetenz ausgehöhlt; auch das funktioniert nicht. Die Ministerin schwankt von einer Aussage zur anderen. Sie hat hier kürzlich sogar behauptet, nicht die einzelnen Pflegekassen würden die Berater bezahlen, diese würden vielmehr aus einem Topf bezahlt, gewissermaßen aus einem, um dieses schöne Wort anzubringen, Pflegekassenberaterfonds oder Ähnlichem - auch so etwas werden Sie sich noch einfallen lassen! ({6}) Sie werden dann noch darüber streiten müssen, wer von Ihnen, meine Damen, zur Pflegestützpunktbeauftragten ernannt wird, am besten im Range einer Parlamentarischen Staatssekretärin. ({7}) Ich wünsche weiterhin viel Vergnügen mit diesem Gesetzentwurf! Danke schön. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun hat Kollege Willi Zylajew, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Willi Zylajew (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003664, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will mich an der Tagesordnung orientieren und zum Vierten Bericht über die Entwicklung der Pflegeversicherung Stellung nehmen. Ich halte fest, dass dieser Bericht deutlich macht: Die Blüm’sche Pflegeversicherung hat sich bewährt, sie ist eine einzigartige Erfolgsgeschichte. ({0}) Was die Herren Blüm und Dreßler und kluge Liberale 1994/95 auf den Weg gebracht haben, war gut, ist gut und - ich sage dies mit Blick auf die Reform - bleibt gut. ({1}) 1995 haben die Menschen praktisch von einem Tag auf den anderen in Diensten und Einrichtungen eine verlässliche, eine kalkulierbare, eine auskömmliche Leistung und Hilfe bekommen. Dies hat sich bewährt. Dies ist auch heute noch so; der Bericht belegt das. Durch diese Beständigkeit sind im gesamten Bundesgebiet neue Einrichtungen und Dienste entstanden. Die Pflegeinfrastruktur, die wir in der Bundesrepublik Deutschland haben, ist vorzüglich. Der Bericht macht deutlich, wie gut sich die Angebote entwickelt haben: Von 2001 bis 2005 ist die Zahl der stationären Einrichtungen um 15 Prozent gestiegen. In diesem Zeitraum ist die Zahl der Versorgten um 12 Prozent gewachsen, die Zahl der Beschäftigten um 14,9 Prozent. Ich will darauf hinweisen, dass dies viel über die Qualität der Pflege aussagt. Nicht anders das Bild im ambulanten Bereich: Von 2001 bis 2005 ist die Zahl der in Einrichtungen Betreuten um 8,5 Prozent gestiegen, die Zahl der Beschäftigten um 13,1 Prozent. Entscheidend ist für uns, dass laut Bericht die Zahl der examinierten Kräfte um 50,4 Prozent angestiegen ist. ({2}) Diese Zahlen machen die Qualität der Pflegeversicherung deutlich. Ich will eine weitere Zahl nennen: 300 000 Mitarbeiter mehr als 1995 sind heute in der Pflege beschäftigt. Das ist gut und richtig, und davon profitieren die Menschen. ({3}) Frau Ausschussvorsitzende, trotz dieser guten Zahlen müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass es Reformbedarf gibt. Dieser Reformbedarf ergibt sich schon daraus, dass der Anteil der älteren Generation an der Gesamtbevölkerung steigt. ({4}) - Wir haben in der Tat seit einigen Jahren Reformbedarf, Kollege Bahr. Dazu werde ich nachher noch etwas sagen. Trotz der wirtschaftlichen Schwäche von 1999 bis 2005 wurden die Menschen - dies müssen wir zur Kenntnis nehmen - gut versorgt. Die Blüm’sche Pflegeversicherung hat trotz der pflegepolitischen Nullrunden in den Jahren der Regierung von Schröder, Lafontaine, Clement und Fischer eine beständige und verlässliche Versorgung der Menschen ermöglicht. Die Qualität der Pflege in Deutschland ist gut. Ich will daran erinnern, dass es vorher so war, dass es in finanzstarken Gebietskörperschaften gute Leistungen gab, in finanzschwachen weniger gute oder überhaupt keine. Heute ist dies anders. Wir haben eine positive Gesamtentwicklung. Aus den über 150 Seiten des Berichts wird allerdings deutlich, dass die Bearbeitung der Anträge auf Einstufung in die Pflege sowohl bei den Versicherungen als auch bei den medizinischen Diensten zu lange dauert. 30,4 Prozent der Anträge werden in vier Wochen erledigt. Für den Rest brauchen sie bis zu acht Wochen und länger. Dies ist nicht hinnehmbar und aus unserer Sicht unmenschlich. ({5}) Im stationären Bereich werden 43,1 Prozent der Anträge erst nach acht Wochen und länger beschieden. Wir halten das für unmöglich; denn hieraus resultiert im Endeffekt doch die schlechte Versorgung, die die MDKs auf der anderen Seiten kritisieren. ({6}) Ich denke: Die Krankenkassen und die MDKs zahlen die Gehälter pünktlich aus, dann sollen sie bitte auch die Bescheide pünktlich herausgeben und die Leistungen pünktlich zahlen. ({7}) Wir werden dies im Rahmen der Reform ganz eindeutig ändern und eine Zeit festschreiben. Die Menschen sollen wissen, dass sie einen Anspruch auf einen Bescheid in einer angemessenen Zeit haben. Damit leisten wir einen Beitrag zur Qualitätssteigerung. ({8}) Optimierungsbedarf gibt es eindeutig auch bei der Reha. Es ist leicht, „Reha vor Pflege“ zu sagen, aber dann müssen die Krankenkassen und die MDKs die Reha-Maßnahmen auch anordnen und sich sofort nach einem gesundheitlichen Einbruch für eine Behandlung positionieren. ({9}) Auch hier werden wir einiges tun. „Reha vor Pflege“ ist unser Ziel. Damit werden wir uns durchsetzen. Ich sage Ihnen ganz eindeutig, dass es natürlich auch Überlegungen gibt, über die wir in der Koalition noch lange diskutieren müssen. Kollegin Mattheis, ich habe zur Kenntnis genommen, was bei der Propagandaveranstaltung im Ministerium am letzten Freitag geschehen ist. Ich glaube, Sie verwechseln das Ergebnis dieser Veranstaltung mit dem Ergebnis der Veranstaltung am Montag. ({10}) Wäre mein ältester Enkelsohn Jakob am Montag dabei gewesen, dann würde er sagen: Opa, Schiffchen versenkt. - Das gilt für die Stützpunkte und Fallmanager ganz eindeutig. ({11}) Es gibt nun niemanden mehr, der dafür ist. Von der AOK über die IKK, die BEK und alle Kassen, die vertreten waren, bis hin zu den kommunalen Spitzenverbänden: Alle haben bescheinigt, dass wir die Stützpunkte in dieser Form nicht benötigen. ({12}) - Ich habe das Lesen in der Schule gelernt. Der Bericht enthält Informationen über eine Situation von 2001 bis 2005, die wir zu bewerten haben. In dieser Zeit gab es keine Stützpunkte in der vom Ministerium gewünschten Form. ({13}) Insofern gehört das in die Abteilung Poesie. ({14}) Man muss einfach zugestehen, dass so etwas auch einmal in einen Bericht hineinkommt. Wir müssen damit leben und werden das auch. ({15}) Wir muten den Beitragszahlern eine Steigerung der Beitragslast um 2,5 Milliarden Euro zu. Für uns als CDU/CSU-Fraktion ist eines wichtig: Wir wollen, dass diese 2,5 Milliarden Euro komplett, also ohne jeden Abzug, am Pflegebett, im Pflegebad, in der Wohnung und bei der ambulanten Versorgung ankommen. Das ist unser Ziel. ({16}) Wir wollen keine neuen bürokratischen Strukturen schaffen. In der Pflegeversicherung haben wir eh zu viele bürokratische Vorgaben. Wir werden dort so viel, wie uns möglich ist, ausdünnen. Wir sind sicher, dass es unsere Aufgabe ist - Kollegin Mattheis, hier sind wir doch einer Meinung -, etwas für die Pflegebedürftigen zu tun und keine neuen behördlichen Pflegestrukturen zu schaffen. Ich denke, wir alle werden ein Stück weit an diesem Ziel arbeiten, sodass wir zu einem guten Ergebnis kommen. Der nächste Pflegebericht wird deutlich machen, dass das, was Herr Blüm 1995 begonnen hat, von Wolfgang Zöller und Annette Widmann-Mauz in diesem Jahr fortgesetzt wurde. Darauf können wir alle dann gemeinsam stolz sein. Danke schön. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Ilja Seifert, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Damen und Herren auf der Tribüne! Die Ministerin sprach am Mittwoch vergangener Woche über den Pflegebericht und berichtete aus dem Kabinett. In dieser Woche hatten wir zwei Tage Anhörung zur Pflegeversicherung. Jetzt gibt es noch diese Debatte im Bundestag. Man könnte fast meinen, dass wir über etwas Wichtiges reden. ({0}) Wichtig ist die Pflege. Aber die vorliegenden Papiere sind alles andere als wichtig. Sie sind so dünn, liebe Kollegin Spielmann, dass es kein Wunder ist, dass wir erst zu dieser späten Stunde darüber reden, wenn kein Mensch mehr diese Debatte am Fernseher verfolgen kann, weil sie gar nicht übertragen wird. Welche Fakten gibt es denn? Uns liegt ein schöner Bericht vor, in dem zum Beispiel steht, ({1}) angesichts der steigenden Beschäftigtenzahlen sei grundsätzlich festzustellen, dass derzeit kein genereller Fachkräftemangel in der Altenpflege bestehe. Wo leben Sie denn? Haben Sie sich einmal das richtige Leben angeschaut? Da fehlen die Fachkräfte hinten und vorne, rechts und links und oben und unten. Dass die Zahl der Beschäftigten im Pflegebereich insgesamt steigt, liegt daran, dass es viel mehr Betriebe mit mehr Beschäftigten gibt, die zum Beispiel als Hausmeister tätig sind, die aber nicht am Pflegebett oder an der Badewanne stehen, lieber Kollege Zylajew. ({2}) Noch etwas. Sie wollen, dass jeder Euro am Pflegebett und an der Badewanne ankommt. Ich hingegen will, dass jeder Euro bei den Menschen ankommt. Das Bett hat nichts vom Geld. ({3}) Es ist ein ganz entscheidender Unterschied, ob ich von den Menschen her denke oder von den Betten. Das ärgert mich an Ihrer Argumentation jedes Mal. Sie denken von den Strukturen und vom Geld her, nicht aber von den Menschen her. ({4}) - Ich lese doch Ihre Papiere und höre Ihre Reden. Sprache ist verführerisch und auch verräterisch. Zurück zum vorliegenden Pflegebericht. Wer die Pflegesituation wirklich verbessern will, muss mehr Menschen dazu bringen, Arbeit in der Pflege zu leisten. Wenn man das erreichen will, muss man diese Arbeit aufwerten, und zwar sowohl moralisch als auch finanziell. ({5}) Man kann diese physisch und psychisch schwere Arbeit nicht nebenbei leisten. Man muss die Menschen, die diese Arbeit leisten, ordentlich bezahlen - das ist zurzeit nicht der Fall - und ihnen Aufstiegschancen und die Perspektive geben, eine Auszeit zumindest in Form einer Supervision zu nehmen. Das alles ist stark unterentwickelt. Wenn zunehmend weniger Menschen an den Umschulungen der Bundesagentur für Arbeit teilnehmen, um sich für eine Tätigkeit im Pflegebereich ausbilden zu lassen, wird der Fachkräftemangel bald so groß sein, dass sich die Zahl gravierender Pflegefehler weiter erhöhen wird. Es kann doch nicht sein, dass Dekubitus und andere Dinge massenhaft um sich greifen. Komischerweise - das ist der letzte Punkt, den ich hier ansprechen kann - ist in Ihrem Bericht davon die Rede, dass 10 Prozent schlecht versorgt werden. Wieso spricht der MDS von 30 Prozent und mehr? Lassen Sie uns zumindest die Fakten einmal genau ansehen. Selbst in Ihrem Bericht lese ich, dass zu den Pflegeproblemen freiheitseinschränkende Maßnahmen - die Leute werden ans Bett gefesselt - gehören, dass die Inkontinenzversorgung nicht in Ordnung ist, dass die Leute also nicht zur Toilette gebracht werden. Wenn diese Dinge immer noch nicht abgestellt sind, dann braucht niemand von einem tollen Bericht und einer tollen Pflegeversicherung zu sprechen. Wir haben ein großes Problem, und das muss endlich gelöst werden. Danke schön. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Elisabeth Scharfenberg, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Elisabeth Scharfenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003835, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In dem zur Debatte stehenden Vierten Bericht zur Entwicklung der Pflegeversicherung ist unter anderem ein Kapitel zur Pflegereform enthalten. Deshalb nehme ich mir heute in meiner relativ kurzen Redezeit die Freiheit, diese Reform anzusprechen. Gestern ist die öffentliche Anhörung zum Pflege-Weiterentwicklungsgesetz zu Ende gegangen. Ich muss sagen, ich war offensichtlich auf der gleichen Veranstaltung wie Frau Kollegin Mattheis. ({0}) Von „Treffer, versenkt“, lieber Willi Zylajew, kann also wirklich keine Rede sein. Wir befinden uns mit unseren Schiffchen hier wohl eher im Auge des Pflegetaifuns. Offen gesagt: Die Anhörung war alles andere als ein Erfolg für diese Koalition. ({1}) Thema nachhaltige und gerechte Finanzierung: Die Finanzierungsmaßnahmen der Pflegeversicherung reichen gerade einmal in die nächste Wahlperiode hinein. Das wurde von allen Experten und Verbänden bestätigt. Mit sozialer Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit hat das nichts zu tun, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Thema Pflegestützpunkte: Ich sage Ihnen ganz klar: Wir Grünen werden nicht in den Kanon derer einstimmen, die hier freudig das Lied vom Ende der Pflegestützpunkte singen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Zylajew?

Elisabeth Scharfenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003835, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr gern.

Willi Zylajew (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003664, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Scharfenberg, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass der Berichtszeitraum 2001 bis 2005 genau Ihre Regierungszeit abdeckt? ({0})

Elisabeth Scharfenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003835, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das ist richtig. Aber wir befinden uns im Moment in der Reformphase. Da müssen wir nach vorn schauen und Dinge, die zu verbessern sind, verbessern. ({0}) Das ist der Sinn der Reform. Davor die Augen zu verschließen, nützt nichts. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Zylajew möchte noch einmal nachfragen.

Elisabeth Scharfenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003835, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich danke Ihnen, dass Sie meine Redezeit so verlängern.

Willi Zylajew (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003664, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Scharfenberg, sind Sie mit mir glücklich darüber, dass die Regierung, die die aus Ihrer Sicht unguten Entwicklungen 2001 bis 2005 zu verantworten hat, bei dieser Reform nicht mehr mitgestalten kann? ({0})

Elisabeth Scharfenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003835, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, darüber bin ich nicht glücklich. Ich denke, die damalige Koalition würde, wäre sie noch heute an der Regierung, zu einem leichteren und letztendlich für alle Betroffenen, für alle Nutzerinnen und Nutzer besseren System finden. ({0}) Zurück zum Thema Pflegestützpunkte. Wir fallen also nicht in den Chor der Unkenrufe ein, die von der rechten Seite des Plenarsaals kommen. Wir Grünen haben schon, als der erste Entwurf des Reformgesetzes kursierte und Pflegestützpunkte erwähnt wurden, gesagt, dass wir diesen Ansatz richtig finden. ({1}) Dazu stehen wir; das finden wir auch weiterhin. Der Ansatz ist richtig; aber die Ausgestaltung und die Aufgaben der Stützpunkte und Pflegeberater sind es, die dringend überarbeitet werden müssen. Die Stützpunkte und die Pflegeberater müssen unabhängig und neutral sein. ({2}) Im bisherigen Konzept sind sie es - das müssen wir ganz klar sagen - definitiv nicht. Das kann die Ministerin so oft behaupten, wie sie möchte; sie schafft es nicht, sie neutral zu reden. Selbst die Ärzte-Zeitung - bei der wir es nicht unbedingt mit einem linksliberalen Blatt zu tun haben - vom gestrigen Mittwoch stellt fest - ich zitiere -: Angesichts der unterschiedlichen Interessen der Akteure im Milliardenmarkt Pflege und der Tendenz von Politikern, die steigenden Sozialausgaben zunehmend restriktiv zu steuern, kann die Lösung nur heißen: Ja zu den Stützpunkten, aber nur mit unabhängigen Patientenanwälten. ({3}) Auch Pflegebedürftige verdienen Fairness - diese beginnt mit einer unabhängigen Beratung. Der Aufbau der Stützpunkte darf nicht nur auf das Feld der Beratung beschränkt werden. Beratung ist ein wichtiger, aber nur kleiner und kurzfristig wirkender Teil dessen, was die Betroffenen letztendlich brauchen. Sie brauchen darüber hinaus langfristig wirksame, individuelle Hilfen und Begleitung. Sie brauchen ein wirkliches Fallmanagement, das in ihrem Interesse handelt. Aber das braucht Unabhängigkeit, Vernetzung und Koordination. Diese Bedingungen erfüllen die Stützpunkte und Berater bisher nicht. Das ist in der Anhörung mehr als deutlich geworden. Nun ein Wort zu den Kollegen der Union. ({4}) Ihr absurdes Modell der Beratungsgutscheine erfüllt das im Übrigen alles nicht und bringt somit keinen Fortschritt. ({5}) Die wohl wichtigste Aufgabenstellung, die sich aus der Anhörung für uns ergibt, ist es, die Situation der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen zu verbessern. Dazu müssen wir uns die Frage stellen, was diese Menschen - also auch wir, unsere Kinder, unsere Eltern oder unsere Schwiegereltern - brauchen und wie wir ihnen und uns zu mehr Selbstbestimmung verhelfen können - und nicht, was parteipolitisch gerade am besten in den Kram passt. Wir befassen uns hier nicht mit Theorie, sondern mit der Lebensrealität, einer Lebensrealität, die viele Menschen in diesem Land, im Übrigen auch uns selbst, betrifft. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/7772 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörn Wunderlich, Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Arbeit familienfreundlich gestalten - Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Mütter und Väter lebbar machen - Drucksache 16/7482 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Jörn Wunderlich das Wort für die Fraktion Die Linke. ({1})

