Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 1/18/2008

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich und wünsche uns einen guten Tag und gute Beratungen. Wir treten sofort in unsere Tagesordnung ein. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und b sowie den Zusatzpunkt 8 auf: 21 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Schummer, Ilse Aigner, Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Willi Brase, Nicolette Kressl, Jörg Tauss, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Junge Menschen fördern - Ausbildung schaffen und Qualifizierung sichern - zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz ({1}), Britta Haßelmann, Brigitte Pothmer, Josef Philip Winkler und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Perspektiven schaffen - Angebot und Struktur der beruflichen Bildung verbessern - Drucksachen 16/5730, 16/5732, 16/7754 Berichterstattung: Abgeordnete Uwe Schummer Patrick Meinhardt Priska Hinz ({2}) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Aufstieg durch Bildung - Qualifizierungsinitiative der Bundesregierung - Drucksache 16/7750 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({3}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick Meinhardt, Uwe Barth, Cornelia Pieper, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Mehr Chancen durch bessere Bildung und Qualifizierung - Drucksache 16/7733 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Das stößt offenkundig auf große Zustimmung. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Frau Dr. Schavan.

Dr. Annette Schavan (Minister:in)

Politiker ID: 11003836

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Das Kabinett hat in seiner Sitzung am 9. Januar die Qualifizierungsinitiative „Aufstieg durch Bildung“ verabschiedet. Damit sind folgende Ziele verbunden: erstens die Bildungschancen zu stärken, zweitens die Durchlässigkeit im Bildungssystem zu erhöhen, drittens die Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung zu fördern, viertens jedem Jugendlichen - so haben wir es auch im Koalitionsvertrag vereinbart - eine Chance auf Schulabschluss und qualifizierte Ausbildung zu geben und schließlich fünftens mit den Ländern ein Maßnahmenbündel zu vereinbaren, das im Herbst 2008 beim Treffen Redetext der Regierungschefs von Bund und Ländern verabschiedet werden wird. Mit der Qualifizierungsinitiative, die in zwei Stufen durchgeführt wird, sollen alle Akteure an einen Tisch gebracht werden. Die Initiative der beiden Regierungsfraktionen „Jugend - Ausbildung und Arbeit“ vom letzten Sommer wurde aufgegriffen und in gemeinsamer Verantwortung des Arbeits- und des Bildungsministeriums in konkrete Maßnahmen umgesetzt. Dieses Maßnahmenbündel, das vom Bund verantwortet wird, wird mit den Maßnahmen der Länder zusammengebracht und ist ein wichtiges, ja zentrales Reformwerk für die zweite Hälfte der Legislaturperiode unter der Überschrift „Aufstieg durch Bildung“. Denn wir wollen, dass jeder Jugendliche in Deutschland zu Abschluss und Qualifikation kommt. ({0}) Im Einzelnen geht es bei der Initiative um Folgendes: Die Bildungschancen zu stärken heißt, vermehrt in die frühkindliche Bildung zu investieren und sie zu profilieren. Deshalb ist die flächendeckende Weiterbildungsinitiative für Erzieherinnen und Erzieher vorgesehen. Im ersten Durchgang sollen 80 000 der insgesamt 230 000 Erzieherinnen und Erzieher in Deutschland weitergebildet werden, und zwar in gemeinsamer Verantwortung des Familien- und des Bildungsministeriums, mit dem Deutschen Jugendinstitut und anderen Partnern. Es ist viel in Bewegung im Hinblick auf die Qualifikation derer, die in Kindertagesstätten arbeiten. Das ist wichtig, um Bildung in den frühen Jahren zu stärken. Dazu gehört die bessere organisatorische und konzeptionelle Verbindung zwischen Grundschulen und Kindertagesstätten. Wir werden die entsprechenden Bildungshäuser in mehreren Bundesländern begleiten und fördern. Hier entsteht künftig die erste gemeinsame Bildungsphase des Bildungssystems in Deutschland. ({1}) Die Initiative „Haus der kleinen Forscher“ wird ausgebaut. Bis 2010 sollen von dieser Initiative 10 000 Kindertagesstätten erreicht werden. Wer will, dass sich mehr Jugendliche in Deutschland für Naturwissenschaften und Technik entscheiden, muss früh ansetzen und dafür sorgen, dass der Zugang zu Naturphänomenen und allem, was in dieser Phase möglich ist, offen ist. Bildungschancen stärken heißt Sorge dafür tragen, dass jeder einen Schulabschluss macht. Die Kultusministerkonferenz spricht von einer Halbierung der Zahl der Schulabbrecher. Wir haben bereits einen leichten Rückgang in den letzten Jahren erreicht. Nun ist ein Schub notwendig. Dazu gibt es eine Reihe von Maßnahmen: flächendeckende Praxisklassen, Einrichtung von Ausbildungspaten, insgesamt 73 Projekte für rund 1 500 sogenannte harte Schulverweigerer, stärkere Zusammenarbeit, Erschließung des Potenzials überbetrieblicher Berufsbildungsstätten für die Arbeit in den Abgangsklassen vor allen Dingen an Hauptschulen. Ich finde, es ist ein bildungspolitisch, gesellschaftspolitisch und jugendpolitisch zentrales Ziel, dass jeder Jugendliche in Deutschland zu einem Schulabschluss kommt. ({2}) Über die Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung wird in Deutschland seit langem gesprochen. Ich glaube, wir sind uns in diesem Hause einig: Die berufliche Bildung in Deutschland, die duale Ausbildung, die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und Schulen, ist ein Flaggschiff im deutschen Bildungssystem und einer der zentralen Gründe, warum die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland, verglichen mit internationalen Werten, deutlich niedriger ist. Das System der dualen Ausbildung muss gestärkt werden. Gleichwertigkeit muss erreicht werden. Wir wollen uns vor allem um diejenigen kümmern, die in den letzten Jahren keine Chance bekommen haben. So ist es im Innovationskreis „Berufliche Bildung“ beschlossen worden. Dort haben wir - genauso wie im Antrag der Regierungsfraktionen - gesagt, dass diese Gruppe in den nächsten Jahren eine zweite Chance braucht. Dafür werden Ausbildungsplätze geschaffen. Die Anregungen der Fraktionen werden aufgegriffen. Herr Kollege Scholz wird dazu gleich mehr sagen. Ich bin davon überzeugt, dass das eine große Chance ist, in den nächsten zwei, drei Jahren die Probleme, die sich in den letzten Jahren angehäuft haben, zielgenau anzugehen. Jeder braucht berufliche Qualifikation. Es kann nicht sein, dass 15 Prozent der 20- bis 29-Jährigen in Deutschland keinen Berufsabschluss haben. ({3}) Diese Regierung und die sie tragenden Fraktionen haben die Kraft, dieses Thema aufzugreifen. Dazu gehört die Stärkung sozialpädagogischer Ausbildungshilfen für Unternehmen, die eine zweite Chance geben. Dazu gehören die Ausbildungsbausteine für diejenigen, die abgebrochen haben und wieder in eine neue Ausbildung einsteigen werden. Um Gleichwertigkeit zu schaffen, sind aber auch finanzielle Anreize notwendig. Deshalb führen wir ein Aufstiegsstipendium für Absolventinnen und Absolventen der beruflichen Bildung ein, die ein Studium absolvieren wollen. Das ist ein ganz neues Instrument mit einer elternunabhängigen Förderung. Wir sagen begabten jungen Leuten aus der beruflichen Bildung: Ja, wir unterstützen den Weg ins Studium. ({4}) Des Weiteren geht es um die strukturelle Weiterentwicklung des Meister-BAföG. Eine 10-prozentige Erhöhung ist erfolgt. Nun geht es darum, mehr Berufe und mehr Personen zu fördern, Familien stärker zu unterstützen, die Fortbildungsmöglichkeiten für Migranten zu verbessern, Impulse für mehr Existenzgründungen und zusätzliche Arbeits- und Ausbildungsplätze zu geben. 1996 hat Jürgen Rüttgers das Meister-BAföG eingeführt. ({5}) Es ist ein wichtiges Signal für die Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung. Ich freue mich - ich habe das gestern in einer Pressemitteilung gelesen -, dass es auch innerhalb der Fraktionen - die SPD-Fraktion hat Eckdaten vorgelegt - einen großen Konsens darüber gibt, das Meister-BAföG strukturell weiterzuentwickeln, den Kreis derjenigen, die anspruchsberechtigt sind, zu erweitern. Meine Damen und Herren, des Weiteren werden wir einzelne Maßnahmen auf den Weg bringen, die genau an den Stellen ansetzen, die heute immer wieder analysiert werden: Stichwort Naturwissenschaften, Interesse für Technik. Ich habe über die frühkindliche Bildung gesprochen. Die nächste wichtige Schnittstelle ist die Schnittstelle zwischen Schule und Studium. Deshalb ist es erforderlich, die Möglichkeit eines Freiwilligen Technischen Jahres in der Zeit zwischen Abitur und Studienbeginn einzuführen. In diesem Zusammenhang erwähne ich auch den nationalen Pakt zur Gewinnung von mehr jungen Frauen für natur- und ingenieurwissenschaftliche Berufe, an denen sich rund 30 Unternehmen und große Verbände beteiligen werden, aber auch wichtige Maßnahmen für die Verbesserung der Chancen von Frauen im Bereich der Hochschulen. Als Stichworte nenne ich hier das Professorinnenprogramm sowie mit Blick auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf das Programm zur Qualifizierung arbeitsloser Akademikerinnen und Akademiker, das gezielt für Berufsrückkehrerinnen geöffnet werden soll. Das Stärken von Bildungschancen bezieht sich auch auf das Lernen im Lebenslauf. Der „Innovationskreis Weiterbildung“ hat gute Impulse erarbeitet, übrigens unter Beteiligung der Länder. Wir werden analog zum Ausbildungspakt eine Weiterbildungsallianz begründen. Der Ausbildungspakt hat in den letzten Jahren viel Bewegung im Bereich der Ausbildung geschaffen. So soll es auch im Bereich der Weiterbildung sein. Konkrete Beiträge aller Partner werden mit Ländern, Kommunen - es gibt sehr innovative Ansätze in den Kommunen - und den Sozialpartnern vereinbart werden. Im Rahmen der Vertiefung des Konzepts „Lernende Regionen“ soll die Weiterbildungsbeteiligung in Deutschland von 43 auf 50 Prozent gesteigert werden. Noch in diesem Jahr werden wir mit den großen Stiftungen eine Initiative in Deutschland starten - das Einverständnis aller Beteiligten liegt vor -, um regionale Weiterbildungsstrukturen aufzubauen, letztlich also Sorge dafür zu tragen, dass im Bildungssystem das geschieht, was sich im Wissenschaftssystem schon anbahnt: Alle Bildungseinrichtungen müssen sich die Frage stellen, welchen Beitrag sie zu lebenslanger Bildung und zu lebenslangem Lernen im gesamten System leisten können. Meine Damen und Herren, ich bin davon überzeugt, dass es uns mit diesem Maßnahmenbündel, das schon jetzt auch andere Akteure einschließt, gelingen wird, an wichtigen Schnittstellen im Bildungssystem - in den frühen Jahren mit Blick auf die Gleichwertigkeit der unterschiedlichen Segmente des Bildungssystems, später an der Schnittstelle von beruflicher zu akademischer Bildung sowie von Schule und Studium - Veränderungen herbeizuführen, die zu einer deutlichen Verbesserung des Bildungssystems und vor allem - das ist ein zentrales Anliegen - zu einer deutlichen Verbesserung der Bildungschancen für Jugendliche in Deutschland beitragen. Ich danke den anderen Häusern für die gute Zusammenarbeit und den Fraktionen für ihre Impulse in dem Antrag aus dem Juni 2007. Vielen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich danke der Bundesministerin für die Einhaltung der Redezeit, was bei Mitgliedern der Bundesregierung nicht immer der Fall ist. ({0}) Deswegen kann ich ohne unnötigen Verzug im Rahmen der vereinbarten Rednerliste dem Kollegen Uwe Barth für die FDP-Fraktion das Wort erteilen. ({1})

Uwe Barth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003735, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Qualifizierungsoffensive der Bundesregierung ist kaum beschlossen, aber schon im Netz verfügbar. Wie man hört, ist auch die Hochglanzbroschüre bereits auf dem Weg. ({0}) Ich kann direkt vor mir sehen, wie die Menschen zu Hause am PC und am Küchentisch sitzen und das Werk mit Spannung lesen. ({1}) Da lesen sie dann Sätze wie die folgenden: Exzellenz in der Bildung ist ein Auftrag aus unserer Geschichte und Tradition, der in die Zukunft übersetzt werden muss. Bildung und Qualifizierung sind der Schlüssel für die Zukunft unseres Landes und aller Bürgerinnen und Bürger. ({2}) Das sind Sätze, die nun wahrlich keine neuen Erkenntnisse darstellen und die sich in so ziemlich jedem Parteiprogramm so oder so ähnlich finden lassen. Den mit der Offensive angestrebten Erkenntnis- und Wissensgewinn, Frau Ministerin, wünsche ich vor allem dem Erfinder des Wortes „Wissensbeschleunigung“. Dieses Wort enthüllt für mich geradezu beispielhaft die Sinnleere und vor allem den plakativen Charakter der ganzen Veranstaltung. Allein über dieses Wort aus dem für Bildung zuständigen Ministerium müsste man, wenn mehr Zeit wäre, länger reden. Die Zeit habe ich leider nicht. „Wissensbeschleunigung“! Vor allem inhaltlich enttäuscht die Initiative. Die Ansätze und Strategien sind für die Lösung der beschriebenen Probleme weitgehend ungeeignet. In dem Ziel, unsere Bildungseinrichtungen wieder zur Weltspitze zu führen und damit unseren Kindern Chancen im globalen Wettbewerb zu eröffnen, sind wir uns völlig einig. Doch bis dahin ist es ein weiter Weg. In einer Umfrage des DIHK aus dem Jahr 2006 beklagte jedes zweite Unter14450 nehmen vor allem die mangelnde Ausbildungsreife der Schulabgänger. 12 Prozent der Befragten gaben an, dass sie nicht alle Ausbildungsplätze, die zur Verfügung stehen, besetzen können, weil die Schulabgänger unzureichend ausgebildet sind. Gestern Abend hat der Präsident des Branchenverbunds der ostdeutschen Bauindustrie gesagt, dass 22,5 Prozent der Bewerber nicht hinreichend gut lesen oder rechnen können. Ich kann mir diese Zahl wirklich nicht vorstellen, aber der Mann macht einen seriösen Eindruck, und ich habe keinen Anlass, anzunehmen, dass er sich die Zahlen nur ausgedacht hat. ({3}) Zur Lösung des Grundsatzproblems ist das, was Sie uns hier liefern, so brauchbar wie die Zahnspange für Rentner: wohl gut gemeint, aber zu spät angesetzt und deshalb oft ins Leere gehend. ({4}) Die FDP hat mit ihrem eigenen Antrag „Mehr Chancen durch bessere Bildung und Qualifizierung“ ihre Vorschläge hier eingebracht. Auf der Suche nach Lösungsansätzen haben wir uns mit Akteuren auseinander- und vor allem zusammengesetzt. Herausgekommen ist ein gemeinsames Positionspapier mit dem Zentralverband des Deutschen Handwerks, welches sich gerade den Defiziten im Umfeld der beruflichen Bildung widmet. Wir haben Ansätze formuliert, die den Bereich der vorschulischen und der schulischen Bildung umfassen, eine Neuorientierung auch im Bereich der dualen Berufsausbildung einschließen und schließlich auch die Hochschule und das lebenslange Lernen mit einbeziehen. Teilweise gibt es dabei durchaus Parallelen, aber auch Abweichungen und neue Ansätze. Wenn es darum geht, junge Menschen vor Schulversagen, vor mangelnder Ausbildungsreife und damit vor Perspektivlosigkeit zu schützen, dann ist ein Professorinnenprogramm wenig hilfreich. Auch Fortbildungsprogramme für Erzieherinnen und Erzieher gibt es hinreichend viele. Das Problem ist, dass aufgrund der engen Personaldecke an den Kindertagesstätten Erzieherinnen und Erzieher viel zu selten in der Lage sind, von den angebotenen Programmen Gebrauch zu machen. Ähnlich verhält es sich mit dem Aufstiegsstipendium für Berufsabsolventen. Natürlich müssen mehr Absolventinnen und Absolventen für ein Studium gewonnen werden. Doch scheitert dies in aller Regel nicht an den finanziellen oder rechtlichen Hürden eines Studiums. Alleine die begrenzten Studienplatzkapazitäten stehen diesem Ziel im Wege. Gerade deswegen müssen wir im Ausschuss gemeinsam bei den Verhandlungen zum Hochschulpakt II darauf drängen, dessen Volumen zu erhöhen, um hier etwas bewirken zu können. ({5}) Frau Ministerin, zu Ihrem ursprünglichen Vorschlag, einen Ausbildungsbonus einzuführen, hatten sich Arbeitgeberverband und Handwerksvereinigung zu Wort gemeldet und vor Fehlsteuerungen und Mitnahmeeffekten gewarnt. Hier haben Sie tatsächlich reagiert und das gut funktionierende Modell eines im Übrigen FDP-geführten Ministeriums aus Baden-Württemberg nahezu eins zu eins übernommen. Das ist in Ordnung. ({6}) In Baden-Württemberg und Niedersachsen funktioniert der Ausbildungsplatzzuschuss gut, und er ist ein Erfolgsmodell. Wir warten mit Spannung ab und hoffen gemeinsam, dass möglichst viele der immerhin 400 000 vom Ausbildungsmarkt derzeit ausgeschlossenen Altbewerberinnen und Altbewerber von dieser Maßnahme profitieren können. Ob letztlich die erhofften 100 000 Ausbildungsplätze entstehen, bleibt abzuwarten. Ich muss sagen, dass angesichts der aus meiner Sicht etwas unsystematischen und praxisfernen Ausgestaltung des Paketes durchaus Skepsis angebracht ist. Vielen Dank. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Bundesminister für Arbeit und Soziales, Olaf Scholz. ({0})

