Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich und wünsche Ihnen einen guten Morgen und
uns gute Beratungen.
Die heutige Sitzung des Bundestages beginnt gleich
mit einem ersten Höhepunkt: Der Kollege Dr. Peter
Struck feiert heute seinen 65. Geburtstag.
({0})
Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich dazu sehr
herzlich und wünsche alles Gute. - Lieber Peter, ich
empfinde es als Ausdruck des Respekts und der Einsicht,
dass die guten Wünsche des ganzen Hauses nicht mit
dem Kommentar „Die können mich mal!“ zurückgewiesen werden.
({1})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD:
Energie- und Klimapaket der EU-Kommission
({2})
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({3})
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Barth, Cornelia Pieper, Patrick Meinhardt, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Universitäre Exzellenz sichern - Exklusivität
des Promotionsrechts wahren
- Drucksache 16/7842 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Grietje
Bettin, Dr. Harald Terpe, Ekin Deligöz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Medienabhängigkeit bekämpfen - Medienkompetenz stärken
- Drucksache 16/7836 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({4})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:
Aufgaben von Bundeswehrkampftruppen als
Quick Reaction Forces in Afghanistan
ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
FDP:
Haltung der Bundesregierung zu den Äußerungen des ehemaligen Bundeswirtschaftsministers Wolfgang Clement zur Energiepolitik
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden.
Die abschließende Beratung des Gesetzes zur Änderung des Bundespolizeigesetzes - das ist der Tagesordnungspunkt 4 - wird auf morgen verschoben. Das
Thema soll nach dem Tagesordnungspunkt 21 aufgerufen werden. Außerdem wird der Tagesordnungspunkt 11
- dabei handelt es sich um die zweite und dritte Lesung
des Aufsichtsstrukturmodernisierungsgesetzes - abgesetzt. Die anderen Tagesordnungspunkte der Koalitionsfraktionen werden dementsprechend vorgezogen.
Sind Sie mit diesen Änderungen einverstanden? Das ist der Fall. Damit ist das so beschlossen.
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 3 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahreswirtschaftsbericht 2008 der Bundesregierung - Kurs halten
- Drucksache 16/7845 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5})
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Auch hierzu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Michael Glos.
({6})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Titel des Jahreswirtschaftsberichts heißt: „Kurs
halten!“ Das ist etwas, was natürlich auch ein Fraktionsvorsitzender tun muss. Deswegen gratuliere ich dem Peter Struck auch von hieraus ganz herzlich zu seinem Geburtstag.
({0})
Nun weiß ich aus eigener Erfahrung, dass man in einem wichtigen Führungsamt im Parlament viel mehr Gelegenheit hat, von einem ganz strengen Kurs abzuweichen, und mehr Manövriermasse hat. Wenn man
Regierungsmitglied ist, ist das - das weiß auch Peter anders. Deswegen versuche ich, mich so weit als möglich exakt an den Kurs der Bundesregierung zu halten.
({1})
- Soweit das möglich ist.
Kurs halten, das ist ein Appell, der sich, wie ich
meine, an uns alle richtet, Herr Westerwelle. Wir sehen
natürlich mit Sorge, was an den Börsen der Welt geschieht. Wir können das nicht direkt beeinflussen, sondern wir können nur durch unser eigenes Verhalten ein
Stück weit ein Beispiel geben und vor allen Dingen den
Menschen ein Stück weit Vertrauen in den Kurs unserer
Wirtschaftspolitik geben.
Worauf es ankommt, ist - ich sage es noch einmal Vertrauen in die Solidität unseres Banken- und Finanzsystems. Trotz der bekannten Einzelfälle kann es daran
keinen Zweifel geben. Immer dann, wenn Banken in
Deutschland in Krisensituationen geraten sind, haben die
Sicherungsinstrumente ausgereicht, um sie zu stützen.
Diese werden wir auch weiterhin nutzen. Wir hoffen allerdings, dass keine weiteren Fälle mehr auftreten.
({2})
Des Weiteren: Vertrauen in die Wirtschaftspolitik.
Wir müssen alles tun, um unsere Wirtschaft zu stärken
und sie gegen Konjunkturrisiken zu impfen. Der Titel
„Kurs halten!“ ist ein Appell an diejenigen, die in
Deutschland wirtschaftspolitische Verantwortung tragen,
betrifft also auch das ganze Haus hier. Dies ist aber auch
erstens ein Appell an die Unternehmen, ihre Wettbewerbsfähigkeit weiter zu verbessern, und zweitens ein
Appell an die Tarifparteien, ihre verantwortungsvolle
Lohnpolitik der vergangenen Jahre fortzusetzen. Die Tarifpartner wissen am allerbesten, wo Spielräume sind,
wo man aufgrund der Gewinnentwicklung diese Spielräume besser nutzen kann und wo sich Spielräume möglicherweise verengen. Das verstehe ich unter einer verantwortungsvollen Lohnpolitik.
({3})
Dies ist drittens ein Appell an die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land. Auch wenn es uns die Bilder und
die Nachrichten aus Bochum schwer machen: Wir müssen den Strukturwandel weiterhin als Chance begreifen
und ihn da, wo wir können, aktiv gestalten.
„Kurs halten“ ist vor allen Dingen eine Aufforderung
an uns selbst in der Koalition, bei unserem erfolgreichen
Kurs zu bleiben; denn Deutschland ist insgesamt auf einem guten Kurs.
({4})
Die Bilanz der Bundesregierung kann sich sehen lassen.
Die Reformen der letzten Jahre zahlen sich aus: für den
Staat in Form von gesunden Staatsfinanzen, für die Unternehmungen in Form von höherem Absatz und höheren Gewinnen.
({5})
- Ich freue mich sehr, Herr Lafontaine, dass Sie sich darüber freuen.
({6})
Denn nur prosperierende Unternehmungen können erfolgreich sein und den Menschen Arbeit und die Sicherheit geben, die sie gerne hätten.
({7})
Die Reformen zahlen sich auch für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Form von zusätzlichen und
sichereren Arbeitsplätzen aus,
({8})
aber auch in Form von wieder günstigeren Einkommensperspektiven. Mit über 40 Millionen Erwerbstätigen
wurde 2007 ein historischer Höchststand erreicht. Insbesondere die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nahm mit einem Plus von 0,7 Millionen Personen
oder 2,6 Prozent außerordentlich kräftig zu. Seit 2005
haben wir zusätzlich über 1 Million Menschen, die wieder in Lohn und Brot stehen.
({9})
Nun haben vom Aufschwung auch diejenigen profitiert, die es bisher schwer hatten, einen neuen Job zu finden: die Älteren, die Langzeitarbeitslosen und die Arbeitnehmer mit einfachen Qualifikationen,
({10})
aber vor allen Dingen die Jugendlichen, die sehr viel
leichter wieder Lehr- und Ausbildungsplätze finden.
Auch das ist das Ergebnis der guten Konjunktur und der
besseren wirtschaftlichen Lage.
({11})
Diesen Erfolg dürfen wir nicht kaputtmachen. Wir dürfen das Erreichte nicht verspielen. So hat es der Sachverständigenrat in seinem letzten Gutachten formuliert.
Über dieses Gutachten diskutieren wir heute.
Die Ausgangslage ist nach wie vor gut. Das Jahr 2007
war für Deutschland ein hervorragendes Jahr. Das
Wachstum war mit 2,5 Prozent besser als prognostiziert.
Der seit fast drei Jahren anhaltende Wachstumsprozess
in Deutschland wird sich auch in diesem Jahr fortsetzen.
Auch wenn die Risiken gestiegen sind und ein geringeres Tempo prognostiziert wird, geht es weiterhin vorwärts.
Die Immobilienkrise in den USA ist die Korrektur
realwirtschaftlicher Entgleisungen. Der Vergleich zur Internetblase am Anfang des Jahrtausends drängt sich auf.
Jetzt ist der Gewinn- und Konsumrausch in den USA zunächst einmal vorbei. Wir sehen natürlich die Bemühungen, neues Geld in den dortigen Markt zu pumpen. Wir
begrüßen die Maßnahmen, die die Fed dort getroffen hat.
Wir Deutsche haben bisher über unseren Export und
über die zusätzlichen Wachstumskräfte, die von dort ausgehen, von der Entwicklung in den USA profitiert.
({12})
Wer aber in die eine Richtung dabei war, kann nicht
ausschließen, dass er auch in die andere Richtung ein
Stück dabei ist. Wir wollen alles tun, was sich dagegen
machen lässt. Aber Risiken sind einfach vorhanden. Wir
kennen die genauen Folgen dieser Bereinigung, die jetzt
zwangsläufig geschieht, nicht. Es gibt aber keinen Grund
für Panikmache, wie sie von vielen selbsternannten Börsenexperten betrieben wird. Wir wissen, dass es an der
Börse immer ein Auf und Ab gibt. Jeder, der sein Geld
anlegt, muss wissen: Das ist keine Einbahnstraße. Der
Gewinn ist nie garantiert. Es wird nicht geklingelt. Ich
sage es noch einmal: Es gibt weder Grund für Panik
noch Grund für Ignoranz.
Der Außenhandel verliert etwas von der treibenden
Kraft, die er bisher für unseren Aufschwung darstellte.
Wir müssen schauen, dass wir die Inlandskonjunktur
stärken. Die deutsche Wirtschaft steht, wie gesagt, im
Vergleich zu anderen gut da. Es zeigt sich zum Beispiel
an der anhaltend guten Investitionstätigkeit, dass immer
noch Vertrauen in unser Land besteht. Auch beim Konsum der privaten Haushalte erwarten wir wie auch andere - das ist nicht nur die Erwartung der Bundesregierung, sondern auch die vieler Forschungsinstitute -, dass
es in diesem Jahr wieder einen klareren Impuls nach
oben gibt.
Wir rechnen mit einem weiteren Arbeitsplatzaufbau
in Deutschland. Das halte ich für ganz besonders wichtig. Wir rechnen damit, dass die Arbeitslosenzahlen im
Jahresverlauf per saldo um 330 000 sinken werden.
Auch das ist eine gute Nachricht.
Alles in allem erwarten wir für das Gesamtjahr einen
Zuwachs des realen Bruttoinlandsproduktes von 1,7 Prozent. Das liegt am unteren Ende der Spannbreite der aktuellen Prognosen. Sie wurden nicht unter kurzfristigen
Eindrücken gemacht, wie sie zum Beispiel Bilder aus Indien auslösen, wo die Börsen geschlossen werden mussten. Sondern unsere Prognose beruht auf nüchterner,
sachlicher Kalkulation und auf vieljähriger Erfahrung
derer, die sie erarbeitet haben. Unsere Prognose im Jahreswirtschaftsbericht ist damit vorsichtiger als unsere
Prognose im Herbst. Die Risiken sind durchaus mit berücksichtigt worden. Umso wichtiger ist es - das sage
ich noch einmal -, dass wir den eingeschlagenen Kurs
halten. Deswegen ist „Kurs halten!“ genau der richtige
Titel für den Jahreswirtschaftsbericht.
({13})
Wir müssen weiter dafür sorgen, dass Beschäftigungschancen entschlossen und flexibel genutzt werden
können. Wir haben flexible Elemente im Arbeitsmarkt:
Teilzeitarbeit, tarifliche Öffnungsklauseln, befristete Arbeitsverträge, Zeitarbeit, Minijobs und Zeitkonten. Das
alles sind Instrumente, die wir weiter nutzen und erhalten müssen.
Ein wichtiges weiteres Reformziel ist es, die Lohnzusatzkosten dauerhaft unter 40 Prozent zu halten. Das ist
immer eine anspruchsvolle Daueraufgabe. Je mehr Menschen Arbeit haben und Beiträge in unser Sozialversicherungssystem zahlen, umso leichter lässt sich dieses
Ziel erreichen. Deswegen muss die Beschäftigung im
Mittelpunkt unserer Maßnahmen stehen.
({14})
Wir haben zum 1. Januar 2008 den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung auf 3,3 Prozent senken können.
Dies hat noch der Kollege Müntefering ins Werk gesetzt.
Dafür bedanken wir uns noch einmal ausdrücklich. Dies
entlastet die Wirtschaft und stärkt unsere Wettbewerbsfähigkeit. Gleichzeitig bleibt mehr Netto vom Brutto in
den Geldbeuteln der Beschäftigten. Das ist ganz besonders wichtig.
({15})
Wo immer Spielraum bleibt, müssen wir ihn für weitere
Entlastungen nutzen. Gleichzeitig müssen wir die staatlichen Ausgaben so trimmen, dass mehr für Bildung, Forschung und wachstumsfördernde Infrastrukturen übrig
bleibt. Nur so können wir das Erreichte halten und sichern; denn wir wissen, dass sich die Welt täglich ändert.
({16})
Also weiter Vorfahrt für Wachstum!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Mitarbeiter sind nur stark, wenn auch die Unternehmen
stark sind. Das mag bei international tätigen Konzernen,
die ausschließlich auf Gewinnmaximierung in der ganzen Welt Wert legen, anders sein.
({17})
Aber es ist gottlob so, dass die deutschen Unternehmen
bis auf Ausnahmen beherzigen, dass sie nur so stark
sind, wie ihre Mitarbeiter stark sind. Die Mitarbeiter
wissen ebenfalls, dass sie nur so stark sind, wie ihre Unternehmen stark sind.
({18})
Das ist Teil unserer Unternehmenskultur, und das muss
auch so bleiben.
Wir haben mit der Unternehmensteuerreform international wettbewerbsfähige Steuersätze geschaffen. Das
ist für die Investoren aus dem Ausland ganz besonders
wichtig, um die wir ständig werben. Ich habe deswegen
Invest in Germany noch einmal gestärkt und unsere
Wirtschaftsförderinstrumente stärker unter einem Dach
zusammengeschlossen. Wir müssen immer wieder selbst
über unsere Stärken reden; andere werden es nicht tun.
({19})
Wir brauchen natürlich auch die Umsetzung von Versprochenem. Wenn etwas, was versprochen wurde, nicht
eintritt, dann gibt es Enttäuschung. So ist zum Beispiel
eine Erbschaftsteuerreform angekündigt, die Unternehmensübergaben erleichtert. Ich bin sehr optimistisch,
dass das Parlament dies in die Tat umsetzen und es zu
Lösungen kommen wird, die hinterher nicht mehr Enttäuschungen als erfüllte Erwartungen übrig lassen. Es
wird auf jeden Fall eine Reform werden, die entlastet.
Auch wenn nicht jeder einzelne Wunsch erfüllt wird,
muss man das im Mittelpunkt sehen, worum es geht. Wir
wollen insbesondere die Unternehmensübergänge erleichtern.
({20})
Ein Letztes, meine sehr verehrten Damen und Herren:
Die hohen Energiekosten machen mir Sorge. Der Wirtschaftsstandort Deutschland muss sich im Wettbewerb
bewähren. Dafür braucht unser Land eine sichere Energieversorgung und Preise, bei denen auch die energieintensiven Industrien in Deutschland noch eine Chance
haben. Dort, wo die Vorschläge der Europäischen Kommission dies nicht entsprechend berücksichtigen, müssen wir dagegen kämpfen.
Wir haben ein integriertes Energie- und Klimaschutzprogramm beschlossen. Es ist die richtige Antwort auf
die anstehenden Herausforderungen. Wir müssen uns
von importierter und fossiler Energie unabhängiger machen. Das ist gut für den Standort Deutschland und
gleichzeitig gut für den Klimaschutz.
({21})
Ein Ministeramt zu übernehmen, heißt auch, ein
Stück Kontinuität im Hinblick auf das zu übernehmen,
was in diesem Haus geschehen ist. Ich kann nur sagen,
dass ich mich, was Kontinuität angeht, stärker zu der
Energiepolitik bekenne, die Wolfgang Clement gemacht
hat, als zu der, die unter seinem Vorgänger Werner Müller gemacht worden ist.
({22})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, meine maritimen Kenntnisse sind zwar unterentwickelt - ich habe
deswegen eigens eine Beauftragte für die maritime Wirtschaft -; aber ich weiß natürlich, dass Kurshalten bei
schwerer See schwieriger als bei Sonnenschein ist. Wenn
sich jetzt eine schwerere See zeigt, dann müssen wir das
Ruder umso kräftiger halten. Dazu gibt es keine Alternative.
Herzlichen Dank.
({23})
Das Wort erhält nun der Kollege Rainer Brüderle für
die FDP-Fraktion.
({0})
Das ist schon einmal richtig. - Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Die Finanzkrise hat die Banken in
Deutschland und mittlerweile auch die Börse voll erreicht. Den freien Fall der Börsenkurse rund um die Welt
hat die überraschend massive Zinssenkung der amerikanischen Notenbank zunächst gebremst. Die New York
Times schreibt dazu, dass es keine Panik der Privatanleger, sondern eine Panik der Profis sei. Bundeskanzlerin
und Bundeswirtschaftsminister erklären dazu, es gebe in
Deutschland keinen Grund zur Sorge, die Konjunktur sei
stabil.
Allerdings haben Befürchtungen Hochkonjunktur,
dass der Aufschwung schon bald zu Ende gehen könnte.
Die Menschen in Deutschland sorgen sich. Sie haben
auch Grund dazu. Noch ist die Lage der Wirtschaft gut.
Die Aussichten sind allerdings trüber geworden. Wir haben eine Vertrauenskrise. Die Menschen vertrauen den
Banken nicht mehr so recht. Das liegt auch an einer zum
Teil miserablen Informationspolitik. Die Banken vertrauen sich untereinander nicht mehr. Der Geldmarkt
drohte teilweise zusammenzubrechen.
Die Regierung aber betreibt keine Politik, die das Vertrauen wieder stärken könnte. Vertrauen gewinnt man
nur mit Ehrlichkeit zurück. Die Bundesregierung rechnet
sich allenfalls die Dinge schön. Das ist auch im Jahr der
Mathematik, das gerade begonnen hat, nicht seriös.
In den Vereinigten Staaten geht das Gespenst der
Stagflation um. Die Zinssenkung der Notenbank am
Dienstag war eine Entscheidung zur Konjunkturstützung, die aber mit dem Risiko der Verstärkung der Inflationsgefahr verbunden ist. Wenn diese Aktion die drohende Rezession nicht auffangen kann, dann gerät
Amerika in eine Stagflation.
Schon im letzten Jahr sind die Verbraucherpreise in
den Vereinigten Staaten um über 4 Prozent gestiegen.
Durch Zinssenkung immer mehr Geld in die Märkte zu
pumpen, löst langfristig keine Probleme, sondern schafft
neue. Der Druck auf den Dollar wird weiter wachsen.
Das verteuert unsere Exporte in den Dollarraum und verstärkt die Tendenzen einer schwächelnden internationalen Wirtschaft. Die Ursache der Misere - die Immobilienkrise - ist noch längst nicht behoben.
Die Rezessionsgefahr in den Vereinigten Staaten ist
der größte Risikofaktor für die deutsche Konjunktur.
Professor Snower, der Präsident des Kieler Instituts für
Weltwirtschaft, warnt - ich zitiere -:
Wenn es in den USA zu einer Rezession kommt,
dann ist davon auch Deutschland mit höchstens einem Jahr Verspätung betroffen.
In Ihrem Jahreswirtschaftsbericht warnen Sie deutlich
vor diesen Risiken, Herr Minister Glos. Die Bundesregierung hätte aber schon längst Vorsorge dagegen treffen
können, nein: treffen müssen.
({0})
Schwarz-Rot hat sich aber lieber darauf verlassen, dass
andere Länder die Konjunktur für uns in Schwung bringen.
({1})
Ein exportgetriebener Aufschwung ist schön; aber ohne
eine dauerhafte und robuste Binnenkonjunktur kann
das schnell zu einem Strohfeuer werden.
({2})
Die Regierung hat sich zu lange in der guten Konjunktur gesonnt und Zeit verspielt, statt Strukturreformen, die die Abwehrkräfte der Volkswirtschaft - sozusagen ihr Immunsystem - stärken, auf den Weg zu bringen.
Selbst als die Gewitterwolken über Amerika schon erkennbar waren, hatte Schwarz-Rot nichts Besseres zu
tun, als eine Politik des Abschwungs zu betreiben. Die
Steuererhöhungen werden 2009 fortgesetzt, wenn für
Millionen Anleger die Besteuerung der Wertsteigerung
eingeführt wird. Die geplante Gesundheitsreform mit der
Einführung des Gesundheitsfonds treibt die Kassenbeiträge in die Höhe.
Woher nimmt die Regierung die Hoffnung, dass die
Bürger trotzdem mehr konsumieren werden? Der Jahreswirtschaftsbericht nennt das Risiko. Aber warum hat die
Bundesregierung nicht längst die Einkommen- und
Lohnsteuer gesenkt, damit die Menschen netto mehr zur
Verfügung haben und deshalb mehr Geld ausgeben und
den Konsum fördern können? Nein, Sie haben nichts
Besseres zu tun, als die Steuern zu erhöhen.
Die Steuerbelastung ist seit Amtsantritt dieser Bundesregierung 2005 um 23 Prozent gestiegen.
({3})
Die Antwort auf unsere Kleine Anfrage, wie sich die real
verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte seit
Amtsantritt der Regierung geändert haben, lautet: Sie
sind um 0,4 Prozent gesunken. Die verfügbaren Einkommen in Deutschland sind nicht gestiegen, sondern gesunken.
({4})
All diese Maßnahmen wie die Einführung der Mindestlöhne und die Mehrwertsteuererhöhung sind nicht
geeignet, wirtschaftliche Impulse auszulösen. Mindestlöhne bedeuten Arbeitslosigkeit auf Termin.
({5})
Damit kann allenfalls das Postmonopol zementiert werden.
Die Bundesregierung ist in vielen Punkten zerstritten.
Sie zankt sich öffentlich über den Mindestlohn. Herr
Glos warnt zu Recht vor zu kräftigen Lohnerhöhungen
in den anstehenden Tarifrunden. Seine SPD-Kollegen
fordern landauf, landab, kräftig zuzulangen. Das ist genau das Gegenteil dessen, was der Bundeswirtschaftsminister sagt. Ich sage noch einmal: Wichtig ist, dass die
Bürger netto mehr in der Tasche haben und dass der Aufschwung bei ihnen ankommt.
({6})
Das, was Sie mit der Einführung von Mindestlöhnen
betreiben, ist ein Angriff auf die Tarifautonomie. Wir
brauchen mehr Selbstbestimmung in den Betrieben und
mehr Lohnflexibilität. Flächendeckende, staatlich sanktionierte Löhne, wie sie der SPD vorschweben, führen zu
staatlich festgelegten Preisen auch in anderen Sektoren.
Das ist der Weg in Dirigismus und planwirtschaftliche
Steuerung.
({7})
Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie haben im vergangenen Jahr an dieser Stelle gesagt, Sie wollten den
Aufschwung für Reformen nutzen. Was ist herausge14602
kommen? Eine Unternehmensteuerreform, die es für die
Unternehmer noch komplizierter macht und die viele
Unsicherheiten birgt, eine Gesundheitsreform, die die
Krankenkassenbeiträge nach oben treibt, ein Anschlag
auf die Tarifautonomie und auf den Wettbewerb in unserem Land. Sie haben diesen Jahreswirtschaftsbericht mit
den Worten überschrieben: „Kurs halten!“ Das klingt
nett. Aber welchen Kurs überhaupt? Man kann nur einen
Kurs halten, der erkennbar ist. Das Prinzip Hoffnung allein ist kein Konzept und kein Kurs in der Wirtschaftspolitik.
({8})
Die Unternehmensnachfolge soll erleichtert werden,
aber bei der Erbschaftsteuerreform ist bis zur Stunde
nichts klar. Viele Betriebe müssen angesichts dessen,
was diskutiert wird, befürchten, dass sie mehr Erbschaftsteuer zahlen.
({9})
Geben Sie Kompetenz an die Länder ab. Lassen Sie den
Wettbewerb unter den Ländern dafür sorgen, dass die
Erbschaftsteuer abgeschafft wird, was am besten wäre,
weil sie eine unsinnige Steuer ist.
({10})
Der Wirtschaftsminister will ermöglichen, dass dem
Mittelstand mehr Wagniskapital für Investitionen zur
Verfügung gestellt wird. Gleichzeitig wird aber im Wirtschaftsministerium ein Gesetz vorbereitet, das ausländische Investitionen in Deutschland beschränken soll.
Drahtzäune sind kein Weg. Der Weg in Protektionismus,
in Kapitalverkehrsbeschränkungen führt zu Gegenreaktionen anderer Länder und nicht zur Stärkung der deutschen Volkswirtschaft. Das ist der falsche Weg.
({11})
Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Ihre Prognose
eines Wachstums von 1,7 Prozent 2 Milliarden Euro weniger Steuereinnahmen bedeutet. Die Berechnungen, die
Sie hierzu vorgelegt haben, basieren auf einem Wachstum von 2 Prozent und sind somit falsch. Sie hätten den
Bundeshaushalt rechtzeitig kräftiger konsolidieren können. Sie hätten den Haushalt ohne Neuverschuldung verabschieden können. Das haben Sie nicht gemacht. Die
einzige Vorsorge, die Sie gegen den drohenden Abschwung treffen, besteht darin, die Arbeitslosenstatistik
zu schönen. Das ist aber keine Lösung. Was Sie tun
müssten, ist, das Netto der Menschen zu erhöhen, indem
Sie sie steuerlich entlasten. Damit stärken Sie die Binnenkonjunktur und die eigenen Abwehrkräfte gegen drohende Gewitterwolken draußen in der Weltwirtschaft.
({12})
- Herr Präsident, es gibt etwas zu tun.
Der Kollege Hinsken möchte eine Zwischenfrage
stellen, und der Kollege Brüderle will sie offenkundig
gerne beantworten. - Bitte schön.
Herr Kollege Brüderle, ich habe aufmerksam gelauscht und gehört, was Sie alles zu Steuererhöhungen
und dergleichen mehr gesagt haben. Sie haben aber etwas für die Wirtschaft und die Mitbürger ganz Wichtiges
vergessen, nämlich dass wir zum Beispiel den Beitrag
zur Arbeitslosenversicherung halbiert haben und dass
wir dadurch in den Taschen der Wirtschaft und der einzelnen Mitbürger jährlich 23 Milliarden Euro mehr lassen. Das sollte doch einer Erwähnung wert sein, wenn
Sie einen sach- und fachgerechten Vortrag halten wollen.
({0})
Sehr geschätzter Herr Kollege Hinsken, gern gehe ich
auf Ihre Zwischenbemerkung ein. Ich hätte noch Vieles
sagen müssen, aber das Zeitbudget ist leider begrenzt.
({0})
Ich hätte zum Beispiel sagen müssen, dass Sie zum
1. Januar 2007 die größte Steuererhöhung aller Zeiten in
dieser Republik durchgeführt und damit bei den Menschen in einem Umfang wie noch nie abkassiert haben.
({1})
Ich sagte vorhin, dass wir heute in Deutschland eine um
23 Prozent höhere Steuerbelastung haben als 2005. Das
ist fast ein Viertel mehr. Das bedeutet ein kräftiges Zulangen, das nicht ausreichend dadurch gerechtfertigt
werden kann, dass Sie den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung gesenkt haben. Sie haben vielmehr die Balance zwischen der Ermöglichung privater Eigenverantwortung und staatlicher Gestaltung nicht zugunsten der
privaten, eigenverantwortlichen Gestaltung verändert.
Mein Kernvorwurf ist, dass Sie keine Vorsorge getroffen
haben, um die Volkswirtschaft zu stärken und die Menschen in die Lage zu versetzen, etwas aus eigener Kraft
konkret für die Alterssicherung, die Gesundheitsvorsorge und die Pflege zu tun. Die Nettoeinkommen, die
verfügbaren Einkommen der Menschen in Deutschland,
sind - so die Antwort der Bundesregierung auf eine unserer Anfragen - gesunken. Sie haben die Kaufkraft also
nicht gestärkt. Sie haben die Wirtschaft nicht stärker gemacht. Sie haben vielmehr den billigsten Weg gewählt.
Sie haben nämlich versucht, den Haushalt durch Abkassieren zu konsolidieren. Statt an die Ausgaben heranzugehen, haben Sie den Haushalt kräftig aufgebläht um
13 Milliarden Euro. In Deutschland sparen nur die Bürger. Das ist zu wenig. Der Mittelstand in Deutschland hat
eine bessere Politik verdient; denn er ist Träger der
Zukunftserwartungen und der Arbeitsplatzchancen für
Deutschland.
({2})
Sie beabsichtigen hoffentlich nicht, nach der Beantwortung der Frage jenseits Ihrer Redezeit jetzt noch zu
einem Schlusswort anzusetzen, Herr Kollege Brüderle;
({0})
das könnte ich nämlich nicht zulassen.
Leider hat sich kein Kollege für eine weitere Frage
gefunden. Ich hätte noch viel zu sagen.
Die Vorbereitung war früher auch schon mal besser,
Herr Brüderle.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Stiegler, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bemerkungen des Präsidenten zur Rede des Kollegen Brüderle waren so treffend, dass ich jetzt gar nicht weiter
darauf eingehen muss. Der Kollege würde sich wünschen, dass er mit seinem Wunschpartner die Ergebnisse
feiern könnte, die die deutsche Wirtschaft rechtzeitig
zum 65. Geburtstag von Peter Struck in gemeinsamer
Anstrengung mit uns geliefert hat.
({0})
Die Hauptaufgabe besteht darin, jetzt zu verhindern,
dass die Spekulationskrise und die Folgen der Betrügereien auf den Finanzmärkten auf die Realwirtschaft
durchschlagen. Wir haben es quasi mit zwei Reichen zu
tun: der Welt der Spekulation, die nur immer behauptet,
sie schaffe Werte, und der Welt der Mittelständler, überhaupt der Unternehmen, bei denen für die Menschen
Güter erzeugt und Dienstleistungen erbracht werden.
Unsere Aufgabe ist, diese reale Welt der Arbeit vor den
Folgen der Spekulationen zu schützen.
Man muss einmal daran denken, was manche dieser
großmögenden Bankherren noch vor Jahren dazu gesagt
haben, was sie an Werten geschaffen haben - alle diese
Werte schmelzen jetzt dahin wie der Schnee in der
Sonne -; nun bedrohen sie die Weltwirtschaft. Wer
musste sie retten? Die Zentralbanken und letzten Endes
die Staatsanleihen! Ohne die sicheren Häfen der Staatsanleihen wären alle diese Spekulanten abgebrannt. So
sieht die Realität aus! Das gibt uns das Recht, diesen
Herrschaften in Zukunft strenger auf die Finger zu
schauen, damit sie die ordentliche Arbeit nicht verderben können.
({1})
Aber zum Thema: Der Jahreswirtschaftsbericht ist
überschrieben mit „Kurs halten!“ und das Jahresgutachten mit „Das Erreichte nicht verspielen“. Ich habe wirklich meine hermeneutischen Künste bemüht, um herauszufinden, was uns die Dichter sagen wollen. Im
Gutachten des Sachverständigenrats und zwischen den
Zeilen des Wirtschaftsministers ist zu lesen, dass man
die Sorge hat, man würde vom Kurs abweichen, weil
man die Lage der Arbeitslosen verbessert habe. Dazu
sage ich den Sachverständigen genauso wie ihren Sekundanten im Bundeswirtschaftsministerium: Wir wollen einen Aufschwung für alle. Dafür halten wir Kurs. Wir
wollen mehr Freiheit durch gute Arbeit und nicht durch
Hungerlöhne.
({2})
Wir wollen mehr Freiheit für die Menschen durch soziale Sicherheit.
Wir haben ein paar gute Jahre hinter uns. Es gibt
durchaus Streit über die Ursachen, darüber, was die
Henne und was das Ei ist. Die Sachverständigen schreiben: Nur weil viele Instrumente flexibilisiert worden
sind, ist der Aufschwung gekommen. - Ich sage umgekehrt: Nur weil wir am Anfang dieser Legislaturperiode
eine aktive Politik für mehr Nachfrage betrieben haben,
konnte die Nachfrage in Arbeitsplätze umgesetzt werden.
({3})
Das ist das Entscheidende, anstatt hier erst alles zu zerbrechen und zu glauben, die Menschen würden schon,
wenn man die Sozialleistungen um 30 Prozent und mehr
absenken würde, wie Roland Koch und andere das wollen, wie Rebhühner im kalten Winter in die Küche laufen. Nein, meine Damen und Herren, wenn in der Küche
nicht gekocht wird, dann haben auch die Rebhühner da
nichts zu suchen.
({4})
Der Bundeswirtschaftsminister lobt die Anpassungsfähigkeit des flexibilisierten Arbeitsmarktes. So weit, so
gut. Wir sehen aber auch die Schattenseiten dieser Flexibilisierung, die wir in der Form, wie sie jetzt existiert,
nicht gewollt haben. Bei „wir“ denke ich auch an die früheren Partner von den Grünen; ich sehe hier zum Beispiel Thea Dückert, die ja bei den Verhandlungen mit im
Boot war. Wir wollten den Missbrauch bei der Leiharbeit, wie wir ihn heute beobachten können, nicht.
({5})
- Hören Sie doch auf! Sie können doch nur motzen. Sie
haben doch überhaupt keine Vorstellung von dem, was
da läuft.
({6})
Wir wollten mehr Flexibilität bei anständigen Tarifverträgen. Das war damals das Angebot. Daraus ist geworden, dass manche Konzerne unter Androhung von Auslagerungen und mithilfe von gelben Gewerkschaften
Hungerlöhne vereinbart haben. Das hatten wir mit der
Flexibilisierung bei der Leiharbeit nicht beabsichtigt.
Das sind keine guten Arbeitsverhältnisse.
({7})
Unserem Programm entspricht auch nicht die Ausweitung der Niedriglohnzone. Es gibt ja manche, die sie
weiter ausweiten wollen. Sie ist nicht nur groß genug,
sondern schon zu groß. Deshalb kämpfen wir gegen
Hungerlöhne. Wir wollen die Unsicherheiten, mit denen Arbeitnehmer leben müssen, die in befristeten Beschäftigungsverhältnissen stehen oder zur Generation
Praktikum gezählt werden, beseitigen. Diese Aufgaben
stehen vor uns. Diese müssen wir lösen und werden wir
lösen.
({8})
- Sie können nur demonstrieren. Wir können handeln.
Wer will, dass es in Deutschland besser wird, der muss
auf die Sozialdemokratie und ihre Partner vertrauen.
({9})
Darum geht es letzten Endes.
({10})
Meine Damen und Herren, wir haben also dafür zu
sorgen, dass der Aufschwung alle erreicht, dass Mindestlöhne auch gegen das Geschrei der FDP durchgesetzt werden.
({11})
- Ja, das werden wir auch gegen Ihr Geschrei durchsetzen. Mit uns gibt es keine Hungerlöhne.
({12})
Wir sehen auch, dass es nicht stimmig ist, wie das
Bruttoinlandsprodukt verteilt wird. Der Anteil der Arbeitnehmereinkommen am Volkseinkommen stagniert.
Hier besteht Entwicklungsbedarf. Wie soll der private
Verbrauch zunehmen, wenn die Arbeitnehmereinkommen nicht steigen? Wir erinnern auch an die
Ziffern 714 ff. ganz am Ende des Sachverständigengutachtens, wo schüchtern die Einkommensverteilung angesprochen wird. Wir stellen eine unverhältnismäßig
hohe Konzentration von Einkommen und Vermögen bei
einem ganz kleinen Personenkreis fest. So ist es kein
Wunder, dass die Einkommen aus Unternehmertätigkeit
und Vermögen stärker steigen als die der Arbeitnehmer.
Dieses Verteilungsverhältnis müssen wir wieder umdrehen: Die Arbeitnehmereinkommen bestimmen den privaten Verbrauch, der zugleich das größte Aggregat für
unser Bruttoinlandsprodukt darstellt.
({13})
Bei den Tarifrunden im Jahre 2008 muss dafür gesorgt werden - diese Forderung unterstützen wir -, dass
die Arbeitnehmereinkommen wieder steigen. Demjenigen, der jetzt sagt, jetzt ziehen aber dunkle Wolken auf,
entgegne ich: Die Ergebnisverbesserungen, die 2007
aufgrund der Lohnzurückhaltung der Arbeitnehmer eingefahren werden konnten, müssen nun fair verteilt werden. Dafür ist Platz. Das erfordert auch die soziale Gerechtigkeit.
({14})
Ich bin auch froh, dass die Bundesregierung ausdrücklich erklärt, dass sie die Initiative der beiden Koalitionsfraktionen, mehr Arbeitnehmerbeteiligung zu
ermöglichen, unterstützt. Das ist eine ganz wichtige Aufgabe, mit der wir dafür sorgen, dass die Verteilungsschieflage unserer Volkswirtschaft begrenzt oder gar
beseitigt wird. Wir müssen dafür sorgen, dass der Produktivitätsfortschritt auch bei den Arbeitnehmereinkommen ankommt.
({15})
Ich bin ganz froh, dass jetzt sogar Herr Piepenburg
von der PIN Group sagt: Jawohl, ich stehe zu den Mindestlöhnen. - Interessant! Noch interessanter ist, dass er
auf Folgendes hinweist: Viele Auftraggeber haben gesagt: Du bekommst keine Aufträge mehr, wenn du keine
anständigen Löhne zahlst. Das ist die richtige Antwort
der deutschen Wirtschaft auf die, die Geschäftsmodelle
auf Hungerlöhnen aufbauen wollten. Das wollen wir
nicht, und das werden wir verhindern.
({16})
Ich finde es zum Beispiel gut, dass die IG Metall bei
BMW und Audi dafür gesorgt hat, dass auch die Leiharbeitnehmer anständig bezahlt werden. Früher war es
häufig so, dass sich die Gewerkschaften und die Betriebsräte um ihre Kernbelegschaften gekümmert haben.
Jetzt haben sie ihre schwächeren Brüder und Schwestern
entdeckt und erfolgreich gehandelt. Herzlichen Dank dafür. Das ist ein richtiger Weg; wir kommen auf ihm
voran. Die Aufnahme der Leiharbeit in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz ist einer der wichtigen nächsten
Schritte, damit wir mehr soziale Gerechtigkeit im Aufschwung haben.
({17})
- Natürlich ist das Politik für den Abschwung, und zwar
bei denen, die meinen, dass die Leute quasi für Hungerlöhne arbeiten müssen und dass der Staat sie am Leben
hält. Das ist keine Wirtschaft, wie wir sie wollen.
Sie haben mir das richtige Stichwort gegeben. Ich
habe mit meinem Kollegen Laurenz Meyer immer wieder heftige Diskussionen.
({18})
Er sagt: Viele Unternehmer sind gegen die Mindestlöhne, weil sie wettbewerbsfähig bleiben wollen. Ich
sage Ihnen dagegen: Ein Wettbewerb, der auf die KnoLudwig Stiegler
chen der Arbeitnehmer geht, ist gegenüber den Arbeitnehmern nicht in Ordnung und ist auch volkswirtschaftlich nicht in Ordnung. Deshalb werden wir diesen Weg
nicht mitgehen.
({19})
Also werden wir miteinander in den nächsten Wochen an das Arbeitnehmer-Entsendegesetz und an das
„Franz-Müntefering-Jugendfreundin-Erinnerungsgesetz“,
MiA, herangehen und werden die Mindestarbeitsbedingungen verbessern. Das wirkt noch nicht flächendeckend - das wissen wir -; die Union ist nämlich noch
nicht so weit. Aber sie ist immerhin in Bewegung. Wir
werden hier einen Schritt vorankommen.
Michael Glos hat gesagt: Starke Unternehmen garantieren starke Arbeitsplätze. Ich sage Ihnen daher aus aktuellem Anlass: Große Unternehmen, ob nationale oder
internationale, müssen wissen, dass sie hier in Deutschland auf dem Boden der sozialen Marktwirtschaft und
des Grundgesetzes agieren; Arbeitnehmer sind nicht irgendwelche Zahlen auf einem Excel-Sheet, sondern
Menschen mit Würde und Achtungsanspruch. Wir müssen gerade im Zeitalter der Globalisierung eine Kooperation zwischen Wirtschaft und Staat organisieren, die den
Strukturwandel ordentlich begleitet und die Menschen
nicht nur nach dem Prinzip „Heuern und Feuern“ behandelt. Das muss der Nokia-Vorstand hier lernen.
({20})
Wir müssen den Kurs halten, durch bessere Arbeit,
durch einen Aufschwung für alle, mit mehr sozialer Gerechtigkeit, mit einer hohen Teilnahme am Erwerbsleben, mit Qualifikation und Weiterbildung, mit Forschung und Entwicklung. So weit, so gut. Der Blick ist
dabei in den Rückspiegel gerichtet, und wenn man den
Blick allein in den Rückspiegel richtet, dann fährt man
nicht gut vorwärts, weil es vor der Hacke duster ist, wie
Peer Steinbrück immer zu sagen pflegt. Wir müssen sehen, dass der Aufschwung schon vor der SubprimeKrise an Kraft verloren hat, weswegen die Kurve in eine
andere Richtung ging.
Wir müssen wissen: Nur Nachfrage schafft Arbeitsplätze. Alle, die den Keynesianismus für Teufelszeug
halten, sollten sehen: Die Amerikaner sind dabei, wieder
Keynesianer zu werden. Lassen Sie uns im Auge behalten: Nur dann, wenn wir die private und die öffentliche
Nachfrage steigern, werden wir die notwendigen Arbeitsplätze sichern, nur dann werden wir aus der Staatsverschuldung herauswachsen. Wir können uns nicht heraussparen. Wir sind 2006 und 2007 durch Wachstum zu
Ihrer Freude, Herr Kampeter, erfolgreich gewesen.
Wenn wir damals Ihrem strengen Haushälterweg gefolgt
wären, dann würden wir jetzt tief unten im Keller sitzen.
Aber wir wollen mit Ihren Kolleginnen und Kollegen
weiter herauswachsen.
Wir haben noch eine Menge Pfeile im Köcher: private
Investitionen, Gebäudesanierung und Klimaschutz, auch
in der gewerblichen Wirtschaft. Vor allem müssen wir
darauf aufpassen, dass die kleinen und mittleren Unternehmen nicht Opfer der Bankspekulationen werden und
Probleme mit der Kreditversorgung bekommen. Wir
haben gemeinsam mit den Förderbanken von Bund und
Ländern die Aufgabe, das zu verhindern. Gott sei Dank
hat die KfW nach wie vor gute Kreditprogramme, mit
denen wir arbeiten können. Daher müssen wir nicht
heute schon überstürzt Aktionen ankündigen. Wenn die
Hurrikanmeldungen kommen, kann ich aber nicht sagen:
Er wird schon an uns vorbeigehen. Dann muss ich
schauen, wie ich mein Dach dichtmachen kann, wie ich
Vorsorge treffen kann. - Wenn der Sturm kommt, sind
wir vorbereitet. Das muss in aller Stille geschehen, damit
es uns nicht wie den unklugen Jungfrauen geht, sondern
wie den klugen Jungfrauen in der Bibel.
Wir haben noch eines gelernt: Es kommt auch auf den
Staat an. Die privaten Banken haben sich gegenseitig
nicht mehr vertraut. Sie wären an ihrem gegenseitigen
Misstrauen kaputtgegangen, wenn die Zentralbanken sie
nicht gerettet hätten. Der Staat hat sichere Häfen geboten, ist lender of last resort, wie es in England heißt. Das
heißt, wir können mit diesen Herrschaften in Zukunft etwas selbstbewusster umgehen; denn wenn sie sich verspekuliert haben, kommen sie zu uns und laden die Verluste bei Peer Steinbrück ab. Er muss nämlich ein Drittel
dieser Spekulationsverluste tragen. Das möchten wir
nicht. Herr Kampeter, das Geld soll lieber in die Kasse
von Herrn Steinbrück fließen. Dafür zu sorgen, ist unsere Aufgabe. Rainer Wend wird nachher sagen, was wir
von den Banken und den Aufsichtsbehörden erwarten,
damit nicht private Gier und Spekulationen eine ganze
Volkswirtschaft ins Elend stürzen. Im Reich der Realökonomie müssen wir die Lebensverhältnisse der Menschen auch in Zukunft durch gute Arbeit verbessern.
Danke.
({21})
Das Wort erhält nun der Kollege Oskar Lafontaine,
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bundesminister für Wirtschaft, Herr Glos, hat
gesagt, dass der Jahreswirtschaftsbericht unter der Überschrift „Kurs halten!“ steht. Für die Fraktion Die Linke
möchte ich hier sagen: Wir möchten, dass der nächste
Wirtschaftsbericht und Ihr Handeln unter einer ganz anderen Überschrift stehen, nämlich: Kurs wechseln!
({0})
Denn wenn Sie den Kurs halten, dann setzen Sie all das
fort, was in den letzten Jahren eingetreten ist.
Ich beginne mit Ihrem Jahreswirtschaftsbericht:
„Deutschland ist auf gutem Kurs: mit einem Aufschwung für alle“. Wenn Sie hier feststellen, der Aufschwung sei für alle da, dann ist das eine Verarschung
der Bevölkerung.
({1})
80 Prozent der Menschen in Deutschland sagen: Der
Aufschwung kommt bei uns nicht an. Aber Sie erdreisten sich, hier zu sagen: Aufschwung für alle.
({2})
Erklären Sie das Wahlvolk für blöd, oder was ist Ihre
Absicht? Wie können Sie so etwas sagen? Es gibt
Gründe, warum die Bevölkerung sagt: Der Aufschwung
kommt bei uns nicht an.
Im ersten Satz des Jahreswirtschaftsberichtes heißt es
weiter, dass wir eine „Rekord-Beschäftigung“ haben.
Das ist richtig. Die Frage ist nur: Was für eine Art von
Beschäftigung ist das? Weil Sie diese Frage nicht stellen,
wissen Sie nicht, dass der Aufschwung nicht bei allen
ankommt. Wenn die Menschen nur noch befristete Arbeitsverträge haben, schlechte Löhne erhalten und nur
noch Minijobs oder Leiharbeit ausüben können, dann ist
das kein Aufschwung für alle. Den Menschen nutzt Ihre
Beschäftigungsbilanz überhaupt nichts! Das ist das, was
die Menschen denken, die Ihnen draußen zuhören müssen, wie Sie hier solche Sprechblasen in die Welt setzen.
({3})
Natürlich gibt es Anzeichen für eine weltweite Krise.
Die kann wirklich niemand mehr übersehen. Nun würde
man vielleicht erwarten, dass der Bundesminister für
Wirtschaft eine Idee hat, was er da machen könnte. Vielleicht hat die Bundeskanzlerin, die gerade in Gespräche
vertieft ist, ja eine Idee; man soll die Leute ja nicht unbedingt überfordern. In der Financial Times Deutschland
können wir lesen: „Glos denkt über Notfallplan nach.“
Bravo, Herr Bundesminister für Wirtschaft, die Fraktion
Die Linke macht Ihnen ein Kompliment: Sie denken
nach! Weiter ist aber zu lesen: „Die Schublade ist noch
leer. Aber selbstverständlich muss man sich Gedanken
machen.“ Bravo, muss man sagen.
({4})
Es wäre natürlich nett, wenn die Schublade wenigstens
ein bisschen voll wäre.
({5})
Sie sollten versuchen, zu erreichen, dass die Schublade
ein bisschen voll wird, damit Sie irgendetwas haben,
falls die exportgetriebene Konjunktur der letzten Jahre
nun durch die weltweite Krise - das wäre logisch - beschädigt wird.
Es ist ja richtig - das hat ein Redner hier gesagt -,
dass die Amerikaner wie selbstverständlich keynesianische Rezepte anwenden, wenn die Konjunktur nach unten rasselt. Die keynesianischen Rezepte, die hier immer
von allen möglichen Fachleuten - ich will sie gar nicht
alle zitieren - in großer Attitüde für falsch und überholt
erklärt worden sind, heißen nun einmal: Wenn die Konjunktur schwächelt, setzt man die Geldpolitik ein. - Das
ist überall auf der Welt so, nur in Europa ist es nicht so
gemacht worden. Das hat dann natürlich Folgen. Der
Kommentator, der heute in der Financial Times Deutschland fragt, warum denn die Geldpolitik nicht einsetzt,
hat recht. Wir können nachweisen, dass die verfehlte
Geldpolitik der Europäischen Zentralbank über viele
Jahre mit dazu beigetragen hat, dass wir in Europa nicht
Wachstumspotenziale erschlossen haben wie andere Industriestaaten dieser Welt.
Das Zweite, das man einsetzen kann, ist die Binnennachfrage. Sie haben dafür gesorgt, dass die Binnennachfrage über viele Jahre nur stranguliert und abgewürgt wurde. Ich möchte hier deutlich sagen, dass
Steuersenkungen ein Instrument der Binnennachfrage
sind. Die Amerikaner setzen dieses Instrument wie
selbstverständlich ein, und zwar rechtzeitig. Wenn man
wegen der Staatsfinanzen zögerlich ist, dann sollte man
zumindest dem Antrag stattgeben, den wir hier schon
mehrfach vorgetragen haben: Man sollte den Steuertarif
glätten und insbesondere die mittleren Einkommen entlasten, das heißt die Facharbeiter und die Kleinbetriebe.
Dann kann man den Steuertarif durchziehen, wenn man
aufgrund der Einnahmeausfälle Probleme hat.
({6})
Wir haben das hier immer wieder vorgetragen. Es ist ungerecht und wirtschaftlich unvernünftig, Facharbeiter
und Kleinbetriebe über Gebühr zu belasten.
Nun greife ich das auf, Herr Kollege Stiegler, was Sie
hier gesagt haben. Natürlich geht Binnennachfrage nicht
ohne steigende Löhne. Natürlich geht Binnennachfrage
nicht ohne wachsende Renten. Natürlich geht Binnennachfrage nicht ohne steigende soziale Leistungen im
Rahmen des Möglichen. Wenn man aber alles tut - da
sind die meisten hier mitverantwortlich -, dass sowohl
die Löhne und die Renten als auch die sozialen Leistungen sinken, dann trägt man die Verantwortung dafür,
dass in Deutschland die Binnennachfrage über viele
Jahre überhaupt nicht auf die Beine kommt.
({7})
Der Bundeswirtschaftsminister hat auf seine liebenswerte Art hier vorgetragen: Die Tarifparteien sollen ihre
verantwortungsvolle Lohnpolitik fortsetzen. Mit solchen Sprechblasen kann man über die Wirklichkeit hinwegtäuschen. Auch im letzten Jahr hatten wir stagnierende Reallöhne. Das sieht man, wenn man die
Tarifvertragsabschlüsse ansetzt und mit der Inflation
verrechnet. Was in Wirklichkeit passiert, ist etwas ganz
anderes. Das erfassen wir ja statistisch überhaupt nicht.
Das heißt, in Wirklichkeit hatten wir auch im letzten Jahr
ein zurückgehendes Volkseinkommen. Ich denke an Arbeitnehmer, an Rentner und an die, die soziale Leistungen empfangen. Sie setzen diese Politik ununterbrochen
fort. Kollege Stiegler, wenn Sie das alles beklagen, dann
dürfen Sie diesem Bericht nicht zustimmen, dann dürfen
Sie die Politik nicht in vollem Umfang mitmachen.
({8})
Im Jahreswirtschaftsbericht steht, dass Sie weiterhin
„Teilzeitarbeit und tarifliche Öffnungsklauseln, befristete Arbeitsverträge“ und Leiharbeit vorantreiben wollen. Die Leiharbeit nennen Sie im Bericht vornehmerweise „Zeitarbeit“. Als weitere Beispiele nennen sie
„Minijobs und Zeitkonten“. All dies wollen Sie weiter
einsetzen, um Anpassungsflexibilität zu erreichen. Das
heißt, Sie wollen das Programm zur Lohnsenkung weiter
vorantreiben. Das ist die Botschaft des Jahreswirtschaftsberichtes.
({9})
An einer Stelle ist der Bericht dann auch ehrlich. Er
zeigt - wie in all den vergangenen Jahren - schlicht und
einfach eine unverschämte Bilanz der Umverteilung, an
der sich überhaupt niemand mehr stört. In jedem Jahreswirtschaftsbericht steht: Arbeitnehmerentgelte nix, Rentenerhöhungen wird es nicht geben und soziale Transfers
sowieso nicht. Die große Mehrheit der Bevölkerung
- das steht im Bericht - ist vom wirtschaftlichen Zuwachs ausgeschlossen. Nichts anderes steht hier seit Jahren. Das sieht man, wenn man bereit ist, Zahlen zur
Kenntnis zu nehmen.
Im Bericht steht zur Projektion, dass Unternehmensund Vermögenseinkommen diesmal nur in Höhe von
5,6 Prozent steigen werden. 7 Prozent war die Projektion
in den letzten Jahren. Aber das ist ja nur die Hälfte dessen, was passiert. Im letzten Jahr sind allein die Aktienkurse um über 20 Prozent gestiegen. Die Einkommen
der Arbeitnehmerschaft sind gesunken. Andere Gewinnspannen möchte ich hier gar nicht vortragen.
Das alles schreiben Sie. Das ist weiterhin Ihre Absicht. Sie sind eine Große Koalition der Umverteilung.
Wenn Sie das von den Erträgen der Arbeitnehmerentgelte usw. nicht ableiten wollen, dann schauen Sie nur
Ihre Steuerpolitik an: Sie haben auf der einen Seite die
große Mehrheit der Bevölkerung mit 20 Milliarden Euro
pro Jahr durch die Mehrwertsteuererhöhung belastet und
die Unternehmen - ich denke hier an Steuersenkungen
und die Senkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrages - um 20 Milliarden Euro entlastet. Man muss kein
großer Rechenkünstler sein, um zu wissen, dass hier eine
reine Umverteilung vorgenommen wurde.
({10})
Ich möchte hier nun unsere Vorschläge zur Festigung
der Konjunktur in Deutschland vortragen, die dann notwendig ist, wenn der Export nicht mehr läuft. Die Renten und die Löhne können noch so niedrig sein - wir
könnten auch Sklavenlöhne einführen -: Der Export
läuft trotzdem weiter. Aber die Binnenkonjunktur verkraftet die Philosophie, die in den letzten Jahren dominierte, nicht.
Das Erste, was wir brauchen, ist eine Lohnpolitik, mit
der die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer tatsächlich wieder am Wachstum der Volkswirtschaft beteiligt
werden. Das muss als Allererstes geschehen.
({11})
Das heißt für uns: Im Gegensatz zur Entwicklung der
letzten Jahre müssen die Löhne im Rahmen von Inflation
und Produktivität steigen. Was nützt die Beschwörung
der Produktivität, wie von Kollege Stiegler vorgetragen,
wenn die Löhne in den letzten Jahren im Rahmen der
Produktivität überhaupt nicht mehr gewachsen sind? Da
muss man sich doch die Frage stellen, warum das der
Fall war. Die Erklärung ist ganz simpel: Die Gewerkschaften wurden über Hartz IV, befristete Arbeitsverträge, Minijobs und Leiharbeit so systematisch geschwächt, dass sie nicht mehr auf die Füße kamen. Sie
haben mit der fatalen Gesetzgebung, die Sie zu verantworten haben, das Sinken der Löhne programmiert.
({12})
Als Zweites müssen die Armutsrenten zurückgenommen werden. Ich rede hier von der unsinnigen Rentenpolitik, die Sie über all die Jahre gemacht haben. Wie
wollen Sie denn die Binnenkonjunktur bei sinkenden
Realeinkommen und sinkenden Einkommen der Rentnerinnen und Rentner in Gang bringen? Diese hören uns
heute zu, und sie wissen genau, dass sie an Kaufkraft
verloren haben. Sie wissen auch, dass Sie immer weiter
darüber nachdenken, wie Sie die Renten weiter kürzen
können. Sie waren schließlich stolz darauf, dass Sie eine
Rentenreform verabschiedet haben, mit der die Rente für
viele weiter gekürzt wird. Nehmen Sie doch zur Kenntnis, dass das Desaster, dass für die jetzt Beschäftigten in
Zukunft Armutsrenten programmiert sind, bereits eingetreten ist.
Wenn selbst der Vater dieser Reformen, Herr Rürup,
begriffen hat, was er angerichtet hat, und wenn er deshalb vorschlägt, eine steuerfinanzierte Grundrente einzuführen, um dieses Desaster zu vermeiden, dann ist dies
ein Ausweis von Ratlosigkeit. Ändern Sie die Rentenformel, damit die Rentnerinnen und Rentner endlich wieder
am wachsenden Wohlstand teilnehmen können.
({13})
Zum Steuertarif habe ich bereits etwas gesagt. Ich
möchte aber einen weiteren Punkt erwähnen. Wir brauchen gerade in der jetzigen Situation im Steuerrecht
keine weiteren flächendeckenden Senkungen der Unternehmensteuern. Vielmehr brauchen wir im Unternehmensteuerrecht einen Umbau, der dazu führt, dass der
investierende Unternehmer belohnt und der spekulierende Unternehmer nicht belohnt wird. Das heißt, die degressive Abschreibung von Investitionen muss wieder
eingeführt werden.
({14})
Es war ein großer Fehler, dieses bewährte Instrument,
das über viele Jahre Kernelement des Handelns von
Wirtschaftsministern war, die die Steuerung der Konjunktur noch im Programm hatten, abzuschaffen.
Was wir auch brauchen, sind Ausgaben in der öffentlichen Infrastruktur, um gegenzusteuern. Man kann es
nicht oft genug sagen: Wir können es uns als Industriestaat nicht erlauben, dass die Investitionsquote in unseren öffentlichen Haushalten im Vergleich mit den europäischen Nachbarn nur halb so hoch ist. Das ist eine
eindeutige Zahl. Wie lange, glauben Sie, können wir uns
Versäumnisse auf einem Gebiet leisten, in dem die Zukunft des Staates definiert wird, nämlich bei den öffentlichen Investitionsausgaben? Die anderen sind nicht dümmer oder klüger als wir, aber sie haben teilweise deutlich
bessere Ergebnisse.
({15})
Das, was ich gesagt habe, gilt natürlich auch für die
Ausgaben in Bildung und Forschung, insbesondere für
die Bildung. Das, was teilweise in den Ländern in den
letzten Jahren geschehen ist - die Schulzeit wurde verkürzt, um die Menschen möglichst schnell auf den Arbeitsmarkt zu werfen -, ist ein Wahn. Dahinter steht
nicht mehr die Idee, dass Bildung die Entwicklung einer
Persönlichkeit ermöglicht und dazu beiträgt, eigene Aktivitäten zu entfalten. Vielmehr geht es darum, die Menschen möglichst schnell für den Arbeitsmarkt auszubilden. Das ist ein Fehler. Das wird noch durch den Abbau
von Lehrpersonal ergänzt. Die Lehrpläne sind überfrachtet. Viele Eltern beklagen sich mittlerweile darüber, man
raube den jungen Menschen die Kindheit. Deshalb brauchen wir in Deutschland eine andere Schul- und Bildungspolitik.
({16})
- Herr Finanzminister, ich hätte gerne die Zeit, mich mit
Ihnen auseinanderzusetzen. Wir müssten eigentlich über
all das reden, was Sie so auf den Finanzmärkten treiben.
Ich kann Ihnen nur sagen: Was sollte hier eben das Gejammer über die Finanzmärkte, wenn Sie die Geldpolitik
nach wie vor so missachten, wie das derzeit geschieht?
Solange in Europa die aktuelle Verfassung der Zentralbank gilt, die im krassen Gegensatz zu den Verfassungen
der Zentralbanken der übrigen Welt steht, insbesondere
der amerikanischen Zentralbank und der britischen Zentralbank, so lange wird die Geldpolitik zur Steuerung der
Konjunktur nicht eingesetzt werden können. Das aber
geht zulasten der Beschäftigten in Gesamteuropa.
({17})
Wenn Ihnen sonst nichts einfällt, dann schreiben Sie einfach die Verfassung der amerikanischen Zentralbank ab.
Ein weiterer Punkt ist die Regulierung der Finanzmärkte. Immer, wenn die Linke gefordert hat, die Finanzmärkte zu regulieren, dann haben Sie hier erklärt,
dass das einzig Wichtige die Transparenz sei. Was meinen Sie mit Transparenz? Sie ist weitgehend vorhanden.
Wir wissen, wo überall spekuliert wird. Wir wissen
doch, wie unsicher die einzelnen Derivate sind. Wir wissen, wo die Risiken liegen. Nein, wir brauchen eine Reregulierung der Finanzmärkte, wenn wir wieder Ordnung in das Chaos der weltweiten Finanzmärkte
bekommen wollen.
({18})
Mit der Reregulierung der Finanzmärkte müssen wir
bei unseren eigenen Gesetzen beginnen. Wenn wir jetzt
beklagen, dass Banken, die teilweise sogar in öffentlichem Besitz sind, Nebengeschäfte gemacht haben, dann
müssen wir uns doch die Frage stellen, was wir da eigentlich versäumt haben.
Nebenbei möchte ich sagen: Es gibt auch bedeutende
Aufsichtsratsvorsitzende, die gepennt haben. Sie haben
dort, wo sie verantwortlich waren, nicht erkannt, dass in
großem Umfang Nebengeschäfte getätigt und sogar bilanziert wurden. Wenn wir so sehr pennen, dann werden
wir keine Ordnung in die internationalen Finanzmärkte
bekommen. Wir müssen bei uns selbst anfangen, meine
sehr geehrten Damen und Herren;
({19})
ich hoffe, dass dieser Wink verstanden worden ist.
Ich fasse zusammen: Natürlich könnte man diese
Politik, die dem Export wenig schadet, fortsetzen. Auf
den Glanzfeldern unserer Wirtschaft - dem Automobilbau, dem Maschinenbau, der Chemieindustrie, der Elektrotechnik usw. - verfügen wir Gott sei Dank über gute
Ingenieure und Konstrukteure, die dafür sorgen, dass unsere Produkte weltweit vermarktet werden können und
Absatz finden. Das ginge aber auch bei sehr niedrigen
Löhnen, weil diese Ziele dadurch überhaupt nicht gefährdet werden.
Wenn Sie irgendwann einmal zur Kenntnis nehmen,
dass der Binnenmarkt für die Volkswirtschaft einer großen Industrienation von Bedeutung ist, dann müssen Sie
daraus Konsequenzen ziehen. Vor allen Dingen eines
dürfen Sie nicht tun: eine verfehlte Politik, die zu sinkenden Löhnen, sinkenden Renten und sinkenden sozialen Leistungen führt, betreiben und dann noch die Frechheit besitzen, zu behaupten: Der Aufschwung kommt bei
allen an.
({20})
Nächster Redner ist der Kollege Fritz Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Jahreswirtschaftsbericht, über den wir
heute sprechen, hat den Titel „Kurs halten!“. Ich finde,
wenn man Kurs halten will, muss man erst einmal einen
Kurs haben.
({0})
Wenn ich mir die Debatten über die aktuellen Probleme
der Wirtschaftspolitik vor Augen führe, dann kann ich
nicht feststellen, dass die Bundesregierung über einen
gemeinsamen Kurs verfügt.
Wenn es um die Mindestlöhne geht, verfolgen Sie
völlig unterschiedliche Konzepte; das gilt übrigens für
Lohnfragen insgesamt. Die Union dilettiert beim Thema
Mindestlohn. Zuerst wollte sie überhaupt keinen Mindestlohn. Dann hat sie gesagt: In ein oder zwei Branchen
können wir ihn vielleicht einführen. Nun wundert sich
die Union, dass auch andere Leute auf die Idee kommen
und fragen: Was ist bei uns? - Manche reden schon von
einem flächendeckenden Mindestlohn. Es geht ständig
hin und her.
({1})
Ein anderes Beispiel ist Ihre Gesundheitspolitik.
Durch die geplante Einführung des Gesundheitsfonds
zum 1. Januar 2009 werden die Beitragssätze zur Krankenversicherung wahrscheinlich um 0,7 Prozentpunkte
steigen. Das ist doch einfach Murks, und man kann nicht
sagen, das sei ein Kurs. Einerseits senken Sie die Lohnnebenkosten durch eine Senkung des Beitragssatzes zur
Arbeitslosenversicherung. Andererseits machen Sie eine
Politik, die dazu führt, dass die Lohnnebenkosten im Gesundheitsbereich, nämlich beim Beitragssatz zur Krankenversicherung, steigen. Das ist kein Kurs, sondern ein
unsystematisches Hin und Her, durch das unser Land
und unsere Wirtschaft nicht vorangebracht werden.
({2})
Im Jahreswirtschaftsbericht von Michel Glos lesen
wir: Diesmal soll es der Binnenmarkt richten, und das
trotz all der finsteren Wolken, die sich unter anderem
über den USA am Horizont zeigen. Im Jahreswirtschaftsbericht ist für den Binnenkonsum von einem
Wachstum in Höhe von 3,1 Prozent die Rede; preisbereinigt entspricht das einem Wachstum des Binnenmarktes
um 1,4 Prozent. Herr Glos, ich muss Sie fragen: In welcher Welt leben Sie eigentlich?
({3})
Die Leute bekommen gerade die Nachricht, dass die
Preise in allen möglichen Bereichen steigen: beim Gas,
beim Wasser, beim Öl usw. Wenn sie einkaufen gehen,
stellen sie fest, dass auch die Preise für Grundnahrungsmittel steigen: bei der Milch, beim Fleisch und bei vielem, was die Familien in unserem Land brauchen. Sie
aber sagen: Diesmal wird es der Binnenmarkt richten.
Glauben Sie etwa, dass irgendjemand einkaufen geht,
weil Sie in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht schreiben
„Wir wollen Kurs halten! Beruhigt euch, Leute!“? Wie
stellen Sie sich das eigentlich vor?
({4})
Außerdem fordern Sie eine maßvolle Lohnpolitik.
Das heißt für die Leute: Es wird nicht mehr Geld geben.
Hören Sie auf mit der Märchenstunde, der Binnenmarkt,
der private Konsum werde es diesmal richten! Es gibt
keine empirische Evidenz, dass das so sein wird.
({5})
Auch was jetzt über die Börsenkrise zu lesen ist, wird
nicht dazu beitragen, dass die Leute Vertrauen entwickeln.
Wir gehören nicht zu denen, die es als eine Aufgabe
der Opposition sehen, die Konjunktur schlechtzureden.
Wir können dieser Versuchung widerstehen, Herr Lafontaine. Wir machen dieses Spiel nicht mit. Die kleinen
Leute, bei denen der Aufschwung noch nicht ankommt,
haben nämlich umso größere Chancen, je besser sich die
Konjunktur entwickelt.
Wir bräuchten jetzt eine Bundesregierung, die mit ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik - das gehört ja zusammen - Vertrauen bei den Leuten schafft, dass der Aufschwung bei allen ankommt, auch bei denen, die sozial
nicht so gut dastehen.
({6})
Anstatt herumzunölen, will ich Vorschläge machen
und Ihnen sagen, wo Sie als Große Koalition agieren
müssen und aufhören müssen, ihre Köpfe in den Sand zu
stecken, Herr Glos: Das Erste ist die Frage der Lohnentwicklung, insbesondere die Frage, wie es bei den Mindestlöhnen weitergeht. Die Große Koalition kann sich
nicht darauf einigen, wie das Prinzip, das ja alle bejahen
- dass, wer ganztags arbeitet, von seiner Hände oder seines Kopfes Arbeit leben können muss -, in die Praxis
umgesetzt werden soll. Solange Sie sich nicht einigen
können, was Sie wollen - Kombilöhne oder Mindestlöhne, flächendeckend oder wie auch immer -, kann es
an dieser Stelle nicht aufwärtsgehen. Wir sagen, dass wir
Mindestlöhne brauchen - aber branchen- und regionalspezifisch. Der Vorschlag, den Bundesarbeitsminister
Scholz gemacht hat, ist nicht schlecht; er geht ja auf unseren Vorschlag, eine Mindestlohnkommission einzurichten, zurück. Aber man muss beides machen: Man
muss das Entsendegesetz entsprechend ausweiten, eine
Mindestlohnkommission einrichten und, eines Tages, einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn einführen. Es darf nicht sein, dass jemand trotz Arbeit Aufstocker sein muss.
({7})
Die Leute können kein Vertrauen haben, Herr Meyer,
wenn sie wissen: Du kannst ganztags arbeiten, aber leben kannst du davon nicht. - Auch wäre es ein falsches
Signal an die Wirtschaft, aufzustocken und damit gewissermaßen einen flächendeckenden Kombilohn einzuführen. Es ist Murks und Unsinn, was die Union an der
Stelle anbietet.
({8})
Das Zweite. Sie müssen sich endlich bemühen, doch
mehr für den Mittelstand zu tun. Die Unternehmensteuerreform hat vielen Personengesellschaften, die Einkommensteuer zahlen, nichts gebracht. Im Gegenteil, Herr
Steinbrück: Weil die Gewerbesteuer ausgedehnt wurde
- es war ja richtig, Zinsen und Pacht einzubeziehen -,
sind diejenigen Personengesellschaften, die, weil sie
keine Einkommensteuer zahlen, Gewerbesteuer und Einkommensteuer nicht miteinander verrechnen können, sogar zusätzlich belastet worden. Deswegen sagen wir: Die
Gewerbesteuer muss in diesem Sinne vorgetragen werden, damit die mittelständischen Betriebe in diesem Bereich tatsächlich entlastet werden.
({9})
- Da brauchen Sie nicht den Kopf zu schütteln! Hören
Sie sich einfach einmal an, was die Mittelständler, die in
dieser Situation sind, dazu sagen!
Das Dritte ist der Gesundheitsfonds. Es würde schon
einen Schub für die Konjunktur bringen, wenn Sie einsehen würden, dass dieser Fonds Murks ist, und darauf
verzichten würden, etwas einzuführen, was neun Monate
später - wenn wir eine andere Gesundheitspolitik haben
werden - ohnehin wieder abgeschafft wird. Auch das
wäre gut dafür, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher Vertrauen entwickeln.
({10})
Es gibt noch ein weiteres Thema, das wir wichtig finden. Darin unterscheiden wir uns massiv von Herrn Lafontaine, den ja das ganze Thema Lohnnebenkosten
überhaupt nicht interessiert. Vieles, was er vorgetragen
hat, ist schön und wünschenswert; aber es führt zu einer
Steigerung der Lohnnebenkosten und damit zu einer
Verschlechterung der Bedingungen für das Entstehen
neuer Arbeitsplätze. In einem haben Sie allerdings recht,
Herr Lafontaine, und da teilen wir Ihre Ansicht: Vor allem den Beziehern kleiner Einkommen bleibt zu wenig
netto. Sie haben zwar einen Arbeitsplatz; aber sie verdienen zu wenig. Deswegen will ich unseren Vorschlag erneuern, die Lohnnebenkosten im unteren Bereich zu senken. Nicht überall haben wir hier ein Problem; aber den
Geringverdienern bleibt zu wenig netto.
({11})
Ich frage mich, wann sich die Bundesregierung hier endlich bewegt. Wir Grünen haben zur Lösung dieses Problems ein Progressivmodell vorgeschlagen.
Herr Glos, an dieser Stelle ist für die Mittelschicht
auch die kalte Progression zu nennen. Wir müssen die
Steuertarife ändern, weil die Menschen bei einer Lohnerhöhung ansonsten nicht das in der Tasche haben, was sie
eigentlich haben sollten, da ihnen die Lohnerhöhung
durch die Steuer doppelt wieder weggenommen wird.
Ich nenne ein Thema, das für die CDU/CSU und die
SPD ganz unangenehm ist. Es geht nämlich um die
Frage, ob sich die Riester-Rente wirklich in allen Fällen
lohnt. Selbstverständlich ist hier eine Verunsicherung
entstanden. Ich frage mich, ob Sie eine passende Antwort haben. Wir von den Grünen sagen: Es ist richtig,
dass die Menschen mit der Riester-Rente zusätzlich etwas ansparen und sich so privat für das Alter stärken. Aber natürlich sind die Leute verunsichert, weil sowohl
beim Arbeitslosengeld II als auch bei der Rente - dann,
wenn die Menschen eine Sozialrente erhalten - zu viel
auf privat angespartes Geld für das Alter zugegriffen
wird. Es ist einfach nicht okay, dass das dann verrechnet
wird.
({12})
Daraus folgt aber keine pauschale Polemik gegen die
Riester-Rente, wie sie Lafontaine gerne verwendet, sondern daraus folgt, dass die Mittel, die die Leute durch
ihre Altersvorsorgemaßnahmen privat erwirtschaftet haben, zum Beispiel auf ein Altersvorsorgekonto überwiesen werden sollten und eben nicht angetastet werden
dürfen. Wenn Sie das nicht wollen, dann machen Sie das
über Freibeträge. Man kann den Leuten doch nicht erzählen - gerade den kleinen Leuten -: „Spart im Rahmen
der Riester-Rente!“, während diese Mittel selbstverständlich verrechnet werden, wenn sie zu wenig Rente
erhalten und aufgestockt werden muss.
Mit Ihrer Verweigerung, eine neue Lösung auf den
Tisch zu legen, verhindern Sie die Bewältigung des
wichtigen Problems der privaten Altersvorsorge. Bei den
Verhandlungen damals lagen ja viele Lösungen auf dem
Tisch. Ich fordere Sie hier auf, sich an dieser Stelle zu
bewegen.
({13})
Ich will einen weiteren Punkt nennen, der wichtig ist,
wenn man etwas für die Wirtschaft tun will. Uns gehen in
Deutschland viele Arbeitsplätze verloren, weil die Große
Koalition nicht in der Lage ist, die Einwanderungsbedingungen für gut ausgebildete Arbeitskräfte zu erleichtern. Senken Sie die Grenze von 84 000 Euro, die man als
Verdienst nachweisen muss, um hierher zu dürfen, und
wir werden hochqualifiziertes Personal bekommen.
Selbstverständlich wollen wir deutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausbilden, aber wir brauchen sofort Arbeitskräfte. In der Globalisierung kann man nicht
sagen, dass man zwar überallhin exportieren, aber lieber
keine Leute von woanders haben will, die eine gute Qualifikation haben. Das ist Wirtschaftspolitik von vorgestern, aus Gründen, die vielleicht mit Ihrer Politik im Innern zu tun haben. Wirtschaftspolitisch beweist dies
jedenfalls keine Vernunft.
({14})
Herr Glos, eines stört mich an Ihrem Bericht und Ihrer
Kommentierung noch mehr. Wir haben doch erkannt,
dass es in Deutschland ein großes Wachstumsfeld gibt,
nämlich die ökologische Modernisierung: Energie einsparen und effizienter mit Energie umgehen. - Sagen Sie
doch einmal, dass Sie dies im Binnenmarkt zum Wachstumsfeld machen wollen, treten Sie nicht dauernd auf die
Bremse und nölen Sie nicht dauernd gegen mehr Energieeinsparung und eine bessere Energiepolitik!
Mit grünen Ideen kann man schwarze Zahlen schreiben und Arbeitsplätze schaffen. Das muss auch der Wirtschaftsminister dieses Landes endlich kapieren.
({15})
Sie würden also Vertrauen schaffen - auch in den
Binnenmarkt -, wenn Sie diese Vorschläge beherzigen
würden. Ich sage aber noch einmal: Die Große Koalition
hat bei keinem dieser Punkte eine gemeinsame Linie.
Deswegen ist sie an der entscheidenden Stelle auch nicht
handlungsfähig.
Zum Abschluss will ich noch etwas zur Börsenkrise,
zur Immobilienkrise in den USA und dazu sagen, was
das für uns bedeutet. Erst einmal: Die Entwicklung in
den USA ist dramatisch. Das hat verschiedene Gründe.
Die Zeit, dass man viel mehr ausgeben kann - auch im
privaten Konsum -, als man systematisch einnimmt, ist
jetzt endgültig vorbei. So gesehen findet dort auch eine
Marktbereinigung statt, auf die man warten konnte,
wenn man die Entwicklung in den letzten Jahren beobachtet hat.
Selbstverständlich wird dies Auswirkungen auf die
deutsche Wirtschaft haben. Gott sei Dank werden sie
nicht so drastisch und wahrscheinlich auch nicht so
schnell eintreten wie in den USA, aber es soll hier doch
niemand so tun, als würde dies nicht auch wachstumsdämpfend wirken. Ich sage Ihnen voraus, dass das Wirtschaftswachstum stärker als um die 0,3 Prozent sinken
wird, die Sie in Ihrer Prognose heruntergegangen sind.
Das kostet uns Milliarden Euro.
Ausgerechnet an einer solchen Stelle fängt die Bundesregierung - von der Bundeskanzlerin bis hin zu SPD mit der unseligen Debatte über die Staatsfonds an, nach
dem Motto: Jetzt bitte nicht ohne Weiteres ausländisches
Geld von ausländischen Staatsfonds in die Bundesrepublik Deutschland. Andere Länder, wie die Schweiz, die
aufgrund der Immobilienkrise auch Milliardenbeträge
abschreiben mussten, werden gerade durch ausländische
Staatsfonds gestützt. Ich kann wirklich nicht verstehen,
warum Sie gerade in Zeiten - das ist gegen jede politische Vernunft -, in denen man Geld braucht, sagen: Bitte
kein Geld von ausländischen Staatsfonds. - Das ist gegen
jede ökonomische Vernunft. Das, was Sie hier veranstalten, ist Unsinn.
({16})
Die Zockerökonomie, die wir zum Teil auf der Welt
haben, ist zum Vertrauensproblem für die reale Ökonomie geworden. An die Adresse der Herrschaften von der
FDP kann ich nur sagen:
({17})
Selbstverständlich brauchen wir neue und klare Regeln
für die internationalen Finanzmärkte. Sie haben die
Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Kredite zu überschaubaren und nachvollziehbaren Risiken an die Stellen kommen, wo Investitionen stattfinden. Dafür sorgen sie aber
nicht mehr, wenn wir systematisch das Verstecken, Verbriefen und Auslagern von Risiken bei Banken und Finanzmarktinstitutionen so lange zulassen, bis bei keinem
Institut mehr durchblickt wird, wo genau die Risiken liegen. Das muss sich ändern.
({18})
Eigentlich haben alle begriffen, dass wir neue Regeln für
die internationalen Finanzmärkte brauchen. Auch bei der
Weltbank und dem IWF wird über nichts anderes mehr
geredet, übrigens, Herr Lafontaine, weit mehr als über
Transparenz. Die Einzigen, die es in Deutschland nicht
begriffen haben, sind die Liberalen. Meine Damen und
Herren von der FDP, ich fordere Sie daher auf, aufzuwachen und Vorschläge zu machen.
({19})
Wir müssen selbstverständlich die Finanzmarktaufsicht in Deutschland stärken. Das Aufsichtsstrukturmodernisierungsgesetz muss endlich auf den Weg gebracht
werden. Union und SPD blockieren sich aber gegenseitig bei der Bewertung der Kompetenzverteilung zwischen BaFin und Bundesbank. Wir müssen die Risiken
im Bankensektor auch in Deutschland besser wahrnehmen. Zweckgesellschaften der Banken müssen im Rahmen von Basel II in die Finanzmarktaufsicht einbezogen
werden. Anders geht es nicht.
({20})
Dies muss systematisch sowie mit Ruhe und Kraft geschehen. Sonst kommt nur Unsinn dabei heraus. Die
Hedgefonds und die Private-Equity-Gesellschaften müssen unter die Finanzaufsicht gestellt werden. Sie müssen
weltweit registriert werden. Dabei sind auch viele nationale Fragen zu klären.
Wir müssen die Rolle der öffentlichen Banken in
Deutschland überdenken. Ich frage mich schon lange,
warum Landesbanken in der Weise spekulative Geschäfte auf internationaler Ebene tätigen müssen, wie es
zum Beispiel in Sachsen und bei der West LB geschehen
ist.
({21})
Das ist nicht die genuine Aufgabe der Landesbanken.
Ich erwarte von der Politik Schritte, das zu unterbinden.
Vielleicht hilft es, wenn die Aufsichtsgremien nicht nach
Parteibuch, sondern nach Sachverstand besetzt werden.
Viele Probleme resultieren nämlich daraus, dass die Verwaltungsräte und Aufsichtsgremien nicht entsprechend
agieren.
({22})
Ich komme zum Schluss. Herr Wirtschaftsminister, es
gibt viel mehr zu tun, als zu beschwichtigen. Ich fordere
Sie auf, den Schlafmichel aufzugeben und aktiv eine
vertrauenschaffende Wirtschaftspolitik in Deutschland
zu betreiben. Ihre Abwieglungsreden glaubt Ihnen sowieso niemand mehr.
Vielen Dank.
({23})
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Michael Meister,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir diskutieren über den Jahreswirtschaftsbericht 2008 vor dem Hintergrund der weltwirtschaftlichen
Entwicklung und der aktuellen Börsenentwicklung. Es
gibt aus meiner Sicht zwei wesentliche Punkte, die dazu
beigetragen haben, dass diese Entwicklungen so einsetzen. Das eine ist, dass man nach dem 11. September
2001 versucht hat, mit dem süßen Gift billigen Geldes
konjunkturell wieder Fahrt aufzunehmen. Das andere ist,
dass man auf dieser Grundlage komplexe Finanzprodukte entwickelt hat. Ich möchte massiv davor warnen,
die Probleme, die zum Teil auf billiges Geld zurückzuführen sind, erneut mit billigem Geld lösen zu wollen.
Das führte nur zu neuen Problemen in der Zukunft. Wir
brauchen stabiles Geld. In diesem Zusammenhang
möchte ich der Europäischen Zentralbank ein Kompliment machen; denn sie hat im Zeitraum von ihrer Errich14612
tung bis heute einen Stabilitätskurs, einen für die Finanzmärkte stabilisierenden Kurs und einen Kurs für stabile
wirtschaftliche Rahmenbedingungen verfolgt.
({0})
Ich möchte eine zweite Bemerkung machen. Kollege
Lafontaine hat ja massive Kritik am Bundesfinanzminister geübt. Ich möchte namens meiner Fraktion erklären:
Ich freue mich, dass Herr Steinbrück nach wie vor seine
Verantwortung, die sowohl in puncto Haushaltskonsolidierung wie auch in puncto Herausforderungen durch die
Finanzmärkte schwierig ist, wahrnimmt. Er ist nicht bei
Nacht und Nebel durch die Hintertür vor den Problemen
geflüchtet, sondern er versucht gemeinsam mit der
Koalition, die sich ergebenden Herausforderungen anzugehen.
({1})
Das ist das, was wir von einem verantwortlichen Politiker in diesem Land erwarten: nicht groß reden, sondern
Verantwortung wahrnehmen.
({2})
Wir haben eine Wachstumsprognose von 1,7 Prozent. In dieser Debatte wurden sehr deutlich die Risiken
vorgetragen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Das ist zu Recht geschehen. Ich will allerdings auch
darauf hinweisen, dass die Wachstumsprognose auf Annahmen basiert, die schon von einem Ölpreis von
95 Dollar pro Barrel und einem Leitzins von 4 Prozent
ausgehen. Was ich mit diesen beiden Beispielen sagen
will: Ein Teil der genannten Risiken ist in den Annahmen des Jahreswirtschaftsberichts abgebildet. Deshalb
halte ich die Wachstumsprognose, die hier unterstellt
wird, für einen vernünftigen und realistischen Wert.
Meine Antwort lautet nicht, dass wir in dieser Situation mehr Verteilungspolitik brauchen, wie das heute
Morgen schon verschiedentlich gefordert worden ist.
Meine Antwort lautet an dieser Stelle: Wir müssen die
Wachstumspolitik der vergangenen drei Jahre weiterführen, indem wir bei einem klaren Reformkurs bleiben, für
mehr strukturelles Wachstum in Deutschland sorgen und
damit Wohlstand für alle, Wachstum für alle und Arbeit
für alle in diesem Land schaffen.
({3})
Es gibt auch positive Anzeichen, die man in einer solchen Debatte nicht vergessen sollte: Die Zahl der Auftragseingänge in der Industrie ist im Zweimonatsvergleich um 5 Prozent gewachsen. Wenn man das in
Verbindung mit dem Geschäftsklima sieht, das weiterhin
auf einem ansprechenden Niveau ist, und wenn man
sieht, wie sich der Arbeitsmarkt entwickelt - immerhin
war im vergangenen Jahr bei der Beschäftigung ein Zuwachs von 600 000 Menschen zu verzeichnen, und der
Ausblick zeigt, dass wir auf dem Arbeitsmarkt auch im
laufenden Jahr eine positive Entwicklung haben werden -,
dann ist klar: Es gibt durchaus Anlass zu einem optimistischen Blick auch auf die Binnenkonjunktur.
Deshalb sollten wir das nicht herunterreden, Herr
Kuhn. Sie haben so getan, als würde die Regierung
nichts für die Schaffung von Vertrauen tun. Wir müssen
klarmachen, dass wir ein Konzept haben - das haben
wir; das kommt auch im Jahreswirtschaftsbericht zum
Ausdruck -, dass wir uns nicht durch irgendwelche Tagesmeldungen nervös machen lassen und dass wir unser
Konzept Schritt für Schritt umsetzen. Wenn Sie sich die
Arbeit der Koalition in den letzten beiden Jahren anschauen, dann stellen Sie fest, dass wir unsere Agenda
konsequent abgearbeitet haben. Wir haben nicht ständig
korrigiert, wie Sie das in Ihrer Regierungszeit getan haben. Das schafft Vertrauen, und auf diesem Weg werden
wir weiteres Vertrauen bei den Menschen gewinnen.
({4})
Wir haben, Herr Brüderle, durch Haushaltskonsolidierung, Unternehmensteuerreform und sinkende Lohnnebenkosten strukturelle Vorsorge für eine bessere
Konditionierung des Wirtschaftsstandorts Deutschland
getroffen. Ich wundere mich, wenn Sie hier gegen diese
Punkte polemisieren. Die Unternehmensteuerreform
war nicht nur für die Aktiengesellschaften und GmbHs,
sondern auch für den deutschen Mittelstand.
({5})
Wir haben sowohl bei den Steuersätzen als auch bei den
Ansparmöglichkeiten für neue Investitionen entlastet,
und wir haben bei der Gewerbesteuer dafür gesorgt, dass
die Messzahl sinkt und dass die Anrechenbarkeit auf die
Einkommensteuer verbessert wird. Das sind alles Maßnahmen, die im Mittelstand positiv ankommen. Wir sollten diese Ergebnisse nicht zerreden, sondern den Menschen deutlich machen, dass es an dieser Stelle seit
1. Januar wesentlich bessere Konditionen gibt.
({6})
Es gibt in diesem Haus Stimmen, die sagen, wir sollten jetzt endlich mit den Reformen innehalten. Es gibt
auch Stimmen in diesem Haus, die sagen, wir müssten
vielleicht einen Teil der Reformen wieder zurückdrehen.
Meine Antwort ist: Wir sollten nicht innehalten und
nicht zurückdrehen, sondern wir müssen den Reformweg konsequent weiter vorangehen. Das ist das, was wir
jetzt brauchen; ansonsten geraten wir auf einen Irrkurs.
Unsere Fraktion steht zu weiteren Reformen, nicht zum
Innehalten und nicht zum Zurückdrehen, meine Damen
und Herren.
({7})
Wir halten an dem Ziel der Haushaltskonsolidierung
und des Haushaltsausgleichs im Jahr 2011 fest. Das ist
ein sehr anspruchsvolles Ziel, das wir dort formulieren.