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Familienfreundliche Arbeitswelt - das klingt toll. Darüber wird in letzter Zeit viel gesprochen. Die Arbeitswelt tatsächlich familienfreundlich umzugestalten, ist eine der wesentlichen Zukunftsaufgaben im Rahmen der Familienpolitik. Der Wandel der Familienformen, der Wandel der gesellschaftlichen Rolle von Frauen und Männern und der Wandel der Arbeit selbst machen ein Umdenken nötig. Das darf nicht vom Entgegenkommen einzelner Betriebe abhängig gemacht werden. ({0}) - Hören Sie mir doch einmal zu, Frau Lenke! ({1}) Es gibt Betriebe, die familienfreundlich sind. Das muss man unumwunden anerkennen. In meinem Nachbarort befindet sich auch einer. Das ist ganz toll. Aber nur 78 Prozent der Beschäftigten arbeiten in Betrieben mit Betriebsrat, und nur 8 Prozent dieser Betriebe verfügen über eine Vereinbarung, die Familie und Beruf betrifft. Diese Zahlen stehen in einer Informationsschrift des Bundesministeriums. In unserem Antrag sind drei wesentliche Forderungen enthalten: Kündigungsschutz für Eltern ausweiten, Berufsrückkehr fördern und Gestaltung der Arbeitszeit ermöglichen. ({2}) Zum ersten Punkt. Es ist völlig klar, dass Vereinbarkeit von Familie und Beruf nur möglich ist, wenn eine qualitativ hochwertige und eine für Eltern möglichst beitragsfreie Ganztagsbetreuung zur Verfügung steht. Die Initiativen hinsichtlich des Krippenausbaus sind zu begrüßen. Aber sie gehen nicht weit genug. Zum Krippenausbau muss auch das Elterngeld hinzukommen. Aber auch das reicht noch nicht. Es ist nur konsequent, wenn wir den Kündigungsschutz und gemäß unserem Antrag auch die Elternzeit ausweiten, die man zumindest bis zur Einschulung gesplittet nehmen können sollte. Dann ist es natürlich nur logisch, einen entsprechenden Kündigungsschutz einzufordern, wie es ihn bei der gegenwärtigen Elternzeitregelung gibt. Für Gewerkschaften und Betriebsräte liegt in dem Thema auch die Chance, eine Stärkung der Arbeitnehmerrechte zu erreichen; denn wir brauchen eine Stärkung tariflicher, sozialer und arbeitsrechtlicher Standards. ({3}) Es ist auch Aufgabe des Gesetzgebers, diese Gestaltungsmöglichkeiten zu erweitern und kollektive Lösungen zu stärken. Allein ein Appell reicht da nicht aus. ({4}) Mein Gott, was haben wir schon alles für Appelle gehabt. Dann heißt es immer: Toll, die Appelle waren erfolgreich. - Es funktioniert aber nicht. Es geht nämlich nicht überall so. Das Betriebsverfassungsgesetz ruft Betriebsräte ausdrücklich dazu auf, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu fördern, doch nur circa ein Drittel der Betriebsräte befasst sich mit familienfreundlichen Maßnahmen. Das ist das Ergebnis der Appelle. Zweiter Punkt: Berufsrückkehr fördern. Für Familien mit Kindern und vor allem für Alleinerziehende ist der Alltag ein schwieriger Balanceakt. Viele kapitulieren dann vor der letztlich doch noch vorherrschenden Familienunfreundlichkeit in der Arbeitswelt und verlieren dann auch manchmal ihren Arbeitsplatz. Vor allen Dingen junge Mütter müssen mit dem Risiko leben, dass ihnen nach der Elternzeit der Wiedereinstieg in den Beruf entweder erschwert oder verwehrt wird und dass sie mit angeblich familienfreundlichen Minijobs - das ist ein beliebtes Spiel - abgespeist werden. Deswegen fordern wir eine Arbeitsplatzgarantie, die eine Rückkehr auf den gleichen oder zumindest einen vergleichbaren Arbeitsplatz ermöglicht, ({5}) und während der Elternzeit eine weitere Teilhabe am betrieblichen Geschehen durch betriebliche Weiter- und Fortbildungsmaßnahmen oder möglicherweise sogar durch die Übernahme kurzer Vertretungen im Betrieb. ({6}) - Die CDU hat bei ihrer Wiesbadener Erklärung ja bei uns abgeschrieben. Warum sie das macht, wenn es das alles schon gibt, Frau Griese, verstehe ich nicht. ({7}) Dritter Punkt: Gestaltung von Arbeitszeit ermöglichen. Kinder brauchen Zeit. Zeit spielt in Familien mit Kindern eine ganz wichtige Rolle. Erwerbstätige Eltern und Pflegende benötigen mehr Zeitautonomie. Das ist in der zurückliegenden Familienpolitik kaum beachtet worden. Dieser Fakt ist vielmehr sträflich vernachlässigt worden. Der Siebte Familienbericht stellt dazu fest, dass viele Eltern die Balance zwischen Familie und Erwerbsarbeit als unbefriedigend empfinden. 78 Prozent der Beschäftigten, die in Elternzeit sind, wünschen sich Teilzeitangebote, zeitlich begrenzt. Vorschläge erhalten nur 29 Prozent. Wie es vor Ort aussieht, will ich Ihnen einmal schildern. Ich habe vor ein paar Tagen einen Brief einer jungen, alleinerziehenden Mutter aus Schleswig-Holstein bekommen. Sie hat einen dreijährigen Sohn und arbeitet in einem großen Baumarkt, dessen Namen ich an dieser Stelle nicht nennen will. Nach Ende der Elternzeit wollte sie mit einer 30-Stunden-Woche wieder anfangen, täglich in der Zeit zwischen 8.30 Uhr und 14.30 Uhr und an maximal zwei Samstagen monatlich. Das war mit dem Betrieb nicht hinzukriegen. Seit über einem Jahr klagt sie sich jetzt wegen dieser Arbeitszeitregelung durch die Instanzen. Mal bekam sie recht, dann wurde das erstinstanzliche Urteil vom Landesarbeitsgericht aufgehoben, dann bekam sie wieder recht. Inzwischen ist das in der Revision beim Bundesarbeitsgericht. Im Dezember, sagte der Betrieb - das ist der letzte Sachstand, den sie mir mitgeteilt hat -, brauche sie eine Woche nicht zu arbeiten. Man stellte sie wegen einer einstweiligen Untersagung nicht ein. Aber für diese Zeit bekam sie auch kein Geld. Jetzt muss sie wahrscheinlich auch noch den Lohn einklagen. Das ist die Kehrseite von familienfreundlichen Betrieben. ({8}) - Das ist der Alltag. - Und vom Betriebsrat hat sie auch keine Unterstützung bekommen. Die Gestaltung der Arbeitszeit muss eben stärker den Interessen der Beschäftigten gerecht werden. Die Arbeitszeit muss verkürzt und auf Männer und Frauen gleichmäßiger verteilt werden. ({9}) Teilzeitarbeit darf nur noch aus dringenden betrieblichen Gründen verweigert werden. Der CDU kann ich nur sagen: Unterstützen Sie unseren Antrag! Er deckt sich ja weitestgehend mit Ihrer Wiesbadener Erklärung. Insbesondere Punkt 7 der Wiesbadener Erklärung ist ja im Grunde bei uns abgeschrieben, Herr Singhammer. Deswegen können Sie unseren Antrag völlig ideologiefrei unterstützen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Eva Möllring, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Eva Möllring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Wunderlich, sieben Jahre Kündigungsschutz pro Kind, Berufsrückkehr in verbesserte Positionen und freie Wahl der Arbeitszeit - Sie bieten Eltern hier ein tolles Kaleidoskop und vergessen dabei, dass auch Mütter und Väter sich im Wettbewerb des Berufslebens befinden. Wir müssen deshalb aufpassen, dass wir ihnen mit solchen Vorschlägen nicht mehr Chancen vermasseln als eröffnen. ({0}) Flexible Arbeitszeit ist tatsächlich ein entscheidender Faktor für Eltern, wenn es darum geht, Beruf und Familie zu vereinbaren. ({1}) Das ist völlig klar und durch viele Studien über Jahre belegt. Die Hans-Böckler-Stiftung, liebe Kollegen von der SPD, hat in einer aktuellen Umfrage festgestellt, dass Eltern sich kürzere Arbeitszeiten wünschen und durchschnittlich mit einer Wochenarbeitszeit zwischen 20 und 29,5 Stunden am zufriedensten sind. Deshalb, Frau Lenke, kann ich mich Ihnen hier ausdrücklich nicht anschließen, wenn Sie wie in der letzten Woche die Teilzeit verteufeln und Frauen rügen, die Teilzeit arbeiten. ({2}) - Doch. ({3}) Wir sollten nicht so tun, als könnte man einige Kinder erziehen, gleichzeitig von morgens bis abends im Beruf arbeiten, die Schwiegereltern pflegen, Wohnung oder Haus in Schuss halten und Ehrenämter pflegen. Stattdessen muss die Arbeit auf mehrere Schultern verteilt werden. Eine der Lösungen ist, zumindest vorübergehend die berufliche Arbeitszeit zu reduzieren; das ist völlig richtig. Damit dies möglich ist, haben wir seit Jahren die gesetzlichen Grundlagen insbesondere im Arbeitszeitgesetz, im Teilzeitgesetz und im Betriebsverfassungsgesetz geschaffen. Arbeitnehmer können ihre Arbeitszeit verkürzen, sie haben ein Initiativrecht zur Gestaltung der Arbeitszeit, und sie können von Nachtarbeit auf Tagesarbeit umstellen. Arbeitgeber dürfen diese Wünsche nur ablehnen - hören Sie zu, Herr Wunderlich, falls Sie das noch nicht wissen -, wenn gravierende betriebliche Gründe entgegenstehen. Genau das, was Sie beantragt haben, steht also bereits im Gesetz. Sie laufen der Entwicklung leider ein paar Jahre hinterher. Dass Sie hier als Richter Richterschelte betreiben, Herr Wunderlich, ist Ihre Sache. Ich schließe mich dem ausdrücklich nicht an. Sie wissen, dass wir als Gesetzgeber die Unabhängigkeit der Richter nicht reglementieren und angreifen dürfen. Das eigentliche Problem ist aber doch, dass viele Eltern befürchten, beruflich zurückzufallen, wenn sie diese Instrumente tatsächlich nutzen. Deshalb geht es darum, dass diese Rechte in den Betrieben wirklich akzeptiert sind und mit einer echten Überzeugung begleitet werden. Was wir deswegen dringend ändern müssen, ist die Philosophie in den Unternehmen. Gerade auf diesem Feld, lieber Herr Wunderlich, hat die Bundesregierung in den letzten zwei, drei Jahren nun wirklich eine unglaubliche Fülle von Erfolgen erzielt und nicht nur Sprüche gemacht und Forderungen gestellt. ({4}) - Sie können gern sagen, Frau Griese, was Sie vorher gemacht haben. Ich konzentriere mich auf die letzten zwei, drei Jahre, weil in dieser Zeit wirklich enorm viel passiert ist. Ich nenne als Beispiele nur das Unternehmensnetzwerk „Erfolgsfaktor Familie“, bei dem inzwischen - hören Sie zu - 1 300 Unternehmen Informationen und Erfahrungen über familienfreundliche Maßnahmen austauschen, und die Lokalen Bündnisse für Familien. ({5}) - Daran sind Sie nicht ganz unschuldig, aber inzwischen sind dank der Propaganda 360 Kommunen dabei. - In diesen Bündnissen engagieren sich 2 200 Unternehmen. Des Weiteren nenne ich das Audit „Beruf & Familie“, mit dem inzwischen 530 Unternehmen für familienfreundliche Maßnahmen ausgezeichnet wurden. ({6}) - Das werden Sie uns jetzt nicht wegnehmen wollen, meine lieben Kolleginnen von der SPD. ({7}) Das Bewusstsein für familienfreundliche Berufe wächst also stetig, und das ist der entscheidende Punkt. Die Philosophie in den Unternehmen ändert sich wirklich. Heute sind viele Betriebe stolz darauf, familienfreundlich zu sein - das war übrigens vor drei Jahren noch nicht so -, und das ist der richtige Weg. Es muss an dieser Stelle aber auch gesagt werden, Herr Wunderlich, dass es Grenzen bei dem gibt, was ein Betrieb leisten kann. Eltern können natürlich nicht kommen und gehen, wann sie wollen. Das wissen sie, und das liegt auch gar nicht in ihrem eigenen Interesse, weil sie dann nämlich als unzuverlässig gälten. Das Gleiche gilt für den Kündigungsschutz. Ein Kündigungsschutz, bis das jüngste Kind sieben Jahre alt ist, Herr Wunderlich, hört sich vielleicht traumhaft an, hat aber mit der Realität nicht viel zu tun. Bei zwei, drei Kindern sind das zehn bis 15 Jahre. Wer kann nach dieser langen Zeit noch ohne Weiteres in den alten Beruf einsteigen? ({8}) Der Trend verläuft da genau entgegengesetzt. Die jungen Leute wollen früh den Kontakt zum Arbeitsplatz wieder aufbauen. Deswegen glaube ich eher, dass Sie den Eltern mit einer so langen Kündigungsfrist einen Bärendienst erweisen und riskieren, dass man junge Leute, die sich Kinder wünschen, nicht einstellt. ({9}) Richtig ist, dass während der dreijährigen Elternzeit ein Kündigungsschutz besteht und die Eltern wieder auf einen Arbeitsplatz zurückkehren können, der gleich bezahlt wird. Dies schafft Sicherheit, wenn man sich für Kinder entscheidet und in der frühen Phase viel Zeit für sie aufbringt. Ich glaube allerdings nicht, dass wir die Betriebe grundsätzlich verpflichten können, den Arbeitsplatz drei Jahre lang freizuhalten oder die Person, die bis zur Rückkehr als Vertretung eingesetzt wird, einfach wieder auszutauschen. ({10}) - Ja. - Das kann auch eine Mutter oder ein Vater sein, die bzw. der nach der Familienphase wieder in den Beruf zurückgekehrt ist. Wir würden damit einen Arbeitnehmer gegen den anderen ausspielen. ({11}) - Danke. Die entscheidenden Faktoren für eine erfolgreiche Rückkehr an den Arbeitsplatz sind der Kontakt mit dem Arbeitgeber in der Familienzeit und die betriebliche Weiterbildung. In diesem Punkt bin ich völlig Ihrer Meinung. Das habe ich in meiner letzten Rede im Bundestag vor einer Woche schon ausführlich erörtert, sodass ich das nicht weiter vertiefen muss. Letztlich muss im konkreten Fall die Balance zwischen den Bedürfnissen der Mütter und Väter und den Notwendigkeiten am Arbeitsplatz gefunden werden. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass dabei das zunehmende Engagement gerade von Vätern für ihre Kinder eine große Hilfe sein wird. Seit 1991 hat sich die Teilzeitquote von Vätern fast vervierfacht; überraschend viele Väter nehmen die Elternzeit in Anspruch. Nach meiner Überzeugung wird diese Entwicklung erheblich dazu beitragen, dass Arbeitgeber mehr Rücksicht auf Familien nehmen, ohne dass Eltern Nachteile befürchten müssen. Deshalb bin ich der Meinung, dass wir gerade das Engagement der Väter weiter stärken müssen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Ina Lenke, FDP-Fraktion. ({0})

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Meine Damen und Herren! Frau Möllring, ich finde es sehr putzig, wie Sie mit der Kritik am Bundesgleichstellungsgesetz, das Frauen helfen soll, Erwerbstätigkeit und Kinder miteinander zu vereinbaren, umgehen. Durch dieses Schutzgesetz sind mittlerweile 91 Prozent der Frauen und damit nur 9 Prozent der Männer in Teilzeit tätig. ({0}) Dieses Bumeranggesetz hilft Frauen nicht. Vielmehr haben sie die gesellschaftliche Arbeit noch zusätzlich zugeteilt bekommen. Man muss beides sehr unterschiedlich behandeln. Insofern ist das ungerecht. Sie sollten endlich die Frauen diskriminierende Steuerklasse V - die meisten Frauen haben diese Steuerklasse eingetragen - abschaffen. ({1}) Stattdessen haben Sie eine entsprechende Änderungsregelung, für die wir uns alle eingesetzt haben, aus dem Jahressteuergesetz herausgenommen. Die Frauen sollen erfahren, wer dies zu verantworten hat. Herr Wunderlich, es ist sehr wunderlich, wie Sie den von Ihnen eingebrachten Antrag weichspülen. Die politischen Forderungen in Ihrem Antrag sind überzogen und irreal. Ihre Vorschläge stammen aus der Wunschkiste und sind weit von der deutschen Wirklichkeit und den Erwartungen der Frauen, die sie auch an die Politik haben, entfernt. Fragen Sie die Frauen selbst! Ich habe sie am Infostand zur Landtagswahl in Niedersachsen gefragt, ob sie sechs Jahre zu Hause bleiben wollen. Derzeit gibt es in der Elternzeit einen dreijährigen Kündigungsschutz. Darauf haben wir alle uns geeinigt, und das ist auch gut und richtig. Wie Sie wissen, wollen diese Frauen aber schon vor Ablauf dieser drei Jahre in den Beruf zurückkehren - deswegen investieren wir schließlich Geld in den Ausbau der Krippenplätze -, weil sie Karriere machen und auf eine gute Rente hinarbeiten wollen und weil sie Interesse an der Arbeit haben. Sie wollen beides miteinander vereinbaren. Insofern sind Ihre Vorschläge kontraproduktiv. ({2}) Ihre Vorschläge, Herr Wunderlich - ich habe mich ausführlich mit ihnen befasst -, sind Einstellungshindernisse für Frauen, die ins Berufsleben zurückkehren. Sie sind ein Bumerang für Frauen mit Kindern. Wenn Ihre Vorschläge umgesetzt würden, würden sie massiv die Chancen für den Wiedereinstieg von Frauen in den Beruf verschlechtern. Bei so vielen Schutzgesetzen, die zu berücksichtigen sind, bis ein Kind zwölf Jahre alt ist, stellen die Unternehmer lieber Männer ein. Das ist nicht unser Ziel. Ich hoffe, dass wir uns darin gegen die Linken einig sind. ({3}) Sie halten mit Ihrer verfehlten Politik Frauen von einer kontinuierlichen Erwerbsbiografie ab, Sie halten sie davon ab, eigene Rentenansprüche zu erwerben und ein existenzsicherndes Gehalt zu erzielen. Sie können einem Betrieb nicht zumuten, einer Frau ohne weitere Fortbildung ein höheres Gehalt zu zahlen, wenn sie nach sechs Jahren wieder einsteigt. Das geht nicht. Ich glaube, die Frauen werden in dieser Beziehung nicht hinter Ihnen stehen. ({4}) Neben Ihrer Forderung, dass ein Arbeitsplatz in einem Betrieb künftig sechs Jahre freigehalten werden soll, erheben Sie die Forderung, dass ein Arbeitnehmer mit Kindern zwölf Jahre lang seine tägliche Arbeitszeit selbst bestimmen kann. Die Frauen sollen zwölf Jahre lang bestimmen, wann sie morgens kommen und wann sie abends gehen. Das steht in dem Antrag der Linken. Wenn Überstunden anfallen, soll der Arbeitgeber auch noch die Kinderbetreuungskosten zahlen. Das wird sehr lustig. Wir haben andere Regelungen, zum Beispiel die steuerliche Absetzbarkeit. Man kann auch Zahlungen des Arbeitgebers lohnsteuerfrei und sozialversicherungsfrei gestalten. Es gab Zwischenrufe der Damen von der SPD - ich glaube, von Frau Griese - mit dem Tenor: Wir haben schon vieles. - Ihre überzogenen Forderungen brauchen wir nicht. Manche von Ihnen - nicht die Jungen von den Linken - haben in der ehemaligen DDR gelebt. Auch ich hatte meine Verbindungen zur DDR, keine verwandtschaftlichen, aber solche über die Kirche. Ich kann mich sehr gut daran erinnern, wie die Frauen dort behandelt worden sind. Es hat nicht immer nur gute Regelungen gegeben, und wir wollen andere. Wir haben den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit, wir haben den gesetzlichen Mutterschutz, wir haben die Arbeitsbefreiung bei Krankheit von Kindern, wir haben das Kündigungsschutzgesetz, das Elternzeitgesetz, das Recht auf Fortbildung, und wir haben das Arbeitszeitgesetz. Ich habe garantiert noch viele Schutzgesetze vergessen. Ich habe aber nur fünf Minuten Zeit, und deshalb kann ich das nicht wie Frau Möllring zehn Minuten ausweiten. ({5}) Das heißt, wir haben Gesetze, die das Leben mit Kindern erleichtern. Wir werden - da sind wir uns alle einig, auch die Linken - die Bewegungsspielräume von Müttern und Vätern, die Familie und Beruf miteinander vereinbaren wollen, ausweiten und mehr Krippenplätze schaffen. Wir alle wollen dafür mehr Geld geben. Sie verkünden den Menschen eine heile Welt. Zum Schluss möchte ich Folgendes sagen: Sie behaupten, wo kein Betriebsrat ist, würden die Mütterrechte mit Füßen getreten - ich sage das einmal sinngemäß -, ich aber sage Ihnen: Viele mittelständische Unternehmen geben alles, um qualifizierte Frauen am Arbeitsplatz zu halten. Deshalb verwahre ich mich dagegen, dass Sie solche Aussagen machen. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Helga Lopez, SPD-Fraktion. ({0})