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bildung, Ausbildung und Qualifizierung sind Schlüsselfragen im Hinblick auf die Chancen jedes Einzelnen und die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft. Deshalb ist die Qualifizierungsinitiative zu Recht ein ganz zentrales Vorhaben der Großen Koalition. Ich will hier etwas zu den arbeitsmarktpolitischen Projekten dieser Initiative sagen. Dabei stehen die Ausbildungs- und Berufschancen junger Menschen natürlich im Mittelpunkt. Unsere Marktwirtschaft lebt davon, dass derjenige, der einen Beruf lernen will, das auch kann. Deshalb ist es unsere zentrale Aufgabe, dass wir dieses Versprechen erfüllen. ({0}) Wir müssen jungen Menschen helfen, denen eine fehlende Ausbildung zum Stolperstein wird, obwohl sie mit aller Macht eine Ausbildung wollen und sich intensiv darum bemühen. Wir müssen auch diejenigen wieder auf das Gleis Richtung Arbeitswelt setzen, die eine schlechte Schulbildung haben und denen der Wert der Ausbildung vielleicht erst vermittelt werden muss. Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass es Jahr für Jahr ganze Hauptschulklassen gibt, deren Schüler allesamt keine Lehrstelle finden. Wir sind schon daran gewöhnt, dass solche Hauptschulklassen am Ende der Ausbildungssaison in den Zeitungen abgebildet sind. Ich glaube, dass wir uns das nicht nur anschauen sollten; vielmehr muss es für uns ein Ansporn zum Handeln sein. ({1}) Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass viele Jugendliche beim ersten Kontakt mit dem Berufsleben nur Ablehnung erfahren. Man muss sich auch die Reaktionen der jungen Leute vorstellen, wenn einige abstrakt davon reden, dass sie selbst nicht ausbildungsgeeignet seien. Alle brauchen eine Chance, wenn sie sich anstrengen. Ich wiederhole: alle, auch schlechte Schüler und auch solche, die keinen Abschluss erreicht haben. ({2}) Wir wollen deshalb denen eine neue Perspektive geben, die schon lange einen Ausbildungsplatz suchen. Wir werden die Berufswahlvorbereitung in den letzten Jahren der Schule und den Übergang in Ausbildung besser gestalten. Außerdem werden wir die Förderung und Begleitung während der Ausbildung verbessern. Den Anstoß dazu haben - Ehre, wem Ehre gebührt - im Sommer die Koalitionsfraktionen gegeben. Klar: Betriebliche Berufsausbildung ist in allererster Linie eine Aufgabe der Unternehmen. Sie müssen sich kümmern, übrigens schon aus wohlverstandenem Eigeninteresse. Denn indem Unternehmen jungen Menschen Chancen eröffnen und die Fachkräfte von morgen ausbilden, verbessern sie auch ihre eigenen Chancen im globalen Wettbewerb und die unserer ganzen Volkswirtschaft. Es darf daher in erster Linie nicht darum gehen, ob sich Ausbildung betriebswirtschaftlich rechnet. Das tut sie nicht immer. Trotzdem muss sie stattfinden. ({3}) Sie ist in jedem Falle volkswirtschaftlich der beste Weg, Fachkräftemangel zu vermeiden. Sie entscheidet mit darüber, ob wir, als Nation, unsere volkswirtschaftlichen Potenziale nutzen können. Wer nicht ausbildet, soll über Fachkräftemangel nicht klagen. ({4}) Die Politik hilft den Unternehmen dabei, ihre Verantwortung wahrzunehmen. Wir haben gemeinsam mit den Unternehmensverbänden den Ausbildungspakt ins Leben gerufen, der jährlich 60 000 neue Ausbildungsplätze bringen soll. ({5}) Wir unterstützen jährlich 40 000 Plätze für betriebliche Einstiegsqualifizierungen, aus denen zwei Drittel der Teilnehmer in einen betrieblichen Ausbildungsplatz wechseln - ein schöner Erfolg. Wir fördern Ausbildung und Qualifizierung mit den Mitteln der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Der Erfolg ist sichtbar. Der Ausbildungsmarkt entwickelt sich positiv. Die Zahl der neuen Ausbildungsverträge stieg 2007 um 8,6 Prozent gegenüber 2006. 625 900 Ausbildungsverträge wurden zum Stichtag 30. September 2007 neu für das Ausbildungsjahr 2007/ 2008 abgeschlossen. Allein im Ausbildungspakt, von dem schon die Rede war, wurden nach vorläufigen Zahlen 79 200 Ausbildungsverträge im Jahr 2007 neu eingeworben. ({6}) Aber es gibt einen sehr großen Handlungsbedarf. Wir brauchen noch mehr Ausbildungsplätze in Betrieben, bei Freiberuflern und in Verwaltungen, um allen Ausbildungswilligen und -fähigen ein Angebot im dualen System zu machen. Ganz besonders müssen wir uns um diejenigen kümmern, die seit längerem erfolglos nach einem Ausbildungsplatz suchen. Vor acht Jahren suchten rund 40 Prozent der gemeldeten Bewerber seit längerem erfolglos eine Lehrstelle. Heute sind es bereits über 52 Prozent. Diese Bugwelle ist bei den Berufsberatern beinahe schon sprichwörtlich. Viele junge Menschen stecken in Ersatzmaßnahmen. Diese sind, wie die Einstiegsqualifizierung, hilfreich, aber sie sind eben nur ein Ersatz und nicht das, was die jungen Menschen eigentlich anstreben. Ich will dazu ausdrücklich fragen: Was soll eigentlich mit jungen Leuten geschehen, die die Schule abgeschlossen haben und nach einem Ausbildungsplatz suchen? Es finden wichtige und gute Dinge für sie statt, aber nicht das, was sie eigentlich anstreben, nämlich - um es mit einem klassischen Wort zu sagen - endlich eine Lehre. Das müssen wir für unsere jungen Leute besser regeln. ({7}) Das Kernstück des Konzepts „Jugend - Ausbildung und Arbeit“ ist deshalb ein Ausbildungsbonus, mit dem wir bis 2010 rund 100 000 zusätzliche Ausbildungsplätze für Altbewerber schaffen wollen - gerade weil die Altbewerberproblematik so groß ist, wie ich sie eben beschrieben habe. Darum haben wir auch großzügige Kriterien ausgesucht. Der Ausbildungsbonus richtet sich an Altbewerber, die maximal über einen Realschulabschluss verfügen. Das Problem mit den Hauptschülern ist bekannt; ich habe es schon beschrieben. Aber die Schwierigkeit, eine Ausbildungsstelle zu finden, betrifft immer mehr auch Realschüler. Wir haben uns bewusst entschieden, nicht zu sagen: Wir nehmen den Notendurchschnitt: 3,5; wenn jemand schlechter ist, bekommt das Unternehmen eine Förderung, wenn jemand besser ist, soll es sie nicht bekommen. Es würde auch absurde Situationen in den Abgangsklassen der Schulen schaffen, wenn dann eventuell die Schüler mit ihren Lehrern darüber verhandeln, ob sie nicht doch einen etwas schlechteren Durchschnitt bekommen können. Darum haben wir beschlossen, die ganze Gruppe einzubeziehen und genügend andere Kriterien zu finden, um Missbrauch und Mitnahmeeffekte zu verhindern. Er soll sich an diejenigen richten, die bereits seit über zwei Jahren vergeblich auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz sind, und natürlich an diejenigen, die individuell benachteiligt sind - ein Kriterium, das die Arbeitsvermittlung schon lange kennt und das hier immer weiter eine Rolle spielen muss. Wenn ein Arbeitgeber für einen jungen Menschen aus dieser Gruppe einen zusätzlichen Ausbildungsplatz schafft - dadurch ist die Mitnahme von Leistungen für etwas, das man sowieso geplant hat, weitgehend ausgeschlossen -, dann bekommt er dafür einen Bonus von 4 000, 5 000 oder 6 000 Euro. Wir haben uns dabei an der Hälfte der Ausbildungsvergütung für ein Jahr orientiert. Es soll eine plakative Summe sein, damit der Aufruf an die Unternehmerinnen und Unternehmer in diesem Land, zusätzliche Ausbildungsplätze für junge Leute zu schaffen, die es schwer haben, einen Ausbildungsplatz zu finden, verstanden wird und damit er auch Wirkung hat. Ich bin froh, dass das jetzt möglich geworden ist. ({8}) Wir unterstützen also diejenigen, die es in der Vergangenheit besonders schwer hatten, einen Ausbildungsplatz zu finden. Aber der Ausbildungsbonus ist nicht das Einzige, was wir planen. Wir werden die Möglichkeiten der ausbildungsbegleitenden Hilfen, etwa die sozialpädagogische Unterstützung, ausbauen. Wir wollen so Chancen für lernbeeinträchtigte und benachteiligte Jugendliche auf einen Berufsabschluss schaffen. Wir werden die erfolgreichen Patenmodelle zum Anlass nehmen, den Einsatz von Berufseinstiegsbegleitern besser und systematischer zu machen. So wollen wir erproben, wie leistungsschwächere Schüler beim Übergang in eine Ausbildung über einen längeren Zeitraum individuell begleitet werden können. Beides - sozialpädagogische Begleitung und Einsatz von Paten - hilft einerseits den Betrieben, mit jungen Leuten klarzukommen, die etwas weniger gut auf den Betriebsalltag eingestellt sind, und andererseits den jungen Auszubildenden, sich in der nicht ganz dem Schulalltag entsprechenden Realität des Arbeitslebens zurechtzufinden. ({9}) Das ist ein Stück Realität, das wir damit zur Kenntnis nehmen. Jenseits all der Diskussionen, die notwendig sind, versteht jeder von uns den Ausbilder, den Meister oder den Chef, der sagt: Ich würde ja gern, aber wenn ich mir all das anschaue, was ich da noch nebenbei machen muss, komme ich zu dem Schluss, dass mich das überfordert. - Diese Leute wollen wir unterstützen und ihnen sagen: Traut euch! Wir helfen euch, damit das auch klappt. - Das ist ein gutes Bündnis, das Gesellschaft und Betriebe schließen können, um den jungen Leuten zu helfen. Wir sollten diesen Versuch weiter ausbauen. ({10}) Meine Damen und Herren, wir wollen auch die Berufsberatung mit zusätzlichen Berufsberatern und Vermittlern weiter verstärken, weil wir es natürlich schaffen müssen, dass die jungen Leute und die Ausbildungsplätze zueinanderkommen. Letztlich geht es auch darum - meine Kollegin Schavan hat darüber schon gesprochen -, die Ausbildungsförderung auch im Hinblick auf diejenigen ein bisschen zu verbessern, die aus der beruflichen Situation heraus für die Ausbildung zuständig sind. Alles zusammen hilft den jungen Leuten. Es hilft unserer Gesellschaft. Es ist ein Stück vorsorgender Sozialstaat und hat viel mit Zukunft zu tun. Hoffnung ist das Wichtigste im Leben des einzelnen Menschen und einer Gesellschaft. Daran zu bauen und mitzuhelfen, dass die Hoffnungen vieler Menschen erfüllt werden können, ist eine wichtige Aufgabe. Schönen Dank, meine Damen und Herren. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Cornelia Hirsch ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke. ({0})