Ich möchte in diesem Zusammenhang sagen: Alle Wünsche nach Mehrausgaben, die gegenwärtig vorgetragen
werden, müssen sich in den nächsten drei Jahren dem
Ziel eines ausgeglichenen Bundeshaushaltes unterordnen.
({8})
Wir müssen auch an dieser Stelle Vertrauen in diesem
Land schaffen. Das gelingt uns, wenn wir das Ziel eines
ausgeglichenen Haushaltes 2011 erreichen.
({9})
Durch unsere Entscheidungen, speziell durch die Absenkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrages, haben
wir die Quote bei den Lohnnebenkosten auf unter
40 Prozent gedrückt. Dieses Ziel, das wir jetzt erreicht
haben, haben wir lange mit vielen harten Entscheidungen angesteuert. Ich will an dieser Stelle sagen: Auch bei
den Entscheidungen, die in diesem Jahr vor uns liegen,
müssen wir darauf achten, dass wir bei den Lohnnebenkosten unter der Grenze von 40 Prozent bleiben. Es steht
noch die Entscheidung über den allgemeinen Beitragssatz in der gesetzlichen Krankenversicherung an. Es
steht eine Entscheidung über die Pflegeversicherung an.
Außerdem steht - hoffentlich - die Entscheidung an, den
Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung weiter zu senken, wenn die Beschäftigungssituation noch besser geworden ist.
In diesem Kontext müssen wir dafür sorgen, dass Arbeit in Deutschland weiterhin günstiger wird und dass
die Menschen netto mehr in der Tasche haben. Das ist
der Effekt von sinkenden Lohnnebenkosten. Dadurch
kommt es zur Teilhabe aller Arbeitnehmer. Das ist eine
Politik, bei der alle vom Aufschwung profitieren.
({10})
Heute Morgen ist auch das Thema Tarifverhandlungen angesprochen worden. Ich würde mir wünschen,
dass wir Tarifautonomie großschreiben würden. Ich
wundere mich darüber, dass zwar die Tarifautonomie im
Grundgesetz vorkommt, die Politik aber bei vielen Gelegenheiten gute Ratschläge erteilt. Uns würde etwas mehr
Zurückhaltung besser anstehen. Trotzdem müssen wir
die Verantwortung derjenigen anmahnen, die die Tarifverhandlungen führen. Sie haben in den vergangenen
Jahren einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass
wir wirtschafts- und arbeitsmarktpolitisch eine solch
tolle Bilanz haben, indem sie vernünftige Tarifergebnisse erzielt haben. Meine Bitte ist, dass sie diesen Weg
der Vernunft gemeinsam weitergehen und ihre Verantwortung wahrnehmen. Damit tun sie den Menschen in
unserem Lande etwas Gutes.
({11})
Es wird suggeriert, dass man für die Sicherheit der
Arbeitsplätze etwas tun könnte, wenn man mehr Sicherheitsregeln und mehr Starrheit ins Arbeitsrecht einbaut.
Meine These ist: Das ist eine Scheinsicherheit. Wenn wir
Arbeitsplätze in Deutschland sicherer machen wollen
und wenn wir mehr Arbeit in Deutschland schaffen wollen, brauchen wir mehr Flexibilität. Durch mehr Flexibilität, aber nicht durch mehr Starrheit bekommen die
Menschen eine größere Chance auf Arbeit. Wenn wir für
die Menschen etwas tun wollen, sollten wir uns darum
bemühen, dass wir an dieser Stelle mehr Flexibilität
schaffen. Das gibt ihnen eine Zukunftsperspektive.
Ein wesentliches Thema, das heute Morgen am Rande
angeklungen ist, ist die Energiepreisentwicklung. Viele
Menschen leiden unter dem Anstieg der Lebensmittelpreise und der Energiepreise. Ich will an dieser Stelle
darauf hinweisen, dass diese Entwicklung auch etwas
mit Angebot und Nachfrage zu tun hat. Die Nachfrage
ist über einen gewissen Zeitraum relativ konstant. Aber
auf der Angebotsseite wird permanent eingegriffen. Deshalb bin ich nicht der Meinung, dass wir Sozialtarife bei
den Energiepreisen brauchen. Wir brauchen vielmehr soziale Energiepreise insgesamt, die wir hinbekommen
können, indem wir die Politik der Angebotsverknappung
beenden.
({12})
Wir brauchen eine Angebotserweiterung; denn die Angebotserweiterung führt zu günstigeren Tarifen für alle.
({13})
Ich bin sehr wohl für den weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien. Ich halte es für verdienstvoll, dass
man nicht nur die Produktion, sondern auch den Grundlastanteil erneuerbarer Energien ausbaut. Ich bin aber
auch der Meinung, dass wir nicht durch Herausnahme
der Kernkraft aus dem Strommarkt und der Grundlast zu
einer Angebotsverknappung kommen dürfen. Denn dadurch greift man den Menschen in den Geldbeutel. Das
kostet die Menschen Wohlstand. Deshalb möchte ich
eine solche Politik, die zulasten der Menschen in unserem Land geht, nicht verantworten.
({14})
Ich freue mich, dass der Bundeswirtschaftsminister in
den vergangenen beiden Jahren eine sehr erfolgreiche
Politik gemacht hat und einen realistischen Kurs bei der
Energiepolitik in Deutschland eingeschlagen hat. Ich
möchte ausdrücklich dafür Danke sagen, dass er nicht
mit zu starken ordnungsrechtlichen Eingriffen, sondern
mit Förderung und Marktanreizen versucht, die Ziele,
die wir uns energiepolitisch und klimapolitisch gesetzt
haben, zu erreichen. Das ist der Versuch, politische Ziele
mit marktwirtschaftlichen Instrumenten in Deutschland
umzusetzen. An dieser Stelle ist er auf dem richtigen
Weg.
({15})
Meine Damen und Herren, wir alle haben in den vergangenen Tagen mit großem Bedauern die Entwicklung
bei Nokia in Nordrhein-Westfalen verfolgt. Ich glaube,
unsere Antwort muss sein, zu versuchen, den Mittelstand
in Deutschland mit seinen Talenten, seinen Fertigkeiten,
seiner Flexibilität zu stärken. Deshalb will ich Ihnen hier
sagen: Wir als Union setzen eine Erbschaftsteuerreform
um, die verfassungsgemäß ist und dafür sorgt, dass mittelständische Unternehmen günstiger an die nächste
Generation weitergegeben werden können; dafür stehen
wir. Damit schaffen wir ein Stück Vertrauen in diesem
Land, und mittelständische Strukturen werden gestärkt.
({16})
Wir sorgen dafür, dass über das Thema Mitarbeiterbeteiligung gesprochen wird. Das stärkt die mittelständi14614
schen Unternehmen, das stärkt die Arbeitnehmer. Wir
wollen ein mittelstandsfreundliches Vergaberecht, wir
wollen den Abbau von Bürokratie, und wir wollen die
Erfolgsgeschichte der Zeitarbeit weiterführen, um auch
dort für mehr Flexibilität zu sorgen.
({17})
Wenn wir das tun, dann werden neue, tragfähige Strukturen errichtet, und dann wird nicht nur über Strukturen
gejammert, die leider momentan in Gefahr sind.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und hoffe,
dass wir gemeinsam tatkräftig an der Umsetzung arbeiten.
({18})
Martin Zeil ist der nächste Redner für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Jahreswirtschaftsbericht trägt die Überschrift „Kurs halten!“. Der Sachverständigenrat sagt über die Politik dieser Regierung:
Es ist keine klare wirtschaftspolitische Strategie
und Richtung erkennbar.
Das ist der Grund, warum viele Menschen gerade im
Mittelstand das Motto „Kurs halten“ eher als Drohung
empfinden.
({0})
Haben Sie denn überhaupt einen Kurs und, wenn ja, einen, der gehalten werden sollte?
Ich nenne ein paar Beispiele: Sie machen ein bürokratisches Gesetz über Mindestarbeitsbedingungen, statt
endlich Barrieren beim Eintritt in den Arbeitsmarkt abzubauen.
({1})
Sie machen ein Steuerrecht, das immer komplizierter
statt einfacher und gerechter wird. Sie haben es ja jetzt
wieder vom Bundesfinanzhof um die Ohren gehauen bekommen: Was Sie machen, ist zum Teil auch verfassungswidrig. Sie treiben die Abgaben und Lohnnebenkosten in
allen Bereichen - Rente, Pflege, Krankenversicherung per saldo in die Höhe, statt sie wirklich spürbar abzusenken. Sie machen eine Unternehmensteuerreform überwiegend auf Kosten des Mittelstandes, Herr Wirtschaftsminister, statt den Mittelstand so zu entlasten, dass er es
auch wirklich merkt.
({2})
Sie legen eine Erbschaftsteuerreform vor, mit der Sie
nicht nur hinter Ihre eigene Koalitionsvereinbarung zurückfallen, sondern die so bürokratisch, so übergabefeindlich, so arbeitsplatzgefährdend ist, dass sie geradezu ein Schlag in das Gesicht der mittelständischen
Familienunternehmen ist.
({3})
Ja, wir sind heute alle durch die Entscheidung von Nokia
betroffen, vor allen Dingen durch die Art und Weise. Wo
aber ist die Glaubwürdigkeit der Regierung bei diesem
Thema, wenn sie ein Vielfaches an Arbeitsplätzen durch
gesetzlich verordnete Mindestlöhne vernichtet?
Das ist nur ein kleiner Ausschnitt aus Ihrem konkreten Regierungshandeln. All das hat mit den Prinzipien
der sozialen Marktwirtschaft, mit dem Mut zu Reformen
nicht das Geringste zu tun. Noch schlimmer: Mit diesem
Zickzackkurs schaden Sie auch der Glaubwürdigkeit von
Politik insgesamt. Nehmen wir nur das Thema Mindestlohn. Ich zitiere den Beschluss des CDU-Parteitages im
Dezember letzten Jahres. Die Überschrift heißt:
Was mit uns nicht zu machen ist
Dann kommt:
Wer Unternehmen zwingen will, einen Lohn zu
zahlen, der nicht zu erwirtschaften ist, der sorgt dafür, dass viele Menschen gar keinen Lohn mehr bekommen. Deshalb wird es mit der CDU Mindestlöhne, die Arbeitsplätze vernichten und Wettbewerb
aushebeln, nicht geben.
Nur eine Woche später hatten wir den ersten Mindestlohn.
({4})
Sie brechen Ihr Wort und erwarten, dass die Menschen
Ihnen noch glauben. Das kann nicht funktionieren und
schafft kein Vertrauen.
Ich möchte noch ein Wort zur aktuellen Diskussion
über Subventionen in Deutschland und Europa sagen.
Wir sollten über einen grundsätzlichen Politikwechsel
nachdenken. Wäre es oft nicht besser, öffentliche Mittel
in den Ausbau unserer Infrastruktur zu stecken und unsere Standorte nachhaltig zu stärken, anstatt eine Ansiedlungspolitik zu treiben, die das Risiko des Verfallsdatums schon in sich birgt?
({5})
Der Bericht, den wir heute debattieren, soll mit schönen Überschriften verschleiern, dass diese Regierung
längst einen Kurswechsel zu mehr Staat und weniger
Marktwirtschaft eingeleitet hat. Damit kann man vielleicht vorübergehend Ängste dämpfen, aber man verspielt damit auch die Zukunftschancen der Menschen.
Soziale Marktwirtschaft heißt Verbindung von Freiheit, Wettbewerb und sozialem Ausgleich. Die soziale
Marktwirtschaft hat sich als einzigartiges Erfolgsmodell erwiesen. Wir können aber die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft nur dann glaubwürdig exportieren
und ihre Beachtung auch von anderen erwarten, wenn
wir sie im eigenen Land nicht ständig mit Füßen treten,
sondern endlich wieder zur Geltung bringen.
Herzlichen Dank.
({6})
Der Kollege Spiller hat nun als Nächster für die SPDFraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir schauen auf ein wirtschaftlich erfolgreiches
Jahr 2007 zurück, das uns die besten Zahlen seit langem
gebracht hat: einen kräftigen Rückgang der Arbeitslosigkeit, eine Zunahme der Beschäftigung insbesondere bei
den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen, eine sehr mäßige Inflationsrate von um die
2 Prozent und einen brillanten Abschluss unserer Leistungsbilanz im Wirtschaftsverkehr mit dem Rest der
Welt. Normalerweise bestünde nur Grund für Zuversicht
und für Zufriedenheit über das Erreichte. Die Auftragsbücher der deutschen Unternehmen sind gut gefüllt, und
die Wettbewerbsfähigkeit ist ungebrochen.
Aber es gibt weltweit und auch bei uns Krisensorgen.
Sie resultieren - Herr Kollege Stiegler hat das am Anfang sehr deutlich dargestellt - aus unverantwortlichem
Handeln bei spekulativen Bankgeschäften. Es ist geradezu bedrückend, dass genau in jenen zwei, drei Jahren,
in denen wir im Deutschen Bundestag, aber auch in vielen internationalen Gremien darüber gesprochen haben,
wie man sicherstellen kann, dass Kreditrisiken besser als
bisher erfasst werden und Banken ein saubereres System
der Risikoabschätzung und der Risikokontrolle einführen - Stichwort: Basel II; das ist, wie ich finde, nach langen Anstrengungen zu einem sehr eindrucksvollen und
guten Ergebnis gebracht worden -, weltweit, aber eben
auch in Deutschland bei den Kreditinstituten eine Welle
des unverantwortlichen Zockens begonnen hat. Wir stehen jetzt in der wirklich bedrückenden Konstellation,
dass die hervorragenden realwirtschaftlichen Grundlagen durch Sorgen in der Finanzwirtschaft gefährdet werden. Dies geht so weit, dass auch die Europäische Zentralbank und die Deutsche Bundesbank abwägen
müssen, ob sie ihre Geldpolitik an den primären Belangen von Geldwertstabilität ausrichten oder ob sie wie die
amerikanische Notenbank sagen, sie müssten für mehr
Liquidität sorgen, um weitere Erschütterungen an den
Finanzmärkten zu vermeiden.
Was ist die Antwort? Was muss man in dieser Situation tun? Alles, was in der Vergangenheit über Deregulierung, lieber Herr Kollege Zeil,
({0})
und die Freiheit der Marktwirtschaft gesagt worden ist,
kann meines Erachtens nicht darüber hinwegtäuschen,
dass es in der Finanzwirtschaft klare Regelungen geben
muss.
({1})
Das fängt nicht mit der staatlichen Aufsicht an, sondern
mit der Leitung der Institute selbst und der Verantwortung des Vorstandes. Die Vorstände müssen sich der Verantwortung dafür bewusst sein, was sie tun, wenn sie die
dritte oder vierte Ableitung von irgendeinem Produkt für
eine risikobewusste Anlage halten. Das setzt auch voraus, dass die vorhandenen Gremien - insbesondere der
Aufsichtsrat - ihre Verantwortung wahrnehmen. Der
Aufsichtsrat hat ein sehr wichtiges Hilfsorgan, nämlich
die Wirtschaftsprüfer. Es ist niederschmetternd, dass bei
jeder größeren Krise eines Unternehmens - insbesondere
bei den Banken - der Prüfungsvermerk des Wirtschaftsprüfers bescheinigt, dass alles in Ordnung ist und die Risiken gut erfasst sind.
Wenn wir zu den Schlussfolgerungen kommen, dann
müssen wir uns also nicht nur mit der Organisation der
Bankenaufsicht in Deutschland befassen, sondern auch
mit den Aufgaben, der Haftung und vielleicht auch den
Möglichkeiten von Wirtschaftsprüfern. Wir müssen auch
zu einer Verbesserung der Bankenaufsicht in Deutschland kommen. Das ist nicht nur eine nationale Aufgabe,
aber jeder muss in dem Bereich anfangen, für den er zuständig ist, und wir sind für die Bankenaufsicht in
Deutschland zuständig.
Die Bankenaufsicht in Deutschland wird seit langem von zwei Institutionen getragen. Die laufende Kontrolle ist Aufgabe der Deutschen Bundesbank. Darüber
hinaus gibt es die BaFin, die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, die aus der Zusammenlegung
der drei Bundesaufsichtsämter für das Kreditwesen, das
Versicherungswesen und den Wertpapierhandel hervorgegangen ist. Die beiden Institutionen, in denen viel
Sachkenntnis vorhanden ist, versuchen zu Recht, sich
möglichst selbstständig über ihre Richtlinien der konkreten Ausführung der Bankenaufsicht zu verständigen.
Aber wir warten jetzt schon eine ganze Weile darauf,
dass diese Verständigung zu einem Ergebnis führt.
Ich erinnere daran, dass es nach dem Kreditwesengesetz möglich ist, dass der Bundesfinanzminister Vorgaben macht oder Beschlüsse fasst. Das mag der Bundesbank nicht recht sein, aber in diesem Bereich ist die
Bundesbank keine autonome Behörde; sie ist an die Regeln des Kreditwesengesetzes gebunden. Auch das ist zu
berücksichtigen, wenn es darum geht, zu einem Ergebnis
zu kommen.
Ich bin sicher, dass wir in den nächsten Monaten zu
einer umfassenden Neuregelung kommen müssen. Auch
der Bundestag wird sich damit befassen müssen; er kann
das nicht ausschließlich der Bundesbank und der BaFin
überlassen.
Erlauben Sie mir noch eine Schlussbemerkung zu der
Eigenverantwortung der Banken. Es gibt die große
Sorge, dass sich die Unsicherheit bis in den Frühsommer
hinein fortsetzt, weil die Hauptversammlungen zum Teil
erst im Mai oder Juni stattfinden. Es wäre angemessen,
wenn die Banken, die derzeit einander misstrauen - es
ist ein Problem, dass die Banken nicht nur bei dem Rest
der Wirtschaft und bei vielen Kunden Vertrauen verloren haben, sondern dass sie auch einander nicht mehr
trauen -,
({2})
zumindest die Termine ihrer Bilanzpressekonferenzen
vorziehen. Es kann nicht sein, dass sich diese Unsicherheit bis in den Frühsommer fortsetzt.
({3})
Laurenz Meyer ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man sich die Debatte heute Morgen anhört, dann
stellt man zunächst fest, dass es wohltuend ist, dass der
Wirtschaftsminister in einer sehr unaufgeregten Art
({0})
die Risiken, die am Horizont sind, behandelt und erklären kann - das unterscheidet uns von Vorgängerregierungen -, dass man sich bei den Prognosen im Jahreswirtschaftsbericht unter Beachtung der Risiken an dem
unteren Ende der heute vorhandenen Prognosen zur
Wirtschaftsentwicklung orientiert hat; denn die Verunsicherung in der Bevölkerung, die wir bisher hatten, lag zu
guten Teilen darin begründet, dass immer wieder nach
unten korrigiert werden musste. Dass die Bundesregierung diesen Weg nicht einschlägt, ist wirklich verdienstvoll. Das schafft Sicherheit über den Kurs und sorgt für
Stabilität.
({1})
Ich verstehe manche Reaktionen zurzeit überhaupt
nicht. Man konnte die Risiken in die Prognosen einbeziehen; denn wer sich als interessierter Laie nur halbwegs mit der Finanzierungssituation am amerikanischen
Immobilienmarkt und mit der Verschuldungssituation
amerikanischer Privathaushalte beschäftigt hat, der
musste wissen, dass das System auf Dauer so nicht funktionieren kann, und der musste froh sein, dass wir in
Deutschland ein solches System nicht haben und es deshalb bei uns solche Vorgänge nicht geben wird.
({2})
Lassen Sie mich an der Stelle zwei Punkte sagen, in
denen ich mich von dem Kollegen Brüderle unterscheide. Er ist gerade nicht da, aber er wird wahrscheinlich noch irgendwo sein.
({3})
Ich sage es trotzdem: Wir brauchen mehr Transparenz
über die Vorgänge an den Finanzmärkten, und die Absicht der Bundesregierung, diese herzustellen, unterstützen wir als Fraktion nachdrücklich.
({4})
Ich sage auch ganz klar zu dem, was er hier etwa zum
Thema Staatsfonds vorgetragen hat: Die FDP sollte in
sich gehen und ihre Haltung überprüfen. Ich sage Ihnen
klipp und klar meine Meinung dazu: Wenn ich will
- möglicherweise im Gegensatz zu der einen oder anderen Fraktion hier im Parlament -, dass sich der deutsche
Staat aus deutschen Unternehmen zurückzieht und keinen politischen Einfluss auf Unternehmensentscheidungen ausübt,
({5})
dann will ich erst recht nicht, dass ausländische Staaten
mit ihren Staatsfonds auf deutsche Unternehmen politischen Einfluss nehmen. Dass wir da Beschränkungen
vorsehen, Grenzen setzen und für Transparenz sorgen
müssen, müsste, so glaube ich, jedem einleuchten, eigentlich auch der FDP, weil sie die Grundannahme teilt.
({6})
Lieber Herr Meyer, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Fricke?
Ja.
Herr Kollege Meyer, es ist immer einfach, wenn man
sich Vorurteile sucht und darauf die Argumentation aufbaut. Ich glaube, wir sind uns vollkommen darüber einig, dass wir nicht wollen, dass irgendeiner aus der Politik - sei er aus dem Binnenland, sei er aus dem Ausland politischen Einfluss nimmt. Dazu will ich fragen: Heißt
das, Sie wollen grundsätzlich nicht, dass ausländische
Fonds, etwa aus Norwegen, sich an deutschen Unternehmen beteiligen, etwa an deutschen Banken, um den Bankenstandort zu sichern? Heißt das, Sie wollen, wenn es
keinen politischen Einfluss gibt - den wollen wir beide
nicht -, die Beteiligung trotzdem nicht, oder sagen Sie:
Wenn es ohne politischen Einfluss geht, dann hätte ich
sie gerne? Diese Differenzierung hätte ich recht gerne.
Das andere wäre mir doch ein bisschen zu einfach.
Es ist klar gesagt worden - das haben wir in der bisherigen Diskussion auch zum Ausdruck gebracht, lieber
Kollege Fricke -: Es geht darum, ob an irgendeiner
Stelle entscheidend Einfluss genommen werden kann.
({0})
Wir wollen Transparenz darüber. Die Frage ist nicht, ob
sich privatwirtschaftlich organisierte Fonds an deutschen
Unternehmen beteiligen - auch da wollen wir Transparenz; wir wollen um die Vorgänge wissen und Kenntnis
davon haben, wer dahinter steht -; vielmehr geht es um
die Frage, inwieweit zum Beispiel Staatsfonds aus Russland, aus China oder aus anderen Ländern hier entscheidend Einfluss nehmen.
({1})
- Norwegen müssen wir nach unserer Rechtslage selbstverständlich genauso behandeln wie andere auch. Wenn es um Staatsfonds geht, sollten ausländische
Staatsfonds, wenn sie denn Anteile in einem Umfang erwerben, dass politischer Einfluss möglich ist, nicht anders behandelt werden als etwa der deutsche Staat und
Laurenz Meyer ({2})
die übrigen EU-Staaten. Anders können wir im Übrigen
gar nicht handeln. Wir müssen die Beteiligung aus Drittländern und die Beteiligung aus EU-Ländern gleich behandeln. Wir würden sonst Vertrauen in unsere Kapitalmärkte zerstören.
Der Kollege Stiegler hat vorhin zur Entwicklung der
Arbeitnehmereinkommen und der Kapitaleinkommen
vorgetragen. Unter Bezugnahme auf die aktuelle Situation könnte man sagen: Lieber Ludwig Stiegler, alles das
ist überholt. Innerhalb von zwei Tagen ist die Statistik,
die Sie hier zitiert haben und aus der hergeleitet wird,
was wir alles tun sollen, hinfällig geworden. Das hat sich
in Wohlgefallen aufgelöst. Innerhalb von zwei Tagen hat
sich das völlig geändert.
({3})
Manch ein Arbeitnehmer wird sich darüber freuen, dass
er ein gesichertes Einkommen hat und nicht von solchen
Einnahmen abhängig ist.
Meine Damen und Herren, liebe Freunde aus dem
Parlament hier, wir müssen uns mit der Grundfrage beschäftigen: Was ist die Lösung - das ist auch von Herrn
Kuhn angesprochen worden -, wenn man feststellt, dass
die Arbeitnehmer netto letztlich zu wenig in der Tasche
behalten?
({4})
Das ist die Frage, die uns am meisten beschäftigt, wobei
ich das eingrenzen will. Ich betone: Wir beschäftigen
uns zu viel, in manchen Bereichen ausschließlich mit der
Situation von Transferempfängern. Die eigentlich Gekniffenen in unserer Bevölkerung, die unsere höchste
Aufmerksamkeit verdienen, sind die Arbeitnehmer, die
kein BAföG mehr bekommen, die keine Energiekostenzuschüsse mehr bekommen, die für sich und ihre Familie
mit ihrem Einkommen selbst sorgen müssen. Das ist die
Gruppe, mit der wir uns beschäftigen müssen.
({5})
- Damit sind wir voll beim Thema.
Dazu haben Sie zwei Lösungswege aufgezeigt. Sie
haben die Progression bei den Sozialversicherungsbeiträgen angesprochen und haben sich zum Mindestlohn
geäußert.
Zunächst zu dem, was Sie zum Mindestlohn gesagt
haben - ich hätte Ihnen gar nicht zugetraut, dass Sie das
hier wirklich vortragen, weil ich Sie für einen intelligenten Menschen halte -: Niemand soll mehr Aufstocker
sein in Deutschland. - Lieber Herr Kuhn, wollen Sie
Mindestlöhne von 12 Euro für eine Familie mit zwei
Kindern? Sie wissen doch - wenn nicht, dann lesen Sie
das bitte in der Studie des IAB über die Zusammensetzung der Gruppe der Aufstocker nach -: Wenn wir von
einem Mindestlohn von 7,50 Euro reden, geht es maximal um 60 000 Arbeitnehmer in Deutschland, und zwar
alleinstehende Vollzeitbeschäftigte. Alle anderen sind
von dieser Diskussion überhaupt nicht betroffen. Der
Sozialminister führt immer die Zahl von 1,2 Millionen
im Munde. Das ist eine Phantomdiskussion. Hier soll etwas geschürt werden, weil man ein bestimmtes politisches Ziel hat.
Wir müssen den Menschen sagen, dass sich in ihrem
Portemonnaie überhaupt nichts ändert, wenn diese Pläne
für einen flächendeckenden Mindestlohn umgesetzt werden. Maximal wird ein Teil der sozialen Transferleistungen, die der Bundesfinanzminister zur Verfügung stellen
muss, gegen einen Teil, der vom Arbeitgeber kommt,
ausgetauscht. Und für dieses Risiko sollen wir den Kollateralschaden von ein paar Hunderttausend wegfallenden Arbeitsplätzen einplanen? Das wird es mit der
Unionsfraktion nicht geben.
({6})
Zu der Ankündigung, dass nach den Tarifverhandlungen bei der Bahn ein Antrag auf Mindestlohn gestellt
werden soll - die Bitte war an Sie, sehr verehrte Frau
Bundeskanzlerin, und Ihre Bundesregierung gerichtet;
ich habe das heute Morgen im Fernsehen gesehen -, will
ich klipp und klar sagen: Es gibt bei der Bahn anders als
bei der Post kein Gesetz, das uns zwingt, irgendwelche
Bedingungen zu schaffen. Wir werden bei der Bahn
nicht bereit sein, die Tarife in einen Mindestlohntarifvertrag zu kleiden; das würde den aufkeimenden Wettbewerb, den es da in Ansätzen gibt, zerstören. Hier soll
Wettbewerb stattfinden. Den werden wir nicht kaputtmachen. Das ist die Meinung der Unionsfraktion; da bin ich
mir ganz sicher.
({7})
Wir müssen hier auch über den zweiten Punkt diskutieren, den Sie, Herr Kuhn, angesprochen haben, nämlich die Sozialversicherungsbeiträge. Da gehen Sie ja einen Schritt weiter als wir. Nach unserer Meinung sollte
man die Krankenversicherungsbeiträge teilweise von
den Arbeitnehmereinkommen abkoppeln. Deshalb unser Vorschlag zur Einführung einer Gesundheitsprämie.
Sozial gestalten könnte man das, indem ein Ausgleich
über steuerfinanzierte Leistungen stattfindet, also eine
Umschichtung in der Form, dass man die für Sozialversicherungssysteme typische Bindung an die Arbeitnehmereinkommen aufhebt und das stärker über Steuern
finanziert. Ich halte das für den richtigen Weg. Wir müssen in diesen Bereichen umschichten, damit insbesondere die, die wenig verdienen, mehr in der Tasche haben.
Der Weg über steuerfinanzierte Leistungen ist da der
richtigere, weil er der sozial gerechtere ist.
Sie schlagen im Kern nichts anderes vor, als eine neue
Steuer für Gesundheit einzuführen; das gilt ja auch für
andere Bereiche wie die Pflege, während Sie bei der
Rente diesen Weg nicht beschreiten wollen. Indem Sie
nun fordern, eine neue Steuer für diesen Bereich einzuführen, gehen Sie noch einen Schritt weiter und treten
für eine völlige Abkopplung ein. Man muss sich da über
die Frage unterhalten - ich halte das für eine spannende
Diskussion -, wie man das machen kann. Sinnvoll erscheint es mir auf alle Fälle, dass der Normalarbeitnehmer nicht mehr alle Rentner und die entsprechenden
Laurenz Meyer ({8})
Ausgaben für Kinder mitfinanzieren muss. Hier hat die
Bundesregierung entsprechende Beschlüsse gefasst. Wir
werden das nach und nach, Schritt für Schritt umsetzen;
denn das ist richtig so.
({9})
Meine Damen und Herren, es ist hier vorgetragen
worden, welche Folgen die Globalisierung im Moment
mit sich bringt. Ich will ganz klar sagen, dass Deutschland zu den Gewinnern der Globalisierung gehört.
({10})
600 000 neue Arbeitsplätze im letzten Jahr - das ist ein
deutlicher Beweis dafür.
({11})
Natürlich müssen wir uns mit dem Problem beschäftigen, dass es die Geringqualifizierten, also diejenigen, die
keinen Schulabschluss oder keine Berufsausbildung haben, in Zeiten der Globalisierung schwerer haben als andere. Darauf müssen wir reagieren und uns über die
Frage unterhalten, wie wir dafür sorgen können, dass die
Arbeitsplätze, die aufgrund der Globalisierung bei uns
gefährdet sind, erhalten werden können bzw. die Arbeitnehmer und ihre Familien genügend Einkommen haben.
Unsere Antwort darauf ist die Sicherstellung eines Mindesteinkommens für jeden in Deutschland unter sozialen
Gesichtspunkten. Ich bitte Sie, lieber Kollege Stiegler,
darüber noch einmal nachzudenken. Dies macht mehr
Sinn, als sich darüber zu beklagen, dass immer mehr Arbeitsplätze abwandern. Das ist einfach eine Tatsache. Da
zieht auch ein Vergleich mit Großbritannien nicht; denn
von London aus kann man zum Beispiel Wäsche nicht
zum Waschen nach Polen schaffen, von Berlin aus aber
jederzeit. Das ist doch der Punkt, auf den wir hinweisen
müssen. Wir werden das immer und immer wieder tun.
Ich habe heute Morgen gelesen, dass der Kollege
Stiegler gestern Abend einen anderen SPD-Politiker als
„Endmoräne des Montanzeitalters“ bezeichnet hat. Dazu
sage ich klipp und klar: In Wahlkampfzeiten nehme ich
es ja noch hin, dass der Kollege Stiegler so etwas sagt.
Aber er ist viel zu intelligent, um nicht zu wissen, dass
das Unsinn ist, was er da vorträgt. Wenn wir uns gemeinsam darum bemühen und es schaffen, dass bis 2020
30 Prozent oder gar - Herr Kuhn, lassen Sie uns einmal
theoretisieren; das halte ich technisch durchaus für möglich - 40 Prozent des Energiebedarfs aus regenerativen
Energien erzeugt werden, dann ist zugleich klar, dass die
anderen 60 Prozent auch irgendwie erzeugt werden müssen; denn ohne ausreichende Energie geht unsere Wirtschaft ein. Zur Deckung dieser 60 Prozent bleiben nur
Kohle und Kernenergie übrig, weil auf zusätzliches Erdgas aus Russland für Kraftwerke niemand in diesem Saal
mehr setzen will. Wer angesichts dieser Situation den
Leuten in Hessen weiszumachen versucht, wir bräuchten
keine neuen Kohlekraftwerke, um die alten zu ersetzen,
und damit eine völlig andere Position als die eigene Partei hier im Bundestag vertritt, der erzählt den Leuten
schlicht und ergreifend die Unwahrheit; denn das ist Unsinn.
({12})
Wer dann noch hinzufügt, sämtliche Alternativenergien,
Wind, Wasser und Sonne, seien umsonst, der soll doch
einfach einen Blick in die Haushaltszahlen für das CO2Programm werfen: Dort sind Milliardenbeträge zur
Finanzierung der Umsteuerung unserer Volkswirtschaft
eingestellt.
Es kommt noch etwas hinzu - lieber Ludwig Stiegler,
ich bitte Sie, ernsthaft darüber nachzudenken -: Technikfeindlichkeit und Angst vor Neuerungen - Chemie, Biound Gentechnik, Energietechnik, all diese Bereiche - sind
in unserem Land weit verbreitet.
({13})
Wir müssen uns aber dazu bekennen, dass Deutschland
ein Industrieland ist und bleiben muss, wenn wir hier
die Dienstleistungen finanzieren wollen, von denen bei
uns in Zukunft immer mehr Menschen leben sollen.
Deshalb müssen wir bereit sein, Neuerungen vorzunehmen. Wir müssen uns darauf einstellen - darauf hat
Frau Merkel schon hingewiesen, bevor sie Bundeskanzlerin wurde -: Da die Erzeugung in unserem Land teuer
ist, müssen wir immer so viel besser sein, wie wir teurer
sind. Das ist ein einfacher Satz; aber er stimmt nach wie
vor und ist nicht umzustoßen. Ich halte manche Argumente, die in den jetzt stattfindenden Wahlkämpfen vorgetragen werden, für sehr gefährlich, weil sie Feindlichkeit schüren.
Ich komme zum Schluss. Um die Debatte komplett zu
machen, Herr Lafontaine - Sie haben einen Kurswechsel
gefordert -: Fragen Sie einmal die 600 000 Menschen,
die im letzten Jahr einen neuen Arbeitsplatz bekommen
haben - manchmal nach Langzeitarbeitslosigkeit -, ob
sie den Kurs wechseln wollen! Ich füge hinzu: Fragen
Sie vor allen Dingen die Leute, die in Bundesländern leben, in denen die PDS oder Die Linke jemals mit an der
Regierung gewesen ist. Überall dort, wo sie mit an der
Regierung war, ging es nach unten und befand man sich
am Ende der Skala; nirgendwo gab es Erfolge. Immer
dann, wenn die Regierung gewechselt hat und Sie aus
der Regierung herausflogen, ist es besser geworden.
({14})
Deswegen sind wir nach wie vor der Überzeugung: Mit
unserem Kurs geht es den Menschen in Deutschland besser, und deshalb wird er fortgesetzt.
({15})
Für die FDP-Fraktion hat nun das Wort die Kollegin
Gudrun Kopp.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen!
Lieber Kollege Meyer, bei Ihnen klaffen Reden und
Handeln völlig auseinander.
({0})
Sie beklagen die Debatte um den Mindestlohn. Dennoch
hat die Union gerade dem Postmindestlohn zugestimmt,
und das trotz der Wettbewerbsnachteile, die für alle
Wettbewerbsteilnehmer damit verbunden sind. Denken
Sie an den Mehrwertsteuervorteil und weitere Vorteile
- Stichwort „Unfallversicherung“ -, durch die die Deutsche Post AG privilegiert ist und bleibt.
Sie wundern sich, dass auch an anderen Stellen Debatten aufkommen und Begehrlichkeiten geweckt werden, Stichwort - Sie haben es eben genannt - „Deutsche
Bahn“, das Quasistaatsunternehmen. Schauen Sie doch
einmal nach Großbritannien: Die Bahn hat dort gerade
eine Regionalbahn im Wert von 200 Millionen Euro gekauft. In Großbritannien wird Offenheit praktiziert. Sie
hier in Deutschland denken dagegen darüber nach, das
Außenwirtschaftsgesetz dahin gehend zu ändern, dass
sensible Infrastruktur künftig durch Staatsfonds und
staatliche Beteiligungen vor Einflussnahme geschützt
wird. An dieser Stelle haben Sie also einen völlig anderen Weg eingeschlagen.
({1})
Wir haben in der Tat eine Vertrauenskrise in verschiedenen Bereichen - der Kollege Brüderle hat es heute
Morgen hier sehr deutlich gesagt -: bei den Banken, in
der Energiewirtschaft und auch, wie der Fall Nokia
zeigt, im Telekommunikationssektor. Ich als NordrheinWestfälin möchte ausdrücklich sagen: Wir prangern die
mangelnde Kommunikation in dieser Sache an, und wir
nehmen die Ängste und Nöte der Menschen sehr ernst.
Es ist aber nicht zu akzeptieren, dass hier einige durch
Boykottaufrufe Symbolpolitik zu betreiben versuchen.
Ich halte das für in größtem Maße unseriös. Wir müssen
über politische Handlungen nachdenken und darüber, ob
wir an bestimmter Stelle noch richtig aufgestellt sind.
({2})
Ich will etwas vertiefen, was auch der Kollege Zeil
eben angesprochen hat, nämlich unsere Förderpolitik.
Als Beispiel nenne ich die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, die in den
letzten fünf Jahren mit 4,4 Milliarden Euro ausgestattet
war. Wir müssen überlegen, ob wir an dieser Stelle richtig handeln. Der Bericht des Bundesrechnungshofs stellt
richtigerweise dar, dass erstens der Einsatz dieser Bundesmittel unzureichend kontrolliert wird, zweitens das
Parlament über die Wirkung der Fördermittel unvollständig informiert wurde und wird sowie drittens die Angaben der Länder über neugeschaffene Dauerarbeitsplätze überhaupt nicht vorliegen. Für mich ist völlig klar,
dass wir uns mit folgenden Fragen auseinandersetzen
müssen: Was nützen Förderungen eigentlich? Sind sie
nicht eher wettbewerbsfeindlich? Bringen sie die Strukturen nicht eher durcheinander, als dass sie hilfreich
sind? Darüber müssen wir natürlich diskutieren. Die
GA-Fördermittel werden ohne Prüfung einer wirtschaftlichen Bedürftigkeit des Empfängers verteilt. Diese Mittel werden ausschließlich eingesetzt, um in strukturschwachen Regionen Unternehmen anzulocken. Wenn
das der einzige Grund ist, hat diese Förderung kein tragfähiges Fundament. Ich fordere insbesondere die Große
Koalition auf, sich hierüber Gedanken zu machen. Wir
jedenfalls tun das und fordern ein entsprechendes Handeln von Ihnen ein.
Lieber Kollege Stiegler, ich möchte auf Sie zu sprechen kommen.
({3})
- Ich habe Sie gesehen. - Ich bitte Sie, in Sachen Energiepolitik seriös und wahrheitsgemäß zu argumentieren.
71 Prozent der Stromproduktion werden im Augenblick
aus Kernenergie und Kohle gewonnen: 27 Prozent aus
Kernenergie und 44 Prozent aus Kohle. Diese Zahl wird
nach neuesten Gutachten bis zum Jahr 2020 in etwa bestehen bleiben. Sie haben Herrn Clement angeprangert,
weil er darauf hingewiesen hat, dass es eine unseriöse
Aussage Ihrer Kollegin in Hessen zum Thema Energiepolitik gibt, weil er darauf hingewiesen hat, dass die Lücke in der Stromproduktion nicht allein durch den Einsatz erneuerbarer Energien zu füllen ist - ganz zu
schweigen von den Energiepreisen und der Frage der
Versorgungssicherheit.
Frau Kollegin, darf ich Sie an Ihre Redezeit erinnern?
Letzter Satz. - Es ist unseriös, wenn Sie der Bevölkerung weismachen wollen, das sei tatsächlich leistbar. Ich
bitte Sie wirklich, in sich zu gehen, seriös zu argumentieren und den Energiestandort Deutschland nicht auf ein
unsicheres Fundament zu stellen.
Vielen Dank.
({0})
Nun hat noch einmal der Kollege Ludwig Stiegler das
Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Kollege Laurenz Meyer hat wie in alten Zeiten, als wir
noch gegeneinander arbeiten durften, meinen Adrenalinspiegel erhöht.
({0})
- Nein, wir arbeiten jetzt gut und freundschaftlich zusammen. Wir kommen zwar von unterschiedlichen
Ufern, aber wir finden immer wieder Brücken, und seien
es Pontonbrücken.
({1})
Da, wo die Liberalen sich scheuen, gehen der Meyer und
ich hinüber. Wir kommen schon ans Ufer.
Frau Kopp, Sie verbreiten hier Unwahrheiten über die
hessische Energiepolitik. Hier wird unterstellt, Andrea
Ypsilanti oder Hermann Scheer hätten gesagt, sie wollten alles mit erneuerbaren Energien machen. Die Wahrheit ist, dass sie auf Kraft-Wärme-Kopplung setzen - auch
und gerade aufbauend auf Kohlebasis - und wir als SPD
hinterher sind, dass die Unternehmen gerade in einem
dicht besiedelten Land wie Hessen, wo es Wärmesenken
genug gibt, das Thema Kraft-Wärme-Kopplung angehen. Wir setzen nicht auf Riesenkraftwerke, sondern gehen die Dezentralisierung an. Hessen wird mit dieser
Energiepolitik nicht schlechter dastehen, sondern besser.
Es wird regionale Arbeitsplätze und regionale Wertschöpfung haben, was es heute so nicht hat. Deshalb sind
die Vorwürfe an Andrea Ypsilanti und Hermann Scheer
falsch.
({2})
Die hessische SPD steht für Hessen als ein Industrieland.
Der Kollege Meyer hat erklärt, er mache sich wegen
der Technologiefeindlichkeit Sorgen. Es gibt keine bessere Hochtechnologie als die erneuerbare Energie.
({3})
Die Energie, genauer gesagt, die Primärenergie, ist zwar
umsonst. Aber wir wissen natürlich, dass wir Intelligenz
und Geld investieren müssen, damit wir die in Überfülle
vorhandene erneuerbare Energie nutzen können. Hermann
Scheer hat eindrucksvoll nachgewiesen, dass Roland
Koch mit seiner Sturheit, etwa gegen die Windenergie,
sehr viele Entwicklungschancen für Hessen verpasst hat.
Hessen zahlt für Energie von außen, statt die eigenen
Kräfte zu nutzen. Deshalb ist die Energiepolitik der hessischen SPD gut aufgestellt.
Herr Riesenhuber, Sie müssen keine Angst haben,
dass die von Ihnen kontrollierten Unternehmen ohne
Stoff dastehen.
({4})
Diese werden weiter - das sieht man schon jetzt in Hessen-Süd - ihre Energie aus Bayern kaufen. Es ist interessant, dass die CSU zwar manchmal von erneuerbarer
Energie spricht und sich dabei wie Laurenz Meyer anhört. Aber in der alltäglichen Praxis geht sie den Pakt
mit dem Teufel durchaus ein und nutzt die Möglichkeiten der erneuerbaren Energien. Fliegen Sie einmal über
Bayern. Die bayerischen Landwirte sind in Sachen Solarenergie und Biogasanlagen in Deutschland führend.
Ich sage Ihnen: Die Vorwürfe, die Wolfgang Clement,
der aufgrund seiner NRW-Vergangenheit an Großkraftwerken hängt - allerdings reden wir über Hessen und
nicht über NRW -, gegen die hessische SPD erhoben
hat, sind und bleiben unberechtigt. Wir können sie zurückweisen. Der Kurs der SPD in der hessischen Energiepolitik, die ab Sonntag eine Mehrheit vom hessischen
Volke haben wird,
({5})
sichert Hessen auch in Zukunft eine Energieversorgung
ohne Atomkraft und damit in Frieden mit der Natur. Das
gönne ich den Hessen; denn Hessen muss vorn bleiben.
({6})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Meyer? Sie haben eben so schnell ohne Punkt
und Komma geredet, dass ich Sie nicht unterbrechen
wollte.
Das ist zwar gefährlich, aber ich wage es einmal.
Herr Kollege Meyer, bitte sehr.
({0})
Technikfeindlichkeit, darüber haben wir gerade gere-
det!)
Ich stelle so selten Zwischenfragen. - Herr Kollege
Stiegler, wir sind doch über die Ziele beim Ausbau der
regenerativen Energien einer Meinung. Darüber gibt es
keinen Streit. Habe ich Sie richtig verstanden - so wie
Sie das vorgetragen haben, fand ich das sehr amüsant -,
dass wir der regenerativen Energie, die eigentlich umsonst ist, mit sehr viel Geld zum Durchbruch verhelfen
müssen? Ist es Ihre Diktion, dass diese Energieform eigentlich umsonst ist, wir ihr aber doch mit viel Geld auf
die Beine helfen müssen?
Eine zweite Frage: Sind Sie mit mir der Meinung,
dass im Vergleich zu den Mitteln, die wir dafür einsetzen
müssen, selbst die Subventionen für die deutsche Steinkohle eine relativ wirtschaftliche Angelegenheit waren?
Die Sonne scheint umsonst. Aber damit wir sie nutzen
können, müssen wir Geld und Intelligenz - so habe ich
das gesagt - einsetzen. Das schafft Arbeitsplätze in Hessen und sichert auf lange Zeit die Energie, weil die
Sonne erst dann versiegt, wenn wir alle schon dahin
sind. Diese Energiequelle sollten wir nutzen.
({0})
Genau das macht die hessische SPD.
Wer sich anschaut, wie sich die Kosten für die erneuerbaren Energien und wie sich die Energiepreise für die
fossilen Energieträger entwickeln, der wird sehen, dass
es nicht zu der von Ihnen befürchteten finanziellen Überforderung kommen wird. Das ist immer ein Rechenwerk
für sich. Jeder rechnet sich nach Belieben reich oder
arm.
Die hessische SPD hat ein Konzept vorgelegt, mit
dem der hessischen Industrie Versorgungssicherheit gewährt wird und der hessischen Bevölkerung Arbeitsplätze gesichert werden. Damit wird insgesamt eine
nachhaltige Energieversorgung ohne Atomkraft begründet. Das sollte uns alle Anstrengungen wert sein.
Glück auf!
({1})
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Kopp?
Ja.
Bitte sehr, Frau Kopp.
Danke schön. - Herr Kollege Stiegler, gehen Sie davon aus, dass die gesamte Energieversorgung für Hessen
ohne den Einsatz von Großkraftwerken sichergestellt
werden kann? Denn darum geht es gerade.
Es geht um Folgendes: Wir haben in Hessen Großkraftwerke, und es geht um den verstärkten Ausbau der
Kraft-Wärme-Kopplung. Die Kraft-Wärme-Kopplung
hat, wie wir wissen, eine hohe Effizienz. Sie kann die
notwendigen Bedarfe decken. Es stellt sich die Frage:
Will man das? Die Großkraftwerke haben, weil die Wärmesenken nicht in der Nähe sind, in aller Regel nicht
diese Effizienz. Deshalb ist der hessische Weg, auf erneuerbare Energien, auf Kraft-Wärme-Kopplung und auf
Energieeffizienz zu setzen, auf Dauer effizienter, billiger, wirtschaftlicher und sicherer. Darum haben die Hessen am Sonntag eine gute Wahl.
({0})
- Dass Sie das nicht hören wollen, ist klar. Man kann einem Ochsen ins Ohr petzen. Wenn er es nicht hören will,
kann auch ich es nicht ändern.
({1})
Aber so ist die Situation. Sie sind hier verblendet. Sie
werden sehen, dass Sie, wenn Andrea Ypsilanti in den
nächsten Jahren ihre Politik entfaltet, sagen werden: Ui,
das hätte ich nicht gedacht. Wir sagen: Die, die vom Irrtum zur Wahrheit reisen, das sind die Weisen. Die, die
im Irrtum verharren, das sind die Narren.
Danke.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7845 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b
auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten
Gesetzes zur Änderung des Steuerberatungsgesetzes
- Drucksachen 16/7077, 16/7485 - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Änderung des Steuerberatungsgesetzes
- Drucksache 16/7250 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksache 16/7867 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Leo Dautzenberg
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({1}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Christine Scheel,
Kerstin Andreae, Dr. Gerhard Schick, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Steuerberatung zukunftsfähig machen
- Drucksachen 16/1886, 16/7867 Berichterstattung:
Abgeordnete Leo Dautzenberg
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe
und höre dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so
verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort für die Bundesregierung der Frau Parlamentarischen Staatssekretärin Nicolette Kressl.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Parlament wird heute - die Mehrheit vorausgesetzt einen Gesetzentwurf verabschieden, der nach langer
Diskussion nun doch noch zu einem sehr guten Ergebnis
führt. Das Gesetz zum Berufsrecht der steuerberatenden
Berufe wird nicht nur europäische Vorgaben umsetzen,
sondern zusätzlich ein weiteres Stück frischen Wind - so
nenne ich es einmal - in dieses Berufsrecht bringen.
({0})
Es ist gelungen, die ursprüngliche Zielsetzung der
Bundesregierung, das Berufsrecht der steuerberatenden
Berufe zu liberalisieren, erfolgreich umzusetzen. Besonders erfreulich ist dabei, dass wir nach den konstruktiven
Beratungen im Finanzausschuss - so habe ich es empfunden; ich darf den Kolleginnen Westrich und Tillmann
danken - heute ein Gesetz verabschieden werden, das in
wesentlichen Teilen nicht nur die Zustimmung des Deutschen Bundestages, sondern auch der betroffenen Berufsverbände findet. Es ist immer wichtig, dass wir ein
Stück Akzeptanz erreichen.
Der Gesetzentwurf hat im Wesentlichen drei Schwerpunkte: die Liberalisierung des Berufsrechts der steuerberatenden Berufe, die Umsetzung der entsprechenden
europäischen Richtlinie und die Neuorganisation der
Steuerberaterberufe. Lassen Sie mich auf einige Aspekte
etwas näher eingehen.
Es ist endlich gelungen - das hat, wie ich finde, die
Zustimmung des ganzen Ausschusses gefunden -, die
Zulassung des sogenannten Syndikus-Steuerberaters
durchzusetzen. Das wird vielen Unternehmen erleichtern, steuerlichen Sachverstand zu rekrutieren. Steuerberater erhalten die Möglichkeit, sich zukünftig auch in der
Rechtsform der GmbH und Co. KG zusammenzuschließen, Kooperationen mit partnerschaftsfähigen Berufen
einzugehen und Bürogemeinschaften mit Lohnsteuerhilfevereinen zu bilden. Die Steuerberaterkammern erhalten die Möglichkeit, Ausnahmen vom Verbot gewerblicher Tätigkeiten von Steuerberatern zuzulassen, wenn
dadurch - das betone ich ausdrücklich - keine Verletzung von Berufspflichten zu befürchten ist. Die bewährte Arbeit der Lohnsteuerhilfevereine wird durch die
im Gesetzentwurf enthaltenen Regelungen, insbesondere
die Anhebung der Beratungsgrenzen, die im Laufe der
Beratungen noch ein Stück höher angesetzt worden sind,
auch für die Zukunft gesichert.
Was sicherlich und nicht erst seit dieser Gesetzesberatung heiß umstritten war: Buchhalter, geprüfte Bilanzbuchhalter und Steuerfachwirte erhalten keine weitergehenden Befugnisse als im bisherigen Recht. Immerhin:
Es wird zu einer Neufassung ihrer Werbebefugnisse
kommen. Wir gehen davon aus, dass es dadurch viel weniger standardisierte Abmahnungen geben wird. Das ist
für die Betroffenen sicherlich eine Erleichterung. In Zukunft sollen allein die Grundsätze des für alle Gewerbetreibenden geltenden Gesetzes gegen den unlauteren
Wettbewerb Anwendung finden.
Ich will noch kurz auf den Bundesrat zu sprechen
kommen; denn uns ist wichtig, dass wir in dieser Frage
zusammenzuarbeiten. Die Fraktionen haben im Finanzausschuss einen Kompromiss zur Durchführung der
Steuerberaterprüfung gefunden. Wir sind davon überzeugt, dass er den berechtigten Interessen der Finanzverwaltung, aber auch denen des Berufsstandes Rechnung
trägt. Die Qualität der Steuerberaterprüfung bleibt erhalten. Staatlichkeit und Bundeseinheitlichkeit werden gewährleistet. Die Finanzverwaltung wird von ihren Aufgaben bei der Abwicklung der Steuerberaterprüfung
entlastet. Die Bundesregierung ist der Meinung: Dieser
Kompromiss ist fachlich sinnvoll, und es gibt für uns guten Grund, anzunehmen, dass diese Regelung auch die
Zustimmung des Bundesrates finden wird.
Zusammengefasst: Wir beschließen heute einen weiteren sinnvollen Schritt zur Modernisierung des Berufsrechts. Es wäre gut, wenn dieser Schritt anschließend mit
so viel parlamentarischer Unterstützung wie möglich beschlossen werden könnte.
Vielen Dank.
({1})
Nächster Redner ist nun der Kollege Dr. Volker Wissing für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich kann Ihnen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen
von der Großen Koalition, attestieren: Ihr Gesetzentwurf
ist nicht ganz schlecht.
({0})
Zumindest ist er nicht so schlecht, dass man ihn durchweg ablehnen müsste. Ich übersehe nicht, dass Sie mit
Ihrem Gesetzentwurf einen relevanten Beitrag zur Modernisierung eines wichtigen Berufsstandes leisten wollen. Ja, man findet darin sogar Schritte der Liberalisierung, zum Beispiel die Einführung des SyndikusSteuerberaters; das begrüße ich ausdrücklich. Sie dürfen
auch klatschen, wenn Sie einmal gelobt werden.
({1})
Das gilt übrigens auch für die SPD; denn an dieser Stelle
lobe ich auch Ihre Staatssekretärin.
Bevor ich auf die Punkte, die kritisch zu bewerten
sind, zu sprechen komme, möchte ich auf einige positive
Aspekte eingehen. Wir begrüßen die Übertragung der
Steuerberaterprüfung auf die Kammern. Auch die gesetzliche Regelung der Fortbildung begrüßen wir. Diese
Punkte sind in diesem Hause erfreulicherweise weitgehend Konsens. Ich glaube, das ist ein gutes Zeichen.
Wie gesagt, ist Ihr Gesetzentwurf nicht ganz schlecht.
In einem wichtigen Punkt hätte er sich aber noch verbessern lassen: hinsichtlich der Zulassung von Bürogemeinschaften von Steuerberatern und Dritten. Dazu hat
die FDP dem Ausschuss einen Änderungsantrag unterbreitet, den Sie leider abgelehnt haben. Ich sage „leider“,
weil es hierbei um einen wirklich wichtigen Bereich
geht, nämlich um die datenschutzrechtlichen Interessen
der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.
Sie wollen zulassen, dass Vereine, die zum Teil noch
nicht einmal einer gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht
unterliegen, künftig eine Bürogemeinschaft mit Steuerberatern eingehen können. Sie wollen, dass die Akten
der Steuerzahler künftig in Bürogemeinschaften verwaltet werden, für die nur noch zum Teil das Beschlagnahmeverbot und das Zeugnisverweigerungsrecht gelten.
Sie wollen, dass Mitarbeiter von Vereinen der Land- und
Forstwirtschaft in einer Bürogemeinschaft mit Steuerberatern arbeiten. Diese Mitarbeiter könnten mit sensiblen
Daten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Berührung kommen, obwohl sie nicht einmal einer gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht unterliegen. Die Frage,
wie dabei die schutzwürdigen Interessen der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler gewahrt bleiben sollen, lassen
Sie unbeantwortet.
({2})
Das bedauert die FDP außerordentlich.
({3})
Es wäre konsequent gewesen, wenn Sie zumindest
eine Hinweispflicht eingeführt hätten. Sonst sind Sie
überall für Hinweispflichten. Auch hier hätten Sie zumindest die Hinweispflicht einführen können, dass der
Datenschutz in solchen Bürogemeinschaften künftig
nur noch eingeschränkt gewährleistet ist. Dann würde jeder Mandant wissen: Wenn ich zu einem Steuerberater
gehe, der in einer Bürogemeinschaft tätig ist, dann muss
ich damit rechnen, dass in dieser Bürogemeinschaft auch
solche Personen mit meinen Daten in Kontakt kommen
können, die keiner gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht unterliegen und für die Beschlagnahmeverbot
und Zeugnisverweigerungsrecht nicht gelten. Das ist für
mich ein wichtiger Aspekt des Verbraucherschutzes, den
Sie einfach ausgeklammert haben.
Die Grünen halten all das sowieso für überflüssig. Sie
beschäftigen sich mit Fragen des Datenschutzes im Bereich des Steuerrechts schon lange nicht mehr.
({4})
- Als es um die Abschaffung des Steuergeheimnisses
ging, haben Sie kräftig mitgemacht, Frau Scheel.
({5})
Wenn man es mit dem Verbraucherschutz ernst meint,
hätte man an dieser Stelle etwas tun müssen. Die Große
Koalition hat das gläserne Konto, den gläsernen Computer geschaffen. Datenschutz spielt für Sie - was Sie hier
zeigen, ist mehr als eine Tendenz - im Steuerrecht bestenfalls die Rolle eines Stiefkindes.
Besonders ärgerlich ist, dass Sie mit zweierlei Maß
messen: Bei der Verabschiedung des Rechtsdienstleistungsgesetzes hat die Große Koalition die Möglichkeit
der Bildung von Bürogemeinschaften für Rechtsanwälte,
Patentanwälte und Notare auf eng begrenzte Berufsgruppen beschränkt. Hier verabschiedet die gleiche Koalition
das Gegenteil. Logisch ist das nicht, und es ist auch nicht
im Interesse der Bürgerinnen und Bürger, die ihren Steuerberatern ja Einblick in sehr sensible Daten geben müssen.
({6})
Ihr Gesetzentwurf mag gegenüber der bisherigen
Rechtslage viele Verbesserungen enthalten; in Sachen
Datenschutz hätten Sie besser auf die FDP gehört und
unserem Antrag zugestimmt.
({7})
Dann wäre der Entwurf an dieser Stelle um einiges besser. Wir machen doch nicht Gesetze für die Verwaltung,
wir machen Gesetze für die Bürgerinnen und Bürger. Ich
kann verstehen, dass das Steuergeheimnis für den Staat
und die Verwaltung immer wieder störend sein mag. So
überrascht es nicht, dass wir vom BMF im Ausschuss
gehört haben, dass das alles völlig unproblematisch sei
und dass man nicht nachvollziehen könne, was die FDP
da bemängele. Nicht nachzuvollziehen ist ganz im Gegenteil, dass Sie als Große Koalition in diesem Parlament die Interessen der Bürgerinnen und Bürger nicht
verteidigen. Darum ging es bei unserem Änderungsantrag. Für die Menschen sind die datenschutzrechtlichen
Belange enorm wichtig, und es ist unsere vornehmste
Aufgabe hier im Parlament, diese Dinge zu verteidigen.
Die Große Koalition hat es bisher nicht fertiggebracht, auch nur ein Gesetz zu verabschieden, das die
Rechte der Bürgerinnen und Bürger im Bereich des Datenschutzes verbessert. Hier hätten Sie erneut eine
Chance gehabt. Sie haben sie vertan. Ich bedauere das,
gestehe aber ein, dass das Gesetz unter dem Strich viele
Verbesserungen bringt. Ich habe schon eingangs die Liberalisierungsbestrebungen erwähnt. Schade, dass Sie
auf unsere Verbesserungsvorschläge nicht eingegangen
sind, vielleicht beim nächsten Mal.
({8})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin
Antje Tillmann das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Sehr geehrte Zuhörer! Nach jahrelangen Bemühungen haben wir heute die Möglichkeit, die
Verhandlungen über die Änderung des Steuerberatungsgesetzes zu einem guten Ende zu führen. Wir haben in
den Finanzausschussberatungen und in den Anhörungen
Kompromisse gefunden, bei denen selbst die Opposition
eingesteht, dass das Gesetz, das wir heute vorlegen,
„nicht ganz schlecht ist“. Das spricht für dieses Gesetz.
Die Bedenken, die Sie haben, Herr Dr. Wissing, teilen
wir nicht; ich werde gleich darauf eingehen.
({0})
Es ist uns gelungen, Verbesserungen für alle Berufsverbände durchzusetzen. Wir haben Anliegen aufgegriffen, die von den Einzelverbänden seit Jahren angemahnt
wurden. Ich glaube, es liegt ein Gesetz vor, das von ei14624
nem guten Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessen geprägt ist. Insbesondere bringt das Gesetz
Verbesserungen für die ratsuchenden Bürgerinnen und
Bürger. Der Datenschutz ist natürlich ein wichtiges Anliegen; dem tragen wir aber durchaus Rechnung.
Wir haben die gesetzlichen Vorgaben aus der EU-Berufsqualifizierungsrichtlinie umgesetzt und die Verfahren an den Bologna-Prozess angepasst. Darüber hinaus
haben wir Anliegen der Berufsverbände aufgegriffen, so
die Einführung des Syndikus-Steuerberaters. Wir alle
wissen, dass die Steuerberater seit langem darum bitten,
ihren Titel, wenn sie eine Angestelltentätigkeit aufnehmen, weiterführen zu dürfen. Das wird mit diesem Gesetz möglich. Ich bitte Sie dringend, den Weg dafür freizumachen.
({1})
Eine Liberalisierung ist insofern durchgesetzt, als Kooperationen mit anderen freien Berufen zulässig werden:
Steuerberater dürfen demnächst mit Ärzten, Wirtschaftsprüfern und Architekten zusammenarbeiten. Auch diese
Berufe haben kein Zeugnisverweigerungsrecht, zumindest was die Architekten anbetrifft; doch da hat die FDP
keine Sorgen gehabt, dass der Schutz der Mandanten
nicht gewährleistet sein könnte.
Wir haben andere Rechtsformen für Steuerberatungsgesellschaften zugelassen. Es kann nämlich nicht unsere
Aufgabe sein, zu reglementieren. Wir vertrauen darauf,
dass die Berufsstände ihre Pflichten so organisieren,
dass der Schutz der Mandanten sichergestellt ist.
Wir haben eine Fortbildungspflicht für Steuerberater
in das Gesetz aufgenommen. Das ist uns wichtig, weil
das zur Qualitätssicherung beiträgt. Und die Qualität ist
die Rechtfertigung dafür, dass wir zum Beispiel in der
Frage der Erweiterung der Befugnisse der Bilanzbuchhalter zurückhaltend reagiert haben. Wir wollen, dass die
Beratung mit einem sehr hohen Qualifizierungsgrad erfolgt. Deswegen haben wir hier auch die gesetzliche Verpflichtung eingeführt.
Erst in den Beratungen nach der Anhörung und mit
den Betroffenen ist uns eine Lösung hinsichtlich der
Steuerberaterprüfung gelungen. Hier weichen wir sowohl vom Regierungsentwurf als auch vom Bundesratsentwurf ab. Beide Seiten haben aber signalisiert, dass sie
mit diesem Kompromiss gut leben können. Uns ist wichtig, dass die Steuerberaterprüfung staatlich bleibt und
dass es eine einheitliche schriftliche Prüfung gibt. Selbst
die Kammern weisen darauf hin, dass es nötig ist, dass
diese Prüfung auch von den Finanzministerien legitimiert wird, weil bei einer hohen Durchfallquote, wie sie
bei den Steuerberaterprüfungen üblich ist, natürlich sehr
schnell der Verdacht aufkommt, man wolle sich unliebsame Konkurrenz vom Hals halten. Das ist nicht der
Fall. Wir werden diese staatliche Prüfung weiter forcieren und den Ländern trotzdem die Möglichkeit geben,
sich von unnötigen Verwaltungsaufgaben zu befreien.
({2})
So weit zu den Verbesserungen für die Steuerberater.
Auch die Lohnsteuerhilfevereine haben natürlich die
Gelegenheit genutzt, uns ihre Sorgen mitzuteilen. Wir
haben noch einmal auf die Anhörung reagiert und in vielen Punkten den vorgetragenen Anliegen aus der Anhörung Rechnung getragen.
Schon im Gesetzentwurf war ja eine Befugniserweiterung - Frau Staatssekretärin hat darauf hingewiesen für Lohnsteuerhilfevereine enthalten, zum Beispiel aufgrund der Veränderung des Gemeinnützigkeitsgesetzes,
aber auch der Änderungen bei der Kinderbetreuung.
Gleichzeitig haben wir die Beratungsbefugnis für Lohnsteuerhilfevereine hinsichtlich der anderen Einkünfte
- außer Einkünfte aus nichtselbstständiger Tätigkeit erweitert, indem wir die Einnahmegrenze von bisher
9 000 und 18 000 Euro auf 13 000 und 26 000 Euro erhöht haben.
Das war ein wesentliches Anliegen der Lohnsteuerhilfevereine und ist auch im Sinne der Mandanten, weil
es immer wieder vorkommt, dass Mandanten aufgrund
der Einkommensschwankungen und der entsprechenden
Befugnis zwischen Lohnsteuerhilfevereinen und Steuerberatern hin und her gehen müssen. Wir wollten die
Möglichkeit geben, sich langfristig nur einer Vertrauensperson zu öffnen.
({3})
Herr Dr. Wissing, dem gleichen Ziel, nämlich dem Interesse der Mandanten und nicht dem Interesse von Steuerberatern oder Lohnsteuerhilfevereinen, dient auch die
Möglichkeit, Bürogemeinschaften zu bilden. Denn es
ist wichtig, dass ein Berater auch die vorangegangene
Beratungspraxis kennt. Deshalb lassen wir Bürogemeinschaften zwischen Lohnsteuerhilfevereinen und Steuerberatern zu, aber selbstverständlich nur unter der Voraussetzung, dass der Datenschutz gewahrt ist und dass die
Mandantenrechte geschützt werden. Das ist möglich.
Die Berater können das so organisieren, dass diese
Rechte geschützt bleiben.
({4})
Damit aber nicht genug: Die Kammern und die Finanzministerien haben eine Aufsichtspflicht.
Das ist für die Berater auch nur ein Angebot. Die Berater, die ihre Meinung teilen und es für schwierig halten, den Mandantenschutz zu sichern, sind ja nicht
gezwungen, in einer solchen Bürogemeinschaft aufzugehen. Ich weiß, dass die Kammern eher zurückhaltend
darauf reagieren. Sie werden in ihren Berufsordnungen
mit Sicherheit sicherstellen, dass der Mandantenschutz
gewahrt bleibt.
({5})
Bei den Lohnsteuerhilfevereinen haben wir darüber
hinaus der Tatsache Rechnung getragen, dass wir mit der
Unternehmensteuerreform zum 1. Januar 2009 die Abgeltungsteuer eingeführt haben. Durch die Abgeltungsteuer werden die meisten Kapitaleinkünfte gar nicht
mehr erklärungspflichtig. Wir wollen vermeiden, dass
Mandanten nur deshalb diese Kapitaleinkünfte erklären
müssen, um beim Lohnsteuerhilfeverein beratungsfähig
zu sein. Deshalb sagen wir: Solange die Kapitaleinkünfte der Abgeltungsteuer unterliegen, fallen sie nicht
unter die Höchstgrenze bei den „anderen“ Einkünften.
Erst dann, wenn der Mandant von dem Veranlagungswahlrecht Gebrauch macht, sind die Grenzen einzuhalten, sodass es dann durch eine Beratung des Steuerberaters gegebenenfalls zu einer Veranlagung kommen wird.
Auch hier kommen wir Mandanten und Lohnsteuerhilfevereinen entgegen. Wir vereinfachen das Verfahren und
ziehen Folgen aus den Gesetzen, die wir im letzten Jahr
beschlossen haben.
Die nächsten Berufsgruppen sind die Buchhalter, die
geprüften Bilanzbuchhalter und die Steuerfachangestellten. Sie sind mit der Regelung hinsichtlich der Befugniserweiterung auf Umsatzsteuervoranmeldungen natürlich
nicht zufrieden. Das war auch die einzige kritische
Stimme in den Anhörungen.
Wir haben sehr lange darüber diskutiert. Im Referentenentwurf war ursprünglich eine andere Regelung vorgesehen. Wir haben dieses Thema über Jahre hinweg
diskutiert, was immer wieder dazu geführt hat, dass das
Steuerberatungsgesetz nicht geändert werden konnte.
Jetzt sind wir aber zu dem Ergebnis gekommen, dass
diese Befugniserweiterung nicht sachgerecht ist. Die
Stimmen in der Anhörung haben uns recht gegeben. Die
überwiegende Mehrheit der Angehörten hat darauf hingewiesen, dass eine Befugniserweiterung zu zusätzlichen Risiken bei der Steuererhebung führen könnte.
Trotzdem haben wir den Berufsangehörigen versprochen, uns der Gruppe der Buchhalter und geprüften
Bilanzbuchhalter auch in Zukunft mehr zu widmen, indem wir zum Beispiel ein Berufsbild für einen Buchhalter erstellen. Bisher ist es möglich, sich Buchhalter zu
nennen, ohne eine Prüfung abzulegen. Es gibt keinen geschützten Titel Buchhalter und auch keinen Ausbildungsberuf Buchhalter. Wir haben den betreffenden Verbänden direkt nach der Anhörung zugesagt, uns dieses
Problems anzunehmen und zu versuchen, Verbesserungen für diesen Berufsstand herbeizuführen.
({6})
Wir haben ein weiteres wichtiges Anliegen dieses Berufsstandes aufgegriffen; Frau Staatssekretärin Kressl
hat bereits darauf hingewiesen. Neben der Befugniserweiterung sind die Abmahnverfahren bei unlauterer
Werbung ein Problem für diesen Berufsstand. Auch hier
konnten sich die Koalitionspartner nach der Anhörung
auf eine Lösung verständigen. Wir werden darauf verzichten, eine eigene Lösung im Steuerberatungsgesetz zu
formulieren. Wir wollen, dass Gesetze übersichtlich
bleiben, und wollen nur das regeln, was zwingend erforderlich ist. In diesem Fall ist aus unserer Sicht eine Regelung im Steuerberatungsgesetz nicht erforderlich, weil
wir das Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb haben. Wir
sind optimistisch, dass diese Regelung auch den Bedürfnissen des Berufsstandes der Bilanzbuchhalter, der Steuerfachangestellten und der Buchhalter Rechnung trägt.
Abschließend danke ich allen Beteiligten für die gute
Zusammenarbeit, sowohl dem Ministerium und meiner
Kollegin Westrich als auch den Vertretern der Oppositionsfraktionen im Finanzausschuss. Ich glaube, es waren gute Beratungen, die heute zu einem guten
Abschluss geführt werden. Die Zustimmung zu den Änderungsanträgen im Finanzausschuss hat gezeigt, dass
wir - bis auf wenige Einzelpunkte - eine breite Mehrheit
für dieses Konzept haben. Das ist gut als Rückendeckung für die Berufsstände und die ratsuchenden Steuerpflichtigen. Wir sollten den Weg heute frei machen.
Wir haben für das Gesetz schon viel zu lange gebraucht.
Die Betroffenen warten auf uns. Deswegen bitte ich um
Ihre Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf.
Danke schön.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Barbara Höll
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bürgerinnen und Bürger interessiert natürlich, wie
es sich zukünftig mit den steuerberatenden Berufen verhält, insbesondere mit dem Steuerberater oder der Steuerberaterin sowie den Lohnsteuerhilfevereinen. Hier ist
viel erreicht. Wir werden den Gesetzentwurf heute verabschieden. Aber das Grundübel der Steuergesetzgebung
bleibt bestehen. Sie ist in den letzten Jahren nicht einfacher, sondern auch in der Zeit der Großen Koalition immer komplizierter geworden. Sie von der CDU/CSU und
der SPD haben mit Ihrer Mehrheit und gegen die Stimmen der Opposition dafür gesorgt, dass die Steuerberaterhonorare nicht mehr als Sonderausgaben im privaten
Teil der Einkommensteuererklärung anerkannt werden.
Zudem gibt es insbesondere bei den Kosten für die Beratung bei Lohnsteuerhilfevereinen - das sind Pauschalen weiterhin Schwierigkeiten der Unterscheidung. Das ist
noch immer ein Grundärgernis für viele Bürgerinnen
und Bürger, die aufgrund der komplizierten Steuergesetzgebung Beratung in Anspruch nehmen müssen.
Wir, die Linke, bemessen den vorliegenden Gesetzentwurf nach drei Kriterien. Erstens. Verbessert sich
durch das Gesetz der ordnungsgemäße Vollzug der Steuergesetze? Zweitens. Inwieweit ist eine kompetente
Beratung der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler gewährleistet? Drittens. Inwieweit erfolgte tatsächlich eine
Anpassung an veränderte Lebensrealitäten? Es handelt
sich sicherlich um ein Spannungsfeld, wenn man für
Qualitätssicherung sorgen will, ohne eine Zementierung
der ständischen Interessen vorzunehmen. Ich glaube, in
dieser Hinsicht ist einiges gelungen. Aus diesem Grund
haben wir im Ausschuss unsere Zustimmung zu den Änderungsanträgen der Koalition deutlich gemacht, die
sich auf die Staatlichkeit und Bundeseinheitlichkeit der
Steuerberaterprüfung beziehen; das ist ein wichtiger
Punkt. Aber wir werden darüber nachdenken müssen,
wie es sich bei den anderen steuerberatenden Berufen
verhält. Was ist zum Beispiel mit den Steuerfachwirtinnen und Steuerfachwirten?
Wir begrüßen ausdrücklich das Eingehen auf die Forderungen der Lohnsteuerhilfevereine: die Erhöhung
der Einnahmegrenze für die Beratungsbefugnis und die
teilweise Nichtberücksichtigung von Kapitaleinkünften
bei der Berechnung hinsichtlich der Einnahmegrenze.
Das ist ein wirklicher Beitrag zur Wahrung einer kostengünstigen Steuerberatung für Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer insbesondere vor dem Hintergrund, dass
ein Teil der Beratungskosten nicht mehr absetzbar ist.
Wir begrüßen ebenfalls die Möglichkeit zur Bildung von
Bürogemeinschaften zwischen Lohnsteuerhilfevereinen sowie Steuerberaterinnen und Steuerberatern. Auch
das ist eine Qualitätsverbesserung.
Kritisch bleibt anzumerken, dass es keine Erweiterung der Befugnisse für geprüfte Buchhalterinnen und
Buchhalter sowie Steuerfachwirtinnen und Steuerfachwirte gibt, zumindest wenn es um das Anfertigen der
Umsatzsteuervoranmeldung geht.
Ich glaube, die damit verbundenen Probleme sind lösbar: bezüglich der Qualifizierung, bezüglich der Haftpflicht, aber auch bezüglich solcher Anforderungen, wie
sie Steuerberaterinnen und Steuerberater haben, die
selbst ausbilden, was Bilanzbuchhalter bisher noch nicht
können und nicht machen.
Man muss sagen, dass diese Nichterweiterung der Befugnisse tendenziell insbesondere Frauen behindert;
denn die steuerberatende Tätigkeit ist etwas, was man,
zumindest zum Teil, von zu Hause aus erledigen kann.
Deshalb ist bei diesem Berufsbild eine gute Vereinbarkeit von Beruf und Familie gegeben und ein flexibles
Reagieren auf sich verändernde Familiensituationen
möglich.
Kritisch möchte ich auf alle Fälle noch etwas zu Ihrer
Gebührenanpassung bei den Steuerberaterprüfungen
sagen. Die Begründung der Kostendeckung für diese
Anpassung kann man teilen; aber die Erhöhung ist doch
massiv. Für die Zulassungsverfahren wollen Sie die Gebühren von 75 auf 200 Euro erhöhen, für das Prüfungsverfahren von 500 auf 1 000 Euro. Vor dem Hintergrund,
dass 55,58 Prozent, also etwas über die Hälfte, der in
2005/2006 zur Prüfung zum Steuerberater Angetretenen
diese nicht geschafft haben und vielleicht noch eine
zweite Prüfung machen müssen, ist das natürlich eine
sehr hohe Hürde. Man könnte die Vermutung haben,
dass hier Ständeinteressen gewahrt werden sollen. Aber
auch die Steuerberaterinnen und Steuerberater brauchen
Nachwuchs. Deshalb können wir dem nicht zustimmen.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.
Insgesamt überwiegt das Negative das Positive. Deshalb werden wir uns bei der Abstimmung über diesen
Gesetzentwurf enthalten.
Ich danke Ihnen.
({0})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Christine Scheel das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vorab eine Bemerkung zu den Ausführungen von unserem Kollegen Volker Wissing, der behauptet hat, die
Grünen hätten kein Interesse am Thema Datenschutz im
Zusammenhang mit dem Steuerrecht. Ich muss das klar
zurückweisen und die FDP daran erinnern, dass es in
diesem Zusammenhang einen Antrag der Grünen gibt,
der Kooperationen von allen freien Berufen, von selbstständigen Buchhaltern bis hin zu den Lohnsteuerhilfevereinen, begrüßt, aber auch verlangt, dass mit Blick auf
die Bildung von Bürogemeinschaften „berufsrechtliche
Rechte und Pflichten, vor allem Verschwiegenheitspflicht,
Gewissenhaftigkeit, Auskunftsverweigerungsrecht, Zeugnisverweigerungsrecht und Beschlagnahmeverbot,“ entsprechend angepasst werden. Entweder haben Sie unseren Antrag nicht gelesen, oder es ist eine gemeine
Unterstellung.
({0})
Ich hätte mir sehr gewünscht - es ist ja anders ausgegangen -, dass wir eine tiefgreifende Novelle des Steuerberatungsgesetzes bekommen. Wir haben jahrelang darüber diskutiert. Wenn ich mir anschaue, was dabei
herausgekommen ist, sehe ich, dass es zwar ein bisschen
vorangegangen ist; aber ich glaube nicht, dass das mit
Blick auf die Existenz von vielen selbstständigen
Bilanzbuchhaltern und Bilanzbuchhalterinnen, Steuerfachwirten und Steuerfachwirtinnen ausreicht. Dass wir
mit diesem Gesetz die Erhaltung von deren Arbeitsplätzen und einen Ausbau in diesem Bereich erreichen,
glaube ich nicht. Das finde ich sehr schade; denn das
hätte zu einer Liberalisierung dazugehört.
({1})
Hier siegt - das muss man an dieser Stelle auch einmal sagen - ein Stück weit die Klientelpolitik. Wir
hatten ja heute Morgen die Debatte über die Wirtschaftspolitik. Dabei wird immer auf faire Wettbewerbsbedingungen verwiesen. Wenn aber auf der einen Seite faire
Wettbewerbsbedingungen gefordert werden, die natürlich volkswirtschaftlich sinnvoller sind als hohe Marktzugangsbarrieren, und auf der anderen Seite, wenn es
konkret wird, die Pfründe von bestimmten Berufsgruppen geschützt werden sollen, dann ist das nicht in Ordnung. Wir fordern: Reden Sie nicht nur über faire Wettbewerbsbedingungen, sondern setzen Sie sie für die
Berufsgruppen dann auch um! Das ist genau der Punkt,
auf den wir hier verwiesen haben. Deswegen sind wir
ziemlich enttäuscht, was diese Regierungsvorlage anbelangt.
Gestern haben wir im Finanzausschuss eine Debatte
darüber geführt, was denn noch geändert werden könnte.
Die grüne Seite hat sich den drei Änderungsanträgen angeschlossen. Ich weiß, dass der grüne Vorschlag mit
Blick auf die Beratungsgrenzen bei den LohnsteuerhilfeChristine Scheel
vereinen nicht eins zu eins umgesetzt worden ist. Aber
man muss sagen, es geht in die richtige Richtung. Es
bleibt gesichert, dass sich die durchschnittlichen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen und auch Rentner und
Rentnerinnen weiterhin kostengünstig bei den Lohnsteuerhilfevereinen beraten lassen können. Dies ist gut.
Es ist auch gut gewesen, dass die Abgeordneten diese
Regelung gemeinsam geändert haben. Ich halte es auch
für richtig, dass der Status eines Syndikus-Steuerberaters endlich eingeführt wird. Das bringt mehr Flexibilität; das haben die Grünen schon sehr lange gefordert.
Jetzt ist es umgesetzt. Auch das ist positiv.
Letztendlich muss man aber sagen, dass der Gesetzentwurf den Anforderungen an ein modernes und liberales Berufsrecht der Steuerberater bei weitem nicht
gerecht wird. Es fehlt der Mut, in diesem Kontext überfällige Reformen anzugehen und alte Zöpfe abzuschneiden. Deswegen lehnen wir den Gesetzentwurf ab. Wir
fordern Sie auf, dem grünen Antrag zuzustimmen. Das
richtet sich vor allem an die Adresse der Oppositionsfraktionen. Wir könnten an dieser Stelle einmal zusammenhalten und für ein gutes Recht stimmen.
Ich denke, dass der grüne Antrag allen Selbstständigen im Steuer- und Buchhaltungswesen ausreichende
Marktchancen und faire Wettbewerbsbedingungen einräumt, wobei wir den notwendigen Verbraucherschutz
im Auge haben.
Vielen Dank.
({2})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin
Lydia Westrich für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Von einem Gesetz, das so viele Jahre der Vorbereitung
braucht, erwarten wir Bedeutungsvolles. Dass Änderungen im Bereich des Berufsrechts so viel Zeit in Anspruch
nehmen, ist eher selten.
Etwa 50 000 Steuerberater - das gilt natürlich auch
für die Lohnsteuerhilfevereine und andere - freuen sich,
dass ihre teilweise langjährigen Forderungen jetzt endlich bei der achten Änderung des Steuerberatungsgesetzes umgesetzt worden sind.
({0})
Die Anforderungen an den Berufsstand sind relativ
hoch. Deshalb müssen wir auch die Ausbildungs-, Prüfungs- und Arbeitsbedingungen ständig den wechselnden Bedingungen unserer Volkswirtschaft anpassen.
({1})
- Herr Ausschussvorsitzender, Sie stören ein bisschen. So ist mir die Verankerung der Fortbildungspflicht
wichtig, weil sie das Vertrauensverhältnis zu den Klienten weiter stärkt.
Ich freue mich auch, dass wir die Frage der zukünftigen Regelung der Steuerberatungsprüfung so einvernehmlich mit Kammerverband und Bundesrat behandelt
haben. Die Länder können ihren Verwaltungsaufwand
erheblich reduzieren, was von ihnen auch immer wieder
gefordert wird. Die Prüfung bleibt trotzdem staatlich und
vor allem bundeseinheitlich. Das ist, wie wir aus bitterer
Erfahrung wissen, längst nicht selbstverständlich. Die
hohe Qualität der Prüfung schlägt sich natürlich auch in
den Gebühren nieder, Frau Höll. Aber sie bilden beileibe
keine unüberwindliche Hürde für diesen Berufsstand,
wie Sie das darstellen.
({2})
Wir haben mit diesem Gesetz den Berufsstand gestärkt und es tatsächlich geschafft, zumindest einige
Liberalisierungen durchzusetzen. Liberalisierungen bei
Berufsrechten, um nicht zu sagen: Standesrechten, sind
in den freien Berufen immer etwas schwerfällig durchzusetzen. Sie sind im Rahmen früherer Änderungen häufig vom Bundesverfassungsgericht quasi erzwungen
worden. Zur Einführung des Syndikus-Steuerberaters
habe ich Briefe vorliegen, die viele Jahre alt sind. Es ist
für uns alle immer wieder eine Freude, wenn wir alte
Vorgänge positiv erledigt zur Seite legen können. Es ist
wirklich nicht mehr zeitgemäß, dass man einen durch
eine schwere Prüfung erworbenen Titel ablegen muss,
wenn man in eine abhängige Beschäftigung tritt.
Wir haben den Steuerberatern die Bildung von GmbH
und Co. KGs erlaubt, die Kooperation mit freien Berufen
- nicht nur den artverwandten, Herr Wissing - zugelassen. Das unterscheidet dieses Gesetz zum Beispiel vom
Berufsrecht der Rechtsanwälte. Wir werden deshalb darüber hinaus auch Bürogemeinschaften mit Lohnsteuerhilfevereinen und mit landwirtschaftlichen Buchstellen
zulassen. Ich bin davon überzeugt, dass dies nicht nur
zum Vorteil dieser Bürogemeinschaften, sondern auch
zum Vorteil aller ratsuchenden Bürgerinnen und Bürger
ist. Solche Gemeinschaften existieren ja schon. Der
Wunsch kam nicht vom Gesetzgeber, sondern von Betroffenen, die ihre Zusammenarbeit gerne legalisieren
wollen. Herr Wissing, Sie können ja einmal herumfragen, wie viele Steuerberater, die landwirtschaftliche Klientel haben, bei ihren speziellen steuerrechtlichen Fragen gerne auf den Sachverstand der landwirtschaftlichen
Buchstellen zurückgreifen. Dann würden Sie einsehen,
dass die Zulassung dieser Bürogemeinschaften eine
sinnvolle Liberalisierung des Berufsstandes darstellt.
Das gilt in gleicher Weise natürlich für die Lohnsteuerhilfevereine.
Natürlich gibt es hier eine Verschwiegenheitspflicht.
Sie ist nicht strafbewehrt. Aber für Leute, die täglich mit
dem Steuergeheimnis umgehen, muss das auch nicht extra sein, sondern das ist selbstverständlich. Sie als FDPFraktion messen einfach mit zweierlei Maß, wenn Sie
hier Bedenken anmelden.
Was eine drohende Beschlagnahme von Akten betrifft, weiß ich keinen Fall aus den letzten Jahren, der
Lohnsteuerhilfevereine betroffen hätte. Aber ich habe allein in meinem Wahlkreis drei Fälle, in denen Lohnsteu14628
erhilfevereine sich bei gegebenen Bürogemeinschaften
Sorge um ihr eigenes Renommee machen müssten.
Trotzdem ist es für mich wichtig, dass der Charakter
der Lohnsteuerhilfevereine als Selbsthilfeeinrichtungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erhalten
bleibt. Wir haben ihre Beratungsbefugnisse deshalb angemessen angepasst, Frau Scheel, zum Beispiel den
Grenzbetrag für Einnahmen aus anderen Einkunftsarten
um fast 45 Prozent auf jetzt 13 000 Euro angehoben. Das
war überfällig. Zudem haben wir eine sinnvolle Regelung zur Beratungsbefugnis bei Kapitaleinkünften ergänzt.
({3})
Wie starr das Berufsrecht noch ist, zeigen die
Abmahnverfahren gegen Buchhalter. Schon etliche
Male haben wir versucht, diese Flut einzudämmen ohne Erfolg. Sogar Einträge in Gelbe Seiten, die ja kurz
sein müssen, ziehen Abmahnverfahren nach sich. Da wir
das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb haben,
muss eine Werberegelung für Gewerbetreibende nicht
noch zusätzlich im Berufsrecht verankert werden. Deswegen hoffen wir, dass diese Maßnahme gegen die Abmahnverfahren hilft. Aber wir werden das weiter überprüfen.
Die SPD-Fraktion stellt sich unter liberalisierten Regelungen eine breitere Öffnungsmöglichkeit vor. Selbst
unter Verbraucherschutzaspekten könnten geprüfte Bilanzbuchhalter mehr, als sie dürfen. Die breite Unterstützung des DIHK bei der Forderung nach einer begrenzten
Befugniserweiterung für die hochqualifizierten Bilanzbuchhalter zeigt, dass ein Verband, der kleine und mittelständische Unternehmen vertritt, durchaus keine Sorge
um die Qualität der Beratung seiner Mitglieder hat. Deswegen hätten wir da durchaus etwas machen können.