Helga Lopez (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003803, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ihr Antrag, Kolleginnen und Kollegen von der Linken, in Ehren, aber zustimmen können wir dem nicht. ({0}) Wir haben überdeutlich gehört, woran das liegt. Wir halten Ihren Antrag für äußerst kontraproduktiv. Hätten wir Vollbeschäftigung, könnten wir uns über Ihren Antrag durchaus sachlich und in aller Ruhe unterhalten. Aber die haben wir nicht. Deswegen bin ich der absoluten Überzeugung, dass Ihr Antrag nur zu einem führen würde: In jedem Auswahlverfahren hätten künftig Eltern, insbesondere Frauen, auch junge Frauen, die noch nicht Mütter sind, keine Chancen mehr auf Beschäftigung. ({1}) Ich bin fast geneigt, zu sagen, dass ich nicht verstehen kann, dass ausgerechnet die Linke mit einem Antrag schlechtere Chancen für Frauen will. ({2}) Arbeitgeber sind immer dann zu Zugeständnissen bereit, wenn sie einen Arbeitnehmer brauchen. Sie machen keinerlei Zugeständnisse, wenn sie aus einem Pool von vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auswählen können. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Deswegen ist der Antrag kontraproduktiv, und deswegen werden wir ihm nicht zustimmen. ({3}) Wir haben hier gehört, welch immense Anstrengungen die Große Koalition und zuvor Rot-Grün in den letzten Jahren unternommen haben, um Maßnahmen zu treffen, die alle dem Ziel der Vereinbarkeit von Familie und Beruf dienlich sind. Es gibt in der Tat noch viel zu tun. Ich komme gleich darauf zurück. Im Jahre 1975, als ich Mutter wurde, war von Flexibilität keine Rede. Ich war schon verbeamtet, hatte aber keinerlei Möglichkeit, Teilzeit arbeiten zu gehen. Ich hatte acht Wochen, höchstens zwölf Wochen Mutterschaftsurlaub. Das war’s. Dann musste ich ganztags arbeiten gehen. Ich fand keinerlei Einrichtung bis zum Ende der Grundschulzeit, in die ich mein Kind zur Betreuung hätte geben können. Ich musste eine Tagesmutter suchen. Zum Glück habe ich eine hervorragende Tagesmutter gefunden. Für sie musste ich ein Viertel meines Gehalts aufwenden, aber ich konnte in Ruhe, mit gutem Gewissen arbeiten gehen; denn ich wusste mein Kind gut betreut. Die Betonung liegt hier auf „gut“. Genau an der Stelle haben wir noch zu tun. Ich komme aus dem Bundesland Hessen. Hessen hat für Kinderbetreuungseinrichtungen die Personalmindeststandards gesetzt; andere Bundesländer haben in anderen Bereichen Standards gesetzt. Die Personalstandards waren in Hessen also einmal gut. Vor einigen Jahren ist der Mindestpersonalschlüssel auf 1,5 Fachkräfte pro Gruppe heruntergesetzt worden. Eine Gruppe umfasst in Hessen 25 Kinder über drei Jahre oder 15 Kinder in altersgemischten Gruppen mit unter Dreijährigen. ({4}) 1,5 Fachkräfte, inklusive Vor- und Nachbereitung und ohne Kompensation für krankheits- oder kurbedingten Ausfall oder für Weiterbildungsmaßnahmen. Faktisch bedeutet das, dass tatsächlich nur eine Kraft pro Gruppe zur Verfügung steht. Ich sage ganz deutlich: Hier gilt es anzusetzen. ({5}) Qualität und frühkindliche Bildung - das sind unsere Aufgaben. Die müssen wir angehen. Wir werden darüber mit den Ländern zu reden haben; wir als Bund haben aber auch dafür Sorge zu tragen, dass wir nicht nur über frühkindliche Bildung reden, sondern sie auch mit Leben erfüllt wird. ({6}) Dafür werden wir uns einsetzen, für Ihren Antrag nicht. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Ekin Deligöz, Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Herstellung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist eine zentrale Herausforderung, gesellschaftlich wie ökonomisch. Hier wurde unter Rot-Grün ja auch schon eine ganze Reihe von Verbesserungen auf den Weg gebracht. Ein Beispiel dafür ist die Einführung von Elternzeit. Ein zweites Beispiel dafür ist - es freut mich besonders, dass Sie, Frau Möllring, das erwähnt haben - die Umsetzung des Anspruchs auf Teilzeitarbeit. Das freut mich deshalb, weil Ihre Fraktion damals dagegen war. Ich kann mich noch erinnern, wie in den Debatten mit dem Argument polemisiert wurde, ({0}) dass dadurch viele Arbeitsplätze verloren gingen. Heute loben ausgerechnet Sie den Anspruch auf Teilzeitarbeit. Man kann immer dazulernen. An diesem Punkt zeigt sich, dass Sie von Rot-Grün tatsächlich etwas dazugelernt haben. ({1}) Ein anderer Baustein ist natürlich - ich gebe es zu das Elterngeld. Ich bin ziemlich überzeugt davon, dass auch das unter Rot-Grün zustande gekommen wäre, ({2}) wenn auch in manchen Punkten in anderer Form. Ein ganz besonders wichtiger Baustein aber ist das Tagesbetreuungsausbaugesetz. Hätte es damals nicht so erheblichen Widerstand im Bundesrat gegen den Ausbau der Betreuungsangebote für unter Dreijährige gegeben, wären wir heute um einiges weiter. ({3}) Wir hätten jetzt nicht nur einen konditionierten Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung, sondern würden längst schon die notwendige Qualitätsdebatte führen. Wir hoffen jetzt, dass es womöglich bis 2013 einen allgemeinen Rechtsanspruch gibt. ({4}) - Herr Singhammer, hören Sie zu! Sie machen immer Versprechungen, aber wo bleiben die entsprechenden Gesetzentwürfe? ({5}) Ich kann mich nicht daran erinnern, dass uns ein Gesetzentwurf vorliegt, anhand dessen das Ganze besprochen werden könnte. Im Ausschuss sagt die Ministerin, der werde irgendwann einmal kommen. „Irgendwann“ ist mir aber zu unbestimmt. Auch wenn Sie hier noch so häufig „Wir gewährleisten die Finanzierung“ sagen, weiß ich nicht, was Sie an Finanzmitteln zur Verfügung stellen. Ich weiß auch nicht, was die Länder zur Verfügung stellen. Es wird zwar viel geredet; aber von den Ländern hört man verdammt wenig. ({6}) Genau gesagt, hört man von Länderseite gar nichts. Begeisterung für die Sache klingt etwas anders. Das, was Sie hier zeigen, ist alles andere als Begeisterung. Bereitstellung von Betreuungsmöglichkeiten - ja, das ist eine Grundlage für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Zur Vereinbarkeit gehört aber noch mehr, zum Beispiel Änderungen beim Steuer- und Sozialrecht. Einen Punkt haben Sie schon genannt: die Reform der Steuerklassen III und V. Dieses Thema ist von dieser Regierung zwar bereits angesprochen worden, aber passiert ist nichts. Eine solche Reform wäre eine notwendige Änderung der Rahmenbedingungen und damit ein Anreiz zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Ähnlich ist es übrigens beim Ehegattensplitting und - da können Sie hier noch so viel lavieren - mit dem Betreuungsgeld. ({7}) Gerade das Betreuungsgeld ist kein Anreiz, erwerbstätig zu werden, und kein Anreiz, Beruf und Familie zu vereinbaren. ({8}) Sie wollen, dass Mütter zu Hause bleiben. Sie halten an alten Rollenbildern fest. Die von Ihnen erwünschte Praxis wird auf dem Rücken der Frauen ausgetragen. Ihr Appell ist: Mütter, bitte, bleibt zu Hause! - Inzwischen gibt sogar Ihre Fraktion zu, dass die Erwerbstätigkeit von Frauen das beste Instrument im Kampf gegen Familienarmut ist. Trotzdem wollen Sie, dass Mütter zu Hause bleiben. ({9}) Dass Mütter zu Hause bleiben, hat Auswirkungen auf das gesamte Arbeitsleben, auf die Sozialversicherung, auf die Krankenkassenbeiträge, auf die Rente, auf die soziale Sicherung. ({10}) Angesichts der Kürze meiner Redezeit möchte ich schnell noch auf den Antrag der Linken eingehen. Sieben Jahre Elternzeit, also sieben Jahre zu Hause zu bleiben, das fällt den Eltern auf die Füße. ({11}) Eltern, die sieben Jahre zu Hause bleiben, bleiben dem Erwerbsleben und damit den Beitragszahlungen in die Rentenversicherung fern. Eine Elternzeit von sieben Jahren hat nichts mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu tun. Ihr Vorschlag ist nichts anderes als ein Antivereinbarkeitsvorschlag. ({12}) Rückkehr in den Beruf aus Elternzeit und längerer Familienphase sind übrigens zweierlei. Rot-Grün hat gerade für die Berufsrückkehrer hervorragende BA-Programme geschaffen. In diesem Bereich haben wir die größten Erfolge erzielt. Was uns fehlt, sind Betreuungsangebote, ({13}) Qualifikationsangebote für Frauen und sozialrechtliche Änderungen im Hinblick darauf, dass sich die Arbeit von Frauen rentiert. ({14}) Ihr Antrag mag plakativ sein; aber das, was durch ihn erreicht werden soll, wird mit den meisten Vorschlägen nicht erreicht. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Dieter Steinecke, SPD-Fraktion, das Wort. ({0})

Dieter Steinecke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003885, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten einen Antrag, der schon von seiner Grundannahme her falsch ist. Ich darf die ersten beiden Sätze wörtlich zitieren: Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf beginnt am Arbeitsplatz. Sehr richtig. - Weiter im Zitat: Das wurde von der Familienpolitik viel zu lange vernachlässigt. Diese Aussage hingegen ist falsch und wurde wider besseres Wissen getroffen. Ich möchte den Autorinnen und Autoren dieses Antrags nämlich nicht unterstellen, dass sie die erfolgreiche sozialdemokratische Politik für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsleben übersehen haben. Ich möchte hier zunächst auf den umfassenden Aufbau der Tagesbetreuung eingehen. Jedes Kind ab drei Jahren hat einen gesetzlichen Anspruch auf einen Betreuungsplatz. Wir haben die Grundlage dafür gelegt, dass ab 2013 auch die Allerjüngsten einen solchen Anspruch haben und dass ein umfassendes und qualitativ hochwertiges Betreuungsangebot flächendeckend zur Verfügung steht. Die Betreuung - das ist uns klar - darf natürlich nicht mit dem Tag der Einschulung der Kinder enden. Daher setzen wir auf Ganztagsschulen und fördern den Ausbau von entsprechenden Angeboten durch das Investitionsprogramm „Zukunft, Bildung und Betreuung“ des Bundes mit insgesamt 4 Milliarden Euro, obwohl wir wissen, dass Bildung eigentlich Ländersache ist. Diesen Hinweis gestatte ich mir im Hinblick auf die bevorstehenden Landtagswahlen in Hessen und in meinem Heimatland Niedersachsen. In beiden Ländern haben sich die jeweiligen Landesregierungen, die am Sonntag zur Abwahl stehen, ({0}) gerade was Zukunftsinvestitionen in Bildung und Betreuung angeht, wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert. In Niedersachsen wurden die Bundesmittel gern genommen. Dann wurde reichlich in Beton investiert, die erforderlichen Lehrerstunden aber nicht zur Verfügung gestellt. Das hätte ja auch den eigenen Haushalt belastet. Diese „Ganztagsschule light“ wollen wir nicht; das reicht uns nicht aus. ({1}) Wir wissen freilich, dass ein umfangreiches Betreuungsangebot nicht die einzige Voraussetzung für eine gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist. Das wissen wir nicht erst seit gestern: Bereits im Jahre 2003 hat die damalige sozialdemokratische Familienministerin Renate Schmidt unter dem Dach „Allianz für die Familie“ Initiativen gebündelt, damit zwischen Familie und Arbeitswelt eine gute Balance hergestellt werden kann. Starke Partner aus Wirtschaft, Verbänden und Politik setzen sich öffentlich und beispielhaft für eine neue Unternehmenskultur und Gestaltung der Arbeitswelt ein. Die „Allianz für die Familie“ basiert auf dem Konsens, dass unsere Gesellschaft mehr Kinder, unsere Wirtschaft qualifizierte Arbeitskräfte und unsere Kinder eine frühe Förderung brauchen. ({2}) Die familienfreundliche Arbeitswelt liegt also durchaus im Trend. Dass sich ein Mentalitätswechsel vollzieht, zeigt auch das Projekt „Erfolgsfaktor Familie. Unternehmen gewinnen“. Dieses Unternehmensnetzwerk, dem sich bislang 850 Betriebe unterschiedlichster Größe angeschlossen haben, gibt Informationen über familienbewusste Personalpolitik. Die Palette familienfreundlicher Maßnahmen reicht von der flexiblen Arbeitszeitgestaltung über Eltern-Kind-Büros bis zur Notfallbetreuung. Ein weiterer Baustein sind die lokalen Bündnisse für Familie, die ebenfalls auf eine Initiative von Renate Schmidt zurückgehen. Mittlerweile gibt es bundesweit mehr als 450 solcher Bündnisse, die an mehr als 660 Standorten tätig sind und die Wohnorte von mehr als der Hälfte aller Menschen in unserem Land abdecken. Wir Sozialdemokraten haben umfangreiche Maßnahmen für ein kinderfreundliches Deutschland angepackt und in den Koalitionsverhandlungen dafür gesorgt, dass diese erfolgreiche Politik fortgesetzt wird. Abschließend stelle ich fest: Natürlich sind die Lebenslagen junger Eltern und Mütter nicht frei von Problemen. Selbstverständlich gibt es noch viel zu tun, damit Familienleben und Arbeitsleben in Deutschland noch besser in Einklang gebracht werden können. Ich habe aufgezeigt: Wir Sozialdemokraten beschreiten seit Jahren einen erfolgreichen Weg, und wir werden ihn weitergehen. Dafür brauchen wir gute Ideen und Durchsetzungskraft. Was wir nicht brauchen, sind Anträge wie den, über den wir heute sprechen. Ich danke Ihnen. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/7482 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einVizepräsidentin Petra Pau verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate Künast, Bärbel Höhn, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Den Klimawandel wirksam durch Urwaldschutz bekämpfen - Agrarüberschüsse in den Erhalt der Urwälder investieren - Drucksache 16/7710 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Cornelia Behm von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Cornelia Behm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003500, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben Ihnen heute einen Antrag vorgelegt, der darauf abzielt, die Agrarüberschüsse der EU dem Urwaldschutzprogramm der Weltbank zum Teil zur Verfügung zu stellen. Das ist nicht einfach nur eine gute grüne Idee, sondern wichtig und begründet. Es gibt einen Sachzusammenhang. Ich will Ihnen gerne erläutern, warum ich das so sehe. Unser Planet ist zu etwa 30 Prozent mit Wald bedeckt. Das entspricht knapp 4 Milliarden Hektar. Die ausgedehntesten Waldgebiete sind die borealen Wälder in Finnland, Sibirien und Kanada. Sie machen immerhin 1,4 Milliarden Hektar, also ein Drittel der Gesamtwaldfläche, aus. Hinzu kommen die tropischen Regenwälder - in der Debatte wird immer wieder über sie gesprochen - in Mittel- und Südamerika, in West- und Zentralafrika sowie in Südostasien. 1950 schätzte man die Flächengröße der tropischen Regenwälder auf 16 bis 17 Millionen Quadratkilometer. 1982 ergaben die Schätzungen eine Fläche von 9,5 Millionen Quadratkilometern. Drei Jahre später betrug die Fläche 1 Million Quadratkilometer weniger. So ging es immer weiter bergab. Wald ist der größte CO2-Speicher, insbesondere aufgrund der hohen Produktivität der Tropenwälder. Der Wald ist das größte Landökosystem mit der größten Artenvielfalt. Allein im tropischen Regenwald leben zwei Drittel der landgebundenen Arten. Das sind gute Gründe, die Waldökosysteme zu schützen und sie, wenn man sie nutzt, nachhaltig zu bewirtschaften. ({0}) Die Waldvernichtung, der Raubbau am Wald, hält an, trotz früher Erkenntnisse; ich erinnere an die EnqueteKommission „Schutz der Erdatmosphäre“ und an den Bericht „Schutz der tropischen Wälder“ von 1990. Die Hauptursachen für die Waldvernichtung sind der illegale Holzeinschlag und die Umwandlung in Acker- und Weideflächen. Zurzeit befinden sich 1,4 Milliarden Hektar rechtmäßig unter dem Pflug. Die Flächenreserve in Nord- und Lateinamerika beträgt 5 Prozent und ist damit sehr gering. Der Druck auf die Fläche ist ungeheuer groß. Ich verweise auf den Artikel von Emilio Rappold, der heute von dpa veröffentlicht wurde: „Gier nach Fleisch und Soja tötet den Amazonas-Urwald in Rekordtempo.“ Man muss die Waldvernichtung verhindern. Aber wie? Erstens. Wir haben ein Urwaldschutzgesetz vorgelegt, um den Handel mit illegal eingeschlagenem Holz zu verbieten. Die Umsetzung wäre ein Weg gewesen, Waldvernichtung zu verhindern. Sie haben das abgelehnt. Eine entsprechende Regelung fehlt noch immer. Zweitens. Waldvernichtung kann verhindert werden durch Unterschutzstellung, also durch die Schaffung von Nationalparks mit Nutzungseinschränkungen bzw. -verboten. Weltweit gibt es in rund 120 Ländern mehr als 2 200 Nationalparks. Ich möchte einen Vergleich anstellen: Deutschland hat 2,6 Prozent des Bundesgebietes unter Schutz gestellt und 13 Nationalparks geschaffen. In Kanada gibt es immerhin 43 Nationalparks. Das arme Tansania hat ein Viertel der Landesfläche unter Schutz gestellt. Brasilien hat Ende 2006 das größte Urwaldschutzgebiet der Erde geschaffen; es umfasst 16 Millionen Hektar und ist damit fast halb so groß wie Deutschland. Der gewaltige Nutzungsdruck auf die Fläche erfordert aber nicht nur die Ausweisung von Schutzgebieten, sondern auch deren Sicherung. Wälder müssen nachgeforstet und neu begründet werden. Es müssen finanzielle Anreize für die Flächenbesitzer geschaffen werden, damit der Raubbau eingedämmt wird. ({1}) Dafür brauchen diese armen Länder Geld. Es ist nur gerecht, dass die Industrieländer als Beitrag zum internationalen Klima- und Biodiversitätsschutz gewisse Kompensationszahlungen an diese Länder leisten; denn die Industrieländer verschmutzen die Umwelt, sie importieren Futter und andere Agrarprodukte in einer Größenordnung, die den Druck auf die Flächen weiter erhöht, und sie selbst haben kaum noch Urwälder. Ich erinnere daran, dass es in Deutschland keine Urwälder mehr gibt und nur 2,6 Prozent der Fläche unter Schutz gestellt sind. Wenn Sie sich fragen, warum gerade nicht verbrauchte Haushaltsmittel der Agrarpolitik dafür verwendet werden sollen, dann möchte ich auf den folgenden Sachzusammenhang verweisen: 10 Prozent der Treibhausgasemissionen, die die globale Erwärmung antreiben, kommen aus der Landwirtschaft. Es muss alles dafür getan werden, dass die globale Erwärmung unter 2 Grad bleibt. ({2}) Es muss alles dafür getan werden, dass die Artenvielfalt nicht weiter so rasant abnimmt. Jeder muss dazu den Beitrag leisten, den er zu tragen imstande ist. Die EU kann leisten, was wir in unserem Antrag gefordert haben, nämlich 200 Millionen Euro -

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Behm, diese Erläuterung müssen wir auf die nächste Beratung verschieben. Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Cornelia Behm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003500, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss. - Die EU kann der Forest Carbon Partnership Facility 200 Millionen Euro Restmittel aus dem Agrarhaushalt 2007 zur Verfügung stellen; denn so besteht immerhin die Chance, dass die ärmeren Länder mit ihrem großen Reichtum an Urwäldern ihren Beitrag zum globalen Klimaschutz leisten können. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Cajus Julius Caesar das Wort. ({0})