Cornelia Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003770, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Eigentlich heißt es ja: Einsicht ist der beste Weg zur Besserung. Bei Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren von der Bundesregierung, ist dies offensichtlich nicht der Fall. Auf der einen Seite kann man zwar daran, dass Sie die Qualifizierungsinitiative gestartet haben, feststellen, dass bei Ihnen durchaus eine gewisse Einsicht vorhanden ist. Schließlich beschreiben Sie da, dass Sie die Sorge haben, dass es zu einem Fachkräftemangel kommt. Sie schreiben sogar ganz konkret, dass schon jetzt gut ausgebildete Menschen fehlen. Anders und vielleicht auch für die Zuhörerinnen und Zuhörer etwas deutlicher ausgedrückt: Man kann das ganz klar als Einsicht werten, dass Ihre Bildungspolitik der letzten Jahre offensichtlich so miserabel war, dass das Bildungssystem komplett gegen die Wand gefahren wurde und dass Sie jetzt die Konsequenzen spüren. ({0}) Wenn Einsicht bis zu einem gewissen Grad da ist, muss man sich jetzt aber auf der anderen Seite überlegen, wie es um die Besserung bestellt ist. Eine Besserung ist nach wie vor nicht eingetreten. Das, was Sie in der Qualifizierungsinitiative zusammengeschrieben haben, stellt nichts weiter als ein mutloses Weiter-so dar, gepaart mit minimalen Trippelschritten und zahlreichen Ankündigungen, denen, wie wir aus den Sonntagsreden der Bundesregierung wissen, jegliche Grundlage und jegliche Verbindlichkeit fehlen. ({1}) Die Linke sagt Nein zu so einer Qualifizierungsinitiative. Wir fordern eine Qualifizierungsinitiative, die diesen Namen auch wirklich verdient. Das würde zuerst einmal bedeuten, dass man die Qualifizierungsinitiative, die Sie hier vorgelegt haben, in drei Bereichen auf eine vollkommen andere Grundlage stellt. Auf eine andere Grundlage stellen heißt zum Ersten: auf eine andere finanzielle Grundlage. Frau Ministerin Schavan, Sie haben in der Presse davon gesprochen, dass für die Qualifizierungsinitiative in den nächsten drei Jahren 500 Millionen Euro zur Verfügung stehen. Man vergleiche einmal diese 500 Millionen Euro mit den Geldern für andere bildungspolitische Programme wie zum Beispiel für das Ganztagsschulprogramm. Hierfür wurden - selbst da sagen Expertinnen und Experten, dass das noch zu wenig Geld ist - insgesamt 4 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Auf diesem Weg ist es dann gelungen, dass zumindest in Ansätzen ein bisschen etwas an den Schulen in Bewegung gekommen ist. Es ist nun wirklich sehr interessant, wie Sie es schaffen wollen, mit 500 Millionen Euro etwas Ähnliches - und dann auch noch bezogen auf das gesamte Bildungssystem - zu erreichen. Die Linke glaubt nicht, dass das klappen wird. ({2}) Wir haben andere Vorschläge vorgelegt. Wir fordern eine grundsätzlich andere Steuerpolitik. Man könnte beispielsweise eine Börsenumsatzsteuer einführen. Auf diesem Weg könnte es gelingen, eine nachhaltige, bessere Bildung zu finanzieren. ({3}) - Der liegt schon seit Urzeiten vor, Herr Barth; den hätten Sie einmal lesen sollen, statt ihn, wie ich glaube, sofort abzulehnen. ({4}) Auf eine andere Grundlage stellen heißt zum Zweiten: auf eine strukturell andere Grundlage. Frau Ministerin Schavan, wenn Sie in jedem Interview, das Sie geben, das gegliederte Schulsystem lobpreisen, dann führt das dazu, dass die Länder davon absehen, Schritte hin zu einer anderen Bildung einzuleiten. Eine andere Bildung, die Schluss macht mit einer Auslese, einer sozialen Selektion, und stattdessen auf individuelle Förderung setzt, dafür kämpft die Linke. ({5}) Auf eine andere Grundlage stellen heißt zum Dritten: auf eine politisch andere Grundlage. Ihr Ausgangspunkt ist, dass die Wirtschaft ruft, ihr fehlten gut ausgebildete Fachkräfte. ({6}) Die Linke sagt: Uns geht es um das Recht auf Bildung. Das ist ein großer Unterschied. Denn in Ihrer Logik kann es gut passieren, dass eine Absolventin das Pech hat, in dem Jahr ihren Schulabschluss zu machen, in dem die Wirtschaft ebendiese Töne gerade einmal nicht von sich gibt. Dieser Absolventin wird von Ihnen dann gesagt: Es tut uns leid; du wirst gerade nicht gebraucht. - Das kann nun wirklich nicht der Anspruch einer demokratischen Gesellschaft sein. Deshalb fordert die Linke ein Recht auf Bildung. ({7}) Wenn Sie die Qualifizierungsinitiative auf diese Weise auf eine andere Grundlage gestellt hätten, dann hätten Sie auch wirklich mutige Schritte machen können, um einen bildungspolitischen Schub zu geben. Da ich Sie nicht überfordern will, will ich nur fünf ganz konkrete Punkte anführen, ({8}) die die Linke schon in mehreren Anträgen deutlich gemacht hat. Zur frühkindlichen Bildung werde ich nicht sprechen. Diesen Punkt wird nachher mein Kollege Volker Schneider aufgreifen. Erstens. Herr Minister Scholz, was soll dieser Ausbildungsbonus? Sie können doch nicht ernsthaft die jahrelange Ausbildungsverweigerung der Unternehmen jetzt auch noch mit weiteren Steuergeschenken belohnen. Sie haben vorhin gesagt: Wer nicht ausbildet, soll nicht über fehlende Fachkräfte klagen. Das ist natürlich eine großartige Ankündigung. Die Linke würde es besser finden, wenn Sie wirklich Druck auf die Unternehmen ausüben würden. Die Linke sagt: Wer nicht ausbildet, soll zahlen. Wir fordern eine gesetzliche Ausbildungsplatzumlage. ({9}) Zweitens. Frau Ministerin Schavan, Sie haben von sozialer Durchlässigkeit gesprochen. Auch da könnten Sie ganz konkrete Schritte gehen. Die Linke sagt: Wir brauchen jetzt dringend ein bundesweites Hochschulzulassungsgesetz. Als wichtigster Punkt muss darin enthalten sein, dass Absolventinnen und Absolventen aus dem Bereich der beruflichen Bildung das Recht auf Zulassung zu Hochschulen haben. - Sie nicken. Es wäre aber noch besser, wenn ein entsprechender Antrag von Ihnen vorliegen würde. ({10}) Drittens. Man kann nicht bei dieser unzureichenden BAföG-Novelle stehen bleiben. ({11}) Auch da brauchen wir weitere Schritte. Stichpunkte sind: Ausbau des Schüler-BAföG und eine schrittweise Rückführung des Darlehenszuschusses. Ich habe noch zwei weitere Punkte. Da meine Redezeit fast zu Ende ist, nur kurz: Wir brauchen schon jetzt einen zweiten Hochschulpakt, mit dem es wirklich gelingt, die Studienplatzkapazitäten auszubauen. Und Punkt 5: Man darf die Weiterbildung nicht mehr länger so stiefmütterlich behandeln, wie Sie es tun, sondern man muss endlich ein Bundesweiterbildungsgesetz auf den Weg bringen. ({12}) Das könnte dann ein bildungspolitischer Schub nach vorne sein. Dafür kämpft die Linke; dafür werden wir auch weiter kämpfen. Ihre Qualifizierungsinitiative leistet dazu leider nur herzlich wenig. Besten Dank. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Kai Gehring für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, es ist schon beeindruckend, mit welchem Engagement Sie sich für die Vermarktung Ihrer nationalen Qualifizierungsinitiative einsetzen. ({0}) Auf sämtlichen Kanälen wird da die Lösung fast aller Probleme verkauft: von Fachkräftemangel über Bildungsungerechtigkeit bis hin zur Jugendgewalt. Ich hätte mich gefreut, wenn Sie sich mit dem gleichen Engagement um die Inhalte und um die Substanz Ihrer Initiative gekümmert hätten. ({1}) Wer sich Ihren Papierstapel einmal genauer ansieht, kommt schnell zu dem Ergebnis: Viel Lärm um herzlich wenig! Was Sie da zusammengetragen haben, ist ein Bauchladen an Modellversuchen, alten Pilotprojekten und Vorschlägen an die Adresse der Länder. Darunter ist kaum eine strukturelle Reform. Das ist keine Brücke auf dem Weg zur Beseitigung des Fachkräftemangels. Ein roter Faden fehlt völlig, ein grüner sowieso. ({2}) Dabei wäre eine wirksame Initiative für bessere Bildung und gerechtere Teilhabe nötiger denn je. Schließlich haben viel zu wenig junge Menschen Zugang zu guter Bildung. Wir haben viel zu viele Schulabbrecher, zu viele Jugendliche in Warteschleifen und zu wenig Studierende, sodass uns in Zukunft Hunderttausende Fachkräfte fehlen. Dazu haben Sie mit Ihrer zögerlichen Politik beigetragen. Aber schauen wir uns Ihr Ankündigungspotpourri im Einzelnen an. Sie haben vorhin beim Punkt frühkindliche Bildung angekündigt, 80 000 Erzieherinnen und Erzieher fortbilden zu wollen. Das ist wichtig; das klingt gut. Welche Maßnahmen stehen aber dahinter? Dahinter steht ein Internetportal, das Sie aufbauen wollen. Das war’s. Das ist keine Qualifizierungsinitiative; das hat schon fast den Charakter einer Täuschungsinitiative. ({3}) Mit einer Qualifizierungsinitiative, die diesen Namen auch verdient, müssen Sie dafür sorgen, dass diejenigen, die sich professionell um unsere kleinsten Kinder kümmern, endlich auf Hochschulniveau qualifiziert werden. Dazu ist von Ihnen aber nichts zu hören. Auch beim Hochschulzugang für beruflich Qualifizierte formulieren Sie nur halbherzige Ziele und wirkungsarme Maßnahmen. Wir müssen den Weg zum Campus von Hindernissen befreien, gerade auch für Menschen ohne Abitur. Was steht in Ihrem Papier? Sie wollen gerade einmal 1 000 Erwachsenen mit einem beruflichen Ausbildungsabschluss ein Aufstiegsstipendium zahlen. ({4}) Das ist viel zu kurz gedacht und zu wenig gemacht. Wer den Aufstieg durch Bildung wirklich ermöglichen will, muss die Hochschulen endlich strukturell für möglichst viele öffnen, auch für diejenigen, die nur einen Ausbildungsabschluss erworben haben. ({5}) Strukturell öffnen heißt, dass man ein paar Dinge mehr machen muss. Wir Grüne fordern das Ende der Studiengebühren, weil sie Studienberechtigte und natürlich auch beruflich Qualifizierte vom Studium abschrecken. Wir wollen das Meister-BAföG zu einem Erwachsenen-BAföG weiterentwickeln, das den zweiten und dritten Bildungsweg wirklich öffnet. Wir brauchen klare und bundeseinheitlich geregelte Zugangswege zum Studium ohne Abitur. ({6}) Eine Übersicht über die verschiedenen Studienvoraussetzungen in den einzelnen Bundesländern - liebe Kolleginnen und Kollegen, schauen Sie sich das einmal an - umfasst derzeit mehr als 40 dichtgedruckte Seiten. Das ist noch weniger Substanz auf noch mehr Seiten als bei Ihrer Qualifizierungsinitiative. Das ist aber vor allen Dingen eine Entmutigung für Bildungswillige, die an die Hochschule kommen wollen. Anstatt das Hochschulrahmengesetz abzuschaffen, was Sie im Kabinett beschlossen haben, und den deutschen Hochschulraum weiter zu zerfleddern, sollten Sie zusammen mit den Ländern bundeseinheitliche und attraktive Zugangswege in die Hörsäle ebnen. Das ist dringend erforderlich. ({7}) Sie wollen auch den Übergang von der Schule in die Hochschule erleichtern. Das ist schön. Es ist noch schöner, dass Sie nach anderthalb Jahren endlich unsere Forderung, eine Servicestelle für eine effiziente Studienplatzvergabe einzurichten, aufgreifen. Aber auch die modernste Servicestelle kann letztlich nur Mangelverwaltung sein, wenn in diesem Land massenhaft Studienplätze fehlen. Eine wirksame Qualifizierungsinitiative muss in allererster Linie mehr Geld in zusätzliche Studienplätze investieren. Ihr „Hochschulpäktchen“ ist nur ein erster Schritt. Wir wissen doch alle, dass dieser Hochschulpakt völlig unterfinanziert ist. Nehmen Sie endlich mehr Geld in die Hand, sonst stehen noch mehr junge Menschen vor verschlossenen Hörsaaltüren oder kommen nicht auf den Campus. ({8}) Natürlich haben Sie auch das freiwillige technische Jahr in Ihr Sammelsurium aufgenommen. Zur Bekämpfung des Fachkräftemangels trägt ein solches staatlich alimentiertes Langzeitpraktikum überhaupt nicht bei. ({9}) Anstatt für weitere Warteschleifen zwischen Schule und Ausbildung 4 Millionen Euro zu verschwenden und dafür das Markenzeichen des Freiwilligenjahres zu missKai Gehring brauchen, sollten Sie sich endlich wirksam gegen prekäre und unfaire Praktika einsetzen. Auch diesbezüglich warten wir seit zweieinhalb Jahren auf Initiativen von Ihnen. ({10}) Ganz am Ende Ihrer Vorlage zu einer Qualifizierungsinitiative findet man eine alte Bekannte aus dem Bereich Weiterbildung: die Weiterbildungsprämie. Sie wird seit zweieinhalb Jahren von Ihnen angekündigt. Wir warten noch immer auf eine Gesetzesinitiative. Wie sieht es mit der Umsetzung aus? Nach wie vor Fehlanzeige! Sie sollten endlich einmal in die Pötte kommen, Frau Schavan. ({11}) Wenn ich mir die Liste Ihrer unerfüllten Wünsche an die Länder anschaue, kann ich nur festhalten: Der Bund hat sich mit der schwarz-roten Föderalismusreform viel zu sehr aus der Bildungspolitik verabschiedet. Das war ein großer Fehler. Wir werden die Ganztagsschulen künftig nicht mehr fördern können. Die Förderung wird auslaufen. Mit dem Ausbau ist es dann wahrscheinlich vorbei, wenn die Länder es nicht aufgreifen und forcieren. Frau Ministerin, Sie müssen beweisen, dass Sie nicht nur Chefin des größten Ankündigungsressorts sind. Sie müssen endlich einmal Taten folgen lassen und konkret zur Umsetzung kommen. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Ilse Aigner, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Ilse Aigner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003028, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute über die Qualifizierungsinitiative unserer Bundesregierung, erstellt unter der Federführung unserer Ministerin Schavan zusammen mit den Ministern Scholz und Glos. Sie ist ein wichtiger Baustein für die Qualifizierung unserer jungen Menschen, für die Zukunft, für die Weiterbildung in unserem Land und für die frühkindliche Bildung. Diese breite Palette wurde von der Bundesregierung auf den Weg gebracht. Dafür ein ganz herzliches Dankeschön! ({0}) Ein wichtiger Baustein der Qualifizierungsinitiative basiert auf unserem gemeinsam entwickelten Antrag „Junge Menschen fördern - Ausbildung schaffen und Qualifizierung sichern“. Hier geht es im Wesentlichen um die berufliche Qualifizierung. Das duale Ausbildungssystem ist eine der tragenden Säulen unseres Bildungssystems, fast ein Alleinstellungsmerkmal; das ist ein positiver Punkt. Es ist eine wesentliche Voraussetzung für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unseres Landes und für die Unternehmerinnen und Unternehmer eine lohnende Investition in die Zukunft ihres Betriebes. Es sichert den Nachwuchs an qualifizierten Fachkräften, der auch in der Zukunft so dringend benötigt wird. ({1}) Für uns - natürlich auch für die jungen Menschen selbst - ist es wichtig, dass jeder junge Mensch eine Chance auf Ausbildung hat. Dazu muss einerseits das Angebot an Ausbildungsplätzen stimmen. Andererseits müssen die Auszubildenden die Möglichkeit und die Fähigkeit haben, eine Berufsausbildung aufzunehmen. Es wurde schon angesprochen: Natürlich liegt die Schulausbildung in der Kompetenz der Länder. Deshalb wird es im Herbst gemeinsam mit den Ländern eine Initiative geben, durch die die Schulabbrecherquote deutlich gesenkt bzw. halbiert werden soll. Auch das geschieht unter der Federführung unserer Ministerin Schavan. ({2}) Es wurde hier schon viel gesagt; alle möglichen alten Forderungen wurden aufgewärmt. Ich will auf eines hinweisen: Es gab vor zwei Jahren 550 000 Ausbildungsplätze. Im aktuellen Ausbildungsjahr gibt es 626 000 Ausbildungsplätze. Das ist ein Plus von 14 Prozent und eine riesige Leistung der Unternehmerinnen und Unternehmer. ({3}) Das zeigt, dass die wirtschaftliche Entwicklung die Basis für die Schaffung neuer Ausbildungsplätze ist. Deshalb sage ich ein herzliches Dankeschön an unsere Bundeskanzlerin. Unter ihrer Führung ist ein wirtschaftlicher Aufschwung entstanden, der sich direkt auf den Ausbildungsstellenmarkt auswirkt. Ein herzliches Dankeschön! ({4}) Trotzdem ist durch die schlechte wirtschaftliche Situation zu Beginn dieses Jahrzehnts leider eine - es ist nicht anders zu beschreiben - Bugwelle an sogenannten Altbewerbern entstanden; dies wurde schon angesprochen. ({5}) Die Zahl der Altbewerber lag im Jahr 2006 schon bei über der Hälfte aller Bewerber, die in diesem Jahr die Schule beendet hatten, und ist letztendlich so hoch geblieben. Deshalb müssen wir eines der Hauptaugenmerke auf die Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze für diejenigen richten, die schon länger als zwei Jahre auf einen Ausbildungsplatz warten und sonstige Vermittlungshindernisse aufweisen. Dies ist ein ganz wichtiger Punkt. Ich möchte dem Kollegen Uwe Schummer ganz herzlich dafür danken, dass er bereits 2003 auf diesen Punkt hingewiesen hat. Ich zitiere aus dem entsprechenden Protokoll: Es wäre sinnvoller, diese Gelder in eine direkte Unterstützung von Ausbildungsbetrieben umzulenken. Lieber Uwe Schummer, ich glaube, das war schon 2003 wegweisend. Wir haben dies jetzt in der Qualifizierungsinitiative umgesetzt. Bis zum Jahr 2010 sollen 100 000 neue Ausbildungsplätze für diese Jugendlichen geschaffen werden. Der Hintergrund des Ganzen ist: Es ist für einen Ausbilder deutlich schwieriger, jemanden mit Ausbildungshemmnissen auszubilden. Er braucht ausbildungsbegleitende Hilfen; diese sind vorgesehen. Er bekommt auch in finanzieller Hinsicht eine Entlastung, um zusätzliche Ausbildungsplätze zu schaffen. Wir glauben, dass das Geld hier besser eingesetzt ist, als wenn die Betroffenen an einer Maßnahme nach der anderen teilnehmen; denn diese haben sie alle schon durchlaufen. Deshalb ist dieses Vorhaben ein Kernstück der Qualifizierungsinitiative. Ich bedanke mich ganz herzlich, dass diese Regelung umgesetzt wird. ({6}) Eine weitere wichtige Maßnahme, die übrigens schon eine Rolle spielt - auch das muss man hervorheben -, ist die Einstiegsqualifizierung. Wir haben dieses Programm mittlerweile auf 40 000 Plätze aufgestockt. Auch hier zeigt sich: Von den jungen Menschen, die in die Betriebe kommen und ihre Fähigkeiten dort zeigen können - vielleicht ist es für sie auch wichtig, dass sie von der Schulbank wegkommen -, erhalten sehr viele, nämlich 60 bis 70 Prozent, anschließend eine Ausbildungsstelle. Diese hervorragende Maßnahme hat großen Erfolg. Auch das kann man, wie ich glaube, nicht oft genug sagen. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Wirtschaft braucht künftig noch mehr qualifiziertes Fachpersonal. Deshalb ist eine Ausbildung eine gute Investition in die Zukunft. Hierbei geht es um die Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschaft. Wir werden in der nächsten Zeit wahrscheinlich einen Fachkräftemangel zu verzeichnen haben. Deshalb dürfen wir niemanden abschreiben, sondern müssen uns um jeden kümmern. Das hat sich die Koalition zum Ziel gesetzt. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Patrick Meinhardt, FDP-Fraktion. ({0})