({4})
Die Finanzverwaltung, die Länder und die Steuergewerkschaft waren da leider anderer Meinung. Wir warten also, bis das Bundesverfassungsgericht oder europäisches Recht eingreift, um da eine weitere Liberalisierung
voranzubringen.
Insgesamt gesehen hat sich die lange Beratungszeit
für dieses Gesetz gelohnt. So viel Lob hat der Finanzausschuss selten bei einer Anhörung vernommen. Wir bieten den Steuerpflichtigen und dem beratenden Berufsstand eine sichere Basis, weiterhin unser kompliziertes
Steuerrecht zu meistern.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zu einer Reihe von Abstimmungen.
Zunächst Tagesordnungspunkt 6 a. Abstimmung über
den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines
Gesetzes zur Änderung des Steuerberatungsgesetzes. Der
Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/7867, den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 16/7077
und 16/7485 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. -
Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis an-
genommen.
Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zum
Entwurf eines Gesetzes des Bundesrates zur Änderung des
Steuerberatungsgesetzes: Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/7867, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf
Drucksache 16/7250 für erledigt zu erklären. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Ist jemand dagegen? -
Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit
den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 b, Beschlussempfehlung des Fi-
nanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen mit dem Titel „Steuerberatung zukunftsfähig
machen“: Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7867,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/1886 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Ge-
genstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 c
sowie die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf:
24 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des InVeKoS-DatenGesetzes und des Direktzahlungen-Verpflichtungengesetzes
- Drucksache 16/7827 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Maßnahmen zur Förderung der Kulturarbeit
gemäß § 96 Bundesvertriebenengesetz in den
Jahren 2003 und 2004
- Drucksache 15/5952 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Straßenbaubericht 2006
- Drucksache 16/3984 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
ZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Barth, Cornelia Pieper, Patrick Meinhardt, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Universitäre Exzellenz sichern - Exklusivität
des Promotionsrechts wahren
- Drucksache 16/7842 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Grietje
Bettin, Dr. Harald Terpe, Ekin Deligöz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Medienabhängigkeit bekämpfen - Medienkompetenz stärken
- Drucksache 16/7836 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({3})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Es handelt sich dabei um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 16/7827 zu Tagesordnungspunkt 24 a soll zur federführenden Beratung
an den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz und zur Mitberatung an den Haushaltsausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 25 a bis
25 o. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 a auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuregelung des Grundstoffüberwachungsrechts
- Drucksache 16/7414 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({4})
- Drucksache 16/7828 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Marlies Volkmer
Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7828, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/7414 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dieser Gesetzentwurf
ist damit mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung seeverkehrsrechtlicher, verkehrsrechtlicher und anderer Vorschriften mit
Bezug zum Seerecht
- Drucksache 16/7415 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({5})
- Drucksache 16/7843 Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Hettlich
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt unter Ziffer I seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7843, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 16/7415 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die
Linke bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.
Wir sind noch beim Tagesordnungspunkt 25 b. Unter Ziffer II seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7843 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP.
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Betriebsprämiendurchführungsgesetzes
- Drucksache 16/7685 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0})
- Drucksache 16/7846 Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Mortler
Gustav Herzog
Dr. Kirsten Tackmann
Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7846, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 16/7685 anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, den Stimmen der FDP und der Fraktion der
Linken bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis, das
heißt bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen, angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Grietje Bettin, Ekin Deligöz, Kai Gehring,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Den kostenfreien Empfang von Rundfunk via
Satellit sicherstellen
- Drucksachen 16/3545, 16/7346 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Jörg Tauss
Christoph Waitz
Dr. Lukrezia Jochimsen
Grietje Bettin
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7346, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/3545 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der Fraktion der FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
der Fraktion Die Linke.
Tagesordnungspunkt 25 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({2}) zu
dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD,
FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Erhaltung der Weinbaukultur durch vernünftige Reform der EU-Weinmarktordnung
- Drucksachen 16/6959, 16/7568 Berichterstattung:
Abgeordnete Julia Klöckner
Gustav Herzog
Dr. Kirsten Tackmann
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7568, den Antrag auf Drucksache 16/6959 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? Dann ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({3})
Übersicht 9
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 16/7770 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist damit mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 g:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({4})
zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Das Internationale Polarjahr 2007/2008 und
Konsequenzen für eine deutsche Beteiligung
- Drucksachen 16/4454, 16/7854 Berichterstattung:
Abgeordnete Axel E. Fischer ({5})
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Cornelia Pieper
Dr. Petra Sitte
Priska Hinz ({6})
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7854, den Antrag der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/4454 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion und Enthaltungen
der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 25 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 337 zu Petitionen
- Drucksache 16/7755 Wer stimmt dafür? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 337 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 338 zu Petitionen
- Drucksache 16/7756 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 338 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 339 zu Petitionen
- Drucksache 16/7757 -
Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltun-
gen? - Die Sammelübersicht 339 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Die Linke und der
FDP-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen angenommen.1)
Tagesordnungspunkt 25 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 340 zu Petitionen
- Drucksache 16/7758 -
Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltun-
gen? - Die Sammelübersicht 340 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen, der Fraktion der FDP und der
Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
1) Anlage 2
Tagesordnungspunkt 25 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 341 zu Petitionen
- Drucksache 16/7759 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 341 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 342 zu Petitionen
- Drucksache 16/7760 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 342 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei
Gegenstimmen der Fraktion der FDP und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 343 zu Petitionen
- Drucksache 16/7761 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 343 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und
der Fraktion der FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 o:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 344 zu Petitionen
- Drucksache 16/7762 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 344 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Damit haben wir die Abstimmungen zu diesem Block
erledigt.
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
Aufgaben von Bundeswehrkampftruppen als
Quick Reaction Forces in Afghanistan
Die Fraktion Die Linke hat diese Aktuelle Stunde beantragt.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Oskar Lafontaine für die Fraktion Die
Linke das Wort.
({15})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Gestern lasen wir in der Onlineausgabe der
Welt:
NATO fordert Kampftruppe der Bundeswehr an.
Der erste Kampfeinsatz der Bundeswehr in Afghanistan rückt offenbar immer näher. Die Nato hat
jetzt unmissverständlich klargemacht, dass sie von
der Bundeswehr Kampfeinsätze erwartet. Das
bringt Verteidigungsminister Franz Josef Jung in
Nöte. Der will den neuen Einsatz erst nach der Hessen-Wahl verkünden.
Aus diesem Grunde haben wir den Punkt heute auf die
Tagesordnung gesetzt. Ich bin der Auffassung, vor zwei
so wichtigen Wahlgängen wäre es nur ein Gebot der Ehrlichkeit und der Wahrhaftigkeit, hier zu sagen, ob Sie
vorhaben, Kampftruppen in diesen Krieg zu schicken.
({0})
Wenn der Chef der Eingreiftruppe sagt, Deutschland
müsse sich auf Tote einstellen, dann müssten eigentlich
alle Bürgerinnen und Bürger, die uns zuhören, sehen,
worum es hier geht, und müssten sich die Frage stellen,
ob wir berechtigt sind, das zu tun. Im Übrigen darf man
daran erinnern, dass schon in der Vergangenheit Tote zu
beklagen waren. Hier soll nur gesagt werden, dass bei
Kampfeinsätzen noch mehr deutsche Soldaten ums Leben kommen werden. Wir wollen hinzufügen, dass bei
dieser sogenannten Militärintervention im letzten Jahr
über 6 000 Todesopfer zu beklagen waren, darunter viele
Zivilisten. Wir halten diesen Krieg nicht mehr für verantwortbar. Ziehen Sie die Bundeswehr zurück!
({1})
Bisher ist nach außen immer gesagt worden, bei ISAF
handele es sich um eine Friedensmission. Es wird der
Eindruck erweckt, als gehe es darum, Brunnen zu bohren, Schulen zu bauen usw. So haben Sie das der Bevölkerung immer wieder erklärt. Langsam wandelte sich die
Argumentation. Jetzt ist klar, dass alles das, was in den
letzten Jahren gesagt worden ist, nicht zutrifft. Auch
diese Truppe wird immer weiter in den Krieg einbezogen. Das ist das, was wir gesagt haben.
Kürzlich habe ich im Stern etwas gelesen, das mir die
Sprache verschlagen hat. Das möchte ich hier doch erwähnen, weil ich den Aufschrei vermisst habe. Dort
wurde geschildert, wie ISAF-Truppen überprüfen, ob ein
Feld minenfrei ist. Es wurde geschildert, dass die Soldaten Äpfel auf ein Feld werfen und Kinder dann auf das
Feld laufen sollen. Wenn keine Mine hochgeht, ist das
Feld minenfrei.
Welch ein Zynismus! Sind wir berechtigt, uns an Missionen zu beteiligen, bei denen solche Dinge einreißen?
Das ist in meinen Augen ein unglaublicher Skandal.
({2})
Ich hätte zu gern erlebt, dass irgendjemand dazu irgendetwas gesagt hätte.
({3})
- Entschuldigen Sie! Wenn Sie behaupten, alles das, was
in der Presse dargestellt werde, sei falsch, dann müssen
Sie das hier klarstellen.
({4})
- Es genügt nicht, dass Sie das in irgendwelchen Ausschusszirkeln klarstellen. Sie sollten hier klarstellen, ob
diese Meldungen richtig oder falsch sind.
({5})
Wir haben in der letzten Zeit viel zu oft gehört, dass Erklärungen der zuständigen Kommandeure nicht zutrafen.
Darauf können Sie sich nicht berufen. So einfach kommen Sie hier nicht davon.
({6})
Im Übrigen ist es eine Tatsache, dass wir 6 000 zivile
Opfer zu beklagen haben. Wir machen in Zukunft dabei
mit. Tun Sie doch nicht so, als könnten Sie das mit läppischen Bemerkungen vom Tisch wischen!
({7})
Wir von der Linken wollen das schlicht und einfach
nicht.
({8})
Wir sind in diesen Krieg tiefer verstrickt, als Sie das
hier zugeben wollen; das wird sich in nächster Zeit immer wieder zeigen.
({9})
Wir haben nach wie vor festzustellen, dass dieser
Krieg völkerrechtswidrig ist und dass all diejenigen das
zu verantworten haben, die diesem völkerrechtswidrigen
Einsatz zugestimmt haben.
Die deutsche Bevölkerung hat in ihrer großen Mehrheit kein Verständnis für diesen Einsatz der Bundeswehr.
Wir überwachen dort die Opiumproduktion. Hier muss
ich einmal die Frage stellen: Ist das wirklich Aufgabe
unserer Soldatinnen und Soldaten? In der Regierung
- das weiß jeder - sitzen Kriegsverbrecher. Die Situation
im Land wird immer schlechter, von Jahr zu Jahr. Dennoch will man aus der Sackgasse nicht wieder heraus.
Kehren Sie endlich um! Ziehen Sie die Bundeswehr aus
Afghanistan zurück!
({10})
- Zu dem Zwischenruf „Und überlassen Sie das Land
den alten Kriegsverbrechern!“ muss ich sagen: Die sitzen doch in der Regierung. Haben Sie das immer noch
nicht gemerkt? Sie paktieren mit alten Kriegsverbrechern. Das ist die Wahrheit in Afghanistan.
({11})
Im Übrigen haben Sie die Aufgabe - wir sagen das
noch einmal ganz klar -, unser Land sicherer zu machen.
Das ist die Aufgabe der Sicherheitspolitik. Ein unverdächtiger Zeuge, der Ministerpräsident des Landes Bayern, hat vor einiger Zeit gesagt: Mit solchen Auslandseinsätzen erhöhen wir die Terroranschlagsgefahr im
eigenen Land. Das ist seine Feststellung. Sie gehen einfach blind darüber hinweg. Wir sagen: Holen Sie die
Truppen zurück! Sonst erhöhen Sie die Terroranschlagsgefahr im eigenen Land. Es ist nicht unsere Aufgabe,
den Terror nach Deutschland zu holen.
({12})
Nächster Redner ist der Kollege Ernst-Reinhard Beck
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Lafontaine, was Sie hier abgeliefert
haben, war unverantwortlich.
({0})
Das war Wahlkampf pur.
Sie haben auf einen bestimmten Vorfall angespielt,
der leider auch im deutschen Fernsehen groß herausgestellt worden ist. Dazu hätten Sie von Ihrem Kollegen
Schäfer erfahren können, dass wir im Verteidigungsausschuss diese Angelegenheit besprochen haben und dass
niemand da war, der so etwas unterstützt hätte. Wir stellen ausdrücklich fest: Es waren keine deutschen Soldaten beteiligt. Das müssen Sie den Leuten sagen.
({1})
Ich finde es einfach auch unverantwortlich, wenn Sie
meinen, für den hessischen Wahlkampf noch ein paar
Stimmen einsammeln zu können, indem Sie hier als
Friedensengel auftreten.
({2})
Sie haben sich mit der Art und Weise, wie Sie argumentieren, längst aus einer seriösen sicherheitspolitischen
Debatte verabschiedet.
({3})
Ich halte Ihre Forderung, die Truppen abzuziehen, für
verantwortungslos. Ich stimme da dem Kollegen Nachtwei ausdrücklich zu, der sagte: Wenn wir unsere Truppen abziehen, überlassen wir Afghanistan den Kriegsverbrechern. Das wäre unverantwortlich.
({4})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, worum geht
es eigentlich in dieser Geschichte? Sie, Herr Lafontaine,
haben gesagt, es gehe um Kampftruppen.
({5})
- Herr Lafontaine, hören Sie bitte einmal einen Augenblick zu. - Soldaten, die eingesetzt werden, müssen auch
kämpfen können.
({6})
Dies ist doch ganz klar. Es sollte auch ausgesprochen
werden. Im Rahmen des ISAF-Mandats haben sie den
Auftrag, dieses Land zu stabilisieren, Aufbauarbeit zu
verrichten und dort, wo Sicherheit hergestellt werden
muss, dies auch mit militärischen Mitteln zu tun.
({7})
Dies ist ganz klar. Wer hat das denn bisher gemacht? Ein
bisschen Sachlichkeit würde dieser Debatte schon gut
tun.
({8})
- Nein.
Der Zeitpunkt und das Vorgehen überraschen doch
gar nicht. Jeder weiß, dass Norwegen am 30. Juni das
Kommando über die Quick Reaction Force abgibt. Das
ist doch schon lange bekannt. Was heißt Quick Reaction
Force? Schnelle Eingreiftruppe.
({9})
Ernst-Reinhard Beck ({10})
Sie stellt, gnädige Frau, eine Art Feuerwehr, eine taktische Reserve dar, die jeder verantwortliche militärische
Kommandeur vorhalten muss. Sie hat die Stärke einer
Kompanie. Das ist, für eine Region, die gemessen an der
europäischen Geografie vom Rhein bis nach Warschau
reicht, im Grunde wenig genug.
Welche Aufgaben hat diese Einsatzreserve? Sie gehen
her und sagen, sie nehme im Grunde die Aufgabe einer
Kampftruppe wahr.
({11})
Was haben denn die Norweger in den letzten zwei Jahren, Frau Enkelmann, getan? Das kann ich Ihnen sagen:
Es liefen ganze zwei Einsätze als Alarmreserve. Der
erste Einsatz fand beim Absturz eines Hubschraubers
und der zweite beim Beschuss des deutschen Lagers in
Masar-i-Scharif statt. Alle übrigen Einsätze waren Patrouillen oder Sicherungsmaßnahmen, die der Unterstützung der PRT-Tätigkeit dienten. Diese Aufgaben haben
die Norweger wahrgenommen.
Wenn man auf diese Erfahrungen zurückgreift, dann
kommt man doch zu dem Schluss: Es handelt sich um
eine fatale Verdrehung, wenn Sie davon sprechen, man
trete jetzt in eine neue Kampfphase ein. Dies ist schlichtweg falsch. Wir weisen das in aller Klarheit und Deutlichkeit zurück.
({12})
Die Frage ist: Wer übernimmt diese wichtige Aufgabe? Da ist, wie ich meine, noch nichts entschieden.
Die Truppenstellerkonferenz wird die Entscheidung treffen. Ich sage Ihnen aber auch ganz klar: Wir als führende
Nation, als Lead-Nation, stehen im Norden in der Verantwortung und können uns nicht darauf verlassen, dass
im Falle eines Falles schon irgendjemand kommen wird.
Ich sage auch ganz klar: Wir sind bereit und in der Lage,
diese Aufgabe zu übernehmen, weil es sich um eine
wichtige Aufgabe für die Sicherung der Aufbauarbeit im
gesamten Nordbereich handelt. Dieses sollte man an dieser Stelle einfach festhalten.
Bei einer seriösen Diskussion hierüber ist in der Tat
das ISAF-Mandat maßgebend. Es handelt sich bei der
Eingreiftruppe nicht um eine Wiederaufbautruppe; das
ist richtig. Aber es handelt sich um eine Truppe, die im
Rahmen des ISAF-Mandats eine Stabilisierungsfunktion
wahrnimmt. Dies ist der Hauptauftrag, zeitlich und
räumlich begrenzt; außerhalb dieser begrenzten Region
nur dann, wenn der Gesamtauftrag von ISAF infrage gestellt ist. Sie kennen diese Klausel, die unser Mandat enthält. Dafür Verantwortung zu übernehmen, sind wir bereit.
Für unsere Fraktion und die Regierung möchte ich sagen: Unsere Soldaten können mit unserer weiteren Unterstützung bei diesem gefährlichen und schwierigen
Auftrag rechnen.
Vielen Dank.
({13})
Für die FDP-Fraktion spricht nun die Kollegin Birgit
Homburger.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Worum es hier geht, zeigen die von der Linken benannten Redner und der Auftritt, den der Kollege Lafontaine
eben hingelegt hat.
({0})
Neben dem „Verteidigungsexperten“ Lafontaine soll ja
auch noch der „Verteidigungsexperte“ Gysi sprechen.
Daran wird deutlich: Es geht Ihnen schlicht und ergreifend nur um Wahlkampf.
({1})
Wenn Sie hier sagen, es gehe Ihnen um die Sache,
dann entgegne ich Ihnen: Diese Sache war letzte Woche
aktuell. Letzte Woche hat ein Kollege hier erklärt, es sei
schon alles entschieden und beschlossen. Daraufhin gab
es eine Debatte, nicht nur im Verteidigungsausschuss des
Deutschen Bundestages, sondern auch in aller Öffentlichkeit. Daran haben Sie nicht teilgenommen, und das
war Ihnen völlig egal.
({2})
Das zeigt klipp und klar, dass es Ihnen nicht um die Sache geht. Dieses Thema diese Woche zu behandeln,
passt Ihnen schlicht und ergreifend besser ins Kalkül.
({3})
Es kommt etwas hinzu: Der Sachstand seit der letzten
Woche ist unverändert. Vielleicht muss man Sie einmal
darüber aufklären, Herr Lafontaine: Die Sache ist nicht
neu. Die Norweger haben sehr frühzeitig erklärt, dass sie
diese Aufgabe ab Mitte dieses Jahres nicht mehr werden
wahrnehmen können. Darüber hat der Generalinspekteur
im Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages
informiert. Wir haben darüber diskutiert. Es hat im Übrigen in der Haushaltsdebatte letztes Jahr - auch öffentlich - eine Rolle gespielt. Das heißt, es geht nicht darum,
dass wir hier irgendwelche Informationen von der Bundesregierung erzwingen müssten. Was Sie wollen, ist,
Angst machen und Verunsicherung der Menschen schüren. Sie machen Wahlkampf auf dem Rücken der Soldatinnen und Soldaten, vor allen Dingen derer, die in Afghanistan einen gefährlichen Dienst versehen.
({4})
Das, Herr Lafontaine, ist durchsichtig, unredlich und
schäbig.
({5})
Ich möchte hier in aller Deutlichkeit noch einmal
klarstellen: Es geht hier nicht um Krieg gegen Afghanistan.
({6})
Wir sind auf Anforderung und auf Wunsch der afghanischen Regierung in Afghanistan, um den Wiederaufbau
zu unterstützen. Es ist Ihnen so klar wie uns, dass dieser
Wiederaufbau nur mit militärischer Absicherung funktionieren kann. Genau deshalb wird es gemacht. Darüber
haben wir hier zigmal diskutiert. Es bleibt dabei: Es geht
hier nicht um Krieg, sondern darum, die afghanische Regierung dabei zu unterstützen, dieses Land zu stabilisieren und beim Wiederaufbau zu helfen.
({7})
Ich sage ebenfalls ganz klar, an die Bundesregierung
und auch an den Vorredner, Herrn Beck, gerichtet: Wir
brauchen einen ehrlichen Umgang mit der Sache.
({8})
Ein ehrlicher Umgang im Zusammenhang mit der
schnellen Eingreiftruppe bedeutet, dass man die Qualität
dieser Eingreiftruppe so darstellen muss, wie sie ist. An
dieser Stelle geht es nicht nur um Patrouille, Evakuierung und Absicherungsmaßnahmen, sondern auch um
offensive Operationen. Auch das ist nichts Neues. Das
wüssten Sie, wenn Sie im Verteidigungsausschuss wären
und wenn Sie sich damit schon einmal auseinandergesetzt hätten, Herr Lafontaine.
({9})
Es ist tatsächlich so, dass es an dieser Stelle um offensive Operationen geht. Offensive Operationen sind eben
keine Stabilisierungseinsätze; dabei geht es vielmehr
ganz klar um Kampf. Das muss man in aller Nüchternheit und aller Klarheit so sagen.
Das sind die Rahmenbedingungen. Herr Verteidigungsminister, sollten Sie sich entscheiden, diese Aufgabe zu übernehmen, dann wäre das nach der Entscheidung, Tornados nach Afghanistan zu entsenden, eine
erneute Erweiterung des Aufgabenspektrums und hätte
eine neue Qualität.
({10})
Ich möchte sehr deutlich sagen: Wenn diese Aufgabe
übernommen wird, dann erwarten wir von der Bundesregierung, dass sie nicht immer nur mit weiteren Aufgaben
und noch mehr Soldaten kommt. Sie sollte vielmehr
klarstellen, was das Ziel dieses Einsatzes ist. Ich erwarte,
dass die Bundesregierung der Öffentlichkeit vermittelt,
dass das politische Ziel im Zentrum steht.
({11})
Ich möchte an dieser Stelle noch Folgendes sagen:
Sollte sich die Bundesregierung für die Übernahme dieser Aufgabe entscheiden, dann muss das Augenmerk
noch stärker als bisher auf Ausrüstung und Ausstattung
gelegt werden. Ich möchte hier auf einen Bericht des
Kommandeurs Warnecke aufmerksam machen, der mitgeteilt hat, dass es bei der Operation „Harekate Yolo-2“,
die im letzten Herbst stattgefunden hat, Schwierigkeiten
gab, weil das ISAF-Kontingent im Verantwortungsbereich Nord offensichtlich nicht entsprechend ausgestattet
war. Hier, Herr Bundesverteidigungsminister, erwarten
wir, dass die Bundesregierung bei ihrer Entscheidung
berücksichtigt, ob sie die nötige Ausrüstung stellen
kann. Es ist nur verantwortbar, Soldatinnen und Soldaten
in einen Einsatz zu schicken, wenn sie mit der bestmöglichen Ausrüstung ausgestattet sind.
({12})
Abschließend, Herr Bundesverteidigungsminister,
bitte ich noch um eines: dass Sie endlich dazu übergehen, eine offensive Informationspolitik zu betreiben. Der
Bericht der Generäle vom Juli des vergangenen Jahres,
in dem eine Bewertung vorgenommen wird, liegt dem
Parlament immer noch nicht vor. Wir haben erneut aus
der Öffentlichkeit davon erfahren. Ich fordere Sie auf:
Legen Sie diesen Bericht endlich auch dem Parlament
vor! Sie schaden mit dieser Geheimniskrämerei der Bundeswehr und sich selbst. Machen Sie endlich eine offensive Informationspolitik!
Vielen Dank.
({13})
Nächster Redner ist der Kollege Walter Kolbow für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte zu Beginn meiner Rede die kanadischen Kolleginnen und Kollegen auf der Tribüne sehr herzlich begrüßen und bei uns im Parlament willkommen heißen.
({0})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Ihre Anwesenheit
gibt dieser Debatte eine besondere Bedeutung. Wir sprechen in dieser Aktuellen Stunde über gemeinsame Aktionen und gemeinsames Leiden in Afghanistan. Kanada
hat viele Opfer gebracht, derer wir mit Solidarität in dieser Debatte gedenken. Wir sind an Ihrer Seite.
Deswegen sage ich: Politische Entscheidungen, die
letztlich eine Entscheidung über Leben und Tod sein
können, zu Wahlkampfzwecken zu benutzen, halte ich
für nicht erlaubt,
({1})
auch nicht unter Bezug auf die Frage, die Sie, Herr Kollege Lafontaine, zu Beginn Ihrer Einlassungen vorgetragen haben. Ich weiß, dass wir mit der Verantwortung für
die Entscheidung Schuld auf uns laden können und wir
uns in Kämpfe verstricken können. Das ist die Verantwortung des Parlaments. Daraus populistischen Nutzen
zu ziehen, ist jedoch nicht nur antiaufklärerisch - wir
sollten eigentlich aufgeklärt sein -, sondern schlicht und
einfach nicht in Ordnung, meine Damen und Herren von
der Linksfraktion.
({2})
Von dieser Stelle aus ist wiederholt gesagt worden,
dass dieser Einsatz, den das Parlament beschlossen hat,
nicht völkerrechtswidrig ist, sondern den Stempel der
Vereinten Nationen trägt und in der Verantwortung der
internationalen Gemeinschaft liegt.
({3})
Wollen Sie dem kanadischen Parlament vorhalten, völkerrechtswidrig entschieden zu haben? Ich denke, dass
Sie Ihre Einlassungen relativieren müssen.
Herr Kollege Lafontaine, Sie müssen auch Ihre Aussage relativieren, in Afghanistan seien Kinder als Minensucher missbraucht worden. Sie wollen damit Wahlkampf machen. Lassen Sie sich informieren: Über diese
Vorkommnisse liegen keine Erkenntnisse vor,
({4})
außer dass sie vor fünf Jahren zwar von jemandem zur
Kenntnis genommen worden sind, dieser es aber nicht
für notwendig gehalten hat, einen so markanten Vorgang
seinen Vorgesetzten sofort zur Kenntnis zu bringen, was
die Regel ist.
({5})
Informieren Sie sich bei den Fach- und Sachkundigen
über den Sachstand, bevor Sie hier Behauptungen einbringen, die durch nichts, aber auch gar nichts zu belegen sind.
({6})
Der Außenminister und der Verteidigungsminister
sind ihrer Aufgabe mehr als nur gerecht geworden. Alle
Informationen werden nicht nur den Ausschüssen, sondern auch der interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Diese Informationen weisen eindeutig darauf hin, dass eine Einheit im Rahmen eines normalen
Truppenstellerverfahrens ersetzt werden muss. Diese
Einheit wird dringend gebraucht, damit die internationale Gemeinschaft die Ziele, die sie in Afghanistan verfolgt - ziviler Wiederaufbau, Verhinderung von Krieg
und Vermeidung von terroristischen Anschlägen, und
zwar auch bei uns in Europa -, erreichen kann. Das ist
der Sinn. Dafür ist auch die Rapid Reaction Force notwendig. Wenn wir diese Entscheidung treffen müssen,
wird uns die Regierung rechtzeitig informieren.
Ich will an dieser Stelle darauf hinweisen, dass wir
die Erfolge, die wir im Norden von Afghanistan zu verzeichnen haben, in der Debatte nicht untergehen lassen
dürfen. Millionen von Flüchtlingen, die auf die Entwicklung in ihrem Land vertrauen, sind nach Afghanistan zurückgekehrt, weil sie der internationalen Gemeinschaft
und zunehmend auch den afghanischen Streitkräften, der
afghanischen Polizei und den afghanischen Autoritäten
Vertrauen schenken. Diese Entwicklung kann sich nicht
nur sehen lassen, sondern sie kann und muss auch ausgesprochen werden.
({7})
Dass da natürlich - um es einfach auszurücken - noch
eine Menge zu tun ist, wissen wir alle. Aber das geht
nicht in der Art und Weise, dass wir aus Afghanistan abziehen, sondern das geht nur in der Art und Weise, dass
wir mit der vernetzten Sicherheitsstrategie, die wir in
Deutschland mit Herrn Jung, Herrn Steinmeier, der Bundeskanzlerin, Frau Wieczorek-Zeul und mit der Mehrheit dieses Hauses entwickelt haben, auch mit den notwendigen militärischen Entscheidungen, wenn sie denn
anstehen, Afghanistan eine Zukunft geben. Wir warten
auf die Erkenntnisse, die unsere Regierungsvertreter aus
den Truppenstellerkonferenzen in der NATO mitbringen.
Dann werden sie uns mit ihrer verantwortungsbewussten
Entscheidung an ihrer Seite sehen.
({8})
Das Wort hat nun der Kollege Winfried Nachtwei für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich möchte die Kolleginnen und Kollegen aus dem
kanadischen Parlament sehr herzlich begrüßen. Kanada
hat eine sehr lange Tradition der Teilnahme an Friedensmissionen im Auftrag der Vereinten Nationen. Als wir
kürzlich in Ottawa waren und dort die Ausstellung
Afghanistan: A Glimpse of War gesehen haben, haben
wir erfahren und empfunden, wie die kanadische Gesellschaft mit dem Afghanistan-Engagement, das für ihre
Soldaten tatsächlich auch ein Kriegseinsatz ist, umgeht
und um den richtigen Weg ringt.
Kollege Lafontaine, die Vorfälle, die Sie aus dem
Stern zitieren, sind, wenn sie tatsächlich so geschehen
sind, schändlich. Ich denke, das ist hier die einmütige
Bewertung.
({0})
Es ist versucht worden, weitere Hinweise dafür zu bekommen, ob diese Meldungen der Wahrheit entsprechen.
Bisher haben wir keine gefunden. Aber die Bewertung
ist völlig eindeutig.
({1})
Unabhängig von dem, was Sie gerade genannt haben:
Kollege Lafontaine, vielleicht haben Sie Anfang Dezember 2007 die Umfrage von ABC, BBC und ARD zur
Kenntnis genommen, die überraschende Ergebnisse
brachte. Die Leute, die mit dieser Umfrage zu tun haben,
sind bekannt, und es handelt sich hier mit Sicherheit um
eine seriöse Umfrage. Das Ergebnis war, dass die Bevölkerung gegenüber dem internationalen Engagement und
auch gegenüber ISAF viel positiver eingestellt ist, als
wir das hierzulande wahrnehmen. Zwar ist - das muss
man ganz nüchtern dazusagen - die Tendenz bröckelnd,
aber die Mehrheit ist eindeutig dafür. Vielleicht sollte Ihnen das etwas zu denken geben.
({2})
Unabhängig von der Auseinandersetzung mit Ihnen
finde ich, dass die Fragen und Befürchtungen zum Einsatz der Quick Reaction Force völlig berechtigt sind. Geraten wir in eine Eskalation hinein? Geraten wir in einen
Kriegssumpf hinein? Diese Fragen treiben sicherlich alle
um. Man muss auch angesichts der Tatsache misstrauisch sein, dass gewichtige Stimmen darauf drängen, dass
die Quick Reaction Force ausdrücklich an Kriegseinsätzen teilnimmt.
Worum geht es bei dieser „Schnellen Reaktionstruppe“? Was ist zu verantworten und was nicht? Um es
klar zu sagen: Es geht um eine relativ kleine militärische
Reserve und Verstärkungseinheit für bestimmte Notsituationen, wenn die sowieso schon sehr schwachen
Kräfte der Wiederaufbauteams, die in einem riesigen,
komplizierten Raum verteilt sind, nicht mehr klarkommen. Kollege Beck hat vorhin schon Beispiele aus dem
letzten Jahr dafür genannt, welche Einsatzformen das
waren. Diese bewegen sich vollkommen im Rahmen der
bisherigen Erfahrungen der ISAF im Norden des Landes. Sie gestatten, dass ich regional differenziere, weil es
in anderen Regionen, mit denen auch unsere kanadischen Freunde zu tun haben, ganz krass anders aussieht.
Darüber kann man nicht hinwegsehen.
Allerdings - auch das ist völlig richtig - ist diese
Quick Reaction Force Ende Oktober, Anfang November
letzten Jahres zum ersten Mal in ein Gefecht gekommen
und hatte einen ausdrücklichen Kampfeinsatz. Das kann
man nicht verniedlichen.
Zusammengefasst: Diese Truppe liegt mit ihrer Aufgabenstellung noch im Rahmen des bisherigen ISAFNord-Mandates; das ist eindeutig. Allerdings sind bestimmte Punkte klar zu garantieren. Erstens darf es nur
eine Unterstellung unter den Commander Nord geben.
Zweitens ist es - wie es im Mandat festgelegt ist - ein
Einsatz im Norden. Drittens ist die Aufgabenstellung
nicht so, wie sie von manchen fahrlässig beschrieben
wurde, dass es jetzt um offensive Terroristenjagd oder
offensive Aufstandsbekämpfung gehe. Nein, es geht
weiterhin um Stabilisierungsunterstützung, allerdings
mit härteren militärischen Anforderungen, und es ist
auch riskanter; da gibt es kein Vertun.
Wir sind hier auf dem Sicherheitssektor. Hier geht es
um schnelle Reaktion. Gestatten Sie, dass ich noch zu einem anderen Punkt komme, nämlich zu Yolo II. Dieser
Einsatz in Nordwest-Afghanistan war notwendig, weil
die Polizeikräfte vor Ort äußerst schwach waren. Wie
sieht es nun - Herr Staatssekretär Bergner, das geht jetzt
auch sehr stark an Ihre Adresse - mit dem Polizeiaufbau
aus, von dem wir alle wissen, dass er für nachhaltige
Sicherheit in Afghanistan von strategischer Bedeutung
ist?
({3})
Wir haben im letzten August, September und Oktober
festgestellt, dass die EUPOL-Mission der Europäischen
Union nicht in die Pötte kam, dass sie viel weniger
schaffte als das deutsche Polizeiprojekt. Wie sieht es
zurzeit aus? Im März sollen dort 195 Polizisten sein.
Zurzeit sind dort 30 internationale Polizisten. Wie sieht
es mit den deutschen Polizisten aus? Bis zum letzten
Jahr waren über 40 da. Jetzt sind gerade noch 15 dort.
Das bedeutet nichts anderes als: Hier wird die Kapitulation der Europäischen Union und der Bundesrepublik
Deutschland im entscheidenden Bereich des Polizeiaufbaus vorbereitet.
({4})
Ich muss der Bundesregierung sagen: Ich bin inzwischen
ausgesprochen zornig darüber, wie die Beschönigung
der Situation in diesem Bereich aus den Reihen der Bundesregierung bis gestern - heute haben Sie die Chance,
das zu ändern - fortgesetzt wurde.
Herr Kollege, ich muss Sie an Ihre Redezeit erinnern.
Ich komme zum Schluss; aber ich bin zornig.
({0})
Das ändert nichts daran, dass Sie Ihre Redezeit überschritten haben.
Worauf das so hinausläuft: Wir verlieren das besondere Vertrauen der Afghanen. Wir machen uns in der
Staatengemeinschaft lächerlich. Jetzt tut das not, was die
Kanadier und die Briten machen, was die Amerikaner
zweifach machen: endlich einmal eine unabhängige
Überprüfung des Afghanistan-Engagements, um klar zu
sehen, wie es aussieht, und nicht nur immer zu erzählen,
was Schönes gemacht wird. Wie sieht es aus? Was
kommt dabei heraus? Wo müssen wir umsteuern? Bitte,
die Entscheidung drängt!
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Bernd Schmidbauer
für die Fraktion CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wir sind im siebten Jahr unserer Anstrengungen, Afghanistan zu helfen und nicht mehr zuzulassen, dass es Terror gibt und dass es von diesem Gebiet
aus unter einem terroristischen Regime in allen Ländern
dieser Erde zu Anschlägen kommt, die, lieber Herr Lafontaine, ungeheuer viele unschuldige Opfer gefordert
haben.
({0})
Auch Menschen, die in keinem Zusammenhang mit den
Auseinandersetzungen in Afghanistan standen, wurden
Opfer dieses Terrors, der sich über viele Jahrzehnte aufgebaut hat. Alle Anschläge in unseren Ländern haben ihren Ausgangspunkt irgendwo in Afghanistan. Schon dies
ist Grund dafür, sich zu engagieren, Terror in der Welt zu
verhindern.
({1})
Was Sie gemacht haben, war sehr einfach.
({2})
- Da täuschen Sie sich gewaltig. Denken Sie auch an die
Zehntausende Toten in Afghanistan selbst. Sportplätze
wurden als Hinrichtungsstätten genutzt. Denken Sie daran, welche Chancen Kinder hatten, in die Schule zu gehen, und welche Chancen Frauen hatten, in diesem Land
an der Gestaltung der Gesellschaft mitzuwirken. Lieber
Herr Lafontaine, Sie müssten aus Ihrer Erfahrung, die
Sie teilweise auch in Regierungsverantwortung gemacht
haben,
({3})
sehr genau wissen: Es gibt nichts Verbrecherischeres auf
dieser Welt als das, was in der Vergangenheit in Afghanistan passiert ist. Und dann sollen die Bürger und soll
die Bundesrepublik Deutschland etwa wegsehen? Soll
die Solidarität aller Demokraten, zu der es nach den Anschlägen in den Vereinigten Staaten gekommen ist, beendet werden? Nein, ich denke, dass wir gut daran tun,
unser Engagement fortzusetzen.
Mit Ihnen und Ihren Genossen werden wir diese Debatten immer wieder führen müssen.
({4})
Dass sie ständig vor Landtagswahlen stattfinden, ist allerdings äußerst billig.
({5})
Glauben Sie bloß nicht, dass die Hessen darauf hereinfallen, wie Sie hier auftreten!
({6})
Glauben Sie nicht, dass es Hessen gibt, die so primitiv
sind, dass sie Ihre Manöver nicht durchschauen und entsprechend reagieren!
({7})
Von den Argumenten, die Sie anführen, habe ich persönlich die Nase voll.
({8})
Was wollen Sie eigentlich erreichen? Sie wollen, dass
wir Pazifismus praktizieren, unser Engagement beenden
und uns aus Afghanistan zurückziehen; denn Sie meinen, dann kehrt dort Frieden ein.
({9})
Würden wir so vorgehen, würde sich der Terror überall
ausbreiten, und zwar noch viel schlimmer als bisher. Das
würden Sie in Kauf nehmen.
Zu dem, was Sie im Hinblick auf den bayerischen
Ministerpräsidenten gesagt haben, stelle ich fest: Natürlich hat er recht. Natürlich ist es möglich, dass sich der
Terror gegen diejenigen, die sich engagieren, wendet.
Man muss damit rechnen, selbst im Visier dieser Verbrecher zu sein. Sie wollen nämlich nicht, dass wir uns engagieren. Genau deshalb möchte ich, dass wir unser
Engagement fortsetzen.
Wir müssen die Prinzipien, die wir selbst entwickelt
haben, einhalten. Dabei geht es vor allem um die Konzentration unseres Engagements im Norden des Landes.
Täglich können wir dort viele positive Meldungen vernehmen. Unser Engagement wird positiv aufgenommen,
und unsere Soldaten tun gemeinsam mit der Bevölkerung alles, um dieses Land aufzubauen. Richtig ist aber
auch, dass uns aus dem Süden des Landes und aus den
angrenzenden Provinzen Pakistans jeden Tag negative
Meldungen erreichen.
Tatsache ist aber - das sage ich auch an die anwesenden Gäste gerichtet -: Wir müssen uns solidarisch verhalten.
({10})
Ich glaube nicht, dass wir andere Nationen einfach außen vor lassen können und bestimmen sollten: Die einen
machen die Arbeit im Süden, die anderen machen die
Arbeit im Norden. Hier steht die Solidarität auf dem
Prüfstand. Auch die NATO steht auf dem Prüfstand. Wir
müssen uns im Norden und im Süden gemeinsam
engagieren.
({11})
- Das ist überhaupt kein Problem. Allerdings ist es
schwierig, Ihnen das klarzumachen; das versuche ich
aber schon gar nicht mehr.
Ich will noch einige Bemerkungen zu den Ausführungen von Herrn Nachtwei machen. Lieber Herr Nachtwei,
mit dem, was Sie zu EUPOL gesagt haben, haben Sie
völlig recht. Ich rede mir in den letzten Monaten den
Mund fusselig, um darauf hinzuweisen, was sich im Bereich von EUPOL abspielt.
({12})
Leider ist hier nur sehr wenig passiert. Es muss allerdings positiv hervorgehoben werden, dass unsere Soldaten derzeit verstärkt mit der Ausbildung von Polizisten
beschäftigt sind. Das ist nicht ihre primäre Aufgabe, aber
hier tut sich wenigstens etwas. Das möchte ich an dieser
Stelle gerne positiv herausstellen.
({13})
Ich sage ganz deutlich: Wir setzen den Schwerpunkt
unseres Engagements im Norden Afghanistans. Wenn es
um Nothilfe geht, sind wir aber auch im Süden des Landes vertreten. Gerade in den jüngsten Tagen ist wieder
einiges zu tun. Wir müssen unsere Solidarität unter Beweis stellen. Im Norden des Landes sind wir im Rahmen
ziviler und militärischer Missionen vertreten. Wir verfügen über ein Aufgabenprofil, an das wir uns halten. Erfolg wird uns aber nur dann zuteil - das wiederhole ich;
denn das muss immer wieder betont werden -, wenn wir
uns im Rahmen der NATO insgesamt solidarisch verhalten.
Allerdings gibt es Indiskretionen. Von Frau Homburger wird uns vorgeworfen, es gebe nicht genug Informationen. Frau Kollegin, Sie haben sich toll aufgeregt. Das
hat aber nur zur Folge, dass der Verteidigungsminister
seine Anstrengungen zur Information an der richtigen
Stelle fortsetzen wird.
({14})
Es gibt auch solche Indiskretionen, die ich nicht verstehe und die vielen erneut einen Vorwand liefern können, das gesamte Engagement infrage zu stellen. Da
wird polemisiert, da wird diskriminiert, und da wird aus
Büchern zitiert, die derzeit auf dem Markt sind. Wenn
man genau hinsieht, stellt man allerdings fest, dass die
Verfasser dieser Bücher ihre Aussagen schon relativiert
haben und an bestimmten Stellen Abstriche machen.
Zum Beispiel wird argumentiert, OEF sei nicht durch
das Mandat gedeckt, und die Ausrüstung wird kritisiert.
Selbst Bob Gates hat sich in den letzten Tagen zum Einsatz im Süden Afghanistans geäußert. 48 Stunden später
hat er seine Aussage relativiert. Durch dieses Verhalten
trägt man dazu bei, dass die Öffentlichkeit immer weniger Sympathie für unser Engagement hat. Das ist natürlich Absicht. Man möchte den Einsatz unserer Soldaten
in der Öffentlichkeit diskreditieren.
Herr Kollege, darf ich Sie an Ihre Redezeit erinnern?
Danke. Auch ich bin zornig, aber ich halte mich an
das, was Sie sagen.
({0})
Vielleicht ist es ein guter Hinweis, dieses Argument anzuführen.
Ich glaube, dass wir am 6. oder 7. Februar dieses Jahres die Entscheidung treffen werden, uns am Einsatz der
Quick Reaction Forces zu beteiligen. Warum eigentlich
nicht? Er dient der Sicherheit aller Soldaten. Dies dient
auch der Sicherheit in diesem Land; deswegen unterstütze ich das sehr. Soldaten in Afghanistan sind - das
will ich noch einmal sagen - keine Entwicklungshelfer;
aber sie garantieren die Sicherheit, ohne die Entwicklungshelfer nicht tätig sein können. Deshalb müssen wir
unseren Soldaten für ihren Einsatz danken. Ohne die
Hilfe unserer Soldaten gibt es keinen Frieden in diesem
Land.
Herr Kollege, mit oder ohne Zorn: Die Redezeit ist
weit überschritten.
({0})
Frau Präsidentin, ich beuge mich. - Herzlichen Dank.
({0})
Nächster Redner ist nun der Kollege Dr. Gregor Gysi
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
FDP, die Union und die SPD haben uns vorgeworfen,
hier Wahlkampf zu führen. Es ist interessant, darüber
nachzudenken. Man müsste zunächst einmal definieren,
was Wahlkampf ist. Für mich ist Wahlkampf der Versuch, Menschen von meinen politischen Auffassungen
zu überzeugen. Das mache ich als Politiker die ganze
Zeit; so gesehen bin ich immer im Wahlkampf, ist das
für mich nichts Besonderes.
({0})
Aber es gibt fairen Wahlkampf und es gibt unfairen
Wahlkampf, und da muss man unterscheiden. Nichts von
dem, worum es hier geht, hat die Linke entschieden; das
alles haben andere entschieden. Deshalb stellen wir das
zur Diskussion.
Wie man auf Welt Online lesen kann, rückt laut
NATO der erste Kampfeinsatz der Bundeswehr offenbar
immer näher. Das bringt den Bundesverteidigungsminister in Nöte, sodass er diesen Einsatz erst nach der Hessenwahl verkünden will. Da Sie mir das nicht glauben
werden, zitiere ich den SPD-Verteidigungspolitiker Jörn
Thießen, der, wie es in Bild steht, „vermutet, dass die
Bekanntgabe des neuen Einsatzes bewusst nach den
Landtagswahlen erfolge“. Ein ganz übler Wahlkampf ist
das, unehrlich ist das! Sagen Sie so etwas vorher!
({1})
Herr Schmidbauer, Sie haben gesagt, kein Hesse
werde auf uns hereinfallen. Ich sage Ihnen: Den miesesten Wahlkampf führt nun wirklich Herr Koch. Ich
möchte, dass von der Hessenwahl ein Signal ausgeht:
dass man in Deutschland mit ausländerfeindlichen Parolen keine Wahlen mehr gewinnt.
({2})
Oskar Lafontaine hat über einen Bericht des Stern gesprochen. Als Sie sich in diesem Zusammenhang aufregten, dachte ich, Sie wollten das dementieren. Das wollten Sie gar nicht. Sie wollten nur sagen, dass die
Bundeswehr nicht beteiligt war und Sie dagegen sind. Er
hat gar nicht behauptet, dass Sie dafür sind; ich glaube,
es ist eine Selbstverständlichkeit, dass wir alle dagegen
sind. Aber wir werden doch noch sagen dürfen, was in
Afghanistan passiert, woran man sich beteiligt, wenn
man Truppen dorthin schickt!
({3})
Noch etwas Interessantes: Norwegen zieht seine
schnelle Eingreiftruppe ab, weil die politischen Kräfte
sagen: Das ist der falsche Weg.
({4})
Und dann meldet sich Deutschland und bietet an, entsprechende Truppen zu schicken!
({5})
Sie reden hier die ganze Zeit davon, dass es darum
geht, Afghanistan aufzubauen. Eine schnelle Eingreiftruppe hat mit der Ausbildung der Polizei, mit der Ausbildung der Armee, mit Mädchen, die zur Schule gehen
können, nichts zu tun.
({6})
Die Bundeswehr ist jetzt seit fast sieben Jahren dort.
Was hat sie in den sieben Jahren gemacht? Es gibt keine
nennenswerte Polizei, es gibt keine nennenswerte Armee, das Bildungswesen ist rückständig.
({7})
Aber Sie haben immer noch die Illusion, mittels Krieg
Terror bekämpfen zu können.
({8})
Nun zum Inhalt; was uns vorgeworfen wird, ist ja
schwerwiegend. Der Chef der norwegischen Eingreiftruppe hat gesagt, die Soldaten seien darauf vorzubereiten, Krieg zu führen und das eigene Leben zu verlieren.
Das sagt Rune Solberg, nicht wir. Was meint Bundeswehrgeneral Kasdorf dazu? In der FAZ vom 17. Januar
steht zu lesen, wie er gefragt wurde:
Ist das sogenannte Targeting,
- das muss man übersetzen gezieltes Ausschalten gegnerischer Kämpfer, ein
Vorgehen der Isaf wie von OEF?
Seine Antwort:
Das gibt es in beiden Operationen. Das ist Teil des
Targeting, das ist Teil der Operationsführung.
Das ist gezieltes Töten, und das hat mit der Ausbildung
von Mädchen nichts zu tun, wenn ich das einmal sagen
darf.
({9})
Herr Schmidbauer, Sie haben behauptet, dass man
mittels Krieg Terror bekämpfen kann. Terror verurteilen
wir alle. Doch ist dieser Weg der Bekämpfung des Terrors wirklich der richtige? Denken Sie einmal darüber
nach: Wir sind in einer Spirale der Gewalt. Wenn Sie
eine Bombe werfen, wenn Sie gezieltes Töten und andere Dinge verrichten, treffen Sie immer auch Unschuldige. Das gilt auch in Afghanistan. Sie wissen, dass Sie
zum Beispiel Unbeteiligte und Unschuldige in Hochzeitsgesellschaften und Geburtengesellschaften getroffen haben. Diese haben Freunde und Angehörige. Dort
entsteht Hass. Irgendein reicher Bin Laden nutzt dann
diesen Hass und rekrutiert Terroristen - übrigens auch
Selbstmordterroristen. Er macht das ja nicht selber, sondern findet immer andere. Sie müssen meine Wut gar
nicht schüren; die ist schon da. Wir antworten dann wieder mit Bomben. Dann entstehen wieder neuer Hass und
neuer Terror.
Wenn die Industriegesellschaften nicht endlich Vernunft zeigen und aus der Spirale der Gewalt herausgehen, dann gibt es keine Lösung.
({10})
Deshalb sagen wir: Die Bundeswehr muss aus Afghanistan zurückgezogen werden.
({11})
Nun hat der Kollege Rainer Arnold für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Gysi und Herr Lafontaine hätten wirklich einen Oscar für diese reife schauspielerische Leistung, die
sie hier abgeliefert haben, verdient. Sie war wirklich sensationell.
({0})
Der Inhalt Ihres Stückes ist aber wirklich so billig, dass
ich fast versucht bin, in diesem Zusammenhang von einer Schmierenkomödie zu reden.
({1})
Wir führen heute deshalb eine überflüssige Debatte,
({2})
weil wir uns im Rahmen des im Oktober sehr sorgsam
beratenen Mandates bewegen. Die Anzahl der Soldaten,
die Aufgaben und die nördliche Provinz - all das haben
wir sorgsam abgewogen und im Oktober diskutiert und
entschieden. Deshalb ist diese Debatte heute wirklich
überflüssig.
Wir bewegen uns im Rahmen des Mandates der Vereinten Nationen. Sie versuchen immer, das Völkerrecht
für sich zu reklamieren. Sie sollten sich das Kapitel 7 der
UN-Charta einmal sorgsam durchlesen. Dann würden
Sie nämlich feststellen, dass alle Mitglieder der Vereinten Nationen aufgefordert sind, Beistand zu leisten,
wenn die Vereinten Nationen rufen. Sie koppeln sich von
dieser ethischen und moralischen Verpflichtung leider
dramatisch ab.
({3})
Es wurde hier auch deutlich, dass die Aufgaben, die
diese schnelle Eingreiftruppe hat, nicht mit einem Wort
zu fassen sind.
({4})
Es sind vielfältige Aufgaben. Klar ist: Für die deutschen
Soldaten wäre nur ein Modul neu, nämlich, dass sie auch
eine Sicherheitsvorsorge betreiben. Was läge denn näher,
als dass die Deutschen im Norden Sicherheitsvorsorge
für die Deutschen betreiben? Ohne dieses Modul wäre
der gesamte Einsatz nicht verantwortbar.
Sie sagen hier die Unwahrheit, wenn Sie behaupten,
die Norweger zögen ab, weil sie das Risiko nicht mehr
eingehen wollen. Die Norweger leisten in Afghanistan
weiterhin sehr schwierige und ernsthafte Beiträge. Nach
einer seriösen einjährigen Vorankündigung leisten sie
dieses Modul nun nicht mehr, weil ihre kleine Armee in
diesem Bereich keine Durchhaltefähigkeit für viele Jahre
hat. Dies und nichts anderes ist die Wahrheit.
({5})
Zu dieser Sicherheitsvorsorge gehört natürlich auch
- das gibt die UNO vor -, dass die staatliche Ordnung in
Afghanistan im Zweifelsfall mit militärischen Mitteln
durchgesetzt werden muss. Deshalb sind auch Soldaten
und nicht nur technische Hilfswerke da. Wir brauchen
beides; denn beides ist wichtig. Dies ist aber die Aufgabe der Soldaten. Das ist auch verantwortbar und im
Übrigen nicht gefährlicher als die Aufgaben, die das
PRT auf der Straße oder bei den Patrouillen ansonsten
leistet. Die Norweger haben in diesem Bereich in den
vergangenen Jahren glücklicherweise keine Verluste gehabt.
Nein, wir müssen das einmal vor dem Hintergrund
von Schuld und Verantwortung diskutieren, Kolleginnen
und Kollegen von den Linken. Wir wissen, dass wir eine
große Verantwortung übernehmen.
({6})
Entsprechend sorgsam beraten wir das auch in meiner
Partei. Wir machen es uns nicht leicht. Wir machen uns
diese Gedanken, und wir machen es uns auch intern
wirklich sehr schwer.
Das Gegenteil von Verantwortung übernehmen ist
verantwortungsloses Handeln. Wir wissen, dass man in
einem solchen Einsatz möglicherweise auch Schuld auf
sich lädt. Eines ist aber auch klar: Wer in der Welt helfen
kann und wissentlich zuschaut, wie ein Volk unterdrückt
und ermordet wird, der lädt auf jeden Fall Schuld auf
sich. Diesen Zusammenhang müssen sich die Linken
wirklich einmal klarmachen.
({7})
Meine Damen und Herren von der Linken, Sie klatschen, wenn Herr Schmidbauer von Pazifismus spricht.
In unserer Gesellschaft muss Pazifismus sicherlich Platz
haben. Auch in meiner Partei, der Sozialdemokratie,
sind Pazifisten willkommen. Aber Afghanistan ist möglicherweise kein besonders geeigneter Ort, um den Menschen mit pazifistischen Ideen zu helfen. Herr Lafontaine, in Wirklichkeit bedienen Sie eine ganz andere,
eine rechte, national denkende Klientel, wenn Sie den
Menschen einreden, es sei gut, wenn sich Deutschland
zuerst um sich selber kümmere und wenn es die Schotten
dicht mache. Sie wollen keine Verantwortung in der Welt
übernehmen. Es ist schlimm, dass Sie als sogenannter
Linker dieses Lager ansprechen.
({8})
Klar ist: Folgten der Deutsche Bundestag und 37 Nationen - eine ist auf der Zuschauertribüne vertreten - Ihrem Ratschlag, fielen die Menschen in Afghanistan in einen Steinzeitislamismus und eine Welt zurück, in der
Drogenkartelle allein das Sagen hätten. Sie sind damit
völlig isoliert. Wir sind auf einem schwierigen Weg.
Aber wir werden ihn in aller Sorgfalt weitergehen, bis die
Menschen in Afghanistan selbst in der Lage sind - und
darum geht es -, für ihre eigene Sicherheit zu sorgen.
Dabei helfen ihnen die deutschen Soldaten jeden Tag,
und zwar nicht als Haudraufs, sondern verantwortungsvoll, vorsichtig und mit angemessenen Mitteln. Dafür
sind wir sehr dankbar.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Gert Winkelmeier.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Von Skandinavien kann man eine Menge lernen, zum
Bespiel wie eine Volkswirtschaft so organisiert wird,
dass bei den Menschen genügend für ein soziales Leben
ankommt. Man kann aber auch lernen, wie in der Bevölkerung geführte Debatten von der Politik aufgenommen
und die Anregungen in die Praxis umgesetzt werden.
Aus dem Unmut über das Missverhältnis zwischen militärischen Ausgaben und ziviler Aufbauhilfe hat die norwegische Regierung Konsequenzen gezogen: Die Mittel
für die Aufbauhilfe wurden gesteigert, die militärischen
Kosten wurden gesenkt. Diese deutliche Akzentverschiebung führt dazu, dass die norwegische schnelle
Eingreiftruppe ab Mitte 2008 dem deutschen Kommandeur des Regionalkommandos Nord nicht mehr als
Kampftruppe zur Verfügung stehen wird. Sie wird stattdessen zum besseren Schutz der eigenen Aufbauteams
eingesetzt. Angesichts der kriegstreiberischen Rhetorik
und des rücksichtslosen Vorgehens anderer Verbündeter
ist dieser Schritt geradezu ein Akt der Vernunft.
({0})
In Deutschland hingegen gehen die Uhren offensichtlich völlig anders. Sie wollen dem Beispiel von gleich
hohen Ausgaben für zivile Hilfe und militärischen Einsatz nicht folgen. Bundesregierung und parlamentarische
Mehrheit scheren sich auch keinen Deut darum, dass die
überwiegende Mehrheit der Bevölkerung gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr ist, wie eine AllensbachUmfrage vom Oktober 2007 zeigt. Offenkundig verfängt
die Propaganda nicht mehr, den Krieg in Afghanistan als
eine Art Entwicklungshilfe in Uniform zu beschönigen.
Die Regierung in einer funktionierenden Demokratie
muss doch Konsequenzen daraus ziehen, wenn ihr Souverän, das Volk, in den fundamentalen Fragen von Krieg
und Frieden nicht mehr hinter ihr steht.
({1})
Sie hingegen haben das Politische verlassen und sich
auf die Ebene der militärischen Logik begeben. Das ist
jedoch nicht Ihre Aufgabe. Mit der leider absehbaren
Entscheidung, das norwegische Kontingent durch eine
deutsche schnelle Eingreiftruppe zu ersetzen, geben Sie
einem seit Monaten medial aufgebauten Druck nach, der
ausschließlich mit militärischen Argumenten unterlegt
wurde, einem Druck, an dem sich auch Ihre eigenen Generale vor Ort und der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes beteiligt haben. Das norwegische Beispiel zeigt
aber, auf welchem Irrweg Sie voranschreiten. Zug um
Zug lassen Sie zu, dass Deutschland immer tiefer in einen neokolonialen Krieg verstrickt wird, der den Widerstand der Afghanen gegen Besatzung und Besetzung
brechen soll.
Die Zahl der Anschläge im Winter 2007/2008 ist signifikant höher als ein Jahr zuvor. Was dies für den
Sommer bedeuten kann, kann sich jeder ausrechnen.
Wollen Sie dann wiederum militärisch eskalieren? General Kasdorf, der Chef des ISAF-Stabes, hat am 17. Januar in einem FAZ-Interview schon Kampfpanzer ins
Gespräch gebracht.
Ich kann Ihnen nur eines sagen: Hören Sie auf, sich
von Generälen politisch beraten zu lassen!
({2})
Wohin das führt, hat schon Hindenburg gezeigt und zeigt
heute der ehemalige Vorsitzende des NATO-Militärausschusses Naumann mit seinen hanebüchenen Forderungen nach einer nuklearen Ersteinsatzdoktrin für die
NATO. Stimmen Sie stattdessen dem Antrag der Linken
zu, damit Sie nicht ebenso von Ihren Sünden eingeholt
werden wie jetzt im Fall Kosovo!
Danke schön.
({3})
Der Kollege Parlamentarischer Staatssekretär Thomas
Kossendey hat jetzt das Wort.
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Präsidentin! Ich bedanke mich im Namen der Bundesregierung
für die intensive Anteilnahme, die das Parlament an der
möglichen Entsendung einer Quick Reaction Force nach
Afghanistan nimmt. Ich will allerdings neben den vielen
konstruktiven Beiträgen, die es hier gegeben hat, sehr
deutlich sagen: Das, was die Kollegen Lafontaine und
Gysi hier vorgetragen haben, gehört einer Art Demagogie an, die wir in Deutschland eigentlich überwunden
glaubten.
({0})
Über diese Einheit, die möglicherweise in Afghanistan ihren Dienst tun soll, ist hier einiges gesagt worden,
was nicht ganz richtig war. Deswegen lassen Sie mich
noch einmal einige Fakten zusammentragen:
Im November hat unser Generalinspekteur die Generalinspekteure der anderen im Norden Afghanistans vertretenen Nationen zu einer Besprechung über die Frage
eingeladen, wer nach dem Ausscheiden der Norweger
die Quick Reaction Force übernimmt. Daraufhin hat die
NATO eine Umfrage unter den zehn beteiligten Nationen veranstaltet, die Ende Januar beendet sein soll. Bis
dahin sollen mögliche Kontingente für die Nachfolge der
Norweger genannt werden. Die Ergebnisse werden dann
ausgewertet und am 7./8. Februar in Vilnius zu einer
konkreten Entscheidung gerinnen.
({1})
- Lieber Herr Gehrcke, halten Sie doch die NATO nicht
für so kleinkariert, dass sie auf deutsche Landtagswahlen
Rücksicht nimmt! Ich glaube, da gibt es andere Kriterien.
({2})
Ich denke, wenn die Entscheidung ansteht, wird das
Ministerium die entsprechenden Ausschüsse und das
Parlament unterrichten. Dann können wir gerne in Ruhe
weiter darüber diskutieren.
Lassen Sie mich aber zu der Art und Weise, wie die
Quick Reaction Force arbeiten soll, noch einige Stichworte sagen; die Erfahrungen der Norweger zeigen, was
dort zu tun ist. Die Truppe der Norweger war in den letzten zwei Jahren insgesamt 26-mal im Einsatz, davon
zweimal in Alarmeinsätzen. Im Wesentlichen ging es um
Patrouilleneinsätze, Absicherungsoperationen, den Einsatz gegen gewaltbereite Menschenmengen, vor denen
Menschen geschützt werden sollten, auch um Evakuierungsaktionen, Zugriffs- und Durchsuchungsoperationen,
um offensive Operationen gegen gegnerische Kräfte;
außerdem waren sie als taktische Reserve im Norden
Afghanistans eingesetzt.
Ich glaube, diese Truppe ist wichtig, weil dadurch der
Ansatz, den wir mit unseren über 3 000 Soldaten in
Afghanistan verfolgen, unterstützt wird. Das Arbeiten
unserer Soldatinnen und Soldaten, aber auch der zivilen
Hilfsorganisationen wird dadurch sicherer. Ich denke,
deswegen ist es auch wichtig, dass sie gemeinsam mit
den afghanischen Sicherheitskräften, mit der afghanischen Armee, die übrigens mittlerweile durch gute Ausbildung zur Hälfte aufgebaut worden ist, und mit den afghanischen Polizeikräften, die schon zu einem gerüttelt
Maß existent sind und ihre Aufgabe wahrnehmen, operiert.
Dies bedeutet auch keine neue Qualität unserer Arbeit. Das ist zwar eine neue Aufgabe - das sollte man
sehr deutlich sagen -; aber diese Eingreiftruppe war
schon immer eine wichtige Teilkomponente der Arbeit
der Soldatinnen und Soldaten im Norden. Sie wurde bislang von den Norwegern gestellt und unterstand dem
Kommando des deutschen Generals. Das heißt, wir hatten auch bislang schon für die Quick Reaction Force der
Norweger nicht nur eine politische, sondern auch eine
militärische Verantwortung.
Wir brauchten diese Soldaten dort nicht, wenn es
nicht zumindest ein in Teilen feindliches Umfeld gäbe.
Was einige glauben, was unsere Soldaten dort tun könnten - in Oliv Brunnen bohren oder Schulen bauen, sozusagen als Ersatz für das Technische Hilfswerk -, hat Ihnen diese Regierung nie vorgegaukelt.
({3})
Wir haben immer wieder sehr deutlich gemacht, dass im
Rahmen der ISAF-Operationen Soldaten helfen, aber
auch kämpfen können müssen, um den Aufbau dort voranzubringen. Sie müssen kämpfen können, wenn es darauf ankommt; das hat Minister Jung in diesem Hause
mehrfach gesagt.
Frau Kollegin Homburger hat die Ausrüstung angesprochen. Ich möchte Sie, Frau Kollegin Homburger,
darauf hinweisen, dass gerade in den letzten zwei Jahren
die Ausrüstung in den Einheiten, die in Afghanistan stationiert sind, massiv verbessert worden ist. Wir haben einen Anteil an geschützten Fahrzeugen, der so hoch ist
wie noch nie. Mit Blick auf den Bericht von General
Warnecke sollten Sie sich vielleicht das in Erinnerung
rufen, was gestern im Ausschuss gesagt wurde. General
Warnecke hat an keiner Stelle seines Berichtes die Meinung geäußert, dass die Ausrüstung seiner Einheiten unzureichend sei. Er hat Optimierungsbedarf aufgezeigt.
Wir erwarten von unseren Kommandeuren, dass sie in
ihren Berichten die Situation ehrlich und ungeschönt
darstellen.
Ich komme nun zu dem vom Stern abgedruckten
Buch, das hier erwähnt worden ist. Das Ministerium hat
jedes einzelne Kapitel daraufhin durchgesehen, was sowohl für deutsche wie auch für NATO-Soldaten zutreffen könnte. Wir haben bei keinem dieser Vorwürfe von
Menschenrechtsverletzungen einen präzisen Anhaltspunkt dafür gefunden, dass sie zutreffen könnten. Das
Beispiel mit den Äpfeln haben wir ausführlich besprochen. Wir haben bei unseren Verbänden und bei allen anderen NATO-Verbänden nachgeforscht, ob es irgendjemanden gibt, der davon Kenntnis hat. Es hat sich
niemand gemeldet. Ich muss Sie fragen: Wie glaubwürdig ist eigentlich ein Zeuge, der fünf Jahre mit diesem
schrecklichen Geheimnis lebt, um es dann - wahrscheinlich gegen Geld - einer Illustrierten zu verkaufen? Sie
sollten bei der Nennung von Zeugen etwas vorsichtiger
sein.
({4})
Der Kollege Gysi hat wieder einmal gefragt: Was hat
das, was wir als QRF bezeichnen, mit den Rechten von
Frauen, mit dem Bau von Schulen usw. zu tun? Sehr
viel, Herr Kollege Gysi. Denn die Frauen könnten heute
nicht frei in Afghanistan leben, wenn es dort nicht die
ISAF-Truppe gäbe.
({5})
Die Schulen würden nicht wieder aufgebaut, wenn es die
Truppe dort nicht gäbe. Es wären dort auch keine
8 Millionen Schülerinnen und Schüler in der Lage, in die
Schule zu gehen, wenn wir dort nicht wären.
({6})
Wir werden an unserem Konzept festhalten. Es lassen
sich für unsere Aufgabe vier Stränge nennen: Wir werden schützen, helfen, vermitteln, und wir werden da, wo
es notwendig ist, auch kämpfen. Das ist ein Auftrag, den
unsere Soldaten dort schon haben. Wir werden auch in
Zukunft so handeln, wie es der Deutsche Bundestag beschlossen hat. Egal um welche Aufgabe unserer Soldaten es sich in Afghanistan handelt: Wir werden sie mandatskonform wahrnehmen.
({7})
- Herr Kollege Gehrcke, zu dem Thema „gezielte Tötungen“ wird der Kollege Ströbele eine sehr ausführliche
Antwort bekommen. Denn das, was Sie aus dem Interview von General Kasdorf herauslesen, nämlich dass
sich unsere Soldatinnen und Soldaten dort möglicherweise völkerrechtswidrig verhalten, trifft in keinem einzigen Fall zu. Dies wird auch in Zukunft nicht so sein,
weil sich unsere Soldatinnen und Soldaten nach den ihnen vorgegebenen Regeln richten. Darauf können Sie
sich verlassen.
({8})
Wir werden mandatskonform arbeiten. Wir werden in
der Nordregion bleiben und die Obergrenze von
3 500 Soldaten einhalten. Wenn irgendein Einsatz außerhalb des Nordens erforderlich sein sollte, werden wir
dies so regeln, wie es durch das Mandat festgelegt worden ist. Wir werden darüber in den Ausschüssen berichten. Von der politischen Leitung wird dann entschieden.
Daran brauchen Sie keinen Zweifel zu haben. Das haben
wir in der Vergangenheit auch so gemacht.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Ich bitte Sie alle
ganz herzlich um Ihre Unterstützung hinsichtlich einer
sachgerechten Information über den Afghanistan-Einsatz vor allem mit Blick auf mögliche Veränderungen.
Wir brauchen in Afghanistan einen langen Atem. Unsere
Maßnahmen und die unserer Partner zur Ausbildung der
afghanischen Streitkräfte und der afghanischen Polizei
beginnen langsam Früchte zu tragen. Was der Kollege
Nachtwei in Bezug auf die Polizeiausbildung angemahnt
hat, ist ein Kapitel - das wissen wir aus langen Beratungen im Ausschuss -, das uns natürlich nach wie vor beschäftigt. Wir werden Ende März mit 195 Kräften bei
EUPOL vertreten sein. Wir werden durch die Verstärkung der Feldjäger die Arbeit effektiver gestalten. Es ist
uns aber auch klar, dass es dabei zu Rückschlägen kommen kann.
Wir werden uns davon nicht beirren lassen und werden unseren Beitrag im Rahmen eines vernetzten Ansatzes auch in Zukunft einbringen. Wer heute den Abzug
unserer Soldatinnen und Soldaten fordert, der gibt grünes Licht für die Rückkehr des Terrors. Das kann nicht
unser Wille sein.
Herzlichen Dank.
({9})
Für die SPD-Fraktion ist Detlef Dzembritzki der
nächste Redner.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir diskutieren wahrlich nicht zum ersten Mal über das
Thema Afghanistan. Einige in diesem Haus wollen allerdings immer wieder den Eindruck erwecken, als wenn
wir über die Ereignisse, die im Augenblick in Afghanistan stattfinden, überrascht sein müssten.
In einigen Reden ist gesagt worden, es gehe nur um
Wahlkampf. Herr Gysi, Sie haben diesen Gedanken hier
zu Recht eingebracht. Auch ich finde es bedrückend, mit
welchen stilistischen Mitteln bei uns Wahlkampf geführt
wird. Eines muss ich Ihnen allerdings sagen: Sie werfen
dem hessischen Ministerpräsidenten zu Recht vor, er
versuche, mit Ausländerfeindlichkeit Wahlkampf zu machen. Ich kann Sie nur dringend bitten, nun nicht den
Versuch zu machen, mit Populismus, der noch überzogener ist, gleichzuziehen und unsere Bevölkerung im
Wahlkampf mit völlig falschen Informationen zu bedenken.
({0})
Herr Kollege Lafontaine, ich finde es wirklich vermessen,
({1})
wenn Sie aus einem Buch zitieren, dessen Argumente
nicht belastbar sind, und wenn Sie den Eindruck erwecken - dies versuchen Sie zumindest -, wir, das Parlament, könnten mit dem Tatbestand einverstanden sein,
den Sie uns hier vorgeworfen haben. Dieser Versuch ist
in schlimmer Weise populistisch und reicht fast an
demagogisches Verhalten heran.
Herr Kollege Lafontaine, ich habe alle Ihre Zurufe bei
den Reden zuvor ertragen müssen. Sie sagen, es gehe um
Menschenleben. Natürlich geht es um Menschenleben:
um das Leben unserer Soldatinnen und Soldaten, um das
Leben unserer Entwicklungshelferinnen und Entwicklungshelfer und um das Leben der afghanischen Bevölkerung, um Menschen, die auf unsere Hilfe angewiesen
sind.
({2})
Bei dem furchtbaren Attentat in der Zuckerfabrik in
Baghlan ist kein einziger Militär ums Leben gekommen.
Es waren ausschließlich afghanische Zivilisten, Abgeordnetenkolleginnen und -kollegen, die dort umgebracht
worden sind. Natürlich geht es um Menschenleben.
Menschen zu schützen, das ist mit die Aufgabe, die unsere Bundeswehr und ihre Partner dort haben.
Es ist doch überhaupt nicht wegzudiskutieren, dass
die Lage in Afghanistan höchst schwierig und komplex
ist. Wenn das nicht der Fall wäre, wären wir nicht da. Ich
habe vorhin gehört, dass wir von der Koalition den Eindruck erweckt hätten, bei der Bundeswehr handele es
sich um eine Art THW. Ich habe von dieser Stelle aus
mehrfach darauf hingewiesen, dass wir zur Bewältigung
der Aufgaben dort nicht das THW entsenden können,
sondern dass wir auf das Militär, auf eine entsprechende
Robustheit, angewiesen sind, um uns die notwendige
Zeit, die wir für den zivilen Aufbau brauchen, zu erarbeiten, der ohne diesen militärischen Schutz nicht denkbar ist.
({3})
Kollege Nachtwei hat dankenswerterweise die Meinungsumfragen, die zu unterschiedlichen Zeiten zum einen von kanadischer Seite und zum anderen von der
ARD angestellt worden sind, angesprochen. Ich fand das
hochinteressant, weil wir hier ja häufig über ein Bild diskutieren, das zum Teil nur durch die veröffentlichte Meinung gezeichnet wird und nicht durch Präsenz im Land.
Wir haben hier zum Beispiel gehört, dass die große
Mehrheit der afghanischen Bevölkerung mit der militärischen Präsenz nicht nur einverstanden ist, sondern sie
auch weiterhin wünscht. Das Empfinden ist dort doch
nicht, dass wir als Besatzer oder als Kriegstreiber gekommen wären. Die Menschen wissen vielmehr, dass
wir eine Schutzfunktion wahrnehmen. Sie wären bitter
enttäuscht, wenn wir aus Afghanistan herausgingen.
({4})
Wenn Sie sich einmal die Mühe machen, sich diese
Untersuchung anzuschauen, dann stellen Sie natürlich
fest, dass die Hoffnungen nicht voll erfüllt worden sind.
Sie sehen auch, dass es 2006 und 2007 minimale Enttäuschungen gab. Sie werden aber feststellen, dass eine
breite Mehrheit die Erwartung hat, dass die Solidarität
mit Afghanistan weitergeht; sie ist im Norden noch größer als im Süden. 60 Prozent der Menschen in ganz
Afghanistan sind der vollen Überzeugung, dass wir dort
unsere Arbeit leisten müssen. Schauen Sie sich zum Beispiel die Zustimmung zur Militärausbildung und zur
Polizei an: Über 75 Prozent der Menschen in Afghanistan finden das richtig.
Umso wichtiger ist es dann - ich unterstreiche dies
auch von unserer Seite noch einmal -, die Effektivität im
zivilen Tun enorm zu erhöhen. Dies gilt für die Polizei,
die Justiz, die Bildung und die Gesundheit. All die Diskussionen, die wir hier im Augenblick führen, ob nun
zur schnellen Eingreiftruppe oder zu unserem militärischen Einsatz, machen nur dann Sinn, wenn wir in der
Lage sind, im zivilen Bereich die Erwartungen zu erfüllen, die etwa im Afghanistan Compact zusammengetragen worden sind und die die Menschen in Afghanistan
an uns haben. Nur dann ist die Sinnhaftigkeit des militärischen Handelns gegeben.
Deswegen mein dringender Appell an die Bundesregierung: Nehmen Sie all die Debatten ernst, die wir gerade zum zivilen Bereich geführt haben, unterstützen Sie
die internationale Zusammenarbeit und steigern Sie die
Effektivität. Die Menschen in Afghanistan, aber auch die
Menschen hier in Deutschland warten darauf.
Vielen Dank.
({5})
Hans Raidel spricht jetzt für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Damit es nicht untergeht, will ich zuallererst unseren Soldaten im Einsatz für ihren verantwortungsvollen Dienst herzlich danken und sie vor jedem Klamauk
und Krawall sowie vor jeder unseriösen Behandlung dieses Themas in Schutz nehmen. Das ist notwendig.
Lieber Herr Lafontaine, lieber Herr Gysi, Sie wollen
doch ernst genommen werden. Denken Sie bitte einmal
darüber nach, dass es von der Erhabenheit zur Lächerlichkeit nur ein ganz kleiner Schritt ist.
({0})
- Ja, an Ihnen; das haben Sie heute bewiesen. Das ist genau der Punkt.
Meine Damen und Herren, Fakt ist: Wir haben dieses
Mandat beschlossen und unsere sicherheitspolitischen
Interessen und Verpflichtungen seinerzeit ausreichend
begründet. Die Zielsetzungen und die politischen Vorgaben sind unverändert geblieben. Wir bewegen uns mit
unseren Aufgaben, auch wenn neue dazukommen, nur
innerhalb dieses Mandates. Alles andere erforderte eine
neue Beschlussfassung in diesem Hause.
Derzeit liegt noch keine konkrete Anfrage vor. Diese
Debatte ist also eigentlich nicht zwingend erforderlich.
Sie macht nur dann Sinn, wenn wir militärisch wie politisch die richtigen Signale geben. Das erste Signal heißt
Solidarität. Unsere Verbündeten bei der NATO und unsere Partner im Einsatz haben einen Anspruch darauf
- dies sollen sie zweifelsfrei wissen -, dass wir unverändert engagiert bleiben. Wir tragen für die Nordregion in
Afghanistan die Führungsverantwortung, in die übrigens
auch die Norweger eingeschlossen sind. Wenn sich Norwegen jetzt aus dieser Aufgabe zurückzieht, bleiben sie
nach ihrem eigenen Bekunden mit einer neuen Aufgabenstellung weiterhin dort.
Für uns bedeutet dies Folgendes: Fiele diese Schutzkomponente ersatzlos weg, entstünde ein nicht vertretbares Sicherheitsrisiko für die ISAF insgesamt, aber natürlich insbesondere für unsere Soldaten. Im Sinne der
Sicherheitsvorsorge ist es also zwingend erforderlich,
dass diese Lücke wieder geschlossen wird. Für unseren
eigenen Selbstschutz ist es notwendig, auch darüber
nachzudenken, diese Aufgabe selbst zu übernehmen, natürlich bei bester Ausbildung und bester Ausrüstung sowie mit besten Kräften und bei entsprechend großem
Verantwortungsbewusstsein der politischen und militärischen Führung.
Das zweite Signal sollte an unsere Bevölkerung gehen. Unsere Sicherheitsinteressen müssen der Bevölkerung immer wieder klargemacht werden. Es muss
hervorgehoben werden, dass unser ISAF-Einsatz ein
ernsthaftes politisches und militärisches Engagement ist,
das, wie ich meine, mehr gesellschaftliche Aufmerksamkeit verdient.
Jeder Bürger weiß - wir sollten das noch einmal klarmachen -, dass solche Einsätze immer auch ein Wagnis
für Leib und Leben unserer Soldaten sind. Vorhin wurde
gesagt, dass der Tod näherrückt. Das ist je nachdem, wie
sich kritische Situationen entwickeln, durchaus richtig
und darf auch nicht verschwiegen werden.
Das dritte Signal muss an unsere Soldaten gehen. Von
Anfang an war klar, dass das Mandat auch Bewährung
im Kampf bedeuten kann. Deswegen darf es keinen
Zweifel daran geben, dass wir, das Parlament bzw. die
Regierung, in schwierigen und fordernden Situationen
eine besondere Verantwortung haben und an der Seite
unserer Soldatinnen und Soldaten stehen.
Wir müssen die politische Verantwortung und die
Fürsorge für unsere Soldaten in den Mittelpunkt stellen.
Ich meine, alles andere wäre ein falsches Signal. Deswegen ist die Forderung richtig, den Ausschuss sehr detailliert über das Einsatzkontingent, die Ausbildung und die
Ausrüstung zu informieren, damit wir dazu beitragen
können, die Weichen richtig zu stellen. Wir haben volles
Vertrauen in die militärische und politische Führung.
Das vierte Signal muss an die afghanische Regierung
und die afghanische Bevölkerung gehen. Sie sollen wissen, dass wir dort verstärkt engagiert bleiben. Das gilt
auch für die militärische Versorgung und Absicherung.
Denn wie jeder weiß, ist ohne diese Absicherung der
Wiederaufbau in allen Bereichen der Daseinsvorsorge
nicht möglich.
Das fünfte Signal muss an die Taliban gehen. Sie
müssen verstehen lernen, dass wir mit verbesserten operativ-taktischen Maßnahmen auch ein klares politisches
Zeichen für unseren festen Willen geben,
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
- in Afghanistan weiter für Menschenwürde, Demokratie, Frieden, Freiheit und Wohlstand einzutreten. Ich
hoffe, dass diese Zeichen dort auch richtig verstanden
werden.
Herr Kollege!
Für den Fall, dass die NATO-Anfrage kommt, signalisieren wir schon heute unsere positive Einstellung dazu.
Herzlichen Dank.
({0})
Als letzter Redner in der Aktuellen Stunde bekommt
der Kollege Gert Weisskirchen für die SPD-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Lafontaine, lieber Kollege Gysi, ich habe
eine herzliche Bitte, auch wenn ich nicht weiß, ob das
noch zu Ihnen vordringt
({0})
- ich bin mir da nicht ganz sicher -: Es geht in der Tat
um Menschenleben, um Tod und um Gewalt. Beides gibt
es in diesem Land, wie Sie wissen. Herr Lafontaine, ich
darf Sie als früheren Sozialdemokraten in allem Freimut
bitten, eine Lehre, die uns Herbert Wehner mitgegeben
hat, sehr ernst zu nehmen. Diese Lehre besagt, dass man
sich in den politischen Debatten auch darüber im Klaren
sein sollte, ob nicht die Argumente und Instrumente, die
man in der Debatte gebraucht, bestimmte Grenzen überschreiten. Wenn - wie Herbert Wehner, glaube ich, zutreffend festgestellt hat - kriegswissenschaftliche Methodik in einer Debatte in der Weise eingesetzt wird,
dass die Verantwortung der Politik im Mark getroffen
werden soll, dann muss man genau wissen, welche Grenzen man überschreitet.
Was Sie vorgetragen haben, hat die Grenzen überschritten.
({1})
Das will ich Ihnen deutlich sagen.
({2})
Es gibt nämlich sehr wohl das Problem, lieber Kollege
Lafontaine, dass man Menschenleben als Instrument
einsetzt. Sie sind derjenige, der den Tod instrumentalisiert und als Waffe in der Politik benützt. Damit ist
die Grenze deutlich überschritten, lieber Kollege Lafontaine.
({3})
Ich will dazu nur eines sagen:
({4})
Gert Weisskirchen ({5})
Es wird die Zeit kommen, in der über Schuld und Verantwortung im Detail debattiert werden wird. Ich reklamiere, dass wir, die Sozialdemokratie, in jedem Fall
unserer historischen Verantwortung dann, wenn es darum ging, unschuldigen Menschen zu helfen und, wenn
es sein musste, auch begrenzte militärische Gewalt einzusetzen, gerecht wurden und wir uns in langwierigen,
ernsthaften und quälenden Diskussionen darüber verständigt haben. Im Falle von Afghanistan sind wir diesen
Weg gegangen, und er ist richtig, weil dies den Menschen in Afghanistan hilft, ihren eigenen, selbstbestimmten Weg zu gehen, lieber Kollege Lafontaine.
({6})
Der entscheidende Schlüssel - insofern finde ich es
etwas bedauerlich, dass wir dieses Jahr gerade mit dieser
Diskussion beginnen -, um Afghanistan voranzubringen,
ist Entwicklung.
({7})
Der Außenminister sagte, dass wir den Menschen in Afghanistan in diesem bitteren Winter helfen und ihnen zusätzliche Millionen an Finanzmitteln zur Verfügung stellen. Die Menschen in Afghanistan haben Angst vor dem
Wintereinbruch, der gegenwärtig erkennbar ist. Wir wollen ihnen helfen, damit sie über den Winter hinwegkommen und im Frühling und Sommer Perspektiven haben,
ihr Land durch Arbeit voranzubringen. Das ist es, was
nötig ist. Wir müssen mithelfen, damit dieses Land eine
Chance hat, sich selbst zu verändern und die Situation zu
verbessern.
Lieber Kollege Lafontaine, wir alle sollten die
Ängste, Sorgen und Nöte, die alle in diesem Land haben,
nicht instrumentalisieren, sondern wir sollten unsere
Verantwortung wahrnehmen und helfen, damit Afghanistan eine Chance hat, sich so zu entwickeln, dass ein
ziviler Aufbau in diesem Land möglich ist. Das ist unsere erste und wichtigste Aufgabe hier in diesem Parlament. Wir erfüllen diese Aufgabe; aber wir wissen auch,
dass es notwendig ist, diesen Aufbau in begrenzter
Weise militärisch zu sichern und zu unterstützen. Die
Afghanen sollen wissen: Wir lassen sie nicht allein.
({8})
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Diana
Golze, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Kinderarmut bekämpfen - Kinderzuschlag
ausbauen
- Drucksache 16/6430 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
Hierzu ist verabredet, eine Stunde zu debattieren. Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Dr. Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bevor
mir wieder vorgeworfen wird, dass wir Wahlkampf machen - man traut sich kaum noch, etwas zu sagen -,
räume ich ein, dass ich wirklich viele Menschen davon
überzeugen möchte, ernsthaft etwas gegen Kinderarmut
nicht nur bei uns hier in Deutschland, aber auch bei uns
zu tun.
({0})
Wir sind eine der reichsten Gesellschaften auf der
Erde. Das kann niemand leugnen. Wir sind eines der
ökonomisch stärksten Länder. Es besteht aber eine zunehmende Kinderarmut.
Es gibt in jeder Gesellschaft nur eine unschuldige
Gruppe. Wir alle gehören nicht dazu. Wir alle haben
schon unsere Fehler begangen etc. Es gibt aber eine unschuldige Gruppe: die Neugeborenen. In Deutschland
liegen aber schon Welten zwischen den Chancen des einen und der anderen Neugeborenen. Die Gesellschaft
kann all diese Probleme nicht lösen; das weiß ich. Wir
müssen aber ernsthafte Maßnahmen ergreifen, um Kinderarmut zu überwinden. Kinderarmut kann man natürlich nur überwinden, wenn man Elternarmut überwindet.
Einen anderen Weg gibt es nicht.
({1})
Ich will Ihnen, Sozialdemokraten und Grünen, eine
Sache sagen - Sie werden die Sache nicht los; es sei
denn, sie korrigieren sich an diesem Punkt mal richtig -:
Das Deutsche Kinderhilfswerk hat am 15. Dezember
2007 im Kinderreport Deutschland 2007 festgestellt,
dass sich die Zahl der armen Kinder in Deutschland seit
der Einführung von Hartz IV Anfang 2005 verdoppelt
hat; das ist eine direkte Folge. Es sind derzeit 2,6 Millionen.
Jetzt möchte ich etwas zum Wahlkampf sagen: Sowohl Herr Jüttner als auch Frau Ypsilanti sagen: Die
Agenda 2010 ist richtig. Hartz IV ist richtig. - Wenn
man so etwas sagt, dann will man die Kinderarmut fortsetzen. Wir aber wollen hier einen anderen Weg gehen.
({2})
Das Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und
Jugendberufshilfe hat für den Vergleichszeitraum 2005
und 2006 festgestellt, dass die Anzahl der Kinder, die
auf Sozialgeld angewiesen sind, um 12,2 Prozent gestiegen ist. Sie reden immer vom Aufschwung. Sie sagen, er
komme überall an. Die Realität ist aber, dass wir immer
mehr arme Kinder in Deutschland haben.
({3})
Ich sehe diese Kinder in Berlin und in anderen Städten, auch in Suppenküchen.