Cajus Julius Caesar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003064, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Erhalt unserer Urwälder ist von herausragender Bedeutung. Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir alle dafür kämpfen und uns dafür einsetzen, und zwar über Parteigrenzen und auch über Ländergrenzen hinweg. Es ist ein Herzensanliegen der Union und auch mein persönliches Herzensanliegen - das habe ich schon in der Vergangenheit von hier aus in diesem Hause vorgetragen -, dass wir dieser Waldvernichtung Einhalt gebieten. Deshalb setze ich auf Sie alle, dass wir gemeinsam dafür kämpfen, dieses Ziel zu erreichen. ({0}) Die Zerstörung schreitet maßgeblich voran. Die Bedeutung der Urwälder ist groß. Dort kommen rund 3 500 Arten vor und sehr viele weitere Pflanzenarten. Dies ist für die Artenvielfalt von großer Wichtigkeit. Aber wir müssen auch feststellen, dass rund 1 000 Arten vom Aussterben bedroht sind. Wir stellen fest, dass jährlich rund 13 Millionen Hektar Tropenwald zerstört werden. Das heißt, der Wald verschwindet vollständig. Nur rund die Hälfte dieser Fläche wird wieder bepflanzt und davon nur ein Teil als Wald, ein Großteil mit Palmölplantagen, die dazu dienen, den Ertrag zu steigern, aber unter dem Gesichtspunkt der Biodiversität einen deutlich geringeren Wert haben. Der Ertrag dieser Plantagen liegt jedenfalls sehr hoch. Vieles wird nicht weiter genutzt. Nach einer vorübergehenden landwirtschaftlichen Nutzung wird die Fläche ausgelaugt, der Feinboden verschwindet durch Erosion. Es bleibt nur noch brauner Boden. Das Gebiet wird zur Steppe, und die Wüste schreitet voran. Diese Beispiele zeigen: Wir müssen dies verhindern. ({1}) Ich habe ein Bild aus Indonesien mitgebracht. ({2}) Dort sieht man, wie zerstörerisch die Wirkung einer solchen Vorgehensweise ist und dass dringender Handlungsbedarf an dieser Stelle gegeben ist. Betrachten wir einmal einige Länder. In der Elfenbeinküste sind von ursprünglich 15 Millionen Hektar noch rund 3 Millionen Hektar Tropenwald vorhanden. In Indonesien, das die größten Waldvorkommen hat, ist in den letzten Jahren noch etwa die Hälfte übrig geblieben und die teilweise nicht einmal im Urzustand. Hinzu kommt, dass in Madagaskar 80 Prozent vernichtet wurden und nur noch 20 Prozent vorhanden sind. In Nigeria haben wir 90 Prozent des Regenwaldes verloren. Wir stellen den Klimaschutz vorne an; er ist von großer Bedeutung. Diese Bundesregierung hat bei den Verhandlungen auf internationaler Ebene Herausragendes geleistet und die nationalen Ziele als Vorbildfunktion vorangestellt. Ich denke, wir können uns sehen lassen. Wir danken unserer Bundeskanzlerin, Angela Merkel, wir danken dem Umweltminister und auch der Bundesregierung dafür, dass sie hier so aktiv waren und so viel umgesetzt haben. ({3}) Ich denke, dass es wichtig ist, dass man die Verhältnismäßigkeit des Einsatzes der finanziellen Ressourcen sieht. Angesichts der Zerstörung der Regenwälder müssen wir schauen, dass wir uns international mehr engagieren; denn auch mit geringeren finanziellen Ressourcen ist in Projekten letztendlich viel zu erreichen. In Indonesien - dort gibt es etwa 20 Millionen Hektar Torfregenwald - werden in einen Hektar etwa 4 000 Tonnen reiner Kohlenstoff gespeichert. In den Wäldern in Deutschland sind es ungefähr 150 Tonnen pro Hektar. Auch das zeigt die große Bedeutung. Wir sehen die zerstörerischen Kanäle. Zunächst einmal wird der Torfregenwald trockengelegt. Dann erfolgt durch kilometerlange Kanalsysteme die Entwässerung. Dann entstehen Brände. Wir haben der Medienberichterstattung entnehmen können, dass bei den Bränden auf Borneo so viel CO2 freigesetzt wurde, wie Deutschland im Rahmen des Kioto-Protokolls in den letzten zehn Jahren eingespart hat. Daran erkennt man die große Bedeutung der Maßnahmen zum Schutz der Wälder. Wir alle sind aufgerufen, hier aktiv zu werden. ({4}) Ihr Antrag „Den Klimawandel wirksam durch Urwaldschutz bekämpfen - Agrarüberschüsse in den Erhalt der Urwälder investieren“ geht im Bereich des Urwaldschutzes in die richtige Richtung. Natürlich muss man darauf achten, dass man Geld nicht zweimal verteilen kann. Die Mittel, die im Jahr 2007 für die Landwirtschaft bereitgestellt wurden, sind aufgrund entsprechender Beschlüsse bereits im Rahmen von Projekten gebunden. Die Experten und die Verantwortlichen sagen, dass im Jahre 2008, wenn man seriös handelt, keine zusätzlichen Gelder zur Verfügung stehen werden. Denn es ist so: Wenn man das Budget überschreitet, dann sind diese Gelder durch nationale Mittel abzudecken. Wenn man Anträge formuliert und einbringt, dann muss man auch seriöse Finanzierungsvorschläge machen. Da Sie das in Ihrem Antrag nicht getan haben, können wir ihm nicht zustimmen. Ich darf an dieser Stelle sagen: Die Bundesregierung hat auch im Haushalt 2008 entsprechende Akzente gesetzt. Für den Tropenwaldschutz stehen in diesem Haushalt 125 Millionen Euro zur Verfügung. Weitere 40 Millionen Euro stehen für den Schutz der biologischen Vielfalt zur Verfügung; in den Jahren 2009 und 2010 wird dieser Betrag um jeweils 15 Millionen Euro jährlich aufgestockt. Das sind, wie ich denke, Aktivitäten der Bundesregierung, die man würdigen sollte. ({5}) Uns ist wichtig, im Interesse unserer Kinder bzw. der zukünftigen Generationen tätig zu werden. Deshalb hat die Bundesregierung aus Union und SPD richtungsweisende Beschlüsse gefasst. So werden auch für internationalen Maßnahmen in diesem Bereich Gelder zur Verfügung gestellt, und zwar aus dem Erlös des Handels mit den Emissionsrechten. Für Maßnahmen, die nicht auf nationaler, sondern auf internationaler Ebene durchgeführt werden, stehen über 100 Millionen Euro zur Verfügung. Das muss man auf all die Ansätze, die ich gerade genannt habe, noch draufsetzen. Wenn man das tut, stellt man fest: In finanzieller Hinsicht gehen wir weit über die in Ihrem Antrag formulierten Forderungen hinaus. Ich denke, der Weg der Bundesregierung ist richtig. ({6}) Ich darf auf weitere Aktivitäten hinweisen. Nach der diesjährigen CBD-Konferenz übernimmt Deutschland für zwei Jahre ihren Vorsitz. Wir werden uns für die biologische Vielfalt in diesem Bereich maßgeblich einsetzen. Die Koalitionsfraktionen werden mit Blick auf diese Konferenz ganz konkrete Vorschläge erarbeiten und einen entsprechenden Antrag auf den Tisch legen. Wir können aktuell bereits Erfolge vorweisen, zum Beispiel die Selbstverpflichtung der Holzwirtschaft im Rahmen des EU-Aktionsplans FLEGT. Es kommt darauf an, dass Kontrollmechanismen entwickelt werden, die dazu beitragen, dass die Maßnahmen, die wir bereits eingeleitet haben, umgesetzt werden. Es ist wichtig, dass konkrete Vorschläge entwickelt werden - ich nenne beispielsweise den Vorschlag des Erwerbs von Konzessionen -, um eine nachhaltige Bewirtschaftung sicherzustellen. Denn die Menschen vor Ort brauchen diese Einnahmen, um überleben zu können. Wir müssen die Menschen, die vor Ort leben und arbeiten, mit einbeziehen. Das ist eine wichtige soziale Komponente. Darüber hinaus müssen wir für eine nachhaltige Bewirtschaftung der Wälder mit schützenswerten Kernzonen eintreten. Das ist der richtige Weg, den Union und SPD gemeinsam vorschlagen, weitergehen und erfolgreich zu Ende gehen werden. Es ist sehr wichtig, der Tropenwaldvernichtung Einhalt zu gebieten. Ich denke, ich darf sagen: Wir treten gemeinsam für die Erhaltung des Urwaldes ein. Wir wollen eine nachhaltige Entwicklung, um die Lebensgrundlagen für die zukünftigen Generationen zu sichern. Die Union und die Koalition sind auf dem richtigen Weg. Wir werden erfolgreich sein. Danke schön. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Hans-Michael Goldmann für die FDP-Fraktion. ({0})

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will nahtlos an das anknüpfen, was Herr Caesar zuletzt gesagt hat: Ich bin angesichts der Aufgaben, vor denen wir stehen, sehr dafür, Gemeinsamkeiten herauszustellen. Man muss dennoch genau hinschauen, was in einem Antrag steht und welche Zielsetzungen damit verbunden sind. Die FDP hat sich für Klimaschutz in besonderer Weise eingesetzt; die Aktivitäten meiner Kollegin Christel Happach-Kasan im federführenden Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz sind ja bekannt. Wir haben einen Antrag eingebracht, die Wälder als CO2-Senken anzuerkennen. Wir sind sehr daran interessiert, Ökowaldsysteme zu schützen. Wir haben darüber hinaus ein Positionspapier für Klimaschutz durch effektive Landwirtschaft entwickelt. Gesichtspunkte der Nachhaltigkeit sind uns also nicht fremd. Lieber Kollege Caesar, Sie haben ein Bild von Indonesien gezeigt. Ich will hier keinen Bruch zwischen uns beiden herstellen, muss aber sagen: Gerade Sie als Große Koalition müssen sich fragen, ob Sie Indonesien mit Ihrer Politik der Biokraftstoffquote, mit dem Beimischungszwang, helfen. ({0}) Ich glaube, dass der Beimischungszwang dazu führen wird, dass der Raubbau in diesen Regionen voranschreitet, weil sich die Kleinen vor Ort gegen die Großen - gegen die, die in Europa die Ölpolitik bestimmen - nicht wehren können. Lassen Sie mich jetzt etwas zu den Grünen sagen. Die Grünen haben bis jetzt für sich in Anspruch genommen - wir haben sie dabei begleitet; später haben das auch die Sozialdemokraten und dann auch die CDU/CSU getan -, den deutschen Bauern, den europäischen Bauern mit einer verlässlichen Politik Planungssicherheit zu geben. Minister Seehofer hat gestern im Ausschuss noch einmal deutlich gemacht, dass wir daran festhalten wollen. Das heißt, die Mittel, die die europäische Ebene für die Landwirtschaft, aber auch für den ländlichen Raum bereitstellt, stehen bis 2013 nicht zur Disposition. ({1}) Deshalb ärgert es mich, liebe Cornelia Behm, wenn von Frau Künast ein Gastbeitrag zu lesen ist, in dem sie erklärt, die Agrarsubventionen - die den größten Posten im EU-Haushalt ausmachen - gehörten endlich abgeschafft, während die Grünen im Ausschuss einen Antrag nach dem anderen stellen - zuletzt den Antrag auf Drucksache 16/7709 zum „Gesundheitscheck der europäischen Agrarpolitik“ -, in dem sie mehr Geld für Klimaschutz fordern, in dem sie mehr Geld für den ländlichen Raum fordern, in dem sie mehr Geld für ein Wassermanagement und ähnliche Dinge fordern, in dem sie eine Erhöhung der Modulationsmittel fordern. Das ist nichts anderes als ein Umschichten von sogenannten Subventionen. Den Grünen fehlt es in diesem Fall an jeder Form von Glaubwürdigkeit. Das ist außerordentlich bedauerlich. ({2}) Liebe Cornelia Behm, ich bin dafür, wie Herr Caesar es aufgezeigt hat, etwas für den Urwald und die Ökosysteme zu tun. Das ist gar keine Frage. Aber es kann nicht angehen, dass wir ausgerechnet jetzt, wo endlich ein bisschen Spielraum für die Landwirtschaft entsteht, wo die Milchbauern anfangen, aufzuatmen, weil sie erstmals in der Lage sind, mit Grünland - das, nebenbei gesagt, eine hervorragende Ökobilanz hat - Ertrag zu erwirtschaften, ihr diesen gleich wieder nehmen. So kann Politik in diesem Bereich nicht betrieben werden. ({3}) Wie gesagt, es ärgert mich, wenn jetzt im Rahmen der Grünen Woche in der Presse zu lesen ist, was Frau Künast sagt, und ihr im Ausschuss genau das Gegenteil davon fordert. Das ist wirklich nicht glaubwürdig, das schadet unserer gemeinsamen Sache. Lassen Sie uns gemeinsam den Weg beschreiten, wie Herr Caesar das beschrieben hat, wirkliche Hilfe zu gewähren! Lassen Sie uns aber auch den heimischen Landwirten Planungssicherheit geben! Wir sind im Moment gerade dabei, die Idee der regionalen Vermarktung, die Idee der ökologischen Agrarwirtschaft weiter zu verankern. Dafür brauchen die Landwirte in Deutschland verlässliche Rahmenbedingungen. Im Grunde genommen seid ihr Grünen doch die Miterfinder der Kulturlandschaftsprämie, mit der bis 2013 umgeschichtet wird: dass nicht mehr die Produktion gefördert wird, sondern das gute fachliche Tun auf der Fläche. Cross Compliance ist doch nichts anderes als praktizierter Umweltschutz, praktizierter Naturschutz und praktizierter Verbraucherschutz. ({4}) Ich bitte euch sehr, in diesen Fragen nicht dauernd Widersprüche in den Raum zu stellen, sondern eine Linie zu fahren, die uns gemeinsam voranbringt. Herzlichen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Heinz Schmitt aus der SPDFraktion. ({0})

Heinz Schmitt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002783, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. - Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Durch die Vorreden haben wir uns schon über den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen informieren können. Ich denke, dem in dem Antrag genannten Ziel können wir alle zustimmen, insbesondere die Fachpolitiker, die sich mit der Klimapolitik und dem Schutz der Vielfalt des Lebens, also der Biodiversität, beschäftigen. Beide Themen gehören unmittelbar zusammen. Ohne Klimaschutz gibt es keine Fortschritte beim Schutz der Biodiversität - und natürlich umgekehrt. Urwälder - in der Regel Tropenwälder - sind von herausragender Bedeutung für das Weltklima. Sie sind riesige Speicher für das Klimagas CO2. Man sagt zum Beispiel auch, das Amazonasgebiet sei die grüne Lunge der Erde. Urwüchsige Wälder sind auch Schatzkammern der biologischen Vielfalt. Es gibt also mehr als einen Grund, diese speziellen Ökosysteme verstärkt zu schützen. Dennoch werden diese Waldgebiete in einem atemberaubenden Tempo zerstört. Während der 30 Minuten, die wir hier debattieren, verschwindet weltweit eine Waldfläche in der Größe von über 1 000 Fußballfeldern. In einem Jahr verlieren wir eine Waldfläche in der Größe des Bundeslandes Bayern, das ja kein kleines Bundesland ist. Um diese verheerende Entwicklung zu stoppen, müssen wir rasch handeln. Mit welchen Instrumenten dies geschehen soll, das ist die Frage. Darüber haben wir heute auch schon gesprochen. Gerade beim Schutz der Tropenwälder handelt Deutschland vorbildlich. Deutschland ist an verschiedenen Projekten beteiligt, zum Beispiel an der Waldpartnerschaft für das Kongobecken und am Programm Asia Forest Partnership. Außerdem unterstützen wir das brasilianische Pilotprogramm zur Erhaltung der tropischen Regenwälder, und wir beteiligen uns am Kampf gegen den illegalen Holzeinschlag im Rahmen des EU-Aktionsplans FLEGT. Heinz Schmitt ({0}) Jetzt komme ich zu Ihrem Antrag. Es gibt bereits die feste Zusage, eine ganz neue Initiative unter dem Dach der Weltbank zu unterstützen. Deutschland hat 40 Millionen Euro für die sogenannte Forest Carbon Partnership Facility bereitgestellt. Die FCPF - so die Abkürzung - ist zunächst ein Pilotprojekt. Damit sollen die Entwicklungsländer unterstützt werden, die ihre Wälder langfristig schützen und damit Emissionen, die durch Entwaldung entstehen, vermeiden helfen. Die Weltbank und die beteiligten Geberländer wollen mit der FCPF Erfahrungen und Wissen sammeln. Diese Pilotphase ist vom Jahr 2008 bis zum Jahr 2012 angesetzt. Falls die Errichtung dieser Waldpartnerschaft erfolgreich sein wird, soll daraus mittelfristig ein weltweites Programm für den Waldschutz entwickelt werden. Dieses Vorhaben geht mit dem Beschluss der Weltgemeinschaft auf der Konferenz in Bali einher, wo das Thema Emissionen durch Entwaldung zu einem zentralen Thema der Verhandlungen bis 2009 gemacht wurde. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, dass Sie mit Ihrem Antrag einen so hohen Beitrag von der EU fordern, geht also an den bereits beschriebenen Vorhaben der Weltbank vorbei. Wie gesagt: Die FCPF ist noch ein Versuch. Das sollte man wissen. Die benötigten Mittel dafür belaufen sich auf 250 Millionen Dollar für einen Zeitraum von fünf Jahren. Ein großer Betrag davon ist bereits fest zugesagt, insbesondere aus den EU-Ländern. Es besteht aber ein weiterer Finanzierungsbedarf. Die in Ihrem Antrag genannten 200 Millionen Euro sind dabei bei weitem zu hoch angesetzt. Bevor neue Geldgeber angesprochen werden, müssen die Einzelheiten dieses neuen Instrumentes abschließend geklärt und untersucht werden. Ein ganz wichtiger Punkt: Es ist auch zu überlegen, ob eine so wichtige Aufgabe wie der Urwaldschutz generell aus ungenutzten Haushaltsmitteln finanziert werden sollte. Der Schutz der Wälder in den Tropen sollte nicht aus Restposten finanziert werden. Sollte sich die FCPF bewähren, dann kann man sicherlich auch über eine ordentliche Finanzierung des Urwaldschutzes durch die EU nachdenken. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, aus diesen Gründen müssen wir Ihren Antrag ablehnen, so leid es mir persönlich auch tut. Im Ziel sind wir uns dennoch einig. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Heike Hänsel das Wort. ({0})