Patrick Meinhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003807, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Aigner, wir beraten heute nicht nur die Qualifizierungsinitiative der Bundesregierung, ({0}) sondern wir beraten auch den besonders guten Antrag der FDP-Fraktion mit dem Titel „Mehr Chancen durch bessere Bildung und Qualifizierung“. ({1}) Dieser Antrag basiert auf einem gemeinsamen Positionspapier des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks und der FDP-Bundestagsfraktion. Ich glaube, es ist gut und richtig, dass man, wenn es um die Frage geht, wie eine gute Ausbildung und eine gute berufliche Bildung in Deutschland funktionieren, dorthin schaut, wo tatsächlich Erfolge zu verzeichnen sind. Immerhin hat der Mittelstand in der Bundesrepublik Deutschland, obwohl das Handwerk in zwei Jahren 10 000 Arbeitsplätze verloren hat, bei der Ausbildung einen Aufwuchs von 10 Prozent hinbekommen. Das zeigt uns, wie verantwortliche Ausbildungspolitik aussehen kann. Dafür muss man dem Mittelstand in Deutschland dankbar sein. ({2}) In unserem Positionspapier haben wir vor allem auf drei Bereiche abgehoben: Der erste Bereich, den ich ansprechen möchte, ist aus unserer Sicht in dem Konzept der Bundesregierung völlig unzureichend dargestellt. Wir haben kein Problem damit, die Begriffe „Elite“ und „Leistung“ in den Mund zu nehmen. Wir brauchen leistungsfördernde Maßnahmen, und wir brauchen auch bei der beruflichen Bildung eine Hochbegabtenförderung. Warum ruft die Bundesregierung eigentlich keine Exzellenzinitiative „berufliche Bildung“ ins Leben? Dies ist in der Bundesrepublik Deutschland überfällig. ({3}) Zum Zweiten ist es enorm wichtig, dass wir bei den Ausbildungsberufen flexibel vorgehen, verstärkt in Modulen denken und mehr zwei- und dreijährige Ausbildungsgänge anbieten. Durch die Flexibilisierung der Ausbildung können wir dafür sorgen, dass jungen Menschen Alternativen, die sie im Augenblick noch nicht haben, angeboten werden und dass ihnen der Einstieg in eine Ausbildung ermöglicht wird. Das brauchen wir in der Bundesrepublik Deutschland. Wenn wir das umsetzen wollen, dann muss es zum Dritten zu einer Stärkung der überbetrieblichen Ausbildung kommen. Hier verstehe ich die Bundesregierung überhaupt nicht. Bei den Mitteln für die Förderung der Verbundausbildung hatten wir in den letzten sieben Jahren eine Reduzierung von 69 Millionen Euro auf 29 Millionen Euro zu verzeichnen. Gleichzeitig wissen wir, dass 88 Prozent der Betriebe in der Bundesrepublik Deutschland, die ein bis neun Beschäftigte haben, im Moment nicht ausbilden, weil sie häufig keinen vollen Ausbildungsplatz zur Verfügung stellen können. Wir müssen in die Förderung der Verbundausbildung investieren, um kleinen und Kleinstbetrieben die Möglichkeit zu geben, jungen Menschen aufgrund ihrer mittelständischen Erfahrung eine Perspektive zu eröffnen. ({4}) Die sogenannte Nationale Qualifizierungsinitiative, Herr Kollege Tauss, soll drei Schwerpunkte haben: Altbewerber, Weiterbildung, Schulabbrecherquote. Frau Ministerin, ich frage mich: Wo ist Ihr Konzept bei der Schulabbrecherquote? Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie mehr tut, als zu verhandeln, bis am Schluss irgendetwas herauskommt. Das Papier der Kultusministerkonferenz ist, mit Verlaub gesagt, wieder einmal reine Makulatur, reiner Prosatext. Die Bildungspolitiker verwundert es nicht, dass so etwas bei der KMK herauskommt; denn wer 60 Jahre für die Festlegung von Bildungsstandards beim Abitur braucht, der ist nicht auf der Höhe der Zeit. Solch einen trägen Bürokratiemoloch kann sich die Bundesrepublik Deutschland schon lange nicht mehr leisten. ({5}) Er sollte schnell durch eine flotte, schlanke Bildungskonferenz ersetzt werden. ({6}) Zur Weiterbildung der Erzieherinnen und Erzieher. Die 80 000 Erzieherinnen und Erzieher sollen im Rahmen einer Weiterbildungsoffensive die Möglichkeit bekommen, ihre berufliche Fortbildung zu intensivieren. Grundsätzlich ist das ein guter Ansatz. Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, das mit Ihrer Weiterbildungsinitiative zu vergleichen, für die für das Jahr 2008 gerade einmal 15 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden. Jetzt machen wir eine ganz einfache Rechnung: Wenn in diesem Zusammenhang für die Zahlung einer Weiterbildungsprämie für alle Betroffenen in der Bundesrepublik Deutschland nur 15 Millionen Euro zur Verfügung stehen, ({7}) dann kommt, Herr Kollege Tauss, unter dem Strich heraus, dass diese Mittel nur für die Erzieherinnen und Erzieher reichen würden; dann könnte niemand anders von der Weiterbildungsinitiative profitieren. Einen Antrag der Bundesregierung, diese Mittel zu erhöhen, gibt es nicht. Doch ohne eine Erhöhung der Mittel ist die Weiterbildungsinitiative Makulatur. ({8}) Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, ist der große Bereich der Altbewerber. Als Erstes möchte ich sagen: Wir von der FDP sind froh, dass es keinen grundsätzlichen, mittelstandsfeindlichen, bürokratiefördernden Ausbildungsbonus geben wird. ({9}) Dies ist ein gutes Signal. Aber schauen wir uns nun Ihre Altbewerberinitiative an. Wenn man das Zeile für Zeile, Satz für Satz, Seite für Seite ({10}) - Wort für Wort, Kollege Tauss - durchliest, sieht man: Da wurde nichts anderes getan, als eins zu eins das Papier des FDP-Wirtschaftsministers von Baden-Württemberg, Ernst Pfister, abzuschreiben. ({11}) Schauen Sie sich das Papier des Wirtschaftsministers von Baden-Württemberg an, und Sie werden sehen: ({12}) Diese Initiative ist eins zu eins abgeschrieben worden. Sagen wir einmal, es ist ein gutes Zeichen, dass die Bundesregierung zumindest in diesem Bereich lernfähig ist und mit liberalen Konzepten aus Baden-Württemberg versucht, eine Initiative in die Wege zu leiten. ({13}) Nichtsdestoweniger fehlt diesem Konzept bedauerlicherweise eine ganze Reihe von Inhalten. Wir vermissen bei den Altbewerbern die Förderung durch sozialpädagogische Maßnahmen für all die Jugendlichen, denen wir helfen müssen, aus der Sackgasse herauszukommen. Deswegen kann ich für die FDP-Fraktion nur feststellen: Diese Qualifizierungsinitiative ist ohne System, ohne roten Faden und ohne Ziel. Oder, Herr Kollege Tauss, um es in Worten Ihres ehemaligen Arbeitsministers Münte zu sagen: Altbewerber können Sie nicht, Weiterbildung können Sie nicht, Qualifizierungsinitiative können Sie nicht. Vielen Dank. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Willi Brase, SPDFraktion. ({0})

Willi Brase (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003054, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich bin Frau Aigner dankbar, dass Sie auf den Schummer-Ansatz hingewiesen hat, der jetzt als Scholz-Bonus dafür sorgen wird, dass 100 000 junge Leute in Deutschland eine Zukunftsperspektive bekommen. Ich glaube, das ist eine gute Sache. ({0}) Wir von der Koalition wollen vor dem Hintergrund unseres gemeinsamen Antrages mit der Qualifizierungsinitiative Ausbildung organisieren. Wir wissen, dass wir trotz guter Zahlen - über 60 000 zusätzliche Ausbildungsplätze - noch weitere brauchen. Wenn das Jahr 2007 komplett abgerechnet wird, wird sich herausstellen, dass noch mehr Ausbildungsplätze geschaffen wurden. Wir werden dem drohenden Facharbeitermangel begegnen und die Jugendarbeitslosigkeit weiter abbauen. Nicht umsonst wurde der Quali-Kombi mit aufgenommen, der mit dafür sorgt, dass junge Leute unter 25 Jahren, die arbeitslos sind, eine vernünftige Perspektive in unserem Lande erhalten. ({1}) Wir sollten nicht vergessen: Die Bundesregierung hat auch Vorschläge der Fachleute aufgegriffen. Im Hauptausschuss des Berufsbildungsinstituts ist die Forderung, zukünftig vor allen Dingen auch bei der Übergangs- und Nachqualifizierung wesentlich stärker auf die betriebliche Ausbildung und Qualifizierung zu setzen, deutlich diskutiert und ihre Umsetzung empfohlen worden, weil dies besser und der richtige Weg ist sowie den jungen Leuten eine vernünftige Perspektive gibt. Ich glaube, eine solche Umsetzung ist richtig. Das müssen wir machen. ({2}) Wir als SPD-Fraktion sagen: Der Ausbildungsbonus ist auch ein Angebot an die Unternehmen, also die Arbeitgeber, sich ein Stück weit ihrer Verantwortung zu stellen. Dieser Bonus wird durch ausbildungsbegleitende und sozialpädagogische Hilfen unterstützt und begleitet. ({3}) Wenn die Unternehmen dieses Angebot in den nächsten drei Jahren nicht ausreichend wahrnehmen, dann müssen sie sich darauf einstellen, dass die Debatte über die berufliche Bildung in eine andere Richtung geht, nämlich in Richtung einer schulischen Ausbildung. Dafür sind dann aber nicht die Jugendlichen verantwortlich, sondern die Unternehmen, die keine Ausbildungsplätze - auch nicht, wenn sie mit staatlichem Geld unterstützt werden - zur Verfügung stellen. ({4}) Bildung und Qualifizierung sind für die Zukunft unseres Landes notwendig. Ich vermisse bei der Debatte etwas, was wir bei der Diskussion über PISA schon mehrfach erwähnt haben. Ich will hier die Süddeutsche Zeitung vom 3. Januar dieses Jahres zitieren - es ging um eine Studie über Bildungschancen -: Die Aussicht eines Arbeiterkindes, einen Hochschulabschluss zu erreichen, sei um das Zwölffache schlechter als die eines Akademikerkindes. Um die Chancen benachteiligter Kinder zu verbessern, empfiehlt der Forscher eine gezielte Frühförderung sowie Ganztagsschulen. Ich will gar nicht auf das Letzte, sondern auf das Erste eingehen. Ich erinnere mich an meine Kinderzeit. Damals war es häufig so: Wer einen bestimmten sozialen Hindergrund, als Kind von Arbeitern, hatte, der ging - das war klar - nicht auf das Gymnasium, sondern in die duale Ausbildung, da es hieß: Dort gehört er hin. Solche Zustände dürfen und werden wir in diesem Land nicht mehr akzeptieren. Das ist eine Verschwendung von Potenzialen und stellt Menschen in eine Ecke, in die sie nicht gehören. ({5}) Es wird Aufgabe dieser Koalition sein, auf diesem Weg voranzugehen, um notwendige und bessere Chancen für Kinder - egal vor welchem Hintergrund - zu ermöglichen. Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, der auf der europäischen Ebene und auch in der Debatte hier eine Rolle spielt. Wir werden den deutschen Qualifizierungsrahmen entwickeln. Für die SPD will ich hier deutlich festhalten: Wir werden das nicht unterstützen, wenn damit darauf abgezielt wird, das duale Prinzip - die im Wesentlichen drei- und dreieinhalbjährige Ausbildung in ein- und halbjährige zertifizierte Module zu zersplittern, wie es manche von der BDA gefordert haben. Dann ist das Berufsprinzip tot. Ich kann jeden nur davor warnen, dieses hohe Gut aufs Spiel zu setzen. Wir brauchen auch zukünftig das duale Prinzip in der beruflichen Ausbildung. ({6}) Ein weiterer Punkt, der uns wichtig ist und der in der Qualifizierungsinitiative eine Rolle spielt, wird durch das Stichwort „Weniger ist mehr“ beschrieben. Ich glaube, es macht Sinn, sich endlich zu überlegen, wie wir die Vielfalt der Programme vor allen Dingen im Übergangsbereich ein Stück weit bündeln können. Es gibt gute Beispiele vor Ort in den Regionen unseres Landes. Lassen Sie uns diese aufgreifen! Wir brauchen nicht noch fünf, sechs oder sieben Sonderprogramme, sondern wir müssen sie, wie wir das im Koalitionsantrag beschrieben haben, gemeinsam mit den Ländern bündeln, und wir müssen die wesentlichen Standards festschreiben, damit die Effektivität größer wird und wir mehr Geld für mehr Plätze haben. Das hilft den jungen Leuten. Weniger ist mehr - das ist der richtige Weg. ({7}) Ein letzter Punkt. Das duale Ausbildungssystem in seiner Gesamtheit muss sich in den nächsten Jahren bewähren. Die Ausbildungsbeteiligung der Unternehmen liegt zwischen 24 und 25 Prozent. Ich glaube, es ist genügend Potenzial vorhanden. Alle Untersuchungen des Bundesinstituts für Berufsbildung belegen: Sowohl in den alten wie auch in den neuen Ländern gibt es einen Bereich von 25 bis 28 Prozent der Unternehmen, die fachlich, sachlich und finanziell in der Lage sind, auszubilden. Es kommt in den Regionen vor Ort darauf an - Ausbildungsmärkte sind regionale Märkte -, dafür zu sorgen, dass diese Unternehmen stärker ausbilden. Wir können sie mit dem Ausbildungsbonus für die vom Arbeitsminister schon beschriebenen Personen wunderbar unterstützen. Ich sage: Nutzen Sie diese Möglichkeiten! Das ist das Beste für die berufliche Bildung. Vielen Dank. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile dem Kollegen Volker Schneider, Fraktion Die Linke, das Wort. ({0})