Ich möchte Herrn Koch einmal sagen: Wenn man etwas gegen Jugendkriminalität und gegen Gewaltbereitschaft tun will, muss man dort ansetzen. Gewaltbereitschaft entsteht, wenn ich Kinder in die Suppenküche
schicke und sie damit frustriere.
({4})
Das Gefängnis kommt viel zu spät. Hier müssen wir früher etwas tun.
({5})
Wir haben immer mehr Kinder in Ostdeutschland, deren Familien auf Arbeitslosengeld II angewiesen sind,
und vor allem ausländische Jugendliche, deren Familien
zunehmend darauf angewiesen sind. Die Bundeskanzlerin hat am 28. November 2007 hier im Bundestag zum
Thema Kinderzuschlag Folgendes erklärt - ich bitte heute
hier um Aufklärung -:
Wir wollen, dass niemand wegen der Kinder in die
Bedürftigkeit fällt; deshalb muss der Kinderzuschlag weiterentwickelt werden.
Dann:
Deshalb werden wir den Kinderzuschlag erhöhen
und vereinfachen.
Daraufhin hat unsere Fraktion eine Kleine Anfrage an
die Bundesregierung gestellt. Zwei Wochen später, am
14. Dezember 2007, kam die Antwort der Familienministerin. Was teilte Sie mit? Wörtlich:
Die Bundesregierung beabsichtigt nicht, den Kinderzuschlag zu erhöhen.
Das können Sie in der Drucksache 16/7586 auf Seite 8 nachlesen.
Das heißt, die Kanzlerin erklärt in der Debatte hier
gegenüber der Bevölkerung der Bundesrepublik
Deutschland, dass sie das Kindergeld erhöhen wird.
({6})
Die zuständige Ministerin sagt zwei Wochen später: An
eine Erhöhung wird gar nicht gedacht.
({7})
Gestern hat sie das im Ausschuss noch einmal bestätigt.
Ich sage Ihnen: Das ist ein Skandal!
({8})
- Kinderzuschlag. Habe ich „Kindergeld“ gesagt? Dann
habe ich mich versprochen; Entschuldigung. Beide
meinten den Kinderzuschlag. Ich rede nicht vom Kindergeld, sondern vom Kinderzuschlag. Die Kanzlerin hat
gesagt, dieser Zuschlag werde erhöht; die Familienministerin schließt es aus. Das ist die Wahrheit.
Jetzt kommen wir zum nächsten Punkt: Der Kinderzuschlag ist ohnehin viel zu gering. Er beträgt nur
140 Euro.
({9})
Wissen Sie, wie viele Familien den Zuschlag bekommen? Geplant waren 530 000 Familien. Bis jetzt sind es
gerade mal 130 000. Also haben wir uns entschieden,
fünf Forderungen zu stellen.
Erstens. Erhöhung und Reform des Kinderzuschlags.
Wir müssen den Kinderzuschlag von maximal 140 Euro
erhöhen, und zwar für unter 14-Jährige auf 200 Euro und
für 14-Jährige und Ältere auf mindestens 270 Euro. Die
Einkommensgrenzen der Eltern nach unten müssen entfallen. Es geht doch nicht an, dass man jemandem sagt:
Sie sind so arm; Sie können schon Sozialhilfe beantragen; dann bekommen Sie keinen Kinderzuschlag mehr. Wo leben wir denn hier?
({10})
Diese Grenzen müssen entfallen. Wenn das geschieht,
wird auch der Kreis derjenigen viel größer, die den Kinderzuschlag beziehen. Wir müssen das Wohngeld um
15 Prozent erhöhen, weil es entsprechende Mietsteigerungen gegeben hat.
Wir müssen zweitens den Hartz-IV-Regelsatz für Kinder erhöhen, und zwar auf rund 300 Euro; sonst können
Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfänger nicht dafür
sorgen, dass ihre Kinder in der Bundesrepublik Deutschland auch nur halbwegs chancengleich aufwachsen können.
({11})
Dann kommen wir zu einem dritten Punkt - er ist mir
ganz wichtig -: Die öffentliche Bildung muss gebührenfrei sein und muss flächendeckend in höchster Qualität
bereitgestellt werden. Wir sind hier nicht in Dubai. Unsere Gold- und Erdölvorkommen sind sehr begrenzt. Die
Stärke Deutschlands bestand immer darin, eine top ausgebildete Bevölkerung zu haben. Jetzt sind wir in Europa
unterdurchschnittlich geworden. Das ist die Wahrheit.
Der Punkt ist, dass Kinder aus ärmeren Familien besonders schlechte Chancen in unserem Bildungssystem
haben. Das muss sich ändern.
({12})
Deshalb müssen wir ganz andere Angebote machen, ob
in Krippen, Kindertagesstätten, Schulen oder Unis. Dazu
gehört auch ein kostenloses Mittagessen. Ich möchte
nicht, dass Schulkinder in die Suppenküche gehen müsDr. Gregor Gysi
sen. Das demütigt sie, das frustriert sie. Das können wir
uns als eines der reichsten Länder der Erde nicht leisten.
({13})
In dem Zusammenhang möchte ich auch darauf hinweisen, dass der Anteil der Kinder aus einkommensstarken Familien an den Studierenden enorm zugenommen
hat. Dagegen ist der Anteil der Kinder aus einkommensschwachen Familien an den Studierenden von 23 auf
12 Prozent gesunken. Damit liegt bei uns der Anteil aus
dieser Gruppe noch unter dem Niveau in den USA. Das
ist doch nicht hinnehmbar.
Wir brauchen keine Studiengebühren. In Berlin gibt
es keine Studiengebühren. Wissen Sie, was jetzt passiert,
nachdem Hessen, Niedersachsen und viele andere Länder Studiengebühren eingeführt haben? Die Kinder aus
ärmeren Familien kommen zum Studieren nach Berlin.
Nun regen sich natürlich die Berliner Eltern auf, weil
ihre Kinder hier keinen Platz mehr bekommen. So geht
es nicht. Es darf in ganz Deutschland keine Studiengebühren geben, wenn wir Chancengleichheit bei der Bildung herstellen wollen.
({14})
Wir brauchen auch mehr Gesamtschulen. Bis zur
zehnten Klasse können alle Kinder sehr wohl gemeinsam zur Schule gehen. Damit erhöhen sich nämlich die
Bildungschancen für Kinder aus ärmeren Familien ganz
gewaltig. Behaupten Sie bloß nicht, dass man da
schlecht ausgebildet würde. Ihre Bundeskanzlerin hat
eine Gesamtschule besucht; ich habe eine Gesamtschule
besucht. Auf uns trifft vieles zu, aber nicht, dass wir
schlecht ausgebildet wären. Das ist die Wahrheit.
({15})
Weiterhin müssen wir den Sonderfonds zur Stärkung
der Kinder- und Jugendarbeit aufstocken. Das haben wir
beantragt. Mindestens 150 Millionen Euro brauchen
Bund, Länder und Kommunen jährlich.
Schließlich muss auch das Kindergeld aufgestockt
werden, in einem ersten Schritt auf 200 Euro. So können
wir Kinderarmut bekämpfen.
Jetzt werden Sie argumentieren, das alles sei nicht bezahlbar. Dazu sage ich Ihnen nur eines: Die Steuer- und
Abgabenquote, also nicht nur die Steuerquote, beträgt in
Deutschland 35,6 Prozent. Im EU-Durchschnitt unter
Einschluss von Bulgarien, der Slowakei, von Estland
etc. beträgt die Steuer- und Abgabenquote 40,8 Prozent.
({16})
Würden wir sie nur auf den EU-Durchschnitt anheben,
hätten wir jährlich 120 Milliarden Euro Mehreinnahmen.
Damit könnten wir all das bezahlen und Kinderarmut in
Deutschland überwinden.
({17})
Die Kollegin Ingrid Fischbach hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin baff. Herr Gysi, dass ich auf Sie direkt antworten
darf, ist mir eine besondere Freude. Sie haben sich ja gerade so aus dem Fenster gelehnt, dass die Zuhörer und
Zuschauer vor dem Fernseher und hier auf der Tribüne
glauben, Sie wollten etwas gegen Kinderarmut tun und
sie sogar beseitigen.
({0})
- Wollen Sie?
({1})
Dann frage ich Sie ernsthaft, wie Sie es mit Ihrem Gewissen verantworten können, gegen Kinderarmut zu
kämpfen und zugleich einem Konzept wie dem der
„Arche“ in Berlin - in diesem Land tragen Sie ja auch
Regierungsverantwortung -, das bundesweit Anerkennung findet, die Mittel komplett zu streichen.
({2})
In der „Arche“ bekommen Kinder eine warme Mahlzeit,
wenn sie sie brauchen; indem in ihr Kinder betreut werden, übernimmt sie auch Aufgaben der Jugendhilfe.
Sieht so Ihre Bekämpfung von Kinderarmut aus?
({3})
Sie haben in Berlin die Mittel für die Kinder- und Jugendhilfe um 160 Millionen Euro gekürzt. Jetzt behaupten Sie hier ernsthaft, Sie wollten etwas dagegen tun?
Eine Lachnummer ist das.
({4})
Ich könnte die Liste noch verlängern und Sie an vielen Beispielen vorführen.
({5})
Das ist ja das Herrliche, Herr Gysi: Sie verkünden
Dinge, die Ihnen die Menschen draußen gerne glauben,
weil sie denken, Sie erzählten hier die Wahrheit. Aber in
Wirklichkeit erzählen Sie wissentlich die Unwahrheit.
Sie wollen gar nicht das, was Sie hier erzählen. Ihnen
geht es nur um Propaganda und Populismus.
({6})
Das möchte ich aber nicht, weil die Sache zu wichtig ist.
Ich wäre froh, Herr Gysi, wenn Sie jetzt zuhörten,
denn Sie können jetzt noch etwas lernen. Sie haben nämlich offensichtlich noch nicht verstanden, worum es bei
dem Kinderzuschlag eigentlich geht. Deshalb werde ich
Ihnen jetzt etwas dazu sagen.
({7})
Außerdem werde ich Ihnen gleich noch ein Wort zur
Kanzlerin sagen. Hören Sie zu! Sie lernen etwas für das
Leben. Das ist manchmal ganz gut.
Herr Gysi hat hier über den Kinderzuschlag gesprochen. Ich habe festgestellt, dass er nicht verstanden hat,
warum der Kinderzuschlag zu welchem Zeitpunkt und
mit welchen Zielsetzungen eingeführt wurde. Als er zu
Beginn des Jahres 2005 eingeführt wurde, sollte denjenigen Eltern geholfen werden, die, nur weil sie Kinder haben - sie selbst haben genügend Einkommen, um ihren
eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten -, Arbeitslosengeld II beziehen müssen.
Frau Fischbach!
Deshalb war der Ansatz, an dieser Stelle etwas zu tun,
richtig und wichtig.
Frau Fischbach, der Kollege Wunderlich möchte eine
Zwischenfrage stellen. Möchten Sie sie zulassen?
Ja.
Bitte schön, Herr Wunderlich.
Frau Fischbach, es geht um das Thema „Arche“. Der
Berliner Senat, der Mangel bewirtschaften und verwalten muss, hat die Zuschüsse für den Verein „Arche“, der,
um seinen Betrieb aufrechtzuerhalten, jährlich Hunderttausende von Euro - exakte Zahlen kann ich nicht nennen - braucht, gekürzt. Dieser Zuschuss war im Verhältnis zu den Betriebskosten gering, weil diese Kosten
durch Spendenmittel bei weitem gedeckt wurden. Daher
hat der Senat die eingesparten Mittel lieber Vereinen gegeben, die ohne diese Zuschüsse nicht überleben könnten. Stimmen Sie mir zu, dass der Senat damit sozialverträglich gehandelt hat?
Im Übrigen ist der Ausbau des Kinderzuschlags im
Koalitionsvertrag vereinbart. Ich weiß nicht, ob Sie mir
auch in diesem Punkt zustimmen können.
Herr Kollege, lesen Sie doch einmal nach, was Ihr
Kollege nach der Abstimmung gesagt hat: Er bedauerte,
dass das abgelehnt werden musste; er hätte gern anders
gehandelt.
({0})
Ein weiteres Beispiel. Sie geben mir jetzt die Gelegenheit, die Situation hier vor Ort - Sie sprechen über
den Berliner Senat - aufzugreifen.
({1})
- Ich bin noch nicht fertig. Ich würde auf Ihre Frage,
Herr Wunderlich, gern noch weiter antworten. Ich hoffe,
Sie sind damit einverstanden, Frau Präsidentin. Herr
Wunderlich, Sie geben mir jetzt die Gelegenheit, noch
etwas auszuholen. Das würde ich gerne tun.
Sie haben gerade auch gesagt: Wir wollen, dass jedes
Kind ein kostenloses Mittagessen bekommt.
({2})
Hier vor Ort hat der Senat beschlossen, den Anteil an der
Finanzierung dieses Vorhabens zu erhöhen. Das, was
man beschlossen hat, sieht aber anders aus, als das, was
zum Beispiel Roland Koch in Hessen oder Christian
Wulff in Niedersachsen gemacht haben. Beide ließen ihren Beschlüssen Taten folgen, das heißt, die Landeszuschüsse flossen, unmittelbar nachdem diese Beschlüsse
gefasst worden waren. Hier in Berlin wurde der Beschluss gefasst; aber es steht noch gar nicht fest, wie er
umgesetzt werden soll. Obwohl das Ganze seit dem
1. Januar dieses Jahres angeboten werden soll, gibt es
noch nicht die notwendigen Verordnungen. Also wurden
auch hier wieder leere Versprechungen gemacht. So viel
zu Ihrer Arbeit hier im Senat. - Danke schön.
({3})
Durch den Kinderzuschlag sollte denjenigen Eltern
geholfen werden - an diesem Punkt war ich, bevor der
Kollege Wunderlich den Exkurs in die Berliner Landespolitik begann -, die wegen der Kosten für ihre Kinder
Arbeitslosengeld II beziehen müssen. Nach geltendem
Recht beträgt der Kinderzuschlag pro Kind bis zu
140 Euro im Monat. Er wird um eventuelle Einkommen
und Vermögen des Kindes gemindert; das ist gar keine
Frage. Die Eltern müssen, um den Kinderzuschlag zu bekommen, eine Mindesteinkommensgrenze in Höhe des
Bedarfs der Eltern erreichen und dürfen die Höchsteinkommensgrenze nicht überschreiten. Außerdem muss im
konkreten Fall die Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II
vermieden werden. Die Einkommen aus der Erwerbstätigkeit werden zu 70 Prozent angerechnet. Die Dauer des
Bezuges war auf 36 Monate beschränkt.
Wie Sie gerade schon gemerkt haben, ist es sehr kompliziert; es gibt sehr viele Details. Deshalb hat die Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag beschlossen - ({4})
- Über die Dauer haben wir schon das letzte Mal geredet, Frau Golze. Angesichts dessen, wie viel Zeit Sie für
etwas brauchen, sollten Sie ganz ruhig sein. - Ich wiederhole: Die Bundesregierung hat in ihrem KoalitionsIngrid Fischbach
vertrag beschlossen, den Kinderzuschlag zu überarbeiten
und weiterzuentwickeln. Das ist richtig und wichtig. Der
erste Schritt wurde bereits im letzten Jahr vollzogen, als
die Befristung aus der Regelung herausgenommen
wurde.
({5})
Jetzt komme ich auf Ihren Irrtum oder auf das Missverständnis bezüglich der Worte der Kanzlerin zu sprechen. Auch wir wollen, dass mehr Eltern in den Genuss
des Kinderzuschlags kommen. Wenn sie ihn brauchen,
dann müssen sie die Möglichkeit haben, diesen Zuschlag
zu erhalten. Deshalb werden wir die Anzahl derjenigen,
die den Kinderzuschlag beziehen können, erhöhen. Wir
wollen, dass die Bewilligungsquote höher ist als 12 oder
13 Prozent: Mehr bedürftige Familien sollen den Kinderzuschlag bekommen, sodass über 500 000 Kinder
nicht mehr unter die Arbeitslosengeld-II-Regelung fallen.
({6})
Wir werden im Ministerium prüfen, wie wir die Regelung zum Kinderzuschlag in Zukunft vereinfachen und
mehr Transparenz erreichen können.
({7})
- Sie haben den Antrag im letzten Jahr geschrieben. Jetzt
ist Januar. Insofern sind Sie der Zeit nicht gerade voraus
gewesen. Das hätten Sie eher machen können.
Wir setzen auf drei Bausteine:
Erstens. Das Ministerium will auf die Begrenzung
nach unten und oben verzichten. Wir wollen eine einheitliche Bemessungsgrenze einführen, nach der pauschal
gehandelt werden kann. So wollen wir eine flexiblere
Ausgestaltung des Kinderzuschlags ermöglichen. Durch
den Wegfall der Begrenzung nach unten sollen die Eltern
die Möglichkeit haben, zwischen Arbeitslosengeld II und
Kinderzuschlag zu wählen. Das ist richtig und wichtig.
Herr Müntefering lächelt. Ich weiß, dass es zu dem einen
oder anderen Punkt andere Vorschläge gibt. Um der Sache willen werden wir hinsichtlich der Ausgestaltung des
Kinderzuschlages zu einer vernünftigen Einigung kommen.
Jetzt muss ich erst einen Schluck trinken. Herr Gysi
hat mich doch erregt. Dass er das noch schafft, hätte ich
nie gedacht.
({8})
- Auch bei diesem ernsten Thema sollten wir das Lachen
ab und zu nicht vergessen.
Die zweite Säule ist die Anrechnung des Erwerbseinkommens. Wir sollten darüber nachdenken, die Anrechnungsquote von 70 auf 50 Prozent zu reduzieren. Dann
würde es sich gerade für Eltern lohnen, mehr zu verdienen und das eigene Erwerbseinkommen zu erhöhen. Das
würde sich für die Familien netto rechnen, weil sie dann
nicht durch Gegenrechnung wieder weniger in der Tasche hätten.
Die dritte Säule ist die Herausnahme der Befristung.
Das ist bereits erledigt.
Bildung ist nichtsdestotrotz wichtig. Sie ist der
Hauptschlüssel im Kampf gegen Armut. Wir haben diesbezüglich die eine oder andere Initiative auf den Weg gebracht. Bildung sorgt dafür, dass man auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen kann, und nur wer arbeitet, hat die
Möglichkeit, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.
Dazu wird gleich meine Kollegin reden.
Dann können Sie ja jetzt zum Schluss kommen.
Genau. Ich bin beim letzten Punkt, Frau Präsidentin.
Ich folge den Worten des Bundespräsidenten Horst
Köhler, der sagte:
Wir brauchen Achtsamkeit für Kinder vor allem in
den Herzen und Köpfen der Erwachsenen.
Wenn das überall angekommen ist, bin ich mir sicher,
dass wir gemeinsam für eine Verbesserung beim Kinderzuschlag eintreten werden.
({0})
Jetzt spricht für die FDP-Fraktion die Kollegin Ina
Lenke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir stellen fest: Herr Gysi und die Linken haben diesen Showantrag in dieser Woche platziert, um gute Munition für
die Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen zu haben. Das ist kein ernstgemeinter Antrag, sondern ein für
die Wahlen hergestellter.
({0})
Herr Gysi hat, wie Frau Fischbach gesagt hat, die Katze
aus dem Sack gelassen. Herr Gysi, Sie brauchen Steuererhöhungen, damit Sie all die Versprechen, die Sie Ihrer
Wählerklientel gemacht haben, bezahlen können.
Die FDP wollte die Mehrwertsteuererhöhung nicht
haben. Die FDP fordert - um ins Detail zu gehen -, dass
Kindern und Erwachsenen bei Einkommensteuer und
Lohnsteuer der gleiche Grundfreibetrag eingeräumt wird.
Keiner von Ihnen ist auf diese Idee gekommen, und unsere Anträge dazu sind immer abgelehnt worden. Sie geben den Eltern für ihre Kinder einen geringeren Freibetrag, obwohl Kinder im Jahr vier Paar Schuhe brauchen
und Erwachsene nur ein Paar, weil ihre Füße nicht mehr
wachsen. Sie sollten einmal darüber nachdenken, ob da
nicht etwas passieren müsste.
({1})
Die Linke fordert in ihrem Antrag die Erweiterung
der Regelungen des Kinderzuschlages, der als Konzept
der Bundesregierung die Menschen nicht erreicht. Das
Konzept des Kinderzuschlages dieser und auch der alten
Bundesregierung - Sie müssen hier wahrhaftig sein - ist
gescheitert.
Eben hat Frau Fischbach das ganz klar gesagt: Nur
12 Prozent der Antragsteller - das waren im Jahr 2006
circa 600 000 - haben überhaupt den Kinderzuschlag bekommen. Frau Fischbach, diese Menschen haben garantiert nicht die Höchstsumme von 140 Euro im Monat erhalten. Man muss auch sehen, dass das Verfahren sehr
bürokratisch ist. 18 Prozent der Gesamtsumme sind Verwaltungskosten, also Bürokratiekosten. Was haben Sie
dagegen gemacht?
Bei diesem bisher erfolglosen Konzept, Kinder aus
der Armut zu holen, setzt nun die Linke-Fraktion darauf,
alles zu verschlimmbessern. Familienministerin von der
Leyen und Herr Müntefering, SPD, haben zu Beginn ihrer Zusammenarbeit - dieses Ziel stand schon im Koalitionsvertrag; das wusste ich gar nicht - vor zwei Jahren
die Chance verpasst, die Regelungen des bereits seit
2005 bestehenden Kinderzuschlages im Bundeskindergeldgesetz zu verbessern. Dieses Gesetz ist nicht verbessert worden. Vor zwei Jahren haben Sie sich das in die
Hand versprochen. Jetzt wollen Sie in der letzten Phase
dieser Legislaturperiode etwas machen.
Die Entfristung des Kinderzuschlages bringt zwar den
Familien jetzt etwas, aber es ist kein Gesamtkonzept.
Das Konzept ist falsch. Diese Regelung ist nur eine Notmaßnahme der Großen Koalition; denn die Strukturen
des Kinderzuschlages sind grundsätzlich nicht verbessert
worden. Das heißt, die Große Koalition ist bis heute
nicht in der Lage, sich auf vernünftige Regelungen des
Kinderzuschlages zu einigen. Frau Fischbach, auch Ihre
Rede war kein positiver Beitrag; denn Sie selber haben
gesagt, dass der Kinderzuschlag viel zu kompliziert ist.
({2})
Die FDP-Bundestagsfraktion fordert die Bundesregierung auf, erst einmal - damit ist sie schon seit fast anderthalb Jahren beschäftigt - die 145 ehe- und familienbezogenen Leistungen zu überprüfen, die 180 Milliarden
Euro ausmachen. Wenn sie das gemacht hat, dann müssen die Fraktionen, alle, wie sie hier in ihren unterschiedlichen Farben vertreten sind, Gesamtkonzepte auf
den Tisch legen. Es darf nicht wieder an irgendwelchen
kleinen Schräubchen in die falsche Richtung gedreht
werden. Unter der alten Regierung, an der die SPD beteiligt war, und auch unter der neuen Regierung, an der die
SPD wiederum beteiligt ist, ist die Kinderarmut gewachsen. Das können Sie nicht wegdiskutieren. Da hat das
Drehen an kleinen Schrauben überhaupt keine Wirkung.
Sie müssen sich schon etwas anderes einfallen lassen.
({3})
Auf die Bewertung der Analyse der 145 ehe- und familienbezogenen Leistungen im Umfang von 180 Milliarden Euro warten wir schon seit 2007. Was sagt das
Ministerium? Herr Kues, Sie haben gesagt, die Analyse
werde im April vorliegen. Wollen wir mal sehen, ob sie
im April tatsächlich auf dem Tisch liegt. Danach muss
man über die Analyse nachdenken. Erst Ende des Jahres
werden wir eine echte Analyse auf dem Tisch haben.
Dann aber ist das dritte Jahr dieser Legislaturperiode
verstrichen, ohne dass ein Konzept vorliegt. Wir hören
immer wieder: Wir wollen mal sehen. Aus diesem
Grunde pocht die FDP darauf, dass die Analyse endlich
auf den Tisch kommt. Ich jedenfalls dränge im Ausschuss darauf. Auch die Antworten auf die Anfragen an
die Bundesregierung lassen auf sich warten. Bisher liegt
also nichts auf dem Tisch.
Ich komme zum Schluss. Die FDP-Bundestagsfraktion schlägt vor, erst einmal die Analyse über die Wirkungen der ehe- und familienbezogenen Leistungen aufzuzeigen. Erst dann werden wir die Leistungen an Familien,
bei denen keine positiven Effekte zu beobachten sind, und
solche, mit denen Familien wirklich geholfen wird, bewerten können. Erst danach sollten wir über effektivere
Familienleistungen nachdenken. Aus diesem Grund werden wir diesem aufgeregten Antrag der Linken kurz vor
den Wahlen in Hessen und Niedersachsen jedenfalls unsere Stimme nicht geben.
({4})
Der Kollege Wolfgang Spanier spricht jetzt für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich weiß nicht, Herr Gysi, ob ich Sie jetzt enttäusche, aber
Ihre Rede hat mich nicht erregt, sondern eher enttäuscht.
Sie haben hier wieder einmal den üblichen Katalog von
Forderungen heruntergerasselt. Vor ein paar Monaten lag
Ihre Forderung bei etwa 157 Milliarden Euro an jährlichen zusätzlichen Ausgaben. Diese Summe - das habe
ich in den letzten Wochen gehört - ist mittlerweile weit
überschritten. Ich vermute, Ende des Jahres sind Sie so
weit, dass Sie in Ihren Forderungen die Höhe der Steuereinnahmen des Bundes mit 238 Milliarden Euro erreicht
haben. Das heißt, letztlich fordern Sie indirekt eine Verdopplung der Steuern. Aber gut, das ist Ihre Sache.
({0})
Zu Ihnen, Frau Lenke: Ich glaube, das ist der falsche
Weg. So recht Sie haben, dass wir alle Familienleistungen überprüfen sollten, so unrecht haben Sie, wenn Sie
sagen: Erst einmal die Analyse, dann eine Auswertung,
dann ein Gesamtkonzept, und dann entscheiden wir über
konkrete Maßnahmen. Ich glaube, so viel Zeit sollten
wir uns nicht lassen. Möglicherweise sind wir dann im
Jahr 2009 oder 2010.
({1})
Für uns Sozialdemokraten ist das Ziel klar - ich gehe davon aus, dass wir alle in diesem Parlament darin übereinWolfgang Spanier
stimmen -: Wir wollen gleiche Lebenschancen für alle
Kinder. Ich glaube, da stimmen wir überein.
({2})
Es geht nicht nur um materielle Armut, es geht auch
um das, was Wissenschaftler die Lebenslage der Kinder
nennen, zum Beispiel das erhöhte Gesundheitsrisiko, die
deutlich schlechteren Bildungschancen, natürlich auch
das Wohnumfeld und viele andere Faktoren. Herr Gysi
hat es vorhin angesprochen. Es ist natürlich eine Binsenweisheit, wenn man sagt: Armut der Kinder ist letztlich
die Armut der Eltern. Aber es ist wichtig, dass man das
berücksichtigt und betont.
Ursachen der Armut - auch da sind wir uns alle einig sind in erster Linie Arbeitslosigkeit, aber auch Scheidung und in unserem Land leider auch Kinderreichtum.
Wenn man etwas gegen Kinderarmut tun will, dann ist
das Wichtigste, dass man an genau diesen Ursachen, vor
allem an der Hauptursache, nämlich Arbeitslosigkeit der
Eltern, ansetzt. Mir ist aufgefallen, Herr Gysi, dass Sie
dazu kein Wort gesagt haben.
({3})
- Das lag vielleicht an den sieben Minuten Redezeit, das
will ich Ihnen zugestehen.
Zu Ihrem Antrag zum Kinderzuschlag. Sie äußern sich
gar nicht zum Kinderzuschlag, wie wir ihn konzipiert haben, sondern Sie fordern etwas in Richtung bedarfsorientierter Grundsicherung. Darüber kann man sicherlich diskutieren. Aber der Antrag ist so kurz gefasst, dass er
Wichtiges übersieht, nämlich die Zusammenhänge mit
anderen Leistungen: Kindergeld, Steuerfreibeträge usw.
Wenn das, wie Sie es vorschlagen, verwirklicht würde,
würden wir große Schwierigkeiten und Probleme bekommen; von den Kosten - das habe ich vorhin schon
angesprochen - ganz zu schweigen.
Der Kinderzuschlag ist nicht so erfolglos, wie er hier
heute dargestellt worden ist. Immerhin haben 120 000 Kinder davon profitiert. Das heißt, mithilfe dieses Kinderzuschlags sind die Eltern zusammen mit ihren Kindern aus
dem Bezug von Leistungen nach dem SGB II herausgekommen. Ich denke, das ist zunächst einmal gut.
({4})
Die zusätzliche Leistung pro Kind beträgt im Durchschnitt 93 Euro. Nachweislich haben in erster Linie kinderreiche Familien davon profitiert. Soweit, so gut.
Wir haben gemerkt - das ist das Problem -, dass die
übergroße Zahl der Anträge abgelehnt werden musste
und dass die Einkommensgrenzen überarbeitet werden
müssen. Das heißt im Klartext - ich will hier nicht in die
Einzelheiten gehen; Frau Fischbach ist schon darauf eingegangen -: Wir müssen die Hürden abbauen, um auf
diese Weise zu erreichen, dass mehr Familien und damit
mehr Kinder den Kinderzuschlag bekommen. So können
wir sie aus der Armut, aus dem Bezug von Leistungen
nach dem SGB II, herausholen. Das ist unser Ziel.
({5})
Dann ist es ein Dreiklang von Familienleistungen:
Kindergeld plus Kinderzuschlag plus Wohngeld. Ich persönlich - ich glaube, da stehe ich in diesem Saal nicht
allein da - habe mich darüber gefreut, dass Minister Tiefensee einen Vorschlag in dieser Richtung gemacht hat.
Diesen Dreiklang müssen wir dabei im Auge behalten.
Beim Wohngeld ist der Aspekt der Kinder sicherlich
stärker zu berücksichtigen. Das haben wir bereits bei der
letzten Wohngeldreform so gemacht.
Ich will Ihnen gern zugestehen - Herr Müntefering
hat das als Minister eingeleitet -, dass wir noch einmal
über die Regelsätze und vor allen Dingen über die zeitlichen Abstände ihrer Anpassung beim Bezug von Leistungen nach dem SGB II nachdenken müssen. Das ist sicherlich nicht ganz so leicht zu bewerkstelligen. Das ist
jetzt keine Ausrede, sondern Fakt. Ich glaube, dass die
Neubemessung im zeitlichen Abstand von fünf Jahren
der tatsächlichen wirtschaftlichen Entwicklung nicht gerecht wird.
Schlüssel zur Bekämpfung von Armut und Kinderarmut ist also Arbeit. So ist der Kinderzuschlag konzipiert.
Er erreicht die Eltern, die Leistungen nach dem SGB II
beziehen und arbeiten, aber ein Einkommen erzielen, das
unterhalb der Regelsätze der Sozialhilfe liegt.
In meinem Wahlkreis, in Herford, sind 25 Prozent der
Anträge, die bei der Arge gestellt werden, Anträge auf
Aufstockung. Diese Anträge werden von Eltern gestellt,
die zwar Arbeit haben, die aber mit ihrer Arbeit ein Einkommen erzielen, das unterhalb der Sozialhilfesätze
liegt. Nicht wenige von ihnen sind Vollzeitbeschäftigte.
Deswegen sage ich Ihnen - jetzt schaue ich zu denen, die
in diesem Hause rechts von der Mitte sitzen -: Wer über
Kinderarmut redet, darf zum Thema Mindestlohn nicht
schweigen.
({6})
Wir brauchen existenzsichernde Löhne. Armut hat
nicht nur mit materiellen Aspekten zu tun. Zur Bekämpfung von Armut ist Geld wichtig, aber nicht hinreichend.
Ein ganz entscheidender Schlüssel zur Bekämpfung und
Vermeidung von Kinderarmut ist Bildung. Die Entwicklung, die in unserem Land in diesem Bereich stattfindet,
ist ein Skandal; das sage ich mit meinem beruflichen
Hindergrund als Lehrer.
({7})
- Hier geht es nicht nur um ein paar Jahre. Das ist in unserem Land seit 30, 40 Jahren der Fall. Es ist völlig
wurscht, wer regiert.
({8})
Es handelt sich um verfestigte Strukturen, die dazu führen, dass die soziale Herkunft für die Bildungschancen
in unserem Land ganz entscheidend ist. Wer gleiche Lebenschancen für alle Kinder schaffen will, muss an genau dieser Stelle ansetzen.
({9})
Wir haben das erkannt. Der Stellenwert der frühen
Förderung der Kinder, vor allen Dingen der sozial benachteiligten Kinder, ist in Deutschland in den letzten
Monaten deutlich gestiegen. Wir haben Maßnahmen ergriffen. In diesem Zusammenhang muss man sehen, dass
wir bis zum Jahre 2013 für 35 Prozent der unter Dreijährigen Kitaplätze schaffen wollen. In diesem Zusammenhang muss man auch sehen - darauf pochen wir ganz besonders -, dass es danach einen Rechtsanspruch geben
wird. Das ist ein ganz entscheidender Schritt, um die Lebenschancen und die Bildungschancen aller Kinder zu
verbessern.
Zu diesen Maßnahmen gehört auch das Ganztagsschulprogramm. Ich darf daran erinnern, dass unser
Land durch das Investitionsprogramm des Bundes deutlich vorangebracht wurde. In meinem Wahlkreis nehmen
fast alle Grundschulen an dem Ganztagsschulprogramm,
das ein offenes Angebot ist, teil. Das ist ein Schritt, um
gleiche Lebenschancen für alle Kinder zu verwirklichen.
({10})
Es hilft überhaupt nicht, im Bildungsbereich zusätzliche finanzielle Hürden aufzubauen. Dazu gehören Studiengebühren. Ob man Studiengebühren in Form von Darlehen oder auf anderem Wege organisiert, ändert nichts
daran, dass es sich um eine zusätzliche Hürde handelt
und dass sie kontraproduktiv sind.
Sicherlich müssen wir über gezielte finanzielle Hilfen
im Bildungsbereich nachdenken. Das betrifft den Elternbeitrag, das wichtige Thema Lernmittelfreiheit und den
Essenszuschuss. Das ist nicht auf Bundesebene zu regeln, sondern muss auf Landes- bzw. auf kommunaler
Ebene geregelt werden.
Damit wird eines klar: Wenn wir es mit der Vermeidung und Bekämpfung der Kinderarmut ernst meinen
- wir meinen das ernst -, dann müssen Bund, Länder
und Kommunen in ihrer jeweiligen Zuständigkeit zusammenarbeiten. Dabei ist die kommunale Ebene, die
dicht und direkt an den Menschen ist, entscheidend;
meine Kollegin Marlene Rupprecht wird gleich Ausführungen zur Bedeutung der kommunalen Ebene und zur
Kinder- und Jugendhilfe machen.
Zum Schluss habe ich eine Bitte. Ich glaube, wir alle
sind uns einig, dass wir etwas an der erschreckenden
Zahl von 2,5 bis 2,6 Millionen sozial benachteiligten
Kindern und Jugendlichen in Deutschland ändern wollen. Kinder und Jugendliche haben eine Lobby; als Beispiele seien die Wohlfahrtsverbände und der Kinderschutzbund genannt. Ich würde mir wünschen - das ist
wirklich nicht die übliche Floskel -, dass sich auch der
Bundestag als Lobby sozial benachteiligter Kinder versteht. Erste Ansätze haben wir gemacht. Wir müssen sie
konsequent weiterentwickeln. Das halte ich für eine der
wichtigsten sozialpolitischen Aufgaben, die wir bewältigen müssen, wenn es uns ernst ist, dass wir für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen wollen. Wir Sozialdemokraten werden uns daran beteiligen.
Schönen Dank.
({11})
Ina Lenke hat eine Kurzintervention angemeldet.
Herr Spanier, Sie und ich, wir arbeiten partnerschaftlich zusammen. Trotzdem muss ich diese Kurzintervention machen. Sie haben der FDP vorgeworfen, dass sie
Zeit ins Land gehen lässt, dass sie erst einmal abwartet,
was die Analyse der familienpolitischen Leistungen ergibt.
Herr Spanier, Sie haben das in Ihrem Koalitionsvertrag stehen. Jetzt ist die Hälfte der Legislaturperiode vorbei. Deshalb muss ich Ihnen vorwerfen, dass Sie bisher
nichts getan haben.
Ich möchte, dass sich die SPD-Bundestagsfraktion
- die ja diese Regierung stützt, nicht stürzt - für diese
Dinge einsetzt und der Regierung Beine macht. Ich
finde, es ist durchaus seriöse Politik, einzuräumen, dass
man die mittlerweile 145 familien- und ehebezogenen
Leistungen zunächst einmal analysieren muss. Diese
Leistungen bauen ja nicht aufeinander auf. Vielmehr hat
jede Regierung der Vergangenheit etwas für die Familien
tun wollen und irgendeine neue Leistung eingeführt. Es
geht der FDP darum, ob dieser Aufbau stringent ist, ob
er effektiv ist, ob er die Familien erreicht; es geht der
FDP nicht darum - wie ich das aus Ihren Worten heraushören konnte -, die Umsetzung neuer Ideen zu verzögern. Sie wissen genau - das ist im besten Sinne typisch
für die FDP -: Wenn Sie im Bundestag gute Vorschläge
vorlegen, stimmen wir mit Ihnen dafür. Deshalb ist mir
das auch so ernst.
Herr Spanier.
Ich gebe Ihnen recht: Natürlich ist die Überprüfung
aller Familienleistungen vielleicht nicht überfällig, aber
doch dringend geboten. Ich gebe Ihnen auch recht, dass
wir erst auf dieser Grundlage an der einen oder anderen
Stelle zu einer Neujustierung kommen.
Was Sie vorgetragen haben, klang aber anders: Erst
noch eine gründliche Analyse, dann ein Gesamtkonzept. Wissen Sie, bei „Gesamtkonzept“ werde ich unruhig.
Das ist ein so schwammiger Begriff; dahinter verbirgt
sich nichts. Und dann erst wollen Sie entscheiden.
Ich glaube, dass wir über den Kinderzuschlag, über
das Wohngeld und anderes zügiger entscheiden müssen.
Ich will gerne einräumen: Auch ich persönlich - da bin
ich nicht alleine - bin ein wenig unzufrieden, dass es mit
den konkreten Vorschlägen der Bundesregierung zum
Kinderzuschlag und zu anderem, was damit zusammenhängt, doch schon - ich weiß, dass das kompliziert ist einige Zeit gedauert hat. Ich hoffe, dass wir das im Frühjahr vorgelegt bekommen, beraten und dann zügig auf
den Weg bringen können. Das ist das Entscheidende.
({0})
Jetzt spricht die Kollegin Ekin Deligöz für
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
An diesem Schlagabtausch wird eines deutlich: dass die
Koalition in der Frage Kinderarmut/Kinderzuschlag mit
leeren Händen dasteht, dass sie keine Konzepte hat. Herr
Spanier, wenn Sie sagen, das Wort „Gesamtkonzept“
macht Sie unruhig, dann macht es mich unruhig, dass
dieses Wort Sie beunruhigt; denn ein Gesamtkonzept ist
genau das, was Sie liefern müssen.
({0})
Ich muss Frau Lenke recht geben: Im Koalitionsvertrag heißt es nicht: „Wir wollen irgendwann“, sondern es
heißt:
Wir wollen materielle Kinderarmut reduzieren und
hierzu den Kinderzuschlag mit Wirkung ab dem
Jahr 2006 weiterentwickeln.
({1})
Wir sind jetzt schon ein Jahr weiter.
({2})
- Zwei Jahre weiter. - Das Einzige, was Sie uns hier präsentieren, ist die Entfristung des Kinderzuschlags. Dieser Schritt ist durchaus begrüßenswert; aber er geht nicht
weit genug. Anstatt dass Sie den Kinderzuschlag endlich
so ausgestalten, dass er bei den Familien, die ihn benötigen, ankommt; anstatt dass Sie dieses Instrument - das
ich nach wie vor für richtig und wichtig halte - weiterentwickeln, bekommen wir von Frau von der Leyen und
Herrn Müntefering - der gar nicht mehr im Amt ist - ein
Schauspiel aufgeführt, wer eigentlich dafür zuständig
sein soll.
({3})
Wir brauchen eine Entbürokratisierung und eine Vereinfachung, wir bekommen aber nur Profilierungskämpfe
der beiden Koalitionsfraktionen zu sehen - und nichts
anderes.
({4})
Kommen wir zu dem eigentlichen Antrag, über den
wir heute reden. Bei diesem Antrag der Linken ergeben
sich für mich ehrlich gesagt mehr Fragen als Antworten.
Sie schlagen unter anderem vor, dass der Kreis der anspruchsberechtigten Empfänger des Kinderzuschlages
deutlich erweitert werden soll. Das ist richtig. Das muss
man fordern. Das ist ein richtiges Ziel.
Sie wollen diesen Kreis aber nach unten hin ausweiten. Was heißt das? Sie wollen, dass insbesondere Familien, die über kein eigenes Erwerbseinkommen verfügen,
dieses Geld bekommen. Ich kann nur sagen: Sie haben
das Instrument nicht verstanden.
({5})
Bei diesem Instrument geht es nämlich nicht darum, den
Kreis der Hartz-IV-Empfänger zu vergrößern, sondern
darum, die Menschen aus dem Hartz-IV-Bezug herauszuholen.
({6})
Es geht darum, die Rahmenbedingungen so auszugestalten, dass sich Erwerbstätigkeit rentiert. Es geht darum,
dass wir Familien aus diesem Armutskreislauf herausholen. Mit dem, was Sie hier vorschlagen, erreichen Sie genau das Gegenteil.
Sie werfen uns vor, dass wir die Anzahl der Kinder in
Armut erhöht und dass wir sie in das Dunkelfeld der Armut hineingebracht haben. Ich kann Ihnen vorwerfen:
Mit Ihrem Vorschlag wird sich die Anzahl der Kinder im
Hartz-IV-Bezug nicht verdoppeln, sondern verdreifachen oder gar vervierfachen. Das sollten Sie sich genau
überlegen.
({7})
Sie sagen einerseits, dass die Regelleistungen gemäß
SGB II und SGB XII durch den Kinderzuschlag ersetzt
werden sollen. In einer Pressemitteilung vom 21. Januar
2008 sagte Herr Ernst für die Fraktion Die Linke aber,
dass das Kindergeld auf 200 Euro erhöht wird und dass
die Regelsätze auf 300 Euro erhöht werden. Der Kinderzuschlag solle zusätzlich erhöht werden. Das, was Sie
hier vorschlagen, und das, was Herr Ernst äußert, ist
zweierlei. Das passt nicht zusammen.
({8})
Man kann hier nicht von einem Gesamtkonzept reden.
Man kann überhaupt nicht von einem Konzept reden.
Man kann nicht einmal von Stückwerk reden.
({9})
Sie wollen einfach verschiedene Dinge.
Wenn ich das richtig verstanden habe, dann fordern
Sie faktisch eine Grundsicherung von 420 Euro für alle
Kinder, ohne übrigens zu sagen, wie viele Milliarden
Euro das erstens verschlingt und woher das Geld zweitens überhaupt kommen soll.
({10})
Das verschweigen Sie uns lieber in Ihren Anträgen. Ehrlich gesagt: Auch das, was Herr Gysi gesagt hat, hat
mich nicht überzeugt. Das war zwar eine allgemeine,
wunderbare Wahlkampfrede,
({11})
wenn Sie es so haben wollen, aber das war nicht zu diesem Thema. Man kann nur sagen: Setzen, sechs, Thema
verfehlt.
({12})
Sie sagen: Wir brauchen eine Stärkung der Bildung,
der Jugendhilfe und der Sozialhilfe. - Ja, das ist richtig.
Schauen wir uns doch einmal an, was gerade hier in Berlin passiert. Ich nenne jetzt nicht die „Arche“, sondern
ich sage das nur einmal im Allgemeinen. Ich habe einen
Blick in den Haushaltsplan geworfen:
({13})
Die Mittel für die Jugendhilfe sind gekürzt worden. Die
Mittel für die Familienhilfe sind gekürzt worden. Die
Mittel für die Gesundheitshilfe wurden gekürzt. Selbst
die guten neuen Schulkonzepte scheitern in der Praxis
daran, dass Sie nicht genug Personal haben, also unter
Personalmangel leiden. Das, was Sie hier behaupten,
und das, was Sie in der Regierung tun, passt nicht zusammen.
({14})
Sie sorgen hier in Berlin für einen Scherbenhaufen.
({15})
Das ist kein kinderpolitischer Aufbruch, sondern eine
Volksverdummung.
({16})
Man muss sagen, dass man die finanzielle Unabhängigkeit der Kinder nicht unabhängig vom Status der Eltern erreichen kann. Nicht die Kinder sind arm, sondern
die Haushalte, in denen sie leben, sind arm.
({17})
In den Haushalten herrscht Erwachsenenarmut. Das
spiegelt sich auch bei den Kindern wider. Selbst dann,
wenn die Kinder finanziell unabhängig sind, sind sie von
ihren Eltern nach wie vor abhängig.
Weiter zum Thema. Was brauchen wir? Wir brauchen
eine hochwertige Betreuungs- und Bildungsinfrastruktur, die die bestehende Ungleichheit nicht zementiert,
sondern dabei hilft, Armutskarrieren zu durchbrechen,
damit sie nicht fortgeschrieben werden.
Herr Gysi, ich weiß nicht, ob es Ihnen bewusst ist:
Ihre Fraktion hat in dieser Woche einen Antrag in unseren Ausschuss eingebracht, mit dem genau das Gegenteil
gemacht wird. Sie haben gesagt, dass die Studiengebühren bei den BAföG-Empfängern in Zukunft hinzugerechnet werden sollen. Damit ist Ihre Fraktion die erste
Fraktion in diesem Bundestag, die Studiengebühren akzeptiert und die das legalisiert.
({18})
Das muss man doch deutlich sagen. Sie stellen einen Antrag, mit dem Sie die Studiengebühren akzeptieren.
({19})
Hier tun Sie so, als seien Sie dagegen. Warum stellen Sie
dann einen solchen Antrag? Seien Sie doch einmal ehrlich und stehen Sie zu Ihren Anträgen, die Sie stellen.
({20})
- Nein, Herr Gysi. Sie sollten sich Ihren Antrag einmal
genau anschauen.
({21})
Wir wollen die Erwerbstätigkeit der Eltern steigern.
Das ist das Beste gegen Kinderarmut. Aber das können
wir nur durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen erreichen. Wir müssen die Eltern bei der Vereinbarkeit von
Familie und Beruf sowie der Aufnahme von Jobs unterstützen, bei denen die Einkommen so hoch sind, dass sie
nicht nur ihren eigenen Lebensunterhalt, sondern auch
den ihrer Kinder bestreiten können. Wir brauchen eine
Infrastruktur für Kinder, die ihnen Chancen gibt. Deshalb schlagen wir Grüne nicht nur eine Reform des Kinderzuschlags und des Wohngeldes vor, was das Mindeste
ist. Vielmehr müssen die Lohnnebenkosten gerade im
Niedriglohnbereich gesenkt werden. Wir brauchen zudem Mindestlöhne.
({22})
Wir brauchen ein Arbeits- und Beschäftigungsfördersystem, das wirkliche Chancen gibt. Wir brauchen zielgruppen- und sozialraumorientierte Hilfssysteme. Diese
werden in Berlin gerade abgeschafft. Wir wollen nicht,
dass Familien zu ALG-II-Empfängern werden, sondern
wir wollen die Selbsthilfe stärken. Klar ist: Strukturelle
Hilfen sind erst dann wirksam, wenn eine materielle
Existenzsicherung gegeben ist. Das gilt aber auch umgekehrt.
Frau Deligöz, Sie müssen zum Ende kommen.
Alle bisherigen Vorschläge dienen dem nicht, weder
die von der PDS noch die von der Regierung.
Danke schön.
({0})
Elisabeth Winkelmeier-Becker hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kollegen und
Kolleginnen! Wir debattieren heute über einen Antrag,
den die Linke-Fraktion schon vor anderthalb Jahren fast
wort- und inhaltsgleich eingebracht hat, aber ohne Erfolg. Der federführende Familienausschuss hat schon damals mit einer breiten Koalition aller Parteien
({0})
diesen Antrag abgelehnt. So wurde es vom Parlament im
Zusammenhang mit der Debatte über den Zwölften Kinder- und Jugendbericht beschlossen.
({1})
Sie haben wahrscheinlich nicht zur Kenntnis genommen,
mit welchen abstrusen Forderungen Sie an den Bundestag herantreten.
({2})
Sie wärmen das Ganze nun noch einmal auf, wahrscheinlich mit dem gleichen Erfolg. Das prognostiziere
ich Ihnen.
({3})
Eigentlich reichte es, Ihnen die Protokolle von damals
zum Lesen zu geben,
({4})
anstatt eine Stunde bester Debattenzeit mit einem solchen abstrusen Antrag zu verbringen.
({5})
Es ist Fakt, dass in Deutschland zu viele Kinder und
Jugendliche in Armut leben. Wir alle hier im Haus nehmen die Aufgabe sehr ernst, hier zu Verbesserungen zu
kommen sowie allen Kindern ein gesundes Aufwachsen
und Chancengleichheit bei Bildung und Ausbildung zu
garantieren.
({6})
Aber Fakt ist auch, dass das nicht geht, wenn man einfach voraussetzungslos Transferleistungen gewährt und
diese ständig erhöht. Mehr Geld für arme Kinder, das ist
eine zutiefst populistische Forderung. Gerade die Väter
und Mütter, die morgens aufstehen und ihre Kinder in
eine Betreuungseinrichtung bringen, bevor sie zur Arbeit
gehen, Geld verdienen, Steuern zahlen und 154 Euro
Kindergeld bekommen,
({7})
werden wenig Verständnis haben, wenn sie Ihre Forderung nach 420 Euro pro Monat - das bezeichnen Sie als
sozioökonomisches Existenzminimum - finanzieren sollen.
Zu den Kosten und der Finanzierbarkeit sagen Sie
weder im ersten noch im zweiten Aufguss Ihres Antrags
ein Wort. Nun hat Herr Gysi eben gesagt, woher er das
Geld nehmen will. Sie wollen zusätzlich 120 Milliarden
Euro Steuereinnahmen generieren. Wir haben gerade gerechnet und festgestellt, dass das ungefähr 1 500 Euro
pro Person sein müssten.
({8})
Woher soll das denn kommen? Wie viele Firmen werden
Sie damit aus Deutschland vertreiben?
({9})
Wie viele Familienväter werden ihren Arbeitsplatz verlieren, wenn die Unternehmen ins Ausland gehen, weil
sie dort billiger produzieren können?
({10})
Es wurde bereits gesagt, dass Kinderarmut immer damit einhergeht, dass Eltern zu wenig verdienen. Es ist
ebenfalls gesagt worden, dass die Eltern in die Lage versetzt werden müssen zu arbeiten.
({11})
Sie brauchen Infrastruktur und mehr Chancen auf dem
Arbeitsmarkt. Hier haben wir schon weitreichende
Schritte unternommen und gute Erfolge vorzuweisen.
Ganz wichtig ist in diesem Zusammenhang das Phänomen der vererbten Armut. Es ist gefährlich, wenn Kinder es als normal erleben, dass die Familie von Transferleistungen lebt, dass Eltern dauerhaft nicht arbeiten. Das
führt dazu, dass Kinder das für sich als Lebensmodell
übernehmen. Der Leiter der Hamburger Arche hat eine
junge Frau mit den Worten zitiert: Ich habe mehr Angst
vor der Arbeit als vor der Arbeitslosigkeit. - Das ist eine
ganz symptomatische Äußerung, die zeigt, dass hier die
sozialen Kompetenzen für die Teilnahme am Arbeitsmarkt verloren gehen und dass es notwendig ist, diesen
Teufelskreis zu durchbrechen. Wenn wir das nicht erreichen, dann perpetuieren wir diese Leistungen ad infinitum und schaffen uns im Prinzip die nächste Generation,
die genauso leben und das weitergeben wird. Das kann
ja wohl nicht das Ziel unserer Sozialpolitik sein. Es ent14658
spricht jedenfalls nicht unserem Menschenbild in der
Politik.
({12})
Deshalb ist es so wichtig, hier Anreize zur Aufnahme
von Arbeit zu schaffen, und deshalb muss es einen Unterschied machen, ob die Erwachsenen wenigstens ihren
Bedarf aus eigener Arbeit decken können. Niemand, der
seinen eigenen Bedarf selber deckt, soll nur deshalb
ALG II beziehen müssen, weil er Kinder hat. Da setzt
der Kinderzuschlag an; mit ihm soll der zusätzliche Bedarf gedeckt werden.
Wir tun doch auch etwas. Die Befristung haben wir
schon aufgehoben. Als Nächstes geht es um die Ausweitung,
({13})
damit mehr Familien davon profitieren können. Wir peilen an, dass dann bis zu 550 000 Kinder davon profitieren können. Wenn das Geld, das ja immer fehlt, dafür
schon einmal zur Verfügung steht, dann können Sie eine
gewisse Hoffnung haben, dass auch die entsprechende
Regelung bald kommen wird.
({14})
Das Familienministerium hat bereits ein Konzept dazu
vorgelegt; das kennen Sie alle. Sie wissen, dass viele, eigentlich alle entscheidenden Punkte, die auch hier genannt worden sind, darin enthalten sind. Jetzt geht es darum, das intern mit dem Bundesarbeitsministerium
abzustimmen.
Ich freue mich, dass wir den früheren Bundesarbeitsminister in den Kreis der Familienpolitiker aufnehmen
konnten. Vielleicht führt das dazu, dass alles noch etwas
konstruktiver und schneller vonstatten geht. Ich bin optimistisch, dass wir hier zu einem guten Konzept kommen, das genau diesen Arbeitsanreiz setzt.
({15})
Unabhängig davon möchte ich noch einmal sagen: Es
muss selbstverständlich sein, dass in Deutschland das
Existenzminimum des Kindes sichergestellt ist. Wo Eltern nichts verdienen, geschieht das in Deutschland
durch Sozialgeld und Wohngeld. Über die Höhe werden
wir uns dieses Jahr noch unterhalten, wenn der neue Bericht zum Existenzminimum vorgelegt wird. Man kann,
glaube ich, ohne die Sphinx zu sein, voraussagen, dass
das Existenzminimum heraufgesetzt wird. Aber 420 Euro
wird es mit Sicherheit nicht erreichen. Das ist schlichtweg utopisch.
Wenn das Existenzminimum erhöht wird, werden davon alle Familien profitieren; denn das macht sich beim
Freibetrag, beim Kindergeld und beim Sozialgeld bemerkbar. Aber für den Kinderzuschlag, der ja zusätzlich
gegeben wird, muss weiterhin Beschäftigung ein Kriterium sein.
Vielleicht muss man die schematische Berechnung,
die 60 Prozent für Kinder und 80 Prozent für Jugendliche vorsieht, noch einmal überdenken. Ich weiß, was
Kinder, wenn sie wachsen, am Tag so alles verputzen
und wie viele Klamotten sie brauchen. Deshalb ist die
Rechnung vielleicht zu schematisch und noch einmal zu
überdenken. Aber es bleibt dabei: Wir müssen Anreize
zur Arbeitsaufnahme schaffen. Eine Megasozialleistung
nach Ihrem Stil, die Sie nur mit „Kinderzuschlag“ etikettieren, wird es in diesem Sinne nicht geben.
Frau Kollegin.
Unser Konzept des Kinderzuschlags ist zielführend
und wird uns helfen, die Kinderarmut in Deutschland
deutlich zu bekämpfen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({0})
Miriam Gruß spricht jetzt für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Am Sonntag hat die Frankfurter Allgemeine
Sonntagszeitung zutreffend daran erinnert, dass früher
von der Armut an Kindern die Rede war; heute müssen
wir uns mit der Armut von Kindern auseinandersetzen.
Kinderarmut geht uns alle an. Wir brauchen aber etwas
mehr Unaufgeregtheit in der Debatte. Daher werde ich
zum Schluss noch auf den Herrn Kollegen Gysi eingehen.
Wir müssen uns einmal die Fakten in Deutschland ansehen. Es gibt 2,5 Millionen arme Kinder. Mehrheitlich
sind es Kinder von Alleinerziehenden oder Kinder aus
Zuwandererfamilien. Der Tagesablauf jedes sechsten
Kindes wird von Armut geprägt. Wenn ich von Armut
spreche, dann meine ich nicht nur das fehlende Geld im
Portemonnaie, sondern eben auch - das ist auch schon
angesprochen worden - die ideelle Armut.
In der ersten World-Vision-Kinderstudie von den renommierten Forschern Professor Klaus Hurrelmann und
Frau Professor Andresen, die im letzten Herbst veröffentlich wurde, werden Fakten genannt, die zeigen, was
Armut für den Lebensalltag von Kindern bedeutet. Fakt
ist, dass eben nur 1 Prozent der Kinder aus der Unterschicht ein Gymnasium besuchen; 19 Prozent besuchen
die Förderschule. Regelmäßigen Freizeitaktivitäten gehen nur 47 Prozent der Kinder aus der Unterschicht
nach. Der Durchschnitt liegt bei 73 Prozent.
Mit einem Anteil von 60 Prozent erleben diese Kinder
mehrheitlich Mobbing und Gewalt in ihrem Alltag. Der
Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte nimmt
auch mit Sorge zur Kenntnis, dass, wie Studien gezeigt
haben, neben erhöhten Gesundheitsrisiken als Folge von
Fehlernährung und Bewegungsmangel auch eine höhere
Wahrscheinlichkeit psychosomatischer und psychischer
Erkrankungen bei armen Kindern besteht.
Aber eben nicht die Kinder sind arm, sondern die Familien, in die sie hineingeboren werden. Es ist tatsächlich unsere Aufgabe, diesen Zyklus aus oftmals vererbter
Armut und Perspektivlosigkeit zu durchbrechen.
({0})
Es hat tatsächlich nichts mit Chancengleichheit, die wir
alle wollen, zu tun, wenn nicht der Grips über den Bildungsweg entscheidet, sondern der soziale Status der Eltern.
Deshalb brauchen wir vor allen Dingen Bildung, Bildung, Bildung.
({1})
Das ist die soziale Frage des 21. Jahrhunderts. Wir brauchen qualitativ hochwertige Kindertagesstätten, um Kinder so früh wie möglich fördern zu können. Da kann sich
die CSU nicht aus der Verantwortung stehlen. Wir brauchen kein Betreuungsgeld, das gerade Eltern mit geringem Einkommen motiviert, die Kinder nicht in die
Krippe zu schicken, wodurch den Kindern die frühkindliche Bildung vorenthalten wird.
({2})
Wir müssen das Geld direkt in die Kinder investieren
statt in staatliche Umverteilungsmaßnahmen. Wir geben
in Deutschland im OECD-Vergleich verhältnismäßig
viel für Finanzhilfen an Familien aus. Aber das Geld
kommt nicht dort an, wo es gebraucht wird.
({3})
Wir müssen all jene entlasten, die Kinder haben. Sie
sind es nämlich, die in Deutschland nach wie vor die
höchste Steuer- und Abgabenlast zu tragen haben. Meine
Damen und Herren von der Großen Koalition, Sie haben
es geschafft, dass eine durchschnittliche Familie im letzten Jahr 1 400 Euro mehr ausgeben musste als in den
Jahren zuvor.
({4})
Es kommt hinzu, dass wir die Elternkompetenz stärken und den Eltern Möglichkeiten eröffnen müssen, auf
dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, damit sie ihr Leben in
die eigenen Hände nehmen können. Kinder können nicht
arbeiten gehen; sie können auch kein Geld verdienen.
Sie sind es auch nicht, die wider besseres Wissen das
Kindergeld für Smarties statt für Spinat ausgeben.
Handeln muss die Devise für 2008 lauten, aber ohne
Ideologie und ohne Propaganda. Ich lade Sie, Herr Gysi,
ganz herzlich in den Familienausschuss ein; wir haben
dort schon einen prominenten Gast, nämlich Herrn
Müntefering. Dann können Sie einmal die Ausgaben zusammenzählen, die Ihre Kolleginnen und Kollegen uns
jeden Mittwoch unterbreiten. Mit diesen Mehrausgaben
werden Sie noch mehr Väter und Mütter in die Arbeitslosigkeit bringen, anstatt sie herauszuholen.
({5})
So wird die nächste soziale Frage des Jahrhunderts entstehen.
Danke.
({6})
Jetzt spricht die Kollegin Marlene Rupprecht für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich habe lange Zeit mit Kindern gearbeitet; das wissen Sie. Wenn man mit Kindern zu tun hat, dann benutzt
man Bilder. Ich will Ihnen ein Bild beschreiben, anhand
dessen deutlich wird, worum es geht.
Über den Teich des Lebens führt ein Steg. Er ist aber
an vielen Stellen morsch und daher nicht mehr sehr stabil. Jetzt fallen welche in den See. Ich kann ihnen einen
Rettungsring zuwerfen; das ist in der akuten Situation
vernünftig. Ich kann ihnen einen Luxusrettungsring zuwerfen und sagen: „Schwimmt ruhig weiter!“ Oder ich
tue zwei Dinge: Ich repariere erstens den Steg und überprüfe, ob er noch tauglich ist für die, die darüber gehen,
um das Leben zu bewältigen, und ich bringe ihnen zweitens das Schwimmen bei.
Ich will Ihnen mit diesem Bild zeigen: Wir haben auf
zwei Ebenen zu arbeiten. Die eine Ebene sind die Strukturen, die die Gesellschaft setzen muss. Bei dem, was jemand auf dieser Ebene fordert, kommt dessen Menschenbild zutage. Zu meinem Menschenbild gehören
selbstständige, eigenverantwortliche, freie Entscheidungen und aufrechter Gang, ohne Almosen erbitten oder
Transferleistungen beziehen zu müssen. Dazu brauche
ich den Steg. Damit ich im Falle von Unbill nicht absaufe, muss ich schwimmen lernen. Diese Forderung
geht an mich: Ein bisschen anstrengen muss ich mich,
um nicht unterzugehen.
Diese beiden Dinge setzen ein Gesellschaftsbild voraus, in dem Teilhabe aller Menschen, ob gescheit oder
dumm, ob behindert oder nicht behindert, möglich ist.
({0})
Dies setzt voraus, dass wir frei entscheiden können. Frei
zu entscheiden, heißt aber auch, keine Anträge stellen
und keine Bittgänge machen zu müssen, sondern das,
was ich brauche, dank meiner Fähigkeiten zur Verfügung zu haben, und zwar - in der Erwerbsgesellschaft aufgrund von Erwerbstätigkeit. Dazu muss ich Menschen durch Bildung befähigen.
Kinder kommen - das sage ich als Kinderbeauftragte;
ich glaube, da stimmen alle zu - wissbegierig zur Welt.
Sie wollen die Welt entdecken. Wir Erwachsene schaffen
es nur sehr häufig, ihnen diese Wissbegierde zu nehmen.
Aber Kinder wollen die Welt entdecken. Sie sind manchmal schneller, manchmal langsamer. Wir als Gesellschaft müssen die Einrichtungen, die wir vorhalten, für
Marlene Rupprecht ({1})
alle gestalten. Das nennt man heute Inklusion. Ich finde
es schön, die Welt in Vielfalt zu denken und die Kinder
dort abzuholen, wo sie sind. Unseren Kindern müssen
alle Fördermöglichkeiten offenstehen, damit die Fähigkeiten in ihnen tatsächlich zutage treten. Das, denke ich,
ist das Wichtigste.
Aus der Hirnforschung wissen wir: Wenn ich gelernt
habe, dass es schon irgendwie geht, dass ich mich gar
nicht anstrengen muss, dann kenne ich nicht das gute
Gefühl des Erfolgs, nachdem ich mich angestrengt habe.
Wenn ich diese Kultur des Sich-Anstrengens nicht kennengelernt habe, dann ist das in meinem Hirn nicht verankert, dann weiß ich gar nicht, wie gut sich das anfühlt.
Deshalb müssen wir bei den Kindern anfangen, sie aus
dieser Mühle herausholen. Dazu müssen aber alle, die
Gesellschaft und die Wirtschaft, umdenken. Es genügt
nicht, dass die einen von den Kindern fordern, sich anzustrengen, wenn die anderen sagen: Wir wollen euch gar
nicht. Du kannst dich zwar anstrengen, du kannst
schwimmen und alles Mögliche tun; aber eigentlich hättest du gar nicht auf die Welt kommen müssen. Damit du
nicht stirbst, geben wir dir jetzt eine Grundsicherung. Eine solche Haltung halte ich in einer Demokratie für fatal. Sie setzt voraus, dass man nicht alle Menschen als
vor Gott gleich ansieht, wie es im Grundgesetz verankert
ist.
Gleichheit bedeutet, dass man jedem, der hier ankommt, das Gefühl vermittelt: Ich bin mit Fähigkeiten
ausgestattet, die ich entwickeln darf und mit denen ich
mir die Teilhabe ermöglichen kann. - Das bedeutet aber
auch: Ich muss heraus aus dem Bezug von Transferleistungen, wenn ich Demokratie will. Ein Versorgungsstaat
beschränkt die Freiheit kolossal. Er ist nicht mein Ziel.
Ich muss die Menschen durch Erwerbstätigkeit in die
Lage versetzen, frei zu sein und frei ihr Leben zu gestalten. Ich muss Familien so weit bringen, dass sie ihre
Kinder gut aufziehen können.
({2})
Dazu brauche ich natürlich ab und zu einen Rettungsring. Wir brauchen Rettungsringe, und wir müssen überprüfen, ob sie das aushalten, was wir von ihnen fordern.
Aber nur die Welt mit Rettungsringen auszustatten, damit man nicht absäuft, halte ich für fatal und menschenverachtend. Deshalb ist es mein Wunsch, dass wir die
Wirtschaft auffordern, die Menschen aufzunehmen, sie
auszubilden und in Arbeit zu bringen und ihnen gerechte
Löhne zu zahlen, und von klein auf Strukturen für ein
„Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung“ - davon
spricht der Elfte Kinder- und Jugendbericht - schaffen.
Wir dürfen nicht weggucken, sondern müssen hingucken, damit unsere Kinder die guten Demokraten der
Zukunft werden.
Danke schön.
({3})
Der Kollege Paul Lehrieder spricht jetzt für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Lieber Herr Gysi, Kollegin Fischbach hat
vorhin versehentlich gesagt, Sie hätten sie erregt. In Abstimmung mit der Kollegin stelle ich klar: Sie haben sie
nicht erregt, Sie haben sie aufgeregt.
({0})
Sie hätten sich einiges an Aufregung sparen können
- bei allem engagierten Vortrag und angesichts Ihrer geschwollenen Halsschlagader während Ihres Vortrags -,
wenn Sie sich zumindest der Mühe unterzogen hätten,
Ihren eigenen Antrag anzuschauen. Der Antrag datiert
vom 18. September 2007; das ist per se noch nichts
Schlechtes. Aber in dem Antrag steht eine Ziffer 5 - ich
weiß nicht, ob Sie es gelesen haben -, in der es heißt:
Die Befristung der Bezugsdauer des Kinderzuschlages auf höchstens 36 Monate wird aufgehoben.
In welcher Welt leben Sie denn? Was haben Sie denn in
den letzten Monaten mit Ihren Familienpolitikern besprochen? Diese Befristung ist mit Wirkung vom
1. Januar 2008 aufgehoben. Die Ziffer 5 Ihres Antrags
hätten Sie sich also komplett schenken können.
Ich muss noch einige weitere Sätze zu Ihnen sagen,
lieber Herr Gysi, bevor ich zu meinem eigenen Thema
komme. Sie haben ausgeführt, in der DDR hätten unsere
Kanzlerin Angela Merkel und Sie eine Ganztagsschule
besucht.
({1})
Meines Wissens waren das Polytechnische Oberschulen.
- Eine Ganztagsschule?
({2})
- Eine Gemeinschaftsschule; das lasse ich mir gern sagen. Gleichwohl liefert diese Gemeinschaftsschule immerhin den Beweis dafür, dass auch aus diesem Schulsystem sehr differenzierte, qualitativ unterschiedliche
Ergebnisse herausgekommen sind.
({3})
- Das ist wahr, Herr Gysi.
Meine Damen und Herren, trotz der konjunkturellen
Belebung in den letzten beiden Jahren - die Vorredner
haben zum Teil bereits darauf hingewiesen - und der
Tatsache, dass nunmehr im Vergleich zum Dezember
2006 immerhin 1,2 Millionen Mitbürgerinnen und Mitbürger weniger in Arbeitslosigkeit sind und innerhalb
von zwei Jahren fast 900 000 Mitbürgerinnen und Mitbürger mehr in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen sind, bleibt die traurige Tatsache,
dass in Deutschland eine zunehmende Anzahl von Kindern, insbesondere von Kleinkindern, nach wie vor in
Armut aufwachsen muss.
Nach EU-Definition ist ein Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren dann armutsgefährdet, wenn er monatlich über weniger als
1 640 Euro verfügt. Doch auch bei einem derart geringen Einkommen ist in Deutschland keine Familie von
akuter Hungersnot bedroht. Wohl aber gehen mit der
drohenden Armut häufig gesundheitliche Probleme,
Lernschwierigkeiten - Herr Kollege Spanier hat dies
ebenfalls angesprochen -, niedrigere Schulabschlüsse
und eine höhere Wahrscheinlichkeit delinquenten Verhaltens mit der Häufung späterer Arbeitslosigkeit einher.
Zunehmende Kinderarmut ist nicht nur im Einzelfall
tragisch, sondern kann auch zu erheblichen negativen
Langzeitfolgen für die Gesellschaft als Ganze führen.
Deshalb ist es unserer Fraktion klar, dass es mehr Sinn
macht, Kinder schon in der Kindertagesstätte zu fördern,
anstatt später Schulabbrecher in sogenannten Hartz-IVKarrieren - das ist fast das Unwort des Jahres geworden zu unterstützen. Wir wollen lieber Geringqualifizierte
mit einem Mindesteinkommen in Arbeit bringen, anstatt
sie mit Sozialleistungen für den Verlust von Arbeit und
Teilhabe an der Gesellschaft abzufinden. Kollege Laurenz Meyer hat im Rahmen der Wirtschaftsdebatte heute
Morgen genau dies bestätigt.
Vorbeugen statt hartzen - so lässt sich auch das Ergebnis eines Symposiums unserer Fraktion zum Thema
„Familien in sozial schwierigem Umfeld“ auf den Punkt
bringen, das wir in der vergangenen Woche im Reichstagsgebäude veranstaltet haben. Kinder aus dem Sozialtransfer zu holen, das ist zwar vor allem aufseiten der
Kommunen ein Kostenfaktor, entlastet aber auf Dauer
die sozialen Sicherungssysteme. An diesem Symposium
hat auch die „Arche“ Berlin teilgenommen. Ich nutze die
Gelegenheit, allen engagierten Mitbürgerinnen und Mitbürgern landauf, landab, ob in München, Frankfurt,
Hamburg oder Berlin, die in ähnlichen Projekten mitarbeiten und uns helfen, Kinder in ein vernünftiges, menschenwürdiges Leben zu geleiten, herzlich für ihren
Mut, ihr Engagement und ihre Arbeit zu danken, die zum
Teil eine Sisyphusarbeit ist.
({4})
Wir sollten parteiübergreifend prüfen - damit greife
ich den Vorschlag des Kollegen Spanier auf -, inwiefern
wir unter dem Gesichtspunkt „mens sana in corpore
sano“ - ein gesunder Geist in einem gesunden Körper mit einer gesunden Ernährung, angefangen bei den
kleinsten Kindern von null bis drei Jahren bis zum
Schulalter über die Bezuschussung eines warmen Mittagessens, den Kindern da helfen können, wo es am allernötigsten ist. Mit einem vollen Bauch kann man sich
den Aufgaben und Anforderungen - sei es in der Kinderkrippe, im Kindergarten oder in der Schule - besser stellen. Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn in einer Kindertagesstätte - ob in der Krippe oder im Kindergarten manche Kinder ein vernünftiges und gesundes Mittagessen von zu Hause mitbringen, während andere gar nichts
dabei haben. Es darf nicht an den Kosten scheitern, diese
Kinder in gleichem Maße zu versorgen.
({5})
- Ich kenne Ihren Antrag, Frau Lopez. - Wir sollten uns
damit befassen, welche Möglichkeiten wir in diesem Bereich haben und wie die Kosten gerecht verteilt werden
können.
Wie wichtig das ist, wird deutlich, wenn wir uns vor
Augen führen, dass in Deutschland schätzungsweise
2,6 Millionen Menschen in der sogenannten ererbten Sozialhilfe leben. Diese Menschen leben bereits in zweiter
oder dritter Generation ausschließlich von staatlichen
Transferleistungen. Die betroffenen Kinder erleben damit staatliche Transfers als langfristige Lebensnormalität. Sie kennen keine Eltern oder Großeltern, die morgens zur Arbeit gehen und das Einkommen der Familie
sichern. Diese Kinder leben nicht nur in Armut, sondern
laufen auch Gefahr, den zum Teil apathischen Lebensstil
ihrer Eltern nachzuleben.
Mit einer finanziellen Steigerung der Sozialtransfers
allein ist diesen Kindern nicht geholfen.
({6})
Ihre Familien brauchen vor allem eines: Hilfe zur Selbsthilfe. Umgekehrt kann über die Hilfe für die Kinder in
vielen Fällen auch eine Veränderung in der Lebenseinstellung der Eltern erreicht werden. Dazu müssen die
aufsuchenden Strukturen verstärkt werden; wir müssen
auf die Familien zugehen und sie im Alltag stärken, damit das Vererben des Lebensstils, von Sozialtransfers abhängig zu sein, wirkungsvoll verhindert werden kann.
Leistungsfähige, starke und intakte Familien sind der
beste Kinderschutz und auch der beste Weg, Kinderarmut entgegenzuwirken.
({7})
Dazu gehört aber auch, dass wir uns für bessere Chancen
für alle Eltern auf dem Arbeitsmarkt starkmachen. Kinder geraten insbesondere dann in Armut, wenn ihre Eltern keine Arbeit haben. Deshalb ist die wachsende
Nachfrage am Arbeitsmarkt gemeinsam mit dem zügigen Ausbau der Kinderbetreuung der entscheidende
Weg, Kinderarmut mittelfristig und dauerhaft zu senken.
Mehr Betreuungsangebote für unter Dreijährige sind
insbesondere eine gute Antwort auf das hohe Armutsrisiko
von Alleinerziehenden. Der Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen und die Einführung des Elterngeldes
sind wirksame Maßnahmen, die die Bundesregierung
bereits ergriffen hat.
Herr Kollege!
Ich habe gesehen, dass Sie mich mahnen, zum Ende
zu kommen, Frau Präsidentin. Ich habe mich am Anfang
leider mit Herrn Gysi aufhalten müssen und bin deshalb
noch nicht ganz fertig mit meinen Ausführungen.
Das ist aber zulasten Ihrer Redezeit gegangen.
Bitte gestatten Sie mir, meine Bemerkung noch zu
Ende zu bringen.
Die Bundesregierung hat, wie gesagt, bereits wirksame Maßnahmen ergriffen, um Armut gerade auch bei
den jüngsten Mitgliedern der Gesellschaft - den unter
Dreijährigen - entgegenzuwirken.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und Ihnen, Frau
Präsidentin, für Ihre Geduld.
({0})
Jetzt hat Caren Marks das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren!
Armut beschämt nicht die betroffenen Menschen,
Armut beschämt die Gesellschaft.
Dieses Zitat von Ruth Dreifuss, einer Schweizer Sozialdemokratin, fordert uns alle auf, Armut nicht hinzunehmen und aktiv zu werden. Mit Populismus wird allerdings kein einziges Kind aus der Armut geholt, Herr
Gysi.
({0})
Es ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, Kindern
gleiche Chancen auf Teilhabe an der Gesellschaft zu eröffnen. Die SPD findet sich nicht damit ab, dass immer
mehr Kinder in Armut aufwachsen. Deswegen ist die
Bekämpfung von Familien- und Kinderarmut seit jeher
ein Schwerpunkt unserer Politik.
({1})
Dabei ist uns bewusst, Herr Gysi, dass Kinderarmut
viele Gesichter hat. Materielle Armut ist nur eines davon.
Ausreichende finanzielle Mittel sind die Voraussetzung, um am sozialen und wirtschaftlichen Leben teilzuhaben. Aus diesem Grunde haben wir in der letzten
Legislaturperiode den Kinderzuschlag auf den Weg gebracht, und wir werden ihn auch weiterentwickeln. Der
beste Schutz vor Kinderarmut ist aus unserer Sicht, Eltern Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. Auch hier waren
wir erfolgreich; die Zahlen für den Arbeitsmarkt belegen
dies. Ein weiterer wichtiger Schritt ist der Abbau der
Einkommensarmut durch existenzsichernde Löhne. Der
von der SPD geforderte gesetzliche Mindestlohn - das
richte ich an unseren Koalitionspartner - würde Eltern
und ihre Kinder unabhängiger von staatlichen Transfers
machen.
Eltern zu ermöglichen, Familie und Beruf wirklich
besser miteinander zu vereinbaren, verringert ebenfalls
Kinderarmut. Dies gilt insbesondere für Alleinerziehende. Hier haben wir viel erreicht. Wir haben Milliardenbeträge in die Hand genommen und in frühkindliche
Bildung und Betreuung sowie Ganztagsschulen investiert. Bildungschancen für alle führen dazu, dass wichtige Potenziale von Kindern und Jugendlichen nicht verloren gehen. Gute Bildung verbessert die Chance auf ein
wirklich selbstbestimmtes Leben ohne Armut. Gleiche
Bildungschancen beginnen bei den Kleinsten. So hat
sich die SPD auch in der Großen Koalition erfolgreich
für den Ausbau der frühen Kinderbetreuung und -förderung ab eins eingesetzt. Wir investieren noch einmal
4 Milliarden Euro. Der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz ab eins und der Ausbau von Ganztagsschulen sorgen für optimale Förderung von Kindern, und
zwar unabhängig von ihrer sozialen Herkunft.
({2})
Die SPD setzt sich darüber hinaus für die Beitragsfreiheit der Kitas und die Lernmittelfreiheit ein. All diese
Aspekte, meine Damen und Herren von der Linken, haben Sie in Ihrem Antrag komplett ausgeblendet.
Defizite im sozialen Umfeld von Kindern sind ein
weiteres Gesicht von Kinderarmut. Wir setzen seit Jahren auf bewährte Programme wie „Soziale Stadt“ oder
„Lokale Bündnisse für Familie“; denn wir wissen: Aktive Stadtteilpolitik in den Kommunen, das Entschärfen
sozialer Brennpunkte sowie die Stärkung von Elternkompetenz verbessern die soziale Lebenslage von Kindern. Kinderarmut zeigt sich aber auch in Form von
schlechter Ernährung und mangelnder Bewegung. Deshalb fördert gerade unsere Bundesgesundheitsministerin
Ulla Schmidt gesundheitliche Prävention, gesunde Ernährung und Früherkennung von Krankheiten bei Kindern.
All dies zeigt: Die SPD hat die unterschiedlichen Gesichter von Kinderarmut im Blick. Unter der Leitung
von Wolfgang Jüttner haben wir aktuell alle Kräfte gebündelt
({3})
und eine Gesamtstrategie entwickelt. Unsere Ziele sind
eine kinderfreundliche Gesellschaft und gleiche Lebensund Verwirklichungschancen für wirklich jedes Kind.
Hier sind wir alle gefordert, nicht nur im Bund, sondern
auch in den Ländern und in den Kommunen.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Es ist zwischen den Fraktionen verabredet, die Vor-
lage auf Drucksache 16/6430 an die in der Tagesordnung
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Wahl- und Abgeordnetenrechts
- Drucksache 16/7461 - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Bundeswahlgesetzes
- Drucksache 16/1036 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 16/7814 Berichterstattung:
Abgeordnete Stephan Mayer ({1})
Gisela Piltz
Silke Stokar von Neuforn
b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Achtzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({2})
- Drucksache 16/7815 Berichterstattung:
Abgeordnete Stephan Mayer ({3})
Dr. Max Stadler
Silke Stokar von Neuforn
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({4}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gesine
Lötzsch, Petra Pau, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Wahlmanipulationen wirksam verhindern
- Drucksachen 16/5810, 16/7816 Berichterstattung:
Abgeordnete Stephan Mayer ({5})
Gisela Piltz
Silke Stokar von Neuforn
Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Redner dem Kollegen Stephan Mayer für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({6})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Kollegen! Sehr verehrte Kolleginnen! Das Wahl- und
Abgeordnetenrecht steht zugegebenermaßen auf der politischen Agenda nicht immer ganz oben, aber alle politischen Parteien sollten gut daran tun, sich intensiv mit
dem Wahl- und Abgeordnetenrecht zu beschäftigen;
({0})
denn Wahlen sind neben Abstimmungen nach unserem
Grundgesetz die Form, in der das Volk die Staatsgewalt
ausübt. Die Volkssouveränität ist die Materie, die für unsere demokratische Gesellschaftsordnung grundlegend
ist. Das Wahl- und Abgeordnetenrecht dient meines Erachtens auch dazu, der offenbar zunehmenden Politikund Politikerverdrossenheit entgegenzuwirken. Ein gutes Wahl- und Abgeordnetenrecht kann meines Erachtens auch dazu beitragen, die Partizipation der Bevölkerung am politischen Geschehen und damit letztendlich
an Wahlen zu erhöhen.
Es trifft nicht zu - dies wurde teilweise kolportiert -,
dass wir nichts am Wahlrecht ändern. Ganz im Gegenteil: Das Wahl- und Abgeordnetenrecht wird einfacher,
unbürokratischer und bürgerfreundlicher.
({1})
Ich möchte die wichtigsten Aspekte der Novellierung
des Wahl- und Abgeordnetenrechts darstellen.
Wir ändern das Berechnungsverfahren für die Verteilung der Wahlkreise auf die Länder sowie für die Verteilung der Sitze auf die Landeslisten. Von dem bisherigen
Berechnungsverfahren nach Hare/Niemeyer wird zum
Verfahren nach Sainte Laguë/Schepers übergegangen.
Ein Vorteil des neuen Berechnungsverfahrens - es wird
beispielsweise schon bei den Bürgerschaftswahlen in
Bremen und Hamburg angewandt, aber auch bei den
Landtagswahlen in Baden-Württemberg - ist, dass es
nicht zu paradoxen Ergebnissen kommen kann - das ist
zugegebenermaßen sehr selten der Fall -, wie das bei
dem Berechnungsverfahren nach Hare/Niemeyer möglich ist. Dies wäre der Fall, wenn Parteien, die mehr
Stimmen bekommen, einen Rückgang der Mandate zu
verzeichnen haben. Ein weiterer Vorteil des Berechnungsverfahrens nach Sainte Laguë/Schepers ist, dass
die Wahlkreiskontinuität erhöht wird. Das heißt, dass es
weniger Hin und Her bei der Berechnung der Wahlkreise
gibt, die auf die einzelnen 16 Bundesländer verteilt sind.
({2})
Des Weiteren führen wir nunmehr das aktive Wahlrecht für alle im Ausland lebenden Deutschen ein. Das
mag auf den ersten Blick vielleicht etwas verwundern.
Bisher war es so, dass nur die im Ausland lebenden
Deutschen, die sich in Mitgliedsländern des Europarates
aufhielten, ein unbefristetes aktives Wahlrecht hatten.
Das ist aber anachronistisch, weil es mittlerweile im
Zeitalter des Internets und der modernen Kommunika14664
Stephan Mayer ({3})
tionsmethoden meines Erachtens von überall auf der
Welt gleichermaßen möglich ist, sich über das politische
Geschehen in Deutschland und über die politischen und
gesellschaftlichen Vorgänge zu informieren.
Ein wichtiger Punkt im Bereich der Entbürokratisierung ist folgender: Wir verzichten in Zukunft darauf,
dass die Bürgerinnen und Bürger, die die Briefwahl in
Anspruch nehmen, die Gründe ihrer Verhinderung
glaubhaft machen müssen. Die Briefwahl ist ein wichtiger Bestandteil der Wahlen insgesamt. Allein bei der
Bundestagswahl 2005 haben 18,7 Prozent der Wählerinnen und Wähler nicht von der Urnenwahl, sondern von
der Briefwahl Gebrauch gemacht. Es waren immerhin
9 Millionen Wählerinnen und Wähler, die man dazu verpflichtet hat, ihre Verhinderungsgründe am Wahltag
glaubhaft zu machen. Einmal abgesehen davon, dass das
eine Regelung war, die im Einzelfall ohnehin nicht überprüft werden konnte, damit meines Erachtens vollkommen sinnlos war und übertriebenen und unnötigen Formalismus darstellte, ist es wichtig, mit dem Verzicht auf
die Glaubhaftmachung den Weg zur Teilnahme an der
Briefwahl zu erleichtern und zu vereinfachen. Deswegen
ist es ein wichtiger Aspekt zum Thema Entbürokratisierung, wenn nunmehr auf die Glaubhaftmachung verzichtet wird.
({4})
Ich komme zu einem Punkt, der dazu beitragen soll,
dass die Wahlbeteiligung nicht, wie in der Vergangenheit, zurückgeht, sondern vielleicht sogar wieder steigt.
Auch in Zukunft ist die Teilnahme an der Briefwahl kostenlos. Diese Regelung war erforderlich, nachdem das
Briefmonopol für Briefe unter 50 Gramm zum 1. Januar
2008 aufgehoben wurde. Nunmehr bleibt es bei der Kostenfreiheit der Teilnahme an der Briefwahl.
Eine Regelung hat in der Vergangenheit nie Relevanz
gehabt: Nach der Wahl zum Bundestagsabgeordneten
musste man erst eine förmliche Mandatsannahmeerklärung abgeben. - Es gab keinen einzigen Fall, in dem ein
Kollege oder eine Kollegin von uns das errungene Direktmandat nicht angenommen und diese Mandatsannahmeerklärung nicht abgegeben hat. In Zukunft verzichten wir auf die Mandatsannahmeerklärung. Auch
das ist ein positiver Aspekt.
Im Wahlgesetz soll ausdrücklich festgestellt werden,
dass eine Nachwahl - eine solche war leider Gottes immer wieder einmal notwendig - auch am Tag der Hauptwahl stattfinden kann. Diese Praxis ist schon bisher geübt worden. Jetzt schreiben wir das explizit ins
Wahlgesetz.
In diesem Zusammenhang möchte ich kurz auf den
Gesetzentwurf des Bundesrates eingehen, der die Möglichkeit vorsieht, in Zukunft fakultativ Ersatzbewerber
aufzustellen. Ich möchte uns ermahnen, diesen Gesetzentwurf nicht anzunehmen. Hintergrund des Entwurfs ist
die Nachwahl in Dresden, die bei der Bundestagswahl 2005 erforderlich gewesen ist. Dazu möchte ich
ganz deutlich sagen: So unschön diese Nachwahl, wenn
auch nicht hinsichtlich des Ergebnisses, für die Union
war, so wenig würde diese Fallkonstellation durch die im
Gesetzentwurf des Bundesrates vorgeschlagenen Regelungen gelöst werden. Zum einen steht im Gesetzentwurf des Bundesrates, dass die Aufstellung von Ersatzbewerbern nur fakultativ ist, also keine Verpflichtung
besteht, Ersatzbewerber aufzustellen. Zum anderen besteht theoretisch die Möglichkeit, dass auch ein Ersatzbewerber noch vor der Durchführung der Hauptwahl
verstirbt. Selbst wenn die Gesetzeslage so wäre, wie sie
der Bundesratsentwurf vorsieht, wäre bei bestimmten
Fallkonstellationen die Notwendigkeit einer Nachwahl
nicht gänzlich ausgeschlossen.