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Waldschutz ist ein lebenswichtiges, ja überlebenswichtiges Thema. Es ist gut, dass das Problem der Entwaldung in Bezug auf die zunehmende Erderwärmung - auch im Umfeld von Bali - wieder stärker ins Blickfeld geraten ist. Indonesien wurde bereits als Beispiel genannt. Aufgrund großflächiger Abholzungen steht dieses Land mittlerweile auf Platz drei der Liste mit den weltweit größten Emittenten von klimaschädlichen Gasen. Sollten die bis zu 20 Meter dicken Torfböden unter den Wäldern ZentralKalimantans vollständig trockengelegt werden, würden 50 Milliarden Tonnen CO2-Äquivalent nach und nach freigesetzt. Das entspricht ungefähr dem 50-Fachen des CO2-Ausstoßes Deutschlands. Diese Zahlen zeigen ganz klar: Tropenwaldschutz ist nicht nur Schutz der Biodiversität, sondern immer auch Klimaschutz. ({0}) Wir unterstützen die Grünen bei dem eigentlichen Ziel ihres Antrags. Aber das vorgeschlagene Instrument lehnen wir ab. Die Forest Carbon Partnership Facility der Weltbank, um die es hier geht, ist in unseren Augen leider der direkte Weg, den Regelwaldschutz in den Handel mit Treibhausgaszertifikaten einzubinden. Genau das halten wir für einen falschen Weg. ({1}) Bereits jetzt ist die Bundesrepublik der größte Geber der PCFC. Das ist kein Wunder; denn das BMZ hat sie über Jahre mitentwickelt. Von den 100 Millionen Euro kommen allein 40 Millionen Euro aus Deutschland. Die Grünen wollen nun, dass die EU noch einmal 200 Millionen Euro draufpackt. Aber wofür? Zunächst sollen 20 Länder fit gemacht werden, damit sie in der Lage sind, den wirtschaftlichen Wert des Waldes und der Abholzungen monetär zu erfassen. Im zweiten Schritt sollen ausgewählte Länder für vermiedene Abholzungen entlohnt werden. Das hört sich erst einmal gar nicht so schlecht an. Doch letztendlich läuft das Ganze darauf hinaus, vermiedene Abholzungen in ein Handelssystem mit Treibhausgasen einzubeziehen. ({2}) Es geht gerade nicht darum, einen Fonds zu bilden, um großflächig Schutzgebiete zu finanzieren und gegebenenfalls Nutzer zu entschädigen. Eine solche Strategie würden wir unterstützen. Indonesien hat gerade erst angeboten, für 5 bis 15 Dollar pro Hektar dafür zu sorgen, dass die Entwaldung in Kalimantan unverzüglich gestoppt wird. Ähnliche Angebote der Kompensation kamen aus anderen Waldländern. Seltsamerweise hat niemand auf Bali darauf reagiert. Die Weltbank hatte gerade die PCFC aus dem Hut gezaubert. Klimapolitisch ist die Einbindung des Tropenwaldschutzes in Kohlenstoffmärkte im besten Fall ein Nullsummenspiel. Das, was an Abholzung und damit an Emissionen vermieden würde, würde über den Emissionsrechtehandel automatisch in Europa mehr ausgestoßen. So funktioniert dieser Markt. Der Rückgang der Entwaldung muss in unseren Augen aber zusätzlich zu den Reduktionsverpflichtungen der Industriestaaten erfolgen. Ansonsten verfehlen wir das 2-Grad-Ziel. ({3}) Abgesehen davon bestehen jede Menge ungelöste methodische Probleme. Wie werden beispielsweise Baseline und Referenzszenario bestimmt? Gehen wir hier von sinkenden Abholzungsraten wie in Brasilien oder von steigenden wie in Indonesien aus? Wandern Abholzungen nach Zertifikatszuteilung einfach in andere Gebiete? Wer bekommt überhaupt Zertifikate? Was passiert, wenn der Wald zum Beispiel durch Blitzschlag abbrennt? Das zusätzliche CO2, das über den Zertifikatsweg in Europa dann bereits ausgestoßen wurde, bleibt schließlich mehr als 100 Jahre in der Atmosphäre. Klar ist: Es ist ein höchst kompliziertes System mit jeder Menge Manipulationsmöglichkeiten. Wir kennen das leidlich von den CDM-Projekten. Wir halten deshalb die direkte Finanzierung von Schutzgebieten, nachhaltiges Waldmanagement und gegebenenfalls Nutzerentschädigungen für eine bessere Lösung, und zwar immer unter Einbeziehung der in und von den Wäldern lebenden Bevölkerung. Wir wissen, dass das kein einfacher Weg ist. Es ist aber in unseren Augen der bessere Weg. Danke. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Sascha Raabe für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden jetzt zum wiederholten Male in dieser Legislaturperiode über das Thema Urwaldschutz, auf der Grundlage verschiedener Anträge und in verschiedenen Zusammenhängen. Das ist sicherlich gut angesichts der zeitlichen Dimension der Entwaldung. Manchmal denke ich aber auch, dass diese Debatten, die wir führen, später einmal als historische Debatten betrachtet werden, dass eine Politikergeneration nach uns sich nur noch in schriftlicher Form darüber informieren kann, über was wir hier eigentlich geredet haben; denn es kann gut sein, dass wir in 10 oder 15 Jahren solche Debatten gar nicht mehr führen können, weil dann das, über das wir hier reden, nicht mehr vorhanden ist. In dem Sinne, Frau Kollegin Hänsel, ist es schon fragwürdig, wenn Sie hier das Instrument der Forest Carbon Partnership Facility an sich infrage stellen. Natürlich wäre es schön, es würde so viel Geld vom Himmel regnen, dass wir alles auf einmal finanzieren könnten. Aber ich glaube, wenn wir die Möglichkeit haben, über einen internationalen Fonds die Entwaldung zu stoppen und der Zerstörung Einhalt zu gebieten, dann ist es auch gerechtfertigt, das in den Kohlenstoffhandel ein Stück weit einzubeziehen. Wir müssen sehen, dass ein Land wie Indonesien ganz legal ein Drittel seiner verbleibenden Waldfläche zur Konversion freigegeben hat, um dort Palmölplantagen errichten zu können. Das machen die nicht aus Jux und Tollerei; Indonesien ist ein armes Land. Die CO2-Emissionen, die daraus entstehen, sind real; das ist kein theoretisches Rechenspiel. Ich glaube schon, dass es Sinn machen kann, über CDM und Zertifikatehandel Geld zur Verfügung zu stellen, um das zu schützen und zu bewahren. Dass das nicht das Einzige an Geld sein muss, was wir dorthin geben, da gebe ich Ihnen recht. Deswegen kommen die Mittel, die die Bundesregierung in einer Vorreiterrolle zur Verfügung stellt, aus anderen Quellen. Ich kann als Entwicklungspolitiker an dieser Stelle nur, wie es die Kollegen vor mir schon getan haben, noch einmal lobend erwähnen, dass wir seitens des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung jetzt insgesamt fast 1 Milliarde Euro für Klimaschutzmaßnahmen in den Entwicklungsländern zur Verfügung stellen, davon - es wurde schon gesagt 165 Millionen Euro für Tropenwaldschutz und Schutz der Biodiversität, und dass wir bei der Forest Carbon Partnership Facility mit 40 Millionen Euro der größte Geber sind. Ich möchte an dieser Stelle aber neben den Klimaschutzfragen und den Fragen der Biodiversität - die sehr wichtig sind, weswegen wir auch die Tropenwälder schützen - auch die Armutsdimension in diese Debatte einbringen. Denn der Grund, warum auf vielen Tropenwäldern ein hoher Druck liegt, ist auch darin zu suchen, dass die Länder nicht über die Hightechindustrie und die Wirtschaftskraft verfügen, um auf andere Weise Einnahmen generieren zu können. Deswegen, Herr Kollege Goldmann, finde ich es nicht zielführend und auch nicht lauter, wenn man die Beimischungspflicht in Deutschland kritisiert und sagt, dass das dazu führe, dass Tropenwälder abgeholzt würden. Denn man kann das auch so organisieren, dass die Tropenwälder geschützt werden und trotzdem die Entwicklungsländer Flächen für Biotreibstoffe entwickeln. Es gibt ganz viele brachliegende Flächen, auf denen das möglich ist, nicht nur in Indonesien, sondern auch in Lateinamerika und in Afrika. Darin liegen große Chancen für die Entwicklungsländer, und gleichzeitig wird bei uns das Klima geschützt. Wir werden dafür sorgen, dass hier Zertifizierungssysteme greifen, dass nur Öl aus nachhaltig angebauter Biomasse eingeführt werden kann. Ich würde den Entwicklungsländern diese Chance nicht verwehren wollen. Auf der anderen Seite müssen wir Geld in die Hand nehmen, damit die Entwicklungsländer für die Einnahmen, die ihnen verloren gehen, wenn sie nicht die Wälder abholzen, entschädigt werden. Das haben wir in Europa schließlich auch gemacht, als wir noch nicht die Industrie hatten, die wir jetzt haben. Deswegen sage ich: Lasst uns die Entwicklungsländer entwickeln, aber ihnen gleichzeitig Hilfestellung geben, damit der Wald dort nachhaltig geschützt werden kann und die Menschen davon profitieren können. Denn Schutzgebiete sind ohne Einbeziehung der Menschen nicht nachhaltig.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Raabe, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme gerne zum Schluss. - Ich glaube, dass wir hier seitens der Bundesregierung auf einem guten Weg sind und dass der Antrag der Grünen an sich in die richtige Richtung geht. Aber zur Beschaffung des Geldes haben wir viele Möglichkeiten. Wir sollten parteiübergreifend alle gemeinsam dafür sorgen, dass es zusammenkommt. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/7710 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Vorlage federführend beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz beraten werden soll. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Homburger, Elke Hoff, Dr. Rainer Stinner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Trennungsübernachtungsgeld während Auslandseinsatz weiterzahlen - Drucksache 16/7002 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({0}) Innenausschuss Haushaltsausschuss Interfraktionell ist vereinbart, dass die Reden der fol- genden Kolleginnen und Kollegen zu Protokoll gegeben werden: Robert Hochbaum für die Unionsfraktion, Rolf Kramer für die SPD-Fraktion, Birgit Homburger für die FDP-Fraktion, Paul Schäfer für die Fraktion Die Linke und Winfried Nachtwei für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.1) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/7002 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Kurth, Kerstin Andreae, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen weiterentwickeln - Drucksache 16/7748 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1}) Finanzausschuss 1) Anlage 4 Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache ebenfalls eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Markus Kurth für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Neuaufbruch in der Politik für Menschen mit Behinderungen hin zur Teilhabe und Selbstbestimmung hat unter Rot-Grün begonnen. Im Sozialrecht fand dieser Neuaufbruch sogar die Unterstützung aller Fraktionen. Das Sozialgesetzbuch IX war und ist gut. Es wurde vielfach bejubelt und gepriesen. Aber irgendwann ist die Zeit des Schulterklopfens auch einmal vorbei, und man muss wieder anfangen, die Ärmel hochzukrempeln. ({0}) Es ist doch auffällig, dass es seit den aktiven Zeiten von Rot-Grün gerade im Bereich des Sozialrechts für Menschen mit Behinderungen keine Fortschritte mehr gegeben hat. Dies gilt, obwohl in der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen - und nicht nur dort - nach wie vor große Strukturprobleme bestehen und die quantitative Entwicklung ganz eindeutig ist. Noch immer sind die drei großen institutionellen Blöcke, nämlich Sonderschule, Wohnheim und Werkstatt für Menschen mit Behinderungen, prägend für die große Mehrheit der Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf. Die Zahlen sind alarmierend: Im Bereich des stationären Wohnens stieg trotz großer Anstrengungen, die ambulanten Angebote auszubauen, die Zahl der Plätze von 164 000 im Jahr 2000 auf nunmehr 195 000. Bei den Werkstattplätzen ist die Entwicklung noch viel dramatischer: Es gab im Jahr 2000 einen Anstieg von 194 000 auf nunmehr 268 000 mit Zuwachsraten von über 4 Prozent in jedem Jahr. Damit einher geht natürlich ein entsprechender Anstieg der Kosten. Auch hier will ich eine Zahl nennen: Die Nettokosten der Eingliederungshilfe, die von den Kommunen, den Sozialhilfeträgern getragen werden, belaufen sich im Jahr 2006 auf 10,5 Milliarden Euro. Trotz dieser eindeutigen und hier nur ganz kurz angerissenen Diagnose verzeichnen wir seit 2005 einen totalen gesetzgeberischen Stillstand. Bundesregierung und Bundesländer fordern sich wechselseitig zum Handeln auf. Aber ein greifbares Ergebnis liegt noch nicht vor. Man muss nicht über hellseherische Fähigkeiten verfügen, um am Ende dieser Legislaturperiode sagen zu können, dass sie für Menschen mit Behinderungen verloren gewesen ist. ({1}) Dies ist umso bedauerlicher, als die Große Koalition über die entsprechende Mehrheit verfügt, um Strukturveränderungen anzuschieben. Aber das Einzige, das sie gemacht haben, war, den Spielraum des Bundes für Strukturveränderungen durch die Föderalismusreform einzuschränken. Was ist nun aus Sicht von Bündnis 90/Die Grünen zu tun? Die Voraussetzung für neue Schritte wäre zunächst die Einsicht in die Notwendigkeit, dass es sich bei Teilhabeleistungen für Menschen mit Behinderungen um Nachteilsausgleiche und nicht um Fürsorgeleistungen handelt.Das Prinzip des Nachteilsausgleichs muss hier zum bestimmenden sozialrechtlichen Prinzip werden. ({2}) Die zweite Voraussetzung wäre eine konsequente Orientierung an der personenbezogenen Hilfe statt einer Organisation von Hilfe entlang existierender Strukturen, in die sich Menschen mit Behinderungen allzu oft einfügen müssen, ob sie wollen oder nicht. Was so selbstverständlich klingt, ist leider nicht Wirklichkeit. Erst im Dezember 2007 hat das Hamburger Sozialgericht entschieden, dass es dem schwerbehinderten Herrn Hans-Jürgen Leonhard zuzumuten sei, gegen seinen Willen in einem Heim gepflegt zu werden, obwohl ein medizinisches Gutachten belegt, dass die Pflege in diesem Heim möglicherweise lebensverkürzend ist. Nach Meinung des Gerichts wäre eine Unzumutbarkeit der Versorgung in einer stationären Einrichtung nur gegeben, wenn Herr Leonhard durch die Pflege in konkreter Lebensgefahr schweben würde. Dieses Urteil ist ein Skandal. ({3}) Dieses Beispiel sollte uns nicht nur als Gesetzgeber zu denken geben und zum Handeln auffordern, sondern es sollte uns auch als Menschen anrühren. ({4}) Denn jeder und jede von uns kann durch einen Unfall oder eine Krankheit in die gleiche Situation wie dieser Herr Leonhard kommen. Deswegen müssen, aufbauend auf den genannten Prinzipien, die Schritte umgesetzt werden, die wir in unserem Antrag vorschlagen: Wir brauchen die Nichtanrechnung von Einkommen und Vermögen etwa bei der Inanspruchnahme ambulanter Leistungen. Wir müssen Bürokratie abbauen. Wir müssen endlich die über 60 verschiedenen Berechnungsverfahren in der Eingliederungshilfe vereinheitlichen und für die Menschen mit Behinderung transparent machen. Wir müssen die zahlreichen verstreuten finanziellen Nachteilsausgleiche, die es jetzt schon gibt, in einem einheitlichen Teilhabegeld zusammenfassen. All das sind machbare und pragmatische Schritte. Ich hoffe, dass wir das unvoreingenommen gemeinsam in den Ausschüssen beraten können. ({5}) Ich hoffe, dass wir uns alle an Art. 19 der UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen orientieren, die die Bundesregierung ja unterzeichnet hat. Dort heißt es - Frau Präsidentin, ich komme gleich zum Schluss -: Die Vertragsstaaten … anerkennen das gleiche Recht aller Menschen mit Behinderungen, mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben, und treffen wirksame und geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen den vollen Genuss dieses Rechts … zu erleichtern … Wenn wir uns diese - bald völkerrechtlich verbindliche Zielsetzung zu eigen machen, bleibt eigentlich nicht viel anderes, als dem Antrag vom Bündnis 90/Die Grünen zu folgen. Danke. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Hubert Hüppe für die Unionsfraktion.

Hubert Hüppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000975, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über einen Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Thema „Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen“. Dieser Antrag enthält einige Punkte, die ich sehr sympathisch finde. Es gibt ein paar Punkte, die ich nicht ganz so gut finde; auch das gebe ich zu. Andere finde ich wünschenswert, aber sehr schwierig in der Umsetzung, weil sie - das wurde vom Kollegen Kurth gerade gesagt - kostenintensiv sind. Aber der eigentliche Fehler an diesem Antrag ist, dass er viel zu spät kommt. ({0}) - Es wäre mir zu billig, jetzt zu sagen: Das hättet ihr in der Zeit machen können, als ihr regiert habt. - Doch darum geht es gar nicht, wenngleich das natürlich zutrifft. ({1}) Viel entscheidender ist, dass wir zu der Zeit, als RotGrün an der Regierung war, noch keine Föderalismusreform hatten und es jetzt wesentlich schwieriger ist - das muss man einfach so sagen; darüber waren wir uns im Haus doch auch eigentlich weit und breit einig -, GeHubert Hüppe setze zu machen, die dazu führen, dass den Kommunen und den Ländern zusätzliche Kosten entstehen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Hüppe, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kurth?

Hubert Hüppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000975, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gern.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Hüppe, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Föderalismusreform mit den Stimmen der Fraktion der CDU/CSU - möglicherweise auch mit Ihrer Stimme - und mit den Stimmen der SPD-Fraktion, mithin von der jetzt regierenden Großen Koalition, beschlossen wurde? ({0})

Hubert Hüppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000975, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich habe das nicht kritisiert. Ich habe gesagt, wir seien uns im Großen und Ganzen einig gewesen, dass es richtig ist. Wenn Sie Ihre grünen Fraktionen in den Stadt- und Gemeinderäten fragten, ob sie es richtig fänden, dass nur noch Gesetze beschlossen werden, deren Kosten der Bund trägt und nicht die Gemeinden, dann würden Sie bei Ihren grünen Kolleginnen und Kollegen auf kommunaler Ebene große Zustimmung ernten, lieber Kollege Kurth. Meine Damen und Herren, wir bestreiten überhaupt nicht, dass eine Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe notwendig ist. Wir müssen sie wirklich zukunftssicher machen: nicht nur, weil die Kostenseite zu beachten ist, sondern auch, weil in vielen Bereichen die Eingliederungshilfe nicht mehr einer modernen Politik für Menschen mit Behinderung im Hinblick auf gesellschaftliche Teilhabe entspricht. Weil dies so ist, sind viele Punkte in dem Antrag auch richtig. Tatsache ist, im Jahre 2006 bezogen 643 000 Menschen Leistungen der Eingliederungshilfe. Die Zahl der Leistungsempfänger steigt beständig; natürlich steigen damit auch die Kosten. Dies hat zwei Gründe. Der erste Grund ist ein historischer: Bis 1945 wurden Menschen mit Behinderungen systematisch im NS-System erfasst und ermordet. Sie waren im Übrigen - das darf man auch angesichts des morgigen Datums sagen - die ersten Opfer des Massenmordes der Nazis. Der zweite Grund ist, dass der medizinische Fortschritt Gott sei Dank dazu geführt hat, dass gerade Menschen mit Behinderungen eine deutlich höhere Lebenserwartung haben, als dies noch vor einigen Jahrzehnten der Fall war. Das heißt, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir uns noch wesentlich mehr Gedanken darüber machen müssen, wie das Hilfesystem angepasst werden muss. Was passiert mit den Menschen, die die Werkstätten verlassen, weil sie ins Rentenalter kommen? Wir sind sicherlich alle der Auffassung, dass sie nicht im Pflegeheim, sondern in Einrichtungen der Eingliederungshilfe landen sollten. ({0}) - Das wäre noch viel besser, Frau Kollegin; das gebe ich zu. Aber einige Menschen mit Behinderungen, die jetzt in Rente gehen, kommen leider in Pflegeheime. Mir wäre es lieber, sie bekämen Hilfen der Eingliederungshilfe. Was geschieht mit den sterbenden Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung? Ich mag diesen Begriff nicht; aber er steht immer noch in den Gesetzen. Haben sie geeignete Zugänge zur Palliativmedizin oder zu Hospizen? Über diese Fragen haben wir uns vor einigen Jahren noch keine Gedanken gemacht. Jetzt aber müssen wir uns dringend darum kümmern. Natürlich müssen wir uns auch fragen, wie wir mit der Kostenentwicklung umgehen. Insofern bin ich den Grünen dankbar, dass sie an einer Stelle offen gesagt haben, egal, wie sehr die Kosten steigen, solange der Bund sich daran beteiligt, sei alles in Ordnung. Tatsächlich brauchen wir aber echte Strukturreformen. Wenn heute der Landkreistag und andere lautstark über die hohen Kosten der Eingliederungshilfe klagen, dann ist dies zwar richtig; andererseits muss man auch wissen, dass durch die Pflegereform die Sozialhilfe bei der Hilfe zur Pflege erheblich entlastet worden ist. Dies wird selten erwähnt, wenn man das Thema Sozialhilfekosten anspricht. Die Reform der Eingliederungshilfe bleibt für die CDU/CSU-Fraktion ein zentrales Thema. Wir stehen zum Koalitionsvertrag. Dort haben wir gesagt, dass wir diese Reform mit den Gemeinden und den Ländern, aber vor allen Dingen auch - das ist mir sehr wichtig - mit den Betroffenen und ihren Verbänden gestalten wollen. Letztere wissen am ehesten, wie man die Probleme lösen kann und wie die besten Hilfen aussehen. Menschen mit Behinderungen sind die Experten, wenn es um Behindertenpolitik geht. Darüber muss man aus meiner Sicht wirklich ergebnisoffen reden. Ich habe manchmal das Gefühl, dass dies nicht so ist und dass manchmal auch interessengeleitet argumentiert wird. Wenn ich von ergebnisoffen spreche, dann bedeutet dies auch, lieber Kollege Kurth, dass die im Antrag vorgeschlagenen Änderungen ernsthaft geprüft werden müssen. Deswegen werden wir uns in den Ausschüssen damit auseinandersetzen. Es gibt aber auch viele Punkte, in denen wir schon einen Konsens erzielt haben. Erstens muss die ambulante Hilfe Vorrang haben, und zwar nicht, weil sie für billiger gehalten wird - sie kann durchaus auch teurer sein -, sondern weil es dem Anspruch auf Teilhabe in der Gesellschaft entspricht, der aus meiner Sicht eher gewährleistet werden kann, wenn man in der gewohnten Umgebung statt in einer Heimeinrichtung leben kann. Aus meiner Sicht ist dafür notwendig, dass wir die Umwelt in unseren Städten und Gemeinden barrierefrei gestalten und dass Unterstützungsangebote geschaffen werden. Man kann die Menschen schließlich nicht einfach auf der Straße sich selbst überlassen, wie es zum Beispiel in den Vereinigten Staaten passiert ist. Dort hat man unter dem Motto der Gleichberechtigung alle aus den Einrichtungen entlassen. Die sind dann unter den Brücken gelandet, weil sich niemand mehr um sie gekümmert hat. Das ist nicht unsere Politik. ({1}) Zweitens - darin sind wir uns ebenfalls einig - ist nicht der Sitz der Leistungserbringer entscheidend. Das Spannungsverhältnis zwischen überörtlichem und örtlichem Sozialträger soll aufgelöst werden - das wird im Antrag gefordert -, um eine Kostenverschiebung zu vermeiden, die nicht an den Interessen der Betroffenen orientiert ist, sondern derjenigen, die versuchen, die Kosten wegzudrücken. Ich glaube, dass es einige Fehlentwicklungen gibt, die wir relativ schnell beseitigen sollten. Ich will zum Schluss zwei Fälle schildern, die mich sehr beeindruckt haben. In meinem Landkreis Unna gibt es einen heilpädagogischen Kindergarten nur für behinderte Kinder, die aus den anderen Städten in diesem Kreis dorthin gefahren werden müssen. Die Kosten werden vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe getragen. Wenn man aber das Kind in einem Regelkindergarten unterbringen kann, dann trägt der Landschaftsverband nur seinen Trägeranteil. Interessant ist dabei, obwohl das kostengünstiger ist, weil die Kosten für die Fahrt von den Städten in die Kreisstadt entfallen, dass die Eltern den Kindergartenbeitrag zahlen müssen. Ich finde es im Übrigen nicht falsch, dass die Eltern einen Kindergartenbeitrag zahlen, aber sie müssten ihn gegebenenfalls auch in der Behinderteneinrichtung zahlen. Denn ich glaube, dass behinderte und nichtbehinderte Kinder auch in diesem Punkt gleich behandelt werden müssen. Es kann aber nicht sein, dass derjenige, der eine Sondereinrichtung besucht, nichts zahlen muss, und derjenige, der sein Kind in einem Regelkindergarten unterbringt, schlechter behandelt wird. Das ist meiner Meinung nach unter dem Gesichtspunkt der Integration nicht richtig und entspricht nicht dem Bild, das ich von einer modernen Behindertenpolitik habe. Ich würde gerne auch auf das zweite Beispiel eingehen, aber ich sehe schon die rote Lampe. ({2}) - Nein, dafür ist ein anderer Kollege zuständig, der schon einmal eine mitgebracht hat. Wir werden diesen Antrag gründlich prüfen. Das ist dem Kollegen Kurth klar. Es wird ein sehr schwieriger Weg. Die Union hat sich aber, denke ich, dadurch ausgezeichnet - das gilt im Übrigen auch für die anderen Fraktionen; das muss man ihnen zugestehen -, dass wir in der Behindertenpolitik sachorientierte Entscheidungen getroffen haben. Wir haben auch damals in der Opposition wichtigen Entscheidungen zugestimmt, als es um das SGB IX und das Bundesgleichstellungsgesetz ging. ({3}) Wir sollten uns unabhängig von den Fraktionsgrenzen für das entscheiden, was richtig ist. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Jörg Rohde für die FDPFraktion. ({0})