Volker Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003843, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Qualifizierungsinitiative ist ausweislich der Unterrichtung der Bundesregierung auch eine Antwort auf den drohenden Fachkräftemangel. Mir persönlich ist bereits seit mindestens zehn Jahren bekannt, dass bedingt durch die Demografie im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts der Bedarf an Fachkräften in Deutschland stark ansteigen wird. In der uns vorliegenden Unterrichtung wird dieser Trend wie folgt präzisiert: Bis zum Jahr 2013 werden 330 000 Akademikerinnen und Akademiker im Bereich der gewerblichen Wirtschaft - davon 70 000 Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler sowie 85 000 Ingenieurinnen und Ingenieure - in den Ruhestand gehen. In den nächsten Jahren werden in den Naturwissenschaften nach Prognosen mindestens 30 Prozent jedes Absolventenjahrgangs fehlen. Ähnliche Entwicklungen sind im Übrigen auch auf der Ebene der Meister, der Techniker und bei einer Reihe von Facharbeitern zu erwarten. Wie bereits gesagt, ist dies alles lange bekannt und daher alles andere als neu. Insoweit ist es mehr als erstaunlich, wie die Wirtschaft sehenden Auges und ohne frühzeitig vorbeugende Maßnahmen zu ergreifen auf diesen Fachkräftemangel zugesteuert ist. ({0}) Wer sich nur noch am kurzfristigen Erfolg orientiert, wer nur von Quartalsbericht zu Quartalsbericht denkt, für den ist die Qualifikation von Mitarbeitern nur ein Kostenfaktor, der den Gewinn schmälert. Wer so kurzfristig denkt, ist zu einer langfristigen und nachhaltigen Entwicklung von Unternehmen wahrlich nicht in der Lage. Das ist kein Qualitätsbeweis für einen zu großen Anteil der Führungskräfte in unserer Wirtschaft. Nun soll die Politik es wieder richten. Es ist erstaunlich, was hier nun alles kurzfristig in Bewegung versetzt werden soll. Jetzt entdecken Sie, worauf wir als Linke gebetsmühlenartig hingewiesen haben - nämlich, dass unser Bildungssystem in hohem Maße sozial selektiv wirkt und dass dies nicht nur eine Beeinträchtigung des Rechts auf Bildung bedeutet, das sich für uns aus dem Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung ergibt, sondern auch eine nicht mehr nachvollziehbare Vergeudung von Ressourcen. ({1}) Das liest sich bei Ihnen so: Deshalb müssen alle Potenziale genutzt werden. Es ist ein Kernelement von Zukunftsvorsorge, allen jungen Menschen eine Chance auf eine gute Ausbildung zu bieten, Kindern aus bildungsfernen Schichten verstärkt den Zugang zu höherer Bildung zu ermöglichen, für Frauen und Männer Bedingungen zu schaffen, unter denen sie die Anforderungen der eigenen Familie mit einer Ausbildung, einem Studium oder der Berufsausübung vereinbaren können. Mehr Menschen muss der Aufstieg durch Bildung ermöglicht werden. Wir brauchen Weiterbildungsmöglichkeiten für alle während des gesamten Lebenslaufs. Richtig so. Schade ist nur, dass es weniger das Recht auf Bildung, sondern mehr ökonomische Notwendigkeiten sind, die Sie zu einer derart klaren Positionierung veranlassen. Auch hinsichtlich der Frage, worin die Bundesregierung die zentralen Weichenstellungen für die Zukunft sieht, können wir den von Ihnen genannten zentralen Punkten nur zustimmen. Aber wie unterfüttern Sie denn diese hehren Ziele? Da sehen wir noch erheblichen Diskussionsbedarf. Angesichts der mir zur Verfügung stehenden Zeit kann ich nur einige Punkte kurz ansprechen. Sie wollen zukünftig frühkindliche Betreuung mit Bildung verknüpfen. Richtig und gut so! Dafür brauchen Sie aber entsprechende Fachkräfte - und die bekommen Sie nicht mit den Qualifizierungsmaßnahmen, die Sie hier vorschlagen. Wir brauchen auch in Deutschland Fachkräfte, die auf akademischem Niveau gebildet sind. Zusammen mit Österreich hinken wir weit hinter der europäischen Entwicklung hinterher. Das kostet Geld. Dieses Geld in die Hand zu nehmen, sind Sie anscheinend nicht bereit. ({2}) Das gilt insbesondere auch für das, was Sie als frühe Sprachförderung vorschlagen. Spätestens hier brauchen wir entsprechend vorgebildete akademische Fachkräfte. In Bezug auf das, was Sie mit den Bildungshäusern beabsichtigen, kann ich nur Vermutungen anstellen. Wir als Linke sind ja auch für gemeinsames Lernen. ({3}) Aber doch bitte nicht gemeinsames Lernen von drei bis zehn, sondern gemeinsames Lernen von 6 bis 18! Das wäre die Zielsetzung. ({4}) Außerdem wollen Sie die regionalen Weiterbildungsstrukturen stärken. Das ist auch ein sehr guter Ansatz. Wunderbar; aber wieder einmal mehr mit Projekten, mit Modellen, mit Stiftungen! Das führt uns doch nicht weiter. Was wir an dieser Stelle brauchen, sind verbindliche, Volker Schneider ({5}) klare Strukturen - und die bekommen wir nur über ein bundesweites Weiterbildungsgesetz. ({6}) Bemerkenswert finde ich, dass Sie in das Papier eine Weiterbildungsallianz hineinschreiben; denn das ist doch eine Selbstverständlichkeit. Auch ohne eine solche Forderung müssten Wirtschaft und Politik an dieser Stelle zusammenarbeiten. Wenn Sie das dann auch noch im Sinne eines Ausbildungspakts ausgestalten wollen, lässt mich das als Linken das Übelste befürchten. Positiv hervorheben kann ich den Ausbau der überbetrieblichen Berufsbildungsstätten zu Kompetenzzentren. Allerdings merkt man an dieser Stelle wieder einmal, wie forschungslastig Ihre Bildungspolitik ist. Gänzlich unangebracht in diesem Papier ist allerdings Ihr Jubel über die Weiterbildungsaktivitäten der Bundesagentur für Arbeit. Sie bauen jetzt auf, was Sie zuvor demontiert haben. Sie sind jetzt noch nicht einmal wieder auf dem Stand von 2001. Das ist wahrlich kein Grund zum Jubeln. ({7}) Das Papier zur Qualifizierungsinitiative ist nicht das schlechteste; es ist immerhin ein Einstieg in die Diskussion. Jetzt müssten Sie sich noch in den weiteren Beratungen bewegen. Optimistisch bin ich in diesem Punkt nicht; meine Erfahrungen aus der Vergangenheit zeigen leider etwas anderes. Vielen Dank. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Brigitte Pothmer, Bündnis 90/Die Grünen.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte noch etwas zu dem Ausbildungsbonus sagen. Die Bundesregierung verspricht, in den nächsten drei Jahren 100 000 zusätzliche Ausbildungsplätze für Altbewerber zu schaffen. Erreicht werden soll das, indem solche Ausbildungsplätze mit 4 000 bis 6 000 Euro gefördert werden. Ich zitiere einmal, was die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände zu diesem Programm sagt: Dieser Ausbildungsbonus „schadet“ durch „Fehlanreize und Mitnahmeeffekte“ der Ausbildung. Schlechter kann ein Urteil des Nutznießers von vermeintlichen Wohltaten einer Regierung wohl nicht ausfallen. ({0}) - Herr Tauss, ich will das ein bisschen ausführen. Es hat durchaus Gründe, dass die BDA das sagt. Die Kriterien für den Ausbildungsbonus sind einfach zu weit gefasst, was dazu führt, dass mit diesem Bonus praktisch jeder Altbewerber und jede Altbewerberin, ({1}) sogar die leistungsstarke Realschulabgängerin, gefördert werden kann. ({2}) Bedingung für die Förderung ist nämlich, dass die Bewerberinnen und Bewerber maximal einen Realschulabschluss haben, dass sie sich in diesem Jahr nicht zum ersten Mal um einen Ausbildungsplatz bewerben, dass sie fünf abgelehnte Bewerbungen vorlegen können oder in irgendeiner Weise einen persönlichen Nachteil haben. Ich sage Ihnen: Bei diesen Kriterien ist praktisch jede und jeder der 380 000 Altbewerberinnen und Altbewerber förderungsfähig. Es ist dann nicht allein davon abhängig, dass jemand leistungsschwach und aus diesem Grund förderungsbedürftig ist. Ich prognostiziere Ihnen: Dieses Programm wird ungeheure Creamingeffekte hervorrufen; denn es werden in erster Linie die Leistungsstarken und diejenigen unter den 380 000 Altbewerberinnen und Altbewerbern davon profitieren, die aufgrund der Tatsache, dass es zu wenig Ausbildungsplätze gibt, keinen Ausbildungsplatz haben und nicht aufgrund der Tatsache, dass sie leistungsschwach und in diesem Sinne förderungsbedürftig sind. Damit senden Sie auch ein falsches Signal an die Arbeitgeber. Denn was für ein Signal ist das an die Unternehmen, die in den letzten Jahren trotz schwieriger wirtschaftlicher Lage und ohne finanzielle Förderung ihrer Verantwortung für Ausbildung nachgekommen sind und jetzt nicht in der Lage sind, zusätzliche Ausbildungsplätze zu schaffen? ({3}) Dieses Programm zeigt den Unternehmen doch: Die sozial verantwortlich handelnden Unternehmen sind die Dummen. Die FDP klatscht diesem Programm auch noch Beifall. Ich finde, Sie sind ordnungspolitisch wirklich auf den Hund gekommen. ({4}) Ich bin nicht gegen Eingliederungshilfen, wenn sie auf die leistungsschwachen Jugendlichen konzentriert werden. ({5}) - Herr Tauss, wenn Sie das wollten, dann brauchten Sie keinen neuen Ausbildungsbonus. ({6}) Erstens gibt es bereits eine ganze Reihe von ausbildungsunterstützenden Maßnahmen in den Ländern, die durch Ihr Programm überflüssig würden. Auch das ist eine Form von Mitnahmeeffekten. ({7}) Zweitens gab es bisher die Möglichkeit, unter dem Titel „Sonstige Maßnahmen“ im Rahmen des SGB II Ausbildungsplätze zu fördern. Aber die rigide Auslegung des Bundesarbeitsministeriums hat dazu geführt, dass diese gezielten Maßnahmen nicht mehr möglich sind. Sie streichen diese sehr gezielten, konzentrierten Unterstützungsmaßnahmen. Aber gleichzeitig schaffen Sie ein Programm, mit dem Sie im Grunde das Geld mit der Gießkanne ausschütten, statt es für gezielte Förderung einzusetzen. Das müssen Sie den Menschen erst einmal erklären. Lassen Sie mich den Unterschied deutlich machen. Der Unterschied besteht darin, dass die gezielten einzelfallbezogenen Bonuszahlungen tatsächlich den benachteiligten Jugendlichen geholfen haben. Der breit angelegte Ausbildungsbonus dagegen hilft der Bundesregierung. Das lässt sich zwar besser verkaufen. Aber das kann doch nicht Sinn der Sache sein. ({8}) Alle Erfahrungen zeigen, dass ein Betrieb nur dann einen Auszubildenden oder eine Auszubildende einstellt, wenn er diese Person für geeignet hält. Sie glauben doch nicht allen Ernstes, dass eine Person, die ein Betrieb für ungeeignet hält, eingestellt wird, nur weil er eine Einmalzahlung von 4 000 oder 6 000 Euro bekommt. Er stellt eine Person nur dann ein, wenn er sie für geeignet hält, und dann nimmt er das Geld auch mit. Solche Mitnahmeeffekte können wir nicht wollen. Insofern ist es nicht richtig, bei den Betrieben anzusetzen, wenn Sie etwas für die Benachteiligten tun wollen. Dann müssen Sie vielmehr bei den Benachteiligten selber ansetzen und die ausbildungsbegleitenden Hilfen deutlich verbessern. Aber dazu finden sich in Ihrem Programm leider nur sehr vage Aussagen. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Pothmer, Sie müssen leider zum Ende kommen.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme gleich zum Schluss.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Sofort.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Dann müssen Sie vor allen Dingen das Ausbildungsmanagement für die kleineren Betriebe verbessern. Gerade denen, die nicht viel Erfahrung mit Ausbildung haben, müssen Sie bei den bürokratischen Hürden helfen. Mit diesem Programm werden Sie nicht in der Lage sein, den Berg der Altbewerber abzubauen. Wenn Sie so weitermachen, dann wird dieser Berg zu einer Wanderdüne. Dann können Sie Ihr Versprechen als Gipfelkreuz obendrauf nageln. Ich danke Ihnen. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Michael Kretschmer erhält nun das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.

Michael Kretschmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003572, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Pothmer, Ihrem Ansehen und dem Ihrer Partei hätten Sie mehr gedient, wenn Sie in der Sache etwas vernünftiger und seriöser argumentiert hätten. ({0}) Was wir mit dieser Qualifizierungsinitiative umsetzen, ist in der Tat ein breit angelegtes Programm von Einzelmaßnahmen für Menschen, die diesbezüglich Schwierigkeiten haben, nämlich die knapp 400 000 Altbewerber. Das Programm ist mit denen abgestimmt, die seit langem in diesem Bereich arbeiten. Deswegen wird es auch tatsächlich Wirkung zeigen. Es ist nicht nur das Recht, sondern auch die Aufgabe der Opposition, etwas zuzuspitzen und auf vermeintliche Fehler hinzuweisen. ({1}) Aber man sollte dabei so vorgehen, Herr Kollege Barth, dass diejenigen, die uns Sorgen machen, weil sie Schwierigkeiten und Probleme haben, und denen wir Hilfsangebote machen - die sie auch annehmen wollen -, nicht den Mut verlieren und die Kraft finden, diese Hilfsangebote anzunehmen. Aber die Art und Weise, wie hier und an anderer Stelle die Diskussion geführt wird - auch von der FDP -, ist in vielen Fällen nicht dazu geeignet, sondern nimmt den Menschen den Mut. ({2}) Ziel unserer Politik muss sein, solche Rahmenbedingungen zu schaffen, dass tatsächlich jeder Jugendliche in Deutschland einen Ausbildungsplatz, einen Studienplatz oder zumindest die Möglichkeit einer weiterführenden Ausbildung bekommt. Unsere Möglichkeiten im Bundestag dazu sind vielfältig. Wir haben zuerst die Aufgabe, das wirtschaftliche Umfeld zu organisieren. Wir sehen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Ausbildung ist eine Investition in die Zukunft der Jugendlichen, aber auch der Unternehmen. Jetzt, wo die Zeiten besser sind, wo die Wirtschaft wieder wächst, steigt auch die Zahl der Ausbildungsplätze, und zwar im Vergleich zum Vorjahr um ungefähr 10 Prozent bzw. um über 50 000. Das ist eine gewaltige Leistung. Ich danke der Bundesregierung und der Koalition, dass sie durch eine kluge Politik dies ermöglicht haben. ({3}) Damit komme ich zur Qualifizierungsinitiative. Wir schaffen Hilfsangebote für diejenigen, die ausgebildet werden wollen, aber auch für diejenigen, die ausbilden. Hierzu ist eine ganze Reihe von Maßnahmen aufgezählt worden. Darauf will ich im Einzelnen nicht mehr eingehen, wohl aber auf die Kritik. Sie haben die Kriterien genannt und damit aus meiner Sicht deutlich gemacht, dass es sich um ein Programm handelt, das zielgerichtet auf diejenigen wirkt, die es schwer haben. Wer seit mehreren Jahren einen Ausbildungsplatz sucht, ist dringend darauf angewiesen, weitergebildet zu werden, eine Lösung zu bekommen. Daher ist es richtig, dass wir hier zusätzlich Geld in die Hand nehmen, obwohl es eigentlich die Aufgabe der Unternehmen ist. Natürlich können solche Maßnahmen nur eine Ausnahme sein. Es kann nicht richtig sein, dass der Staat im Bereich der dualen Ausbildung den Unternehmen die Ausbildung in nennenswertem Umfang finanziert. Wir sind in diesem Bereich auf einem guten Weg. Aber wir haben noch eine ganze Reihe von Problemen zu lösen. Das Wesentliche ist, dass wir diejenigen, die die Schule abschließen, in die Lage versetzen, sich den richtigen Beruf auszusuchen. Hier habe ich in der Tat große Sorgen. Wenn ich mit den jungen Leuten an den Schulen in meinem Wahlkreis spreche, merke ich immer wieder, dass sie nicht wissen, welche Berufe es gibt und was sich hinter den verschiedenen Berufen verbirgt. Deswegen ist ein wichtiger Baustein der Qualifizierungsinitiative, junge Leute schon in ihrer Schulzeit in die Unternehmen zu bringen, sodass sie einen Eindruck von der Firma und vor allen Dingen von den Berufen bekommen. Ich halte das für einen wichtigen Punkt. ({4}) - Herr Kollege Tauss, wir haben uns ja gemeinsam darum bemüht. In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass der Bund nicht für alles zuständig ist. Im Wesentlichen ist Bildungspolitik Länderpolitik. ({5}) Die Erfolge in den Bundesländern sind sehr unterschiedlich, wenn es um Schulabbrecher und Berufsorientierung geht. Ich glaube, dass wir in Sachsen besser sind als manches andere Bundesland. Wir wollen uns unsere Erfolge nicht kaputtreden lassen. ({6}) Wir kommen auch nicht weiter, wenn wir versuchen, einen Durchschnitt in Deutschland zu bilden. Vielmehr ist es wichtig, das eine oder andere zu übernehmen - ein gutes Beispiel ist Baden-Württemberg ({7}) und es anderen vorzuschlagen; das ist gar kein Problem. Wir sollten die besten Beispiele aufgreifen und für eine entsprechende Umsetzung sorgen. ({8}) Die Stimmung in diesem Land hat sich verbessert. Das merken wir überall, Gott sei Dank auch auf dem Ausbildungsmarkt. Das ist ein gutes Zeichen für die jungen Leute. Wir hoffen, dass es so weitergeht. Vielen Dank. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Dieter Grasedieck ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion. ({0})