Ein weiterer Punkt: Für den Fall, der immer wieder
einmal vorkommt, dass Stimmzettel aus einem anderen
Wahlkreis in einer Wahlurne landen, ist zukünftig vorgesehen, dass zumindest die Zweitstimme gewertet wird.
Die Erststimme kann natürlich nicht gewertet werden,
aber die Zweitstimme soll gewertet werden, um dem
Wählerwillen, der ja erkennbar ist, in größtmöglicher
Art und Weise Rechnung zu tragen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in politischer Hinsicht vielleicht der wichtigste Punkt der Novellierung des Wahl- und Abgeordnetenrechts ist meines
Erachtens, dass es in Zukunft nicht mehr erlaubt sein
wird, dass parteifremde Bewerber auf Listenplätzen kandidieren. Bei der Bundestagswahl 2005 gab es diese
Konstellation. Es besteht gerade in Zukunft die große
Gefahr, dass sich verstärkt kleine und Kleinstparteien
zusammentun und in produktiver Weise zusammenarbeiten, um damit über die 5-Prozent-Sperrklausel zu kommen.
Das Verfassungsgericht hat ja ganz klar festgestellt,
dass es das Monopol der Parteien ist, Kandidaten aufzustellen, und zwar deshalb, weil die Homogenität eines
Wahlvorschlages insbesondere durch das Parteiprogramm, auf das sich die Mitglieder einer Partei verständigt haben, hergestellt wird. Ich glaube, es würde zunehmend zu Wählertäuschungen kommen, wenn wir es
zulassen würden, dass weiterhin verdeckt gemeinsame
Listen aufgestellt werden. Es ist deshalb in politischer
Hinsicht eine ganz wichtige Neuerung, dass diese verdeckt gemeinsamen Listen in Zukunft nicht mehr erlaubt
sind. Parteilose Bewerber dürfen natürlich auf Wahllisten kandidieren; aber parteifremde Bewerber dürfen in
Zukunft, nach der Novellierung des Wahlrechts, nicht
mehr kandidieren.
({5})
Natürlich war es, wie in jeder Legislaturperiode, auch
unsere Aufgabe, die 299 Wahlkreise neu einzuteilen.
Dies ist nicht immer einfach. Man kann bei diesem Vorhaben nicht immer allen Wünschen und allen Vorstellungen gerecht werden. Wir haben dies meines Erachtens in
größtmöglicher Seriosität und Geschlossenheit geschafft. Es war leider nicht zu verhindern - das möchte
ich nicht verhehlen -, zwei Wahlkreise aufgrund des Bevölkerungsrückgangs in den betreffenden Bundesländern zu transferieren. Es trifft dieses Mal die beiden Ostländer Sachsen und Sachsen-Anhalt.
({6})
Stephan Mayer ({7})
Das ist bedauerlich; ich möchte das hier in aller Deutlichkeit festhalten. Um aber bei der Bundestagswahl
2009 wirklich mit Sicherheit verfassungsgemäße Wahlen durchführen zu können, war es, um dem Grundsatz
der Wahlgleichheit Genüge zu tun, erforderlich, zwei
Wahlkreise zu verschieben, und zwar einen Wahlkreis
von Sachsen nach Baden-Württemberg und einen anderen Wahlkreis von Sachsen-Anhalt nach Niedersachsen.
Wir werden insoweit den Vorgaben des Wahlgesetzes
und auch des Bundesverfassungsgerichtes gerecht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube,
wir bieten mit diesem Vorschlag, den wir zur Novellierung des Wahl- und Abgeordnetenrechts unterbreiten,
insgesamt eine ausgewogene, eine sachgerechte und eine
vernünftige Grundlage für die Durchführung der Bundestagswahl 2009 an. Wir legen Hand ans Wahlrecht.
Wir tun etwas. Es könnte natürlich immer noch mehr gemacht werden, aber dazu bedarf es einer Verständigung.
Das wird jetzt nicht die letzte Novellierung des Wahlund Abgeordnetenrechts sein. Es wird mit Sicherheit
auch in der nächsten Legislaturperiode wieder einer Novellierung bedürfen. Ich glaube aber, wir können mit
Stolz feststellen: Nach dieser Novellierung haben wir ein
außerordentlich modernes, sachgerechtes und praktikables Abgeordneten- und Wahlrecht.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz für die FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist zu begrüßen, dass die Koalitionsfraktionen
uns heute einen Gesetzentwurf vorgelegt haben, um eine
Anpassung der Wahlkreise vorzunehmen. Das ist notwendig, damit wir den Grundsatz der Gleichheit der
Wahl in unserem Land auch wirklich realisieren können.
Jeder Wahlkreis repräsentiert circa 250 000 Wähler. Man
muss feststellen: Durch die Ost-West-Abwanderung ist
die Anzahl der Menschen in einzelnen Wahlkreisen, vor
allem in Sachsen und Sachsen-Anhalt, so weit gesunken,
dass eine Anpassung dringend notwendig ist.
Eines bedauern wir als FDP-Fraktion besonders: Es
ist uns immer noch nicht gelungen, mindestens zwei
Wahlkreise, nämlich Krefeld und Rotenburg-Verden, so
zurechtzuschneiden, dass es dem Willen der Bürger entspricht und mehr oder weniger den Stadtkreis abbildet.
Manchmal ist das nicht so einfach möglich.
({0})
Auch wenn die Zeit drängt, weil die Wahlvorbereitungen für die Bundestagswahl ab März beginnen und damit
eine intensive Phase des Wahlkampfs vor uns liegt, sollten wir uns in diesem Parlament immer noch auf einen
respektvollen Umgang verständigen. In Angelegenheiten, die das Parlament selbst betreffen - dazu gehören
natürlich Wahlangelegenheiten -, werden vor der Einbringung eines solchen Gesetzentwurfs normalerweise
Berichterstattergespräche geführt. Das hat es diesmal
nicht gegeben. Wir stellen fest, dass das eine weitere
Perpetuierung des Zustands der „groben Koalition“ ist.
Sie sind sich selbst genug, Koalition und Opposition in
einem. Da muss man nicht mehr mit der wahren Opposition sprechen. Wir bedauern das sehr.
({1})
Eines ist klar: Das Wahlrecht für den Bundestag geht uns
alle an, die wir hier sitzen, und nicht nur Sie in der Mitte
des Hauses. - Das ist aber auch alles an Mitte.
({2})
Den meisten Punkten, die Sie geändert haben - das
haben wir im Ausschuss schon besprochen -, können
wir zustimmen. So haben wir seit langem gefordert, das
Berechnungsverfahren, um Wählerstimmen in Abgeordnetenmandate umzurechnen, zu ändern. Ungereimtheiten, die bei anderen Berechnungsmethoden auftreten
können, werden mit dem Verfahren Sainte Laguë/
Schepers vermieden. Zudem wird mit diesem Verfahren
die Gleichheit des Erfolgswertes der Stimmen optimiert.
Auch dem Vorschlag, den im Ausland lebenden Deutschen ein zeitlich unbefristetes Wahlrecht einzuräumen,
können wir folgen. Ich glaube, das ist in Zeiten, in denen
man sich über das Internet immer gut darüber informieren kann, was zu Hause los ist, eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Es ist übrigens auch ein Beitrag zur Entbürokratisierung.
Einen Beitrag zum Bürokratieabbau stellt ebenfalls
- das haben auch Sie, Herr Mayer, gesagt - der Vorschlag zur Briefwahl dar. Die Briefwahl erfreut sich einer steigenden Beliebtheit. Das können wir alle verstehen: Wenn man nicht genau weiß, ob man am Wahltag
zu Hause sein wird oder nicht, dann möchte man seine
Stimme abgeben können. Ich denke, es ist nachvollziehbar und sicher sehr richtig, dass wir jetzt dafür sorgen,
dass den Bürgern Briefwahl möglich ist, ohne dass sie
lügen müssen - so muss man es einmal nennen - und
ohne dass die Verwaltung gehalten ist, Nachprüfungen
vorzunehmen.
Auch das, was Sie zu den Briefumschlägen, mit denen die Stimmzettel verpackt werden, vorgeschlagen haben, ist klug. Ich weiß, wovon ich rede: Ich habe früher
in einem Amt für Wahlen und Statistik gearbeitet. Ich
kann Ihnen sagen: Es ist nicht selbstverständlich, dass
diese Umschläge in der richtigen Reihenfolge eingetütet
werden. Auch da leisten wir unseren Beitrag dazu, dass
jede Stimme beim Auszählen gewertet wird. So viel zu
Ihrem Gesetzentwurf.
Dem Gesetzentwurf der Bundesregierung können wir
hingegen nicht folgen. Dieser Entwurf sieht zwar die fakultative Benennung eines Ersatzkandidaten für einen
Wahlkreisbewerber vor.
({3})
- Des Bundesrats natürlich. Entschuldigung, ich habe
mich versprochen. So nah wollte ich Ihnen jetzt nicht
treten, dass ich Ihnen das unterstelle.
({4})
- Ach, Herr Benneter, morgen führen wir doch eine sehr
spannende Debatte zur Bundespolizei. Diese Woche
wäre ich, ehrlich gesagt, nicht so vorlaut. Aber bitte!
({5})
Wir können dem Gesetzentwurf des Bundesrats nicht
zustimmen; denn danach wären die für einen ausgefallenen Wahlkreiskandidaten abgegebenen Stimmen ungültig. Ich glaube, es ist klar: Das ist nicht der richtige Weg.
Wir als FDP-Bundestagsfraktion hätten uns eine Änderung in diesem Fall sehr gewünscht. Das, was wir in dieser Legislaturperiode erleben mussten - Kollegen waren
faktisch im Bundestag und fielen durch eine Nachwahl
wieder heraus -, war nämlich sicherlich keine Sternstunde für dieses Haus.
Dem Antrag der Linken, den wir hier mit beraten,
werden wir nicht zustimmen. Es ist keine Frage, dass
man sich damit beschäftigen muss, inwieweit Wahlmaschinen unseren Anforderungen technisch entsprechen. Im Prinzip tun sie das aus unserer Sicht im Moment noch nicht, weil man nicht überprüfen kann, ob
eine Stimme tatsächlich so abgegeben worden ist, wie
sie gezählt wurde. Dabei haben wir es in den letzten Jahren mit vielen Problemen zu tun gehabt. Wären wir allerdings technikfeindlich - Sie schlagen vor, ein für alle
Mal festzulegen, dass wir das nicht machen -, verschlössen wir, glaube ich, unsere Augen vor dem, was möglich
ist. In anderen Ländern wird uns das vorgemacht, zum
Beispiel mit Onlinewahlen. Wenn wir die Leute auf
Dauer zur Abstimmung bewegen wollen, müssen wir
neue Möglichkeiten in Erwägung ziehen. Wir lehnen Ihren Antrag ab, weil wir der Ansicht sind, dass man das
auf Dauer nicht ablehnen kann. Wir sehen aber das Problem.
Ich komme damit zum Schluss. Wir würden uns in
diesem Hause gerne mit anderen Möglichkeiten der Organisation von Wahlen und Partizipation beschäftigen.
Dazu liegen drei Gesetzentwürfe vor. Wir würden uns
freuen, wenn Sie uns bei dem einen oder anderen Gesetzentwurf unterstützen würden. Ob Menschen zur
Wahl gehen, hängt nach unserer Ansicht nämlich nicht
nur davon ab, dass sie ihre Stimme per Briefwahl abgeben können. Sie müssen auch das Gefühl haben, sich
wirklich einbringen zu können.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Klaus Uwe Benneter von
der SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Kollege Mayer hat zwar die meisten Punkte, auf die ich hinweisen wollte, schon angesprochen; lassen Sie mich aber trotzdem ganz kurz auf
ein paar Aspekte eingehen.
Frau Piltz, Frau Stokar von Neuforn, entschuldigen
Sie, dass wir Sie nicht einbezogen haben. Ich bitte um
Nachsicht.
({0})
Wir haben viele Gespräche führen müssen und sind deshalb aus Zeitnot nicht dazu gekommen. Frau Piltz, ich
habe Ihren Worten entnommen, dass wir in ideeller Hinsicht all das berücksichtigt haben, was Sie sich wünschen. So habe ich Sie verstanden.
({1})
Bewerber, die einer anderen Partei angehören als der,
auf deren Landesliste sie stehen, werden in Zukunft zur
Wahl nicht mehr zugelassen. Bei der letzten Bundestagswahl haben WASG und PDS gemeinsame Kandidaten
aufgestellt.
({2})
Die Landeswahlausschüsse mussten darüber entscheiden, hatten aber keine gesetzliche Grundlage dafür. Sie
haben das oftmals mit Bauchschmerzen zugelassen, obwohl unser Gesetz Listenverbindungen nicht vorsieht.
({3})
Wir haben Parteien, weil sich viele Menschen auf gemeinsame Ziele und gemeinsame Ideen verständigt haben. Bei einer Wahlentscheidung geht es um Klarheit für
die Wählerinnen und Wähler. Sie müssen wissen, für
wen sie sich entscheiden können. Deswegen muss jede
Partei mit einer eigenen Liste antreten. Auf diese Art
und Weise soll verhindert werden, dass sie die Zielsetzung, keine Splitterparteien im Parlament zu haben,
umgehen können. Zu diesem Zweck haben wir die Fünfprozentklausel, die Grundmandatsklausel sowie die Unterschriftsquoren für Wahlkreisbewerber und für Parteien, die sich bisher in keinem Parlament bewährt
haben. All das sind Kriterien, die helfen, den Parlamentarismus vernünftig zu organisieren. Deshalb haben wir
solche Verbindungen für die Zukunft ausgeschlossen.
Die neue Regelung wird für alle Parteien gelten, auch für
die inhaltlich und personell zerstrittenen Parteien am äußersten rechten Rand. Auf diese Art und Weise können
sie sich auch in Zukunft nicht gegenseitig ins Parlament
helfen. Ich denke, das ist ein großer Vorteil.
Lassen Sie mich noch einen Wermutstropfen anbringen: Auch wenn das Wahlrecht durch dieses Gesetz hinsichtlich der Berechnungsmethoden besser und für die
Bürger in der Anwendung unbürokratischer, klarer und
zielgenauer wird, ist es uns nicht gelungen, uns auf eine
gemeinsame Regelung für die Nachfolge bei Überhangmandaten zu verständigen. Ich halte es weiterhin für ein
Unding, dass Mandate während der Legislaturperiode
ersatzlos wegfallen können, weil Abgeordnete aus Bundesländern, die Überhangmandate hatten, sterben,
schwer erkranken oder aus sonstigen Gründen auf ihr
Mandat verzichten müssen und aus dem Parlament ausscheiden müssen. Die Bürger der betroffenen Wahlkreise
wünschen sich eine Nachfolgeregelung. In diesem Fall
verlieren sie nämlich eine wichtige Stimme für ihre Region im Deutschen Bundestag. Ich denke, auch das sollte
man berücksichtigen.
Mir geht es vor allem darum, dass eine der wichtigsten Funktionen des Wahlrechts sichergestellt wird: Das
am Stichtag festgestellte Wahlergebnis muss eine stabile
Grundlage für eine während der ganzen Legislaturperiode stabile Regierung bilden. Das ist bisher nicht immer gewährleistet. Insoweit bleibt dieses Problem für die
nächste Wahlperiode auf der Tagesordnung. Kollege
Mayer hat schon darauf hingewiesen, dass auch in der
nächsten Wahlperiode wieder über eine weitere Verfeinerung des Wahlrechts nachzudenken sein wird.
Ich komme noch zum Antrag der PDS-Fraktion. Wir
sollen auf ein Verbot von Wahlcomputern und der Internetwahl hinwirken. Die Internetwahl gibt es bei uns gar
nicht. Deshalb ist sie nicht verboten. Aus diesem Grunde
braucht man sich dazu nicht zu äußern. Die Möglichkeit
des Einsatzes von Wahlgeräten steht in Deutschland seit
1975 - das sind nun schon mehr als 30 Jahre - im Wahlgesetz. Wir haben bisher nicht einen einzigen ernst zu
nehmenden Hinweis darauf, dass es beim bisherigen
Einsatz von Wahlgeräten - sie sind tatsächlich schon
umfassend eingesetzt worden - zu Wahlmanipulationen
gekommen ist.
Im Übrigen ist beim Bundesverfassungsgericht in Sachen Wahlcomputer eine - zugegeben gut begründete Wahlprüfung anhängig. Falls sich nach einer Entscheidung Handlungsbedarf ergeben sollte, können wir diese
Frage ganz in Ruhe angehen. Jetzt werden wir erst einmal den Antrag der PDS ablehnen.
Danke.
({4})
Das Wort hat der Kollege Jan Korte für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zum Verfahren ist hier schon etwas gesagt worden.
Auch wir finden es äußerst bedenklich, dass man bei einer solchen Frage nicht die Oppositionsfraktionen einbindet. Es sollte beispielsweise darauf Rücksicht genommen werden, dass in Sachsen-Anhalt, Herr Bergner,
gerade eine Kreisgebietsreform durchgeführt wurde. Für
die Abgeordneten aus Sachsen-Anhalt, die nicht der
SPD oder der CDU angehören, ist nicht nachvollziehbar,
inwieweit das berücksichtigt wurde. Das erschließt sich
aus Ihrer Vorlage überhaupt nicht. Deswegen hätten wir
es sinnvoll gefunden, wenn hier alle eingebunden worden wären. Mir haben Kollegen aus allen Fraktionen, die
dem Bundestag schon mehrere Jahre oder sogar Jahrzehnte angehören, gesagt, dass das früher möglich gewesen ist.
Trotzdem stehen in dem Gesetzentwurf einige sinnvolle Sachen; das ist völlig unbestritten. Ich möchte nur
an zwei Punkten deutlich machen, warum es politisch
ein Problem ist, dass über den Gesetzentwurf nicht diskutiert wurde. Der erste Punkt ist, dass Ostdeutschland
zwei Wahlkreise in Sachsen und Sachsen-Anhalt verliert. Das ist nicht nur ein arithmetisches Problem, das
man mit der Notwendigkeit der Reform erklären könnte.
Vielmehr ist es auch ein politisches Problem. Das hätten
wir doch gemeinsam diskutieren müssen.
({0})
Die Folge ist, dass die Regionen in diesem Land, die
die größten strukturellen und sozialen Probleme haben,
dadurch an Repräsentanz verlieren. Das hätte man zum
Anlass nehmen können, über folgende Fragen zu diskutieren: Wie können wir die weitere Abwanderung aufhalten? Wie können wir jungen Menschen im Osten
Perspektiven geben? Wie können wir endlich zu gleichwertigen Lebensverhältnissen in Ost und West kommen?
({1})
Genau das interessiert die Menschen. Ich finde, das ist
nur bedingt witzig. Diese wichtigen Fragen hätte man
diskutieren können, um so mit den Menschen aus Ostdeutschland ins Gespräch zu kommen.
Der zweite Punkt, der angesprochen worden ist und
bei dem es einen Dissens gibt, ist die Regelung der
Wahllisten. Es geht darum, dass Parteimitglieder nicht
für eine andere Partei kandidieren dürfen. Wir als Linke
haben mit genau dieser Regelung sehr gute Erfahrungen
gemacht, was auch unsere Debatten sehr bereichert hat.
Deswegen finde ich diese Regelung nicht sehr sinnig.
Vielmehr empfinde ich sie als einen Eingriff in die Autonomie der Parteien.
({2})
Kollege Benneter, das Problem der Rechtsextremen
ist bei allen Debatten, die wir führen, zuallererst eine Sache der politischen zivilgesellschaftlichen Auseinandersetzung. Das werden wir mit einem solchen Gesetzentwurf nicht lösen können. So viel dazu.
Abschließend komme ich zu unserem Antrag „Wahlmanipulationen wirksam verhindern“. Es ist eben nicht
so, dass es mit dem Einsatz von Wahlcomputern keine
Erfahrungen gibt. Im Gegenteil: Es gibt damit sehr
schlechte Erfahrungen. Diese wurden in den Niederlanden gemacht; die niederländische Regierung hat die
Wahlgeräte daher aus dem Verkehr gezogen.
Warum ist das auch grundsätzlich ein Problem? Das
Verfahren der Wahl, vom Aufstellen der Urne über das
Einwerfen des Wahlzettels bis hin zum Auszählen, ist öffentlich. Der Bürger kann also nachvollziehen, was dort
passiert. Das Problem ist, dass das bei einem Wahlcomputer nicht möglich ist. Nicht möglich ist es auch, Fehler
auszuschließen, wie jeder an seinem PC mindestens einbis zweimal im Jahr feststellen kann. Auch das ist ein
Problem.
Kollege Korte, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Mayer?
Ja.
Wie viele Fälle von Wahlmanipulation mit Wahlcomputern in Deutschland sind Ihnen bekannt?
Das Problem ist, dass Wahlmanipulation möglich ist.
Einen solchen Fall gab es gerade in Hamburg; dort hat
übrigens auch die SPD nun gesagt: Die Wahlcomputer
müssen wir aus dem Verkehr ziehen. Der Chaos Computer Club hat nachgewiesen, dass eine Manipulierbarkeit
jederzeit möglich ist. Wir wollen das von vornherein
ausschließen. Deswegen haben wir diesen Antrag gestellt. Er ist weit in die Zukunft schauend, aber doch
praktisch in der Tagespolitik. Es ist nun in mehreren Fällen nachweisbar gewesen, dass Manipulationen möglich
und technisch ein Leichtes sind und vor allem dass es
Anfälligkeiten bei Computern gibt. Das ist doch völlig
unbestritten. Auch hier kann wohl niemand ernsthaft begründen, warum es bei Wahlcomputern anders sein sollte
als bei privaten PCs. Der Antrag blickt in die Zukunft
und soll Irritationen im Vorfeld verhindern.
Letzte Anmerkung, die ich dazu machen will. Wir
wollen nicht irgendwann wie in Florida enden, dass wir
also Wahlcomputer haben, die nicht funktionieren. Dort
wurde zu allem Überfluss der Falsche zum Präsidenten
gewählt, weil der Computer nicht funktionierte. Das geht
nicht. Ich glaube, auch hier im Hause gibt es eine Mehrheit, die nicht unbedingt will, dass Angela Merkel, wenn
sie real knapp verliert, wegen einer Computerpanne
noch einmal Bundeskanzlerin wird. Das wollen wir ausschließen. Es sollte eine genaue Wahl geben.
({0})
Deswegen fände ich es sinnig, wenn Sie diesem, wie ich
finde, sehr guten Antrag zustimmen würden.
Eine letzte Anmerkung an Kollegin Piltz gerichtet:
Natürlich ist es so, dass wir das wieder ändern können,
wenn nachgewiesen ist, dass Wahlcomputer sicher sind.
Das wäre kein Problem. Das kann ja nicht davon abhalten, dem Antrag jetzt zuzustimmen. Denn klar ist: Wo
der Fortschritt ist, ist auch immer die Linke.
({1})
Deswegen ist das kein Hinderungsgrund.
Schönen Dank.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Silke Stokar von Neuforn
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hätte
mich gern intensiv mit den Änderungen des Bundeswahlgesetzes befasst. Ich hätte mich auch gern damit befasst, ob zum Beispiel in Niedersachsen die Neuaufteilung der Wahlkreise genau so vonstatten gehen muss.
Lieber Kollege Benneter, Ihre Bitte um Entschuldigung,
dass der Dauerstreit der Großen Koalition nun zu einem
Verlust an gewachsener parlamentarisch-politischer Kultur führt, kann ich nicht annehmen. Es kann nicht sein,
dass Sie sich so lange mit Herrn Grindel streiten
({0})
und uns, den Oppositionsfraktionen, dann sagen, dass
wir aufgrund des Dauerstreits in der Großen Koalition
jetzt halt nicht mehr, obwohl das in den vergangenen
Jahren immer der Fall gewesen ist,
({1})
an der Neuaufteilung der Bundestagswahlkreise beteiligt
werden.
Ich erinnere mich sehr gut, dass wir unter Rot-Grün
Verfahren hatten, die den ganzen Tag in Anspruch genommen haben, und zwar aus guten Gründen. Ich möchte es
weder der Software WEGIS überlassen, die Bundestagswahlkreise aufzuteilen, noch ist es eine vernünftige Vorgehensweise, wenn die Regierungsfraktionen das hinter
verschlossenen Türen selbst bestimmen, uns die Ergebnisse einen Abend vor der Sitzung des Innenausschusses
zukommen lassen und wir hier nur noch zustimmen können. Ich kann den Niedersachsen nicht erklären, warum es
diese Neuaufteilung gibt. Ich hätte es gern gemacht, wenn
ich eingebunden worden wäre.
({2})
Zu den anderen Punkten im Bundeswahlgesetz ist einiges gesagt worden. Auch wir begrüßen die Umstellung
des Auszählverfahrens. Es scheint das bessere mathematische Verfahren zu sein. Auch wir begrüßen das unbeschränkte aktive Wahlrecht für im Ausland lebende Deutsche.
Ähnlich wie die Linksfraktion, obwohl sie hier ja eigentlich in klammheimliche Freude ausbrechen müsste,
sind auch wir gegen die Änderung, dass es jetzt ein so
restriktives Verbot gibt, Mitglieder einer anderen Partei
mit auf die Liste zu nehmen. Hier hätten andere Regelungen für Transparenz sorgen können, indem man das
zum Beispiel auf dem Wahlzettel kenntlich macht. Das
Ergebnis ist: Die Linkspartei muss sich nicht mehr mit
dem Wunsch der DKP, ihre Mitglieder in ihre Listen aufzunehmen, auseinandersetzen.
({3})
Deshalb sage ich: Eigentlich müssten Sie eine klammheimliche Freude empfinden. Aus Demokratiegründen
halte ich dieses Mittel für zu restriktiv. Für mich gilt hier
die Autonomie der Parteien. Mit anderen Regelungen
hätten wir für Transparenz sorgen können.
Ich komme zu meinem letzten Punkt: den Wahlcomputern. Ich finde es bemerkenswert, dass 45 000 Wählerinnen
und Wähler beim Bundestag eine Petition eingereicht haben, in der sie ausgeführt haben, dass sie Manipulation
durch den Einsatz von Wahlcomputern befürchten und dass
sie den Bundestag auffordern, eine gesetzliche Regelung zu
schaffen, die es verhindert, dass entsprechende Modellverfahren durchgeführt werden. Damit würde man natürlich
ein bestimmtes Interesse verfolgen; deswegen ist die FDP
in dieser Frage auf einmal nicht mehr Bürgerrechtspartei,
sondern Wirtschaftspartei.
({4})
Es gibt in Europa nur wenige Unternehmen, die die
Wahlen in Deutschland nutzen wollen, um in einem Modellversuch mit Wahlmaschinen, die überhaupt noch
keine Marktreife haben, in die Wahlen einzugreifen.
({5})
Dies ist in Hamburg nachgewiesen worden. Ich finde es
peinlich, dass ausgerechnet Herr Koch in Hessen Wahlmaschinen der Firma Nedap zulässt, die in den Niederlanden aufgrund ihrer Fehleranfälligkeit gerade erst aus
dem Verkehr gezogen worden sind.
({6})
Ich kann gut nachvollziehen, dass sich Herr Koch an den
letzten Strohhalm klammert. Er hat wohl im Hinterkopf,
dass ihm Wahlmaschinen vielleicht noch zu einem zweifelhaften Sieg verhelfen könnten.
({7})
Eines ist eine Selbstverständlichkeit: Solange die
Bürgerinnen und Bürger berechtigte Sorgen haben, dass
Wahlen durch den Einsatz von Wahlmaschinen manipuliert werden können, darf das ökonomische Interesse
hier nicht im Vordergrund stehen. Wir stehen dem Einsatz technischer Verfahren bei Wahlen offen gegenüber,
wenn sie ausgereift sind. Bundestags- und Landtagswahlen sind aber ein viel zu ernster demokratischer Vorgang,
als dass sie zu einem Experimentierfeld für zweifelhafte
Geschäftsideen gemacht werden sollten.
Danke schön.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Fograscher für die SPDFraktion.
Danke schön. - Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich werde mich in meinem Beitrag
zur Änderung des Bundeswahlgesetzes äußern. Dahinter
verbirgt sich die Neueinteilung der Bundestagswahlkreise für die Wahl zum 17. Deutschen Bundestag.
In jeder Wahlperiode legt die Bundeswahlkreiskommission dem Deutschen Bundestag einen Bericht über Änderungen der Bevölkerungszahlen im Bundesgebiet vor. Um
eine verfassungsgemäße Bundestagswahl - Stichwort
„Gleichheit der Stimmen“ - zu gewährleisten, müssen die
Wahlkreise annähernd gleiche Einwohnerzahlen haben.
Änderungen der Verteilung der Bundestagswahlkreise auf
die Länder und die Einteilung innerhalb der Länder ergeben
sich aufgrund von Bevölkerungswanderungen.
Die Grundsätze, an die wir uns auch bei dieser Neueinteilung gehalten haben, sind: Die Ländergrenzen werden eingehalten. Die Zahl der Wahlkreise in den einzelnen Ländern muss soweit wie möglich dem Anteil an der
Gesamtbevölkerung entsprechen. Der Wahlkreis muss
ein zusammenhängendes Gebiet umfassen. Kommunale
Grenzen sollten möglichst weitgehend eingehalten werden.
Eine Neuzuschneidung von Wahlkreisen kann durchgeführt werden, wenn die Bevölkerungszahlen plus/minus 15 Prozent vom Bundesdurchschnitt abweichen. Sie
muss durchgeführt werden, wenn die Abweichung mehr
als plus/minus 25 Prozent beträgt oder eine solche Entwicklung im Laufe der Legislaturperiode als sehr wahrscheinlich gilt.
Leider setzte sich in den vergangenen Jahren die
Bevölkerungswanderung von Ost nach West fort. So verloren Sachsen und Sachsen-Anhalt knapp 50 000 Einwohner. Baden-Württemberg dagegen registrierte einen
Zuzug von mehr als 55 000 Einwohnern. Herr Korte, natürlich kann eine Wahlkreisreform diese strukturellen
Probleme nicht lösen.
Aufgrund der Daten, die dem Bericht der Wahlkreiskommission und dem Nachbericht zugrunde liegen, sind
zwei Wahlkreistransfers nötig. Die Länder Sachsen und
Sachsen-Anhalt verlieren jeweils einen Wahlkreis, Baden-Württemberg und Niedersachsen erhalten je einen
zusätzlichen Wahlkreis.
Sowohl beim Wegfall eines Wahlkreises als auch bei
der Schaffung eines zusätzlichen Wahlkreises in einem
Bundesland sind erhebliche Eingriffe in die bestehenden
Wahlkreisgrenzen unvermeidlich. Die abgebenden Länder Sachsen und Sachsen-Anhalt stehen vor einer Kreisgebietsreform bzw. haben diese schon durchgeführt.
Deshalb orientiert sich die Neuzuschneidung der Wahlkreise weitgehend an den neuen kommunalen Grenzen.
In Baden-Württemberg gibt es im Regierungsbezirk
Tübingen den neuen Wahlkreis Ravensburg. Deshalb
mussten die umliegenden Wahlkreise neu zugeschnitten
werden. Drei Wahlkreise in diesem Regierungsbezirk
bleiben unverändert. Für den Zuschnitt des Wahlkreises
Biberach hätten sich meine Kollegen im Bundestag und
viele vor Ort eine andere Lösung vorstellen können.
Aber in Abwägung der für die anderen Wahlkreise gefundenen Lösungen tragen wir diesen eigenwilligen Zuschnitt mit.
In Niedersachsen wird der neu zu bildende Wahlkreis
den Landkreis Harburg umfassen. Die erheblichen Veränderungen der umliegenden Wahlkreise sind Folge dieses neu zu schaffenden Wahlkreises.
In Brandenburg haben wir aufgrund des enormen Bevölkerungswachstums Verschiebungen zwischen dem
Wahlkreis 61 und dem Wahlkreis 62 vornehmen müssen.
Auch beim Wahlkreis Hamburg-Mitte hätten wir uns
einen anderen Zuschnitt vorstellen können; doch darauf
konnten wir uns nicht einigen. Deshalb bleibt es bei dem
Vorschlag der Wahlkreiskommission, jetzt nichts zu verändern.
Es ist schon heute abzusehen, dass die Bevölkerungsentwicklung in einigen Bundesländern in der nächsten
Legislaturperiode erneut Wahlkreisanpassungen notwendig machen wird. Deshalb haben wir dieses Mal nur diejenigen Anpassungen vorgenommen, die unbedingt notwendig waren, um eine verfassungsgemäße Wahl des 17.
Deutschen Bundestages zu gewährleisten.
Ich bedanke mich an dieser Stelle nochmals bei allen,
die sich sehr kenntnisreich in die Diskussion eingebracht
haben, und beziehe diesen Dank auch auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Innenministeriums und des
Statistischen Bundesamtes.
Ich bitte um Ihre Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
Danke sehr.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-
tionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Ent-
wurf eines Gesetzes zur Änderung des Wahl- und Abge-
ordnetenrechts. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 1
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7814,
den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und
der SPD auf Drucksache 16/7461 in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion
und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf
ist damit mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-
Fraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetz-
entwurf des Bundesrates zur Änderung des Bundeswahl-
gesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 2 sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7814, den
Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 16/1036
abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Das ist nicht der
Fall. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
einstimmig abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Ge-
schäftsordnung die weitere Beratung.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 7 b, zur
Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU
und der SPD eingebrachten Entwurf eines Achtzehnten
Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes.
Mir liegen hierzu Erklärungen nach § 31 unserer Ge-
schäftsordnung des Kollegen Scheelen aus der SPD-Frak-
tion sowie der Kollegen Fricke, Lenke und Ackermann
aus der FDP-Fraktion vor; diese nehmen wir zu Proto-
koll.1)
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/7815, den Gesetzent-
wurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf
Drucksache 16/7462 anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz-
entwurf ist damit mit den Stimmen der Unionsfraktion,
der SPD-Fraktion und der Mehrheit der FDP-Fraktion
gegen die Stimmen von zwei Abgeordneten der FDP-
Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 7 c. Beschlussempfehlung des
Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
mit dem Titel: „Wahlmanipulationen wirksam verhin-
dern“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/7816, den Antrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/5810 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist damit mit den Stimmen der Unionsfraktion,
der SPD-Fraktion und der FDP-Fraktion gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen angenommen.
1) Anlage 3
Vizepräsidentin Petra Pau
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten
Gesetzes zur Änderung des Fahrlehrergesetzes
- Drucksachen 16/7080, 16/7417 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({0})
- Drucksache 16/7819 Berichterstattung:
Abgeordneter Patrick Döring
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich bitte diejenigen, die an dieser Debatte nicht mehr
teilhaben wollen oder können, ihre Gespräche draußen
zu führen, damit ich die Aussprache eröffnen kann.
Die Aussprache ist eröffnet. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Ulrich Kasparick. - Bitte.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Europa wächst zusammen. Durch den Verkehrsbereich
ist ein besonderer Beitrag zu leisten, weil die grenzüberschreitenden Verkehre dazu beitragen müssen, dass wir
schnell und zügig einen gemeinsamen Wirtschaftsraum
entwickeln.
Die europäische Rechtsetzung wächst zusammen. Wir
sprechen heute an dem Beispiel von Fahrlehrern über die
wechselseitige Anerkennung von Berufsabschlüssen.
Davon ist ein ganzes Gewerbe maßgeblich und umfassend betroffen. Wir vollziehen damit die Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 7. September 2005 und setzen sie eins zu eins
in nationales Recht um. Davon sind Staatsbürger der
Mitgliedstaaten der Europäischen Union, des Europäischen Wirtschaftsraumes und der Schweiz betroffen.
Wir regeln die vorübergehende und gelegentliche
Dienstleistungserbringung, die auch grenzüberschreitend erfolgen kann, und erklären sie ausdrücklich für zulässig. Wir stellen daneben sicher, dass die Qualität der
Ausbildung, die wir in Deutschland erreicht haben, auch
künftig gesichert bleibt, weil sich jeder, der in Deutschland eine solche Ausbildung anbieten will, einem Anerkennungsverfahren zu unterziehen hat, das nach deutschen Standards geregelt ist.
Wer die Voraussetzungen nach deutschem Recht nicht
erfüllt, muss sich einem Anpassungslehrgang oder einer
Eignungsprüfung unterziehen. Auf diesem Wege wollen
wir sicherstellen, dass es zu keinem Niveauverlust bei
den Qualitätsstandards der deutschen Ausbildung
kommt.
({0})
Es ist in der Vergangenheit diskutiert worden, ob die
Voraussetzungen, die in Deutschland gelten, dass man
nämlich im Besitz der Fahrerlaubnis für alle Fahrzeugklassen sein muss, Bestand haben. Das ist der Fall. Wenn
beispielsweise ein Bewerber aus der Schweiz in
Deutschland eine solche Ausbildung anbieten will, dann
muss er die Fahrerlaubnisse für alle Fahrzeugklassen
vorlegen. Wenn er das nicht kann, dann gibt es Anpassungsmaßnahmen - in der Regel in Form von Weiterbildungsmaßnahmen und Lehrgängen -, denen er sich zu
unterziehen hat.
Wichtig ist, dass es eine unterschiedliche Regelung
für vorübergehende oder gelegentliche Dienstleistungen
gibt. Das ist von dem Fall zu unterscheiden, dass jemand
dauerhaft eine Fahrschule in Deutschland eröffnen will.
In der zurückliegenden Debatte mit den Abgeordneten
des zuständigen Ausschusses ist darüber ausführlich diskutiert worden.
Wichtig ist für uns die Arbeitsteilung mit den Ländern. Die Überwachung der Fahrschulen obliegt den
Ländern. Der Bund hat keine Regelungskompetenz. Wir
haben aber vonseiten des Verkehrsministeriums den
Ländern eine Kooperation angeboten, damit wir uns auf
Kriterien für die Anerkennungsverfahren verständigen
können. Die zuständigen Landesbehörden sind diejenigen Stellen, bei denen diejenigen, die diese Dienstleistung erbringen, jährlich formlos Meldung zu erstatten
haben. Wer gegen diese Meldepflicht verstößt, begeht
eine Ordnungswidrigkeit, die mit einem Bußgeld geahndet werden kann. Bei der praktischen Durchführung der
Richtlinie, die wir nun in Deutschland umsetzen, hat das
Bundesverkehrsministerium den Ländern eine enge Kooperation angeboten. Uns freut besonders, dass die Bundesvereinigung der Fahrlehrerverbände ihre Mitarbeit
zugesagt hat. Wir stehen also in engem Kontakt mit den
Fachleuten aus der Community. Wir haben auch die
deutschen Botschaften in den betreffenden Ländern gebeten, uns entsprechende Informationen über die Ausbildung und die Berufsqualifikation der dort tätigen Fahrlehrer zu übermitteln.
Ein wichtiges Ziel ist, auf der einen Seite europäisches Recht umzusetzen - das Verkehrsressort ist davon
besonders betroffen - und auf der anderen Seite Verkehrssicherheit und Qualität der deutschen Fahrschulausbildung zu sichern. Wir sind der Überzeugung, dass
das mit dem Gesetz, das als Entwurf vorliegt, gelingen
wird. Deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung.
({1})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Döring das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Staatssekretär, es wäre vielleicht einer Erwähnung
wert gewesen, dass die Bundesregierung den Gesetzentwurf verspätet eingebracht hat. Fast ein halbes Jahr
nachdem er hätte umgesetzt werden müssen, haben Sie
das Parlament damit befasst. Dafür hätten Sie sich in Ihrer Rede entschuldigen können; denn das Parlament
sollte zeitnah an der Umsetzung einer solchen Richtlinie
beteiligt werden.
({0})
Wir haben im Ausschuss intensiv darüber diskutiert,
ob es bei der Umsetzung nicht zu Inländerdiskriminierung kommt. Dazu war bei Ihnen kein Wort zu hören.
({1})
Ich will die Wirklichkeit deutlich machen, Frau Kollegin
Wright. Der Markt der Fahrschulen ist außerhalb
Deutschlands völlig anders organisiert. In Frankreich
gibt es Fahrschulen mit bis zu 1 500 angestellten Fahrlehrern und in den Niederlanden Fahrschulen mit mehr
als hundert angestellten Fahrlehrern. Wir setzen mit dem
Gesetz nun europäisches Recht um. Aber einige Auflagen, die wir Fahrschulen, die ihren Betriebssitz in
Deutschland haben, auferlegen, erlegen wir den europäischen Fahrschulen nicht mehr auf. Das sind die obligatorische Betriebshaftpflichtversicherung und die Verpflichtung für den Inhaber einer Fahrschule, den Führerschein
in den Klassen zu haben, die unterrichtet werden. Zukünftig müssen europäische Unternehmer das nicht mehr
nachweisen. Dieser Vorteil für Wettbewerber außerhalb
Deutschlands ist aus unserer Sicht falsch.
({2})
Man kann sicherlich den Zugang zum Beruf des Fahrlehrers vereinfachen und die Gründung eines Betriebes
erleichtern - gerne und jederzeit -, aber dann zu gleichen Bedingungen für alle. Was wird in den grenznahen
Gebieten passieren? Ich denke an Niedersachsen an der
Grenze zu den Niederlanden und an Gebiete an der
Grenze zu Frankreich. Wir werden die dort tätigen deutschen Fahrschulen durch die Erleichterungen für europäische Unternehmer in eine Wettbewerbssituation bringen,
in der sie nicht gewinnen können. Es ist leicht dahingesagt, dass es bei einer Berufshaftpflichtversicherung nur
um ein paar Hundert Euro Prämie gehe. Aber auch das
hat eine wirtschaftliche Schlechterstellung des Inländers
gegenüber dem ausländischen Kettenkonzern zur Folge.
Heute Morgen haben Herr Stiegler und andere wohlfeile
Reden zum Thema Mittelstand gehalten. Wenn es aber
konkret wird, sind Sie diejenigen, die die Strukturen
nicht befördern.
({3})
Mir geht es darum, die hohe Qualität der Fahrlehrerinnen und Fahrlehrer sowie die mittelständische Struktur der Fahrschulen in Deutschland zu erhalten, gleiche
Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, ob in den Niederlanden, in Portugal oder in Deutschland, und sicherzustellen, dass die Fahrlehrerinnen und Fahrlehrer, die
deutsche Jugendliche bzw. in Deutschland lebende Jugendliche ausbilden, so organisiert und ausgebildet sind,
dass das hohe Niveau der Ausbildung in Deutschland gehalten wird und dass die Zahl der Toten und Verletzten
unter den Fahranfängern weiter zurückgeht, und dass
nicht Fahrlehrerinnen und Fahrlehrer aus europäischen
Ländern mit einer geringeren Ausbildung aufgrund wirtschaftlicher Erleichterungen hier einen Betrieb aufmachen.
({4})
Es ist, Herr Staatssekretär, zum Beispiel überhaupt
nicht klar, auch nicht nach der Novelle, wer von den
1 500 angestellten Fahrlehrern in einer französischen
Fahrschulkette überhaupt die Nachprüfung machen
muss. Ist das der Betriebsleiter? Ist das einer? Sind das
alle? Und wer soll überhaupt kontrollieren, ob einer der
angestellten Fahrlehrer, der dann in Baden-Württemberg
eine Ausbildung macht, diese Nachschulung gemacht
hat oder nicht? Es ist wirklich naiv zu glauben, dass das
in dieser Wettbewerbssituation geschieht. Deshalb wäre
es vernünftig gewesen, Sie hätten die Änderungsanträge,
die wir im Ausschuss gestellt haben, mitgetragen. Die
Oppositionsfraktionen haben das getan. Manchmal kann
man auch Dingen zustimmen, wo FDP draufsteht. Aus
meiner Sicht ja fast immer;
({5})
aber auch aus Ihrer Sicht hätte man an dieser Stelle tatsächlich zustimmen können. Das wäre gut gewesen für
die mittelständische Struktur und für die Sicherheit. Darum, liebe Kolleginnen und Kollegen, können Sie nicht
erwarten, dass wir jetzt dieser Novelle zustimmen.
Herzlichen Dank.
({6})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Gero
Storjohann das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Heute werden wir das Vierte Gesetz zur Änderung des Fahrlehrergesetzes verabschieden. Mit diesem
Gesetz soll - das hat der Herr Staatssekretär Kasparick
ausgeführt - eine Richtlinie der Europäischen Union für
den Bereich des Fahrlehrerrechts in nationales Recht
umgesetzt werden, welche die Anerkennung von Berufsqualifikationen, die in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union erworben wurden, erleichtert.
Es geht hier darum, in einem zusammenwachsenden
Europa den Arbeitnehmern die Möglichkeit zu eröffnen,
sich in jedem EU-Mitgliedsland niederzulassen oder dort
den Beruf auszuüben. Das ist und bleibt das Ziel des europäischen Binnenmarktes. Die Richtlinie gilt für alle
Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates, die als Selbstständige oder als abhängig Beschäftigte einen reglementierten Beruf in einem anderen Mitgliedstaat ausüben
wollen als in dem, in welchem sie ihre Berufsqualifikation erworben haben.
Damit dient die Richtlinie der Beseitigung der Hindernisse für den freien Personen- und DienstleistungsGero Storjohann
verkehr zwischen den Mitgliedstaaten. Dies ist ein
grundsätzlich zu begrüßender und ein weiterer Schritt
zur Verwirklichung der Freizügigkeit von Arbeitnehmern in Europa. Dazu steht die Union.
({0})
Herr Döring hat hier nach meiner Auffassung überzeichnet. Er hat zu Recht angesprochen, dass die Einszu-eins-Umsetzung eher hätte erfolgen können. Wenn
die Umsetzung jedoch rechtzeitig erfolgt, manchmal
auch schon vorzeitig, wird gerade von der FDP ein Vorwurf erhoben: Könnte man mit der Umsetzung nicht etwas warten? Warum müssen wir Musterknabe sein?
({1})
- Das habe ich von der FDP sehr wohl gehört. Insofern
gibt es beide Aspekte.
({2})
Hier haben wir das so festzustellen.
Zu Ihrer Kritik, dass der Markt in Deutschland sich
plötzlich ganz anders gestalten wird, wenn Berufskollegen aus anderen Ländern sich hier bewerben und ihre
Dienstleistung anbieten können: Ich glaube nicht, dass
das Fahrschulgewerbe in Deutschland so schwach ist,
dass es überrollt wird.
({3})
Deswegen bin ich sehr zuversichtlich, dass wir hier einen guten Schritt machen.
Wir werden den europäischen Binnenmarkt mit dieser
Richtlinie gestalten, und wir werden ihn insgesamt vereinheitlichen. Gegenstand ist die Neuregelung der Anerkennung von Berufsqualifikationen für Fahrlehrer, die
entweder von Staatsangehörigen eines EU-Landes, eines
Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen
Wirtschaftsraum, also des EWR, oder der Schweiz erworben wurden. Deswegen müssen fahrlehrerrechtliche
Vorschriften hieran angepasst werden.
Der Gesetzentwurf enthält allgemeine Regelungen
zur Wirkung der Anerkennung einer Befähigung zur
Fahrschülerausbildung, die nicht in Deutschland erworben wurde. Um es gleich vorweg klar zu sagen: Es geht
hier nicht um eine grenzenlose Anerkennung aller ausländischen Fahrlehrer. Es geht einzig und allein um solche Befähigungen von Fahrlehrern der eben genannten
europäischen Staaten. Die Richtlinie erfasst dabei im
Übrigen bewusst auch die inländischen Staatsangehörigen, welche ihre Berufsqualifikation nicht in Deutschland, sondern in der EU, einem EWR-Staat oder der
Schweiz erlangt haben. Damit sind alle Anforderungen
an die Berufsqualifikation, also an Eignung und Befähigung der Bewerber, in der Richtlinie abschließend geregelt worden. Dies schließt auch die Fälle ein, in denen
Unterschiede zwischen der bisherigen ausländischen
Qualifikation der Bewerber und der bei uns in Deutschland geforderten Fahrlehrerausbildung bestehen.
Im Interesse einer qualifizierten und fundierten Ausbildung sieht das Gesetz hier die Teilnahme ausländischer Fahrlehrer an einem Anpassungslehrgang oder an
einer Eignungsprüfung vor.
({4})
Dies ist etwa dann der Fall, wenn beispielsweise ein
Fahrlehrer aus einem EU-Mitgliedstaat in Deutschland
Fahrunterricht für Pkw, also für die Klasse BE, erteilen
will. Wir haben hier mit § 2 a Abs. 2 des Gesetzentwurfs
eine Regelung, die sicherstellt, dass der Bewerber in einem solchen Fall zur Teilnahme an einem Anpassungslehrgang oder einer Eignungsprüfung herangezogen
wird - das gilt für jeden Bewerber und nicht nur für den
Inhaber einer großen Fahrschule -, da er im Gegensatz
zu seinen deutschen Kollegen nicht im Besitz der Fahrerlaubnisklassen A und CE für Motorräder und Lkw sein
muss.
Mit der Aufnahme dieser Regelung in das Gesetzeswerk hat die Bundesregierung daher im Interesse der
Chancengleichheit für die Marktteilnehmer gehandelt.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt deshalb die
hierfür vorgesehenen Maßnahmen ausdrücklich.
Die Regelungen unterscheiden darüber hinaus zwischen der eben erwähnten Niederlassung, bei welcher
der Beruf dauerhaft in einem anderen Mitgliedstaat ausgeübt wird, und der Dienstleistungserbringung, also der
vorübergehenden und gelegentlichen grenzüberschreitenden Erbringung. Diese Dienstleistungserbringung
wird dabei entsprechend der Richtlinienvorgabe ausdrücklich für zulässig erklärt. Dabei muss die Dienstleistungserbringung aber von vorübergehendem und auch
gelegentlichem Charakter sein. Dies kann natürlich nur
im Einzelfall anhand der Kriterien Dauer, Häufigkeit, regelmäßige Wiederkehr und Kontinuität der Dienstleistung beurteilt werden.
Ich denke da etwa an den dänischen Fahrlehrer - jeder denkt in diesem Zusammenhang an seine Nachbarstaaten -, der gelegentlich auch deutsche Fahrschüler in
meiner Heimat Schleswig-Holstein unterrichtet. Für ihn
würde bei vorliegender Voraussetzung die eben erwähnte Eignungsprüfung gemäß § 2 a Abs. 3 des Gesetzentwurfs entsprechend gelten. Auch in diesem Fall
wahren wir also die Chancengleichheit im europäischen
Markt.
Außerdem enthält das Gesetz die Regelung, dass alle
Fahrlehrer über die für die Fahrschülerausbildung erforderlichen Sprachkenntnisse verfügen müssen. Dies ist
für eine effektive und sichere Ausbildung der deutschen
Fahrschüler unabdingbar.
Um Qualitätsverluste in der Fahrschülerausbildung
im Interesse der Verkehrssicherheit zu vermeiden, müssen wir bei allen Bestrebungen zur Dienstleistungsfreiheit weitere Schritte unternehmen. Ich kann mir zum
Beispiel vorstellen, die Fahrlehrerausbildung durch ein
Praktikum zu Beginn der Ausbildung und durch eine
anschließende Eignungsprüfung zu ergänzen. Damit
könnte verhindert werden, dass unqualifizierte Fahrlehreranwärter bis zuletzt eine kostenintensive Ausbildung
durchlaufen, dann zu scheitern drohen oder nur deshalb
die Prüfung bestehen, weil man vielleicht alle Augen zudrückt. Das passiert heute leider schon sehr häufig und
gefährdet im Endergebnis die Verkehrssicherheit.
Außerdem unterstütze ich die Bestrebungen der deutschen Fahrlehrerschaft, ein effektives und wirksames
Qualitätssicherungssystem von Fahrschulen zu etablieren. Dabei müssen Anforderungen gesetzt werden, die
über den bloßen gesetzlichen Mindeststandard hinausgehen. Das Bundesverkehrsministerium ist deshalb aufgefordert, den Entwurf einer Verordnung hierzu, der sich
bereits in der Anhörung befindet, alsbald in diesem
Sinne auf den Weg zu bringen.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion will Unterschiede
im Ausbildungsniveau ausländischer Fahrlehrer möglichst ausgleichen. Wir setzen auf Dienstleistungsfreiheit
und eine hohe Qualität der Ausbildung gleichermaßen.
Auf diesem Wege können wir allen Interessen - national
und auch auf europäischer Ebene - gerecht werden. Deshalb wird die Union dem Entwurf eines Vierten Gesetzes
zur Änderung des Fahrlehrergesetzes ihre Zustimmung
erteilen.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Dorothée Menzner für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der vorliegende Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Fahrlehrergesetzes ist ein Lehrstück dessen,
was nicht sein darf. Der Gesetzestext, den uns hier die
Ministerialbürokraten vorgelegt haben, ist absolut missverständlich, sodass sich sein Anliegen kaum einem erschließt oder gar allgemeinverständlich ist.
Werte Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen und aus dem Ministerium, Ihre Intention, Fahrlehrer aus EU-Staaten, aus assoziierten Staaten
und der Schweiz bei der Ausbildungsberechtigung mit
inländischen Fahrlehrern gleichzustellen, ist ja in Ordnung. Das begrüßen wir. Schließlich müssen Ausbilder
hierzulande neben dem Pkw-Führerschein auch Fahrerlaubnisse für Motorrad und Lkw besitzen.
Aber wenn selbst der Fachverband der Fahrlehrer den
Gesetzentwurf so interpretierte, als würden die Änderungen nichtinländische Fahrlehrer begünstigen, dann ist an
diesem Text irgendetwas faul, dann zeugt das schlicht
von grober handwerklich-sprachlicher Undeutlichkeit.
Dem können wir unsere Zustimmung nicht geben.
({0})
Wenn selbst Fachverbände, in denen Fachleute und der
Sachverstand sitzen, Gesetzestexte nicht mehr verstehen
oder fehlinterpretieren, wie sollen wir Abgeordnete, unsere wissenschaftlichen Mitarbeiter oder gar der Bürger
draußen dann das, was wir hier beschließen wollen, verstehen und diese Gesetze dann anwenden und realisieren?
Martin Luther erwartete einmal, dass man dem Volk
aufs Maul schaue. Aber das reicht nicht. Wir sollten
auch so sprechen und schreiben, dass das Volk uns versteht. Das ist zumindest hier nicht gelungen.
({1})
„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, steht im Grundgesetz. Dann müssen Gesetze aber so gefasst sein, dass
sie vom Volk auch verstanden werden können. Wenn uns
das nicht mehr gelingt, dann ist das bürokratische Geisterfahrerei. Aber dafür werden wir Linke nicht die Hand
zur Zustimmung heben.
({2})
Wir haben am Sonntag in Hessen und Niedersachsen
Wahlen. Das ist heute hier schon ein paarmal angesprochen worden. Aber wenn ich im Wahlkampf mit Bürgern
so spräche, sei es am Stand, sei es an der Haustür oder in
der Kneipe, wenn ich so kryptisch antwortete, wie dieser
Gesetzestext formuliert ist, dann würde ich keine Wählerin, keinen Wähler gewinnen. Das ist unabhängig davon,
welcher Partei man angehört: Die Menschen müssen uns
und das, was wir wollen, verstehen.
Wir Linken sprechen aber die Sprache des Volkes,
({3})
sei es beim Thema Mindestlohn, bei der Rente mit 67,
bei Hartz IV oder bei der Börsenbahn,
({4})
wo wir jeweils die Mehrheitstrends auf unserer Seite haben. In den Landtagen in Hessen und Niedersachsen, wo
die Linke künftig vertreten sein wird, werden wir verständlich und volksnah reden.
Deswegen lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab, allein
weil dieses Kauderwelsch niemandem verständlich ist.
Bürger, die auf Gesetze hören sollen, müssen sie erst einmal verstehen können.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Dr. Anton Hofreiter für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit der vierten Änderung des Fahrlehrergesetzes wird die EU-Richtlinie vom 7. September 2005 in
nationales Recht überführt. Es wurde schon erwähnt,
dass wir mit der Umsetzung mal wieder etwas zu spät
dran sind. Auch sind bereits die Kernpunkte dargestellt
worden. Es geht um die Anerkennung unterschiedlicher
Berufsqualifikationen. Für uns ist entscheidend, dass dabei die hohen Standards erfüllt werden. Denn die Ausbildung von Fahrlehrern hat etwas mit Verkehrssicherheit
zu tun.
Wie ist nun dieser Gesetzentwurf zustande gekommen, und wie verliefen die Beratungen im Ausschuss?
Es ist, glaube ich, relativ unumstritten, dass es sich hier
um kein ideologisch besonders hoch aufgeladenes Gesetz handelt.
({0})
- Patrick hat jetzt etwas heftig und durchaus sehr
engagiert dargestellt, was die FDP in den Ausschuss eingebracht hat.
({1})
Aber - ehrlich gesagt - handelte es sich dabei nur um ein
paar technische Verbesserungen und Klarstellungen, die
den Gesetzentwurf eindeutiger gemacht hätten. Im Ausschuss haben dem FDP-Änderungsantrag die FDP, aber
auch die Grünen und die Linke zugestimmt. Allein dies
macht deutlich, dass er nicht sonderlich stark ideologisch umstritten ist. Es war auch zu bemerken, dass eine
ganze Reihe von Abgeordneten der Großen Koalition
dem Änderungsantrag eigentlich gern zugestimmt hätte.
Stattdessen haben sie ihn abgelehnt.
Da fragt man sich schon, wie weit es eigentlich mit
der Gesetzgebungskompetenz des Parlaments gekommen ist. Es ist Ihnen nicht einmal möglich, in einer
nichtöffentlichen Ausschusssitzung bei einem ideologisch völlig unumstrittenen Thema technische Veränderungen zu akzeptieren, wenn sie von der Opposition eingebracht werden.
({2})
Ist das nicht peinlich, Leute?
({3})
Man hat manchmal das Gefühl, dass in den Zeiten der
Großen Koalition dieses Parlament vom Gesetzgeber
- offiziell sind wir die erste Gewalt im Staate - zum Gesetzesentgegennehmer verkommen ist. Wer macht denn
Gesetze, die Regierung oder wir? Offensichtlich macht
die Gesetze inzwischen die Regierung, die sie eigentlich
ausführen sollte. Das liegt nicht daran, dass das Parlament formale Rechte abgegeben hätte, sondern schlichtweg daran, dass die beiden ach so großen, aber in Wirklichkeit völlig schwachen Regierungsfraktionen nicht
das Rückgrat haben, einmal ihrer Regierung zu widersprechen und etwas Eigenständiges zu machen.
({4})
Dies bemerkt man ganz eindeutig auch bei wichtigen
Themen. Wie gehen Sie denn zum Beispiel mit dem
Thema Bahn um? Die Regierung hat einen Gesetzentwurf eingebracht, und Sie sind nicht in der Lage, im
Ausschuss über ihn zu debattieren. Das ebenso wichtige
Thema deutsche Flugsicherung lassen Sie mit Ihrer
Mehrheit von der Tagesordnung absetzen. Fragt man
nach einem so wichtigen Thema wie der Weiterentwicklung des ÖPNV, wird einem geantwortet, man sage
nichts darüber, was in der Debatte sei. Nachher könnte
noch darüber gesprochen werden! Das war gerade in der
letzten Ausschusssitzung so.
({5})
Was ist denn das für ein Zustand? Ist das hier der Gesetzgeber?
({6})
- Schweigen im Raum. Offensichtlich hat die Große
Koalition es aufgegeben.
({7})
Ganz unabhängig von den inhaltlichen Fragen ist allein die Art und Weise, wie die beiden großen und doch
so schwachen Koalitionsfraktionen inzwischen die Gesetzgebungsarbeit in diesem Parlament haben verkommen lassen, Grund genug, dass diese große und doch
schwache Koalition so schnell wie möglich weg gehört.
({8})
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Heidi
Wright das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe am Anfang befürchtet, dass wir eine einfache
Sache, die kompliziert aufgeschrieben wurde, langweilig
diskutieren. Nein, es ist Stimmung hereingekommen.
({0})
Ich versuche, jetzt zusammenzufassen, worum es geht:
um den Regierungsentwurf eines Vierten Gesetzes zur
Änderung des Fahrlehrergesetzes, um die Eins-zu-einsUmsetzung einer europäischen Richtlinie. Weil es um
die Umsetzung geht, war in diesem Moment kein Handlungsspielraum für weitere Regelungen gegeben.
({1})
- Wir machen eine Eins-zu-eins-Umsetzung in einem etwas verzögerten Zeitablauf, wie Sie schon sagten, und
wir setzen es so um, wie wir es in Abstimmung mit dem
Bundesrat aufgeschrieben haben.
Ich weise nochmals ausdrücklich darauf hin, dass bei
wesentlichen Unterschieden zwischen der bisherigen
ausländischen Qualifikation der Bewerber und der im Inland geforderten Fahrlehrerausbildung Bewerber um
eine inländische Erlaubnis wie bisher - das ist wichtig an einem Anpassungslehrgang oder einer Eignungsprüfung teilnehmen müssen. Das ist gut so; denn nur so
wird sichergestellt, dass die Fahrschulausbildung in jedem Fall nur durch Fahrlehrer erfolgt, die ausreichend
qualifiziert sind. Das ist unser Anliegen, Kolleginnen
und Kollegen, und das ist auch das Anliegen der Fahrlehrerverbände. Deshalb nehmen wir den Brief, der uns
zugegangen ist, ernst. Wir haben ihn überprüfen lassen,
und wir werden dem Verband auch schreiben. Wir können die Kritikpunkte durchaus aushebeln. Es ist schon
deutlich gesagt worden: Die Bedenken in Bezug auf eine
Gefährdung der Verkehrssicherheit und der Qualität der
deutschen Fahrschulausbildung sind nicht begründet.
Das ist mir als Berichterstatterin für Verkehrssicherheit
außerordentlich wichtig.
Es wird weiter befürchtet, dass die gesetzlichen Berufsregelungen umgangen werden können, indem die
Berufsanerkennung von Inländern im Ausland erworben
wird. Auch das kann ich in Abrede stellen. Ich kann
Ihnen versichern, dass die Anerkennung der Berufsqualifikation von Inländern schon wegen des Gleichheitsgrundsatzes nicht untersagt werden kann, wenn diese
Qualifikation anderswo erworben wurde.
({2})
Bewerber müssen aber, wie gesagt, an einem Anpassungslehrgang oder an einer Eignungsprüfung teilnehmen.
({3})
Es wird auch kritisiert, dass mit dem Gesetzentwurf
eine altbewährte Regelung aufgegeben wird, nach welcher ein Fahrlehreranwärter, auch wenn er nur die Fahrlehrererlaubnis für die Pkw-Ausbildung erwerben will,
im Besitz der Fahrerlaubnis für Motorrad und Lkw sein
muss. Das bleibt auch weiterhin der Fall. Frau Kollegin
Menzner hat das verstanden. Herr Kollege Döring, Ihnen
versichere ich noch einmal ausdrücklich, dass das so
bleibt.
({4})
Weiter ist festzustellen, dass die neu einzuführende
Fahrlehrererlaubnis und die Fahrschulerlaubnis der vollen Fahrschulüberwachung durch die zuständigen Landesbehörden unterliegen. Verstöße sind - das hat der
Staatssekretär deutlich gemacht - Ordnungswidrigkeiten
und somit bußgeldbewehrt. Die Fahrschulüberwachung
wird von den Ländern in eigener Zuständigkeit wahrgenommen. Bundesrechtliche Regelungen zu Umfang und
Verfahren der Fahrschulüberwachung sind verfassungsrechtlich ausgeschlossen.
Wir erleichtern die Überwachung durch die Einführung einer neuen Meldepflicht. Der Inhaber einer Fahrlehrer- bzw. Fahrschulerlaubnis, die zur vorübergehenden und gelegentlichen Fahrschülerausbildung
berechtigt, muss den zuständigen Landesbehörden jährlich formlos Meldung machen, wo er beabsichtigt, in
dem betreffenden Jahr Fahrschüler auszubilden. Auch
der Verstoß gegen diese Meldepflicht ist eine Ordnungswidrigkeit und somit bußgeldbewehrt.
Ich komme zum Schluss. Ich begrüße, dass zur praktischen Durchführung der Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen das Bundesverkehrsministerium den
Ländern seine aktive Mitarbeit angeboten hat. Auch die
Bundesvereinigung der Fahrlehrerverbände wird sich
beteiligen. Ich erinnere daran, dass der Bundesrat in seiner Stellungnahme vom 30. November 2007 mehrere
Änderungen des Gesetzentwurfs empfohlen hat. Die
Bundesregierung hat in ihrer Gegenäußerung zwei dieser
Änderungsvorschläge akzeptiert.
Ich bitte um Ihre Zustimmung und danke für Ihre
Aufmerksamkeit.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Fahrlehrergesetzes. Der Ausschuss für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7819, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 16/7080 und 16/7417 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit mit den Stimmen der Unionsfraktionen
und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der FDPFraktion und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Markus Kurth, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Gegen Armut trotz Arbeit - Strategie zur Stärkung geringer Einkommen
- Drucksache 16/7751 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
Vizepräsidentin Petra Pau
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten Redezeit
erhalten soll. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann
ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Armut
trotz Arbeit ist inzwischen für viele Menschen in
Deutschland die Wirklichkeit ihres Alltags geworden.
Sie wissen: Weit über 1 Million Menschen erhalten ergänzend zu ihrer Erwerbstätigkeit Arbeitslosengeld II.
Über die Hälfte von ihnen sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Die weitere Gruppe, die davon betroffen ist, ist die Gruppe derer, die im Niedriglohnbereich arbeiten und deren Zahl zunimmt. Eine
Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat ergeben, dass der Niedriglohnbereich
in wenigen Jahren von 15,3 auf 18,3 Prozent angestiegen
ist. Diese Entwicklung hält leider ungebrochen an.
Armut ist aber nicht nur eine Frage der Höhe von
Löhnen. Armut hat in Deutschland leider auch sehr viel
mit dem Familienstand zu tun. Immer noch sind in
Deutschland Kinder ein Armutsrisiko. In besonderer
Weise negativ betroffen sind die Alleinerziehenden, aber
auch die Paare mit mehreren Kindern.
Es ist nicht so, dass die Bundesregierung dieses Problem nicht sieht, aber sie hat keine abgestimmte Strategie, um der Verarmung von Erwerbstätigen wirklich entgegenzuwirken. Sie können sich nicht über den
Mindestlohn verständigen - dieses Theater haben wir
hier über Monate miterlebt -, Sie können sich aber leider
auch nicht darüber verständigen, mit welchen anderen
unterstützenden Maßnahmen Sie Armut verhindern wollen. Ich kann Ihnen nur eines sagen: Der im Bundesarbeitsministerium diskutierte Erwerbstätigenzuschlag ist
mit Sicherheit nicht die Lösung.
({0})
Damit schaffen Sie letztlich nichts anderes als ein Parallelsystem zum Arbeitslosengeld II, das überhaupt keine
Verbesserungen für die Geringverdienerinnen und Geringverdiener bringt. Die Erstbeantragung, aber auch die
Wiederbeantragung ist hochbürokratisch, und die Prüfbürokratie unterscheidet sich nicht wirklich von der bei
der Beantragung von Arbeitslosengeld II.
Was ich als Skandal empfinde: Die Kosten für diesen
Erwerbstätigenzuschlag sollen die Beitragszahler übernehmen. Ich bitte Sie. Warum sind eigentlich die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler dafür zuständig, die
Rahmenbedingungen für den Niedriglohn zu verbessern?
({1})
Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und
müsste im Zweifel aus Steuern finanziert werden.
({2})
Sie müssten dafür viel Geld in die Hand nehmen; denn
die Mitnahmeeffekte, die zu erwarten sind, sind nicht
von Pappe.
Der Erwerbstätigenzuschlag bringt denjenigen mit
geringen Einkommen nichts, er ist hochbürokratisch und
teuer. Das scheint nun auch der neue Arbeitsminister Scholz langsam begriffen zu haben. Es dämmert ihm, dass
die Erbschaft, die er von Herrn Müntefering übernommen hat, wirklich keine gute Erbschaft ist.
({3})
Ich kann Ihnen, Herr Scholz, nur sagen: Beerdigen Sie
dieses Projekt, und zwar schnell, und beerdigen Sie es
lautlos!
({4})
Wenn wir die Abhängigkeit von Menschen von der
Grundsicherung wirklich beenden wollen, dann brauchen wir kein ALG light. Wir sollten stattdessen die kleineren Einkommen stärken und die vorgelagerten Systeme verbessern, sodass die Menschen erst gar nicht in
die Abhängigkeit von ALG II kommen. Dafür haben wir
als Oppositionsfraktion Ihnen ein wirklich gutes, abgestimmtes Konzept vorgelegt. Ich will die Punkte ganz
kurz nennen.
Wir wollen die Situation der Geringverdienerinnen
und Geringverdiener verbessern, indem wir ganz gezielt
die Lohnnebenkosten im unteren Einkommensbereich
mit unserem Progressivmodell absenken. Wir wollen
Mindestlöhne für alle Branchen - partielle Lösungen reichen bei weitem nicht aus -, und wir müssen die Maßnahmen zur Existenzsicherung von Kindern verbessern.
Wir haben heute umfangreich über den Kinderzuschlag
diskutiert. Das ist ein Instrument, um die Situation von
Eltern und auch Alleinerziehenden zu verbessern.
Schließlich müssen wir das Wohngeld reformieren. Da
reichen verwaltungstechnische Änderungen wirklich
nicht aus.
({5})
Von dem, was Sie vorlegen, kann sich nun wirklich keiner und keine etwas kaufen. Die Aufwertung des Wohngeldes wäre ein Instrument, das dazu führen würde, dass
die Menschen erst gar nicht Arbeitslosengeld II beziehen
müssten.
Es ist ein umfangreiches und sehr konsistentes Konzept, das wir Ihnen hier vorlegen. Die Bundesregierung
liefert nur einen Streit um den Mindestlohn, einen Profilierungskampf zwischen Familienministerium und Arbeitsministerium in Sachen „Kinderzuschlag versus Erwerbstätigenzuschlag“ und einen Streit um die Erhöhung
des Wohngelds - Tiefensee gegen Steinbrück. Wie Kai
aus der Kiste kommt jetzt auch noch Umweltminister
Gabriel und sagt: Armutsbekämpfung? Das können wir
doch auch lösen, indem wir die Energieversorger auffordern, Sozialtarife anzubieten.
(Beifall der Abg. Bettina Herlitzius ({6})
Kollegin Pothmer, Sie müssen jetzt bitte zum Schluss
kommen.
Ich komme sofort zum Schluss.
Ich sage Ihnen: Das ist kein Konzept gegen Armut. Es
hilft den Armen nicht. Es ist armselig.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Karl Schiewerling für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Reformen am Arbeitsmarkt, Neustrukturierung der Betriebe,
insbesondere der inhabergeführten Klein- und Mittelbetriebe, motivierte, gut qualifizierte und verantwortungsbewusste Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, eine
gute Weltkonjunktur und nicht zuletzt eine verlässliche
Politik der Großen Koalition haben zu mehr Beschäftigung, einem erheblichen Abbau von Arbeitslosigkeit
und besseren Bedingungen für die Arbeitnehmer geführt.
({0})
Die Zahl der Arbeitslosen ist im Dezember 2007 auf
knapp 3,4 Millionen gesunken. Das ist ein Rückgang um
1,2 Millionen seit 2005. Vor zwei Jahren war in den Umfragen bei den Bürgerinnen und Bürgern die Sorge um
den Arbeitsplatz noch das Topthema. Bei aktuellen Umfragen ist dies zurückgefallen. Wir sagen Ihnen: Das
mag ein gutes Zeichen sein. Es wird uns in der Großen
Koalition aber nicht davon abhalten, das Thema Arbeitslosigkeit weiterhin in den Mittelpunkt unserer Politik zu
stellen.
({1})
Besonders freue ich mich darüber, dass auch Langzeitarbeitslose vom konjunkturellen Aufschwung profitieren. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen konnte in den
letzten zwei Jahren um über 400 000 gesenkt werden.
Aber hierzu sage ich Ihnen: 2,37 Millionen Langzeitarbeitslose sind auch aus unserer Sicht noch zu viel.
({2})
Es gibt geringe Löhne, die dazu führen, dass immer
mehr Erwerbstätige trotz Beschäftigung vom Staat unterstützt werden müssen. Diese Menschen bezeichnen
Sie in Ihrem Antrag per se als arm. Als Beleg dafür wird
die wachsende Zahl der sogenannten Aufstocker angeführt, also derjenigen, die zusätzlich Mittel nach dem
Sozialgesetzbuch II bekommen.
Die Zahl der Aufstocker an sich ist nach meinem Dafürhalten aber noch kein hinreichendes Indiz für die gesamte Situation, die Sie skizziert haben. Wir müssen die
Bewertung des Bundeswirtschaftsministeriums und des
Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung ernst nehmen, nach der die große Zahl der Aufstocker auch eine
Folge von Regelungen im SGB II ist. Wir finden unter
den Aufstockern eine hohe Zahl solcher Personen, die
nur vorübergehend in dieser Empfängersituation sind.
Untersuchungen zeigen, dass bereits nach 65 Tagen nur
noch die Hälfte Leistungen nach dem SGB II beziehen.
Das wechselt also. Wir haben es nicht mit einem monolithischen Block zu tun, sondern mit ständiger Veränderung.
In der Untersuchung des Bundeswirtschaftsministeriums wird übrigens auch festgestellt, dass sich für Alleinstehende eine Arbeitsaufnahme erst bei einem Brutto
von 1 200 Euro und für einen Alleinverdiener mit zwei
Kindern erst bei einem Brutto von 2 050 Euro lohnt. Das
hängt mit der Familienkomponente zusammen und stellt
sich in dieser Kombination arbeitsmarktpolitisch durchaus als Problem dar.
Frau Pothmer, der Titel Ihres Antrags lautet „Gegen
Armut trotz Arbeit“.
({3})
Doch was bedeutet „arm“? Arm nach der Definition der
Vereinten Nationen ist, wer weniger als 1 US-Dollar am
Tag zum Leben hat, keine medizinische Versorgung,
kein sauberes Wasser und keine Chance hat, Lesen und
Schreiben zu lernen.
({4})
Davon sind 1,2 Milliarden Menschen betroffen. Ich sage
Ihnen: eine Katastrophe.
({5})
Die Weltgesundheitsorganisation definiert denjenigen
als arm, der weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens seines Heimatlandes zur Verfügung hat.
Armut hat viele Facetten, doch in Deutschland - das
sage ich an dieser Stelle sehr bewusst - fällt dank der
Grundsicherung niemand ins Bodenlose. Um es auf den
Punkt zu bringen: Arbeitslosengeld II macht nicht arm,
sondern bewahrt vor absoluter Armut.
({6})
Ich kann es nicht nachvollziehen, warum diese Grundsicherung zu einem Schimpfwort geworden ist, obgleich
die Menschen Geld, übrigens von Steuerzahlern erarbeitet und eingezahlt, und gemäß den gesetzlichen Grundlagen Hilfe erhalten, um aus der Arbeitslosigkeit herauszukommen.
Meine Damen und Herren, ja, es gibt arme Menschen
in Deutschland. Es gibt auch zu viele arme Menschen in
Deutschland. Aber an dieser Stelle rate ich uns, den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung abzuwarten. Wir werden über ihn in diesem Hause sicherlich
diskutieren.
Frau Pothmer, in Ihrem Antrag fordern Sie de facto
die Einführung von Mindestlöhnen für alle Branchen.
({7})
Sie vermeiden dabei den Begriff des gesetzlichen Mindestlohns. Sie wollen die Tarifautonomie stärken. Das
halten wir für richtig. Aber Sie setzen die Bedingungen
so, dass de facto doch ein gesetzlicher Mindestlohn dabei herauskommt.
({8})
Ich will mich nicht auf eine volkswirtschaftliche Diskussion einlassen. Ich will auch nicht sagen, wie die einzelnen Diskussionsstränge zu bewerten sind.
({9})
Gestatten Sie mir jedoch einige grundsätzliche Ausführungen zu dieser Frage unter anderen Gesichtspunkten.
Wir wollen, dass die Tarifpartner untereinander die
Löhne aushandeln. Der Staat hat hier nicht einzugreifen.
({10})
Die Tarifautonomie ist ein Pfeiler der freiheitlich-demokratischen Grundordnung unseres Staates und muss dies
auch in Zukunft bleiben. Selbst bei den Gewerkschaften
ist die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns umstritten. Hubertus Schmoldt und der Vorsitzende der IG
Metall in Nordrhein-Westfalen haben jüngst darauf hingewiesen.
In einer sich zunehmend individualisierenden Gesellschaft wird immer mehr vom Staat gefordert. Statt der
Gesellschaft soll der Staat alle Probleme lösen. In unserer sozialen Marktwirtschaft haben allerdings die Arbeitnehmerorganisationen, sprich die Gewerkschaften, und
die Arbeitgeberverbände die Aufgabe, im Rahmen ihrer
wirtschaftspolitischen Verantwortung Löhne auszuhandeln. Mit großer Besorgnis sehe ich, dass immer mehr
Arbeitgeber ihren Organisationen den Rücken kehren
(Dr. Thea Dückert ({11}): Reden Sie über unseren Antrag oder
worüber?
und sich nicht mehr genügend Mitglieder in den Gewerkschaften organisieren. Ordnungspolitisch geht das
in Deutschland auf Dauer gesehen nicht gut. Das müssen
wir den Arbeitgebern genauso wie den Arbeitnehmern
sagen.
({12})
Wenn der Staat alle Probleme lösen soll, wird er überfordert. Das gilt übrigens auch für alle anderen Bereiche
unserer Gesellschaft. Die Konsequenz wären mehr Gesetze, mehr Regelungen, zusätzliche Bürokratie und
mehr Politikverdrossenheit bei den Menschen. Mehr
Staat heißt nämlich nicht mehr Gerechtigkeit.
({13})
Allerdings treibt mich wie viele andere hier in diesem
Hohen Hause die Sorge um, dass bestimmte Arbeitgeber
die Gesamtsituation zu Lohndumping nutzen
({14})
und sich so einen Wettbewerbsvorteil gegenüber ihrer
lästigen Konkurrenz verschaffen. Ich halte dies unter
dem Gesichtspunkt, dass wir eine Marktwirtschaft haben, für eine Katastrophe.
({15})
Deswegen erwarte ich, dass sich die betroffenen Branchen wehren und mit den Gewerkschaften auch aus eigenem betrieblichen Interesse eine Lohnuntergrenze vereinbaren. Im Übrigen ist die Koalition dabei, genau diese
Frage im Mindestarbeitsbedingungengesetz und im Entsendegesetz zu regeln.
Ich teile ausdrücklich das von den Grünen in ihrem
Antrag formulierte Ziel, zukünftig die Abhängigkeit von
staatlichen Transferleistungen zu verringern. Hierzu fordern Sie in Ihrem Antrag, die Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familienarbeit zu verbessern. Das wollen
wir auch. Deswegen hat die Große Koalition den Ausbau
der Betreuungsangebote für unter Dreijährige beschlossen und familienpolitische Maßnahmen ergriffen, die
zwischenzeitlich schon auf den Weg gebracht wurden.
Frau Pothmer, Sie fordern in Ihrem Antrag die Senkung der Lohnnebenkosten.
({16})
Genau das haben wir gemacht.
({17})
Wir haben den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung
kontinuierlich gesenkt. Gestartet sind wir bei 6,5 Prozent. Jetzt liegt dieser Beitrag bei 3,3 Prozent. Ein Arbeitnehmer mit 2 000 Euro brutto hat im Jahr etwa
750 Euro mehr in der Tasche.
({18})
Ich sage Ihnen: Wir müssen die Lohnnebenkosten für
alle senken. Dann haben alle etwas davon, nicht nur alle
Beschäftigten, nicht nur die sogenannten Geringverdiener, also die, die wenig verdienen, sondern auch und besonders die sozialen Sicherungssysteme; denn die Senkung von Lohnnebenkosten schafft Beschäftigung, und
Beschäftigung schafft mehr Beitragszahler. Das haben
wir getan. Das nenne ich eine erfolgreiche Politik.
({19})
Auch wenn das Bemühen im Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen um eine sachgerechte Lösung sichtbar ist - das
sage ich ausdrücklich -, so können wir diesem Antrag aus
den inhaltlichen Gründen, die ich gerade dargelegt habe
dennoch nicht zustimmen.
({20})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Jörg Rohde
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Herr Schiewerling, was Ihren Beitrag angeht, möchte ich etwas Lob und Kritik äußern.
Zunächst möchte ich Kritik üben. Die Definition von
Armut der EU hat mir bei Ihnen gefehlt. Hätten Sie diese
Definition zugrunde gelegt, wären Sie ein bisschen näher an den deutschen Verhältnissen.
Loben möchte ich ausdrücklich Ihr Bekenntnis zur
Tarifautonomie. Das hat uns als Liberale sehr gefreut.
Aber ein richtig klares Bekenntnis „Wir machen keinen
gesetzlichen Mindestlohn“ hat mir in Ihren Ausführungen gefehlt.
({0})
Werte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, auf
vier Seiten führen Sie aus, was die FDP schon seit langem mit vier Worten zum Ausdruck bringt: Mehr Netto
vom Brutto.
({1})
Das ist es, was die Geringverdiener in Deutschland brauchen.
Ihr Antrag enthält viele richtige Feststellungen. Leider ziehen Sie aus den meisten Erkenntnissen aber die
falschen Schlüsse. Zugegeben, auf den ersten Blick erscheint Ihr Vorschlag einer Progression der Sozialversicherungsbeiträge interessant. Aber schon einem zweiten
Blick hält er leider nicht stand; denn, erstens, entziehen
Sie den Sozialversicherungen Beiträge in erheblicher
Höhe und, zweitens, segmentieren Sie den Arbeitsmarkt
zusätzlich. Wenn Sie bei 2 000 Euro eine Grenze einziehen, ab der erst volle Sozialversicherungsbeiträge fällig
werden, müssen Sie in Kauf nehmen, dass viele Arbeitnehmer diese Hürde niemals überwinden werden. Jeder
Arbeitgeber wird sich zweimal überlegen, ob er einen
Arbeitsplatz nicht so gestalten kann, dass er ihn auch mit
weniger als 2 000 Euro entlohnen kann, weil die Lohnnebenkosten dann niedriger sind.
({2})
Leidtragend bei einer solchen Sozialversicherungsprogression wäre die breite Mitte der Gesellschaft. Das können Sie nicht wirklich wollen.
({3})
Lohnnebenkosten senken ist richtig, aber wenn, dann
für alle und nicht nur für wenige.
({4})
Die Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes
auf weitere Branchen oder die Einführung eines allgemeinen Mindestlohns ist nicht der richtige Weg zu mehr
Beschäftigung, sondern maximaler Unsinn.
({5})
Ein zu hoch angesetzter Mindestlohn vernichtet Arbeitsplätze und stärkt allein die Schwarzarbeit. Ein zu niedrig
angesetzter Mindestlohn ist wirkungslos. Das tragen wir
Liberalen Ihnen gebetsmühlenartig vor.
({6})
Im Lohngefüge spiegeln sich die Nachfrage nach Arbeitskräften und die Produktivität der Beschäftigten wider. Hier per Gesetz einzugreifen, ist nichts anderes als
Planwirtschaft. Die Konsequenzen kennen wir: Unternehmen und Arbeitsplätze wandern ab, und allein die
Schwarzarbeit wird blühen.
({7})
Vor allem Geringverdiener wären dabei die Leidtragenden; denn um deren Arbeitsplätze geht es. Wenn Sie Geringverdiener stärken wollen, müssen Sie bei den Lohnnebenkosten entlasten. Dann bleibt vom Brutto auch
mehr übrig.
Herr Schiewerling, Sie haben die Arbeitslosenversicherung angesprochen. Daher will ich nur an die Rentenversicherung und an die Pflegeversicherung erinnern.
Bezüglich der Krankenversicherung machen wir alle ein
großes Fragezeichen, wenn es um die Frage geht, was
am Ende des Jahres auf uns zukommt.
({8})
- Ich würde Ihnen ausnahmsweise zustimmen, wenn Sie
behaupten, dass es in diesem Jahr vielleicht noch zu einer Entlastung kommt. Wir haben es schon gesagt: Im
letzten Jahr gab es erhebliche Belastungen, die durch die
kleine Entlastung in diesem Jahr nicht ausgeglichen werden können.
({9})
Das alles holen Sie über die mittleren und hohen Einkommen nicht wieder herein.
Auch die Forderung, die Existenzsicherung von Kindern zu verbessern, ist zweifellos richtig. Ob aber allein
eine Ausweitung des Kinderzuschlags auf mehr Anspruchsberechtigte die Lösung ist, bezweifle ich.
({10})
Wie wollen Sie sicherstellen, dass die Förderung auf jeden Fall beim Kind ankommt und zu dessen Wohle verwandt wird? Ich habe die Sorge, dass bei einer reinen
Geldleistung zu viele Kinder durchs Raster fallen. Mir
scheint es richtig zu sein, die Rahmenbedingungen so zu
gestalten, dass alle Kinder die gleichen Startchancen haben. Wir brauchen ein breites, vielfältiges und für alle
bezahlbares Kinderbetreuungsprogramm, das jedem
Kind zugute kommt, optimale Bildungsangebote ab dem
Kindergartenalter, und vor allem müssen wir bessere
Rahmenbedingungen für erwerbstätige Eltern schaffen;
denn der beste Schutz gegen Kinderarmut ist die Berufstätigkeit beider Elternteile. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, das stellen Sie in Ihrem Antrag
selbst fest.
Schade finde ich, dass Sie, werte Grüne, in Ihrem Antrag keine Auskunft darüber geben, wie die von Ihnen
geplante Aufwertung des Wohngeldes finanziert werden
soll und vor allem von wem. Mehr Anspruchsberechtigte, höhere Freibeträge bei der Einkommensanrechnung, eine Erhöhung und eine stärkere Berücksichtigung
der Nebenkosten - das sind ja gleich vier Wünsche auf
einmal. Das geht nun wirklich nicht, vor allem nicht bei
den Kommunen.
Ich stimme Ihnen zu, dass wir beim Wohngeld etwas
machen müssen. Es ist nicht hinnehmbar, dass Bezieher
von Arbeitslosengeld II Unterkunfts- und Heizkosten
fast vollständig vom Staat ersetzt bekommen, während
Bezieher von Wohngeld nur einen Zuschuss zur Grundmiete und zu den sogenannten kalten Betriebskosten erhalten. Auch steigende Nebenkosten müssen Berücksichtigung finden. Wir dürfen aber nicht so tun, als
müsse man das Geld nur drucken. Lassen Sie bitte Vernunft einkehren und uns nach einer gerechten Lösung
suchen, die auch finanziert werden kann.