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Kollegen Kurth und Hüppe haben die aktuelle Situation zutreffend beschrieben und Beispiele genannt. Deswegen werde ich mich in meinen Ausführungen auf den Stand der Beratungen konzentrieren. Ich freue mich, dass durch die Initiative der Grünen heute das Thema Eingliederungshilfe auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestages gekommen ist. Es ist aber sehr schade, dass es dazu immer wieder der Oppositionsfraktionen im Parlament bedarf; denn eigentlich, werte Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition, müsste die Initiative von Ihnen ausgehen. ({0}) Sie haben im Koalitionsvertrag die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe versprochen. Getan hat sich aber bis auf viel zerschlagenes Porzellan bei der Behindertenbeauftragten nichts. Um Ihrer Erinnerung auf die Sprünge zu helfen, zitiere ich die entsprechende Passage aus dem schwarzroten Koalitionsvertrag: Die Unterstützung von Selbstständigkeit, Selbsthilfe und Selbstbestimmung ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Gemeinsam mit den Ländern, Kommunen und den Verbänden behinderter Menschen werden wir die Leistungsstrukturen der Eingliederungshilfe so weiterentwickeln, dass auch künftig ein effizientes und leistungsfähiges System zur Verfügung steht. Dabei haben der Grundsatz „ambulant vor stationär“, die Verzahnung ambulanter und stationärer Dienste, Leistungserbringung „aus einer Hand“ sowie die Umsetzung der Einführung des Persönlichen Budgets einen zentralen Stellenwert. Wir wollen, dass die Leistungen zur Teilhabe an Gesellschaft und Arbeitsleben zeitnah und umfassend erbracht werden. Hierzu bedarf es der effektiven Zusammenarbeit der Sozialleistungsträger. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, das war Ende 2005. Jetzt haben wir bereits Anfang 2008, und ich frage Sie heute: Was haben Sie davon umgesetzt? ({1}) Die Antwort ist beschämend: Nichts. Der Versuch der Verbändebeteiligung ist bereits im Ansatz gescheitert, nachdem die Behindertenbeauftragte den Verbänden verkündet hat, substanzielle Änderungen stünden in dieser Legislaturperiode ohnehin nicht mehr auf der Tagesordnung. Auch mit Ländern und Kommunen scheint es keinen Dialog zu geben; sonst hätte Ihnen die Arbeits- und Sozialministerkonferenz der Bundesländer nicht im November letzten Jahres mit 16 : 0 Stimmen ein Ultimatum gesetzt, bis zur nächsten Konferenz im November dieses Jahres endlich einen Gesetzentwurf vorzulegen. Es ist kein Wunder, dass die Länder langsam nervös werden; denn - wir haben es eben schon gehört - die Ausgaben der Kreise und Kommunen für die Eingliederungshilfe steigen seit Jahren kräftig. So verwundert es auch nicht, dass aus den Ländern Rufe nach einer Beteiligung des Bundes an den Kosten der Eingliederungshilfe lauter werden, wie zuletzt von der Arbeits- und Sozialministerkonferenz, wie schon erwähnt, im vergangenen November. Völlig zu Recht wird im Koalitionsvertrag festgestellt, dass die Unterstützung von Selbstständigkeit, Selbsthilfe und Selbstbestimmung eine gesellschaftliche Aufgabe ist, die nach Auffassung der FDP auch die finanzielle Solidarität zwischen Bund, Ländern und Gemeinden erfordert. Mit dieser Aufgabe dürfen die Kreise und Kommunen nicht alleine gelassen werden. ({2}) In welcher Form das zu geschehen hat, muss eingehend geprüft werden. Die FDP im Deutschen Bundestag ist noch nicht festgelegt. Klar ist aber, dass diese Mammutaufgabe keinen Aufschub mehr duldet; denn die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe ist nicht nur eine sozialrechtliche Frage, sondern auch eine gesellschaftliche Aufgabe. Es geht um Menschen und deren Chancen auf Selbstbestimmung und Teilhabe an der Gesellschaft. Diese Aufgabe darf man nicht auf die lange Bank schieben; denn jeder vergeudete Tag ist eine vergeudete Chance für viele Behinderte in Deutschland. ({3}) Mit dem Antrag der Linken zu einem Nachteilsausgleichsgesetz, den heute zur Beratung stehenden Vorschlägen der Grünen für die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe sowie den Empfehlungen der Arbeitsund Sozialministerkonferenz stehen bereits mehrere Modelle für eine Weiterentwicklung einer teilhabeorientierten Politik für Menschen mit Behinderungen im politischen Raum. Auch die FDP wird sich mit eigenen Vorschlägen in die Debatte einbringen. Wir befinden uns seit Monaten im Gedankenaustausch mit allen Akteuren der Eingliederungshilfe. ({4}) Das Führen einer Diskussion setzt aber voraus, dass die Bundesregierung überhaupt erst einmal in die Debatte über die Eingliederungshilfe eintritt. Den Handlungsbedarf dafür zeigt der mehr als schleppende Start des trägerübergreifenden Persönlichen Budgets eindrucksvoll auf. Die Bedarfsermittlung, die Leistungsgewährung sowie die Leistungserbringung hinken dem fortschrittlichen und zu begrüßenden Ansatz des Persönlichen Budgets weit hinterher. Wenn das Budget ein Erfolg werden soll, müssen jetzt geeignete Rahmenbedingungen dafür hergestellt werden. Wir wissen alle, dass diese Aufgabe ein sehr großer Brocken ist. Umso wichtiger ist es, dass die Große Koalition jetzt mit der Reform der Eingliederungshilfe beginnt; denn das Ende der Legislaturperiode rückt immer näher, und die Erfahrung lehrt uns, dass in Wahlkampfzeiten keine heißen Eisen mehr geschmiedet werden. Ich möchte zum Abschluss meiner Rede noch hinzufügen: Das ist eine der ganz wenigen Debatten zur Behindertenpolitik. Wir haben noch 13 Minuten; ich habe die Rednerliste gesehen. Es ist kein Redner der Bundesregierung da. Ich hätte mir sehr gewünscht, dass wir die Position der Bundesregierung zum Thema Eingliederungshilfe und eine Mitteilung zum Stand der Beratungen innerhalb der Bundesregierung zu hören bekommen. ({5}) Wenn ich recht gesehen habe, ist auch die Behindertenbeauftragte nicht da. ({6}) Es ist sehr schade, dass wir den Dialog nicht in diesem Parlament führen können; denn die Beratungen für die Gesetze sollen doch im Plenum stattfinden. Ich finde es bedauerlich; aber wir werden dann eben in den Ausschüssen die Details beraten. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Silvia Schmidt für die SPD-Fraktion. ({0})

Silvia Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003217, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Lieber Kollege Rohde, ich möchte gleich am Anfang die Behindertenbeauftragte entschuldigen. Wie Sie wissen, werden manche Termine sehr langfristig vereinbart. So kommt es zu Terminkollisionen. Ich bitte hier einfach um Verständnis. Sie ist, wie ich glaube, bei Verbänden im Brandenburgischen. Ich möchte noch einmal auf den einen oder anderen Punkt eingehen. Wir sind uns ja generell einig hier im Hause. Wir haben alles gemeinsam gestaltet. Wir alle wollen, wie ich glaube, dasselbe. Es gibt nur wenige Unterschiede dabei. Von einem gesetzgeberischen Stillstand kann man nicht wirklich reden, Markus. Ich erinnere nur an die Gesundheitsreform SGB V im Bereich der häuslichen Krankenpflege. Auch die Länder und die Kommunen haben ja Verantwortung im Rahmen der Daseins14722 Silvia Schmidt ({0}) vorsorge, die sie auch teilweise wahrgenommen haben; das wissen wir alle. Ein anderer Punkt, den du, Markus, sehr treffend angesprochen hast, betrifft den Bereich der Schulen. Hier müssten die Länder handeln; das vermisst man zum Teil. So sollten sie nämlich versuchen, Kindern mit Behinderungen einen Besuch von normalen Schulen zu ermöglichen. Europaweit liegt der Prozentsatz bei 80 Prozent, bundesweit liegt er bei 15 Prozent. Damit stellen wir uns wirklich ein ausgesprochen schlechtes Zeugnis aus. Ich war bei der Stiftung Pfennigparade in München. Sie hat insoweit etwas auf den Weg gebracht, als sie ihre Sonderschulen, für Körperbehinderte und auch für alle anderen Kinder der Stadt München öffnete. Und es funktioniert. Kostenintensiv ist ein Begriff, der mir, wenn er benutzt wird, immer etwas wehtut. Wenn ich miterleben muss, dass eine Gesellschaft es nicht fertigbringt, Menschen zu unterstützen, die ihre Unterstützung brauchen, und ständig nur von Kosten redet, wird mir teilweise schwindlig. Es gibt aber auch andere Beispiele. So hat Unna aufgezeigt - das Beispiel ist vorhin erwähnt worden -, wie man mit einfachsten Instrumenten wie einer Wohnberatung in hervorragender Weise Kosten bei der Pflegeversicherung, der Krankenversicherung, der Eingliederungshilfe und der Altenhilfe sparen kann. Vor diesem Hintergrund frage ich mich ernsthaft, warum wir immer noch so den Schwerpunkt auf den stationären Bereich legen. Lieber Kollege Hüppe, Sie haben gerade älter werdende Behinderte angesprochen. Bei unseren Wohnungsbaugesellschaften stehen viele Wohnungen leer. Wir müssen keine neuen Einrichtungen bauen, sondern im Rahmen unserer gesetzgeberischen Möglichkeiten dafür sorgen, dass verstärkt barrierefreier Wohnraum geschaffen wird. Alles andere wäre albern. ({1}) - Ich weiß das. Ich denke, wir sind uns da einig. Das Entscheidende hierbei ist ja vor allen Dingen, dass keine neuen Kosten auf uns zukommen. Liebe Kollegen, wir haben gemeinsam, auch mit den Betroffenen sowie den Leistungserbringern und den Kostenträgern, das SGB IX geschaffen. Hiermit gibt es nun ein Instrument, das der medizinischen Rehabilitation, der Selbstbestimmung und der Teilhabe dient. Am Leben in der Gemeinschaft sollte jeder einzelne Mensch mit Behinderungen teilnehmen können. Das war unser Grundanliegen. Dies haben wir in Gesetzesform gegossen. Was ist passiert? Das SGB IX zeigt nicht die Erfolge, die wir uns vorgestellt haben. ({2}) Ich denke nur an das Wunsch- und Wahlrecht in § 9. Das Beispiel des behinderten Herrn Leonhard, das du, Markus, gesagt hast, zeigt doch ganz eindeutig: Hier wird dem Wunsch- und Wahlrecht einfach nicht nachgegeben. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle sollten uns noch einmal gemeinsam an das entsprechende Sozialamt wenden und deutlich machen, dass das, was dort geschieht, einfach ein Skandal ist und sich gegen die Menschenwürde richtet. ({4}) Wir müssen uns auch fragen, wieso es an der Umsetzung des SGB IX hapert. Eigentlich wissen wir es doch. Im Grunde genommen muss man jedem recht geben, der sagt: Die Leistungs- und die Kostenträger haben kein Interesse daran, den Menschen mit Behinderungen das Wunsch- und Wahlrecht zu gewähren. Die Menschen mit Behinderungen könnten ja den Wunsch äußern, woanders zu leben als dort, wo sie jetzt leben. Neulich hat sich eine Sozialdezernentin an mich gewandt und gefragt: Frau Schmidt, wann geht es denn mit dem Persönlichen Budget los? Wir sollten immer vor Augen haben, dass die Bundesregierung in Person von Karin Evers-Meyer durch die Lande reist und ständig predigt, dass die Einführung des Persönlichen Budgets für Menschen mit Behinderungen ein Weg ist, den wir einschlagen sollten. Ich glaube, das müssen wir als Abgeordnete genauso tun. ({5}) Ein ganz wesentlicher Bestandteil sind natürlich auch unsere berühmt-berüchtigten Servicestellen. Diese Stellen arbeiten noch gar nicht so, wie wir es wollen. Die behinderten Menschen werden weiterhin von A nach B geschickt und erhalten ihre Leistungen nicht aus einer Hand. ({6}) Warum existieren die Servicestellen noch nicht? Man hat wohl keine Lust, behinderten Menschen Selbstbestimmung zuzubilligen. Das muss natürlich geändert werden. Das wissen wir. Ich möchte gern einmal das BMAS zitieren: Das Kernproblem ist nicht das geltende Recht, - Markus, das weißt du. sondern das Festhalten von Leistungsträgern und Leistungsanbietern an verfestigten, interessengeleiteten Sicht- und Verfahrensweisen und natürlich auch eine eiskalte Sparwut. Genau das ist unser Problem. ({7}) Daher sollten wir uns noch einmal zusammensetzen. Dass das notwendig ist, hat auch der Antrag der Grünen deutlich gezeigt. Ich verweise auf den Fall Silvia Schmidt ({8}) Leonhard. Dabei geht es um SGB XII § 13. Dort steht: Ambulanten Leistungen der Sozialhilfe ist nur so lange Vorrang zu gewähren, solange sie nicht mit unzumutbaren Mehrkosten verbunden sind. In diesem Paragrafen ist aber auch geregelt, dass die Versorgung zumutbar sein muss. Das war im Fall Leonhard überhaupt nicht so. Man hat sich über das Kriterium der Zumutbarkeit hinweggesetzt. Man hat billigend in Kauf genommen - das Gutachten hat es aufgezeigt -, dass das Leben dieses Mannes automatisch verkürzt wird, wenn er in eine Einrichtung kommt. Ich muss noch einmal sagen: Das ist skandalös. ({9}) Der berechtigte Bedarf eines Einzelnen, das Wunschund Wahlrecht, muss nicht nur im Persönlichen Budget Ausdruck finden; vielmehr muss dieser Bedarf, egal wie klein er ist, uns dazu veranlassen, der Menschenwürde eines jeden Einzelnen auch gerecht zu werden. Wenn wir das Wunsch- und Wahlrecht nicht im Gesetz aufnehmen, sondern immer wieder beiseiteschieben - ich verweise auf das, was im SGB IX steht; dort heißt es, dass es bei der Budgetverteilung keine Mehrkosten geben dürfe -, dann brauchen wir uns mit Selbstbestimmung und dem Gedanken der Teilhabe überhaupt nicht mehr auseinanderzusetzen. Wir müssen die Bereiche SGB IX - das Budget darf die vorhergehenden Kosten nicht übersteigen -, SGB XII § 13 aufgreifen und ändern. Dazu hätten wir hier im Deutschen Bundestag im Rahmen der Großen Koalition die Möglichkeiten. Darauf wurde zu Recht hingewiesen. ({10}) - Nein, lieber Ilja. Wir müssen vor allen Dingen den schwerstmehrfachbehinderten Menschen gegenüber im Deutschen Bundestag Rechnung tragen. Wir müssen klarstellen: Ihr habt genauso wie jeder andere Mensch die Möglichkeit, da zu leben, wo ihr leben möchtet, egal wie hoch euer Budget ist. Ich kann Ihnen versichern - das zeigen die Evangelische Stiftung Alsterdorf, der große Träger Hephata und das Johanneswerk -: Man ambulantisiert; man nimmt schwerstmehrfachbehinderte Menschen aus den Einrichtungen heraus, ohne dass das höhere Kosten nach sich zieht. Das sollten wir uns einfach einmal auf der Zunge zergehen lassen, und wir sollten nicht immer diese kleinkarierten Kostenberechnungen durchführen. Ich möchte jetzt nicht über die Teilhabe am Arbeitsleben diskutieren. Markus, wie wir wissen, müssen auch da Veränderungen stattfinden. Es darf nicht mehr so sein, dass Menschen automatisch in geschützte Werkstätten kommen. Aber es ist auch eine Frage der Ausgleichsabgabe: Was passiert tatsächlich mit der Ausgleichsabgabe? Ich komme auf mein Petitum zu sprechen. Heute wurde noch einmal über die Pflegestützpunkte diskutiert. Wir reden hier immer über vernetzte Strukturen. Übrigens haben BMJ und BMI bestätigt - das können Sie gerne nachlesen -, dass die im Zusammenhang mit den Pflegestützpunkten getroffene Regelung nicht verfassungswidrig ist. Gerade Menschen mit Behinderungen verzichten oft auf Pflegegeld. Häufig wissen sie überhaupt nicht, welche Möglichkeiten es im Rahmen der Pflegeversicherung gibt. Für diese Menschen ist es ein großer Vorteil, dass sie nur noch eine einzige Anlaufstelle haben, von der sie ihre Informationen bekommen. ({11}) Ich glaube, das ist der wesentliche Punkt. Auch ich war bei der Anhörung. Es war nicht unbedingt so, dass man gesagt hat: Pflegestützpunkte sind schlecht. Ganz im Gegenteil: Die Aktion Psychisch Kranke hat sich positiv über die Pflegestützpunkte geäußert. Die AWO hat sich positiv geäußert. Herr Schiffer vom VdAK hat sich positiv geäußert. Viele Einzelsachverständige haben sich positiv geäußert. Wenn man dem endlich einmal folgt und vernetzte Strukturen schafft, und zwar im Rahmen der Pflegestützpunkte in Kooperation mit den Servicestellen, dann stärken wir die Servicestellen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Schmidt, Sie müssen die Lektüre des Anhörungsprotokolls verschieben und zum Schluss kommen.