Dieter Grasedieck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002663, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unsere Bundesregierung geht wahrlich mutige Schritte und bietet den Jugendlichen - auch den benachteiligten Jugendlichen - und den Studenten Hilfen an. Zusätzliche Ausbildungsplätze, Frau Pothmer, werden angeboten. Die Jugend braucht eine Chance, sie braucht mehr Unterstützung, Hoffnung und Perspektive. Genau dies greifen wir als Koalition und als Bundesregierung auf. Die Herausforderung unseres Jahrhunderts, die Ausbildung einerseits und das lebenslange Lernen andererseits, wird hier in den entscheidenden Schritten angegangen. Das Wissen ändert sich täglich. Genau deshalb brauchen wir eine breite Unterstützung. Neue Patente, neue Berichte aus den einzelnen wissenschaftlichen Fachbereichen kommen täglich hinzu. Flugzeuge werden per Satellit gelenkt. Das war in den letzten Jahren ein entscheidender Fortschritt. Wer hätte davon vor zehn Jahren geträumt? Die Stärke und die Geschwindigkeit der Taifune können durch Satellitenbeobachtung vorherberechnet werden. Auch das ist ein entscheidender Fortschritt. Die Welt wird komplexer und komplizierter. Wenn Sie die Fertigung etwa im Schweißbereich der Automobilindustrie von vor zehn Jahren und von heute vergleichen, dann erkennen Sie, dass die Schweißqualität und die Fertigungsgeschwindigkeit besser geworden sind. Hier werden hochqualifizierte Industriemechaniker eingesetzt. Heute arbeiten hochqualifizierte Zerspanungsmechaniker an CNC-Maschinen: Die Arbeit unserer Facharbeiter ist theoretischer, komplexer und komplizierter geworden. Weil wir in Zukunft noch mehr hochqualifizierte Facharbeiter benötigen, haben wir dieses Programm aufgelegt. ({0}) Wir brauchen mehr Qualifizierung in den verschiedensten Bereichen. Wir brauchen mehr Ausbildungsplätze in Deutschland, weil wir in der Zukunft Exportweltmeister bleiben wollen. Dazu wird jeder Jugendliche gebraucht. Das muss die Botschaft dieses Antrags und dieser Initiative der Bundesregierung sein. ({1}) Auf diesem Gebiet, meine sehr verehrten Damen und Herren, arbeiten wir erfolgreich auch gegen Jugendkriminalität. Da ist die Bundesregierung ganz sicherlich erfolgreich. Sie geht mutige Schritte; das muss ich schon sagen, wenn ich mir die konkreten Maßnahmen unseres Ministers Scholz einmal ansehe. Es gibt 100 000 zusätzliche Ausbildungsplätze für Altbewerber - das ist erwähnt worden -, 200 zusätzliche Berufsberater werden eingestellt. Auch das ist wichtig. ({2}) Wir machen uns über das neue Patensystem Gedanken. Berufsbegleiter sind hier eingesetzt worden. In meinem Wahlkreis führe ich mit 14 Paten in Schulen ein Patensystem durch. Dort erfolgt eine Berufsbegleitung durch Experten, unter denen Elektriker genauso wie Ingenieure, Maschinenbauer und Betriebswirte vertreten sind. Wir überlegen uns gemeinsam, welcher Beruf für den Schüler richtig ist. Dies wird mit den Jugendlichen diskutiert, und es werden Bewerbungen geschrieben und Bewerbungsgespräche vorbereitet. Das ist wirklich Integrationsarbeit, meine Damen und Herren. ({3}) Deutschland braucht in der Zukunft kreative und innovative Fachkräfte. Schon heute werden von der Industrie 50 000 Diplomingenieure gesucht; 85 000 werden es bis 2013 sein, wie vorhin in der Debatte schon erwähnt worden ist. Erforderlich ist eine kontinuierliche Verbesserung ihrer Qualifikation; denn auf der anderen Seite sind noch 20 000 Ingenieure arbeitslos, weil bei ihnen bestimmte Kenntnisse nicht vorhanden sind. Dies zeigt, dass hier noch etwas aufgearbeitet werden muss. Auch dies ist im Antrag festgelegt worden; wir brauchen in der nächsten Zeit eine kontinuierliche Weiterbildung. ({4}) Die Wissensexplosion, meine Damen und Herren, erfordert lebenslanges Lernen und mehr Ausbildungsplätze für junge Menschen. Eine schleichende Dequalifizierung bei älteren Fachkräften muss verhindert werden. Nur so können wir unseren Wissensvorsprung erhalten und die Wettbewerbsfähigkeit weiter verbessern. Hier sind die Bundesregierung und die Koalition auf dem richtigen Wege. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile dem Kollegen Uwe Schummer, CDU/ CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Es wäre undenkbar, dass die arabischen Länder ihre Ölvorräte im Wüstensand versickern lassen oder die Südafrikaner ihre Goldnuggets in den Flussläufen belassen. Das Potenzial, das wir in unserer Volkswirtschaft haben, besteht aus kreativen, motivierten und qualifizierten Menschen. Es ist gut, dass der Antrag „Junge Menschen fördern - Ausbildung schaffen und Qualifizierung sichern“ und auch die Qualifizierungsinitiative mit dem alten, ewigen Kreislauf Schluss machen, nämlich: verheerende Ausbildungsplatzlücken Mitte des Jahres, in den Monaten Juni, Juli, August, dann der Reflex der einen Seite, die eine Strafsteuer für diejenigen fordert, die nicht ausbilden, und die Forderung der anderen Seite, die Ausbildungsvergütungen zu reduzieren, und am Ende dann eine Klinkenputzaktion, um Ausbildungsplätze zu mobilisieren. Nein, wir als Union und SPD haben überlegt, was wir jenseits der Reflexe und ohne Ideologie als Große Koalition entwickeln können, damit die Menschen konkret, praktisch und zeitnah eine Chance für eine Berufsausbildung bekommen. Diese Initiative ist das Ergebnis gemeinsamer Überlegungen. ({0}) Im Zweijahresvergleich - das ist Markenzeichen der Merkel-Regierung - sank die Zahl der Arbeitslosen um 1,2 Millionen. Die Zahl der Erwerbstätigen liegt bei etwa 40 Millionen. Zeitverzögert folgt nun auch der Ausbildungsmarkt. Mit 626 000 Ausbildungsverträgen haben wir einen der höchsten Stände in der letzten Zeit. Wir hatten bereits im letzten Ausbildungsjahr eine Steigerung der Zahl der Ausbildungsplätze um 4,8 Prozent, in diesem Ausbildungsjahr haben wir eine weitere Steigerung um 8,6 Prozent. Die Zahl der Arbeitslosen bis 25 Jahre sank im gleichen Zeitraum von 524 000 auf 341 000, also um 35 Prozent. Auch das ist eine wichtige Botschaft für junge Menschen. Sie haben wieder verstärkt eine berufliche Perspektive. So etwas geht nur im Zusammenwirken von Politik, Wirtschaft und den Sozialpartnern. In Deutschland investieren die Unternehmen 30 Milliarden Euro jährlich für die berufliche Qualifizierung. Jedes andere Land wäre dankbar, wenn eine solche Mitfinanzierung durch die Wirtschaft stattfinden würde. Auch dies ist ein Prä der starken dualen Ausbildung in unserem Lande. ({1}) Über 60 Prozent der Schulabgänger entscheiden sich für einen der 341 Ausbildungsberufe. Es sind 1,5 Millionen junge Menschen, die von 492 000 Betrieben qualifiziert werden. Das ist nicht nur Wirtschaftskultur, das ist auch Ausbildungskultur in Deutschland. Der Ausbildungspakt ist ein Erfolgsmodell, auch weil er von der Großen Koalition im letzten Jahr zeitlich verlängert und qualitativ verbessert worden ist. Es war wichtig, dass der drittstärkste Ausbilder, der Bundesverband der Freien Berufe, in den Ausbildungspakt eingetreten ist. Es ist ein Fehler - das sage ich als IG-Metaller -, dass sich die Gewerkschaften immer noch nicht am Ausbildungspakt beteiligen. ({2}) Gewerkschaften gehören nicht in die Meckerecke; Gewerkschaften gehören an den Verhandlungstisch und sonst nirgendwohin. ({3}) - Kehlkopf ersetzt noch keinen Nachdenkkopf. Welche politischen Pappnasen Sie sind, haben Sie am Mittwochnachmittag sinnbildlich hier im Plenum gezeigt. ({4}) Jeder zweite Ausbildungsvertrag ist mit einem Menschen abgeschlossen worden, der vor mehr als zwölf Monaten aus der Schule entlassen wurde. Wir müssen deshalb neben den Schulabgängern auch die sogenannten Altbewerber mit im Blick behalten. Ein wichtiges Kind des Ausbildungspaktes sind die Einstiegspraktika, die eine Weitervermittlungsquote von 74,7 Prozent zu verzeichnen haben, davon 65,5 Prozent in eine klassische berufliche Ausbildung. Das zeigt den hohen Wert dieser EQJ-Programme, der Einstiegspraktika. Wenn diese jetzt mit Bausteinen der Ausbildung kombiniert werden, dann bedeutet dies - kammerzertifiziert -, dass diese Zeit auch verstärkt bei der Nachvermittlung anerkannt wird und den jungen Menschen nicht mehr Lebenszeit verloren geht. Diese kann vielmehr effizient genutzt werden. Der Qualifizierungskombilohn für langzeitarbeitslose Jugendliche aus der Werkstatt des Arbeitsministers Karl-Josef Laumann ist ein weiteres wichtiges Instrument, um den 341 000 verbliebenen jungen Langzeitarbeitslosen eine Perspektive zu geben. Es wirkt unterschwellig und kann eine Brücke in eine spätere berufliche Ausbildung sein. 15 Prozent der Schulabgänger werden von den Kammern als nicht ausbildungsfähig bewertet. Ich kann nur sagen: Auch da muss man vorsichtig sein. Ich habe erlebt, dass sogenannte nicht ausbildungsfähige junge Menschen ihren Führerschein gemacht haben. Tausend Fragen, Tausend Antworten - sie lesen motiviert und engagiert die Bücher und bestehen eine hochkomplexe theoretische Fahrprüfung. Sie sehen nämlich das Auto vor der Tür und denken: Es lohnt sich. Ich habe ein Ziel; ich möchte die Führerscheinprüfung bestehen. - Auch dies ist eine Frage der Motivation. Es geht darum, ob man sich um Menschen kümmert, ob man sie frühzeitig auf die richtige Schiene setzt und ob man sie begleitet, bis sie eine vernünftige Ausbildung durchlaufen haben. ({5}) Wir wollen die Abbrecherquote von 20 Prozent senken, und zwar unter anderem dadurch, dass - finanziert durch ein von Annette Schavan initiiertes 15-Millionen-Euro-Programm - zwei Jahre vor der Entlassung ein Schnupperkursus in einer überbetrieblichen Ausbildungswerkstatt besucht werden kann. Wo sind denn unter einem Dach Holzwerkstatt, Metallwerkstatt, Hauswirtschaft, Verwaltung und auch Gartenbau, sodass man in 14 Tagen alle Berufsbereiche kennenlernen kann? Wenn man diesen Kursus absolviert hat, kann man ein Profiling für die nächsten zwei Jahre erstellen und klären, welche weiteren Betriebspraktika bis zum Ausbildungsabschluss für eine zielgerichtete Berufsorientierung und Berufsberatung sinnvoll sind. Ein Patenmodell soll diese jungen Menschen begleiten und unterstützen. Das heißt, nicht wenige Wochen, sondern zwei Jahre vor der Entlassung müssen zielgerichtete Angebote entwickelt werden. Dieses Vorhaben wird systematisch umgesetzt. Ich möchte abschließend sagen: Die Wirtschaft kritisiert, dass aufgrund der mangelnden Ausbildung Aufträge in Höhe von 20 Milliarden Euro verloren gehen. Die 341 000 langzeitarbeitslosen Jugendlichen kosten uns etwa 8 Milliarden Euro an nicht gezahlten Steuern und Beiträgen und an notwendigen Leistungsausgaben. Das Teuerste ist Arbeitslosigkeit, und wir steuern dagegen. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Jörg Tauss, SPD-Fraktion. ({0})

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Kollege Barth - Sie telefonieren gerade -, ich weiß gar nicht, was Sie gegen Wissensbeschleunigung haben. Das ist doch eigentlich ein schöner Begriff, der auch dieses Programm ziert. ({0}) Es ist übrigens kein neuer Begriff. Er stammt aus der Makroökonomie und den Sozialwissenschaften. Da können wir Ihr Wissen noch ein wenig beschleunigen; das ist nicht das Problem. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, selbstverständlich ist Bildung ein Wert an sich; das ist überhaupt keine Frage. Allerdings müssen wir dem drohenden Fachkräftemangel entgegenwirken. Außerdem müssen wir die Bildungspolitik in den Mittelpunkt der Integrationspolitik stellen. Das sind die zentralen Herausforderungen, die wir bewältigen müssen. Mit dieser Qualifizierungsinitiative haben diese Bundesregierung und die Große Koalition richtige Antworten gegeben. ({1}) Der Versuch, beide Ziele - Bekämpfung des Fachkräftemangels und Förderung der Integration - zu erreichen, ist die Grundlage dessen, was wir hier tun. Natürlich sind damit auch Risiken verbunden; das ist völlig klar. Wir sind bei einem großen Teil dessen, was wir umsetzen müssen, auf die Länder angewiesen. Deswegen bin ich nicht beglückt, dass die Bundesratsbank ausgerechnet während dieser Debatte sehr leer ist. ({2}) Wir hoffen, dass dies kein Zeichen dafür ist, dass sich die Länder nicht im entsprechenden Maße an dem, was wir hier anbieten, beteiligen. Ich glaube - auch da können wir optimistisch sein -, sie werden es tun; denn auch die Länder wissen, dass wir uns einen bildungspolitischen Stillstand bis zum Bildungsgipfel im Herbst nicht leisten können. Dieses Jahr, also 2008, muss ein weiteres Jahr des Aufbruchs sein. ({3}) Man kann zu dieser Großen Koalition sagen, was man will. Frau Schavan und ich konnten uns in vielen bildungspolitischen Fragen nie so richtig leiden. Wir haben uns aber zu Beginn dieser Koalition zusammengesetzt, um die Frage zu klären, was wir gemeinsam erreichen wollen: Wir wollen gemeinsam, dass diese Große Koalition am Ende ihrer Amtszeit dafür steht, dass Deutschland im Bereich „Bildung, Wissenschaft und Forschung“ vorangebracht worden ist. Das ist unser gemeinsames Ziel, an dessen Erreichung wir trotz vieler unterschiedlicher Auffassungen in der Sache arbeiten. ({4}) Liebe Frau Kollegin Pothmer - Sie haben mich menschlich richtig enttäuscht -, ich weise Ihre Kritik am Ausbildungsbonus ganz entschieden zurück. Entschuldigung! Joschka Fischer würde sich politisch sozusagen im Grabe umdrehen. Ihr wart mal eine Partei der Sozialbewegungen. Lesen Sie das einmal nach: Der Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit begrüßt das aktuelle Vorhaben, für jugendliche Altbewerber einen Ausbildungsbonus zu schaffen. Unterschrieben haben das Deutsche Rote Kreuz, die Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelische Jugend, die Bundesarbeitsgemeinschaft der regionalen Ausbildungsträger, der Paritätische Wohlfahrtsverband, der Internationale Bund für Sozialarbeit, die Katholische Jugendsozialarbeit usw. Und die Grünen zitieren die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände! Ich bin ja völlig fertig, liebe Kolleginnen und Kollegen! Das kostet einen richtig Nerven. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Tauss, wir wollen nicht hoffen, dass Sie völlig fertig sind, zumal Sie noch fünf Minuten Redezeit haben.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Fünf Minuten und 49 Sekunden, Herr Präsident.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das wäre wirklich ein Jammer, zumal Ihnen die Kollegin Pothmer durch eine Zwischenfrage zu zusätzlicher Redezeit verhelfen möchte.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kollegin Pothmer nimmt diese Kritik zurück; das finde ich prima.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Tauss, ich möchte einen Versuch unternehmen, die persönliche Enttäuschung, die ich Ihnen zugefügt habe, etwas abzumildern.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Menschliche! ({0})