Meine Damen und Herren aller Fraktionen, ich fasse
noch einmal zusammen:
({11})
Wir brauchen keinen Mindestlohn, wir brauchen keinen
Erwerbstätigenzuschuss, wir brauchen keinen Rabatt bei
den Sozialversicherungsbeiträgen, sondern wir brauchen
mehr Arbeitsplätze, und zwar in allen Lohngruppen.
({12})
Der einfachste Weg dahin liegt in einer konsequenten
Senkung der Beiträge zur Sozialversicherung. Dann
rechnet sich Arbeit in Deutschland besser, und dann können mehr Arbeitsplätze in Deutschland entstehen. Damit
würde sich auch die Finanzierung der Sozialversicherungssysteme in Deutschland entspannen.
({13})
Kollege Rohde, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
({0})
Ein letzter Satz, Frau Präsidentin.
Eine flexible Regelung des Renteneintrittsalters bei
gleichzeitiger Abschaffung aller Zuverdienstgrenzen
und die Einführung des liberalen Bürgergeldes wären die
richtigen Weichenstellungen für mehr Arbeitsplätze.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Rolf Stöckel das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unbestritten ist, dass tatsächliche oder relative Armut für zu
viele Menschen trotz Arbeit Realität ist. Die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen fordert deshalb zu Recht ein abgestimmtes Konzept, mit dem die „Verarmung Erwerbstätiger erfolgreich bekämpft und ihre Abhängigkeit von
der Grundsicherung“ nach SGB II „vermieden werden
kann“. Das fordert sie in Übereinstimmung mit der SPDBundestagsfraktion und der überwältigenden Mehrheit
der Menschen in der Bundesrepublik, wenn man den repräsentativen Umfragen Glauben schenken kann. Die
große Zustimmung in der Bevölkerung zeigt sich übrigens auch bei der Unterschriftenaktion für Mindestlöhne, die die SPD in Hessen durchführt.
Ich darf daran erinnern, dass wir während der rot-grünen Regierungszeit gemeinsam ein abgestimmtes Konzept arbeitsmarktpolitischer Reformen entwickelt haben,
das wir nun in der Großen Koalition gemeinsam mit der
CDU/CSU-Fraktion auf der Grundlage des Koalitionsvertrages und im Lichte der Realitäten weiterentwickeln.
Ich erinnere daran, dass die Regelungen der Mini- und
Midijobs, die zu widersprüchlichen Wirkungen geführt
haben, von SPD und Grünen gemeinsam beschlossen
worden sind. Das heißt nicht, dass sie nicht verändert
werden könnten. Darüber werden wir uns mit unserem
Koalitionspartner auseinandersetzen.
({0})
Ich glaube, beiden Regierungen ist eines gemeinsam,
nämlich das Ziel - das ist heute wie damals unbestritten -,
möglichst viele Menschen zu qualifizieren und in gut bezahlte Beschäftigung zu vermitteln. Gerade für Familien
mit Kindern und Alleinerziehende ist das aber keine Garantie für ein existenzsicherndes Einkommen, das oberhalb der Bedürftigkeitsgrenze liegt; das müssen auch Sie
eingestehen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass sowohl seitens der Arbeitgeber als auch der Erwerbstätigen
das Bedürfnis nach Teilzeitarbeit steigt, und es zunehmend gebrochene Erwerbsbiografien gibt. Wir müssen
auch die Entwicklungen im Bereich der Zeitarbeit zur
Kenntnis nehmen.
Bezüglich der Zahlen zu den sogenannten Aufstockern beziehen Sie sich auf eine IAW-Studie von
November 2007. Ich will an dieser Stelle deutlich machen, dass man die Problematik der Aufstocker nicht so
pauschal beurteilen kann. Rund 459 000 Personen gehörten 2005 zehn Monate und länger zu den Aufstockern. 325 000 Personen bezogen 2005 ganzjährig aufstockend ALG II; das sind fast 10 Prozent aller
erwerbsfähigen Hilfsbedürftigen. Wer nicht mehr aufstockt, beendet noch lange nicht den Bezug von ALG II.
In 20 Prozent der Fälle endet das Aufstocken nach einem
Monat, und zwar je hälftig wegen Aufgabe der Erwerbstätigkeit oder wegen Beendigung der Hilfsbedürftigkeit.
Ich will damit nur sagen, dass wir dieses Problem
nicht so pauschal beurteilen können, wie Sie es in Ihrem
Antrag getan haben. Vielmehr brauchen wir differenzierte Lösungskonzepte. Frau Pothmer, es ist eindeutig
ein Erfolg unserer gemeinsamen Anstrengungen, dass
die Arbeitslosigkeit insgesamt spürbar gesunken ist,
mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigung geschaffen wurde und zunehmend auch Langzeitarbeitslose wieder eine Perspektive erhalten. Die Zahl der Arbeitsuchenden ist von 5 Millionen im Jahre 2005 auf
3,8 Millionen gesunken. Nach den neuesten Zahlen des
Statistischen Bundesamtes ist die relative Armutsquote
von 13,5 Prozent im Jahre 2002 um knapp einen Prozentpunkt auf 12,7 Prozent im Jahre 2005 gesunken, bei
den erwerbstätigen Personen sogar auf 5,5 Prozent. Das
reicht uns noch lange nicht; aber die Zahlen zeigen, dass
wir mit Sicherheit auf dem richtigen Weg sind.
({1})
Im Übrigen haben wir im Rahmen der Reformen der
Agenda 2010 geregelt, dass Geringverdiener ihren Lohn
mit ALG II aufstocken können und damit quasi ein
Kombi-Einkommen erzielen. Die Zahl derjenigen, die
als Aufstocker ALG II beziehen, ist gewachsen, weil wir
Rechtsansprüche auf höhere Hinzuverdienste und ein
höheres Schonvermögen und damit Beschäftigungsanreize im Bereich der Teilzeitarbeit geschaffen haben.
Dazu kann man sich bekennen; es war nämlich gewollt.
Es ist besser, wenigstens einen Teil des Lebensunterhalts
als Arbeitnehmer selbst zu verdienen, als voll von staatlichen Transferleistungen zu leben.
({2})
Davon profitieren nicht nur Erwerbstätige, sondern auch
die Steuerzahler. Würde sich ein Aufstocker arbeitslos
melden - etwa weil er die falsche Moral vertritt, man
müsse sich vom Staat holen, was er bietet -, dann stiegen
die Ausgaben für ALG II. Auch die Hilfe für Teilzeitler
war vom Gesetzgeber gewollt. Damit sollten vor allem
Alleinerziehende unterstützt werden; der Einstieg in den
Beruf sollte insgesamt erleichtert werden.
({3})
Insgesamt kann die Aufstockerregelung als Sprungbrett in eine existenzsichernde Arbeit betrachtet werden.
Es ist wahrscheinlich nie ganz auszuschließen, dass es
Mitnahmeeffekte gibt und dass Arbeitgeber die Regelung für Lohndumping missbrauchen. Dem wollen wir
- da sind wir uns einig - mit Mindestlöhnen entgegentreten.
({4})
Ich freue mich, dass die Schlussfolgerung aus unserer
damaligen Zusammenarbeit zu der Frage der Ursachen
von Armut - beispielsweise die fehlende Vereinbarkeit
von Beruf und Familie sowie der Mangel an Kinderbetreuung und Ganztagsschulen - der europäischen Sichtweise entspricht, dass die Berufstätigkeit beider Elternteile - Kollege Schiewerling hat es gesagt - der beste
Schutz vor Armut, insbesondere vor Kinderarmut, ist.
({5})
Wenn Sie das skandinavische Sozialstaatsmodell zum
Vorbild nehmen - dafür spricht eine Menge, nicht nur
Ihr Antrag -, dann müssen Sie der Öffentlichkeit aber
die ganze Wahrheit sagen. Wenn das seriös finanziert
werden soll, müssen nicht nur die sozialen Leistungssysteme effizienter werden, sondern auch die Staatsquote
- Steuern und Abgaben - konsequent erhöht werden.
Dazu sagen Sie in Ihrem Antrag aber überhaupt nichts.
Er ist offensichtlich mit heißer Nadel gestrickt und ist
damit ein typischer Oppositionsantrag. Er enthält keine
Angaben zu den Finanzierungsfragen.
Man sucht vergebens ein abgestimmtes Konzept und
eine Einschätzung der Wirkungen im Gesamtzusammenhang.
({6})
Sie etikettieren das Freibetragsmodell des DGB in das
grüne Progressivmodell um. Sie plädieren also für eine
Absenkung der Sozialversicherungsbeiträge der Geringverdiener und ihrer Arbeitgeber und tun so, als sei das
schon die Lösung. Sie behaupten, höhere Einkommen
würden stärker belastet; irgendeinen Hinweis darauf, wie
das geschehen soll, suche ich in Ihrem Antrag aber vergebens.
({7})
Sie verwerfen das Konzept des Beschäftigtenbonus,
wollen aber gleichzeitig mit einem Kinderzuschlag und
einer Wohngelderhöhung dafür sorgen, dass Aufstocker
den Bezug von Arbeitslosengeld II beenden können.
({8})
Die SPD hat ein abgestimmtes Konzept zur guten Arbeit
vorgelegt. Darüber verhandeln wir mit unserem Koalitionspartner.
Wir haben einen Koalitionsbeschluss vom 18. Juni
2007. Der Arbeitsminister wird zeitnah - wir hoffen,
noch vor der Sommerpause - ein Konzept für ein neues
Arbeitnehmer-Entsendegesetz und für ein Mindestarbeitsbedingungengesetz vorlegen, um die Mindestlöhne
durchzusetzen, und zwar mit dem Vorrang tariflicher
Mindestlöhne, so wie Sie es auch verfolgen. Dass die
CDU/CSU da noch nicht ganz folgen kann, wird sich
vielleicht nach dem nächsten Sonntag ändern. Wir hoffen das sehr.
Ich bin sicher, dass unser Konzept im Sinne unserer
gemeinsamen Zielsetzung, nämlich gute Arbeit, gerechte
Löhne und vor allen Dingen neue Regelungen, neue soziale Sicherungen im Sinne einer flexiblen Sicherheit
und neue Arbeitsverhältnisse in einer neuen Kultur der
Arbeit, gelingen wird.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Dr. Gesine Lötzsch das Wort.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Mein persönlicher Wahlslogan im
Jahr 2005 war: Von Arbeit muss man leben können.
({0})
Darum unterstütze ich jede grundlegende Reform, die
diesem Ziel dient.
({1})
Aber ich glaube, wir müssen an die Dinge grundlegend
herangehen.
Ich möchte daran erinnern, dass im Jahr 2003 auf Vorschlag von Bundeskanzler Schröder Rot-Grün die HartzGesetze beschlossen hat. Meine Kollegin Petra Pau, die
jetzt als Präsidentin hier vorne sitzt, und ich haben vor
diesen Hartz-Gesetzen gewarnt und darauf verwiesen,
dass diese Gesetze massenhaft Armut erzeugen werden.
Wir haben die Situation in den USA beschrieben. Dort
lebten schon viele Menschen trotz Arbeit in Armut. Sie
waren schon damals gezwungen, mehrere Mc-Jobs anzunehmen, um ihren Lebensunterhalt finanzieren zu
können. Unsere Warnungen wurden damals einfach
ignoriert. Jetzt müssen wir feststellen, dass die HartzGesetze genau die Wirkungen hervorgerufen haben, vor
denen wir damals gewarnt haben.
({2})
CDU/CSU, SPD und Grüne haben die Verarmung von
Millionen von Menschen billigend in Kauf genommen.
({3})
Dazu, dass Kollege Stiegler von der SPD heute Morgen
im Plenum sagte, man konnte ja nicht wissen, dass die
Unternehmen die Gesetzgebung über die Leiharbeit so
ausnutzen würden, frage ich: Wie naiv können führende
Sozialdemokraten sein? Das ist doch wirklich nicht zu
fassen.
({4})
Meine Damen und Herren von den Grünen, ich fordere aber auch Sie auf, einmal darüber nachzudenken, ob
es nicht redlich wäre, in Ihrem Antrag selbstkritisch über
Ihre Fehler einige Worte zu verlieren und eine grundlegende Reform der Hartz-Gesetze einzufordern. Sie versuchen, über Ihre eigene Geschichte stillschweigend hinwegzugehen. Doch ich kann Ihnen versichern: So
vergesslich sind die Menschen nicht.
({5})
- Wir gehen über unsere eigene Geschichte, verehrter
Herr Kollege Brauksiepe, nicht stillschweigend hinweg.
Wir setzen uns damit intensiv auseinander.
({6})
Das unterscheidet uns voneinander.
({7})
Im Antrag der Grünen wird auf die schnell steigende
Zahl von Menschen hingewiesen, die trotz Arbeit ihren
Lebensunterhalt nicht finanzieren können. Wir haben
- das muss man hier einmal betonen - die absurde Situation, dass es eine Anzahl von Unternehmen in unserem
Land gibt, die die Löhne ihrer Mitarbeiter mit dem Hinweis senken, dass sie sich das restliche Geld doch vom
Staat holen können. Ich denke, diese Situation ist nicht
hinnehmbar.
({8})
Uns von den Linken wird gern vorgeworfen, wir
könnten nicht rechnen und wüssten nicht, wie man Geld
zusammenzählt. Darum möchte ich hier, obwohl ich
nicht kleinkariert bin, auf eine sehr ärgerliche Geschichte eingehen. Ich hatte die Bundesregierung gefragt, wie viel Geld der Bund im Jahr 2007 für die Aufstocker gezahlt hat. Vor einigen Monaten wurde mir erst
die Zahl von 8 Milliarden Euro pro Jahr genannt, dann
waren es plötzlich 13 Milliarden Euro.
({9})
Ich muss Ihnen sagen: Wenn das Ministerium, das dafür
verantwortlich ist, sich um 50 Prozent irrt und uns von
Kollegen aus der SPD vorgeworfen wird, wir könnten
nicht rechnen, dann ist das für mich keine Kleinigkeit.
Dann sage ich das auch in aller Öffentlichkeit.
({10})
Ungefähr 9 Milliarden Euro werden im Jahr für Aufstocker ausgegeben. Auch das ist keine Kleinigkeit. Um
das für die Zuhörer einmal im Vergleich darzustellen: So
viel gibt der Bund in einem Jahr für Wissenschaft und
Forschung aus. Um die Situation zu verbessern, gibt es
ein Mittel, das uns allen bekannt ist: den gesetzlichen
Mindestlohn. Es ist an der Zeit, den gesetzlichen Mindestlohn endlich einzuführen, nicht mit Unterschriftenlisten dafür durch Landtagswahlkämpfe zu ziehen, sondern hier im Deutschen Bundestag, wo er beschlossen
werden kann, dafür die Hand zu heben und abzustimmen
({11})
und nicht zu behauten, dass diejenigen, die ordnungsgemäße Anträge in den Deutschen Bundestag zu dieser
Frage einbringen, Populisten seien. Die Populisten sind
die, die mit Unterschriftenlisten in die Wahlkämpfe ziehen, dann aber im Bundestag Anträge auf Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes ablehnen,
({12})
obwohl es hier im Plenum eine strukturelle Mehrheit für
den Mindestlohn gibt.
({13})
Frau Präsidentin, ich bin sofort fertig. - Über die Kinderarmut haben wir heute Nachmittag schon gesprochen;
darauf kann ich nicht mehr eingehen.
({14})
Wir müssen die grundlegenden Ursachen beseitigen, die
dazu führen, dass Menschen nicht von ihrer Arbeit leben
können. Was wir brauchen, sind gute Arbeit und sichere
Arbeitsverhältnisse. Wir müssen die Gesetze im Bundestag so gestalten, dass sich die Menschen darauf verlassen
können.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({15})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7751 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform
des Kontopfändungsschutzes
- Drucksache 16/7615 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe dem Parlamentarischen Staatssekretär Hartenbach das Wort erteilt,
nicht dem gesamten Plenum. Ich bitte darum, die nötige
Aufmerksamkeit herzustellen.
({2})
Frau Präsidentin, ich bedanke mich sehr herzlich für
diese Bevorzugung. - Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Verehrtes Präsidium! Eine Reform des Kontopfändungsschutzes ist notwendig. Viele Menschen in
Deutschland warten schon ungeduldig auf das neue
Recht.
({0})
Wir wollen - Herr Thiele, an dieser Stelle sollten auch
die Finanzpolitiker zuhören -,
({1})
dass die Schuldner auf einem besonderen Girokonto,
dem Pfändungsschutzkonto, einen automatischen Basispfändungsschutz erhalten. Dazu wird es auf diesem
Konto einen Sockelpfändungsschutz von knapp
1 000 Euro geben. Das entspricht dem Freibetrag, den
ein alleinstehender Arbeitnehmer oder Rentner mindestens behalten darf, wenn sein Einkommen gepfändet
wird. Wenn Unterhaltspflichten bestehen, wird dieser
Betrag natürlich entsprechend erhöht.
Diese Reform hängt eng mit der Forderung nach einem Girokonto für jedermann zusammen. Schätzungen
besagen, dass in Deutschland circa 500 000 Haushalte
kein Girokonto haben.
({2})
Viele von Ihnen können sich vielleicht gar nicht vorstellen, was das für die Betroffenen heißt. Jede Rechnung
muss bar bezahlt werden. Das ist umständlich und kostet
jedes Mal zusätzliche Gebühren, und das gerade diejenigen, die oft nicht wissen, ob ihr Geld bis zum Monatsende reicht.
Wer kein Girokonto hat, bekommt oft keinen Telefonanschluss und wird es schwer haben, einen Arbeitsplatz
zu finden. Wegen Kontopfändungen erfolgen derzeit
circa 60 Prozent der Kontokündigungen, weil den Banken bei einer Kontopfändung, wie sie sagen, ein zu großer Aufwand und zu hohe Kosten entstehen. Das können
und dürfen wir nicht hinnehmen.
({3})
Jetzt reformieren wir den Pfändungsschutz, wie wir es
im vierten Bericht zur Umsetzung der Empfehlungen des
Zentralen Kreditausschusses zum Girokonto für jedermann angekündigt haben. Der Aufwand für den Pfändungsschutz wird in Zukunft deutlich geringer sein, weil
auf dem Pfändungsschutzkonto ein automatischer Pfändungsschutz in Höhe eines Sockelbetrages von knapp
1 000 Euro pro Monat besteht. Es muss also nicht erst
noch die Entscheidung eines Gerichts herbeigeführt werden. Das entlastet die Banken und auch die Gerichte
ganz erheblich
({4})
und kann von den Banken deshalb künftig nicht mehr als
Begründung für die Kündigung eines Girokontos herangezogen werden.
({5})
Im Übrigen gilt: Der Staat darf seinen Zwangsapparat
nicht zur Verfügung stellen, um einem Schuldner die
Mittel zu entziehen, die er für seinen eigenen Mindestunterhalt und den seiner Familie benötigt. Das liegt auch
im öffentlichen Interesse. Ließe man zu, dass die Gläubiger alles bis zum letzten Euro pfänden, wäre es wieder
die Allgemeinheit, die mit Sozialtransfers für den Unterhalt des Schuldners aufkommen müsste. Damit würden
private Verlustgeschäfte sozialisiert. So etwas ist nicht
nur in Zeiten knapper Kassen abzulehnen. Wir können
nicht mit der Rechten beim Wegnehmen helfen und das
mit der Linken wiedergutmachen; das war jetzt nicht
politisch gemeint.
({6})
Das Argument des Missbrauchs durch den Schuldner
lasse ich nicht gelten. Die Instrumente der Kontrolle und
Überwachung reichen aus, vor allem die Androhung einer Bestrafung. Wir brauchen auch keine Registrierung;
wir wollen doch gerade weniger Bürokratie.
Meine Bitte daher: Lassen Sie uns die Beratungen
über diesen Gesetzentwurf zügig durchführen! Dann
kann das neue Gesetz noch am Ende dieses Jahres in
Kraft treten. Viele Bürgerinnen und Bürger in unserem
Land warten darauf.
({7})
Ich appelliere von dieser Stelle aus auch an die Kreditwirtschaft: Leisten Sie Ihren Beitrag zum Gelingen
der Reform und unterstützen Sie das Pfändungsschutzkonto! Dann entschärfen Sie auch die Diskussion über
den Rechtsanspruch auf ein Girokonto.
Ich danke Ihnen.
({8})
Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Mechthild
Dyckmans das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit der Zunahme des bargeldlosen Zahlungsverkehrs ist
ein stetiger Anstieg der Zahl der Kontopfändungen verbunden. Nach Angaben der Bundesregierung erfolgen
bundesweit 350 000 bis 370 000 Kontopfändungen pro
Monat. War die Kontopfändung bei der Zwangsvollstreckung in früheren Jahren die Ausnahme, so ist sie heute
fast der Regelfall.
Es ist deshalb grundsätzlich zu begrüßen, wenn die
Bundesregierung nach einigen Anläufen nun einen Gesetzentwurf für eine umfassende Reform des Kontopfändungsrechts vorgelegt hat.
({0})
Ich begrüße für die FDP-Fraktion auch ausdrücklich,
dass die Bundesregierung zugleich von der Einführung
eines Girokontos für jedermann Abstand genommen hat.
Ich weiß, dass das eine Forderung ist, die seit Jahren erhoben wird und die allgemein populär ist.
({1})
Dennoch sind wir ebenso wie die Bundesregierung der
Auffassung, dass die gesetzliche Einführung eines Girokontos für jedermann nicht der richtige Weg ist. Die
Kreditwirtschaft hat gezeigt, dass sie sehr wohl in der
Lage ist, dieses Problem durch ein funktionierendes System der Selbstregulierung in den Griff zu bekommen.
({2})
Nun zu dem Gesetzentwurf im Einzelnen. Die Bundesregierung schlägt vor, dass der Kunde bei seiner
Bank auf vertraglicher Grundlage die Einrichtung eines
Pfändungsschutzkontos beantragen kann. Damit soll,
wie der Herr Staatssekretär es eben erwähnt hat, ein monatliches Guthaben von etwa 1 000 Euro automatisch
geschützt werden. Wird nach dem geltenden Recht ein
Konto gepfändet, so muss der Schuldner bei Gericht die
Aufhebung der Pfändung beantragen. Die Kontopfändung - das ist eine Tatsache - führt dann oft zur Kündigung des Girovertrags. Das kann so nicht mehr hingenommen werden.
Mit dem Pfändungsschutzkonto erspart sich der
Schuldner den Gang zum Gericht und kann künftig trotz
der Vollstreckung seine täglichen Geldgeschäfte bargeldlos abwickeln. Die Neuregelung erscheint daher auf
den ersten Blick sachgerecht.
Mit dem Gesetzentwurf wird das Ziel verfolgt, so die
Bundesregierung in ihrer Begründung, den Aufwand für
die Banken und Sparkassen in vertretbarem Rahmen zu
halten. Wir haben gewisse Zweifel, ob dies gelingt.
Schließlich muss man sehen, dass hier Aufgaben, die
bisher die Gerichte wahrgenommen haben, auf die Kreditwirtschaft verlagert werden. Zwar soll der Pfändungsschutz für Guthaben einheitlich ausgestaltet werden und
deshalb zu Deregulierung führen - auf die Art der Einkünfte soll es nicht mehr ankommen; aber auch hier liegt
ein Problem -; man muss aber sehen, dass dafür andere
Prüfungsaufträge auf die Bank zukommen. Denn wenn
das geschützte Guthaben erhöht werden soll, etwa weil
der Schuldner Unterhaltsverpflichtungen nachkommen
muss, haben die Kreditinstitute zu prüfen, welche Beträge von der Pfändung erfasst werden und welche nicht.
Ob es da tatsächlich zu einer Entlastung auch der Kreditinstitute kommen wird, erscheint mir fraglich.
({3})
Ebenso glaube ich, dass die Vollstreckungsgerichte
nur zum Teil entlastet werden;
({4})
denn wenn ein bestimmtes Guthaben nicht von der Vollstreckung erfasst wird, kann man erst einmal einen Antrag bei dem Vollstreckungsgericht stellen. Auch bei
Zweifeln an der konkreten Berechnung kann das Vollstreckungsgericht angerufen werden. Es gibt also nur geringfügige Entlastungen.
Kritisch gesehen werden muss meines Erachtens auch
die Regelung, wonach der Schuldner gegenüber dem
Kreditinstitut lediglich zu versichern hat, dass er nur ein
einziges Pfändungsschutzkonto hat. Ob diese Versicherung des Schuldners ausreicht, bedarf meines Erachtens
noch der ausführlichen Prüfung.
Die Reform des Kontopfändungsrechts kann für uns
nur dann zustimmungsfähig sein, wenn die Regelungen
zu einem fairen und sachgerechten Interessenausgleich
zwischen Schuldner, Gläubiger und Kreditinstitut führen. Das heißt erstens, dass das verfassungsrechtlich garantierte Existenzminimum geschützt werden muss. Das
heißt zweitens aber auch, dass die legitimen Rechte des
Gläubigers durchsetzbar bleiben müssen. Drittens heißt
das, dass die Verlagerung der Berechnung von Pfändungsschutzfreibeträgen von den Vollstreckungsgerichten auf die Kreditinstitute diese nicht unverhältnismäßig
belasten darf.
Ich nehme an, dass wir das Gesetz ausführlich beraten
werden. Wir werden sehen, wie weit wir damit kommen
werden und ob die eine oder andere Änderung noch vorgenommen wird.
Danke schön.
({5})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Michael
Grosse-Brömer das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Den Menschen, die dieser Debatte jetzt folgen, wird es
so wie mir gehen, als ich gehört habe, dass wir einen
Kontopfändungsschutz einrichten wollen. Da stellt man
sich erst einmal die Frage, warum es so etwas geben
muss. Diejenigen, die ein zu pfändendes Konto haben,
haben im Zweifel nämlich Schulden gemacht. Wenn
man pfänden kann, dann besitzt man auch schon einen
Titel, um diese Schulden einzutreiben. Das heißt, dass
sich ein Gericht im Regelfall damit beschäftigt und gesagt hat: Es gibt einen Anspruch, der zu Recht besteht. Man stellt sich dann die Frage, warum man einen Kontenpfändungsschutz braucht.
({0})
- Sie werden in wenigen Minuten ja noch einmal Ihre
fulminanten Rechtsausführungen dazu machen.
Ich glaube, für die allermeisten Menschen ist es eine
Selbstverständlichkeit, ihr Girokonto Tag für Tag zu benutzen, um die Miete zu bezahlen, um ihr Gehalt zu kassieren und um Überweisungen zu tätigen. Dieser bargeldlose Zahlungsverkehr ist eben Alltagsgeschäft.
Demzufolge ist die Sperrung oder Kündigung eines solchen Kontos natürlich eine massive Einschränkung der
finanziellen Mobilität. Wenn man nicht aufpasst, kann es
auch schnell in eine finanzielle Abwärtsspirale gehen.
Wem ein Konto gekündigt wird, sodass er keines mehr
hat, der bekommt irgendwann keine Wohnung und auch
keine Arbeit mehr. Deswegen ist es richtig, wenn man
sich Gedanken darüber macht, wie man dem Einhalt gebieten kann.
Um den Folgen einer Kontolosigkeit zu begegnen, hat
der Zentrale Kreditausschuss schon im Jahre 1995 eine
Empfehlung - Stichwort: „Girokonto für jedermann“ herausgegeben. Die in diesem Ausschuss zusammengeschlossenen Verbände haben sich verpflichtet, für jedermann ein Girokonto zur Verfügung zu stellen, sofern das
nicht unzumutbar ist. So weit, so gut.
Wir wollen jetzt gesetzlich etwas daran ändern. Im
vierten Bericht zu den Auswirkungen dieser ZKA-Empfehlung über dieses Girokonto für jedermann stellt die
Bundesregierung fest, dass dieses Konto weitgehend zur
Wirklichkeit geworden ist. Es existieren nur noch Einzelfälle, für die es einen Handlungsbedarf - zum Beispiel hinsichtlich einer Härtefallregelung - gibt.
Schätzungsweise 97 Prozent der Bevölkerung verfügen über ein Girokonto. Gleichwohl ist es eines der wesentlichen Ziele, das mit dem Kontopfändungsschutz
verfolgt wird, die Zahl der aufgrund von Pfändungen
ausgesprochenen Kontokündigungen zu reduzieren. Daneben sollen auch eine Vereinfachung des Pfändungsrechts und damit insgesamt eine größere materielle Gerechtigkeit erreicht werden. - So weit zu den Zielen, die
mit dem Gesetzentwurf verfolgt werden.
Ich bin heute bei der ersten Lesung noch nicht der
Auffassung, dass diese Ziele vollständig erreicht werden. Wir sind uns sicherlich darüber einig, dass SchuldMichael Grosse-Brömer
nerschutz, so sinnvoll er ist, nicht zu einer Benachteiligung der Gläubiger führen darf.
({1})
Beide, Gläubiger und Schuldner, haben verfassungsrechtlich abgesicherte Interessen. Keinem Schuldner
darf das letzte Hemd vom Leib gepfändet werden. Es
gibt das Gebot der Menschenwürde und das Sozialstaatsgebot in Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes. Umgekehrt
gilt: Dem Gläubiger kommt die Eigentumsgarantie in
Art. 14 des Grundgesetzes zugute. Es gibt zudem sinnvollerweise einen Justizgewährungsanspruch, also einen
Anspruch auf Durchsetzung gerichtlich festgestellter
Rechte.
Wird der vorliegende Gesetzentwurf der notwendigen
Abwägung der unterschiedlichen Interessen gerecht?
Kern des Gesetzentwurfs ist die Einrichtung eines sogenannten P-Kontos mit einem Sockelfreibetrag in Höhe
von 985,15 Euro. Warum es genau dieser Betrag sein
soll, habe ich nicht genau verstanden. Aber so ist es jedenfalls festgelegt. Weiterhin gibt es bei diesem Konto
eine Begrenzung der Pfändungswirkung auf 90 Tage.
Danach kann erneut gepfändet werden. Wenn ich es richtig verstanden habe, soll es die Möglichkeit geben, nicht
verbrauchte Freibeträge in den nächsten Monat zu übertragen. Es handelt sich also um ein kleines pfändungsfreies Sparbuch. Möglichkeiten zur Vollstreckungsumgehung ist damit meiner Ansicht nach Tür und Tor
geöffnet. Es wird den raffinierten Schuldner geben, der
neben seinem P-Konto diverse andere Konten haben
wird. Es wird den betrügerischen Schuldner geben - dieser ist für den Gesetzentwurf nicht maßgebend -, der auf
die Idee kommen wird, mehrere P-Konten einzurichten.
Die spannende Frage ist: Wer überprüft das alles eigentlich? Nach meinem Verständnis wird diese Frage im Gesetzentwurf nicht beantwortet. Lediglich die Banken sollen sich darum kümmern. Aber eine Erklärung reicht
aus.
Mit dem Gesetz wird sicherlich mehr Schutz vor
Kontopfändung erreicht - darauf wird auch in der Überschrift der Presseerklärung des BMJ hingewiesen -, allerdings aus meiner Sicht ein Stück weit zulasten der
Gläubiger. Aufgrund dieses Gesetzes wird es wohl zur
Rückkehr zur guten alten Lohntüte kommen; denn jeder
Schuldner ist gut beraten - man muss noch nicht einmal
Anwalt sein wie die meisten im Rechtsausschuss, um auf
diese Idee zu kommen; dafür braucht man keine anwaltliche Empfehlung -, sich künftig Gehalt und Sozialleistungen bar auszahlen zu lassen,
({2})
auf dem P-Konto nur einen Betrag in Höhe von
985,15 Euro stehen zu lassen und alles, was darüber hinausgeht, in den nächsten Monat mitzunehmen.
({3})
- Sie waren doch einmal Staatssekretär. Sie sind so klug
und intelligent, dass ich Ihnen meine Sätze nicht erklären muss. Sie sollten nicht so viel dazwischenrufen, sondern vorrangig zuhören.
({4})
Gerade durch die Möglichkeit, überhängende Beträge
anzusparen, kann es zum Beispiel dazu kommen - darüber sollten wir diskutieren -, dass ein Gläubiger seine
titulierten 1 000 Euro nicht pfänden kann, obwohl
2 000 Euro auf dem Konto des Schuldners sind. Darauf
müssen wir eine Antwort finden.
({5})
Es gibt eben unterschiedliche Interessen, die hierbei eine
Rolle spielen. Handelt es sich tatsächlich um eine Stärkung der materiellen Gerechtigkeit, wenn die von mir
beschriebene Abwägung der Interessen stattfindet?
({6})
Ich glaube, auch eine Vereinfachung des Kontopfändungsrechts wird nicht unbedingt erreicht. Frau Kollegin
Dyckmans hat darauf hingewiesen, dass das P-Konto
und der damit verbundene Schutz vorrangig sind. Aber
nach wie vor gelten die bestehenden Pfändungsschutzmaßnahmen. Künftig sollen nicht mehr Gerichte, sondern Banken sich darüber Gedanken machen, wie hoch
der pfändungsfreie Betrag sein soll, und festlegen, ob der
pfändungsfreie Sockelbetrag gegebenenfalls erhöht werden kann, wenn der Schuldner entsprechende Möglichkeiten nutzt, wenn er zum Beispiel Kinder hat. Wenn es
dabei bleibt, wird es spannend sein, zu sehen, wie sich
das in der Praxis auswirkt.
Zusätzliche Kosten für zusätzliche Aufgaben, die den
Banken wohl entstehen, sind nach BGH-Rechtsprechung
zwar nicht direkt an den Kontoinhaber weiterzugeben.
Aus meiner Sicht ist es aber nicht auszuschließen, dass
es nach Inkrafttreten unseres Gesetzentwurfes eventuell
zu mehr Kontokündigungen kommt und nicht zu weniger. Damit träfe das Gesetz dann eher diejenigen, die es
eigentlich schützen wollte.
Eine zentrale Datei über bestehende P-Konten wird es
wohl nicht geben. Wer überprüft also, wie viele P-Konten für einen einzelnen Schuldner bestehen? Da haben
wir noch keine vernünftige Antwort gefunden; jedenfalls
habe ich im Entwurf keine gesehen.
Ich denke, die gute Entwicklung aufgrund der ZKAEmpfehlung „Girokonto für jedermann“ wird durch den
Entwurf, zumindest nach meiner ersten Sicht, nicht unbedingt gefördert. Ungeachtet dessen finden sich auch
positive Punkte in diesem Entwurf, zum Beispiel der
verbesserte Pfändungsschutz für Selbstständige. Das gab
es bislang nicht. § 850 i ZPO war bislang nach allgemeiner Auffassung unzureichend.
Ich will deswegen abschließend zu dem Fazit kommen, dass der Entwurf in der derzeitigen Fassung die Interessenabwägung zwischen Gläubiger und Schuldner
noch nicht perfekt löst. Ich glaube, da haben wir noch
ein Stück weit Diskussionsbedarf. Das sehen nicht nur
Gläubigerschutzverbände oder die Bankenvertretung so,
sondern ebenso der Bundesrat und im Übrigen auch Vertreter der Wirtschaft. Vielleicht lesen Sie da einmal nach.
({7})
Professor Bitter von der Universität Mannheim hat da
ähnliche Auffassungen.
Lassen Sie uns bei den anstehenden Beratungen diesen Gesetzentwurf optimieren. Ich denke, wenn wir
keine Anhörung durchführen, sollten wir uns zumindest
in einem erweiterten Berichterstattergespräch darüber
unterhalten, wie dieser Entwurf zu optimieren ist. Ich
sehe dafür jedenfalls die Notwendigkeit.
Herzlichen Dank.
({8})
Der nächste Redner ist Wolfgang Nešković, Fraktion
Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Wenn der Gesetzgeber die Instrumente für die zwangsweise Durchsetzung privatrechtlicher Forderungen bereitstellt, so ist er - Herr Hartenbach
sagte es bereits - auch gehalten, dafür zu sorgen, dass
diese Instrumente dem Schuldner nicht die Mittel für ein
menschenwürdiges Dasein entziehen können. Das folgt
auch aus dem Sozialstaatsprinzip unseres Grundgesetzes. Zur Erfüllung dieser Verpflichtung bemüht sich der
Deutsche Bundestag seit dem Jahre 1972 um einen wirksamen Kontopfändungsschutz. Während dessen gesetzgeberische Ausgestaltung eher mühsam vorankam,
verwandelte die Informationstechnologie unsere Lebenswirklichkeit in Siebenmeilenschritten.
So trat zum ersten sozialen Problem ein zweites. Die
elektronische Kontoführung und der digitale Zahlungsverkehr sind die gesellschaftliche Regel geworden. Sie
mögen einen erheblichen Vorteil darstellen für jeden, der
daran teilnehmen darf. Für solche Menschen aber, die
- das wurde hier schon erwähnt - ihr Girokonto verloren
haben oder schon keines erhalten können, bedeutet dies
wirtschaftliche und soziale Ausgrenzung. Bargeld lacht
schon lange nicht mehr.
Die Einführung eines einheitlichen Pfändungsschutzkontos, dessen Pfändungsfreibetrag auch im Falle der
Pfändung weiter verfügbar bleibt, gibt nicht nur dem
Schuldner mehr sozialen Schutz, sondern - davon geht
die Begründung aus - verringert wohl tatsächlich die
Neigung der Banken, im Falle einer Kontopfändung den
Girovertrag mit dem Schuldner zu kündigen.
Damit ist allerdings noch nichts für die Gruppe von
Menschen getan, die überhaupt kein Girokonto besitzt.
Auf dem Weg zum Girokonto für jedermann kommt dieser Entwurf als zweiter Schritt vor dem ersten daher.
Dass diese Art des Gehens zu Stürzen führen kann, ist
allgemein bekannt. Denn anders als die Entwurfsverfasser meine ich nicht, dass der Entwurf die jahrelange Diskussion mit den Kreditinstituten zur Einführung eines
Girokontos für jedermann erleichtert. Ich denke, eine
verringerte Neigung zu Kündigungen und eine gesteigerte Neigung zu Neuabschlüssen von Giroverträgen
sind zwei Paar Schuhe.
({0})
Dazu zwei Beispiele: Erstens. Nach dem Entwurf sollen den Banken die Kosten, die ihnen aus der Bearbeitung von Kontopfändungen entstehen, nicht ersetzt
werden. Zweitens. Wegen § 394 BGB - „Keine Aufrechnung gegen unpfändbare Forderung“ - haben die Kreditinstitute auch keine Möglichkeit, die Kontoführungsgebühren mit dem geschützten Pfändungsfreibetrag zu
verrechnen. Ich kann mir gut vorstellen, dass diese Umstände die Banken ganz und gar nicht beflügeln werden,
kontolosen, überschuldeten Personen ein Pfändungsschutzkonto erstmals einzurichten.
Als zweiter Schritt vor dem ersten sorgt der Entwurf
also nicht für weniger, sondern für mehr Gegenwind.
Mit meiner Fraktion sehe ich allerdings diesem Mehr an
Gegenwind sehr gelassen entgegen. Denn sollte der Entwurf Gesetz werden, so sorgt er als zweiter Schritt vor
dem ersten im Grunde genommen nur dafür, dass der
erste Schritt umso konsequenter nachzuholen sein wird:
in Form einer gesetzlichen Lösung, die die Banken nicht
im Wege der Selbstverpflichtung, sondern im Rahmen
ihrer Gemeinwohlverpflichtung nach Art. 14 Abs. 2
Grundgesetz verpflichtet, ein Girokonto für jedermann
vorzusehen.
Dazu hat unsere Fraktion Ihnen bereits eine taugliche
Vorlage geliefert,
({1})
die am 9. März 2006 zur Beratung in die Fachausschüsse
überwiesen wurde. Nutzen Sie diese Vorlage!
({2})
Dann kann das zwölfjährige, wie ich finde, peinliche
Warten auf die soziale Einsichtigkeit der deutschen Kreditinstitute noch in dieser Legislaturperiode ein Ende
finden.
Vielen Dank.
({3})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt
Kollege Jerzy Montag.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Grosse-Brömer, Sie haben eine große
Anzahl hochinteressanter Fragen ausgebreitet. Allerdings haben wir von Ihnen keine Antwort gehört.
({0})
Als Ergebnis Ihrer Fragen habe ich aber Ihre Position
verstanden: Sie wollen dieses Gesetz eigentlich nicht.
({1})
Ich sage Ihnen: Wir Grüne wollen dieses Gesetz. Wir
finden es richtig; Kontopfändungsschutz muss sein. Es
gibt allerdings noch einige Fragen, über die zu diskutieren sein wird. Das werden wir im Ausschuss tun.
Der vorliegende Gesetzentwurf löst aber das Hauptproblem nicht.
({2})
Das Problem ist, dass man in der heutigen Gesellschaft
der Bundesrepublik Deutschland ohne ein Girokonto
keine Arbeit bekommen kann und keine Wohnung mieten kann.
({3})
Man kann also am täglichen Leben nicht teilnehmen.
({4})
Deswegen ist es richtig, was Ihre Bundesregierung
({5})
2006 in ihrem Bericht geschrieben hat - ich darf zitieren -:
Gemeinsames Ziel von Staat und Kreditwirtschaft
muss es … sein, allen Bürgerinnen und Bürgern
schnell, einfach und auf praktikable Weise die Teilnahme am bargeldlosen Zahlungsverkehr zu ermöglichen.
Aber die Bundesregierung legt keinen Gesetzentwurf
für die Umsetzung der Forderung eines Girokontos für
alle vor. Das wäre aber ein notwendiger Schritt. Dieser
Schritt wird mit dem vorliegenden Gesetzentwurf allerdings nicht verwirklicht.
({6})
Stattdessen redet dieses Parlament inzwischen seit zehn
Jahren über ein Girokonto für alle. Die erste Beschlussfassung dieses Hohen Hauses stammt vom 5. Juni 1997,
die zweite vom 31. Januar 2002 und die dritte vom
30. Juni 2004. In allen diesen Beschlussfassungen hat
das Parlament die Bundesregierung aufgefordert, doch
dafür zu sorgen, dass es zu einem Girokonto für alle
kommen möge. Bis heute ist die Forderung dieses Hohen Hauses nicht erfüllt worden.
Nein, wir haben keine Selbstverpflichtung der Kreditwirtschaft für ein Girokonto für alle, sondern lediglich
eine Empfehlung des Dachverbandes, ein solches Girokonto einzuführen. Zu dieser Empfehlung und zu der
Tatsache, dass sich nichts verbessert hat, schreibt die
Bundesregierung - Herr Kollege Grosse-Brömer, Sie
müssen den Bericht einmal lesen -:
Dieses nach zehnjähriger Implementierungspraxis
ernüchternde Ergebnis ist … in erster Linie dem
Charakter der Empfehlung geschuldet. Sie verpflichtet gegenüber dem Kunden zu nichts - sie ist
weder für den Zentralen Kreditausschuss noch für
die einzelnen Kreditinstitute mit einer Rechtspflicht
verbunden.
Es ist völlig klar: Wir brauchen zumindest eine
Selbstverpflichtung, die einen rechtsverbindlichen Charakter hat. Dazu sagt der Bundesverband der deutschen
Banken Nein.
Die Bundesregierung hat in ihrem Bericht als kleinen
Schritt vorgeschlagen, dass zumindest die Entscheidungen der Schlichtungsstellen verbindlich sein sollen.
Dazu sagt der Bundesverband der deutschen Banken
Nein.
Seit zehn Jahren bestreiten die Banken die Zahl, die
wir jetzt gerade von der Bundesregierung gehört haben:
Es gibt mindestens eine halbe Million Menschen in
Deutschland, die gar kein Konto haben. Hinzu kommt
eine hohe Dunkelziffer, die nicht erfasst ist. Deswegen
sagen wir Grüne: Wir brauchen das Girokonto für jedermann und jedefrau. Wir brauchen auch den Kontrahierungszwang. Die Voraussetzungen dafür sind gegeben.
Dass das kein Ende der Vertragsfreiheit in Deutschland
ist
({7})
- nein -, das zeigen uns die Sparkassen. Die Sparkassen
haben sich nämlich bereits
({8})
freiwillig zu einem Kontrahierungszwang verpflichtet.
In zehn Bundesländern gibt es das.
({9})
Dort sind die Marktwirtschaft und die Vertragsfreiheit
aber nicht abgeschafft. Deswegen können wir das auch
im ganzen Bundesgebiet einführen. Wir Grüne werden
uns dafür einsetzen.
Danke schön.
({10})
Das Wort hat nun Kollege Dirk Manzewski, SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen und zahlreiche Freunde der
Rechtspolitik! Dem Girokonto kommt aufgrund des zunehmenden bargeldlosen Zahlungsverkehrs in der heuti14690
gen Zeit - das ist hier schon deutlich gemacht worden eine immer größere Bedeutung zu. Dementsprechend
wiegen natürlich die im Zusammenhang mit der Pfändung von Guthaben immer häufiger vorkommenden
Kündigungen von Girokontoverbindungen umso schwerer. Der Grund liegt - auch das ist schon gesagt worden in der Regel in der weitreichenden Blockadewirkung,
die durch solch eine Kontopfändung ausgelöst wird. Für
den Betroffenen stellt das aufgrund der Bedeutung des
Girokontos in der Regel einen schwerwiegenden Eingriff mit weitreichenden persönlichen Folgen dar.
Herr Staatssekretär, das Ansinnen der Bundesregierung, hier eine Verbesserung zu erreichen, wird daher
von mir ausdrücklich geteilt, zumal das sich meist anschließende Pfändungsschutzverfahren für die Vollstreckungsgerichte einen ungeheuren Aufwand bedeutet.
Dies führt oft genug dazu - das muss man ganz deutlich
sagen -, dass kein rechtzeitiger Schutz gewährt wird.
Die Reform hat daher das berechtigte Ziel, einerseits für
einen effektiveren Schutz des Schuldners zu sorgen und
andererseits - da gebe ich dem Kollegen Grosse-Brömer
recht - das Bankkonto als Objekt für den Zugriff von
Gläubigern zu sichern. Nur, richtig ist natürlich - wer
will dem widersprechen? -, dass dabei versucht wird,
das Verfahren möglichst unkompliziert auszugestalten
und auch den Aufwand der Banken in einem vertretbaren Rahmen zu halten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen uns darüber unterhalten - einige Debattenbeiträge gingen, wie
ich finde, am Thema vorbei -, wie das Ziel des Kontopfändungsschutzes umgesetzt werden soll. Diese
Frage ist entscheidend. Die Bundesregierung plant, die
der Existenzsicherung dienenden Einkünfte von Schuldnern einem sogenannten P-Konto, also einem Pfändungsschutzkonto, gutzuschreiben. Dadurch soll dann
der Schuldner im Rahmen der Pfändungsfreigrenzen, die
für Arbeitseinkommen gelten, die Geldgeschäfte des
täglichen Lebens trotz Pfändung weiter vornehmen können.
In der Diskussion, die sich an die heutige Debatte anschließt, werden wir abzuklären haben, ob es für die
Kreditinstitute tatsächlich immer so unproblematisch,
wie prognostiziert wurde, ist, bei den durch Eingänge
und Abbuchungen stetig wechselnden Beständen auf den
Konten den Pfändungsfreibetrag feststellen zu können.
Ich persönlich bin davon noch nicht überzeugt. Es handelt sich, Kollege Montag, Kollege Nešković, um ein
rein praktisches Problem. Es geht darum, wie die Umsetzung erfolgen soll.
In diesem Zusammenhang ist für mich auch noch
nicht ganz klar - auch diese Frage möchte ich aufwerfen -, wie eigentlich das grundsätzliche Regressrisiko
der Kreditinstitute aussieht, wenn sie fehlerhaft über den
Pfändungsfreibetrag entscheiden.
({0})
Gut finde ich, dass die Bundesregierung sich in ihrer Gegenäußerung für Fälle erhöhter Pfändungsfreigrenzen
die Meinung des Bundesrates zu eigen gemacht hat und
für die Kreditinstitute die Gefahr der Haftung im Falle
der Unrichtigkeit der in diesem Zusammenhang vorzulegenden Bescheinigungen minimieren will.
Jeder Schuldner darf natürlich nur ein Pfändungsschutzkonto führen. Die Pfändungsfreigrenze soll dem
Schuldner dabei quasi automatisch gewährt werden, und
auf die Art der Einkünfte soll es dabei nicht mehr ankommen. Gerade dadurch, dass nur noch das eine Konto
Pfändungsschutz genießt, soll nach dem Gesetzentwurf
zugunsten der Gläubiger verhindert werden, dass der
Pfändungsschutz durch Führen mehrerer Konten mit der
Möglichkeit der entsprechenden Inanspruchnahme von
Freibeträgen ausgehöhlt wird. Die Bundesregierung
- auch dies ist von den Kollegen angesprochen worden geht dabei davon aus, dass die Strafbarkeit nach
§ 288 StGB und die vom Schuldner abzugebende Versicherung, keine weiteren Pfändungsschutzkonten mehr
zu führen, ausreichend sind, Personen hiervon tatsächlich abzuhalten.
Ich kann nicht ignorieren, dass es dazu kritische Stimmen gibt. So habe ich den Kollegen Grosse-Brömer verstanden, und auch der Bundesrat und die BRAK haben
dies als nicht ganz unproblematisch angesehen. Darauf
stelle ich ab, und deswegen sage ich an dieser Stelle nur,
ohne eine Wertung abzugeben, dass wir uns in den anstehenden Beratungen mit dieser Problematik ausgiebig
werden auseinandersetzen müssen, nicht mehr und nicht
weniger.
({1})
Geklärt werden sollte auch noch, warum bei der Kontenpfändung Befristungen eingeführt werden sollen
- das habe ich noch nicht ganz verstanden - und warum
offenbar keine Dauerpfändungen mehr möglich sein sollen. Darüber werden wir ebenfalls reden müssen. Ich
will damit nicht sagen, dass ich das nicht als richtig erachte. Aber dazu fehlt mir im Gesetzentwurf eine vernünftige Begründung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum
Schluss. Sie sehen, dass wir ein sehr interessantes Gesetzgebungsverfahren vor uns haben, dem jedenfalls ich
gespannt entgegensehe.
Ich danke Ihnen.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/7615 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Frank Schäffler,
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Martin Zeil, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Konsequenzen aus dem Entschädigungsfall
Phoenix Kapitaldienst GmbH
- Drucksachen 16/5786, 16/7645 Berichterstattung:
Abgeordnete Leo Dautzenberg
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Hans-Ulrich Krüger, SPD-Fraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn nichts mehr geht, wird es der Staat
schon richten und den Zahlmeister spielen. Dieser Eindruck drängt sich einem förmlich auf, wenn man sich die
Geschichte des skandalösen Betrugsfalls der Phoenix
Kapitaldienst GmbH einmal anschaut. Auf der einen
Seite möchten Wertpapierhandelsunternehmen im großen Geschäft mitspielen und hohe Gewinne einfahren,
auf der anderen Seite wollen sie Verluste sozialisieren,
die aufgrund strafbarer Handlungen eines Anlegerdienstes begangen wurden. Dies ist nicht in Ordnung.
Hintergrund der ganzen Tragödie ist die Tatsache,
dass Anleger, die eine möglichst schnelle und höchstmögliche Rendite erwarteten, bekanntlich bei der
Phoenix Kapitaldienst GmbH in die falschen Hände geraten sind. 30 000 Menschen sind wegen dieser kriminellen Machenschaften um ihr Geld geprellt worden und
erwarten nun, zumindest einen Großteil ihres Geldes zurückzuerhalten. Keine Frage, sie müssen entschädigt
werden. Nur, den Bund und damit den Steuerzahler in
Haftung zu nehmen, ist nicht nur falsch, sondern das
geht auch an der Sachproblematik vorbei.
({0})
Die Sachproblematik besteht nämlich in folgenden
Fragen: Erstens. Was können wir tun, damit ein solcher
Worst Case, wie wir ihn bei Phoenix erlebt haben, nicht
wieder eintritt? Zweitens. Wie kann ein Sicherungssystem entwickelt werden, das funktioniert? Drittens. Wie
können letztendlich die Anleger durch die EdW entschädigt werden? Wie wir alle wissen, belaufen sich die
möglichen Entschädigungszahlungen bzw. Forderungen
auf circa 180 Millionen Euro, während die EdW aus den
Beiträgen ihrer Mitglieder die vergleichsweise lächerliche Summe von 5 bis 10 Millionen Euro zur Verfügung
hat.
Die FDP sieht einen Ausweg aus diesem Dilemma in
einer einheitlichen Sicherungseinrichtung, die alle Sparkassen, Banken, Genossenschaftsbanken und Wertpapierhandelsunternehmen erfasst. Ich lehne dies ab. Es
wäre nicht sachgerecht, Wertpapierunternehmen zu gestatten, auf der einen Seite Geschäfte mit Maximalrenditen zu machen und sich auf der anderen Seite in das gemachte Nest der Einlagensicherungssysteme der Banken
zu setzen.
({1})
Zudem würde bei einem einheitlichen Sicherungssystem ein bürokratischer Apparat entstehen, der die Risikokontrolle, das Management und den Informationsaustausch viel zu komplex und undurchsichtig machen
würde. Aber ein Sicherungssystem, das sich nur auf die
Funktion einer Paybox im Sinne eines zahlungsbereiten
Dritten, der immer bereitsteht, konzentriert, ist schon aus
volkswirtschaftlicher Sicht nicht sinnvoll.
Des Weiteren würde die Chance, künftige Krisenlagen frühzeitig zu erkennen, aufgrund der Unübersichtlichkeit eines solchen Systems sinken. Der dabei entstehende Vertrauensverlust wäre in der Tat nachhaltig und
beträchtlich.
Als wichtigstes und vorrangiges Ziel zur Vermeidung
künftiger Schadensfälle bei der EdW sind daher präventive Maßnahmen notwendig. Zu denken ist an eine Vertrauensschadenversicherung bzw. eine effiziente Risikokontrolle. Auch müssten Sicherungseinrichtungen wie
die EdW Sanktionskompetenzen erhalten, wenn einzelne
Institute Risiken erkennen lassen bzw. ihrer Pflicht zur
Zahlung der Beiträge nicht oder nur vermindert nachkommen.
Ein weiteres wichtiges Kriterium ist eine Neubeurteilung der Beitragsstruktur im Bereich der EdW. Die einzelnen Wertpapier- und Vermögensverwaltungen müssen
verstärkt nach ihrer Größe und ihrem Risikoverhalten
Beiträge entrichten. Beiträge in Höhe von 300 Euro minimal sollten und müssen der Vergangenheit angehören.
({2})
Es bleibt festzuhalten, dass es notwendig ist, ähnlich
gute Standards für eine Risikosteuerung und Risikokontrolle einzuführen, wie dies bei Banken und Sparkassen
bereits der Fall ist.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch auf
ein Argument der Mitgliedsunternehmen der EdW eingehen, die der Ansicht sind, die aktuelle mitgliedschaftliche Zusammensetzung sei verfassungswidrig und nur
durch eine Zusammenlegung mit den Entschädigungseinrichtungen der Banken und Sparkassen könne man
diese Verfassungswidrigkeit beseitigen.
({3})
Ich meine, eine solche Zusammenlegung wäre erst recht
verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt.
({4})
Denn eines ist klar: Die Risiken, die bei der Einlagensicherung und beim Institutsschutz einerseits sowie bei
der Anlegerentschädigung andererseits abgesichert werden, sind völlig unterschiedlich.
({5})
- Danke. - Bei den Wertpapierhandelsunternehmen werden Schadensfälle durch Kriminalitätsrisiken, wie wir
sie bei Phoenix erlebt haben, ausgelöst. Bei der Einlagen- und Institutssicherung geht es um realisierte Kreditrisiken, die ein Institut bedrohen können.
({6})
- Das kommt noch hinzu. - Insofern geht das Argument
der EdW-Mitglieder fehl.
Fakt ist: Nur durch eine funktionierende Prävention
können Insolvenzen durch Betrügereien zwar nicht immer vermieden, aber hinsichtlich der Schadenssumme
nachhaltig beschränkt werden. Den Staat als Zahlmeister
außerhalb des gültigen Sicherungssystems in die Pflicht
zu nehmen und ihm den Schwarzen Peter aufzubrummen, ist zwar bequem, aber der falsche Weg.
Lassen Sie mich zum Schluss auf die Situation der
30 000 geprellten Anleger zu sprechen kommen, die
heute noch auf ihr Geld warten und, wie es aussieht, leider noch weiter warten müssen. Es hat in der Vergangenheit konstruktive Überlegungen gegeben. Ich erinnere
nur an den Vorschlag, die erforderlichen Geldleistungen
durch einen Kredit der KfW abzusichern bzw. zu beschaffen. Dieser Vorschlag hätte meines Erachtens allerdings auch von der Bereitschaft der EdW-Mitglieder getragen werden müssen, sich freiwillig ihrer finanziellen
Verantwortung zu stellen.
({7})
Dies alles ist bis heute nicht geschehen. Es liegt auch
noch kein rechtskräftiger Insolvenzplan vor. Der Gläubigerausschuss hat ihn zwar am 18. April 2007 angenommen, aber Anleger haben dagegen Beschwerde eingelegt. Das führte letztendlich dazu, dass die EdW Ende
des vergangenen Jahres Sonderbeiträge erhoben hat, gegen die jetzt wiederum Wertpapierhandelsunternehmen
klagen. Ob diese Unternehmen mit ihrer Entscheidung
zu einer Staatshaftungsklage gut beraten waren, möchte
ich nicht beurteilen. Das werden die Gerichte entscheiden. In einer Zeit - wie in der Welt vom 15. Januar dieses
Jahres zu lesen ist -, in der alle Seiten ganze Legionen
von Anwälten beschäftigen, um sich gegenseitig mit
Klagen zu überziehen, ist die Politik meines Erachtens
gut beraten, der Judikative den Vortritt zu lassen.
Natürlich hat dies leider zur Folge, dass Entschädigungszahlungen nicht prompt und schnell erfolgen, sondern noch weiter auf sich warten lassen werden. Aber
dessen ungeachtet wird der Bund alle Handlungsmöglichkeiten zu prüfen - ich denke, da sind wir uns einig und das Gutachten, das demnächst vorliegt, zu analysieren und zu bewerten haben. Auf dieser Grundlage sollten
wir hier bzw. im Finanzausschuss des Deutschen Bundestages zukunftsorientiert über ein qualifiziertes Sicherungssystem für Wertpapierhandelsunternehmen nachdenken, sicherlich mit mehr Fakten versehen, als es
heute der Fall ist.
Ich danke Ihnen.
({8})
Das Wort hat Kollege Frank Schäffler, FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit wir Anfang letzten Jahres erstmalig im Finanzausschuss über den Fall Phoenix gesprochen haben und
wir unseren Antrag hier vor einem halben Jahr zum ersten Mal debattiert haben, haben Sie seitens der Bundesregierung keinerlei Fortschritte im Fall Phoenix erzielt.
Dabei ist der größte Anlegerbetrugsskandal in Deutschland im Kern eine Bilanz des Versagens staatlicher Institutionen. Erst wurde ein schlechtes Gesetz gemacht,
dann hat die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht ihren eigenen Bescheid auf Trennung der Sammelkonten bei Phoenix fünf Jahre lang nicht durchgesetzt,
und jetzt sind Sie nicht einmal bereit, daraus Konsequenzen zu ziehen. Dabei haben die BaFin und das Bundesfinanzministerium unmittelbar Mitschuld. Nur durch das
Aufsichtsversagen der BaFin konnte das Schneeballsystem so lange - bis zum Insolvenzfall von Phoenix unentdeckt bleiben. Jetzt ziehen Sie nicht einmal Konsequenzen, sondern Sie drücken den überwiegend mittelständischen Finanzdienstleistungsunternehmen eine Last
von fast 200 Millionen Euro auf.
Sie haben in diesem Parlament zwei Jahre Zeit gehabt, sich um dieses Problem zu kümmern. Sie haben es
aber immer wieder verschoben. Sie haben ein Gutachten
in Auftrag gegeben, auf das wir jetzt schon mehrere Monate warten und das immer noch nicht fertig ist. Gleichzeitig haben Sie versprochen, eine Bürgschaft der KfW
bereitzustellen.
({0})
Auch dazu ist es nicht gekommen, weil sie im zuständigen Haushaltsausschuss wegen der schlampigen Vorbereitung des Bundesfinanzministeriums nicht bewilligt
wurde.
Fakt ist: Deutschland hat auf der einen Seite die Anlegerentschädigungsrichtlinie der EU europarechtswidrig
umgesetzt. Die Entschädigungseinrichtung für Wertpapierhandelsunternehmen ist keine tragfähige Einrichtung. Gleichzeitig sind die rechtschaffenen mittelständischen Finanzdienstleister in einen Topf mit dem grauen
Kapitalmarkt gesteckt worden. Nun sollen diese Unternehmen die Zeche bezahlen. Das ist mit uns von der
FDP nicht zu machen.
Auf der anderen Seite funktioniert das bestehende
System nicht. Der Entschädigungsfall wurde 2005 festgestellt, und die Anleger haben noch nichts von ihrem
Geld gesehen. Stattdessen hat eine Diskussion über die
Besteuerung von Scheingewinnen begonnen. So machen
Sie Politik. Sie wollen, dass sogar Steuern auf etwas gezahlt werden sollen, was in Wirklichkeit nie existiert hat.
({1})
Auch das ist mit uns nicht zu machen.
({2})
Die Bundesregierung hat auf Anfrage der FDP angekündigt, dass sie in diesem Jahr 6 000 Anleger entschädigen will. Tatsächlich sind die Beitragsbescheide der
EdW um Weihnachten herum direkt vor den Gerichten
gelandet. Es gibt eine Vielzahl juristischer Einwände, die
die EdW nur schwerlich wird entkräften können. Das
aber bedeutet, dass die Anleger noch länger auf ihr Geld
warten müssen.
Wir haben in Deutschland keine funktionierende Anlegerentschädigung. Das wissen Sie. Deshalb schieben
Sie das Problem hinaus. Weder bekommen die Anleger
fristgerecht ihre Entschädigung, noch gibt es eine Entschädigungseinrichtung, die zügig Rechtssicherheit für
die Finanzdienstleister schafft und sie mit ihren Beiträgen nicht überfordert. Deshalb beantragen wir, die
bestehenden Anlegerentschädigungssysteme zusammenzulegen und nicht die Einlagensicherungssysteme zusammenzulegen. Das sind zwei Paar Stiefel. Es gibt zwei
Richtlinien, die unterschiedliche Themen behandeln.
Hier geht es um den Wertpapierhandel. Es geht um Unternehmen, die mit Wertpapieren handeln. Es geht nicht
um Einlagen oder ähnliche Dinge. Erst wenn wir die
Systeme zusammenlegen, setzen wir auch die Anlegerentschädigungsrichtlinie korrekt um.
Wir werden Sie nicht aus Ihrer Verantwortung entlassen. Sie beaufsichtigen durch das Bundesfinanzministerium die staatliche Finanzaufsicht. Gerade das Versagen
der BaFin hat den Fall Phoenix erst ermöglicht. Sie haben aber mit Ihrer Parlamentsmehrheit eine Verantwortung dafür, dass die deutschen Gesetze, in diesem Fall
das EAEG, den europäischen Vorgaben entsprechen.
({3})
Dies ist derzeit nicht der Fall, da unser System erkennbar
nicht funktioniert.
({4})
- Ja, so ist es.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Klaus-Peter Flosbach, CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Schäffler, Sie haben in einigen Bemerkungen durchaus recht gehabt; da werde ich Sie gleich unterstützen.
Sie haben allerdings auch von einem schlechten Gesetz aus dem Jahre 1998 gesprochen. Sie wissen, dass
Sie als FDP damals natürlich wesentlich an diesem Gesetz beteiligt waren.
({0})
Gerade weil dieses Gesetz viele Probleme aufgeworfen
hat, geht es für uns als Union um das Thema: Sorgfalt
vor Schnelligkeit. Deswegen ist Ihr Antrag heute meines
Erachtens fehl am Platz.
({1})
Den Fall Phoenix diskutieren wir seit gut einem Jahr
in den Sitzungen des Finanzausschusses,
({2})
obwohl Phoenix in der breiten Kapitallandschaft schon
seit zehn Jahren Thema ist. Wer Zeitschriften aus den
Jahren 1995 und 1996 heranzieht - Kapitalzeitschriften,
Testzeitschriften oder Kapitalinformationsdienste -, sieht,
dass Phoenix schon viele Jahre ein Thema gewesen ist,
({3})
weil diese Gesellschaft schon früh den Ruf hatte, unsolide zu arbeiten und die Menschen abzuzocken.
({4})
Deswegen ist natürlich die Frage zu stellen, was wir
tun müssen, wenn wir eine neue Sicherungseinrichtung
schaffen. Dazu müssen wir auch die Informationen aus
der Vergangenheit haben.
Die Gesellschaft Phoenix hat Termingeschäfte und
Optionsgeschäfte gemacht. Das kann man ja noch akzeptieren, aber sie hat es auf besondere Weise gemacht:
Sie hat betrogen. Sie hat die Anleger systematisch betrogen. In ihren Prospekten stand sogar, dass man wahrscheinlich das Kapital verlieren wird. Dennoch haben
wir eine Sicherungseinrichtung geschaffen, die auch bei
Betrug jedem Zocker das Geld zurückerstattet. Da muss
man fragen: Ist das der richtige Weg?
({5})
So haben sich auch beim Fall 2005, als der Skandal
aufgedeckt wurde, die Insolvenz von Phoenix bestätigt
wurde, viele Anleger keine Sorgen gemacht. Es ging um
30 000 Anleger, die im Durchschnitt 22 000 Euro angelegt hatten. Die Entschädigungseinrichtung sagte: Egal
was passiert, bis 90 Prozent der Einlage oder höchstens
20 000 Euro werden von uns finanziert. - Das gab natürlich manchen die Sicherheit, ruhig zu zocken, auf das
Versprechen zweistelliger Renditen zu vertrauen in dem
Wissen: Das Geld ist doch ohnehin gesichert.
Insgesamt konnten von den Kapitalien 200 Millionen
Euro gerettet werden. Dennoch fehlen 180 Millionen
Euro, die noch finanziert werden müssen. Der Kollege
Krüger hat darauf hingewiesen, dass sich die Beiträge
auf ungefähr 5 Millionen Euro belaufen. Das heißt, wir
haben einen Schaden von 180 Millionen Euro, aber nur
Beiträge von 5 Millionen Euro. Zumindest das 36-Fache
müsste jetzt finanziert werden.
Nun gibt es Unternehmen, die Einzelkämpfer sind.
Die zahlen 300 Euro. Sie müssen jetzt das 6,6-Fache bezahlen. Aber es gibt auch Unternehmen, die 2,2 Prozent
vom Umsatz bezahlen müssen. Das mal 6,6! Sie müssen
also 15 Prozent vom Umsatz als Beitrag bezahlen.
({6})
Es geht um den Umsatz, nicht um den Gewinn. Viele
können das unmöglich finanzieren.
({7})
Das Interessante ist eigentlich, dass in den letzten acht
Jahren schon 16 Fälle aufgetreten sind, die zu Schäden
in Höhe von 14 Millionen Euro geführt haben. Deswegen ist für mich immer noch fraglich: Wie konnte so etwas passieren? Hat die Kontrolle nicht funktioniert?
({8})
Die Situation ist jetzt wie folgt: Es muss gezahlt werden. Herangezogen werden die 733 Mitglieder, die der
EdW, der Entschädigungseinrichtung der Wertpapierhandelsunternehmen, angeschlossen sind. Das betrifft
27 große Kapitalanlagegesellschaften und Tochtergesellschaften von großen Banken, aber zu 90 Prozent kleine
Finanzdienstleistungsinstitute.
({9})
Das Besondere an diesen Finanzdienstleistungsinstituten - das sind zumeist Vermögensverwalter - ist, dass
sie niemals die Möglichkeit hätten, Geld zu veruntreuen,
weil sie gar nicht an das Konto herankommen.
({10})
Sie haben nur ein Dispositionsrecht. Das heißt, sie können nur entscheiden, welche Papiere gekauft oder verkauft werden, und die Depotbank kann als einzige auf
das Konto zugreifen. Diese werden jetzt mit herangezogen, obwohl sie niemals einen Schaden verursachen
können. Für unsere Fraktion kann ich nur sagen: Eine
Strafsteuer für diese Gruppe, möglicherweise in Höhe
von 15 Prozent des Umsatzes, ist für uns absolut nicht
hinnehmbar.
({11})
Die Kollegen haben bereits darauf hingewiesen, dass
man bezüglich aller 733 Bescheide, die drei Tage vor
Weihnachten mit den besten Weihnachtswünschen herausgeschickt wurden, mit Widersprüchen rechnen kann.
Wir wissen, dass viele der größeren Einrichtungen abwandern wollen und bereits Gesellschaften im Ausland
gegründet haben. Möglicherweise bleiben nur die kleinen hier. Dadurch entstünde ein Schaden, der nicht eintreten darf, den die Politik verhindern muss.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, laut Gesetz müssen
jetzt die Sonderbeiträge erhoben werden, aber es sind
meines Erachtens bis jetzt noch sehr viele Fragen nicht
geklärt. Deswegen sage ich auch in Richtung FDP: Wir
können hier nicht weiterdiskutieren, bevor wir nicht das
Gutachten des Bundesministeriums der Finanzen haben.
({12})
Wir werden natürlich dann, wenn das Gutachten da ist,
auch die Frage stellen: Welche Rolle hat das Bundesaufsichtsamt für den Wertpapierhandel, die heutige BaFin,
in den entsprechenden Jahren gespielt. Wir wissen, der
Betrug war nur möglich, weil alle Anleger auf ein Sammelkonto eingezahlt haben und Phoenix dadurch, dass es
frei über dieses Sammelkonto verfügen konnte, im
Grunde den Anlagebetrug durchführen konnte.
Bei einer ersten Prüfung 1999 ist bereits durch das
Bundesaufsichtsamt festgestellt worden, dass dieses
Sammelkontoverfahren nicht legal sei. Man hat sogar
gegen Phoenix geklagt. Erst im Jahre 2003 hat das Bundesverwaltungsgericht endgültig entschieden, dass es
nicht notwendig war, ein solches Sammelkonto einzurichten. Es ist aber nie ein Bescheid erlassen worden. Es
ist nie wieder überprüft worden, ob dieses Sammelkontoverfahren überhaupt noch rechtens war.
({13})
Selbst Wirtschaftsprüfungsunternehmen, die das geprüft haben, haben hier keinen Fehler festgestellt, da die
Kommunikation zwischen Aufsicht und Wirtschaftsprüfern nicht funktioniert hat.
({14})
Deshalb stellen wir auch die Frage, welche Pflichten Depotbank, Geschäftsführer oder auch der Insolvenzverwalter in den letzten Jahren verletzt haben.
Der Stand heute jedenfalls ist: Die Gläubiger klagen
gegen den Insolvenzplan, sodass selbst die
200 Millionen Euro nicht ausgezahlt werden können.
Wir rechnen hier mit weiteren Verfahren vor dem Bundesgerichtshof. Die Finanzinstitute klagen, dass das
EdW-System, also das Entschädigungssystem, verfassungswidrig sei. Hinzu kommt inzwischen eine Staatshaftungsklage wegen mangelnder Aufsicht und schlechter Umsetzung der EU-Richtlinie.
Es sind noch viele Fragen offen. Ich weiß auf jeden
Fall, dass dieses Gesetz von 1998 den Anforderungen
nicht gerecht wird.
Nach Vorlage des Gutachtens werden wir also prüfen
müssen, ob nicht zunächst das vorhandene Guthaben
ausgeschüttet werden kann. An die Adresse der FDP
kann ich sagen: Eine Aufnahme des Anspruchsübergangs bei Haftung Dritter in das Gesetz halten auch wir
für den richtigen Weg.
({15})
Wir werden aber auch darüber sprechen müssen, wie
der Verbraucherschutz ausgestaltet werden soll. Hier
stellt sich die Frage: Wo beginnt die Eigenverantwortung
des Anlegers? Muss jede Zockerei durch den Staat abgeKlaus-Peter Flosbach
sichert werden? - Meines Erachtens ist das nicht der
Fall.
({16})
Wir werden auch fragen müssen, welche Kontrollaufgaben die Aufsicht wahrnehmen kann, also was sie kann
und, vor allen Dingen, was sie nicht kann.
Meines Erachtens ist es weiterhin wichtig, dass wir
bei einer Novellierung die Vermögensverwalter aus dem
Entschädigungssystem herausnehmen. Für sie würde allemal eine vernünftige Vermögensschadenhaftpflicht
bzw. Vertrauensschadenhaftpflicht genügen, um alle Sicherungsansprüche zu erfüllen.
({17})
Auf jeden Fall muss dieses Gesetz novelliert werden.
In Richtung FDP sage ich noch einmal: Wir sollten aber
aufpassen, dass wir nicht etwas kaputtmachen, was funktioniert.
({18})
Die Einlagen- und Institutssicherungssysteme der Banken, Sparkassen und Volksbanken funktionieren meines
Erachtens bisher bestens. Wir sollten also genauestens
prüfen, ob wir wirklich ein einheitliches System in
Deutschland benötigen oder ob wir damit nicht, wie der
Kollege Krüger sagte, unnötige Bürokratie aufbauen, die
Sie von der FDP ja normalerweise nicht befürworten.
({19})
Zusammenfassend sage ich nur: Es geht in dieser
Frage nicht um weniges. Es geht hier um die Zukunft des
Finanzplatzes Deutschland. Es geht hier um die große
Gruppe der privaten Vermögensverwalter, die in unserem Finanzmarkt eine hohe Bedeutung haben. Deswegen sage ich: Sorgfalt vor Schnelligkeit. Wir können Ihren Antrag nicht unterstützen.
({20})
Das Wort hat nun Kollege Axel Troost, Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen der
FDP, Sie rufen nach dem Staat. Das lässt natürlich aufhorchen; denn gewöhnlich tun Sie in Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik das Gegenteil. Staatsinterventionen sind für Sie sonst ohne Wenn und Aber eher ein
rotes Tuch. Daher stellt sich für uns die Frage: Ist der
Ruf nach dem Staat im Fall Phoenix eigentlich gerechtfertigt? Ich fürchte, dass davon auszugehen ist, dass in
diesem Fall der Ruf nach dem Staat - zumindest was
Ihre Intention angeht - eher fragwürdig ist.
({0})
Erstens. Ist der Staat schuld, dass der Phoenix-Eigner
mit unlauterem Geschäftsgebaren Geld verzockt hat?
Nein!
Zweitens. Hat der Staat Schuld, dass die Anleger
Geld verloren haben? Ich meine, nein. Trotzdem rufen
Sie nach dem Staat.
Daher drängt sich unmittelbar die Frage auf: Für wen
eigentlich? Wem sollen diese Maßnahmen helfen? Den
vielen Tausend Kleinanlegern - die meisten davon übrigens aus Ostdeutschland -, die mit gutem Glauben Ihre
segensreichen Loblieder auf die hervorragenden Chancen des freien Kapitalmarktes für bare Münze genommen haben und ihr Erspartes Betrügern gegeben haben?
Denen hätte man helfen können, wenn man sehr kurzfristig Liquiditätskredite zur Verfügung gestellt hätte,
damit sie entsprechend hätten entschädigt werden können.
Ich glaube, der Antrag der FDP richtet sich vor allem
auf die Klientel Vermögensverwalter und Finanzdienstleister. Die wollen keinen Kredit, mit dem schnell Schadensersatz geleistet werden kann. Sie wollen überhaupt
nicht einstehen und verzögern deswegen, wo sie können.
Das werden wir nicht unterstützen.
Trotzdem ist nicht alles, was Sie fordern, in Bausch
und Bogen abzulehnen. Das Problem muss aus unserer
Sicht allerdings umfassender angegangen werden, als es
in Ihrem Antrag durchscheint. Phoenix könnte ein bedauerlicher Einzelfall sein, würden wir nicht regelmäßig
die Erfahrung machen, dass aufsichtsrechtliche und vollzugspraktische Schwierigkeiten - bisweilen sehenden
Auges - in Kauf genommen und ignoriert werden, um
den interessierten Lobbygruppen schnellstmöglich Vollzug melden zu können.
Wir müssen - daran kann aus unserer Sicht kein
Zweifel bestehen - die Aufsicht über diesen Bereich des
Finanzmarkts verbessern. Dazu muss die Aufsicht neu
organisiert werden und personell so ausgestattet sein,
dass die Stellen ihren Verpflichtungen auch wirklich
nachkommen können.
({1})
Wir müssen - da stimmen wir mit Ihnen überein auch verschiedene Entschädigungsstellen besser organisieren und neu einrichten. Wir müssen insgesamt ein
Aufsichtssystem schaffen, das ganz generell im Einklang
mit den entsprechenden EU-Richtlinien, insbesondere
mit der EU-Entschädigungsrichtlinie, steht. Das ist bislang - das hat der Fall Phoenix gezeigt - nicht gegeben.
Hauptkonsequenz ist für uns aber: Unabhängig von
den Folgewirkungen wird die Linke auch in Zukunft keinerlei Kapitalmarktpolitik unterstützen, bei der es den
Aufsichtsbehörden - sei es durch eine unzureichende
Gesetzeslage, sei es durch eine unzureichende Personalund Sachmittelausstattung - unmöglich gemacht wird,
ihre Aufgaben im Sinne des Verbraucherschutzes wirklich zu erfüllen.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat nun Christine Scheel, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ich
denke, es ist schon gut, dass wir heute wieder einmal
über das Thema diskutieren, welche Konsequenzen wir
aus dem Fall Phoenix zu ziehen haben und welche Handlungsmöglichkeiten es für die Politik überhaupt gibt.
Was geschehen ist, ist in erster Linie eine Katastrophe
für die Anleger und Anlegerinnen. Das sage ich, obwohl
auch ich ein Stück weit die Meinung von Herrn Flosbach
vertrete: Nicht jeder, der zockt, und zwar extrem, muss
die Sicherheit haben, dass er sein Geld immer wieder zurückbekommt. Irgendwo gibt es auch Grenzen; das ist
völlig klar.
Wir haben es mittlerweile mit der Situation zu tun,
dass Anwälte betrogener Anleger Schadensersatz von
der Bundesregierung fordern. Diese Anwälte weisen auf
das Kontrollversagen der Bundesfinanzaufsicht und auf
Fehler bei der Umsetzung der EG-Anlegerentschädigungsrichtlinie hin.Ich finde, die Regierung hat die
Pflicht, deutlich zu machen, ob diese Vorwürfe ein Stück
weit berechtigt sind. Es ist auch ihre Aufgabe, Probleme,
die man in diesem Zusammenhang bereits erkannt hat,
sehr zügig zu lösen und für die Zukunft mehr Sicherheit
für Anlegerinnen und Anleger zu schaffen.
({0})
Wir Grünen wollen den Anlegerschutz insgesamt verbessern. Aus diesem Grund sind wir dafür, dass alle aktuellen Gesetzesvorlagen, die Gesetzesvorlagen, die in
Zukunft vorgelegt werden, sowie alle Anträge, die in
diesem Zusammenhang gemacht werden, unter dem Aspekt abgeprüft werden, ob sie Sinn machen und im Interesse der Anlegerinnen und Anleger sind.
Man muss sich klarmachen, dass über viele Jahre hinweg - das kann fast kein Mensch verstehen - über
30 000 Personen um ihr Erspartes betrogen worden sind.
Ich habe gehört, dass auch IKEA und andere große Unternehmen zum Kreis der Geschädigten zählen. Da denkt
man, diese Unternehmen haben Finanzabteilungen, die
sich ein paar Gedanken machen, aber auch die sind darauf reingefallen. Sie alle sind betrogen worden, streiten
immer noch vor Gericht und haben noch keinen Euro
Entschädigung gesehen.
Wenn man sich das bewusst macht, sieht man ein,
dass wir präventive Möglichkeiten zum Schutz brauchen, vor allem, was die Verbesserung der Aufsicht
anbelangt. Wir müssen uns auch überlegen, ob die gegenwärtige Regelung der Entschädigung der Wertpapierhandelsunternehmen vernünftig und zielführend ist.
Im Fall Phoenix liegen die Entschädigungsansprüche
bei circa 180 Millionen Euro - die Zahlen wurden schon
genannt -, während die Einlagen nur circa 7 Millionen
Euro betragen. Die Angaben schwanken: Die einen sagen, es sind zwischen 6 und 7 Millionen Euro, und die
anderen sagen, es sind zwischen 7 und 8 Millionen Euro.
Irgendwo dazwischen wird die richtige Zahl liegen.
Zu den zwei Forderungen, die die FDP in ihrem Antrag gestellt hat, möchte ich gerne etwas sagen:
Erstens. Der automatische Übergang von Forderungen der Geschädigten gegen Dritte kann etwas zur finanziellen Stabilisierung einer reformierten Anlegerentschädigungseinrichtung beitragen. Ich denke, das ist so. Das
muss aber so geregelt sein, dass eine Abtretung kraft Gesetzes für die Anlegerinnen und Anleger keinen Nachteil
bedeuten kann. Das kann nämlich zum Nachteil gereichen, wenn das nicht ordentlich gestaltet ist. Deswegen
bedarf eine Novellierung entsprechender Vorgaben. Wir
müssen uns in Richtung Insolvenzordnung Gedanken
machen. Das muss mit einer zügigen Entschädigungsleistung verbunden und an dieser Stelle in Einklang gebracht werden. Das bedeutet, dass wir uns auf der einen
Seite aktiv für die Rechte der Anlegerinnen und Anleger
einsetzen müssen. Auf der anderen Seite müssen wir
aber auch die Leistungsfähigkeit der Finanzdienstleister
berücksichtigen.
Ihre zweite Forderung ist die Zusammenlegung der
bestehenden Sicherungssysteme. Mir geht es da wie den
Kollegen der Union und der SPD: Ich halte diese Zusammenlegung für nicht zielführend. Wenn selbst der Zentrale Kreditausschuss darauf hinweist, dass die EdW
kein ausreichendes Prüf- und Sanktionierungsinstrumentarium an der Hand hat, zeigt das doch, dass im System
Probleme bestehen,
({1})
die nicht dadurch gelöst werden, dass man das Ganze
größer macht. Dann ist zwar mehr Geld vorhanden. Das
eigentliche Problem, das in der Struktur liegt, wird aber
nicht gelöst. Deswegen müssen wir uns über die Struktur
unterhalten und fragen, wie man Krisenfälle frühzeitig
erkennen kann.
({2})
Wir sollten nicht noch anderes mit hineinnehmen, obwohl wir genau wissen - der Kollege Krüger hat zu
Recht darauf hingewiesen -, dass das in den Bereichen
Management, Risikokontrolle und beim Zusammenführen von Informationen in Krisenlagen dann noch eher zu
Problemen führen kann, weil diese Strukturen eine hohe
Komplexität haben und undurchsichtig sind. Ich glaube,
das führt uns insgesamt nicht weiter.
Interessant ist, dass in der Vergangenheit eigentlich
immer die Prüfungseinrichtungen der Sicherungsfonds
die Probleme aufgedeckt haben und nicht die Aufsicht,
die oben drüber steht. Auch das ist ein interessantes Phänomen, das man sich genauer anschauen muss.
Auf jeden Fall ist die Entschädigung bei Phoenix ein
Beispiel für unklare Zuständigkeiten. Deswegen brauchen wir eine Reform. Wir müssen für die Zukunft aufgestellt sein. Es geht um den Finanzplatz Deutschland,
es geht um Sicherheit und um das Vertrauen der Anlegerinnen und Anleger.
Danke.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Konsequenzen aus dem Entschädigungsfall Phoenix
Kapitaldienst GmbH“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7645, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/5786 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU,
SPD und der Linken gegen die Stimmen der FDP bei
Enthaltung der Grünen angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vierter Bericht über die Entwicklung der Pflegeversicherung
- Drucksache 16/7772 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Hilde
Mattheis, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Gesundheitsministerin hat hier schon in der letzten Woche zum Vierten Bericht über die Entwicklung der Pflegeversicherung Stellung genommen. Ich möchte mich an
dieser Stelle dafür bedanken. Der Bericht enthält grundlegende Informationen für die geplante und auf den parlamentarischen Weg gebrachte Reform der Pflegeversicherung; dies hat sich nicht zuletzt in der elfstündigen
Anhörung zum Pflege-Weiterentwicklungsgesetz gezeigt.
Prinzipiell bestätigt der Bericht, dass die Pflegeversicherung ein wichtiger Baustein im System der sozialen
Sicherheit ist. Er listet auf, bei welchen gesetzgeberischen Maßnahmen Aussagen des Dritten Berichtes von
2004 aufgegriffen und umgesetzt worden sind. Im Bericht wird anhand statistischer Erhebungen verdeutlicht:
Bei allen positiven Aspekten dieses Versicherungszweiges brauchen wir Leistungsverbesserungen, eine Reform
der Strukturen und die Stabilisierung der Finanzen.
Die Solidarität mit Pflegebedürftigen und der Wunsch
nach Erhalt der Würde in dieser Lebensphase waren
wichtige Beweggründe für den Aufbau der Pflegeversicherung. Die Versicherung sollte von Sozialhilfe unabhängig machen. Das ist gelungen, denn von 1994 bis
2000 sind die gesamten Bruttoausgaben der Träger der
Sozialhilfe für die Hilfe zur Pflege von 9,1 Milliarden
Euro auf 2,9 Milliarden Euro zurückgegangen. Die Pflegeversicherung hat also zu einer deutlichen Entlastung
der Träger der Sozialhilfe beigetragen und hat dafür gesorgt, dass Pflegebedürftige nicht mehr Bittsteller sind.
({0})
Allerdings ist in den letzten Jahren des Berichtszeitraums ein leichter Anstieg der Sozialhilfebedürftigkeit
zu verzeichnen. Ebenfalls ist die Zahl derjenigen angestiegen, die ambulant oder stationär gepflegt werden,
und zwar um 2,2 Prozent bzw. 7,3 Prozent. Vor dem
Hintergrund dieser Entwicklung und unter Berücksichtigung des Grundsatzes „ambulant vor stationär“ ist erstmals seit 1995 eine deutliche Leistungsverbesserung geplant. Der Ausbau der Infrastruktur soll beschleunigt
werden.
({1})
Die Leistungsansprüche in den Pflegestufen der ambulanten Pflege und in Pflegestufe III der stationären
Pflege sowie für Härtefälle werden erhöht. Außerdem
werden Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz einen Anspruch auf Betreuung in Höhe von bis zu
200 Euro erhalten.
({2})
Diese Pauschale wird zusätzlich zu den Leistungen für
die ambulante Pflege gezahlt. Sie wird benötigt, da das
Pflegegeld einen Anteil von 23,5 Prozent an den Leistungsausgaben in der ambulanten Pflege ausmacht und
damit vor den Ausgaben für die Pflegesachleistungen
liegt, die mit 14,1 Prozent zu Buche schlagen. So kann
das Ziel einer deutlichen Entlastung der pflegenden Angehörigen erreicht werden.
({3})
Die Anzahl der Pflegeeinrichtungen ist gestiegen.
11 000 ambulante Pflegedienste betreuen 472 000 Pflegebedürftige, und 9 400 Pflegeheime bieten 676 000 Menschen Heimat. Grundsätzlich ist zwar zu bemerken, dass
die Länder für den Aufbau der Pflegeinfrastruktur zuständig sind, aber natürlich ist der Grundsatz „ambulant
vor stationär“ im SGB XI verankert und daher zu unterstützen.