Silvia Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003217, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bedanke mich ganz herzlich und freue mich sehr auf eine interessante Diskussion im Ausschuss. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Ilja Seifert. ({0})

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Dies ist eine klassische Situation, an der sich zeigen lässt, dass ein Ziel auf verschiedenen Wegen erreicht werden kann. Heute diskutieren wir über einen Antrag der Grünen, nach dem die Eingliederungshilfe aus dem Bereich der Sozialhilfe herausgenommen und in einem eigenständigen Gesetz geregelt werden soll. Die Linke hat vor einem Jahr einen Antrag eingebracht - Herr Rohde hat es schon erwähnt -, mit dem sie ein Nachteilsausgleichsgesetz für Menschen mit Behinderungen auf den Weg bringen will, das eine ähnliche Wirkung hätte. Es gäbe noch einen dritten Weg: Wir könnten das SGB IX endlich zum Leistungsgesetz umformen, womit in etwa das gleiche Ziel erreicht werden kann. Was passiert aber in Wirklichkeit? Die Regierungskoalition schickt ihre behindertenpolitische Sprecherin bzw. ihren behindertenpolitischen Sprecher vor. Die sagen: Alles dufte, wir sind auf eurer Seite. Ich befürchte, dass ihr bei der Abstimmung mit euren Fraktionen gegen den vorliegenden Antrag stimmen werdet. Lasst uns deshalb mal Butter bei die Fische geben. Herr Kurth und die Grünen schlagen im Grunde genommen vor, die Eingliederungshilfe von der Nachrangigkeit zu befreien und die Bedürftigkeitsprüfung abzuschaffen. Wunderbar, das ist ganz prima. Der Einwand wird aber lauten, dass die Nachrangigkeit das Hauptmerkmal der Sozialhilfe ist. Deswegen befürchte ich, dass wir auf diesem Weg nicht dahin kommen werden, wohin wir kommen wollen. Grundsätzlich würde ich gerne mit Ihnen gehen, wenn Sie schon nicht unserem Antrag zum Nachteilsausgleichsgesetz folgen, der wesentlich weiter geht. Das ist wenigstens ein Schritt in die richtige Richtung.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Dr. Seifert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kurth?

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Aber gerne.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bitte.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Kollege Seifert, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass das Nachrangigkeitsprinzip bei der Eingliederungshilfe bereits jetzt an vielen Stellen ganz anders geregelt ist als bei der Hilfe zum Lebensunterhalt? ({0}) Das ist im Übrigen begründet; denn die Hilfe zum Lebensunterhalt betrifft prinzipiell jede Person. Sind Sie bereit, mir zuzustimmen, dass eine Behinderung einen besonderen Nachteil darstellt und insofern die Veränderungen beim Nachrang, die im geltenden Sozialrecht bestehen, gerechtfertigt sind und von Rot-Grün vorgenommen worden sind? ({1})

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Selbstverständlich kenne ich die Rechtslage, lieber Kollege Kurth. Selbstverständlich weiß ich das. Ich finde euren Vorschlag ja gut. Ich befürchte nur, dass die Gegenargumente durchschlagend sein werden. ({0}) Wenn wir die gemeinsam ausräumen können, dann habt ihr mich auf eurer Seite. Wenn wir einen Schritt in die richtige Richtung gehen können, selbst wenn er mir zu kurz ist, gehe ich doch gerne mit. ({1}) - Ich rolle mit, wenn Ihnen das lieber ist. Das ist kein Problem. Kommen wir zum Thema zurück. Wir brauchen für Menschen mit Behinderungen ein Gesetz, in dem klar definiert wird, dass behinderungsbedingte Nachteile auszugleichen sind. Das ist das Thema. Darum geht es. Wir wollen nicht mehr, aber auch nicht weniger, als die gleichen Chancen wie andere haben. Lieber Markus Kurth, ich möchte nicht nur, dass Art. 19 der UNO-Konvention für Menschen mit Behinderungen umgesetzt wird, sondern dass die gesamte UNO-Konvention in nationales Recht umgesetzt wird. Diese Konvention, die die Bundesregierung unterschrieben hat und angeblich so stark unterstützt - wollen wir einmal sehen, wie es bei der Ratifizierung aussieht -, sagt nämlich verbindlich, dass die Staaten dafür zu sorgen haben, dass Menschen mit Behinderungen in ihnen gut leben können, und nicht, dass sich die behinderten Menschen den Strukturen in den Staaten anpassen müssen. Das ist ein wirklicher Paradigmenwechsel. Wenn wir das umgesetzt haben, dann haben wir wirklich etwas erreicht. ({2}) Wenn wir die UNO-Konvention tatsächlich ratifizieren und umsetzen, sind wir auf einem guten Weg. Dann kommen wir zusammen. In dieser konkreten Situation liegen dem Bundestag zwei Anträge vor - der Kollege Rohde von der FDP hat einen dritten angekündigt -, über die in den Ausschüssen geredet werden muss. Lasst uns eine vernünftige Anhörung veranstalten, um die Sachverständigkeit der Experten in einer eigenen Sache tatsächlich zu nutzen. Liebe Silvia Schmidt, in diesem Punkt sind wir einer Meinung. Lasst uns die Experten anhören und fragen, was an den Anträgen gut ist, wo es Nachbesserungsbedarf gibt und wo noch etwas fehlt. Lasst uns dann gemeinsam - in dieser Diskussionrunde waren Gemeinsamkeiten zu erkennen - ein Gesetz verabschieden, mit dem behinderungsbedingte Nachteile tatsächlich bekämpft werden können. Ob das Gesetz am Ende SGB IX oder sonst wie heißt, ist mir wurscht. Wichtig ist nicht, was darüber steht, sondern der Inhalt des Gesetzes. Was das anbelangt, haben wir gemeinsam noch viel zu tun. Ich freue mich darauf. Wenn die Einigkeit so groß ist wie jetzt in der Debatte, werden wir noch in dieser Legislaturperiode ein tolles Ziel erreichen können. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/7748 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a und 18 b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Marieluise Vizepräsidentin Petra Pau Beck ({1}), Volker Beck ({2}), Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die EU-Zentralasienstrategie mit Leben füllen - Drucksachen 16/4852, 16/5674 Berichterstattung: Abgeordnete Karl-Georg Wellmann Johannes Pflug Harald Leibrecht Wolfgang Gehrcke Marieluise Beck ({3}) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck ({5}), Birgitt Bender, Dr. Uschi Eid, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Menschenrechte in Zentralasien stärken - Drucksachen 16/2976, 16/5588 Berichterstattung: Abgeordnete Holger Haibach Johannes Jung ({6}) Burkhardt Müller-Sönksen Michael Leutert Volker Beck ({7}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Staatsminister Gernot Erler.

Not found (Gast)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zentralasien ist eine faszinierende Weltregion mit fünf Ländern, annähernd 60 Millionen Menschen, einer staunenswerten Geschichte und Kultur, einer Vielfalt an Landschaften und Naturschönheiten und erheblichen Ressourcen und Reichtümern. Andere Mächte haben sich schon ab Mitte der 90erJahre dieser Region stärker zugewandt. Die EU hat dies aus verschiedenen Gründen sehr spät getan. Sie hat sich eine Zeit lang nur begrenzt mit den zentralasiatischen Staaten beschäftigt. Das hat sich während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft in der ersten Hälfte des vergangenen Jahres geändert. ({0}) Wir haben uns sehr intensiv mit dieser Region beschäftigt. Im Ergebnis haben wir im Einvernehmen mit den Partnerländern im Juni 2007 die EU-Zentralasienstrategie beschließen können und erhebliche Mittel - die geplanten Mittel wurden verdoppelt - für die Umsetzung dieser Strategie bereitstellen können. Man kann also sagen - das wird international anerkannt -: Die EU-Zentralasienstrategie ist unser Kind. Wir wollen das Kind aber nicht ins Internat stecken, sondern uns selbst um das Wachstum und Gedeihen dieses Kindes kümmern. Wir wissen, dass andere Präsidentschaften andere Schwerpunkte setzen. Wir wollen da am Ball bleiben. ({1}) Schon im Juni dieses Jahres ist eine erste Revision der Bemühungen vorgesehen. Bis dahin ist es möglich und auch nötig, konkrete Projekte zu definieren. Wir sind dabei vorangekommen und haben einige sichtbare Schwerpunkte im Kopf. Dazu einige Stichpunkte: Rechtsstaat einschließlich Menschenrechtsdialog, Bildung, Wasserund Energieverbundsystem in der Region, Grenzmanagement und Drogenbekämpfung. Ich kann all das hier gar nicht ausbreiten, sondern möchte mich auf den Bereich Rechtsstaat und Menschenrechte konzentrieren. Hier sind wir mit einem Rechtsberatungszentrum in Taschkent gut vorbereitet. Ganz entscheidend ist der Menschenrechtsdialog. Dieser ist ja auch Thema der hier vorgelegten Anträge. Wir haben uns von vornherein intensiv mit Usbekistan beschäftigt, weil ja hier durch die tragischen Ereignisse vom Mai 2005 in Andischan ein großes Problem vorlag. Wir haben mit den Usbeken einen strukturierten, nachhaltigen Menschenrechtsdialog vereinbaren können, dessen erste Runde am 9. Mai 2007 stattgefunden hat und der im Mai dieses Jahres fortgesetzt werden soll. Wir werden die Menschenrechte auch in weiteren Beratungen mit Usbekistan zum Gegenstand machen. Wir konnten mit Usbekistan zudem ein Expertenseminar zum Thema „Liberalisierung der Medien“ vereinbaren. Man kann sagen, dass allein die Aufnahme dieses Dialogs schon ein wichtiges Ergebnis und ein Erfolg der Zentralasienstrategie der EU ist. Es gibt auch konkrete Fortschritte: die Abschaffung der Todesstrafe, die Einführung des Habeas-Corpus-Prinzips und Korrekturen in einer ganzen Reihe von Einzelfällen. Das ist natürlich nur ein Anfang, der weitergeführt werden muss. Wir müssen aber nicht nur mit Usbekistan vorankommen, sondern natürlich auch mit den vier anderen Staaten. Mit Turkmenistan ist schon ein Ad-hoc-Dialog über Menschenrechte begonnen worden.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Staatsminister, Sie können natürlich weiterreden, aber ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie jetzt auf Kosten der Redezeit Ihrer Kolleginnen weitersprechen.

Not found (Gast)

Genau das will ich nicht machen. Ich wollte gerade sagen, dass ich jetzt nicht mehr auf die anderen möglichen Leuchtturmprojekte eingehen werde, sondern nur noch einmal versichern möchte, dass wir unser Engagement, wirklich sichtbare, konkrete Projekte zu entwickeln, fortsetzen werden und mit der EU-Kommission und dem Sonderbeauftragten Pierre Morel gern zusammenarbeiten. Ich freue mich, dass zu so später Stunde so viele Kolleginnen und Kollegen Interesse für dieses wichtige Thema zeigen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Florian Toncar für die FDPFraktion. ({0})

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die vor etwas mehr als einem halben Jahr vorgelegte Zentralasienstrategie der Europäischen Union war überfällig. Wir als FDP-Fraktion begrüßen, dass es so etwas gibt und dass es ein umfassender Ansatz ist, der verschiedene Themenbereiche umfasst, beispielsweise auch strategische Interessen wie die Energieversorgung. Eine Komponente ist die Nabucco-Pipeline, die explizit dazu beiträgt, dass wir uns bezüglich unserer Energielieferanten diversifizieren. Die Zentralasienstrategie umfasst auch Projekte in den Bereichen Bildung und Umwelt, Bekämpfung der organisierten Kriminalität und des Menschenhandels, aber insbesondere auch der Förderung des Rechtsstaates und der Menschenrechte. Diese politischen Ziele teilen, glaube ich, wir alle in diesem Hause. Es ist zunächst einmal festzuhalten, dass es ein großer Fortschritt ist, dass es eine EU-Strategie zu diesem Thema gibt. ({0}) Die Instrumente, die zur Verfügung stehen, sind vielfältig. Eine enge politische Kooperation, Treffen auf Ministerebene in regelmäßigen Abständen und Menschenrechtsdialoge sind vorgesehen. Ein eigener Sonderbeauftragter der Europäischen Union wurde eingesetzt. Wir haben Ziele und Instrumente. Nichtsdestotrotz ist es richtig, wenn die Grünen heute sagen: Das, was wir verabschiedet haben, muss mit Leben gefüllt werden; denn Ziele und Instrumente müssen effektiv zur Wirkung gebracht werden, sodass wir Fortschritte erzielen. Uns als FDP-Fraktion ist die Verbindung von Werten und Interessen wichtig. Warum? Weil eine gewisse Übereinstimmung von Grundwerten den Rahmen für die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit steckt. Wenig Übereinstimmung von Werten bedeutet, dass es auch wenige Möglichkeiten für Kooperation gibt. Eine hohe Übereinstimmung hinsichtlich der Werte erweitert die Kooperationsmöglichkeiten. Hierfür sind in vielen zentralasiatischen Staaten natürlich noch große Fortschritte nötig. Das Stichwort Rechtssicherheit ist ein Beispiel. Pacta sunt servanda - dieser Grundsatz ist für uns wichtig. Nur die Stabilität und Verlässlichkeit eines Rechtssystems sind Garant dafür, dass wir im Energiebereich und im wirtschaftlichen Bereich mit den zentralasiatischen Staaten zusammenarbeiten können. Effektiver Rechtsschutz ist notwendig. Sicherheit setzt voraus, dass es kein Willkürstaat ist, der eine trügerische Form von Stabilität garantiert, aber im Kern höchst fragil ist. Deswegen ist das Existieren eines Rechtsstaats Garant dafür, dass diese Staaten stabil und sicher sind. ({1}) Der Menschenrechtsschutz wird in der EU-Zentralasienstrategie sehr betont; das ist wichtig. Denn in allen fünf Ländern Zentralasiens gibt es im Hinblick auf Menschenrechte und Demokratie Probleme. Allerdings muss man differenzieren. Diese Probleme sind nicht in allen fünf zentralasiatischen Staaten gleichermaßen ausgeprägt. Generell finden wir in all diesen Staaten ein schwieriges Arbeitsumfeld für Nichtregierungsorganisationen vor, insbesondere in Turkmenistan und Usbekistan. Was sich in Usbekistan in den Folterkellern des Staates abspielt, ist geradezu abscheulich und gehört zum Schlimmsten, was in Sachen Folter auf der ganzen Welt passiert. Im letzten Jahr hat dieser Staat der VN-Menschenrechtskommissarin Louise Arbour übrigens einen Besuch verweigert; auch das ist bemerkenswert. Nahezu alle zentralasiatischen Staaten haben Probleme mit ihrem Justizsystem. Herr Staatsminister, weil Sie gerade die Situation in Andischan angesprochen und als Problem bezeichnet haben, möchte ich darauf hinweisen: Das ist mehr als nur ein Problem. Dort ist damals ein schweres Verbrechen begangen worden. Das hat es in dieser Form in keinem anderen zentralasiatischen Staat gegeben. Insofern ist die Feststellung, dass Usbekistan für uns ein ganz besonders schwieriger Partner ist, richtig. Ich glaube, es muss daran festgehalten werden, dass die internationale Staatengemeinschaft das, was in Andischan passiert ist, unabhängig überprüft und dass daraus Konsequenzen gezogen werden. Was bisher passiert ist, ist völlig unzureichend. Von der usbekischen Regierung müssen immer wieder weitere Anstrengungen eingefordert werden. ({2}) Vor diesem Hintergrund verstehe ich nicht - so geht es in Deutschland vielen -, dass die Sanktionen gegen dieses Land, die insbesondere aus Reisebeschränkungen bestanden, ausgerechnet unter deutscher Ratspräsidentschaft und kurz vor der Veröffentlichung der EU-Zentralasienstrategie gelockert worden sind. Dafür muss man triftige Gründe anführen. Alleine das Sich-Einlassen auf einen Menschenrechtsdialog ist doch noch kein Erfolg. Das ist erst die Voraussetzung für künftige Erfolge. Man muss sich einmal überlegen, welches Signal man an alle Länder in dieser Region sendet, wenn man eine Sanktion, die im Zusammenhang mit dem Massaker verhängt wurde, das in Andischan begangen worden ist - hier sind keine Fortschritte festzustellen -, bereits bei einem solch geringen Zugeständnis wie der Bereitschaft, miteinander zu reden, lockert. Das hat nicht die Zustimmung der FDP gefunden. Ich glaube, dadurch hat die deutsche Menschenrechtspolitik ein gutes Stück ihrer Glaubwürdigkeit verloren. ({3}) Wünschenswert wäre, dass die Staaten, die für reale Verbesserungen sorgen, auch etwas davon haben. Das wäre der Ansatz der Liberalen im Bundestag. Zu den Anträgen der Grünen möchte ich sagen: Sie sind fundiert, ({4}) und wir erkennen ein hohes Maß an inhaltlicher Übereinstimmung. Das möchte ich an dieser Stelle betonen. Jeder kann erahnen, warum ich das tue. In der letzten Woche habe ich nämlich etwas anderes gesagt. Dieses Mal stimmen wir Ihren beiden Anträgen zu. Ich glaube, sie sind Beispiele dafür, wie man diese Strategie tatsächlich mit Leben füllen kann. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Holger Haibach das Wort.