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Diese menschliche Enttäuschung. - In dem Positionspapier, das Sie gerade zitiert haben, wird ausdrücklich kritisiert, dass das im SGB II vorgesehene Instrument - nämlich weitere Leistungen -, mit dem gezielt benachteiligte Jugendliche gefördert werden können, jetzt von der Bundesregierung unmöglich gemacht wird. In diesem Positionspapier wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass neben dem Ausbildungsplatzbonus insbesondere an den persönlichen Nachteilen der Jugendlichen angesetzt werden muss. ({0}) Ich möchte deutlich machen, wie hoch Mitnahmeeffekte sein können. Die Einstiegsqualifizierungen sind hier mehrfach lobend erwähnt worden. ({1}) Ist Ihnen bekannt, Herr Tauss, dass bei diesen Einstiegsqualifizierungen, die hier so hochgehalten werden und die ausdrücklich auf Schulabbrecherinnen und Schulabbrecher gerichtet werden sollten, mehr als 50 Prozent der Personen mindestens einen Realabschulabschluss oder einen höheren Abschluss haben? So viel zu den zielgerichteten Maßnahmen dieser Bundesregierung. Nichts, aber auch nichts deutet darauf hin, dass das beim Ausbildungsbonus besser sein wird. ({2})

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kollegin Pothmer, jetzt bin ich menschlich ein bisschen beruhigt, weil ich merke, dass es Ihnen nicht um die Verlautbarung eines Verbandes aus der Wirtschaft geht, sondern um die Sache. Dazu kann ich Ihnen sagen: Damit rennen Sie offene Türen ein; denn genau über diesen Bereich, was die Frage des Anwendungsbereichs von § 16 und anderes anbelangt, haben wir in der Vergangenheit vielleicht zu wenig diskutiert. Das wollen wir nun ändern. Genau das steht übrigens in dem Schreiben; es liegt mir vor. ({0}) In dem Schreiben heißt es: Um dies … zu gewährleisten, bedarf es dringend realitäts- und bedarfsorientierter Alternativen zur bisherigen Ausschreibungspraxis … ({1}) Darüber haben wir mit der Bundesagentur bereits vielfach geredet. Wir haben nicht nur geredet, sondern auch verbessert. - Ferner heißt es darin: Wir brauchen Aussagen zur Absicherung der Förderinstrumente in der Benachteiligtenförderung. - Auch dies ist in dem Programm vorgesehen. Weil Sie auf die Realschülerinnen und Realschüler abgehoben haben: Ich habe die Situation bei der Schaffung eines Ausbildungsplatzes erlebt. In meinem Büro hat sich eine junge Frau als Auszubildende beworben. Sie hat einen ganz ordentlichen Realschulabschluss, hatte aber trotzdem über mehrere Jahre hinweg keinen Ausbildungsplatz bekommen. Sie war immer zweite Siegerin. Sie war gar nicht schlecht, aber ihr wurde keine Chance gegeben. - Von daher ist es natürlich richtig, dass wir uns auch um Realschülerinnen und Realschüler kümmern. Klar ist dabei: Die Priorität muss natürlich bei denen liegen, die keinen Schulabschluss oder sonstige Defizite haben. Aber man kann doch die einen nicht gegen die anderen ausspielen. Man muss für alle etwas tun, die in den letzten Jahren nicht die Chance hatten, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. ({2}) Wir werden im Arbeitsausschuss miteinander vorankommen. Der Minister ist der Letzte, der dem im Wege steht. ({3}) Wir haben eine Diskussion geführt. Die Kollegin Aigner war gar nicht zufrieden, als die SPD vom ScholzBonus geredet hat. Sie hat gesagt, das sollten wir nicht tun. Das mache ich jetzt auch nicht, ({4}) auch wenn ich es nicht schlecht finde, dass man Namen mit Politik verbindet; Riester-Rente und wie auch immer. ({5}) Aber in der Tat - auch das ist heute schon angeklungen -: Es gibt viele Beteiligte. Wir könnten vom Schummer/ Brase-Bonus reden. ({6}) Wir könnten vom Müntefering-Bonus reden. Wie gesagt, Scholz-Bonus gefällt mir ganz gut. ({7}) Wenn dieser Begriff, egal mit welchem Namen er versehen wird, dafür steht, dass für die Jugendlichen etwas getan wurde und Hunderttausende Jugendliche, die bisher keine Chance hatten, aus der Statistik der Altbewerber fallen und sich in betrieblichen Maßnahmen wiederfinden, dann wäre das ein großer Erfolg. Dass wir daran beteiligt sind, erfüllt uns natürlich mit großem Stolz. ({8}) Wir wollen das Instrument der Ausbildungspaten, Frau Kollegin Pothmer, in den Mittelpunkt stellen. Hier gibt es eine ganze Reihe von Ansätzen. In diesem Zusammenhang möchte ich auch noch einmal auf die von Ihnen zitierten Arbeitgeberfreunde zurückkommen. Die Vertreter der Arbeitgeber in der Bundesagentur für Arbeit haben gemeinsam mit den Gewerkschaften ausdrücklich gefordert, dass wir Beitragsmittel in die Hand nehmen, um einen Bonus zu schaffen und damit etwas für die Altbewerber zu tun. Das Gemäkel aus Teilen der Wirtschaft kann ich also nicht ganz nachvollziehen. Aber wir werden mit allen ruhig darüber diskutieren und, wie ich glaube, diesem Projekt zum Erfolg verhelfen. Wir sind allerdings in der Tat darauf angewiesen, dass die Betriebe mitmachen. Aus diesem Grunde wollen wir über alle Bedenken, die in diesem Zusammenhang geäußert werden, sachlich diskutieren. Kolleginnen und Kollegen, über die 80 000 Erzieherinnen und Erzieher ist gesprochen worden. Was da geschieht, ist doch eine prima Geschichte. Ich bitte, hier insbesondere eines zu sehen: Wir wollen dafür sorgen, dass ein Internetauftritt eingerichtet wird, über den Erzieherinnen und Erziehern E-Learning-Angebote unterbreitet werden sollen. Ich weiß gar nicht, was es daran wieder auszusetzen gibt. ({9}) Dass dies nicht ausreicht, dass parallel dazu die Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher verbessert werden muss, ist natürlich eine Tatsache, die jeder von uns kennt; darüber mäkelt im Grunde genommen auch keiner. Im Übrigen hat die Ministerin - auch das steht im Programm - gesagt, dass geprüft werden soll, das Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz für Sozialberufe und damit auch für Erzieherinnen und Erzieher zu öffnen. Das finde ich prima. Die Ministerin hat gestern sogar angekündigt, dass sie das konkret in 2008 tun wolle. Da hat sie uns auf ihrer Seite. Die entsprechende Kritik, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht also ein Stück weit ins Leere. Wir müssen noch einen weiteren Aspekt, den ich schon kurz angedeutet habe, ansprechen, nämlich die Integration junger Menschen, insbesondere solcher mit Migrationshintergrund. Eines müssen wir sehen - das steht in dem Bericht auch schwarz auf weiß drin -: Jugendliche mit Migrationshintergrund, also Kinder von Eltern, die aus dem Ausland zu uns gekommen sind, haben bei gleicher Leistung nur eine halb so große Chance, eine qualifizierte Berufsausbildung aufzunehmen, wie deutschstämmige Jugendliche. Eine halb so große Chance! Das ist ein gesellschaftlicher Skandal; denn so werden Bildungschancen ungerecht verteilt. ({10}) Herr Kauder - leider sehe ich ihn gerade nicht -, wir könnten die aktuelle Diskussion über den Populismus von Koch in Hessen ein bisschen herunterholen und damit auch einen Konfliktpunkt in unserer Koalition bereinigen, wenn einmal anerkannt würde, dass statt Wegsperren, Abschieben und Vergessen die Sicherung echter Chancengleichheit in der beruflichen Bildung insgesamt ein wichtiger Beitrag gegen Gewalt in diesem Lande wäre. ({11}) Auch dies ist ein wichtiger Punkt, den wir mit unserer Initiative erreichen wollen. Das finde ich gut; denn für mich ist das beste Erziehungscamp nicht besser als ein guter Ausbildungsplatz. Gute Ausbildungsplätze ersetzen im Zweifel keine Erziehungsmaßnahmen, ({12}) aber wir brauchen möglichst viele davon, um Chancengleichheit herzustellen und damit auch Jugendkriminalität einzudämmen. All dies hängt nämlich logisch zusammen. ({13}) Im Übrigen ist es ja nicht nur eine soziale Tat, wenn man Auszubildende einstellt. Ich habe vorhin von meiner Auszubildenden geredet. Ich habe in dieser Woche auch wieder einen jungen Menschen eingestellt. Es macht doch Spaß, mit jungen Leuten zusammenzuarbeiten, die an der Schwelle zum Eintritt in das Berufsleben sind, die neugierig und intelligent sind. Es geht doch nicht nur um die Sicherung des Fachkräftebedarfs, es geht im besten Sinne des Wortes auch um Zukunftssicherung. Auch Leute meiner Generation, die mit diesen jungen Leuten zusammenarbeiten, können etwas lernen und Spaß daran haben. Ausbildung stellt also nicht nur eine Belastung dar. Sie macht natürlich Arbeit und fordert einen heraus. Man sollte den Ausbildungsbetrieben sagen: Liebe Leute, macht etwas für die Auszubildenden! - Ich habe den Eindruck - das hat auch der Ausbildungspakt gezeigt -, dass sich diese Erkenntnis in den letzten Jahren in der Wirtschaft immer mehr durchgesetzt hat. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, einen Punkt möchte ich noch gerne ansprechen: Die Bundeskanzlerin, die ja heute Morgen hier freundlicherweise anwesend war und damit gezeigt hat, wie wichtig sie selbst dieses Thema nimmt, wird zu einem Bildungsgipfel einladen. Ich begrüße dies ausdrücklich. Ich sage das mit einem kleinen ironischen Nebenhieb, weil es noch gar nicht so lange her ist, dass Frau Merkel im Rahmen der Föderalismusdebatte sagte: Wenn der Tauss Schulpolitik machen will, soll er doch in den Landtag gehen. - Ich bin nicht in den Landtag gegangen und fühle mich hier unverändert sehr wohl. Dass ich immer noch über Schulund Bildungspolitik reden kann und dass die Bundeskanzlerin zu einem Bildungsgipfel einlädt, das zeigt doch, wie weit wir im Laufe der Debatte gekommen sind. Ich begrüße diese Entwicklung sehr. ({14}) Die Erfolgsgeschichte der Initiative für kleine Forscherinnen und Forscher ist schon angesprochen worden. Ich bedanke mich sehr bei den Wirtschaftseinrichtungen und vor allem bei der Helmholtz-Gemeinschaft, die diese Initiative auf den Weg gebracht hat, um bei Kindern sowie deren Erzieherinnen und Erziehern ihr Interesse an den Naturwissenschaften frühzeitig zu wecken. Das ist prima. ({15}) Last, but not least. Was die Opposition heute vorgetragen hat, war allenfalls Gemäkel. Die Große Koalition kann auf dem Bildungssektor Impulse geben. Wir haben dies mit dem Hochschulpakt und der BAföG-Novelle getan. Wir setzen dies fort mit der Qualifizierungsinitiative zur Stärkung des Ausbildungsbereiches insgesamt. Wir wollen das Meister-BAföG ausweiten. Das alles verbessert die Chancengleichheit in unserem Bildungssystem, erzeugt Qualifizierungsperspektiven und sichert die Zukunft in unserem Lande. Ich bin daher durchaus zufrieden. Wenn es dann auch noch schnell geht und es keine Blockaden von Länderseite oder anderer Seite gibt, dann hat die Große Koalition an dieser Stelle wirklich etwas bewirkt. Darauf können wir gemeinsam stolz sein. Danke schön. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung auf Drucksache 16/7754. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf der Drucksache 16/5730 mit dem Titel „Junge Menschen fördern - Ausbildung schaffen und Qualifi- zierung sichern“. Wer stimmt für diese Beschlussemp- fehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/5732 mit dem Titel „Perspektiven schaffen - Angebot und Struk- tur der beruflichen Bildung verbessern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist auch diese Beschlussemp- fehlung mehrheitlich angenommen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 21 b und zum Zusatzpunkt 8. Hier wird interfraktionell die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/7750 und 16/7733 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 h auf: 22 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung zum Stand der Bemühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung sowie über die Entwick14468 Präsident Dr. Norbert Lammert lung der Streitkräftepotenziale ({0}) - Drucksache 16/5211 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({1}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({2}) zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Paul Schäfer ({3}), Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung zum Stand der Bemühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung sowie über die Entwicklung der Streitkräftepotenziale ({4}) - Drucksachen 16/1483, 16/2999, 16/4594 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Harald Leibrecht Dr. Norman Paech Jürgen Trittin c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Norman Paech, Alexander Ulrich, Paul Schäfer ({6}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Abzug der Atomwaffen aus Deutschland - Drucksachen 16/448, 16/4593 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Harald Leibrecht Dr. Norman Paech Jürgen Trittin d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({7}) zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Jürgen Trittin, Marieluise Beck ({8}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Abrüstung der taktischen Atomwaffen voran- treiben - US-Atomwaffen aus Deutschland und Europa vollständig abziehen - Drucksachen 16/819, 16/4592 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Harald Leibrecht Dr. Norman Paech Jürgen Trittin e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({9}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen Trittin, Winfried Nachtwei, Volker Beck ({10}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN Nuklearen Dammbruch verhindern - Indien an das Regime zur nuklearen Abrüstung, Rüs- tungskontrolle und Nichtweiterverbreitung heranführen - Drucksachen 16/834, 16/4591 - Berichterstattung: Abgeordnete Eckart von Klaeden Harald Leibrecht Dr. Norman Paech Jürgen Trittin f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({11}) zu dem Antrag der Abgeordneten Paul Schäfer ({12}), Dr. Norman Paech, Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Keine Unterstützung für die indische Atom- rüstung - Drucksachen 16/1445, 16/4590 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Dr. Werner Hoyer Dr. Norman Paech Jürgen Trittin g) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({13}) zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Alexander Bonde, Volker Beck ({14}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zivilbevölkerung wirksamer schützen - Streu- munition ächten - Drucksachen 16/2749, 16/4589 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Harald Leibrecht Wolfgang Gehrcke Jürgen Trittin h) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({15}) zu dem Antrag der Abgeordneten Paul Präsident Dr. Norbert Lammert Schäfer ({16}), Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Keine neuen Raketen in Europa - stattdessen Stärkung der globalen Sicherheit durch Rüstungskontrolle und Abrüstung - Drucksachen 16/5456, 16/7516 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Dr. Werner Hoyer Wolfgang Gehrcke Jürgen Trittin Zum Jahresabrüstungsbericht 2006 der Bundesregierung liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP und der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll auch diese Aussprache eineinhalb Stunden dauern. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Dr. Rolf Mützenich für die SPDFraktion. ({17})