Laut Bericht sind 40,3 Prozent der Menschen, die sich
für eine stationäre Pflege entscheiden, in Pflegestufe I,
40,2 Prozent sind in Pflegestufe II und 19,6 Prozent in
Pflegestufe III. Diese Zahlen verdeutlichen, dass der
Ausbau der Pflegeinfrastruktur vielen Menschen ermöglichen würde, weiter in ihrer Wohnung zu bleiben, die
zum jetzigen Zeitpunkt oftmals deshalb in eine stationäre Einrichtung gehen, weil sie die Alternativen nicht
kennen.
({4})
Um eine bessere Beratung, Vernetzung und Koordinierung zu erreichen, sollen gerade für Menschen, die
noch nicht eingestuft sind, als erste Anlaufstelle Pflegestützpunkte eingerichtet werden,
({5})
die genau an der Schwäche dieses Systems ansetzen und
bei der Beantwortung einfacher W-Fragen helfen: Wo
muss ich hingehen, wenn ich die Wohnung an die neue
Situation anpassen muss? Wie beantrage ich eine Pflegestufe? Welche Hilfsdienste gibt es? Wer ist für welche
Unterstützung zuständig? - Das alles sind Fragen, für
deren Beantwortung die Menschen heute oft von Pontius
zu Pilatus laufen und vor denen sie eventuell kapitulieren.
Wer am Montag und am Mittwoch bei den Anhörungen zugehört hat, hat die breite Unterstützung für dieses
Vorhaben von Betroffenenverbänden und dem Verbraucherschutz gehört.
({6})
- Ich war dort. Die Zeitung schreibt nicht unbedingt das,
was das Protokoll offenbaren wird. Gemach, liebe Kollegen!
({7})
Ich bin mir sicher, dass Sie, wenn Sie das im Protokoll
nachlesen, Ihr Urteil revidieren werden.
({8})
Wenn Sie, Herr Zylajew, auf die Internetseite des
Landkreises Siegen-Wittgenstein - der Landrat gehört
der Union an - gehen, dann werden Sie feststellen, dass
auch Kommunen mit einer schwarzen Regierung durchaus erkennen - auch der Kämmerer erkennt das ({9})
- ja -, dass Pflegestützpunkte im Prinzip dazu beitragen,
nicht nur den Grundsatz „ambulant vor stationär“ zu verwirklichen, sondern ein Stück weit auch die Haushalte
zu schonen.
({10})
Mit der Zahl der Pflegebedürftigen ist auch die Zahl
der in der Pflege Beschäftigten gestiegen. Im Bericht
wird offenbar, dass wir in diesem Bereich sehr viel tun
können und wollen, nicht zuletzt - Entschuldigung, die
Kollegen werden sich jetzt vielleicht wieder etwas
echauffieren - durch einen Mindestlohn für in der Pflege
Beschäftigte.
({11})
Auch das ist ein Punkt, den wir weiter im Blick haben.
Es geht nicht zuletzt um die Finanzen. Auch da beziehe ich mich auf die Anhörung. Nicht alle Sachverständigen sind neutral; das wissen wir ja. Das betrifft vor
allen Dingen einen von der FDP benannten, der heute in
der Zeitung verkündet, dass die Beitragssätze vielleicht
auf bis zu 7 Prozent steigen. Dazu muss ich sagen: Diese
Auftragsarbeiten von Versicherungsunternehmen und
Banken tragen nicht unbedingt zur Seriosität bei.
({12})
Wir haben uns geeinigt, dass durch eine Erhöhung des
Beitragssatzes um 0,25 Prozentpunkte die Pflegeversicherung bis 2014, 2015 eine gesicherte Finanzierung hat.
Auch das wurde von Sachverständigen bestätigt.
Es ist kein Geheimnis und wird Sie nicht erstaunen,
dass unsere Idee einer Bürgerversicherung nach wie vor
ein Ziel für uns ist.
({13})
Genauso haben wir den Ausgleich der privaten Versicherung an die soziale Pflegeversicherung weiter im Blick.
Dazu muss ich sagen, dass uns nicht zuletzt der Sachverständige, der von der CDU/CSU benannt worden ist, unmissverständlich gesagt hat, dass das durchaus möglich
ist und er sich nicht sicher ist, ob dieses Vorhaben verfassungswidrig ist.
({14})
In vielen Punkten des Vierten Berichts über die Entwicklung der Pflegeversicherung sehen wir Diskussionsbedarf; das ist klar.
Mein Fazit an dieser Stelle lautet: Mit dem PflegeWeiterentwicklungsgesetz leiten wir richtige und wichtige politische Schritte aus diesem Bericht ab. Wir haben
wichtige Punkte wie die Bürgerversicherung, den
Finanzausgleich, die bezahlte Freistellung und die Überarbeitung des Pflegebegriffs im Blick und wissen, dass
es dabei immer um die Lebensqualität der Menschen
geht, die es zu verbessern gilt.
Danke für das Zuhören.
({15})
Das Wort hat nun Heinz Lanfermann, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Natürlich beginnt jede Politik mit dem Erkennen der
Realität, Frau Kollegin Mattheis. Ich glaube, Sie hätten
in der Anhörung besser wach bleiben und zuhören sollen.
({0})
Im Hinblick auf die im vorliegenden Bericht erwähnte
Frage der Pflegestützpunkte will ich nur den Sachverständigen Professor Thüsing erwähnen, der sinngemäß
gesagt hat: Was gewünscht wird, geht nicht, und was gehen würde, hilft nicht.
({1})
Die Leistungsgewährung aus einer Hand, durch die
die von Ministerin Schmidt eindrucksvoll beschriebenen
Massenwanderungen von Pontius zu Pilatus beendet
werden sollten, kann es aus den verschiedensten praktischen und rechtlichen Gründen gar nicht geben. So kann
der bei den Pflegekassen angestellte Berater zwar für
den Pflegebedürftigen einen individuellen Versorgungsplan aufstellen, der auch die Sozialleistungen enthält, die
ihm sinnvoll erscheinen. Die Sozialhilfeträger haben
aber in der Anhörung deutlich gemacht, dass die Pflegeberater nicht für sie verbindlich Leistungen bewilligen
können; Frau Kollegin Mattheis, das haben doch wohl
auch Sie gehört. Die Kompetenz der Pflegeberater bleibt
vielmehr auf die Leistungen der Pflegeversicherung beschränkt.
({2})
Auch bei der Bewilligung von Leistungen der Pflegeversicherung und insbesondere der Krankenversicherung
gibt es einfache, aber wirkungsvolle Hürden. Stellen Sie
sich folgenden einfachen Fall vor: Ein Pflegebedürftiger
wird in einem Pflegestützpunkt von einem Berater der
Krankenkasse und damit wohl auch der Pflegekasse A
beraten, ist selbst aber bei der Krankenkasse B versichert. Mit der Beratung und vor allen Dingen mit der
Leistungsbewilligung könnte die Kasse A Einfluss auf
die Ausgaben der Kasse B nehmen. Das wollen die aber
nicht, und das werden sie auch nicht akzeptieren. Es ist
gar nicht möglich, zu garantieren, dass die Bearbeitung
durch einen Mitarbeiter der jeweils zuständigen Kasse
erfolgt.
Schon an diesem einfachen Beispiel wird deutlich,
was das wahre Ziel dieser Aktion ist. Funktionieren kann
der Schmidt’sche Vorschlag der Pflegestützpunkte am
Ende nämlich nur im Rahmen der von ihr angestrebten
Einheitskasse.
({3})
Ich sage Ihnen: Es werden sogar Schwierigkeiten provoziert, damit man später sagen kann: Seht mal, es würde
ja gehen. Wir könnten diese Probleme überwinden,
wenn wir nur eine Einheitskasse hätten.
Mit dem Aufbau von bis zu 4 100 Stützpunkten im
gesamten Bundesgebiet, dessen Kosten in dreistelliger
Millionenhöhe den Großteil der durch die Beitragssatzerhöhungen erzielten Mehreinnahmen verschlingen
werden, werden vielerorts Doppelstrukturen geschaffen.
Das haben uns diejenigen berichtet, die landauf, landab
viele Beratungen durchführen. Dass Sie die Pflegestützpunkte im vorliegenden Bericht unter „Maßnahmen zur
Entbürokratisierung“ aufführen, ist eine reine Realsatire.
({4})
Meine Damen und Herren, wenn ein Stützpunkt errichtet wird - auch das haben uns die Sachverständigen
bestätigt -, werden viele vor Ort bereits existierende Beratungs- und Koordinierungsangebote die Segel streichen müssen. Damit wird der Pflegeberater zu einem
Beratungsmonopolisten, der mit der Entscheidung, bei
welchem Anbieter der Versorgungsplan umgesetzt wird,
natürlich auch Einfluss auf die Marktchancen der vor Ort
vorhandenen Leistungsanbieter nehmen kann. Über die
Pflegekassen gelingt so der Einstieg in die planwirtschaftliche Staatspflege.
Wenn man sich Ihren Gesetzentwurf, der wirklich bemerkenswert ist, ansieht, ist all dies ziemlich durchschaubar. Mit keinem Wort wird die Ausgangslage, welche Beratungsangebote es eigentlich gibt, dargestellt. Es
wird eine Problemlösung angeboten, ohne dass das Problem auch nur im Geringsten beschrieben wird. Es werden keinerlei Zuschreibungen von Kompetenzen aufgeführt. Die Frage, wer in welchem Fall über wessen
Gelder verfügen soll, bleibt weitestgehend offen.
({5})
Welche Größe diese Stützpunkte haben sollen, welche
Kosten dort entstehen, wer das - abgesehen von der Anschubfinanzierung, die nicht viel bringt - bezahlen soll,
all das bleibt offen.
Leistungen aus einer Hand wurden versprochen.
Kaum ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur
Betreuung der Arbeitslosen in den Argen ergangen, wird
zurückgerudert und erklärt, es solle lediglich beraten und
koordiniert werden. Wenn aber nur beraten und koordiniert wird, kann man nichts entscheiden. Wenn derjenige, der eigentlich entscheiden soll, nur unterschreiben
darf, was ein anderer aufschreibt, ist seine Kompetenz
ausgehöhlt; auch das funktioniert nicht.
Die Ministerin schwankt von einer Aussage zur anderen. Sie hat hier kürzlich sogar behauptet, nicht die einzelnen Pflegekassen würden die Berater bezahlen, diese
würden vielmehr aus einem Topf bezahlt, gewissermaßen aus einem, um dieses schöne Wort anzubringen,
Pflegekassenberaterfonds oder Ähnlichem - auch so etwas werden Sie sich noch einfallen lassen!
({6})
Sie werden dann noch darüber streiten müssen, wer von
Ihnen, meine Damen, zur Pflegestützpunktbeauftragten
ernannt wird, am besten im Range einer Parlamentarischen Staatssekretärin.
({7})
Ich wünsche weiterhin viel Vergnügen mit diesem Gesetzentwurf!
Danke schön.
({8})
Nun hat Kollege Willi Zylajew, CDU/CSU-Fraktion,
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will
mich an der Tagesordnung orientieren und zum Vierten
Bericht über die Entwicklung der Pflegeversicherung
Stellung nehmen. Ich halte fest, dass dieser Bericht deutlich macht: Die Blüm’sche Pflegeversicherung hat sich
bewährt, sie ist eine einzigartige Erfolgsgeschichte.
({0})
Was die Herren Blüm und Dreßler und kluge Liberale
1994/95 auf den Weg gebracht haben, war gut, ist gut
und - ich sage dies mit Blick auf die Reform - bleibt gut.
({1})
1995 haben die Menschen praktisch von einem Tag auf
den anderen in Diensten und Einrichtungen eine verlässliche, eine kalkulierbare, eine auskömmliche Leistung
und Hilfe bekommen. Dies hat sich bewährt.
Dies ist auch heute noch so; der Bericht belegt das.
Durch diese Beständigkeit sind im gesamten Bundesgebiet neue Einrichtungen und Dienste entstanden. Die
Pflegeinfrastruktur, die wir in der Bundesrepublik
Deutschland haben, ist vorzüglich. Der Bericht macht
deutlich, wie gut sich die Angebote entwickelt haben:
Von 2001 bis 2005 ist die Zahl der stationären Einrichtungen um 15 Prozent gestiegen. In diesem Zeitraum ist
die Zahl der Versorgten um 12 Prozent gewachsen, die
Zahl der Beschäftigten um 14,9 Prozent. Ich will darauf
hinweisen, dass dies viel über die Qualität der Pflege
aussagt.
Nicht anders das Bild im ambulanten Bereich: Von
2001 bis 2005 ist die Zahl der in Einrichtungen Betreuten um 8,5 Prozent gestiegen, die Zahl der Beschäftigten
um 13,1 Prozent. Entscheidend ist für uns, dass laut Bericht die Zahl der examinierten Kräfte um 50,4 Prozent
angestiegen ist.
({2})
Diese Zahlen machen die Qualität der Pflegeversicherung deutlich. Ich will eine weitere Zahl nennen:
300 000 Mitarbeiter mehr als 1995 sind heute in der
Pflege beschäftigt. Das ist gut und richtig, und davon
profitieren die Menschen.
({3})
Frau Ausschussvorsitzende, trotz dieser guten Zahlen
müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass es Reformbedarf
gibt. Dieser Reformbedarf ergibt sich schon daraus, dass
der Anteil der älteren Generation an der Gesamtbevölkerung steigt.
({4})
- Wir haben in der Tat seit einigen Jahren Reformbedarf,
Kollege Bahr. Dazu werde ich nachher noch etwas sagen.
Trotz der wirtschaftlichen Schwäche von 1999 bis
2005 wurden die Menschen - dies müssen wir zur
Kenntnis nehmen - gut versorgt. Die Blüm’sche Pflegeversicherung hat trotz der pflegepolitischen Nullrunden
in den Jahren der Regierung von Schröder, Lafontaine,
Clement und Fischer eine beständige und verlässliche
Versorgung der Menschen ermöglicht. Die Qualität der
Pflege in Deutschland ist gut. Ich will daran erinnern,
dass es vorher so war, dass es in finanzstarken Gebietskörperschaften gute Leistungen gab, in finanzschwachen
weniger gute oder überhaupt keine. Heute ist dies anders. Wir haben eine positive Gesamtentwicklung.
Aus den über 150 Seiten des Berichts wird allerdings
deutlich, dass die Bearbeitung der Anträge auf Einstufung in die Pflege sowohl bei den Versicherungen als
auch bei den medizinischen Diensten zu lange dauert.
30,4 Prozent der Anträge werden in vier Wochen erledigt. Für den Rest brauchen sie bis zu acht Wochen und
länger. Dies ist nicht hinnehmbar und aus unserer Sicht
unmenschlich.
({5})
Im stationären Bereich werden 43,1 Prozent der Anträge erst nach acht Wochen und länger beschieden. Wir
halten das für unmöglich; denn hieraus resultiert im Endeffekt doch die schlechte Versorgung, die die MDKs auf
der anderen Seiten kritisieren.
({6})
Ich denke: Die Krankenkassen und die MDKs zahlen die
Gehälter pünktlich aus, dann sollen sie bitte auch die Bescheide pünktlich herausgeben und die Leistungen
pünktlich zahlen.
({7})
Wir werden dies im Rahmen der Reform ganz eindeutig ändern und eine Zeit festschreiben. Die Menschen
sollen wissen, dass sie einen Anspruch auf einen Bescheid in einer angemessenen Zeit haben. Damit leisten
wir einen Beitrag zur Qualitätssteigerung.
({8})
Optimierungsbedarf gibt es eindeutig auch bei der
Reha. Es ist leicht, „Reha vor Pflege“ zu sagen, aber
dann müssen die Krankenkassen und die MDKs die
Reha-Maßnahmen auch anordnen und sich sofort nach
einem gesundheitlichen Einbruch für eine Behandlung
positionieren.
({9})
Auch hier werden wir einiges tun. „Reha vor Pflege“ ist
unser Ziel. Damit werden wir uns durchsetzen.
Ich sage Ihnen ganz eindeutig, dass es natürlich auch
Überlegungen gibt, über die wir in der Koalition noch
lange diskutieren müssen. Kollegin Mattheis, ich habe
zur Kenntnis genommen, was bei der Propagandaveranstaltung im Ministerium am letzten Freitag geschehen
ist. Ich glaube, Sie verwechseln das Ergebnis dieser Veranstaltung mit dem Ergebnis der Veranstaltung am Montag.
({10})
Wäre mein ältester Enkelsohn Jakob am Montag dabei
gewesen, dann würde er sagen: Opa, Schiffchen versenkt. - Das gilt für die Stützpunkte und Fallmanager
ganz eindeutig.
({11})
Es gibt nun niemanden mehr, der dafür ist. Von der
AOK über die IKK, die BEK und alle Kassen, die vertreten waren, bis hin zu den kommunalen Spitzenverbänden: Alle haben bescheinigt, dass wir die Stützpunkte in
dieser Form nicht benötigen.
({12})
- Ich habe das Lesen in der Schule gelernt. Der Bericht
enthält Informationen über eine Situation von 2001 bis
2005, die wir zu bewerten haben. In dieser Zeit gab es
keine Stützpunkte in der vom Ministerium gewünschten
Form.
({13})
Insofern gehört das in die Abteilung Poesie.
({14})
Man muss einfach zugestehen, dass so etwas auch einmal in einen Bericht hineinkommt. Wir müssen damit leben und werden das auch.
({15})
Wir muten den Beitragszahlern eine Steigerung der
Beitragslast um 2,5 Milliarden Euro zu. Für uns als
CDU/CSU-Fraktion ist eines wichtig: Wir wollen, dass
diese 2,5 Milliarden Euro komplett, also ohne jeden Abzug, am Pflegebett, im Pflegebad, in der Wohnung und
bei der ambulanten Versorgung ankommen. Das ist unser Ziel.
({16})
Wir wollen keine neuen bürokratischen Strukturen
schaffen. In der Pflegeversicherung haben wir eh zu
viele bürokratische Vorgaben. Wir werden dort so viel,
wie uns möglich ist, ausdünnen.
Wir sind sicher, dass es unsere Aufgabe ist - Kollegin
Mattheis, hier sind wir doch einer Meinung -, etwas für
die Pflegebedürftigen zu tun und keine neuen behördlichen Pflegestrukturen zu schaffen. Ich denke, wir alle
werden ein Stück weit an diesem Ziel arbeiten, sodass
wir zu einem guten Ergebnis kommen. Der nächste Pflegebericht wird deutlich machen, dass das, was Herr
Blüm 1995 begonnen hat, von Wolfgang Zöller und Annette Widmann-Mauz in diesem Jahr fortgesetzt wurde.
Darauf können wir alle dann gemeinsam stolz sein.
Danke schön.
({17})
Das Wort hat nun Kollege Ilja Seifert, Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Damen und Herren auf der Tribüne! Die Ministerin sprach
am Mittwoch vergangener Woche über den Pflegebericht und berichtete aus dem Kabinett. In dieser Woche hatten wir zwei Tage Anhörung zur Pflegeversicherung. Jetzt gibt es noch diese Debatte im Bundestag.
Man könnte fast meinen, dass wir über etwas Wichtiges
reden.
({0})
Wichtig ist die Pflege. Aber die vorliegenden Papiere
sind alles andere als wichtig. Sie sind so dünn, liebe Kollegin Spielmann, dass es kein Wunder ist, dass wir erst
zu dieser späten Stunde darüber reden, wenn kein
Mensch mehr diese Debatte am Fernseher verfolgen
kann, weil sie gar nicht übertragen wird.
Welche Fakten gibt es denn? Uns liegt ein schöner
Bericht vor, in dem zum Beispiel steht,
({1})
angesichts der steigenden Beschäftigtenzahlen sei
grundsätzlich festzustellen, dass derzeit kein genereller
Fachkräftemangel in der Altenpflege bestehe. Wo leben
Sie denn? Haben Sie sich einmal das richtige Leben angeschaut? Da fehlen die Fachkräfte hinten und vorne,
rechts und links und oben und unten. Dass die Zahl der
Beschäftigten im Pflegebereich insgesamt steigt, liegt
daran, dass es viel mehr Betriebe mit mehr Beschäftigten
gibt, die zum Beispiel als Hausmeister tätig sind, die
aber nicht am Pflegebett oder an der Badewanne stehen,
lieber Kollege Zylajew.
({2})
Noch etwas. Sie wollen, dass jeder Euro am Pflegebett und an der Badewanne ankommt. Ich hingegen will,
dass jeder Euro bei den Menschen ankommt. Das Bett
hat nichts vom Geld.
({3})
Es ist ein ganz entscheidender Unterschied, ob ich von
den Menschen her denke oder von den Betten. Das ärgert mich an Ihrer Argumentation jedes Mal. Sie denken
von den Strukturen und vom Geld her, nicht aber von
den Menschen her.
({4})
- Ich lese doch Ihre Papiere und höre Ihre Reden. Sprache ist verführerisch und auch verräterisch.
Zurück zum vorliegenden Pflegebericht. Wer die
Pflegesituation wirklich verbessern will, muss mehr
Menschen dazu bringen, Arbeit in der Pflege zu leisten.
Wenn man das erreichen will, muss man diese Arbeit
aufwerten, und zwar sowohl moralisch als auch finanziell.
({5})
Man kann diese physisch und psychisch schwere Arbeit
nicht nebenbei leisten. Man muss die Menschen, die
diese Arbeit leisten, ordentlich bezahlen - das ist zurzeit
nicht der Fall - und ihnen Aufstiegschancen und die Perspektive geben, eine Auszeit zumindest in Form einer
Supervision zu nehmen. Das alles ist stark unterentwickelt. Wenn zunehmend weniger Menschen an den Umschulungen der Bundesagentur für Arbeit teilnehmen,
um sich für eine Tätigkeit im Pflegebereich ausbilden zu
lassen, wird der Fachkräftemangel bald so groß sein,
dass sich die Zahl gravierender Pflegefehler weiter erhöhen wird. Es kann doch nicht sein, dass Dekubitus und
andere Dinge massenhaft um sich greifen.
Komischerweise - das ist der letzte Punkt, den ich
hier ansprechen kann - ist in Ihrem Bericht davon die
Rede, dass 10 Prozent schlecht versorgt werden. Wieso
spricht der MDS von 30 Prozent und mehr? Lassen Sie
uns zumindest die Fakten einmal genau ansehen. Selbst
in Ihrem Bericht lese ich, dass zu den Pflegeproblemen
freiheitseinschränkende Maßnahmen - die Leute werden
ans Bett gefesselt - gehören, dass die Inkontinenzversorgung nicht in Ordnung ist, dass die Leute also nicht zur
Toilette gebracht werden. Wenn diese Dinge immer noch
nicht abgestellt sind, dann braucht niemand von einem
tollen Bericht und einer tollen Pflegeversicherung zu
sprechen. Wir haben ein großes Problem, und das muss
endlich gelöst werden.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat nun Elisabeth Scharfenberg, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In dem zur Debatte stehenden Vierten Bericht zur
Entwicklung der Pflegeversicherung ist unter anderem
ein Kapitel zur Pflegereform enthalten. Deshalb nehme
ich mir heute in meiner relativ kurzen Redezeit die Freiheit, diese Reform anzusprechen.
Gestern ist die öffentliche Anhörung zum Pflege-Weiterentwicklungsgesetz zu Ende gegangen. Ich muss sagen, ich war offensichtlich auf der gleichen Veranstaltung wie Frau Kollegin Mattheis.
({0})
Von „Treffer, versenkt“, lieber Willi Zylajew, kann also
wirklich keine Rede sein. Wir befinden uns mit unseren
Schiffchen hier wohl eher im Auge des Pflegetaifuns.
Offen gesagt: Die Anhörung war alles andere als ein
Erfolg für diese Koalition.
({1})
Thema nachhaltige und gerechte Finanzierung: Die
Finanzierungsmaßnahmen der Pflegeversicherung reichen gerade einmal in die nächste Wahlperiode hinein.
Das wurde von allen Experten und Verbänden bestätigt.
Mit sozialer Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit hat das
nichts zu tun, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Thema Pflegestützpunkte: Ich sage Ihnen ganz klar:
Wir Grünen werden nicht in den Kanon derer einstimmen, die hier freudig das Lied vom Ende der Pflegestützpunkte singen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Zylajew?
Sehr gern.
Frau Kollegin Scharfenberg, wären Sie bereit, zur
Kenntnis zu nehmen, dass der Berichtszeitraum 2001 bis
2005 genau Ihre Regierungszeit abdeckt?
({0})
Das ist richtig. Aber wir befinden uns im Moment in
der Reformphase. Da müssen wir nach vorn schauen und
Dinge, die zu verbessern sind, verbessern.
({0})
Das ist der Sinn der Reform. Davor die Augen zu verschließen, nützt nichts.
({1})
Kollege Zylajew möchte noch einmal nachfragen.
Ich danke Ihnen, dass Sie meine Redezeit so verlängern.
Frau Kollegin Scharfenberg, sind Sie mit mir glücklich darüber, dass die Regierung, die die aus Ihrer Sicht
unguten Entwicklungen 2001 bis 2005 zu verantworten
hat, bei dieser Reform nicht mehr mitgestalten kann?
({0})
Nein, darüber bin ich nicht glücklich. Ich denke, die
damalige Koalition würde, wäre sie noch heute an der
Regierung, zu einem leichteren und letztendlich für alle
Betroffenen, für alle Nutzerinnen und Nutzer besseren
System finden.
({0})
Zurück zum Thema Pflegestützpunkte. Wir fallen
also nicht in den Chor der Unkenrufe ein, die von der
rechten Seite des Plenarsaals kommen. Wir Grünen haben schon, als der erste Entwurf des Reformgesetzes
kursierte und Pflegestützpunkte erwähnt wurden, gesagt,
dass wir diesen Ansatz richtig finden.
({1})
Dazu stehen wir; das finden wir auch weiterhin. Der Ansatz ist richtig; aber die Ausgestaltung und die Aufgaben
der Stützpunkte und Pflegeberater sind es, die dringend
überarbeitet werden müssen. Die Stützpunkte und die
Pflegeberater müssen unabhängig und neutral sein.
({2})
Im bisherigen Konzept sind sie es - das müssen wir ganz
klar sagen - definitiv nicht. Das kann die Ministerin so
oft behaupten, wie sie möchte; sie schafft es nicht, sie
neutral zu reden.
Selbst die Ärzte-Zeitung - bei der wir es nicht unbedingt mit einem linksliberalen Blatt zu tun haben - vom
gestrigen Mittwoch stellt fest - ich zitiere -:
Angesichts der unterschiedlichen Interessen der
Akteure im Milliardenmarkt Pflege und der Tendenz von Politikern, die steigenden Sozialausgaben
zunehmend restriktiv zu steuern, kann die Lösung
nur heißen: Ja zu den Stützpunkten, aber nur mit
unabhängigen Patientenanwälten.
({3})
Auch Pflegebedürftige verdienen Fairness - diese
beginnt mit einer unabhängigen Beratung.
Der Aufbau der Stützpunkte darf nicht nur auf das
Feld der Beratung beschränkt werden. Beratung ist ein
wichtiger, aber nur kleiner und kurzfristig wirkender Teil
dessen, was die Betroffenen letztendlich brauchen. Sie
brauchen darüber hinaus langfristig wirksame, individuelle Hilfen und Begleitung. Sie brauchen ein wirkliches
Fallmanagement, das in ihrem Interesse handelt. Aber
das braucht Unabhängigkeit, Vernetzung und Koordination. Diese Bedingungen erfüllen die Stützpunkte und
Berater bisher nicht. Das ist in der Anhörung mehr als
deutlich geworden.
Nun ein Wort zu den Kollegen der Union.
({4})
Ihr absurdes Modell der Beratungsgutscheine erfüllt das
im Übrigen alles nicht und bringt somit keinen Fortschritt.
({5})
Die wohl wichtigste Aufgabenstellung, die sich aus der
Anhörung für uns ergibt, ist es, die Situation der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen zu verbessern. Dazu
müssen wir uns die Frage stellen, was diese Menschen
- also auch wir, unsere Kinder, unsere Eltern oder unsere
Schwiegereltern - brauchen und wie wir ihnen und uns
zu mehr Selbstbestimmung verhelfen können - und
nicht, was parteipolitisch gerade am besten in den Kram
passt.
Wir befassen uns hier nicht mit Theorie, sondern mit
der Lebensrealität, einer Lebensrealität, die viele Menschen in diesem Land, im Übrigen auch uns selbst, betrifft.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7772 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörn
Wunderlich, Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Arbeit familienfreundlich gestalten - Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Mütter und
Väter lebbar machen
- Drucksache 16/7482 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Jörn Wunderlich das Wort für die Fraktion Die Linke.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Familienfreundliche Arbeitswelt - das klingt
toll. Darüber wird in letzter Zeit viel gesprochen. Die
Arbeitswelt tatsächlich familienfreundlich umzugestalten, ist eine der wesentlichen Zukunftsaufgaben im Rahmen der Familienpolitik. Der Wandel der Familienformen, der Wandel der gesellschaftlichen Rolle von
Frauen und Männern und der Wandel der Arbeit selbst
machen ein Umdenken nötig. Das darf nicht vom Entgegenkommen einzelner Betriebe abhängig gemacht werden.
({0})
- Hören Sie mir doch einmal zu, Frau Lenke!
({1})
Es gibt Betriebe, die familienfreundlich sind. Das
muss man unumwunden anerkennen. In meinem Nachbarort befindet sich auch einer. Das ist ganz toll. Aber
nur 78 Prozent der Beschäftigten arbeiten in Betrieben
mit Betriebsrat, und nur 8 Prozent dieser Betriebe verfügen über eine Vereinbarung, die Familie und Beruf betrifft. Diese Zahlen stehen in einer Informationsschrift
des Bundesministeriums.
In unserem Antrag sind drei wesentliche Forderungen
enthalten: Kündigungsschutz für Eltern ausweiten, Berufsrückkehr fördern und Gestaltung der Arbeitszeit ermöglichen.
({2})
Zum ersten Punkt. Es ist völlig klar, dass Vereinbarkeit von Familie und Beruf nur möglich ist, wenn eine
qualitativ hochwertige und eine für Eltern möglichst beitragsfreie Ganztagsbetreuung zur Verfügung steht. Die
Initiativen hinsichtlich des Krippenausbaus sind zu begrüßen. Aber sie gehen nicht weit genug. Zum Krippenausbau muss auch das Elterngeld hinzukommen. Aber
auch das reicht noch nicht. Es ist nur konsequent, wenn
wir den Kündigungsschutz und gemäß unserem Antrag
auch die Elternzeit ausweiten, die man zumindest bis zur
Einschulung gesplittet nehmen können sollte. Dann ist
es natürlich nur logisch, einen entsprechenden Kündigungsschutz einzufordern, wie es ihn bei der gegenwärtigen Elternzeitregelung gibt.
Für Gewerkschaften und Betriebsräte liegt in dem
Thema auch die Chance, eine Stärkung der Arbeitnehmerrechte zu erreichen; denn wir brauchen eine Stärkung tariflicher, sozialer und arbeitsrechtlicher Standards.
({3})
Es ist auch Aufgabe des Gesetzgebers, diese Gestaltungsmöglichkeiten zu erweitern und kollektive Lösungen zu stärken. Allein ein Appell reicht da nicht aus.
({4})
Mein Gott, was haben wir schon alles für Appelle gehabt. Dann heißt es immer: Toll, die Appelle waren erfolgreich. - Es funktioniert aber nicht. Es geht nämlich
nicht überall so. Das Betriebsverfassungsgesetz ruft Betriebsräte ausdrücklich dazu auf, die Vereinbarkeit von
Familie und Beruf zu fördern, doch nur circa ein Drittel
der Betriebsräte befasst sich mit familienfreundlichen
Maßnahmen. Das ist das Ergebnis der Appelle.
Zweiter Punkt: Berufsrückkehr fördern. Für Familien
mit Kindern und vor allem für Alleinerziehende ist der
Alltag ein schwieriger Balanceakt. Viele kapitulieren
dann vor der letztlich doch noch vorherrschenden Familienunfreundlichkeit in der Arbeitswelt und verlieren
dann auch manchmal ihren Arbeitsplatz. Vor allen Dingen junge Mütter müssen mit dem Risiko leben, dass ihnen nach der Elternzeit der Wiedereinstieg in den Beruf
entweder erschwert oder verwehrt wird und dass sie mit
angeblich familienfreundlichen Minijobs - das ist ein
beliebtes Spiel - abgespeist werden. Deswegen fordern
wir eine Arbeitsplatzgarantie, die eine Rückkehr auf den
gleichen oder zumindest einen vergleichbaren Arbeitsplatz ermöglicht,
({5})
und während der Elternzeit eine weitere Teilhabe am betrieblichen Geschehen durch betriebliche Weiter- und
Fortbildungsmaßnahmen oder möglicherweise sogar
durch die Übernahme kurzer Vertretungen im Betrieb.
({6})
- Die CDU hat bei ihrer Wiesbadener Erklärung ja bei
uns abgeschrieben. Warum sie das macht, wenn es das
alles schon gibt, Frau Griese, verstehe ich nicht.
({7})
Dritter Punkt: Gestaltung von Arbeitszeit ermöglichen. Kinder brauchen Zeit. Zeit spielt in Familien mit
Kindern eine ganz wichtige Rolle. Erwerbstätige Eltern
und Pflegende benötigen mehr Zeitautonomie. Das ist in
der zurückliegenden Familienpolitik kaum beachtet worden. Dieser Fakt ist vielmehr sträflich vernachlässigt
worden. Der Siebte Familienbericht stellt dazu fest, dass
viele Eltern die Balance zwischen Familie und Erwerbsarbeit als unbefriedigend empfinden. 78 Prozent der Beschäftigten, die in Elternzeit sind, wünschen sich Teilzeitangebote, zeitlich begrenzt. Vorschläge erhalten nur
29 Prozent.
Wie es vor Ort aussieht, will ich Ihnen einmal schildern. Ich habe vor ein paar Tagen einen Brief einer jungen, alleinerziehenden Mutter aus Schleswig-Holstein
bekommen. Sie hat einen dreijährigen Sohn und arbeitet
in einem großen Baumarkt, dessen Namen ich an dieser
Stelle nicht nennen will. Nach Ende der Elternzeit wollte
sie mit einer 30-Stunden-Woche wieder anfangen, täglich in der Zeit zwischen 8.30 Uhr und 14.30 Uhr und an
maximal zwei Samstagen monatlich. Das war mit dem
Betrieb nicht hinzukriegen. Seit über einem Jahr klagt
sie sich jetzt wegen dieser Arbeitszeitregelung durch die
Instanzen. Mal bekam sie recht, dann wurde das erstinstanzliche Urteil vom Landesarbeitsgericht aufgehoben, dann bekam sie wieder recht. Inzwischen ist das in
der Revision beim Bundesarbeitsgericht. Im Dezember,
sagte der Betrieb - das ist der letzte Sachstand, den sie
mir mitgeteilt hat -, brauche sie eine Woche nicht zu arbeiten. Man stellte sie wegen einer einstweiligen Untersagung nicht ein. Aber für diese Zeit bekam sie auch
kein Geld. Jetzt muss sie wahrscheinlich auch noch den
Lohn einklagen. Das ist die Kehrseite von familienfreundlichen Betrieben.
({8})
- Das ist der Alltag. - Und vom Betriebsrat hat sie auch
keine Unterstützung bekommen.
Die Gestaltung der Arbeitszeit muss eben stärker den
Interessen der Beschäftigten gerecht werden. Die Arbeitszeit muss verkürzt und auf Männer und Frauen
gleichmäßiger verteilt werden.
({9})
Teilzeitarbeit darf nur noch aus dringenden betrieblichen
Gründen verweigert werden.
Der CDU kann ich nur sagen: Unterstützen Sie unseren Antrag! Er deckt sich ja weitestgehend mit Ihrer
Wiesbadener Erklärung. Insbesondere Punkt 7 der Wiesbadener Erklärung ist ja im Grunde bei uns abgeschrieben, Herr Singhammer. Deswegen können Sie unseren
Antrag völlig ideologiefrei unterstützen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({10})
Ich erteile das Wort Kollegin Eva Möllring, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Herr Kollege Wunderlich, sieben Jahre
Kündigungsschutz pro Kind, Berufsrückkehr in verbesserte Positionen und freie Wahl der Arbeitszeit - Sie bieten Eltern hier ein tolles Kaleidoskop und vergessen dabei, dass auch Mütter und Väter sich im Wettbewerb des
Berufslebens befinden. Wir müssen deshalb aufpassen,
dass wir ihnen mit solchen Vorschlägen nicht mehr
Chancen vermasseln als eröffnen.
({0})
Flexible Arbeitszeit ist tatsächlich ein entscheidender
Faktor für Eltern, wenn es darum geht, Beruf und Familie zu vereinbaren.
({1})
Das ist völlig klar und durch viele Studien über Jahre belegt. Die Hans-Böckler-Stiftung, liebe Kollegen von der
SPD, hat in einer aktuellen Umfrage festgestellt, dass Eltern sich kürzere Arbeitszeiten wünschen und durchschnittlich mit einer Wochenarbeitszeit zwischen 20 und
29,5 Stunden am zufriedensten sind. Deshalb, Frau
Lenke, kann ich mich Ihnen hier ausdrücklich nicht anschließen, wenn Sie wie in der letzten Woche die Teilzeit
verteufeln und Frauen rügen, die Teilzeit arbeiten.
({2})
- Doch.
({3})
Wir sollten nicht so tun, als könnte man einige Kinder
erziehen, gleichzeitig von morgens bis abends im Beruf
arbeiten, die Schwiegereltern pflegen, Wohnung oder
Haus in Schuss halten und Ehrenämter pflegen. Stattdessen muss die Arbeit auf mehrere Schultern verteilt werden. Eine der Lösungen ist, zumindest vorübergehend
die berufliche Arbeitszeit zu reduzieren; das ist völlig
richtig. Damit dies möglich ist, haben wir seit Jahren die
gesetzlichen Grundlagen insbesondere im Arbeitszeitgesetz, im Teilzeitgesetz und im Betriebsverfassungsgesetz
geschaffen. Arbeitnehmer können ihre Arbeitszeit verkürzen, sie haben ein Initiativrecht zur Gestaltung der
Arbeitszeit, und sie können von Nachtarbeit auf Tagesarbeit umstellen. Arbeitgeber dürfen diese Wünsche nur
ablehnen - hören Sie zu, Herr Wunderlich, falls Sie das
noch nicht wissen -, wenn gravierende betriebliche
Gründe entgegenstehen. Genau das, was Sie beantragt
haben, steht also bereits im Gesetz. Sie laufen der Entwicklung leider ein paar Jahre hinterher.
Dass Sie hier als Richter Richterschelte betreiben,
Herr Wunderlich, ist Ihre Sache. Ich schließe mich dem
ausdrücklich nicht an. Sie wissen, dass wir als Gesetzgeber die Unabhängigkeit der Richter nicht reglementieren
und angreifen dürfen.
Das eigentliche Problem ist aber doch, dass viele Eltern befürchten, beruflich zurückzufallen, wenn sie diese
Instrumente tatsächlich nutzen. Deshalb geht es darum,
dass diese Rechte in den Betrieben wirklich akzeptiert
sind und mit einer echten Überzeugung begleitet werden. Was wir deswegen dringend ändern müssen, ist die
Philosophie in den Unternehmen. Gerade auf diesem
Feld, lieber Herr Wunderlich, hat die Bundesregierung
in den letzten zwei, drei Jahren nun wirklich eine unglaubliche Fülle von Erfolgen erzielt und nicht nur Sprüche gemacht und Forderungen gestellt.
({4})
- Sie können gern sagen, Frau Griese, was Sie vorher gemacht haben. Ich konzentriere mich auf die letzten zwei,
drei Jahre, weil in dieser Zeit wirklich enorm viel passiert ist. Ich nenne als Beispiele nur das Unternehmensnetzwerk „Erfolgsfaktor Familie“, bei dem inzwischen
- hören Sie zu - 1 300 Unternehmen Informationen und
Erfahrungen über familienfreundliche Maßnahmen austauschen, und die Lokalen Bündnisse für Familien.
({5})
- Daran sind Sie nicht ganz unschuldig, aber inzwischen
sind dank der Propaganda 360 Kommunen dabei. - In
diesen Bündnissen engagieren sich 2 200 Unternehmen.
Des Weiteren nenne ich das Audit „Beruf & Familie“,
mit dem inzwischen 530 Unternehmen für familienfreundliche Maßnahmen ausgezeichnet wurden.
({6})
- Das werden Sie uns jetzt nicht wegnehmen wollen,
meine lieben Kolleginnen von der SPD.
({7})
Das Bewusstsein für familienfreundliche Berufe
wächst also stetig, und das ist der entscheidende Punkt.
Die Philosophie in den Unternehmen ändert sich wirklich. Heute sind viele Betriebe stolz darauf, familienfreundlich zu sein - das war übrigens vor drei Jahren
noch nicht so -, und das ist der richtige Weg.
Es muss an dieser Stelle aber auch gesagt werden,
Herr Wunderlich, dass es Grenzen bei dem gibt, was ein
Betrieb leisten kann. Eltern können natürlich nicht kommen und gehen, wann sie wollen. Das wissen sie, und
das liegt auch gar nicht in ihrem eigenen Interesse, weil
sie dann nämlich als unzuverlässig gälten.
Das Gleiche gilt für den Kündigungsschutz. Ein Kündigungsschutz, bis das jüngste Kind sieben Jahre alt ist,
Herr Wunderlich, hört sich vielleicht traumhaft an, hat
aber mit der Realität nicht viel zu tun. Bei zwei, drei
Kindern sind das zehn bis 15 Jahre. Wer kann nach dieser langen Zeit noch ohne Weiteres in den alten Beruf
einsteigen?
({8})
Der Trend verläuft da genau entgegengesetzt. Die jungen
Leute wollen früh den Kontakt zum Arbeitsplatz wieder
aufbauen. Deswegen glaube ich eher, dass Sie den Eltern
mit einer so langen Kündigungsfrist einen Bärendienst
erweisen und riskieren, dass man junge Leute, die sich
Kinder wünschen, nicht einstellt.
({9})
Richtig ist, dass während der dreijährigen Elternzeit
ein Kündigungsschutz besteht und die Eltern wieder auf
einen Arbeitsplatz zurückkehren können, der gleich bezahlt wird. Dies schafft Sicherheit, wenn man sich für
Kinder entscheidet und in der frühen Phase viel Zeit für
sie aufbringt. Ich glaube allerdings nicht, dass wir die
Betriebe grundsätzlich verpflichten können, den Arbeitsplatz drei Jahre lang freizuhalten oder die Person, die bis
zur Rückkehr als Vertretung eingesetzt wird, einfach
wieder auszutauschen.
({10})
- Ja. - Das kann auch eine Mutter oder ein Vater sein,
die bzw. der nach der Familienphase wieder in den Beruf
zurückgekehrt ist. Wir würden damit einen Arbeitnehmer gegen den anderen ausspielen.
({11})
- Danke.
Die entscheidenden Faktoren für eine erfolgreiche
Rückkehr an den Arbeitsplatz sind der Kontakt mit dem
Arbeitgeber in der Familienzeit und die betriebliche
Weiterbildung. In diesem Punkt bin ich völlig Ihrer Meinung. Das habe ich in meiner letzten Rede im Bundestag
vor einer Woche schon ausführlich erörtert, sodass ich
das nicht weiter vertiefen muss.
Letztlich muss im konkreten Fall die Balance zwischen den Bedürfnissen der Mütter und Väter und den
Notwendigkeiten am Arbeitsplatz gefunden werden. Ich
bin felsenfest davon überzeugt, dass dabei das zunehmende Engagement gerade von Vätern für ihre Kinder
eine große Hilfe sein wird.
Seit 1991 hat sich die Teilzeitquote von Vätern fast
vervierfacht; überraschend viele Väter nehmen die Elternzeit in Anspruch. Nach meiner Überzeugung wird
diese Entwicklung erheblich dazu beitragen, dass Arbeitgeber mehr Rücksicht auf Familien nehmen, ohne
dass Eltern Nachteile befürchten müssen. Deshalb bin
ich der Meinung, dass wir gerade das Engagement der
Väter weiter stärken müssen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat nun Kollegin Ina Lenke, FDP-Fraktion.
({0})
Meine Damen und Herren! Frau Möllring, ich finde
es sehr putzig, wie Sie mit der Kritik am Bundesgleichstellungsgesetz, das Frauen helfen soll, Erwerbstätigkeit
und Kinder miteinander zu vereinbaren, umgehen.
Durch dieses Schutzgesetz sind mittlerweile 91 Prozent
der Frauen und damit nur 9 Prozent der Männer in Teilzeit tätig.
({0})
Dieses Bumeranggesetz hilft Frauen nicht. Vielmehr haben sie die gesellschaftliche Arbeit noch zusätzlich zugeteilt bekommen. Man muss beides sehr unterschiedlich behandeln. Insofern ist das ungerecht.
Sie sollten endlich die Frauen diskriminierende
Steuerklasse V - die meisten Frauen haben diese Steuerklasse eingetragen - abschaffen.
({1})
Stattdessen haben Sie eine entsprechende Änderungsregelung, für die wir uns alle eingesetzt haben, aus dem
Jahressteuergesetz herausgenommen. Die Frauen sollen
erfahren, wer dies zu verantworten hat.
Herr Wunderlich, es ist sehr wunderlich, wie Sie den
von Ihnen eingebrachten Antrag weichspülen. Die politischen Forderungen in Ihrem Antrag sind überzogen und
irreal. Ihre Vorschläge stammen aus der Wunschkiste
und sind weit von der deutschen Wirklichkeit und den
Erwartungen der Frauen, die sie auch an die Politik haben, entfernt. Fragen Sie die Frauen selbst! Ich habe sie
am Infostand zur Landtagswahl in Niedersachsen gefragt, ob sie sechs Jahre zu Hause bleiben wollen.
Derzeit gibt es in der Elternzeit einen dreijährigen
Kündigungsschutz. Darauf haben wir alle uns geeinigt,
und das ist auch gut und richtig. Wie Sie wissen, wollen
diese Frauen aber schon vor Ablauf dieser drei Jahre in
den Beruf zurückkehren - deswegen investieren wir
schließlich Geld in den Ausbau der Krippenplätze -,
weil sie Karriere machen und auf eine gute Rente hinarbeiten wollen und weil sie Interesse an der Arbeit haben.
Sie wollen beides miteinander vereinbaren. Insofern sind
Ihre Vorschläge kontraproduktiv.
({2})
Ihre Vorschläge, Herr Wunderlich - ich habe mich
ausführlich mit ihnen befasst -, sind Einstellungshindernisse für Frauen, die ins Berufsleben zurückkehren. Sie
sind ein Bumerang für Frauen mit Kindern. Wenn Ihre
Vorschläge umgesetzt würden, würden sie massiv die
Chancen für den Wiedereinstieg von Frauen in den Beruf verschlechtern. Bei so vielen Schutzgesetzen, die zu
berücksichtigen sind, bis ein Kind zwölf Jahre alt ist,
stellen die Unternehmer lieber Männer ein. Das ist nicht
unser Ziel. Ich hoffe, dass wir uns darin gegen die Linken einig sind.
({3})
Sie halten mit Ihrer verfehlten Politik Frauen von einer kontinuierlichen Erwerbsbiografie ab, Sie halten sie
davon ab, eigene Rentenansprüche zu erwerben und ein
existenzsicherndes Gehalt zu erzielen. Sie können einem
Betrieb nicht zumuten, einer Frau ohne weitere Fortbildung ein höheres Gehalt zu zahlen, wenn sie nach sechs
Jahren wieder einsteigt. Das geht nicht. Ich glaube, die
Frauen werden in dieser Beziehung nicht hinter Ihnen
stehen.
({4})
Neben Ihrer Forderung, dass ein Arbeitsplatz in einem Betrieb künftig sechs Jahre freigehalten werden
soll, erheben Sie die Forderung, dass ein Arbeitnehmer
mit Kindern zwölf Jahre lang seine tägliche Arbeitszeit
selbst bestimmen kann. Die Frauen sollen zwölf Jahre
lang bestimmen, wann sie morgens kommen und wann
sie abends gehen. Das steht in dem Antrag der Linken.
Wenn Überstunden anfallen, soll der Arbeitgeber auch
noch die Kinderbetreuungskosten zahlen. Das wird sehr
lustig. Wir haben andere Regelungen, zum Beispiel die
steuerliche Absetzbarkeit. Man kann auch Zahlungen
des Arbeitgebers lohnsteuerfrei und sozialversicherungsfrei gestalten. Es gab Zwischenrufe der Damen von der
SPD - ich glaube, von Frau Griese - mit dem Tenor: Wir
haben schon vieles. - Ihre überzogenen Forderungen
brauchen wir nicht.
Manche von Ihnen - nicht die Jungen von den Linken - haben in der ehemaligen DDR gelebt. Auch ich
hatte meine Verbindungen zur DDR, keine verwandtschaftlichen, aber solche über die Kirche. Ich kann mich
sehr gut daran erinnern, wie die Frauen dort behandelt
worden sind. Es hat nicht immer nur gute Regelungen
gegeben, und wir wollen andere.
Wir haben den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit, wir
haben den gesetzlichen Mutterschutz, wir haben die Arbeitsbefreiung bei Krankheit von Kindern, wir haben das
Kündigungsschutzgesetz, das Elternzeitgesetz, das
Recht auf Fortbildung, und wir haben das Arbeitszeitgesetz. Ich habe garantiert noch viele Schutzgesetze vergessen. Ich habe aber nur fünf Minuten Zeit, und deshalb
kann ich das nicht wie Frau Möllring zehn Minuten ausweiten.
({5})
Das heißt, wir haben Gesetze, die das Leben mit Kindern
erleichtern. Wir werden - da sind wir uns alle einig, auch
die Linken - die Bewegungsspielräume von Müttern und
Vätern, die Familie und Beruf miteinander vereinbaren
wollen, ausweiten und mehr Krippenplätze schaffen. Wir
alle wollen dafür mehr Geld geben. Sie verkünden den
Menschen eine heile Welt.
Zum Schluss möchte ich Folgendes sagen: Sie
behaupten, wo kein Betriebsrat ist, würden die Mütterrechte mit Füßen getreten - ich sage das einmal sinngemäß -, ich aber sage Ihnen: Viele mittelständische Unternehmen geben alles, um qualifizierte Frauen am
Arbeitsplatz zu halten. Deshalb verwahre ich mich dagegen, dass Sie solche Aussagen machen.
({6})
Das Wort hat nun Kollegin Helga Lopez, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ihr
Antrag, Kolleginnen und Kollegen von der Linken, in
Ehren, aber zustimmen können wir dem nicht.
({0})
Wir haben überdeutlich gehört, woran das liegt. Wir halten Ihren Antrag für äußerst kontraproduktiv. Hätten wir
Vollbeschäftigung, könnten wir uns über Ihren Antrag
durchaus sachlich und in aller Ruhe unterhalten. Aber
die haben wir nicht. Deswegen bin ich der absoluten
Überzeugung, dass Ihr Antrag nur zu einem führen
würde: In jedem Auswahlverfahren hätten künftig Eltern, insbesondere Frauen, auch junge Frauen, die noch
nicht Mütter sind, keine Chancen mehr auf Beschäftigung.
({1})
Ich bin fast geneigt, zu sagen, dass ich nicht verstehen
kann, dass ausgerechnet die Linke mit einem Antrag
schlechtere Chancen für Frauen will.
({2})
Arbeitgeber sind immer dann zu Zugeständnissen bereit,
wenn sie einen Arbeitnehmer brauchen. Sie machen keinerlei Zugeständnisse, wenn sie aus einem Pool von vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auswählen
können. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Deswegen
ist der Antrag kontraproduktiv, und deswegen werden
wir ihm nicht zustimmen.
({3})
Wir haben hier gehört, welch immense Anstrengungen die Große Koalition und zuvor Rot-Grün in den letzten Jahren unternommen haben, um Maßnahmen zu treffen, die alle dem Ziel der Vereinbarkeit von Familie und
Beruf dienlich sind. Es gibt in der Tat noch viel zu tun.
Ich komme gleich darauf zurück.
Im Jahre 1975, als ich Mutter wurde, war von Flexibilität keine Rede. Ich war schon verbeamtet, hatte aber
keinerlei Möglichkeit, Teilzeit arbeiten zu gehen. Ich
hatte acht Wochen, höchstens zwölf Wochen Mutterschaftsurlaub. Das war’s. Dann musste ich ganztags arbeiten gehen. Ich fand keinerlei Einrichtung bis zum
Ende der Grundschulzeit, in die ich mein Kind zur Betreuung hätte geben können. Ich musste eine Tagesmutter suchen. Zum Glück habe ich eine hervorragende Tagesmutter gefunden. Für sie musste ich ein Viertel
meines Gehalts aufwenden, aber ich konnte in Ruhe, mit
gutem Gewissen arbeiten gehen; denn ich wusste mein
Kind gut betreut. Die Betonung liegt hier auf „gut“. Genau an der Stelle haben wir noch zu tun.
Ich komme aus dem Bundesland Hessen. Hessen hat
für Kinderbetreuungseinrichtungen die Personalmindeststandards gesetzt; andere Bundesländer haben in anderen
Bereichen Standards gesetzt. Die Personalstandards waren in Hessen also einmal gut. Vor einigen Jahren ist der
Mindestpersonalschlüssel auf 1,5 Fachkräfte pro Gruppe
heruntergesetzt worden. Eine Gruppe umfasst in Hessen
25 Kinder über drei Jahre oder 15 Kinder in altersgemischten Gruppen mit unter Dreijährigen.
({4})
1,5 Fachkräfte, inklusive Vor- und Nachbereitung und
ohne Kompensation für krankheits- oder kurbedingten
Ausfall oder für Weiterbildungsmaßnahmen. Faktisch
bedeutet das, dass tatsächlich nur eine Kraft pro Gruppe
zur Verfügung steht. Ich sage ganz deutlich: Hier gilt es
anzusetzen.
({5})
Qualität und frühkindliche Bildung - das sind unsere
Aufgaben. Die müssen wir angehen. Wir werden darüber
mit den Ländern zu reden haben; wir als Bund haben
aber auch dafür Sorge zu tragen, dass wir nicht nur über
frühkindliche Bildung reden, sondern sie auch mit Leben
erfüllt wird.
({6})
Dafür werden wir uns einsetzen, für Ihren Antrag nicht.
({7})
Das Wort hat nun Ekin Deligöz, Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Herstellung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist
eine zentrale Herausforderung, gesellschaftlich wie ökonomisch. Hier wurde unter Rot-Grün ja auch schon eine
ganze Reihe von Verbesserungen auf den Weg gebracht.
Ein Beispiel dafür ist die Einführung von Elternzeit. Ein
zweites Beispiel dafür ist - es freut mich besonders, dass
Sie, Frau Möllring, das erwähnt haben - die Umsetzung
des Anspruchs auf Teilzeitarbeit. Das freut mich deshalb, weil Ihre Fraktion damals dagegen war. Ich kann
mich noch erinnern, wie in den Debatten mit dem Argument polemisiert wurde,
({0})
dass dadurch viele Arbeitsplätze verloren gingen. Heute
loben ausgerechnet Sie den Anspruch auf Teilzeitarbeit.
Man kann immer dazulernen. An diesem Punkt zeigt
sich, dass Sie von Rot-Grün tatsächlich etwas dazugelernt haben.
({1})
Ein anderer Baustein ist natürlich - ich gebe es zu das Elterngeld. Ich bin ziemlich überzeugt davon, dass
auch das unter Rot-Grün zustande gekommen wäre,
({2})
wenn auch in manchen Punkten in anderer Form.
Ein ganz besonders wichtiger Baustein aber ist das
Tagesbetreuungsausbaugesetz. Hätte es damals nicht so
erheblichen Widerstand im Bundesrat gegen den Ausbau
der Betreuungsangebote für unter Dreijährige gegeben,
wären wir heute um einiges weiter.
({3})
Wir hätten jetzt nicht nur einen konditionierten Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung, sondern würden längst
schon die notwendige Qualitätsdebatte führen. Wir hoffen jetzt, dass es womöglich bis 2013 einen allgemeinen
Rechtsanspruch gibt.
({4})
- Herr Singhammer, hören Sie zu! Sie machen immer
Versprechungen, aber wo bleiben die entsprechenden
Gesetzentwürfe?
({5})
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass uns ein Gesetzentwurf vorliegt, anhand dessen das Ganze besprochen
werden könnte. Im Ausschuss sagt die Ministerin, der
werde irgendwann einmal kommen. „Irgendwann“ ist
mir aber zu unbestimmt.
Auch wenn Sie hier noch so häufig „Wir gewährleisten die Finanzierung“ sagen, weiß ich nicht, was Sie an
Finanzmitteln zur Verfügung stellen. Ich weiß auch
nicht, was die Länder zur Verfügung stellen. Es wird
zwar viel geredet; aber von den Ländern hört man verdammt wenig.
({6})
Genau gesagt, hört man von Länderseite gar nichts. Begeisterung für die Sache klingt etwas anders. Das, was
Sie hier zeigen, ist alles andere als Begeisterung.
Bereitstellung von Betreuungsmöglichkeiten - ja, das
ist eine Grundlage für die Vereinbarkeit von Beruf und
Familie. Zur Vereinbarkeit gehört aber noch mehr, zum
Beispiel Änderungen beim Steuer- und Sozialrecht. Einen Punkt haben Sie schon genannt: die Reform der
Steuerklassen III und V. Dieses Thema ist von dieser Regierung zwar bereits angesprochen worden, aber passiert
ist nichts. Eine solche Reform wäre eine notwendige Änderung der Rahmenbedingungen und damit ein Anreiz
zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Ähnlich ist es übrigens beim Ehegattensplitting und
- da können Sie hier noch so viel lavieren - mit dem Betreuungsgeld.
({7})
Gerade das Betreuungsgeld ist kein Anreiz, erwerbstätig
zu werden, und kein Anreiz, Beruf und Familie zu vereinbaren.
({8})
Sie wollen, dass Mütter zu Hause bleiben. Sie halten an
alten Rollenbildern fest. Die von Ihnen erwünschte Praxis wird auf dem Rücken der Frauen ausgetragen. Ihr
Appell ist: Mütter, bitte, bleibt zu Hause! - Inzwischen
gibt sogar Ihre Fraktion zu, dass die Erwerbstätigkeit
von Frauen das beste Instrument im Kampf gegen Familienarmut ist. Trotzdem wollen Sie, dass Mütter zu
Hause bleiben.
({9})
Dass Mütter zu Hause bleiben, hat Auswirkungen auf
das gesamte Arbeitsleben, auf die Sozialversicherung,
auf die Krankenkassenbeiträge, auf die Rente, auf die soziale Sicherung.
({10})
Angesichts der Kürze meiner Redezeit möchte ich
schnell noch auf den Antrag der Linken eingehen. Sieben Jahre Elternzeit, also sieben Jahre zu Hause zu bleiben, das fällt den Eltern auf die Füße.
({11})
Eltern, die sieben Jahre zu Hause bleiben, bleiben dem
Erwerbsleben und damit den Beitragszahlungen in die
Rentenversicherung fern. Eine Elternzeit von sieben Jahren hat nichts mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu tun. Ihr Vorschlag ist nichts anderes als ein Antivereinbarkeitsvorschlag.
({12})
Rückkehr in den Beruf aus Elternzeit und längerer Familienphase sind übrigens zweierlei. Rot-Grün hat gerade für die Berufsrückkehrer hervorragende BA-Programme geschaffen. In diesem Bereich haben wir die
größten Erfolge erzielt. Was uns fehlt, sind Betreuungsangebote,
({13})
Qualifikationsangebote für Frauen und sozialrechtliche
Änderungen im Hinblick darauf, dass sich die Arbeit
von Frauen rentiert.
({14})
Ihr Antrag mag plakativ sein; aber das, was durch ihn
erreicht werden soll, wird mit den meisten Vorschlägen
nicht erreicht.
({15})
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Dieter
Steinecke, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten
einen Antrag, der schon von seiner Grundannahme her
falsch ist. Ich darf die ersten beiden Sätze wörtlich zitieren:
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf beginnt
am Arbeitsplatz.
Sehr richtig. - Weiter im Zitat:
Das wurde von der Familienpolitik viel zu lange
vernachlässigt.
Diese Aussage hingegen ist falsch und wurde wider besseres Wissen getroffen. Ich möchte den Autorinnen und
Autoren dieses Antrags nämlich nicht unterstellen, dass
sie die erfolgreiche sozialdemokratische Politik für eine
bessere Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsleben
übersehen haben.
Ich möchte hier zunächst auf den umfassenden Aufbau der Tagesbetreuung eingehen. Jedes Kind ab drei
Jahren hat einen gesetzlichen Anspruch auf einen Betreuungsplatz. Wir haben die Grundlage dafür gelegt,
dass ab 2013 auch die Allerjüngsten einen solchen Anspruch haben und dass ein umfassendes und qualitativ
hochwertiges Betreuungsangebot flächendeckend zur
Verfügung steht.
Die Betreuung - das ist uns klar - darf natürlich nicht
mit dem Tag der Einschulung der Kinder enden. Daher
setzen wir auf Ganztagsschulen und fördern den Ausbau
von entsprechenden Angeboten durch das Investitionsprogramm „Zukunft, Bildung und Betreuung“ des Bundes mit insgesamt 4 Milliarden Euro, obwohl wir wissen, dass Bildung eigentlich Ländersache ist. Diesen
Hinweis gestatte ich mir im Hinblick auf die bevorstehenden Landtagswahlen in Hessen und in meinem Heimatland Niedersachsen. In beiden Ländern haben sich
die jeweiligen Landesregierungen, die am Sonntag zur
Abwahl stehen,
({0})
gerade was Zukunftsinvestitionen in Bildung und Betreuung angeht, wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert. In
Niedersachsen wurden die Bundesmittel gern genommen. Dann wurde reichlich in Beton investiert, die erforderlichen Lehrerstunden aber nicht zur Verfügung gestellt. Das hätte ja auch den eigenen Haushalt belastet.
Diese „Ganztagsschule light“ wollen wir nicht; das
reicht uns nicht aus.
({1})
Wir wissen freilich, dass ein umfangreiches Betreuungsangebot nicht die einzige Voraussetzung für eine
gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist. Das wissen wir nicht erst seit gestern: Bereits im Jahre 2003 hat
die damalige sozialdemokratische Familienministerin
Renate Schmidt unter dem Dach „Allianz für die Familie“ Initiativen gebündelt, damit zwischen Familie und
Arbeitswelt eine gute Balance hergestellt werden kann.
Starke Partner aus Wirtschaft, Verbänden und Politik setzen sich öffentlich und beispielhaft für eine neue Unternehmenskultur und Gestaltung der Arbeitswelt ein. Die
„Allianz für die Familie“ basiert auf dem Konsens, dass
unsere Gesellschaft mehr Kinder, unsere Wirtschaft qualifizierte Arbeitskräfte und unsere Kinder eine frühe Förderung brauchen.
({2})
Die familienfreundliche Arbeitswelt liegt also durchaus im Trend. Dass sich ein Mentalitätswechsel vollzieht,
zeigt auch das Projekt „Erfolgsfaktor Familie. Unternehmen gewinnen“. Dieses Unternehmensnetzwerk, dem
sich bislang 850 Betriebe unterschiedlichster Größe angeschlossen haben, gibt Informationen über familienbewusste Personalpolitik. Die Palette familienfreundlicher
Maßnahmen reicht von der flexiblen Arbeitszeitgestaltung über Eltern-Kind-Büros bis zur Notfallbetreuung.
Ein weiterer Baustein sind die lokalen Bündnisse für
Familie, die ebenfalls auf eine Initiative von Renate
Schmidt zurückgehen. Mittlerweile gibt es bundesweit
mehr als 450 solcher Bündnisse, die an mehr als
660 Standorten tätig sind und die Wohnorte von mehr als
der Hälfte aller Menschen in unserem Land abdecken.
Wir Sozialdemokraten haben umfangreiche Maßnahmen für ein kinderfreundliches Deutschland angepackt
und in den Koalitionsverhandlungen dafür gesorgt, dass
diese erfolgreiche Politik fortgesetzt wird.
Abschließend stelle ich fest: Natürlich sind die Lebenslagen junger Eltern und Mütter nicht frei von Problemen. Selbstverständlich gibt es noch viel zu tun, damit Familienleben und Arbeitsleben in Deutschland
noch besser in Einklang gebracht werden können. Ich
habe aufgezeigt: Wir Sozialdemokraten beschreiten seit
Jahren einen erfolgreichen Weg, und wir werden ihn
weitergehen. Dafür brauchen wir gute Ideen und Durchsetzungskraft. Was wir nicht brauchen, sind Anträge wie
den, über den wir heute sprechen.
Ich danke Ihnen.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7482 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einVizepräsidentin Petra Pau
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Künast, Bärbel Höhn, Cornelia Behm, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Den Klimawandel wirksam durch Urwaldschutz bekämpfen - Agrarüberschüsse in den
Erhalt der Urwälder investieren
- Drucksache 16/7710 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Cornelia Behm von der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben Ihnen heute einen Antrag vorgelegt, der darauf abzielt, die Agrarüberschüsse der EU
dem Urwaldschutzprogramm der Weltbank zum Teil zur
Verfügung zu stellen. Das ist nicht einfach nur eine gute
grüne Idee, sondern wichtig und begründet. Es gibt einen
Sachzusammenhang. Ich will Ihnen gerne erläutern, warum ich das so sehe.
Unser Planet ist zu etwa 30 Prozent mit Wald bedeckt.
Das entspricht knapp 4 Milliarden Hektar. Die ausgedehntesten Waldgebiete sind die borealen Wälder in
Finnland, Sibirien und Kanada. Sie machen immerhin
1,4 Milliarden Hektar, also ein Drittel der Gesamtwaldfläche, aus.
Hinzu kommen die tropischen Regenwälder - in der
Debatte wird immer wieder über sie gesprochen - in
Mittel- und Südamerika, in West- und Zentralafrika sowie in Südostasien. 1950 schätzte man die Flächengröße
der tropischen Regenwälder auf 16 bis 17 Millionen
Quadratkilometer. 1982 ergaben die Schätzungen eine
Fläche von 9,5 Millionen Quadratkilometern. Drei Jahre
später betrug die Fläche 1 Million Quadratkilometer weniger. So ging es immer weiter bergab.
Wald ist der größte CO2-Speicher, insbesondere aufgrund der hohen Produktivität der Tropenwälder. Der
Wald ist das größte Landökosystem mit der größten Artenvielfalt. Allein im tropischen Regenwald leben zwei
Drittel der landgebundenen Arten. Das sind gute Gründe,
die Waldökosysteme zu schützen und sie, wenn man sie
nutzt, nachhaltig zu bewirtschaften.
({0})
Die Waldvernichtung, der Raubbau am Wald, hält an,
trotz früher Erkenntnisse; ich erinnere an die EnqueteKommission „Schutz der Erdatmosphäre“ und an den
Bericht „Schutz der tropischen Wälder“ von 1990. Die
Hauptursachen für die Waldvernichtung sind der illegale
Holzeinschlag und die Umwandlung in Acker- und Weideflächen. Zurzeit befinden sich 1,4 Milliarden Hektar
rechtmäßig unter dem Pflug. Die Flächenreserve in
Nord- und Lateinamerika beträgt 5 Prozent und ist damit
sehr gering. Der Druck auf die Fläche ist ungeheuer
groß. Ich verweise auf den Artikel von Emilio Rappold,
der heute von dpa veröffentlicht wurde: „Gier nach
Fleisch und Soja tötet den Amazonas-Urwald in Rekordtempo.“
Man muss die Waldvernichtung verhindern. Aber
wie?
Erstens. Wir haben ein Urwaldschutzgesetz vorgelegt,
um den Handel mit illegal eingeschlagenem Holz zu verbieten. Die Umsetzung wäre ein Weg gewesen, Waldvernichtung zu verhindern. Sie haben das abgelehnt. Eine
entsprechende Regelung fehlt noch immer.
Zweitens. Waldvernichtung kann verhindert werden
durch Unterschutzstellung, also durch die Schaffung von
Nationalparks mit Nutzungseinschränkungen bzw. -verboten. Weltweit gibt es in rund 120 Ländern mehr als
2 200 Nationalparks. Ich möchte einen Vergleich anstellen: Deutschland hat 2,6 Prozent des Bundesgebietes unter Schutz gestellt und 13 Nationalparks geschaffen. In
Kanada gibt es immerhin 43 Nationalparks. Das arme
Tansania hat ein Viertel der Landesfläche unter Schutz
gestellt. Brasilien hat Ende 2006 das größte Urwaldschutzgebiet der Erde geschaffen; es umfasst 16 Millionen Hektar und ist damit fast halb so groß wie Deutschland.
Der gewaltige Nutzungsdruck auf die Fläche erfordert
aber nicht nur die Ausweisung von Schutzgebieten, sondern auch deren Sicherung. Wälder müssen nachgeforstet und neu begründet werden. Es müssen finanzielle
Anreize für die Flächenbesitzer geschaffen werden, damit der Raubbau eingedämmt wird.
({1})
Dafür brauchen diese armen Länder Geld. Es ist nur gerecht, dass die Industrieländer als Beitrag zum internationalen Klima- und Biodiversitätsschutz gewisse Kompensationszahlungen an diese Länder leisten; denn die
Industrieländer verschmutzen die Umwelt, sie importieren Futter und andere Agrarprodukte in einer Größenordnung, die den Druck auf die Flächen weiter erhöht,
und sie selbst haben kaum noch Urwälder. Ich erinnere
daran, dass es in Deutschland keine Urwälder mehr gibt
und nur 2,6 Prozent der Fläche unter Schutz gestellt
sind.
Wenn Sie sich fragen, warum gerade nicht verbrauchte Haushaltsmittel der Agrarpolitik dafür verwendet werden sollen, dann möchte ich auf den folgenden
Sachzusammenhang verweisen: 10 Prozent der Treibhausgasemissionen, die die globale Erwärmung antreiben, kommen aus der Landwirtschaft. Es muss alles dafür getan werden, dass die globale Erwärmung unter
2 Grad bleibt.
({2})
Es muss alles dafür getan werden, dass die Artenvielfalt
nicht weiter so rasant abnimmt.
Jeder muss dazu den Beitrag leisten, den er zu tragen
imstande ist. Die EU kann leisten, was wir in unserem
Antrag gefordert haben, nämlich 200 Millionen Euro -
Kollegin Behm, diese Erläuterung müssen wir auf die
nächste Beratung verschieben. Sie müssen bitte zum
Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. - Die EU kann der Forest
Carbon Partnership Facility 200 Millionen Euro Restmittel aus dem Agrarhaushalt 2007 zur Verfügung stellen; denn so besteht immerhin die Chance, dass die ärmeren Länder mit ihrem großen Reichtum an Urwäldern
ihren Beitrag zum globalen Klimaschutz leisten können.
({0})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Cajus
Julius Caesar das Wort.
({0})
Verehrte Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Erhalt unserer Urwälder ist von herausragender Bedeutung. Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir alle
dafür kämpfen und uns dafür einsetzen, und zwar über
Parteigrenzen und auch über Ländergrenzen hinweg. Es
ist ein Herzensanliegen der Union und auch mein persönliches Herzensanliegen - das habe ich schon in der Vergangenheit von hier aus in diesem Hause vorgetragen -,
dass wir dieser Waldvernichtung Einhalt gebieten. Deshalb setze ich auf Sie alle, dass wir gemeinsam dafür
kämpfen, dieses Ziel zu erreichen.
({0})
Die Zerstörung schreitet maßgeblich voran. Die Bedeutung der Urwälder ist groß. Dort kommen rund
3 500 Arten vor und sehr viele weitere Pflanzenarten.
Dies ist für die Artenvielfalt von großer Wichtigkeit.
Aber wir müssen auch feststellen, dass rund 1 000 Arten
vom Aussterben bedroht sind. Wir stellen fest, dass jährlich rund 13 Millionen Hektar Tropenwald zerstört werden. Das heißt, der Wald verschwindet vollständig. Nur
rund die Hälfte dieser Fläche wird wieder bepflanzt und
davon nur ein Teil als Wald, ein Großteil mit Palmölplantagen, die dazu dienen, den Ertrag zu steigern, aber
unter dem Gesichtspunkt der Biodiversität einen deutlich
geringeren Wert haben. Der Ertrag dieser Plantagen liegt
jedenfalls sehr hoch. Vieles wird nicht weiter genutzt.
Nach einer vorübergehenden landwirtschaftlichen Nutzung wird die Fläche ausgelaugt, der Feinboden verschwindet durch Erosion. Es bleibt nur noch brauner Boden. Das Gebiet wird zur Steppe, und die Wüste schreitet
voran. Diese Beispiele zeigen: Wir müssen dies verhindern.
({1})
Ich habe ein Bild aus Indonesien mitgebracht.
({2})
Dort sieht man, wie zerstörerisch die Wirkung einer solchen Vorgehensweise ist und dass dringender Handlungsbedarf an dieser Stelle gegeben ist.
Betrachten wir einmal einige Länder. In der Elfenbeinküste sind von ursprünglich 15 Millionen Hektar
noch rund 3 Millionen Hektar Tropenwald vorhanden. In
Indonesien, das die größten Waldvorkommen hat, ist in
den letzten Jahren noch etwa die Hälfte übrig geblieben
und die teilweise nicht einmal im Urzustand. Hinzu
kommt, dass in Madagaskar 80 Prozent vernichtet wurden und nur noch 20 Prozent vorhanden sind. In Nigeria
haben wir 90 Prozent des Regenwaldes verloren.
Wir stellen den Klimaschutz vorne an; er ist von großer Bedeutung. Diese Bundesregierung hat bei den Verhandlungen auf internationaler Ebene Herausragendes
geleistet und die nationalen Ziele als Vorbildfunktion vorangestellt. Ich denke, wir können uns sehen lassen. Wir
danken unserer Bundeskanzlerin, Angela Merkel, wir
danken dem Umweltminister und auch der Bundesregierung dafür, dass sie hier so aktiv waren und so viel umgesetzt haben.
({3})
Ich denke, dass es wichtig ist, dass man die Verhältnismäßigkeit des Einsatzes der finanziellen Ressourcen
sieht. Angesichts der Zerstörung der Regenwälder müssen wir schauen, dass wir uns international mehr engagieren; denn auch mit geringeren finanziellen Ressourcen ist in Projekten letztendlich viel zu erreichen.
In Indonesien - dort gibt es etwa 20 Millionen Hektar
Torfregenwald - werden in einen Hektar etwa 4 000 Tonnen reiner Kohlenstoff gespeichert. In den Wäldern in
Deutschland sind es ungefähr 150 Tonnen pro Hektar.
Auch das zeigt die große Bedeutung.
Wir sehen die zerstörerischen Kanäle. Zunächst einmal wird der Torfregenwald trockengelegt. Dann erfolgt
durch kilometerlange Kanalsysteme die Entwässerung.
Dann entstehen Brände. Wir haben der Medienberichterstattung entnehmen können, dass bei den Bränden auf
Borneo so viel CO2 freigesetzt wurde, wie Deutschland
im Rahmen des Kioto-Protokolls in den letzten zehn Jahren eingespart hat. Daran erkennt man die große Bedeutung der Maßnahmen zum Schutz der Wälder. Wir alle
sind aufgerufen, hier aktiv zu werden.
({4})
Ihr Antrag „Den Klimawandel wirksam durch Urwaldschutz bekämpfen - Agrarüberschüsse in den Erhalt
der Urwälder investieren“ geht im Bereich des Urwaldschutzes in die richtige Richtung. Natürlich muss man
darauf achten, dass man Geld nicht zweimal verteilen
kann. Die Mittel, die im Jahr 2007 für die Landwirtschaft bereitgestellt wurden, sind aufgrund entsprechender Beschlüsse bereits im Rahmen von Projekten gebunden. Die Experten und die Verantwortlichen sagen, dass
im Jahre 2008, wenn man seriös handelt, keine zusätzlichen Gelder zur Verfügung stehen werden. Denn es ist
so: Wenn man das Budget überschreitet, dann sind diese
Gelder durch nationale Mittel abzudecken. Wenn man
Anträge formuliert und einbringt, dann muss man auch
seriöse Finanzierungsvorschläge machen. Da Sie das in
Ihrem Antrag nicht getan haben, können wir ihm nicht
zustimmen.
Ich darf an dieser Stelle sagen: Die Bundesregierung
hat auch im Haushalt 2008 entsprechende Akzente gesetzt. Für den Tropenwaldschutz stehen in diesem Haushalt 125 Millionen Euro zur Verfügung. Weitere 40 Millionen Euro stehen für den Schutz der biologischen
Vielfalt zur Verfügung; in den Jahren 2009 und 2010
wird dieser Betrag um jeweils 15 Millionen Euro jährlich aufgestockt. Das sind, wie ich denke, Aktivitäten
der Bundesregierung, die man würdigen sollte.
({5})
Uns ist wichtig, im Interesse unserer Kinder bzw. der
zukünftigen Generationen tätig zu werden. Deshalb hat
die Bundesregierung aus Union und SPD richtungsweisende Beschlüsse gefasst. So werden auch für internationalen Maßnahmen in diesem Bereich Gelder zur Verfügung gestellt, und zwar aus dem Erlös des Handels mit
den Emissionsrechten. Für Maßnahmen, die nicht auf
nationaler, sondern auf internationaler Ebene durchgeführt werden, stehen über 100 Millionen Euro zur Verfügung. Das muss man auf all die Ansätze, die ich gerade
genannt habe, noch draufsetzen. Wenn man das tut, stellt
man fest: In finanzieller Hinsicht gehen wir weit über die
in Ihrem Antrag formulierten Forderungen hinaus. Ich
denke, der Weg der Bundesregierung ist richtig.
({6})
Ich darf auf weitere Aktivitäten hinweisen. Nach der
diesjährigen CBD-Konferenz übernimmt Deutschland
für zwei Jahre ihren Vorsitz. Wir werden uns für die biologische Vielfalt in diesem Bereich maßgeblich einsetzen. Die Koalitionsfraktionen werden mit Blick auf
diese Konferenz ganz konkrete Vorschläge erarbeiten
und einen entsprechenden Antrag auf den Tisch legen.
Wir können aktuell bereits Erfolge vorweisen, zum Beispiel die Selbstverpflichtung der Holzwirtschaft im Rahmen des EU-Aktionsplans FLEGT.
Es kommt darauf an, dass Kontrollmechanismen entwickelt werden, die dazu beitragen, dass die Maßnahmen, die wir bereits eingeleitet haben, umgesetzt werden. Es ist wichtig, dass konkrete Vorschläge entwickelt
werden - ich nenne beispielsweise den Vorschlag des Erwerbs von Konzessionen -, um eine nachhaltige Bewirtschaftung sicherzustellen. Denn die Menschen vor Ort
brauchen diese Einnahmen, um überleben zu können.
Wir müssen die Menschen, die vor Ort leben und arbeiten, mit einbeziehen. Das ist eine wichtige soziale Komponente. Darüber hinaus müssen wir für eine nachhaltige
Bewirtschaftung der Wälder mit schützenswerten Kernzonen eintreten. Das ist der richtige Weg, den Union und
SPD gemeinsam vorschlagen, weitergehen und erfolgreich zu Ende gehen werden.
Es ist sehr wichtig, der Tropenwaldvernichtung Einhalt zu gebieten. Ich denke, ich darf sagen: Wir treten
gemeinsam für die Erhaltung des Urwaldes ein. Wir wollen eine nachhaltige Entwicklung, um die Lebensgrundlagen für die zukünftigen Generationen zu sichern. Die
Union und die Koalition sind auf dem richtigen Weg.
Wir werden erfolgreich sein.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat der Kollege Hans-Michael Goldmann
für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich will nahtlos an das anknüpfen, was
Herr Caesar zuletzt gesagt hat: Ich bin angesichts der
Aufgaben, vor denen wir stehen, sehr dafür, Gemeinsamkeiten herauszustellen. Man muss dennoch genau
hinschauen, was in einem Antrag steht und welche Zielsetzungen damit verbunden sind.
Die FDP hat sich für Klimaschutz in besonderer
Weise eingesetzt; die Aktivitäten meiner Kollegin Christel Happach-Kasan im federführenden Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz sind ja
bekannt. Wir haben einen Antrag eingebracht, die Wälder als CO2-Senken anzuerkennen. Wir sind sehr daran
interessiert, Ökowaldsysteme zu schützen. Wir haben
darüber hinaus ein Positionspapier für Klimaschutz
durch effektive Landwirtschaft entwickelt. Gesichtspunkte der Nachhaltigkeit sind uns also nicht fremd.
Lieber Kollege Caesar, Sie haben ein Bild von Indonesien gezeigt. Ich will hier keinen Bruch zwischen uns
beiden herstellen, muss aber sagen: Gerade Sie als
Große Koalition müssen sich fragen, ob Sie Indonesien
mit Ihrer Politik der Biokraftstoffquote, mit dem Beimischungszwang, helfen.
({0})
Ich glaube, dass der Beimischungszwang dazu führen
wird, dass der Raubbau in diesen Regionen voranschreitet, weil sich die Kleinen vor Ort gegen die Großen - gegen die, die in Europa die Ölpolitik bestimmen - nicht
wehren können.
Lassen Sie mich jetzt etwas zu den Grünen sagen. Die
Grünen haben bis jetzt für sich in Anspruch genommen
- wir haben sie dabei begleitet; später haben das auch
die Sozialdemokraten und dann auch die CDU/CSU getan -, den deutschen Bauern, den europäischen Bauern
mit einer verlässlichen Politik Planungssicherheit zu geben. Minister Seehofer hat gestern im Ausschuss noch
einmal deutlich gemacht, dass wir daran festhalten wollen. Das heißt, die Mittel, die die europäische Ebene für
die Landwirtschaft, aber auch für den ländlichen Raum
bereitstellt, stehen bis 2013 nicht zur Disposition.
({1})
Deshalb ärgert es mich, liebe Cornelia Behm, wenn
von Frau Künast ein Gastbeitrag zu lesen ist, in dem sie
erklärt, die Agrarsubventionen - die den größten Posten
im EU-Haushalt ausmachen - gehörten endlich abgeschafft, während die Grünen im Ausschuss einen Antrag
nach dem anderen stellen - zuletzt den Antrag auf
Drucksache 16/7709 zum „Gesundheitscheck der europäischen Agrarpolitik“ -, in dem sie mehr Geld für Klimaschutz fordern, in dem sie mehr Geld für den ländlichen Raum fordern, in dem sie mehr Geld für ein
Wassermanagement und ähnliche Dinge fordern, in dem
sie eine Erhöhung der Modulationsmittel fordern. Das ist
nichts anderes als ein Umschichten von sogenannten
Subventionen. Den Grünen fehlt es in diesem Fall an jeder Form von Glaubwürdigkeit. Das ist außerordentlich
bedauerlich.
({2})
Liebe Cornelia Behm, ich bin dafür, wie Herr Caesar
es aufgezeigt hat, etwas für den Urwald und die Ökosysteme zu tun. Das ist gar keine Frage. Aber es kann nicht
angehen, dass wir ausgerechnet jetzt, wo endlich ein
bisschen Spielraum für die Landwirtschaft entsteht, wo
die Milchbauern anfangen, aufzuatmen, weil sie erstmals
in der Lage sind, mit Grünland - das, nebenbei gesagt,
eine hervorragende Ökobilanz hat - Ertrag zu erwirtschaften, ihr diesen gleich wieder nehmen. So kann Politik in diesem Bereich nicht betrieben werden.
({3})
Wie gesagt, es ärgert mich, wenn jetzt im Rahmen der
Grünen Woche in der Presse zu lesen ist, was Frau Künast sagt, und ihr im Ausschuss genau das Gegenteil davon fordert. Das ist wirklich nicht glaubwürdig, das
schadet unserer gemeinsamen Sache.
Lassen Sie uns gemeinsam den Weg beschreiten, wie
Herr Caesar das beschrieben hat, wirkliche Hilfe zu gewähren! Lassen Sie uns aber auch den heimischen Landwirten Planungssicherheit geben! Wir sind im Moment
gerade dabei, die Idee der regionalen Vermarktung, die
Idee der ökologischen Agrarwirtschaft weiter zu verankern. Dafür brauchen die Landwirte in Deutschland verlässliche Rahmenbedingungen. Im Grunde genommen
seid ihr Grünen doch die Miterfinder der Kulturlandschaftsprämie, mit der bis 2013 umgeschichtet wird:
dass nicht mehr die Produktion gefördert wird, sondern
das gute fachliche Tun auf der Fläche. Cross Compliance
ist doch nichts anderes als praktizierter Umweltschutz,
praktizierter Naturschutz und praktizierter Verbraucherschutz.
({4})
Ich bitte euch sehr, in diesen Fragen nicht dauernd Widersprüche in den Raum zu stellen, sondern eine Linie
zu fahren, die uns gemeinsam voranbringt.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Heinz Schmitt aus der SPDFraktion.
({0})
Vielen Dank. - Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Durch die Vorreden haben
wir uns schon über den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen informieren können. Ich denke, dem in dem Antrag
genannten Ziel können wir alle zustimmen, insbesondere
die Fachpolitiker, die sich mit der Klimapolitik und dem
Schutz der Vielfalt des Lebens, also der Biodiversität,
beschäftigen. Beide Themen gehören unmittelbar zusammen. Ohne Klimaschutz gibt es keine Fortschritte
beim Schutz der Biodiversität - und natürlich umgekehrt.
Urwälder - in der Regel Tropenwälder - sind von herausragender Bedeutung für das Weltklima. Sie sind riesige Speicher für das Klimagas CO2. Man sagt zum Beispiel auch, das Amazonasgebiet sei die grüne Lunge der
Erde. Urwüchsige Wälder sind auch Schatzkammern der
biologischen Vielfalt.
Es gibt also mehr als einen Grund, diese speziellen
Ökosysteme verstärkt zu schützen. Dennoch werden
diese Waldgebiete in einem atemberaubenden Tempo
zerstört. Während der 30 Minuten, die wir hier debattieren, verschwindet weltweit eine Waldfläche in der Größe
von über 1 000 Fußballfeldern. In einem Jahr verlieren
wir eine Waldfläche in der Größe des Bundeslandes
Bayern, das ja kein kleines Bundesland ist.
Um diese verheerende Entwicklung zu stoppen, müssen wir rasch handeln. Mit welchen Instrumenten dies
geschehen soll, das ist die Frage. Darüber haben wir
heute auch schon gesprochen.
Gerade beim Schutz der Tropenwälder handelt
Deutschland vorbildlich. Deutschland ist an verschiedenen Projekten beteiligt, zum Beispiel an der Waldpartnerschaft für das Kongobecken und am Programm Asia
Forest Partnership. Außerdem unterstützen wir das brasilianische Pilotprogramm zur Erhaltung der tropischen
Regenwälder, und wir beteiligen uns am Kampf gegen
den illegalen Holzeinschlag im Rahmen des EU-Aktionsplans FLEGT.
Heinz Schmitt ({0})
Jetzt komme ich zu Ihrem Antrag. Es gibt bereits die
feste Zusage, eine ganz neue Initiative unter dem Dach
der Weltbank zu unterstützen. Deutschland hat
40 Millionen Euro für die sogenannte Forest Carbon
Partnership Facility bereitgestellt. Die FCPF - so die
Abkürzung - ist zunächst ein Pilotprojekt. Damit sollen
die Entwicklungsländer unterstützt werden, die ihre
Wälder langfristig schützen und damit Emissionen, die
durch Entwaldung entstehen, vermeiden helfen.