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir werden wahrscheinlich nie erfahren, wer hinter der Ermordung des usbekischen Journalisten Alisher Saipov und hinter dem brutalen Raubüberfall auf den deutschen Journalisten Marcus Bensmann steckt. Unabhängig davon, ob es sich bei diesen beiden Vorfällen um bloße Gewalttaten ohne jeden Hintergrund handelt oder ob es, wie manchmal vermutet wird, Verbindungen zum Beispiel zum usbekischen Geheimdienst gibt, steht fest: Das Leben für Journalisten - allerdings nicht nur für Journalisten - ist in Zentralasien gefährlich. Diese Taten müssen ganz deutlich verurteilt werden; ich glaube, das kann ich im Namen aller Kolleginnen und Kollegen sagen. Denn die Pressefreiheit ist ein Grundpfeiler unserer Demokratie. ({0}) Zentralasien hat schon sehr früh, seit Beginn der 90erJahre, eine wichtige Rolle in der deutschen Außenpolitik gespielt. Da manchmal so getan wird, als sei das ganz neu, möchte ich darauf hinweisen: Die Regierung von Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher war eine der ersten Regierungen weltweit, die die zentralasiatischen Staaten nach ihrer Unabhängigkeit anerkannt und diplomatische Beziehungen zu ihnen aufgebaut hat. Insofern war es konsequent und begrüßenswert, dass die Bundesregierung diesen Faden wieder aufgenommen und Zentralasien zu einem wichtigen Bestandteil ihrer Außenpolitik und der deutschen Ratspräsidentschaft gemacht hat. ({1}) Es ist völlig klar - das hat auch der Staatsminister angesprochen -, dass wir in Zentralasien mannigfaltige Interessen und Einflussmöglichkeiten haben. Wir müssen unsere Interessen verfolgen und unsere Einflussmöglichkeiten nutzen; denn diese Region ist für uns wichtig. Zentralasien hat für Deutschland und für die Europäische Union, wenn es um die Frage der Sicherheit geht, eine wichtige Bedeutung. Die zentralasiatischen Staaten sind nicht nur Nachbarn Afghanistans. Usbekistan ist für uns auch insofern wichtig, als wir mit Termes einen Bundeswehrstützpunkt haben, der für unseren ISAFEinsatz dringend notwendig ist. Auch die Niederländer wickeln Flüge über diesen Stützpunkt ab. Im Übrigen will ich darauf hinweisen, dass die Franzosen Ähnliches in Duschanbe haben. Es wird ja immer der Eindruck erweckt, wir seien die einzigen, die sich in dieser Region aufhalten. Doch das ist definitiv falsch. - Das war der erste Punkt. Der zweite Punkt: Wir brauchen diese Länder auch bei der Drogenbekämpfung und im Kampf gegen den Terrorismus. Zentralasien, insbesondere Turkmenistan, hat sehr große Erdgasvorkommen. Auch deshalb haben wir ein großes Interesse daran, diese Länder auf unsere Seite zu bekommen; der Kollege Toncar hat schon darauf hingewiesen. Es ist natürlich eine Frage, wie wir unsere Energiesicherheit gewährleisten, da wir in Zukunft - weil unsere eigenen Ressourcen abnehmen, aber vielleicht auch deshalb, weil wir politische Entscheidungen treffen, die heute aber nicht zu diskutieren sind - noch stärker von Importen aus dem Ausland abhängig werden. Auch deswegen ist eine Region wie Zentralasien von entscheidender Bedeutung. Auch deshalb haben wir große Interessen in dieser Region. Wir haben ein Interesse daran, dass sich diese Staaten auf die Dauer stabil entwickeln, damit wir wirtschaftlich gut zusammenarbeiten können, aber auf der Basis von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Genau da beginnt das Problem. Denn es handelt sich bei all diesen Staaten im Hinblick auf die Achtung der Menschenrechte, um es ganz vorsichtig zu formulieren, nicht gerade um Musterknaben; auch darauf ist schon hingewiesen worden. Bei einer solchen Zentralasienstrategie gibt es zwei Probleme. Das erste ist: Es handelt sich um sehr unterschiedliche Staaten. Auf der einen Seite stehen relativ weit entwickelte Länder wie Kasachstan, auf der anderen Seite Länder wie Turkmenistan, das gerade erst damit begonnen hat, sich zu öffnen. Mit der Abordnung des Menschenrechtsausschusses - die Kollegin Graf war auch dabei - waren, wenn man von der Kollegin Wegener absieht, die kurz vor uns da war, seit Jahren die ersten Abgeordneten des Deutschen Bundestages in dieser Region, in diesem Land. Das zeigt sehr deutlich, wie abgeschlossen dieses Land ist und dass es mit einem Land wie Kasachstan nicht vergleichbar ist. Das zweite Problem ist, die unterschiedlichen Interessen vernünftig in Einklang zu bringen. Da ist die Frage der Energiesicherheit, da ist die Frage der Stabilität, da ist die Frage der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, da ist der Kampf gegen den Terrorismus, und natürlich müssen wir für Demokratie und Menschenrechte eintreten. Das alles sind sehr schwierige, nicht einfach in Einklang zu bringende Interessen. Deshalb muss man schauen: Wie greift die Zentralasienstrategie? Ich finde es richtig, dass in der Zentralasienstrategie die Menschenrechte einen so prominenten Platz einnehmen. Ich finde es auch richtig, dass man versucht, das miteinander zu verbinden. Jetzt, nachdem einige Zeit vergangen ist, kann man einmal schauen, wo wir an der Stelle stehen. Wir müssen - bei allem, was zu Recht über die Fortschritte wie den Menschenrechtsdialog mit Usbekistan, den Ad-hoc-Dialog mit Turkmenistan gesagt worden ist - sicherlich feststellen, dass wir nicht so weit sind, wie wir gerne wären. Deswegen stellt sich die Frage, wie wir uns ausrichten, wenn es in Zukunft um die Aufhebung der Sanktionen gegen Usbekistan geht. Diese Frage ist von großer Bedeutung. Meine persönliche Meinung ist, dass es zum jetzigen Zeitpunkt - diese Frage steht ja demnächst an ein falsches Zeichen wäre, weiterhin darauf zu drängen, die Sanktionen zu lockern; denn so groß sind die Fortschritte beileibe nicht, dass wir das zulassen könnten. ({2}) Wir würden auch deshalb ein falsches Zeichen setzen, weil von einer solchen Entscheidung eine Sogwirkung auf andere Länder ausgeht. Wenn wir hier zu nachgiebig sind, werden wir unsere Ziele nicht erreichen. Ich verhehle nicht, dass es Fortschritte gibt, zum Beispiel die Abschaffung der Todesstrafe in Usbekistan. Aber ich glaube nicht - gerade vor dem Hintergrund, was wir von Nichtregierungsorganisationen wie Human Rights Watch hören -, dass das ausreicht, um davon sprechen zu können, dass wir dort schon gute Verhältnisse hätten. Die zweite Frage ist: Setzen wir die notwendigen Mittel ein? Die EU investiert 750 Millionen Euro in ihre Zentralasienstrategie. Das ist sehr viel Geld; aber man darf sich nichts vormachen: Das ist wesentlich weniger, als ein Land wie China an dieser Stelle investiert. Wenn wir das wirklich ernst meinen, wenn wir dort wirklich investieren wollen und wenn wir neben Russland, China und übrigens auch der Türkei, die dort eine sehr große Rolle spielt, wirklich ernst genommen werden wollen, dann stellt sich natürlich die Frage, ob das wirklich genug ist und ob wir da die richtigen Prioritäten setzen. Der dritte Punkt, der in diesem Zusammenhang aus meiner Sicht ausgesprochen wichtig ist, ist die Frage, ob wir es schaffen, alle Punkte, die in der EU-Zentralasienstrategie genannt sind, wirklich miteinander zu verbinden. Machen wir unsere wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Zusagen auf den verschiedensten Gebieten wirklich davon abhängig, dass Fortschritte bei der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie erzielt werden? Orientiert sich der Menschenrechtsdialog an nachvollziehbaren Zielen? Ich bin immer für Dialog; denn ohne Dialog wird man nichts erreichen können. ({3}) Ich bin aber gegen Dialog als Feigenblattveranstaltung. ({4}) Es kann nicht sein, dass der Dialog sozusagen dafür herhalten muss, dass wir sagen können, einmal darüber geredet zu haben, während wir ansonsten weiterhin einfach „business as usual“ betreiben. Ich denke, das kann und darf es nicht sein. Die beiden Anträge der Grünen, die uns heute vorliegen, bieten aus meiner Sicht wichtige Ansätze. Besonders gefällt mir, dass die starke Rolle der OSZE in dieser Region betont wird. Die OSZE und ODIHR machen dort eine wirklich wichtige Arbeit, und sie verdienen unsere volle Unterstützung - gar keine Diskussion. Mir fehlen in den Anträgen aber einige Punkte, zum Beispiel der Zugang des IKRK zu den Gefängnissen - in Usbekistan, aber auch in anderen Ländern. Einer der beiden Anträge ist schon etwas älter. Das merkt man ihm auch an. Deswegen werden wir ihm nicht nähertreten können, obwohl ich, wie gesagt, viele wichtige Punkte darin finde. Ich komme zum Schluss. Es gibt eine Ausarbeitung vom Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages über die Zentralasienstrategie der EU. Ich finde, in dem Ausblick in dem Papier wird das so gut zusammengefasst, dass man es nicht besser zusammenfassen kann. Dort heißt es: Die EU befindet sich in ihren Außenbeziehungen zweifellos in einem grundsätzlichen Dilemma, das die neue Zentralasien-Strategie deutlich aufzeigt: Heute werden die meisten Staaten der Welt immer noch von diktatorischen bzw. halbdiktatorischen Regimes beherrscht. Andererseits ist die EU in einer globalisierten Welt zunehmend von ausländischen Partnern abhängig. Was bleibt, ist ein oftmals schwieriger Balanceakt zwischen dem legitimen Interesse an Rohstoffen und Absatzmärkten auf der einen und dem Bekenntnis und der Förderung demokratischer Werte auf der anderen Seite. In der Zentralasien-Strategie hat die Kommission den Menschenrechten … einen relativ breiten Platz eingeräumt. Jetzt bleibt abzuwarten, wie dieser mit einem konstruktiven politischen Dialog ausgefüllt wird. Dabei wünsche ich der Kommission und auch der Bundesregierung viel Erfolg. Danke sehr. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Rede des Kollegen Michael Leutert für die Frak- tion Die Linke nehmen wir zu Protokoll.1) 1) Anlage 5 Vizepräsidentin Petra Pau Das Wort hat die Kollegin Marieluise Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte von diesem Platz aus zunächst Marcus Bensmann, den wir alle als sehr unbeugsamen Berichterstatter aus der Region kennen, nach dem brutalen Überfall unsere guten Genesungswünsche überbringen. Wir hoffen, dass die Hintergründe dieses Überfalls aufgeklärt werden können. ({0}) Wir diskutieren heute zum ersten Mal über die EUZentralasienstrategie. Dass die Anträge zum Teil etwas veraltet sind, hat etwas damit zu tun, dass die Koalition in diesen Punkten nicht wirklich sehr diskussionsfreudig ist. Das hat vielleicht auch etwas damit zu tun, dass man noch nicht sehr weit über die Projekte und Vorhaben hinaus ist, die in dem Papier beschrieben sind. Der Staatsminister hat eben gesagt, dass man viele Ideen im Kopf hat. Das bezeichnet das Dilemma: Das Umsetzen vom Kopf in die Hände, also in die Tat, lässt doch noch sehr zu wünschen übrig. Schon im Frühjahr soll eine erste Überprüfung stattfinden. Insofern wird es langsam Zeit, darüber zu sprechen, was nun konkret passieren soll. ({1}) Ja, wir haben im Bereich der Energie eigene Interessen an dieser Region, aber eben nicht nur, weil wir mit Ressourcen aus dieser ressourcenreichen Region versorgt werden wollen. Wir wollen auch, dass diese Region nicht all die Fehler wiederholt, die wir als Industrienation mit der klima- und ökologieschädigenden Verwendung von Ressourcen begangen haben. Insofern gibt es ein beidseitiges Interesse. An uns besteht der Wunsch, dass wir etwas von dem vermitteln, was wir in den letzten Jahren in Bezug auf die Nachhaltigkeit und hinsichtlich vernünftiger Grundsätze für nachhaltiges Wirtschaften im Bereich der Ressourcennutzung gelernt haben. Das liegt auch in unserem eigenen Interesse, weil wir alle wissen, dass wir der Klimakatastrophe nur gemeinsam mit den zentralasiatischen Ländern begegnen können. Wir sollten im Interesse dieser Region mit dem, was wir anzubieten haben, in den Wettlauf mit der Shanghai Corporation und den Angeboten Russlands und Chinas, die bei angepassten und nachhaltigen Ansätzen nicht so weit sind, eintreten. ({2}) Das Gleiche gilt für den Wasserbereich. Jeder weiß, dass Wasser das zentrale Problem dieser Region sein wird. Der Aralsee ist faktisch schon tot. Das ist ein Menetekel dafür, was diese Region erwartet, wenn es nicht gelingt, zu einem klugen und gemeinsamen Wassermanagement zu kommen. Statt des Baus riesiger und zerstörerischer Staudämme sind nachhaltiges und angepasstes Denken sowie entsprechende Technologien und Pläne gefragt. Wir sollten auch hier Angebote machen und nicht nur als mögliche Nutznießer im eigenen Interesse agieren. Zu den Menschenrechten: Die schwierige Auseinandersetzung, die wir führen und die wir alle kennen, wird nicht zu gewinnen sein, wenn wir nur auf die ethische Verpflichtung verweisen. Wir müssen vielmehr in der Auseinandersetzung belegen, dass offene Gesellschaften, Demokratie, Redefreiheit und Medienfreiheit Grundlagen für die Prosperität von Gesellschaften sind. Die zentralasiatischen Staaten werden ihre eigenen Kräfte nicht freisetzen können, werden die Korruption nicht bekämpfen können, werden keine neugierigen jungen Menschen und keine jungen Eliten hervorbringen können, wenn sie ihrer Bevölkerung keine Freiheit geben. Das ist die Botschaft, die wir zu übermitteln haben. Es liegt auch im Interesse dieser Gesellschaften, den Weg von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Freiheit und Wahrung der Menschenrechte zu gehen; denn nur so können diese Länder nach der langen und schweren Sowjetzeit ihre eigenen Fähigkeiten und Potenziale entwickeln. Dazu muss diese Region, die einst kulturell so reich war - das können wir noch heute spüren - und die gerade wegen ihrer Geschichte mit viel Respekt von uns betrachtet wird, wieder an demokratisches und freiheitliches Denken anknüpfen. ({3}) Ich hoffe, dass wir die dafür notwendige Auseinandersetzung - obwohl sie manchmal sehr direkt ist - in gegenseitigem Respekt führen werden. Schönen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Angelika Graf für die SPDFraktion. ({0})

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatsminister Erler hat es gerade angesprochen: Die brisante Situation in Zentralasien wurde lange - ich meine: zu lange - von der EU kaum wahrgenommen. Erst Deutschland hat die EU-Ratspräsidentschaft genutzt, eine EU-Zentralasienstrategie entworfen und damit die Chance begründet, dem Druck von China, Russland und anderen etwas entgegenzusetzen und die Region nach Europa zu öffnen. Die Länder Zentralasiens befinden sich seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion in einer schwierigen Transformationsphase. Sie sind sich untereinander zum Teil spinnefeind. Korruption, Willkür und Gewalt bestimmen in weiten Teilen der Region das tägliche Leben. Das Massaker von Andischan im Mai 2005 und der fehlende Wille der usbekischen Regierung, eine lückenlose Aufklärung zu ermöglichen, sind nur ein Teil im Puzzle der Probleme. Die ungleiche Verteilung der Energiereserven und insbesondere der Wasserreserven ist zusätzli14730 Angelika Graf ({0}) cher Sprengstoff für die Zukunft. Hinzu kommt, dass ein Großteil der Bevölkerung Zentralasiens jünger als 25 Jahre ist und die Arbeitslosigkeit sehr hoch ist. Ich bin der festen Überzeugung, dass nur der Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen, Investitionen in Bildung und Ausbildung der jungen Leute und die Berücksichtigung der Umweltbelange auf Dauer zur Stabilisierung der Region beitragen werden. Deshalb begrüße ich die während der EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands erfolgte Aufnahme eines institutionalisierten Menschenrechtsdialoges sehr. Am 19. Mai 2008 wird die nächste Sitzung stattfinden. Sehr begrüßenswert ist auch, dass Kirgisistan im Sommer 2007 und Usbekistan zum 1. Januar 2008 nach einem Moratorium die Todesstrafe abgeschafft haben. Aber es liegt zweifellos noch viel Arbeit vor den Akteuren. Herr Haibach hat schon deutlich beschrieben, was bezüglich der Sanktionen notwendig ist. Ich kann ihm da nur zustimmen. Die verstärkte Zusammenarbeit der EU mit den Ländern Zentralasiens gibt aber auch Hoffnung für eine gemeinsame friedliche Entwicklung in der gesamten Region. Das ist gut für jeden, der sich wirtschaftlich in Zentralasien engagieren möchte. Auch wenn man rein ökonomischen Rationalitäten den Vorrang gibt, so versteht es sich doch von selbst: Der zuverlässigste Kooperationspartner ist der, der sich an den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit orientiert. ({1}) Der kreativere und innovativere Kooperationspartner ist der, bei dem die Menschen geistige und räumliche Freiheit zur Entwicklung haben. ({2}) Der erfolgreichere Kooperationspartner ist der, der seinen Bürgern die Möglichkeit gibt, zu wählen, welches Leben, auch in politischer Hinsicht, sie führen wollen. Ich sage das hier mit so viel Bedacht und so viel Herzblut, weil unser verehrter Wirtschaftsminister die Region demnächst mit einer Delegation mit 80 Teilnehmern besuchen wird. Ich gehe fest davon aus, dass es da im Sinne unserer Zentralasienstrategie nicht nur um die Pipelines geht. ({3}) Der Menschenrechtsausschuss wird in Zentralasien weiterhin zugegen sein. Wir werden diese Region im Fokus behalten und dies auch durch weitere Besuche deutlich machen. Was das Abstimmungsverhalten betrifft, hat Herr Haibach schon das Nötige gesagt. ({4}) - So ist das. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Hedi Wegener für die SPDFraktion. ({0})

Hedi Wegener (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen! „Die EU-Zentralasienstrategie mit Leben füllen“, so lautet der Titel des Antrags. Der Antrag ist schon ein bisschen älter; Sie haben es erwähnt. In der Zwischenzeit ist eine Menge getan worden. Herr Erler hat das sehr dezidiert ausgeführt. Viele im Auswärtigen Amt und vor allen Dingen Sie sind mit viel Herzblut dabei. ({0}) Um die Strategie mit Leben zu füllen, habe auch ich meinen Teil beigetragen. Ich habe die Botschaften der zentralasiatischen Länder auf diese Debatte aufmerksam gemacht. Ich freue mich sehr, dass Sie meiner Anregung gefolgt sind und auf der Tribüne an dieser Debatte teilnehmen. Herzlich willkommen in diesem Hohen Haus! ({1}) Diese Debatte ist nämlich auch für Sie. Ich spreche Sie in meiner weiteren Rede direkt an. Nutzen Sie die Bereitschaft der Europäischen Union! Nutzen Sie die Bereitschaft Deutschlands zu einer engen Zusammenarbeit! Ich weiß sehr wohl, dass Sie in Ihrer Unabhängigkeit bisher ein unterschiedliches Tempo vorgelegt haben, dass Sie das auch weiterhin tun und dass sich Ihre Länder sehr verschieden entwickeln, auch deshalb, weil die Länder verschieden sind, weil sie ihre Eigenarten und Besonderheiten behalten wollen und auf ihre Geschichte Wert legen. Das sollen sie auch. Die Strategie berücksichtigt die Unterschiede zwischen den Einzelnen und setzt gleichzeitig auf die Gemeinsamkeiten. Sie wünschen sich starke bilaterale Beziehungen zur EU, aber am liebsten eigentlich zu jedem einzelnen Land, sehr gerne auch zu Deutschland. Das Modell Europa imponiert Ihnen. Dennoch ist Ihnen das Einstehen füreinander - der stärkeren Länder für die schwächeren, der wohlhabenden für die weniger wohlhabenden - doch noch ziemlich fremd und geht Ihnen ein bisschen zu weit. Aber gemeinsam sind Sie stärker. Gemeinsam können Sie mehr bewegen, und gemeinsam können Sie auch mehr Probleme lösen, zum Beispiel die Probleme Wasser, Drogenhandel, Terrorismus, Umwelt und Korruption. Unsere Kollegen in den Parlamenten und Ihre Präsidenten müssten eigentlich schlaflose Nächte haben ob der Probleme, die Ihre Länder haben. Sorgen habe ich auch, zum Beispiel hinsichtlich der Logistik in Ihren Ländern: Wie komme ich eigentlich von einem Staat in den anderen? Wie überwinde ich Grenzprobleme? Wie kann ich als Unternehmerin die großen Zollschwierigkeiten in Ihren Ländern überwinden? Zu nennen sind aber auch die Armut in Tadschikistan, die kalten Winter in Kirgisistan, die EnergieversorHedi Wegener gungsprobleme, die mangelnde Pressefreiheit in Usbekistan sowie - es wurde schon erwähnt - der brutale Überfall auf einen deutschen Journalisten. Das alles macht uns doch wirklich Sorgen. Bei aller Kritik, die Sie von uns gehört haben, haben Sie in Deutschland große Fans Ihrer Region. Es gibt viele Deutschstämmige, die ein starkes Bindeglied zwischen unseren Ländern sind. Das können Sie nutzen. Die Rechtsstaatlichkeit ist das Wichtigste, was Sie in Ihren Ländern erreichen müssen. Deshalb helfen wir Ihnen gerne. Es sind noch viele Anstrengungen erforderlich. Deutschland ist dazu bereit. Die Strategie wird Sie dabei unterstützen. Bolschoe Spasibo - recht herzlichen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Die EU-Zentralasienstrategie mit Leben füllen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5674, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4852 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der antragstellenden Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der FDP-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 18 b: Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Menschenrechte in Zentralasien stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5588, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen auf Drucksache 16/2976 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der übrigen Fraktionen angenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 25. Januar 2008, 11 Uhr, ein. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend. Die Sitzung ist geschlossen.