Die Weltbank und die beteiligten Geberländer wollen
mit der FCPF Erfahrungen und Wissen sammeln. Diese
Pilotphase ist vom Jahr 2008 bis zum Jahr 2012 angesetzt. Falls die Errichtung dieser Waldpartnerschaft erfolgreich sein wird, soll daraus mittelfristig ein weltweites Programm für den Waldschutz entwickelt werden.
Dieses Vorhaben geht mit dem Beschluss der Weltgemeinschaft auf der Konferenz in Bali einher, wo das
Thema Emissionen durch Entwaldung zu einem zentralen Thema der Verhandlungen bis 2009 gemacht wurde.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die
Grünen, dass Sie mit Ihrem Antrag einen so hohen Beitrag von der EU fordern, geht also an den bereits beschriebenen Vorhaben der Weltbank vorbei. Wie gesagt:
Die FCPF ist noch ein Versuch. Das sollte man wissen.
Die benötigten Mittel dafür belaufen sich auf
250 Millionen Dollar für einen Zeitraum von fünf Jahren. Ein großer Betrag davon ist bereits fest zugesagt,
insbesondere aus den EU-Ländern. Es besteht aber ein
weiterer Finanzierungsbedarf. Die in Ihrem Antrag genannten 200 Millionen Euro sind dabei bei weitem zu
hoch angesetzt. Bevor neue Geldgeber angesprochen
werden, müssen die Einzelheiten dieses neuen Instrumentes abschließend geklärt und untersucht werden.
Ein ganz wichtiger Punkt: Es ist auch zu überlegen,
ob eine so wichtige Aufgabe wie der Urwaldschutz generell aus ungenutzten Haushaltsmitteln finanziert werden sollte. Der Schutz der Wälder in den Tropen sollte
nicht aus Restposten finanziert werden. Sollte sich die
FCPF bewähren, dann kann man sicherlich auch über
eine ordentliche Finanzierung des Urwaldschutzes durch
die EU nachdenken.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, aus diesen Gründen müssen wir Ihren Antrag ablehnen, so leid es mir persönlich auch tut.
Im Ziel sind wir uns dennoch einig.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Heike Hänsel das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Waldschutz ist ein lebenswichtiges, ja überlebenswichtiges Thema. Es ist gut, dass das Problem der Entwaldung
in Bezug auf die zunehmende Erderwärmung - auch im
Umfeld von Bali - wieder stärker ins Blickfeld geraten ist.
Indonesien wurde bereits als Beispiel genannt. Aufgrund
großflächiger Abholzungen steht dieses Land mittlerweile
auf Platz drei der Liste mit den weltweit größten Emittenten von klimaschädlichen Gasen. Sollten die bis zu
20 Meter dicken Torfböden unter den Wäldern ZentralKalimantans vollständig trockengelegt werden, würden
50 Milliarden Tonnen CO2-Äquivalent nach und nach
freigesetzt. Das entspricht ungefähr dem 50-Fachen des
CO2-Ausstoßes Deutschlands. Diese Zahlen zeigen ganz
klar: Tropenwaldschutz ist nicht nur Schutz der Biodiversität, sondern immer auch Klimaschutz.
({0})
Wir unterstützen die Grünen bei dem eigentlichen
Ziel ihres Antrags. Aber das vorgeschlagene Instrument
lehnen wir ab. Die Forest Carbon Partnership Facility
der Weltbank, um die es hier geht, ist in unseren Augen
leider der direkte Weg, den Regelwaldschutz in den Handel mit Treibhausgaszertifikaten einzubinden. Genau das
halten wir für einen falschen Weg.
({1})
Bereits jetzt ist die Bundesrepublik der größte Geber der
PCFC. Das ist kein Wunder; denn das BMZ hat sie über
Jahre mitentwickelt. Von den 100 Millionen Euro kommen allein 40 Millionen Euro aus Deutschland. Die Grünen wollen nun, dass die EU noch einmal 200 Millionen
Euro draufpackt. Aber wofür? Zunächst sollen 20 Länder fit gemacht werden, damit sie in der Lage sind, den
wirtschaftlichen Wert des Waldes und der Abholzungen
monetär zu erfassen. Im zweiten Schritt sollen ausgewählte Länder für vermiedene Abholzungen entlohnt
werden. Das hört sich erst einmal gar nicht so schlecht
an. Doch letztendlich läuft das Ganze darauf hinaus, vermiedene Abholzungen in ein Handelssystem mit Treibhausgasen einzubeziehen.
({2})
Es geht gerade nicht darum, einen Fonds zu bilden, um
großflächig Schutzgebiete zu finanzieren und gegebenenfalls Nutzer zu entschädigen. Eine solche Strategie
würden wir unterstützen. Indonesien hat gerade erst angeboten, für 5 bis 15 Dollar pro Hektar dafür zu sorgen,
dass die Entwaldung in Kalimantan unverzüglich gestoppt wird. Ähnliche Angebote der Kompensation kamen aus anderen Waldländern. Seltsamerweise hat niemand auf Bali darauf reagiert. Die Weltbank hatte gerade
die PCFC aus dem Hut gezaubert.
Klimapolitisch ist die Einbindung des Tropenwaldschutzes in Kohlenstoffmärkte im besten Fall ein Nullsummenspiel. Das, was an Abholzung und damit an
Emissionen vermieden würde, würde über den Emissionsrechtehandel automatisch in Europa mehr ausgestoßen. So funktioniert dieser Markt. Der Rückgang der
Entwaldung muss in unseren Augen aber zusätzlich zu
den Reduktionsverpflichtungen der Industriestaaten erfolgen. Ansonsten verfehlen wir das 2-Grad-Ziel.
({3})
Abgesehen davon bestehen jede Menge ungelöste
methodische Probleme. Wie werden beispielsweise
Baseline und Referenzszenario bestimmt? Gehen wir
hier von sinkenden Abholzungsraten wie in Brasilien
oder von steigenden wie in Indonesien aus? Wandern
Abholzungen nach Zertifikatszuteilung einfach in andere
Gebiete? Wer bekommt überhaupt Zertifikate? Was passiert, wenn der Wald zum Beispiel durch Blitzschlag abbrennt? Das zusätzliche CO2, das über den Zertifikatsweg in Europa dann bereits ausgestoßen wurde, bleibt
schließlich mehr als 100 Jahre in der Atmosphäre.
Klar ist: Es ist ein höchst kompliziertes System mit
jeder Menge Manipulationsmöglichkeiten. Wir kennen
das leidlich von den CDM-Projekten. Wir halten deshalb
die direkte Finanzierung von Schutzgebieten, nachhaltiges Waldmanagement und gegebenenfalls Nutzerentschädigungen für eine bessere Lösung, und zwar immer
unter Einbeziehung der in und von den Wäldern lebenden Bevölkerung. Wir wissen, dass das kein einfacher
Weg ist. Es ist aber in unseren Augen der bessere Weg.
Danke.
({4})
Das Wort hat der Kollege Dr. Sascha Raabe für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir reden jetzt zum wiederholten Male in dieser Legislaturperiode über das Thema Urwaldschutz, auf der
Grundlage verschiedener Anträge und in verschiedenen
Zusammenhängen. Das ist sicherlich gut angesichts der
zeitlichen Dimension der Entwaldung. Manchmal denke
ich aber auch, dass diese Debatten, die wir führen, später
einmal als historische Debatten betrachtet werden, dass
eine Politikergeneration nach uns sich nur noch in
schriftlicher Form darüber informieren kann, über was
wir hier eigentlich geredet haben; denn es kann gut sein,
dass wir in 10 oder 15 Jahren solche Debatten gar nicht
mehr führen können, weil dann das, über das wir hier reden, nicht mehr vorhanden ist.
In dem Sinne, Frau Kollegin Hänsel, ist es schon fragwürdig, wenn Sie hier das Instrument der Forest Carbon
Partnership Facility an sich infrage stellen. Natürlich
wäre es schön, es würde so viel Geld vom Himmel regnen, dass wir alles auf einmal finanzieren könnten. Aber
ich glaube, wenn wir die Möglichkeit haben, über einen
internationalen Fonds die Entwaldung zu stoppen und
der Zerstörung Einhalt zu gebieten, dann ist es auch gerechtfertigt, das in den Kohlenstoffhandel ein Stück weit
einzubeziehen. Wir müssen sehen, dass ein Land wie Indonesien ganz legal ein Drittel seiner verbleibenden
Waldfläche zur Konversion freigegeben hat, um dort
Palmölplantagen errichten zu können. Das machen die
nicht aus Jux und Tollerei; Indonesien ist ein armes
Land. Die CO2-Emissionen, die daraus entstehen, sind
real; das ist kein theoretisches Rechenspiel. Ich glaube
schon, dass es Sinn machen kann, über CDM und Zertifikatehandel Geld zur Verfügung zu stellen, um das zu
schützen und zu bewahren.
Dass das nicht das Einzige an Geld sein muss, was
wir dorthin geben, da gebe ich Ihnen recht. Deswegen
kommen die Mittel, die die Bundesregierung in einer
Vorreiterrolle zur Verfügung stellt, aus anderen Quellen.
Ich kann als Entwicklungspolitiker an dieser Stelle nur,
wie es die Kollegen vor mir schon getan haben, noch
einmal lobend erwähnen, dass wir seitens des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung jetzt insgesamt fast 1 Milliarde Euro für Klimaschutzmaßnahmen in den Entwicklungsländern zur
Verfügung stellen, davon - es wurde schon gesagt 165 Millionen Euro für Tropenwaldschutz und Schutz
der Biodiversität, und dass wir bei der Forest Carbon
Partnership Facility mit 40 Millionen Euro der größte
Geber sind.
Ich möchte an dieser Stelle aber neben den Klimaschutzfragen und den Fragen der Biodiversität - die sehr
wichtig sind, weswegen wir auch die Tropenwälder
schützen - auch die Armutsdimension in diese Debatte
einbringen. Denn der Grund, warum auf vielen Tropenwäldern ein hoher Druck liegt, ist auch darin zu suchen,
dass die Länder nicht über die Hightechindustrie und die
Wirtschaftskraft verfügen, um auf andere Weise Einnahmen generieren zu können.
Deswegen, Herr Kollege Goldmann, finde ich es
nicht zielführend und auch nicht lauter, wenn man die
Beimischungspflicht in Deutschland kritisiert und sagt,
dass das dazu führe, dass Tropenwälder abgeholzt würden. Denn man kann das auch so organisieren, dass die
Tropenwälder geschützt werden und trotzdem die Entwicklungsländer Flächen für Biotreibstoffe entwickeln.
Es gibt ganz viele brachliegende Flächen, auf denen das
möglich ist, nicht nur in Indonesien, sondern auch in Lateinamerika und in Afrika. Darin liegen große Chancen
für die Entwicklungsländer, und gleichzeitig wird bei
uns das Klima geschützt. Wir werden dafür sorgen, dass
hier Zertifizierungssysteme greifen, dass nur Öl aus
nachhaltig angebauter Biomasse eingeführt werden
kann. Ich würde den Entwicklungsländern diese Chance
nicht verwehren wollen.
Auf der anderen Seite müssen wir Geld in die Hand
nehmen, damit die Entwicklungsländer für die Einnahmen, die ihnen verloren gehen, wenn sie nicht die Wälder abholzen, entschädigt werden. Das haben wir in
Europa schließlich auch gemacht, als wir noch nicht die
Industrie hatten, die wir jetzt haben.
Deswegen sage ich: Lasst uns die Entwicklungsländer
entwickeln, aber ihnen gleichzeitig Hilfestellung geben,
damit der Wald dort nachhaltig geschützt werden kann
und die Menschen davon profitieren können. Denn
Schutzgebiete sind ohne Einbeziehung der Menschen
nicht nachhaltig.
Kollege Raabe, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme gerne zum Schluss. - Ich glaube, dass wir
hier seitens der Bundesregierung auf einem guten Weg
sind und dass der Antrag der Grünen an sich in die richtige Richtung geht. Aber zur Beschaffung des Geldes
haben wir viele Möglichkeiten. Wir sollten parteiübergreifend alle gemeinsam dafür sorgen, dass es zusammenkommt.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7710 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Vorlage
federführend beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz beraten werden soll. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Elke Hoff, Dr. Rainer Stinner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Trennungsübernachtungsgeld während Auslandseinsatz weiterzahlen
- Drucksache 16/7002 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({0})
Innenausschuss
Haushaltsausschuss
Interfraktionell ist vereinbart, dass die Reden der fol-
genden Kolleginnen und Kollegen zu Protokoll gegeben
werden: Robert Hochbaum für die Unionsfraktion, Rolf
Kramer für die SPD-Fraktion, Birgit Homburger für die
FDP-Fraktion, Paul Schäfer für die Fraktion Die Linke
und Winfried Nachtwei für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.1)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7002 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Kerstin Andreae, Birgitt Bender, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Die Eingliederungshilfe für Menschen mit
Behinderungen weiterentwickeln
- Drucksache 16/7748 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Finanzausschuss
1) Anlage 4
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache ebenfalls eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten
erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Markus Kurth für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Neuaufbruch in der Politik für Menschen mit Behinderungen hin zur Teilhabe und Selbstbestimmung hat
unter Rot-Grün begonnen. Im Sozialrecht fand dieser
Neuaufbruch sogar die Unterstützung aller Fraktionen.
Das Sozialgesetzbuch IX war und ist gut. Es wurde vielfach bejubelt und gepriesen. Aber irgendwann ist die
Zeit des Schulterklopfens auch einmal vorbei, und man
muss wieder anfangen, die Ärmel hochzukrempeln.
({0})
Es ist doch auffällig, dass es seit den aktiven Zeiten
von Rot-Grün gerade im Bereich des Sozialrechts für
Menschen mit Behinderungen keine Fortschritte mehr
gegeben hat. Dies gilt, obwohl in der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen - und nicht nur
dort - nach wie vor große Strukturprobleme bestehen
und die quantitative Entwicklung ganz eindeutig ist.
Noch immer sind die drei großen institutionellen Blöcke, nämlich Sonderschule, Wohnheim und Werkstatt für
Menschen mit Behinderungen, prägend für die große
Mehrheit der Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf. Die Zahlen sind alarmierend: Im Bereich des stationären Wohnens stieg trotz großer Anstrengungen, die
ambulanten Angebote auszubauen, die Zahl der Plätze
von 164 000 im Jahr 2000 auf nunmehr 195 000. Bei den
Werkstattplätzen ist die Entwicklung noch viel dramatischer: Es gab im Jahr 2000 einen Anstieg von 194 000
auf nunmehr 268 000 mit Zuwachsraten von über
4 Prozent in jedem Jahr.
Damit einher geht natürlich ein entsprechender Anstieg der Kosten. Auch hier will ich eine Zahl nennen:
Die Nettokosten der Eingliederungshilfe, die von den
Kommunen, den Sozialhilfeträgern getragen werden, belaufen sich im Jahr 2006 auf 10,5 Milliarden Euro. Trotz
dieser eindeutigen und hier nur ganz kurz angerissenen
Diagnose verzeichnen wir seit 2005 einen totalen gesetzgeberischen Stillstand. Bundesregierung und Bundesländer fordern sich wechselseitig zum Handeln auf. Aber
ein greifbares Ergebnis liegt noch nicht vor. Man muss
nicht über hellseherische Fähigkeiten verfügen, um am
Ende dieser Legislaturperiode sagen zu können, dass sie
für Menschen mit Behinderungen verloren gewesen ist.
({1})
Dies ist umso bedauerlicher, als die Große Koalition
über die entsprechende Mehrheit verfügt, um Strukturveränderungen anzuschieben. Aber das Einzige, das sie
gemacht haben, war, den Spielraum des Bundes für
Strukturveränderungen durch die Föderalismusreform
einzuschränken.
Was ist nun aus Sicht von Bündnis 90/Die Grünen zu
tun? Die Voraussetzung für neue Schritte wäre zunächst
die Einsicht in die Notwendigkeit, dass es sich bei Teilhabeleistungen für Menschen mit Behinderungen um
Nachteilsausgleiche und nicht um Fürsorgeleistungen
handelt.Das Prinzip des Nachteilsausgleichs muss hier
zum bestimmenden sozialrechtlichen Prinzip werden.
({2})
Die zweite Voraussetzung wäre eine konsequente
Orientierung an der personenbezogenen Hilfe statt einer
Organisation von Hilfe entlang existierender Strukturen,
in die sich Menschen mit Behinderungen allzu oft einfügen müssen, ob sie wollen oder nicht.
Was so selbstverständlich klingt, ist leider nicht Wirklichkeit. Erst im Dezember 2007 hat das Hamburger Sozialgericht entschieden, dass es dem schwerbehinderten
Herrn Hans-Jürgen Leonhard zuzumuten sei, gegen seinen Willen in einem Heim gepflegt zu werden, obwohl
ein medizinisches Gutachten belegt, dass die Pflege in
diesem Heim möglicherweise lebensverkürzend ist.
Nach Meinung des Gerichts wäre eine Unzumutbarkeit
der Versorgung in einer stationären Einrichtung nur gegeben, wenn Herr Leonhard durch die Pflege in konkreter Lebensgefahr schweben würde. Dieses Urteil ist ein
Skandal.
({3})
Dieses Beispiel sollte uns nicht nur als Gesetzgeber zu
denken geben und zum Handeln auffordern, sondern es
sollte uns auch als Menschen anrühren.
({4})
Denn jeder und jede von uns kann durch einen Unfall
oder eine Krankheit in die gleiche Situation wie dieser
Herr Leonhard kommen.
Deswegen müssen, aufbauend auf den genannten
Prinzipien, die Schritte umgesetzt werden, die wir in unserem Antrag vorschlagen: Wir brauchen die Nichtanrechnung von Einkommen und Vermögen etwa bei der
Inanspruchnahme ambulanter Leistungen. Wir müssen
Bürokratie abbauen. Wir müssen endlich die über
60 verschiedenen Berechnungsverfahren in der Eingliederungshilfe vereinheitlichen und für die Menschen mit
Behinderung transparent machen. Wir müssen die zahlreichen verstreuten finanziellen Nachteilsausgleiche, die
es jetzt schon gibt, in einem einheitlichen Teilhabegeld
zusammenfassen.
All das sind machbare und pragmatische Schritte. Ich
hoffe, dass wir das unvoreingenommen gemeinsam in
den Ausschüssen beraten können.
({5})
Ich hoffe, dass wir uns alle an Art. 19 der UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen
orientieren, die die Bundesregierung ja unterzeichnet
hat. Dort heißt es - Frau Präsidentin, ich komme gleich
zum Schluss -:
Die Vertragsstaaten … anerkennen das gleiche
Recht aller Menschen mit Behinderungen, mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in
der Gemeinschaft zu leben, und treffen wirksame
und geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen den vollen Genuss dieses Rechts … zu
erleichtern …
Wenn wir uns diese - bald völkerrechtlich verbindliche Zielsetzung zu eigen machen, bleibt eigentlich nicht viel
anderes, als dem Antrag vom Bündnis 90/Die Grünen zu
folgen.
Danke.
({6})
Das Wort hat der Kollege Hubert Hüppe für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über einen
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Thema
„Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen“. Dieser Antrag enthält einige
Punkte, die ich sehr sympathisch finde. Es gibt ein paar
Punkte, die ich nicht ganz so gut finde; auch das gebe ich
zu. Andere finde ich wünschenswert, aber sehr schwierig
in der Umsetzung, weil sie - das wurde vom Kollegen
Kurth gerade gesagt - kostenintensiv sind.
Aber der eigentliche Fehler an diesem Antrag ist, dass
er viel zu spät kommt.
({0})
- Es wäre mir zu billig, jetzt zu sagen: Das hättet ihr in
der Zeit machen können, als ihr regiert habt. - Doch darum geht es gar nicht, wenngleich das natürlich zutrifft.
({1})
Viel entscheidender ist, dass wir zu der Zeit, als RotGrün an der Regierung war, noch keine Föderalismusreform hatten und es jetzt wesentlich schwieriger ist - das
muss man einfach so sagen; darüber waren wir uns im
Haus doch auch eigentlich weit und breit einig -, GeHubert Hüppe
setze zu machen, die dazu führen, dass den Kommunen
und den Ländern zusätzliche Kosten entstehen.
Kollege Hüppe, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kurth?
Ja, gern.
Herr Hüppe, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass die Föderalismusreform mit den Stimmen der Fraktion der CDU/CSU - möglicherweise auch mit Ihrer
Stimme - und mit den Stimmen der SPD-Fraktion, mithin von der jetzt regierenden Großen Koalition, beschlossen wurde?
({0})
Nein, ich habe das nicht kritisiert. Ich habe gesagt,
wir seien uns im Großen und Ganzen einig gewesen,
dass es richtig ist.
Wenn Sie Ihre grünen Fraktionen in den Stadt- und
Gemeinderäten fragten, ob sie es richtig fänden, dass nur
noch Gesetze beschlossen werden, deren Kosten der
Bund trägt und nicht die Gemeinden, dann würden Sie
bei Ihren grünen Kolleginnen und Kollegen auf kommunaler Ebene große Zustimmung ernten, lieber Kollege
Kurth.
Meine Damen und Herren, wir bestreiten überhaupt
nicht, dass eine Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe notwendig ist. Wir müssen sie wirklich zukunftssicher machen: nicht nur, weil die Kostenseite zu beachten
ist, sondern auch, weil in vielen Bereichen die Eingliederungshilfe nicht mehr einer modernen Politik für Menschen mit Behinderung im Hinblick auf gesellschaftliche
Teilhabe entspricht. Weil dies so ist, sind viele Punkte in
dem Antrag auch richtig.
Tatsache ist, im Jahre 2006 bezogen 643 000 Menschen Leistungen der Eingliederungshilfe. Die Zahl der
Leistungsempfänger steigt beständig; natürlich steigen
damit auch die Kosten. Dies hat zwei Gründe. Der erste
Grund ist ein historischer: Bis 1945 wurden Menschen
mit Behinderungen systematisch im NS-System erfasst
und ermordet. Sie waren im Übrigen - das darf man
auch angesichts des morgigen Datums sagen - die ersten
Opfer des Massenmordes der Nazis. Der zweite Grund
ist, dass der medizinische Fortschritt Gott sei Dank dazu
geführt hat, dass gerade Menschen mit Behinderungen
eine deutlich höhere Lebenserwartung haben, als dies
noch vor einigen Jahrzehnten der Fall war. Das heißt,
liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir uns noch wesentlich mehr Gedanken darüber machen müssen, wie
das Hilfesystem angepasst werden muss.
Was passiert mit den Menschen, die die Werkstätten
verlassen, weil sie ins Rentenalter kommen? Wir sind sicherlich alle der Auffassung, dass sie nicht im Pflegeheim, sondern in Einrichtungen der Eingliederungshilfe
landen sollten.
({0})
- Das wäre noch viel besser, Frau Kollegin; das gebe ich
zu. Aber einige Menschen mit Behinderungen, die jetzt
in Rente gehen, kommen leider in Pflegeheime. Mir
wäre es lieber, sie bekämen Hilfen der Eingliederungshilfe.
Was geschieht mit den sterbenden Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung? Ich mag diesen Begriff nicht; aber er steht immer noch in den Gesetzen.
Haben sie geeignete Zugänge zur Palliativmedizin oder
zu Hospizen? Über diese Fragen haben wir uns vor einigen Jahren noch keine Gedanken gemacht. Jetzt aber
müssen wir uns dringend darum kümmern.
Natürlich müssen wir uns auch fragen, wie wir mit
der Kostenentwicklung umgehen. Insofern bin ich den
Grünen dankbar, dass sie an einer Stelle offen gesagt haben, egal, wie sehr die Kosten steigen, solange der Bund
sich daran beteiligt, sei alles in Ordnung. Tatsächlich
brauchen wir aber echte Strukturreformen. Wenn heute
der Landkreistag und andere lautstark über die hohen
Kosten der Eingliederungshilfe klagen, dann ist dies
zwar richtig; andererseits muss man auch wissen, dass
durch die Pflegereform die Sozialhilfe bei der Hilfe zur
Pflege erheblich entlastet worden ist. Dies wird selten
erwähnt, wenn man das Thema Sozialhilfekosten anspricht.
Die Reform der Eingliederungshilfe bleibt für die
CDU/CSU-Fraktion ein zentrales Thema. Wir stehen
zum Koalitionsvertrag. Dort haben wir gesagt, dass wir
diese Reform mit den Gemeinden und den Ländern, aber
vor allen Dingen auch - das ist mir sehr wichtig - mit
den Betroffenen und ihren Verbänden gestalten wollen.
Letztere wissen am ehesten, wie man die Probleme lösen
kann und wie die besten Hilfen aussehen. Menschen mit
Behinderungen sind die Experten, wenn es um Behindertenpolitik geht.
Darüber muss man aus meiner Sicht wirklich ergebnisoffen reden. Ich habe manchmal das Gefühl, dass dies
nicht so ist und dass manchmal auch interessengeleitet
argumentiert wird. Wenn ich von ergebnisoffen spreche,
dann bedeutet dies auch, lieber Kollege Kurth, dass die
im Antrag vorgeschlagenen Änderungen ernsthaft geprüft werden müssen. Deswegen werden wir uns in den
Ausschüssen damit auseinandersetzen.
Es gibt aber auch viele Punkte, in denen wir schon einen Konsens erzielt haben. Erstens muss die ambulante
Hilfe Vorrang haben, und zwar nicht, weil sie für billiger
gehalten wird - sie kann durchaus auch teurer sein -,
sondern weil es dem Anspruch auf Teilhabe in der Gesellschaft entspricht, der aus meiner Sicht eher gewährleistet werden kann, wenn man in der gewohnten Umgebung statt in einer Heimeinrichtung leben kann.
Aus meiner Sicht ist dafür notwendig, dass wir die
Umwelt in unseren Städten und Gemeinden barrierefrei
gestalten und dass Unterstützungsangebote geschaffen
werden. Man kann die Menschen schließlich nicht einfach auf der Straße sich selbst überlassen, wie es zum
Beispiel in den Vereinigten Staaten passiert ist. Dort hat
man unter dem Motto der Gleichberechtigung alle aus
den Einrichtungen entlassen. Die sind dann unter den
Brücken gelandet, weil sich niemand mehr um sie gekümmert hat. Das ist nicht unsere Politik.
({1})
Zweitens - darin sind wir uns ebenfalls einig - ist
nicht der Sitz der Leistungserbringer entscheidend. Das
Spannungsverhältnis zwischen überörtlichem und örtlichem Sozialträger soll aufgelöst werden - das wird im
Antrag gefordert -, um eine Kostenverschiebung zu vermeiden, die nicht an den Interessen der Betroffenen
orientiert ist, sondern derjenigen, die versuchen, die
Kosten wegzudrücken. Ich glaube, dass es einige Fehlentwicklungen gibt, die wir relativ schnell beseitigen
sollten.
Ich will zum Schluss zwei Fälle schildern, die mich
sehr beeindruckt haben. In meinem Landkreis Unna gibt
es einen heilpädagogischen Kindergarten nur für behinderte Kinder, die aus den anderen Städten in diesem
Kreis dorthin gefahren werden müssen. Die Kosten werden vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe getragen.
Wenn man aber das Kind in einem Regelkindergarten
unterbringen kann, dann trägt der Landschaftsverband
nur seinen Trägeranteil. Interessant ist dabei, obwohl das
kostengünstiger ist, weil die Kosten für die Fahrt von
den Städten in die Kreisstadt entfallen, dass die Eltern
den Kindergartenbeitrag zahlen müssen.
Ich finde es im Übrigen nicht falsch, dass die Eltern
einen Kindergartenbeitrag zahlen, aber sie müssten ihn
gegebenenfalls auch in der Behinderteneinrichtung zahlen. Denn ich glaube, dass behinderte und nichtbehinderte Kinder auch in diesem Punkt gleich behandelt werden müssen. Es kann aber nicht sein, dass derjenige, der
eine Sondereinrichtung besucht, nichts zahlen muss, und
derjenige, der sein Kind in einem Regelkindergarten unterbringt, schlechter behandelt wird. Das ist meiner Meinung nach unter dem Gesichtspunkt der Integration nicht
richtig und entspricht nicht dem Bild, das ich von einer
modernen Behindertenpolitik habe.
Ich würde gerne auch auf das zweite Beispiel eingehen, aber ich sehe schon die rote Lampe.
({2})
- Nein, dafür ist ein anderer Kollege zuständig, der
schon einmal eine mitgebracht hat.
Wir werden diesen Antrag gründlich prüfen. Das ist
dem Kollegen Kurth klar. Es wird ein sehr schwieriger
Weg. Die Union hat sich aber, denke ich, dadurch ausgezeichnet - das gilt im Übrigen auch für die anderen Fraktionen; das muss man ihnen zugestehen -, dass wir in der
Behindertenpolitik sachorientierte Entscheidungen getroffen haben. Wir haben auch damals in der Opposition
wichtigen Entscheidungen zugestimmt, als es um das
SGB IX und das Bundesgleichstellungsgesetz ging.
({3})
Wir sollten uns unabhängig von den Fraktionsgrenzen
für das entscheiden, was richtig ist.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Jörg Rohde für die FDPFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Die Kollegen Kurth und Hüppe haben die
aktuelle Situation zutreffend beschrieben und Beispiele
genannt. Deswegen werde ich mich in meinen Ausführungen auf den Stand der Beratungen konzentrieren. Ich
freue mich, dass durch die Initiative der Grünen heute
das Thema Eingliederungshilfe auf die Tagesordnung
des Deutschen Bundestages gekommen ist. Es ist aber
sehr schade, dass es dazu immer wieder der Oppositionsfraktionen im Parlament bedarf; denn eigentlich, werte
Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition,
müsste die Initiative von Ihnen ausgehen.
({0})
Sie haben im Koalitionsvertrag die Weiterentwicklung
der Eingliederungshilfe versprochen. Getan hat sich aber
bis auf viel zerschlagenes Porzellan bei der Behindertenbeauftragten nichts.
Um Ihrer Erinnerung auf die Sprünge zu helfen, zitiere ich die entsprechende Passage aus dem schwarzroten Koalitionsvertrag:
Die Unterstützung von Selbstständigkeit, Selbsthilfe und Selbstbestimmung ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Gemeinsam mit den Ländern, Kommunen und den Verbänden behinderter Menschen
werden wir die Leistungsstrukturen der Eingliederungshilfe so weiterentwickeln, dass auch künftig
ein effizientes und leistungsfähiges System zur Verfügung steht. Dabei haben der Grundsatz „ambulant
vor stationär“, die Verzahnung ambulanter und stationärer Dienste, Leistungserbringung „aus einer
Hand“ sowie die Umsetzung der Einführung des
Persönlichen Budgets einen zentralen Stellenwert.
Wir wollen, dass die Leistungen zur Teilhabe an
Gesellschaft und Arbeitsleben zeitnah und umfassend erbracht werden. Hierzu bedarf es der effektiven Zusammenarbeit der Sozialleistungsträger.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, das war
Ende 2005. Jetzt haben wir bereits Anfang 2008, und ich
frage Sie heute: Was haben Sie davon umgesetzt?
({1})
Die Antwort ist beschämend: Nichts. Der Versuch der
Verbändebeteiligung ist bereits im Ansatz gescheitert,
nachdem die Behindertenbeauftragte den Verbänden verkündet hat, substanzielle Änderungen stünden in dieser
Legislaturperiode ohnehin nicht mehr auf der Tagesordnung.
Auch mit Ländern und Kommunen scheint es keinen
Dialog zu geben; sonst hätte Ihnen die Arbeits- und Sozialministerkonferenz der Bundesländer nicht im November letzten Jahres mit 16 : 0 Stimmen ein Ultimatum
gesetzt, bis zur nächsten Konferenz im November dieses
Jahres endlich einen Gesetzentwurf vorzulegen. Es ist
kein Wunder, dass die Länder langsam nervös werden;
denn - wir haben es eben schon gehört - die Ausgaben
der Kreise und Kommunen für die Eingliederungshilfe
steigen seit Jahren kräftig. So verwundert es auch nicht,
dass aus den Ländern Rufe nach einer Beteiligung des
Bundes an den Kosten der Eingliederungshilfe lauter
werden, wie zuletzt von der Arbeits- und Sozialministerkonferenz, wie schon erwähnt, im vergangenen November.
Völlig zu Recht wird im Koalitionsvertrag festgestellt, dass die Unterstützung von Selbstständigkeit,
Selbsthilfe und Selbstbestimmung eine gesellschaftliche
Aufgabe ist, die nach Auffassung der FDP auch die finanzielle Solidarität zwischen Bund, Ländern und Gemeinden erfordert. Mit dieser Aufgabe dürfen die Kreise
und Kommunen nicht alleine gelassen werden.
({2})
In welcher Form das zu geschehen hat, muss eingehend
geprüft werden. Die FDP im Deutschen Bundestag ist
noch nicht festgelegt. Klar ist aber, dass diese Mammutaufgabe keinen Aufschub mehr duldet; denn die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe ist nicht nur eine
sozialrechtliche Frage, sondern auch eine gesellschaftliche Aufgabe. Es geht um Menschen und deren Chancen
auf Selbstbestimmung und Teilhabe an der Gesellschaft.
Diese Aufgabe darf man nicht auf die lange Bank schieben; denn jeder vergeudete Tag ist eine vergeudete
Chance für viele Behinderte in Deutschland.
({3})
Mit dem Antrag der Linken zu einem Nachteilsausgleichsgesetz, den heute zur Beratung stehenden Vorschlägen der Grünen für die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe sowie den Empfehlungen der Arbeitsund Sozialministerkonferenz stehen bereits mehrere Modelle für eine Weiterentwicklung einer teilhabeorientierten Politik für Menschen mit Behinderungen im politischen Raum. Auch die FDP wird sich mit eigenen
Vorschlägen in die Debatte einbringen. Wir befinden uns
seit Monaten im Gedankenaustausch mit allen Akteuren
der Eingliederungshilfe.
({4})
Das Führen einer Diskussion setzt aber voraus, dass
die Bundesregierung überhaupt erst einmal in die Debatte über die Eingliederungshilfe eintritt. Den Handlungsbedarf dafür zeigt der mehr als schleppende Start
des trägerübergreifenden Persönlichen Budgets eindrucksvoll auf. Die Bedarfsermittlung, die Leistungsgewährung sowie die Leistungserbringung hinken dem
fortschrittlichen und zu begrüßenden Ansatz des Persönlichen Budgets weit hinterher. Wenn das Budget ein Erfolg werden soll, müssen jetzt geeignete Rahmenbedingungen dafür hergestellt werden. Wir wissen alle, dass
diese Aufgabe ein sehr großer Brocken ist. Umso wichtiger ist es, dass die Große Koalition jetzt mit der Reform
der Eingliederungshilfe beginnt; denn das Ende der Legislaturperiode rückt immer näher, und die Erfahrung
lehrt uns, dass in Wahlkampfzeiten keine heißen Eisen
mehr geschmiedet werden.
Ich möchte zum Abschluss meiner Rede noch hinzufügen: Das ist eine der ganz wenigen Debatten zur Behindertenpolitik. Wir haben noch 13 Minuten; ich habe
die Rednerliste gesehen. Es ist kein Redner der Bundesregierung da. Ich hätte mir sehr gewünscht, dass wir die
Position der Bundesregierung zum Thema Eingliederungshilfe und eine Mitteilung zum Stand der Beratungen innerhalb der Bundesregierung zu hören bekommen.
({5})
Wenn ich recht gesehen habe, ist auch die Behindertenbeauftragte nicht da.
({6})
Es ist sehr schade, dass wir den Dialog nicht in diesem
Parlament führen können; denn die Beratungen für die
Gesetze sollen doch im Plenum stattfinden. Ich finde es
bedauerlich; aber wir werden dann eben in den Ausschüssen die Details beraten.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Silvia Schmidt für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kollegen! Lieber Kollege Rohde, ich
möchte gleich am Anfang die Behindertenbeauftragte
entschuldigen. Wie Sie wissen, werden manche Termine
sehr langfristig vereinbart. So kommt es zu Terminkollisionen. Ich bitte hier einfach um Verständnis. Sie ist, wie
ich glaube, bei Verbänden im Brandenburgischen.
Ich möchte noch einmal auf den einen oder anderen
Punkt eingehen. Wir sind uns ja generell einig hier im
Hause. Wir haben alles gemeinsam gestaltet. Wir alle
wollen, wie ich glaube, dasselbe. Es gibt nur wenige Unterschiede dabei.
Von einem gesetzgeberischen Stillstand kann man
nicht wirklich reden, Markus. Ich erinnere nur an die Gesundheitsreform SGB V im Bereich der häuslichen
Krankenpflege. Auch die Länder und die Kommunen
haben ja Verantwortung im Rahmen der Daseins14722
Silvia Schmidt ({0})
vorsorge, die sie auch teilweise wahrgenommen haben;
das wissen wir alle.
Ein anderer Punkt, den du, Markus, sehr treffend angesprochen hast, betrifft den Bereich der Schulen. Hier
müssten die Länder handeln; das vermisst man zum Teil.
So sollten sie nämlich versuchen, Kindern mit Behinderungen einen Besuch von normalen Schulen zu ermöglichen. Europaweit liegt der Prozentsatz bei 80 Prozent,
bundesweit liegt er bei 15 Prozent. Damit stellen wir uns
wirklich ein ausgesprochen schlechtes Zeugnis aus. Ich
war bei der Stiftung Pfennigparade in München. Sie hat
insoweit etwas auf den Weg gebracht, als sie ihre Sonderschulen, für Körperbehinderte und auch für alle anderen Kinder der Stadt München öffnete. Und es funktioniert.
Kostenintensiv ist ein Begriff, der mir, wenn er benutzt wird, immer etwas wehtut. Wenn ich miterleben
muss, dass eine Gesellschaft es nicht fertigbringt, Menschen zu unterstützen, die ihre Unterstützung brauchen,
und ständig nur von Kosten redet, wird mir teilweise
schwindlig. Es gibt aber auch andere Beispiele. So hat
Unna aufgezeigt - das Beispiel ist vorhin erwähnt worden -, wie man mit einfachsten Instrumenten wie einer
Wohnberatung in hervorragender Weise Kosten bei der
Pflegeversicherung, der Krankenversicherung, der Eingliederungshilfe und der Altenhilfe sparen kann. Vor
diesem Hintergrund frage ich mich ernsthaft, warum wir
immer noch so den Schwerpunkt auf den stationären Bereich legen.
Lieber Kollege Hüppe, Sie haben gerade älter werdende Behinderte angesprochen. Bei unseren Wohnungsbaugesellschaften stehen viele Wohnungen leer.
Wir müssen keine neuen Einrichtungen bauen, sondern
im Rahmen unserer gesetzgeberischen Möglichkeiten
dafür sorgen, dass verstärkt barrierefreier Wohnraum geschaffen wird. Alles andere wäre albern.
({1})
- Ich weiß das. Ich denke, wir sind uns da einig. Das
Entscheidende hierbei ist ja vor allen Dingen, dass keine
neuen Kosten auf uns zukommen.
Liebe Kollegen, wir haben gemeinsam, auch mit den
Betroffenen sowie den Leistungserbringern und den
Kostenträgern, das SGB IX geschaffen. Hiermit gibt es
nun ein Instrument, das der medizinischen Rehabilitation, der Selbstbestimmung und der Teilhabe dient. Am
Leben in der Gemeinschaft sollte jeder einzelne Mensch
mit Behinderungen teilnehmen können. Das war unser
Grundanliegen. Dies haben wir in Gesetzesform gegossen.
Was ist passiert? Das SGB IX zeigt nicht die Erfolge,
die wir uns vorgestellt haben.
({2})
Ich denke nur an das Wunsch- und Wahlrecht in § 9. Das
Beispiel des behinderten Herrn Leonhard, das du, Markus, gesagt hast, zeigt doch ganz eindeutig: Hier wird
dem Wunsch- und Wahlrecht einfach nicht nachgegeben.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle sollten uns
noch einmal gemeinsam an das entsprechende Sozialamt
wenden und deutlich machen, dass das, was dort geschieht, einfach ein Skandal ist und sich gegen die Menschenwürde richtet.
({4})
Wir müssen uns auch fragen, wieso es an der Umsetzung des SGB IX hapert. Eigentlich wissen wir es doch.
Im Grunde genommen muss man jedem recht geben, der
sagt: Die Leistungs- und die Kostenträger haben kein Interesse daran, den Menschen mit Behinderungen das
Wunsch- und Wahlrecht zu gewähren. Die Menschen
mit Behinderungen könnten ja den Wunsch äußern, woanders zu leben als dort, wo sie jetzt leben.
Neulich hat sich eine Sozialdezernentin an mich gewandt und gefragt: Frau Schmidt, wann geht es denn mit
dem Persönlichen Budget los? Wir sollten immer vor
Augen haben, dass die Bundesregierung in Person von
Karin Evers-Meyer durch die Lande reist und ständig
predigt, dass die Einführung des Persönlichen Budgets
für Menschen mit Behinderungen ein Weg ist, den wir
einschlagen sollten. Ich glaube, das müssen wir als Abgeordnete genauso tun.
({5})
Ein ganz wesentlicher Bestandteil sind natürlich auch
unsere berühmt-berüchtigten Servicestellen. Diese Stellen arbeiten noch gar nicht so, wie wir es wollen. Die behinderten Menschen werden weiterhin von A nach B geschickt und erhalten ihre Leistungen nicht aus einer
Hand.
({6})
Warum existieren die Servicestellen noch nicht? Man hat
wohl keine Lust, behinderten Menschen Selbstbestimmung zuzubilligen. Das muss natürlich geändert werden.
Das wissen wir. Ich möchte gern einmal das BMAS zitieren:
Das Kernproblem ist nicht das geltende Recht,
- Markus, das weißt du. sondern das Festhalten von Leistungsträgern und
Leistungsanbietern an verfestigten, interessengeleiteten Sicht- und Verfahrensweisen und natürlich
auch eine eiskalte Sparwut.
Genau das ist unser Problem.
({7})
Daher sollten wir uns noch einmal zusammensetzen.
Dass das notwendig ist, hat auch der Antrag der
Grünen deutlich gezeigt. Ich verweise auf den Fall
Silvia Schmidt ({8})
Leonhard. Dabei geht es um SGB XII § 13. Dort steht:
Ambulanten Leistungen der Sozialhilfe ist nur so lange
Vorrang zu gewähren, solange sie nicht mit unzumutbaren Mehrkosten verbunden sind. In diesem Paragrafen
ist aber auch geregelt, dass die Versorgung zumutbar
sein muss. Das war im Fall Leonhard überhaupt nicht so.
Man hat sich über das Kriterium der Zumutbarkeit hinweggesetzt. Man hat billigend in Kauf genommen - das
Gutachten hat es aufgezeigt -, dass das Leben dieses
Mannes automatisch verkürzt wird, wenn er in eine Einrichtung kommt. Ich muss noch einmal sagen: Das ist
skandalös.
({9})
Der berechtigte Bedarf eines Einzelnen, das Wunschund Wahlrecht, muss nicht nur im Persönlichen Budget
Ausdruck finden; vielmehr muss dieser Bedarf, egal wie
klein er ist, uns dazu veranlassen, der Menschenwürde
eines jeden Einzelnen auch gerecht zu werden. Wenn wir
das Wunsch- und Wahlrecht nicht im Gesetz aufnehmen,
sondern immer wieder beiseiteschieben - ich verweise
auf das, was im SGB IX steht; dort heißt es, dass es bei
der Budgetverteilung keine Mehrkosten geben dürfe -,
dann brauchen wir uns mit Selbstbestimmung und dem
Gedanken der Teilhabe überhaupt nicht mehr auseinanderzusetzen.
Wir müssen die Bereiche SGB IX - das Budget darf
die vorhergehenden Kosten nicht übersteigen -,
SGB XII § 13 aufgreifen und ändern. Dazu hätten wir
hier im Deutschen Bundestag im Rahmen der Großen
Koalition die Möglichkeiten. Darauf wurde zu Recht
hingewiesen.
({10})
- Nein, lieber Ilja.
Wir müssen vor allen Dingen den schwerstmehrfachbehinderten Menschen gegenüber im Deutschen Bundestag Rechnung tragen. Wir müssen klarstellen: Ihr
habt genauso wie jeder andere Mensch die Möglichkeit,
da zu leben, wo ihr leben möchtet, egal wie hoch euer
Budget ist. Ich kann Ihnen versichern - das zeigen die
Evangelische Stiftung Alsterdorf, der große Träger
Hephata und das Johanneswerk -: Man ambulantisiert;
man nimmt schwerstmehrfachbehinderte Menschen aus
den Einrichtungen heraus, ohne dass das höhere Kosten
nach sich zieht. Das sollten wir uns einfach einmal auf
der Zunge zergehen lassen, und wir sollten nicht immer
diese kleinkarierten Kostenberechnungen durchführen.
Ich möchte jetzt nicht über die Teilhabe am Arbeitsleben diskutieren. Markus, wie wir wissen, müssen auch
da Veränderungen stattfinden. Es darf nicht mehr so sein,
dass Menschen automatisch in geschützte Werkstätten
kommen. Aber es ist auch eine Frage der Ausgleichsabgabe: Was passiert tatsächlich mit der Ausgleichsabgabe?
Ich komme auf mein Petitum zu sprechen. Heute
wurde noch einmal über die Pflegestützpunkte diskutiert. Wir reden hier immer über vernetzte Strukturen.
Übrigens haben BMJ und BMI bestätigt - das können
Sie gerne nachlesen -, dass die im Zusammenhang mit
den Pflegestützpunkten getroffene Regelung nicht verfassungswidrig ist. Gerade Menschen mit Behinderungen verzichten oft auf Pflegegeld. Häufig wissen sie
überhaupt nicht, welche Möglichkeiten es im Rahmen
der Pflegeversicherung gibt. Für diese Menschen ist es
ein großer Vorteil, dass sie nur noch eine einzige Anlaufstelle haben, von der sie ihre Informationen bekommen.
({11})
Ich glaube, das ist der wesentliche Punkt.
Auch ich war bei der Anhörung. Es war nicht unbedingt so, dass man gesagt hat: Pflegestützpunkte sind
schlecht. Ganz im Gegenteil: Die Aktion Psychisch
Kranke hat sich positiv über die Pflegestützpunkte geäußert. Die AWO hat sich positiv geäußert. Herr Schiffer
vom VdAK hat sich positiv geäußert. Viele Einzelsachverständige haben sich positiv geäußert. Wenn man dem
endlich einmal folgt und vernetzte Strukturen schafft,
und zwar im Rahmen der Pflegestützpunkte in Kooperation mit den Servicestellen, dann stärken wir die Servicestellen.
Kollegin Schmidt, Sie müssen die Lektüre des Anhörungsprotokolls verschieben und zum Schluss kommen.
Ich bedanke mich ganz herzlich und freue mich sehr
auf eine interessante Diskussion im Ausschuss.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Ilja Seifert.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Dies ist eine klassische Situation, an der sich zeigen lässt, dass ein Ziel auf verschiedenen Wegen erreicht werden kann. Heute diskutieren
wir über einen Antrag der Grünen, nach dem die Eingliederungshilfe aus dem Bereich der Sozialhilfe herausgenommen und in einem eigenständigen Gesetz geregelt
werden soll. Die Linke hat vor einem Jahr einen Antrag
eingebracht - Herr Rohde hat es schon erwähnt -, mit
dem sie ein Nachteilsausgleichsgesetz für Menschen mit
Behinderungen auf den Weg bringen will, das eine ähnliche Wirkung hätte. Es gäbe noch einen dritten Weg: Wir
könnten das SGB IX endlich zum Leistungsgesetz umformen, womit in etwa das gleiche Ziel erreicht werden
kann.
Was passiert aber in Wirklichkeit? Die Regierungskoalition schickt ihre behindertenpolitische Sprecherin
bzw. ihren behindertenpolitischen Sprecher vor. Die sagen: Alles dufte, wir sind auf eurer Seite. Ich befürchte,
dass ihr bei der Abstimmung mit euren Fraktionen gegen
den vorliegenden Antrag stimmen werdet.
Lasst uns deshalb mal Butter bei die Fische geben.
Herr Kurth und die Grünen schlagen im Grunde genommen vor, die Eingliederungshilfe von der Nachrangigkeit
zu befreien und die Bedürftigkeitsprüfung abzuschaffen.
Wunderbar, das ist ganz prima. Der Einwand wird aber
lauten, dass die Nachrangigkeit das Hauptmerkmal der
Sozialhilfe ist. Deswegen befürchte ich, dass wir auf diesem Weg nicht dahin kommen werden, wohin wir kommen wollen. Grundsätzlich würde ich gerne mit Ihnen
gehen, wenn Sie schon nicht unserem Antrag zum Nachteilsausgleichsgesetz folgen, der wesentlich weiter geht.
Das ist wenigstens ein Schritt in die richtige Richtung.
Kollege Dr. Seifert, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Kurth?
Aber gerne.
Bitte.
Kollege Seifert, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass das Nachrangigkeitsprinzip bei der Eingliederungshilfe bereits jetzt an vielen Stellen ganz anders geregelt ist als bei der Hilfe zum Lebensunterhalt?
({0})
Das ist im Übrigen begründet; denn die Hilfe zum Lebensunterhalt betrifft prinzipiell jede Person. Sind Sie
bereit, mir zuzustimmen, dass eine Behinderung einen
besonderen Nachteil darstellt und insofern die Veränderungen beim Nachrang, die im geltenden Sozialrecht bestehen, gerechtfertigt sind und von Rot-Grün vorgenommen worden sind?
({1})
Selbstverständlich kenne ich die Rechtslage, lieber
Kollege Kurth. Selbstverständlich weiß ich das. Ich
finde euren Vorschlag ja gut. Ich befürchte nur, dass die
Gegenargumente durchschlagend sein werden.
({0})
Wenn wir die gemeinsam ausräumen können, dann habt
ihr mich auf eurer Seite. Wenn wir einen Schritt in die
richtige Richtung gehen können, selbst wenn er mir zu
kurz ist, gehe ich doch gerne mit.
({1})
- Ich rolle mit, wenn Ihnen das lieber ist. Das ist kein
Problem.
Kommen wir zum Thema zurück. Wir brauchen für
Menschen mit Behinderungen ein Gesetz, in dem klar
definiert wird, dass behinderungsbedingte Nachteile auszugleichen sind. Das ist das Thema. Darum geht es. Wir
wollen nicht mehr, aber auch nicht weniger, als die gleichen Chancen wie andere haben. Lieber Markus Kurth,
ich möchte nicht nur, dass Art. 19 der UNO-Konvention
für Menschen mit Behinderungen umgesetzt wird, sondern dass die gesamte UNO-Konvention in nationales
Recht umgesetzt wird. Diese Konvention, die die Bundesregierung unterschrieben hat und angeblich so stark
unterstützt - wollen wir einmal sehen, wie es bei der Ratifizierung aussieht -, sagt nämlich verbindlich, dass die
Staaten dafür zu sorgen haben, dass Menschen mit Behinderungen in ihnen gut leben können, und nicht, dass
sich die behinderten Menschen den Strukturen in den
Staaten anpassen müssen. Das ist ein wirklicher Paradigmenwechsel. Wenn wir das umgesetzt haben, dann haben wir wirklich etwas erreicht.
({2})
Wenn wir die UNO-Konvention tatsächlich ratifizieren
und umsetzen, sind wir auf einem guten Weg. Dann
kommen wir zusammen.
In dieser konkreten Situation liegen dem Bundestag
zwei Anträge vor - der Kollege Rohde von der FDP hat
einen dritten angekündigt -, über die in den Ausschüssen
geredet werden muss. Lasst uns eine vernünftige Anhörung veranstalten, um die Sachverständigkeit der Experten in einer eigenen Sache tatsächlich zu nutzen. Liebe
Silvia Schmidt, in diesem Punkt sind wir einer Meinung.
Lasst uns die Experten anhören und fragen, was an den
Anträgen gut ist, wo es Nachbesserungsbedarf gibt und
wo noch etwas fehlt. Lasst uns dann gemeinsam - in dieser Diskussionrunde waren Gemeinsamkeiten zu erkennen - ein Gesetz verabschieden, mit dem behinderungsbedingte Nachteile tatsächlich bekämpft werden können.
Ob das Gesetz am Ende SGB IX oder sonst wie heißt, ist
mir wurscht. Wichtig ist nicht, was darüber steht, sondern der Inhalt des Gesetzes.
Was das anbelangt, haben wir gemeinsam noch viel
zu tun. Ich freue mich darauf. Wenn die Einigkeit so
groß ist wie jetzt in der Debatte, werden wir noch in dieser Legislaturperiode ein tolles Ziel erreichen können.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7748 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a und 18 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten Marieluise
Vizepräsidentin Petra Pau
Beck ({1}), Volker Beck ({2}), Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die EU-Zentralasienstrategie mit Leben füllen
- Drucksachen 16/4852, 16/5674 Berichterstattung:
Abgeordnete Karl-Georg Wellmann
Johannes Pflug
Harald Leibrecht
Wolfgang Gehrcke
Marieluise Beck ({3})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe ({4}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Volker Beck ({5}), Birgitt
Bender, Dr. Uschi Eid, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Menschenrechte in Zentralasien stärken
- Drucksachen 16/2976, 16/5588 Berichterstattung:
Abgeordnete Holger Haibach
Johannes Jung ({6})
Burkhardt Müller-Sönksen
Michael Leutert
Volker Beck ({7})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Staatsminister Gernot Erler.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zentralasien ist eine faszinierende Weltregion mit fünf
Ländern, annähernd 60 Millionen Menschen, einer staunenswerten Geschichte und Kultur, einer Vielfalt an
Landschaften und Naturschönheiten und erheblichen
Ressourcen und Reichtümern.
Andere Mächte haben sich schon ab Mitte der 90erJahre dieser Region stärker zugewandt. Die EU hat dies
aus verschiedenen Gründen sehr spät getan. Sie hat sich
eine Zeit lang nur begrenzt mit den zentralasiatischen
Staaten beschäftigt. Das hat sich während der deutschen
EU-Ratspräsidentschaft in der ersten Hälfte des vergangenen Jahres geändert.
({0})
Wir haben uns sehr intensiv mit dieser Region beschäftigt. Im Ergebnis haben wir im Einvernehmen mit den
Partnerländern im Juni 2007 die EU-Zentralasienstrategie beschließen können und erhebliche Mittel - die geplanten Mittel wurden verdoppelt - für die Umsetzung
dieser Strategie bereitstellen können.
Man kann also sagen - das wird international anerkannt -: Die EU-Zentralasienstrategie ist unser Kind.
Wir wollen das Kind aber nicht ins Internat stecken, sondern uns selbst um das Wachstum und Gedeihen dieses
Kindes kümmern. Wir wissen, dass andere Präsidentschaften andere Schwerpunkte setzen. Wir wollen da am
Ball bleiben.
({1})
Schon im Juni dieses Jahres ist eine erste Revision der
Bemühungen vorgesehen. Bis dahin ist es möglich und
auch nötig, konkrete Projekte zu definieren. Wir sind dabei vorangekommen und haben einige sichtbare Schwerpunkte im Kopf. Dazu einige Stichpunkte: Rechtsstaat
einschließlich Menschenrechtsdialog, Bildung, Wasserund Energieverbundsystem in der Region, Grenzmanagement und Drogenbekämpfung. Ich kann all das
hier gar nicht ausbreiten, sondern möchte mich auf den
Bereich Rechtsstaat und Menschenrechte konzentrieren.
Hier sind wir mit einem Rechtsberatungszentrum in
Taschkent gut vorbereitet.
Ganz entscheidend ist der Menschenrechtsdialog.
Dieser ist ja auch Thema der hier vorgelegten Anträge.
Wir haben uns von vornherein intensiv mit Usbekistan
beschäftigt, weil ja hier durch die tragischen Ereignisse
vom Mai 2005 in Andischan ein großes Problem vorlag.
Wir haben mit den Usbeken einen strukturierten, nachhaltigen Menschenrechtsdialog vereinbaren können,
dessen erste Runde am 9. Mai 2007 stattgefunden hat
und der im Mai dieses Jahres fortgesetzt werden soll.
Wir werden die Menschenrechte auch in weiteren Beratungen mit Usbekistan zum Gegenstand machen. Wir
konnten mit Usbekistan zudem ein Expertenseminar
zum Thema „Liberalisierung der Medien“ vereinbaren.
Man kann sagen, dass allein die Aufnahme dieses Dialogs schon ein wichtiges Ergebnis und ein Erfolg der
Zentralasienstrategie der EU ist. Es gibt auch konkrete
Fortschritte: die Abschaffung der Todesstrafe, die Einführung des Habeas-Corpus-Prinzips und Korrekturen in
einer ganzen Reihe von Einzelfällen. Das ist natürlich
nur ein Anfang, der weitergeführt werden muss.
Wir müssen aber nicht nur mit Usbekistan vorankommen, sondern natürlich auch mit den vier anderen Staaten. Mit Turkmenistan ist schon ein Ad-hoc-Dialog über
Menschenrechte begonnen worden.
Herr Staatsminister, Sie können natürlich weiterreden, aber ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass
Sie jetzt auf Kosten der Redezeit Ihrer Kolleginnen weitersprechen.
Genau das will ich nicht machen. Ich wollte gerade
sagen, dass ich jetzt nicht mehr auf die anderen möglichen Leuchtturmprojekte eingehen werde, sondern nur
noch einmal versichern möchte, dass wir unser Engagement, wirklich sichtbare, konkrete Projekte zu entwickeln, fortsetzen werden und mit der EU-Kommission
und dem Sonderbeauftragten Pierre Morel gern zusammenarbeiten.
Ich freue mich, dass zu so später Stunde so viele Kolleginnen und Kollegen Interesse für dieses wichtige
Thema zeigen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat der Kollege Florian Toncar für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die vor etwas mehr als einem halben Jahr vorgelegte Zentralasienstrategie der Europäischen Union
war überfällig. Wir als FDP-Fraktion begrüßen, dass es
so etwas gibt und dass es ein umfassender Ansatz ist, der
verschiedene Themenbereiche umfasst, beispielsweise
auch strategische Interessen wie die Energieversorgung.
Eine Komponente ist die Nabucco-Pipeline, die explizit
dazu beiträgt, dass wir uns bezüglich unserer Energielieferanten diversifizieren.
Die Zentralasienstrategie umfasst auch Projekte in
den Bereichen Bildung und Umwelt, Bekämpfung der
organisierten Kriminalität und des Menschenhandels,
aber insbesondere auch der Förderung des Rechtsstaates
und der Menschenrechte. Diese politischen Ziele teilen,
glaube ich, wir alle in diesem Hause. Es ist zunächst einmal festzuhalten, dass es ein großer Fortschritt ist, dass
es eine EU-Strategie zu diesem Thema gibt.
({0})
Die Instrumente, die zur Verfügung stehen, sind vielfältig. Eine enge politische Kooperation, Treffen auf
Ministerebene in regelmäßigen Abständen und Menschenrechtsdialoge sind vorgesehen. Ein eigener Sonderbeauftragter der Europäischen Union wurde eingesetzt.
Wir haben Ziele und Instrumente. Nichtsdestotrotz ist es
richtig, wenn die Grünen heute sagen: Das, was wir verabschiedet haben, muss mit Leben gefüllt werden; denn
Ziele und Instrumente müssen effektiv zur Wirkung gebracht werden, sodass wir Fortschritte erzielen.
Uns als FDP-Fraktion ist die Verbindung von Werten
und Interessen wichtig. Warum? Weil eine gewisse Übereinstimmung von Grundwerten den Rahmen für die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit steckt. Wenig Übereinstimmung von Werten bedeutet, dass es auch wenige
Möglichkeiten für Kooperation gibt. Eine hohe Übereinstimmung hinsichtlich der Werte erweitert die Kooperationsmöglichkeiten. Hierfür sind in vielen zentralasiatischen Staaten natürlich noch große Fortschritte nötig.
Das Stichwort Rechtssicherheit ist ein Beispiel. Pacta
sunt servanda - dieser Grundsatz ist für uns wichtig. Nur
die Stabilität und Verlässlichkeit eines Rechtssystems
sind Garant dafür, dass wir im Energiebereich und im
wirtschaftlichen Bereich mit den zentralasiatischen Staaten zusammenarbeiten können. Effektiver Rechtsschutz
ist notwendig. Sicherheit setzt voraus, dass es kein Willkürstaat ist, der eine trügerische Form von Stabilität garantiert, aber im Kern höchst fragil ist. Deswegen ist das
Existieren eines Rechtsstaats Garant dafür, dass diese
Staaten stabil und sicher sind.
({1})
Der Menschenrechtsschutz wird in der EU-Zentralasienstrategie sehr betont; das ist wichtig. Denn in allen
fünf Ländern Zentralasiens gibt es im Hinblick auf Menschenrechte und Demokratie Probleme. Allerdings muss
man differenzieren. Diese Probleme sind nicht in allen
fünf zentralasiatischen Staaten gleichermaßen ausgeprägt. Generell finden wir in all diesen Staaten ein
schwieriges Arbeitsumfeld für Nichtregierungsorganisationen vor, insbesondere in Turkmenistan und Usbekistan.
Was sich in Usbekistan in den Folterkellern des Staates abspielt, ist geradezu abscheulich und gehört zum
Schlimmsten, was in Sachen Folter auf der ganzen Welt
passiert. Im letzten Jahr hat dieser Staat der VN-Menschenrechtskommissarin Louise Arbour übrigens einen
Besuch verweigert; auch das ist bemerkenswert.
Nahezu alle zentralasiatischen Staaten haben Probleme mit ihrem Justizsystem. Herr Staatsminister, weil
Sie gerade die Situation in Andischan angesprochen und
als Problem bezeichnet haben, möchte ich darauf hinweisen: Das ist mehr als nur ein Problem. Dort ist damals ein schweres Verbrechen begangen worden. Das
hat es in dieser Form in keinem anderen zentralasiatischen Staat gegeben. Insofern ist die Feststellung, dass
Usbekistan für uns ein ganz besonders schwieriger Partner ist, richtig.
Ich glaube, es muss daran festgehalten werden, dass
die internationale Staatengemeinschaft das, was in
Andischan passiert ist, unabhängig überprüft und dass
daraus Konsequenzen gezogen werden. Was bisher passiert ist, ist völlig unzureichend. Von der usbekischen
Regierung müssen immer wieder weitere Anstrengungen
eingefordert werden.
({2})
Vor diesem Hintergrund verstehe ich nicht - so geht
es in Deutschland vielen -, dass die Sanktionen gegen
dieses Land, die insbesondere aus Reisebeschränkungen
bestanden, ausgerechnet unter deutscher Ratspräsidentschaft und kurz vor der Veröffentlichung der EU-Zentralasienstrategie gelockert worden sind. Dafür muss
man triftige Gründe anführen. Alleine das Sich-Einlassen auf einen Menschenrechtsdialog ist doch noch kein
Erfolg. Das ist erst die Voraussetzung für künftige Erfolge.
Man muss sich einmal überlegen, welches Signal
man an alle Länder in dieser Region sendet, wenn man
eine Sanktion, die im Zusammenhang mit dem Massaker verhängt wurde, das in Andischan begangen worden ist - hier sind keine Fortschritte festzustellen -, bereits bei einem solch geringen Zugeständnis wie der
Bereitschaft, miteinander zu reden, lockert. Das hat
nicht die Zustimmung der FDP gefunden. Ich glaube,
dadurch hat die deutsche Menschenrechtspolitik ein
gutes Stück ihrer Glaubwürdigkeit verloren.
({3})
Wünschenswert wäre, dass die Staaten, die für reale
Verbesserungen sorgen, auch etwas davon haben. Das
wäre der Ansatz der Liberalen im Bundestag.
Zu den Anträgen der Grünen möchte ich sagen: Sie
sind fundiert,
({4})
und wir erkennen ein hohes Maß an inhaltlicher Übereinstimmung. Das möchte ich an dieser Stelle betonen.
Jeder kann erahnen, warum ich das tue. In der letzten
Woche habe ich nämlich etwas anderes gesagt. Dieses
Mal stimmen wir Ihren beiden Anträgen zu. Ich glaube,
sie sind Beispiele dafür, wie man diese Strategie tatsächlich mit Leben füllen kann.
Vielen Dank.
({5})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Holger
Haibach das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir werden
wahrscheinlich nie erfahren, wer hinter der Ermordung
des usbekischen Journalisten Alisher Saipov und hinter
dem brutalen Raubüberfall auf den deutschen Journalisten Marcus Bensmann steckt. Unabhängig davon, ob es
sich bei diesen beiden Vorfällen um bloße Gewalttaten
ohne jeden Hintergrund handelt oder ob es, wie manchmal vermutet wird, Verbindungen zum Beispiel zum usbekischen Geheimdienst gibt, steht fest: Das Leben für
Journalisten - allerdings nicht nur für Journalisten - ist
in Zentralasien gefährlich. Diese Taten müssen ganz
deutlich verurteilt werden; ich glaube, das kann ich im
Namen aller Kolleginnen und Kollegen sagen. Denn die
Pressefreiheit ist ein Grundpfeiler unserer Demokratie.
({0})
Zentralasien hat schon sehr früh, seit Beginn der 90erJahre, eine wichtige Rolle in der deutschen Außenpolitik
gespielt. Da manchmal so getan wird, als sei das ganz
neu, möchte ich darauf hinweisen: Die Regierung von
Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher war eine der
ersten Regierungen weltweit, die die zentralasiatischen
Staaten nach ihrer Unabhängigkeit anerkannt und diplomatische Beziehungen zu ihnen aufgebaut hat. Insofern
war es konsequent und begrüßenswert, dass die Bundesregierung diesen Faden wieder aufgenommen und Zentralasien zu einem wichtigen Bestandteil ihrer Außenpolitik und der deutschen Ratspräsidentschaft gemacht
hat.
({1})
Es ist völlig klar - das hat auch der Staatsminister angesprochen -, dass wir in Zentralasien mannigfaltige Interessen und Einflussmöglichkeiten haben. Wir müssen
unsere Interessen verfolgen und unsere Einflussmöglichkeiten nutzen; denn diese Region ist für uns wichtig.
Zentralasien hat für Deutschland und für die Europäische Union, wenn es um die Frage der Sicherheit geht,
eine wichtige Bedeutung. Die zentralasiatischen Staaten
sind nicht nur Nachbarn Afghanistans. Usbekistan ist für
uns auch insofern wichtig, als wir mit Termes einen
Bundeswehrstützpunkt haben, der für unseren ISAFEinsatz dringend notwendig ist. Auch die Niederländer
wickeln Flüge über diesen Stützpunkt ab. Im Übrigen
will ich darauf hinweisen, dass die Franzosen Ähnliches
in Duschanbe haben. Es wird ja immer der Eindruck erweckt, wir seien die einzigen, die sich in dieser Region
aufhalten. Doch das ist definitiv falsch. - Das war der
erste Punkt.
Der zweite Punkt: Wir brauchen diese Länder auch
bei der Drogenbekämpfung und im Kampf gegen den
Terrorismus. Zentralasien, insbesondere Turkmenistan,
hat sehr große Erdgasvorkommen. Auch deshalb haben
wir ein großes Interesse daran, diese Länder auf unsere
Seite zu bekommen; der Kollege Toncar hat schon darauf hingewiesen. Es ist natürlich eine Frage, wie wir unsere Energiesicherheit gewährleisten, da wir in Zukunft
- weil unsere eigenen Ressourcen abnehmen, aber vielleicht auch deshalb, weil wir politische Entscheidungen
treffen, die heute aber nicht zu diskutieren sind - noch
stärker von Importen aus dem Ausland abhängig werden. Auch deswegen ist eine Region wie Zentralasien
von entscheidender Bedeutung. Auch deshalb haben wir
große Interessen in dieser Region.
Wir haben ein Interesse daran, dass sich diese Staaten
auf die Dauer stabil entwickeln, damit wir wirtschaftlich
gut zusammenarbeiten können, aber auf der Basis von
Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Genau da beginnt
das Problem. Denn es handelt sich bei all diesen Staaten
im Hinblick auf die Achtung der Menschenrechte, um es
ganz vorsichtig zu formulieren, nicht gerade um Musterknaben; auch darauf ist schon hingewiesen worden.
Bei einer solchen Zentralasienstrategie gibt es zwei
Probleme. Das erste ist: Es handelt sich um sehr unterschiedliche Staaten. Auf der einen Seite stehen relativ
weit entwickelte Länder wie Kasachstan, auf der anderen Seite Länder wie Turkmenistan, das gerade erst damit begonnen hat, sich zu öffnen. Mit der Abordnung
des Menschenrechtsausschusses - die Kollegin Graf war
auch dabei - waren, wenn man von der Kollegin Wegener absieht, die kurz vor uns da war, seit Jahren die ersten Abgeordneten des Deutschen Bundestages in dieser
Region, in diesem Land. Das zeigt sehr deutlich, wie abgeschlossen dieses Land ist und dass es mit einem Land
wie Kasachstan nicht vergleichbar ist.
Das zweite Problem ist, die unterschiedlichen Interessen vernünftig in Einklang zu bringen. Da ist die Frage
der Energiesicherheit, da ist die Frage der Stabilität, da
ist die Frage der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, da ist
der Kampf gegen den Terrorismus, und natürlich müssen
wir für Demokratie und Menschenrechte eintreten. Das
alles sind sehr schwierige, nicht einfach in Einklang zu
bringende Interessen.
Deshalb muss man schauen: Wie greift die Zentralasienstrategie? Ich finde es richtig, dass in der Zentralasienstrategie die Menschenrechte einen so prominenten
Platz einnehmen. Ich finde es auch richtig, dass man versucht, das miteinander zu verbinden. Jetzt, nachdem einige Zeit vergangen ist, kann man einmal schauen, wo
wir an der Stelle stehen. Wir müssen - bei allem, was zu
Recht über die Fortschritte wie den Menschenrechtsdialog mit Usbekistan, den Ad-hoc-Dialog mit Turkmenistan gesagt worden ist - sicherlich feststellen, dass wir
nicht so weit sind, wie wir gerne wären.
Deswegen stellt sich die Frage, wie wir uns ausrichten, wenn es in Zukunft um die Aufhebung der Sanktionen gegen Usbekistan geht. Diese Frage ist von großer
Bedeutung. Meine persönliche Meinung ist, dass es zum
jetzigen Zeitpunkt - diese Frage steht ja demnächst an ein falsches Zeichen wäre, weiterhin darauf zu drängen,
die Sanktionen zu lockern; denn so groß sind die Fortschritte beileibe nicht, dass wir das zulassen könnten.
({2})
Wir würden auch deshalb ein falsches Zeichen setzen,
weil von einer solchen Entscheidung eine Sogwirkung
auf andere Länder ausgeht. Wenn wir hier zu nachgiebig
sind, werden wir unsere Ziele nicht erreichen. Ich verhehle nicht, dass es Fortschritte gibt, zum Beispiel die
Abschaffung der Todesstrafe in Usbekistan. Aber ich
glaube nicht - gerade vor dem Hintergrund, was wir von
Nichtregierungsorganisationen wie Human Rights
Watch hören -, dass das ausreicht, um davon sprechen
zu können, dass wir dort schon gute Verhältnisse hätten.
Die zweite Frage ist: Setzen wir die notwendigen Mittel ein? Die EU investiert 750 Millionen Euro in ihre
Zentralasienstrategie. Das ist sehr viel Geld; aber man
darf sich nichts vormachen: Das ist wesentlich weniger,
als ein Land wie China an dieser Stelle investiert. Wenn
wir das wirklich ernst meinen, wenn wir dort wirklich
investieren wollen und wenn wir neben Russland, China
und übrigens auch der Türkei, die dort eine sehr große
Rolle spielt, wirklich ernst genommen werden wollen,
dann stellt sich natürlich die Frage, ob das wirklich genug ist und ob wir da die richtigen Prioritäten setzen.
Der dritte Punkt, der in diesem Zusammenhang aus
meiner Sicht ausgesprochen wichtig ist, ist die Frage, ob
wir es schaffen, alle Punkte, die in der EU-Zentralasienstrategie genannt sind, wirklich miteinander zu verbinden. Machen wir unsere wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Zusagen auf den verschiedensten Gebieten
wirklich davon abhängig, dass Fortschritte bei der
Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie erzielt werden?
Orientiert sich der Menschenrechtsdialog an nachvollziehbaren Zielen? Ich bin immer für Dialog; denn
ohne Dialog wird man nichts erreichen können.
({3})
Ich bin aber gegen Dialog als Feigenblattveranstaltung.
({4})
Es kann nicht sein, dass der Dialog sozusagen dafür herhalten muss, dass wir sagen können, einmal darüber geredet zu haben, während wir ansonsten weiterhin einfach
„business as usual“ betreiben. Ich denke, das kann und
darf es nicht sein.
Die beiden Anträge der Grünen, die uns heute vorliegen, bieten aus meiner Sicht wichtige Ansätze. Besonders gefällt mir, dass die starke Rolle der OSZE in dieser
Region betont wird. Die OSZE und ODIHR machen dort
eine wirklich wichtige Arbeit, und sie verdienen unsere
volle Unterstützung - gar keine Diskussion.
Mir fehlen in den Anträgen aber einige Punkte, zum
Beispiel der Zugang des IKRK zu den Gefängnissen - in
Usbekistan, aber auch in anderen Ländern. Einer der beiden Anträge ist schon etwas älter. Das merkt man ihm
auch an. Deswegen werden wir ihm nicht nähertreten
können, obwohl ich, wie gesagt, viele wichtige Punkte
darin finde.
Ich komme zum Schluss. Es gibt eine Ausarbeitung
vom Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages über die Zentralasienstrategie der EU. Ich finde, in
dem Ausblick in dem Papier wird das so gut zusammengefasst, dass man es nicht besser zusammenfassen kann.
Dort heißt es:
Die EU befindet sich in ihren Außenbeziehungen
zweifellos in einem grundsätzlichen Dilemma, das
die neue Zentralasien-Strategie deutlich aufzeigt:
Heute werden die meisten Staaten der Welt immer
noch von diktatorischen bzw. halbdiktatorischen
Regimes beherrscht. Andererseits ist die EU in einer globalisierten Welt zunehmend von ausländischen Partnern abhängig. Was bleibt, ist ein oftmals
schwieriger Balanceakt zwischen dem legitimen Interesse an Rohstoffen und Absatzmärkten auf der
einen und dem Bekenntnis und der Förderung demokratischer Werte auf der anderen Seite. In der
Zentralasien-Strategie hat die Kommission den
Menschenrechten … einen relativ breiten Platz eingeräumt. Jetzt bleibt abzuwarten, wie dieser mit einem konstruktiven politischen Dialog ausgefüllt
wird.
Dabei wünsche ich der Kommission und auch der
Bundesregierung viel Erfolg.
Danke sehr.
({5})
Die Rede des Kollegen Michael Leutert für die Frak-
tion Die Linke nehmen wir zu Protokoll.1)
1) Anlage 5
Vizepräsidentin Petra Pau
Das Wort hat die Kollegin Marieluise Beck für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte von diesem Platz aus zunächst Marcus
Bensmann, den wir alle als sehr unbeugsamen Berichterstatter aus der Region kennen, nach dem brutalen
Überfall unsere guten Genesungswünsche überbringen.
Wir hoffen, dass die Hintergründe dieses Überfalls aufgeklärt werden können.
({0})
Wir diskutieren heute zum ersten Mal über die EUZentralasienstrategie. Dass die Anträge zum Teil etwas
veraltet sind, hat etwas damit zu tun, dass die Koalition
in diesen Punkten nicht wirklich sehr diskussionsfreudig
ist. Das hat vielleicht auch etwas damit zu tun, dass man
noch nicht sehr weit über die Projekte und Vorhaben hinaus ist, die in dem Papier beschrieben sind. Der Staatsminister hat eben gesagt, dass man viele Ideen im Kopf
hat. Das bezeichnet das Dilemma: Das Umsetzen vom
Kopf in die Hände, also in die Tat, lässt doch noch sehr
zu wünschen übrig. Schon im Frühjahr soll eine erste
Überprüfung stattfinden. Insofern wird es langsam Zeit,
darüber zu sprechen, was nun konkret passieren soll.
({1})
Ja, wir haben im Bereich der Energie eigene Interessen an dieser Region, aber eben nicht nur, weil wir mit
Ressourcen aus dieser ressourcenreichen Region versorgt werden wollen. Wir wollen auch, dass diese
Region nicht all die Fehler wiederholt, die wir als Industrienation mit der klima- und ökologieschädigenden Verwendung von Ressourcen begangen haben.
Insofern gibt es ein beidseitiges Interesse. An uns besteht der Wunsch, dass wir etwas von dem vermitteln,
was wir in den letzten Jahren in Bezug auf die Nachhaltigkeit und hinsichtlich vernünftiger Grundsätze für
nachhaltiges Wirtschaften im Bereich der Ressourcennutzung gelernt haben. Das liegt auch in unserem eigenen Interesse, weil wir alle wissen, dass wir der Klimakatastrophe nur gemeinsam mit den zentralasiatischen
Ländern begegnen können. Wir sollten im Interesse dieser Region mit dem, was wir anzubieten haben, in den
Wettlauf mit der Shanghai Corporation und den Angeboten Russlands und Chinas, die bei angepassten und nachhaltigen Ansätzen nicht so weit sind, eintreten.
({2})
Das Gleiche gilt für den Wasserbereich. Jeder weiß,
dass Wasser das zentrale Problem dieser Region sein
wird. Der Aralsee ist faktisch schon tot. Das ist ein Menetekel dafür, was diese Region erwartet, wenn es nicht
gelingt, zu einem klugen und gemeinsamen Wassermanagement zu kommen. Statt des Baus riesiger und zerstörerischer Staudämme sind nachhaltiges und angepasstes Denken sowie entsprechende Technologien und
Pläne gefragt. Wir sollten auch hier Angebote machen
und nicht nur als mögliche Nutznießer im eigenen Interesse agieren.
Zu den Menschenrechten: Die schwierige Auseinandersetzung, die wir führen und die wir alle kennen, wird
nicht zu gewinnen sein, wenn wir nur auf die ethische
Verpflichtung verweisen. Wir müssen vielmehr in der
Auseinandersetzung belegen, dass offene Gesellschaften, Demokratie, Redefreiheit und Medienfreiheit
Grundlagen für die Prosperität von Gesellschaften sind.
Die zentralasiatischen Staaten werden ihre eigenen
Kräfte nicht freisetzen können, werden die Korruption
nicht bekämpfen können, werden keine neugierigen jungen Menschen und keine jungen Eliten hervorbringen
können, wenn sie ihrer Bevölkerung keine Freiheit geben. Das ist die Botschaft, die wir zu übermitteln haben.
Es liegt auch im Interesse dieser Gesellschaften, den
Weg von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Freiheit und
Wahrung der Menschenrechte zu gehen; denn nur so
können diese Länder nach der langen und schweren
Sowjetzeit ihre eigenen Fähigkeiten und Potenziale entwickeln. Dazu muss diese Region, die einst kulturell so
reich war - das können wir noch heute spüren - und die
gerade wegen ihrer Geschichte mit viel Respekt von uns
betrachtet wird, wieder an demokratisches und freiheitliches Denken anknüpfen.
({3})
Ich hoffe, dass wir die dafür notwendige Auseinandersetzung - obwohl sie manchmal sehr direkt ist - in
gegenseitigem Respekt führen werden.
Schönen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Angelika Graf für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Staatsminister Erler hat es gerade angesprochen:
Die brisante Situation in Zentralasien wurde lange - ich
meine: zu lange - von der EU kaum wahrgenommen.
Erst Deutschland hat die EU-Ratspräsidentschaft genutzt, eine EU-Zentralasienstrategie entworfen und damit die Chance begründet, dem Druck von China, Russland und anderen etwas entgegenzusetzen und die
Region nach Europa zu öffnen.
Die Länder Zentralasiens befinden sich seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion in einer schwierigen
Transformationsphase. Sie sind sich untereinander zum
Teil spinnefeind. Korruption, Willkür und Gewalt bestimmen in weiten Teilen der Region das tägliche Leben.
Das Massaker von Andischan im Mai 2005 und der fehlende Wille der usbekischen Regierung, eine lückenlose
Aufklärung zu ermöglichen, sind nur ein Teil im Puzzle
der Probleme. Die ungleiche Verteilung der Energiereserven und insbesondere der Wasserreserven ist zusätzli14730
Angelika Graf ({0})
cher Sprengstoff für die Zukunft. Hinzu kommt, dass ein
Großteil der Bevölkerung Zentralasiens jünger als
25 Jahre ist und die Arbeitslosigkeit sehr hoch ist.
Ich bin der festen Überzeugung, dass nur der Aufbau
rechtsstaatlicher Strukturen, Investitionen in Bildung
und Ausbildung der jungen Leute und die Berücksichtigung der Umweltbelange auf Dauer zur Stabilisierung
der Region beitragen werden. Deshalb begrüße ich die
während der EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands erfolgte Aufnahme eines institutionalisierten Menschenrechtsdialoges sehr. Am 19. Mai 2008 wird die nächste
Sitzung stattfinden.
Sehr begrüßenswert ist auch, dass Kirgisistan im
Sommer 2007 und Usbekistan zum 1. Januar 2008 nach
einem Moratorium die Todesstrafe abgeschafft haben.
Aber es liegt zweifellos noch viel Arbeit vor den Akteuren. Herr Haibach hat schon deutlich beschrieben, was
bezüglich der Sanktionen notwendig ist. Ich kann ihm da
nur zustimmen.
Die verstärkte Zusammenarbeit der EU mit den Ländern Zentralasiens gibt aber auch Hoffnung für eine gemeinsame friedliche Entwicklung in der gesamten Region. Das ist gut für jeden, der sich wirtschaftlich in
Zentralasien engagieren möchte. Auch wenn man rein
ökonomischen Rationalitäten den Vorrang gibt, so versteht es sich doch von selbst: Der zuverlässigste Kooperationspartner ist der, der sich an den Prinzipien der
Rechtsstaatlichkeit orientiert.
({1})
Der kreativere und innovativere Kooperationspartner ist
der, bei dem die Menschen geistige und räumliche Freiheit zur Entwicklung haben.
({2})
Der erfolgreichere Kooperationspartner ist der, der seinen Bürgern die Möglichkeit gibt, zu wählen, welches
Leben, auch in politischer Hinsicht, sie führen wollen.
Ich sage das hier mit so viel Bedacht und so viel
Herzblut, weil unser verehrter Wirtschaftsminister die
Region demnächst mit einer Delegation mit 80 Teilnehmern besuchen wird. Ich gehe fest davon aus, dass es da
im Sinne unserer Zentralasienstrategie nicht nur um die
Pipelines geht.
({3})
Der Menschenrechtsausschuss wird in Zentralasien
weiterhin zugegen sein. Wir werden diese Region im Fokus behalten und dies auch durch weitere Besuche deutlich machen.
Was das Abstimmungsverhalten betrifft, hat Herr Haibach schon das Nötige gesagt.
({4})
- So ist das.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Hedi Wegener für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen! „Die EU-Zentralasienstrategie mit Leben füllen“,
so lautet der Titel des Antrags. Der Antrag ist schon ein
bisschen älter; Sie haben es erwähnt. In der Zwischenzeit ist eine Menge getan worden. Herr Erler hat das sehr
dezidiert ausgeführt. Viele im Auswärtigen Amt und vor
allen Dingen Sie sind mit viel Herzblut dabei.
({0})
Um die Strategie mit Leben zu füllen, habe auch ich
meinen Teil beigetragen. Ich habe die Botschaften der
zentralasiatischen Länder auf diese Debatte aufmerksam
gemacht. Ich freue mich sehr, dass Sie meiner Anregung
gefolgt sind und auf der Tribüne an dieser Debatte teilnehmen. Herzlich willkommen in diesem Hohen Haus!
({1})
Diese Debatte ist nämlich auch für Sie. Ich spreche Sie
in meiner weiteren Rede direkt an.
Nutzen Sie die Bereitschaft der Europäischen Union!
Nutzen Sie die Bereitschaft Deutschlands zu einer engen
Zusammenarbeit!
Ich weiß sehr wohl, dass Sie in Ihrer Unabhängigkeit
bisher ein unterschiedliches Tempo vorgelegt haben,
dass Sie das auch weiterhin tun und dass sich Ihre Länder sehr verschieden entwickeln, auch deshalb, weil die
Länder verschieden sind, weil sie ihre Eigenarten und
Besonderheiten behalten wollen und auf ihre Geschichte
Wert legen. Das sollen sie auch. Die Strategie berücksichtigt die Unterschiede zwischen den Einzelnen und
setzt gleichzeitig auf die Gemeinsamkeiten.
Sie wünschen sich starke bilaterale Beziehungen zur
EU, aber am liebsten eigentlich zu jedem einzelnen
Land, sehr gerne auch zu Deutschland. Das Modell Europa imponiert Ihnen. Dennoch ist Ihnen das Einstehen
füreinander - der stärkeren Länder für die schwächeren,
der wohlhabenden für die weniger wohlhabenden - doch
noch ziemlich fremd und geht Ihnen ein bisschen zu
weit. Aber gemeinsam sind Sie stärker. Gemeinsam können Sie mehr bewegen, und gemeinsam können Sie auch
mehr Probleme lösen, zum Beispiel die Probleme Wasser, Drogenhandel, Terrorismus, Umwelt und Korruption. Unsere Kollegen in den Parlamenten und Ihre Präsidenten müssten eigentlich schlaflose Nächte haben ob
der Probleme, die Ihre Länder haben.
Sorgen habe ich auch, zum Beispiel hinsichtlich der
Logistik in Ihren Ländern: Wie komme ich eigentlich
von einem Staat in den anderen? Wie überwinde ich
Grenzprobleme? Wie kann ich als Unternehmerin die
großen Zollschwierigkeiten in Ihren Ländern überwinden? Zu nennen sind aber auch die Armut in Tadschikistan, die kalten Winter in Kirgisistan, die EnergieversorHedi Wegener
gungsprobleme, die mangelnde Pressefreiheit in
Usbekistan sowie - es wurde schon erwähnt - der brutale Überfall auf einen deutschen Journalisten. Das alles
macht uns doch wirklich Sorgen.
Bei aller Kritik, die Sie von uns gehört haben, haben
Sie in Deutschland große Fans Ihrer Region. Es gibt
viele Deutschstämmige, die ein starkes Bindeglied zwischen unseren Ländern sind. Das können Sie nutzen. Die
Rechtsstaatlichkeit ist das Wichtigste, was Sie in Ihren
Ländern erreichen müssen. Deshalb helfen wir Ihnen
gerne. Es sind noch viele Anstrengungen erforderlich.
Deutschland ist dazu bereit. Die Strategie wird Sie dabei
unterstützen.
Bolschoe Spasibo - recht herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel
„Die EU-Zentralasienstrategie mit Leben füllen“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/5674, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4852 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und
der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der antragstellenden Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der FDP-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 18 b: Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel
„Menschenrechte in Zentralasien stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/5588, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 16/2976 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Das ist nicht der
Fall. Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der übrigen Fraktionen angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 25. Januar 2008,
11 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.