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Abrüstung und Rüstungskontrolle sind lediglich Instrumente. Wenn sie aber angewandt werden, können sie die Zusammenarbeit und das friedliche Zusammenleben stärken. Deswegen ist der politische Wille die Voraussetzung für Abrüstung und Rüstungskontrolle. Leider hat es in den vergangenen Jahren an diesem politischen Willen gemangelt. Ich bin daher der Bundesregierung dankbar, dass sie mit all ihren Kräften versucht, dafür einzutreten, dass Abrüstung und Rüstungskontrolle vorangebracht werden. Politische Initiativen sind notwendig. Diese haben wir unternommen. ({0}) Auf der anderen Seite müssen wir natürlich feststellen, dass wir in einer Krise sind; das ist gar keine Frage. Denn an diesem politischen Willen hat es immer wieder gemangelt. Wir sind konfrontiert mit dem Aussetzen, mit der Missachtung und auch mit der Kündigung von Verträgen. Wir haben bei verschiedenen Gelegenheiten schon darüber diskutiert. Gleichzeitig sind wir mit einer großen Aufrüstung konfrontiert. Allein im vergangenen Jahr betrugen die entsprechenden Ausgaben 900 Milliarden Euro. Daran hatten die USA einen Anteil von 42 Prozent. Dennoch ist es gut, darauf hinzuweisen, dass - wie ich gerade erwähnt habe - schon Initiativen unternommen worden sind. Ich möchte an erster Stelle daran erinnern, dass der Bundesaußenminister seit mehreren Monaten versucht, zum Beispiel zum internationalen Brennstoffkreislauf Vorschläge vorzulegen und sie mit den Partnern abzustimmen. Das hat viel mit dem Iran, aber auch mit der Diskriminierung innerhalb der internationalen Gemeinschaft zu tun; Stichwort: Atomwaffensperrvertrag. Ich danke dem Außenminister für diese Initiativen. ({1}) Der eine oder andere in diesem Saal würde das vielleicht als Alleingang bezeichnen. Ich aber bin froh, dass dort ein Außenminister arbeitet, der mit Mut, Kreativität und Beharrlichkeit über den Tellerrand hinausschaut und die Dinge voranbringt. Vielen Dank! ({2}) Ich glaube, wir sollten uns auch vergegenwärtigen, dass wir versuchen, Initiativen wie die globale Partnerschaft mit Russland voranzubringen. Im Abkommen von Dayton zum Beispiel haben wir die Abrüstung und die Rüstungskontrolle verankert. Das war wichtig, damit das Instrument der Abrüstung und Rüstungskontrolle genutzt werden kann. Ich will an eine andere Erfahrung anknüpfen. Vergegenwärtigen wir uns einmal, wie Libyen und Nordkorea auf den Weg der Abrüstung gebracht worden sind: durch Dialog, durch Verhandlungen und durch Gespräche. Eine Voraussetzung war unabdingbar: Man musste die Regime, die politischen Akteure anerkennen. Ich glaube, das sind wichtige Hinweise, wenn man versucht, gegenüber dem Iran die richtigen Maßnahmen zu ergreifen. Das Atomwaffenprogramm, das in der jetzigen Gestalt möglicherweise verdächtig ist, ist natürlich abzulehnen. Gleichzeitig ist aber auf Dialog, Kooperation und Angebote zu setzen. Nordkorea und Libyen haben den richtigen Weg gewiesen. ({3}) Ich würde mich freuen, wenn die Bundesregierung und die hier vertretenen Parteien es mit den Vertreterinnen und Vertretern im amerikanischen Kongress schaffen würden bzw. wenn die Bundeskanzlerin es mit der neuen Präsidentin oder dem neuen Präsidenten schaffen würde, die Rüstungsbegrenzungskultur, die für die transatlantische Gemeinschaft immer gegolten hat, wiederzubeleben. Das gehört genauso dazu wie andere Initiativen. Deshalb bin ich dankbar, dass der deutsche Außenminister zusammen mit dem norwegischen Außenminister in der NATO versucht, die Abrüstungsinitiative voranzutreiben. Auch das ist ein gutes Signal, das von dieser Regierungsbank ausgeht. ({4}) Wer sich für Abrüstung und Rüstungskontrolle einsetzt, darf dies nicht für die Innenpolitik missbrauchen. Der eine oder andere Antrag, der heute hier vorliegt, beschäftigt sich eigentlich nur unter dem Aspekt der Innenpolitik mit diesem Thema. Ich glaube, deswegen übersieht der eine oder andere, dass zum Beispiel in Ramstein keine Atomwaffen mehr lagern. Er übersieht, dass Sozialdemokraten wie Peter Struck dafür eingetreten sind, dass in der NATO über die besondere Situation in Deutschland diskutiert wird. Ich fordere die Bundesregierung auf, dafür genauso einzutreten. Ich denke, das ist der richtige Weg. Wir müssen aber auch sagen: Es geht nicht nur um die wenigen Atomwaffen, die in Deutschland lagern, sondern um die taktischen Kernwaffen insgesamt. Sie müssen einer Nulllösung zugeführt werden, genauso wie damals die Mittelstreckenraketen. Das wäre die richtige politische Antwort. ({5}) Gleichzeitig möchte ich darauf hinweisen, dass wir hin und wieder widersprüchliche Hinweise geben. Die EU-Strategie gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen ist wichtig gewesen. Sie hat natürlich etwas mit der Invasion im Irak zu tun, mit der Diskussion, die die USA damals provoziert haben. Die Verbreitung von Kernwaffen ist aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite der Medaille ist, dass die Kernwaffenmächte weiter qualitativ aufrüsten und sich gleichzeitig nicht an vorhandene Verträge halten. Auch das muss man ansprechen. ({6}) Ich glaube, wir müssen die Kernwaffenstaaten von hier aus auffordern, zu verhandeln, ihre Rüstungen zu begrenzen und abzurüsten. Das wäre die richtige Antwort. ({7}) Ich möchte versuchen, an dieser Stelle auf einen zweiten Widerspruch in Europa aufmerksam zu machen. Ich sehe mit Verwunderung, dass der französische Präsident bei seinen Besuchen im Nahen Osten immer wieder händeringend versucht, Atomkraftwerke anzubieten. Das ist sein gutes Recht; das spreche ich ihm nicht ab. Ich wäre aber dankbar, wenn er bei diesen doch etwas aufdringlichen Verkaufstouren versuchen würde, auf das Proliferationsrisiko hinzuweisen. ({8}) Deswegen wäre es gut, wenn die Bundeskanzlerin, wenn sie diese Risiken auch sieht, mit dem französischen Präsidenten darüber spräche. Eine gemeinsame europäische Initiative an dieser Stelle wäre notwendig. Zum Schluss möchte ich auf die Frage der Raketenabwehr aufmerksam machen. Gott sei Dank hat die neue Regierung in Polen Gelassenheit gegenüber diesem Thema an den Tag gelegt und versucht, alle Beteiligten in diesen Prozess einzubinden. Ich glaube, die Bundesregierung tut gut daran, die polnische Regierung dabei zu unterstützen. Denn wir brauchen Vertrauensbildung. Dafür sind Abrüstung und Rüstungskontrolle notwendig. Dafür ist auch der Dialog mit allen Partnern in diesem Verhältnis wichtig. Ich denke, da sind wir auf einem guten Weg. Vielen Dank. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Werner Hoyer, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dies ist der Jahresabrüstungsbericht. Wenn man ihn liest und mit den Berichten der letzten Jahre vergleicht, muss man sagen: Das sind eigentlich Kapitulationsurkunden der Völkergemeinschaft gegenüber dem, was abrüstungspolitisch erforderlich wäre. ({0}) Das sind Dokumentationen des Stillstandes. Wenn wir im nächsten Jahr über den Jahresabrüstungsbericht 2007 reden, dann wird - das können wir jetzt, Anfang 2008, schon sagen - darin das Gleiche stehen wie in dem Bericht für das Jahr 2006, über den wir heute debattieren. Seien wir ehrlich: Die letzten zehn Jahre waren für die Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik weitgehend verlorene Jahre. Weder in den sieben Jahren rot-grüner Koalition noch in den bisher zwei Jahren der Großen Koalition hatte die Abrüstungs- und Nonproliferationspolitik Konjunktur. Ich freue mich, dass jetzt Signale, dass sich das ändern wird, zu sehen sind. Es ist ein Fanal und für uns Europäer und übrigens auch für die jüngere Generation von Außen- und Sicherheitspolitikern fast beschämend, dass es die Altmeister der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik sind - es handelt sich um William Perry, Henry Kissinger, Sam Nunn und andere -, die uns jetzt darauf aufmerksam machen, dass wir hier einen riesigen Rückstand haben. Der Weckruf in The Wall Street Journal dieser Woche ist alarmierend. Ich zitiere: Wir stehen in der Frage der Verbreitung nuklearer Waffen und Technologien heute an einem entscheidenden Punkt. Wir sehen uns konfrontiert mit der ganz realen Möglichkeit, dass die Verbreitung dieser tödlichsten Waffen nicht mehr kontrollierbar ist. Und die Maßnahmen, die dem international entgegengesetzt werden, sind eindeutig unzureichend. Es ist spannend und ermutigend, dass diese Debatte gerade in den Vereinigten Staaten geführt wird. Wir sollten uns da nicht wegducken. Denn es sind ja - Herr Mützenich hat zu Recht darauf hingewiesen - gerade die offiziellen Atommächte, gerade auch die, die permanent im Weltsicherheitsrat sitzen, die sich an der Glaubwürdigkeit der globalen Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik versündigen. Natürlich ist es richtig, darauf hinzuweisen, dass Länder wie der Iran den Nachweis führen müssen, weder im Haupt- noch im Nebenzweck zivile Atomprogramme militärisch zu missbrauchen. Das ist völlig richtig und notwendig. Aber wie viel glaubwürdiger wären wir - gerade wir im Westen -, wenn sich die großen Atommächte nicht nur um die Abwehr der Ambitionen neuer Nuklearmächte kümmern würden, sondern wenn sie Geist und Buchstaben der gültigen Rüstungskontrollabkommen auch tatsächlich gerecht werden würden? ({1}) Was ist mit Deutschland? Deutschland hat ohne Wenn und Aber auf den Besitz von und die Verfügung über Atomwaffen verzichtet. Ich denke, das wird niemand ändern wollen. Das ist ein Kapital für unsere Außen- und Sicherheitspolitik. Aber warum verkaufen wir das nicht offensiver? Warum ergreifen Sie, Herr Minister Steinmeier, nicht gemeinsam mit anderen nichtnuklearen Staaten - starken Industrie- und Schwellenländern - die Initiative, um gegenüber den Ländern der Dritten Welt und anderen Schwellenländern deutlich zu machen: Es gibt eine gute Perspektive in der Globalisierung, ohne Atommacht zu sein. Noch in den 90er-Jahren hat eine Reihe von Staaten auf den Besitz von Atomwaffen verzichtet. Gegenwärtig entwickelt es sich in die andere Richtung. Die internationalen Vertragswerke, die eigentlich die unkontrollierte Verbreitung verhindern sollten, scheinen zu erodieren. Es ist also höchste Zeit, dass etwas geschieht. Ich freue mich, dass die Bundesregierung jetzt offenbar aktiver werden will. Die Münchener Sicherheitskonferenz könnte eine sehr gute Gelegenheit sein, auch von den Nuklearmächten einschließlich der engsten Verbündeten eine entschlossene Abrüstungspolitik einzufordern. Herr Minister, nutzen Sie diese Chance. Nutzen Sie endlich Ihre Möglichkeiten, Abrüstung und Rüstungskontrolle am Ratstisch in Brüssel wieder zu einem Thema zu machen, ({2}) zum Beispiel im Hinblick auf die Raketenabwehr und die nukleare Roadshow, die der französische Staatspräsident in Nordafrika und an anderer Stelle unternimmt. Nutzen Sie dieses Thema auch bei Ihren ernsthaften Versuchen, die Ratifizierung des angepassten Vertrages über konventionelle Streitkräfte in Europa doch noch voranzubringen. Ich glaube, dass wir uns hier in eine gewisse Sackgasse begeben haben, aus der wir heraus müssen. ({3}) Meine Damen und Herren, an Papieren fehlt es nicht, auch nicht in Ihrer Partei, Herr Minister; der Kollege Mützenich ist dafür ein sehr gutes Beispiel. Der Lackmustest für die Glaubwürdigkeit der Abrüstungspolitik der Bundesregierung wird aber demnächst anstehen, wenn es um den amerikanisch-indischen Nukleardeal geht. Dass dieser amerikanisch-indische Nukleardeal ausgerechnet von Deutschland und unter deutschem Vorsitz abgesegnet werden könnte, ist eine abenteuerliche Vorstellung. ({4}) Wenn das so läuft, dann gibt es bei der nuklearen Proliferation kein Halten mehr. Die Logik, die einige veranlasst, zu sagen, wenn wir diesem Deal zustimmen, dann können wir die Inder vielleicht Schritt für Schritt an die großen Abrüstungs- und Rüstungskontrollabkommen heranführen, erweist sich als eine schiere Illusion, wovon sich auch die Bundeskanzlerin bei ihrem Besuch in Indien überzeugen konnte. Diese Auffassung wird nämlich von der Mehrheit im indischen Parlament nicht geteilt. Gerade weil eine Mehrheit im indischen Parlament diesen Deal nur mittragen will, wenn ein solcher abrüstungspolitischer und vermeintlich souveränitätsmindernder Nebeneffekt ausgeschlossen wird, überwiegen, wie Sie, Herr Mützenich, zu Recht gesagt haben, die Nachteile und die Risiken bei weitem. Deshalb wird Deutschlands Haltung zu diesem indisch-amerikanischen Abkommen der Lackmustest dafür sein, was wir von Ihren guten Worten über eine neue Abrüstungspolitik für bare Münze nehmen können. Ich wünsche Ihnen und uns allen, dass Sie diesen Lackmustest bestehen. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg das Wort.

Karl Theodor Guttenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003543, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Dr. Hoyer, es ist tatsächlich eine erfreuliche Entwicklung, dass ein Orchideenthema der 90er-Jahre, das uns nach dem Ende des Kalten Krieges, aber auch noch um die Jahrtausendwende herum beschäftigt hat, nun in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit gerückt ist. ({0}) Das zeigt letztlich aber auch die ganze Dramatik. Dass wir dieses Thema heute nicht zum ersten Mal in der Kernzeit behandeln, ist genau der Fingerzeig, dessen es bedarf. Inhaltlich müssen wir aber mit Sicherheit noch weiter fortschreiten. Die Stichworte Nordkorea und Iran sind schon gefallen, und auch die Ereignisse, die wir insbesondere im letzten Jahr in Russland beobachten mussten, wurden bereits erwähnt. Herr Hoyer, Ihr genereller Eindruck von den Abrüstungsberichten der letzten Jahre, dass im Grunde eine gewisse Stagnation festzustellen ist, ist nicht falsch. Das ändert aber nichts daran - das will ich an dieser Stelle deutlich machen -, dass wir gleichzeitig - wir wollen nämlich niemandem den Mut nehmen - Ihren beiden Häusern, meine Herren Minister, eine erstklassige Arbeit zu attestieren haben, was die Erstellung dieser Berichte und die notwendigen Signale anbelangt, die aus Ihren Häusern kommen; gelegentlich darf man in diesen Tagen ja auch einmal loben. Unser Dank gilt den Damen und Herren, die sich auf dem Gebiet der Abrüstung engagieren. Das ist kein leichtes Brot. ({1}) Die Entwicklung im rüstungskontrollpolitischen und im abrüstungspolitischen Bereich wird in meinen Augen von zwei wesentlichen Bewegungen bestimmt: von der Wiederbelebung alter Konfliktmuster, die wir eigentlich schon an den Rand gedrängt sahen, und davon, dass neue Bedrohungslagen entstehen, die in Teilen der Welt zu einer Modernisierung gewisser Waffenarsenale führen. Diese neuen Bedrohungslagen haben unter anderem dazu geführt, dass die Staaten in ihrer Gesamtheit, vor allem aber die neuen, aufstrebenden Großmächte, nicht bereit sind - zumindest in großen Teilen nicht bereit sind -, auf die Erhaltung und den Aufbau ihrer Waffenarsenale in dem Maße zu verzichten, wie wir alle in diesem Hause uns das wohl wünschen würden. Selbstverständlich wäre eine massenvernichtungswaffenfreie Welt eine bessere Welt; darüber brauchen wir nicht zu sprechen. Aber wir haben die Realität zu sehen. Eine international optimierte Rüstungskontrolle ist in meinen Augen zielgerichteter, als sich in utopische Schwärmerei zu begeben, romantischen Träumereien nachzuhängen und immer die Maximalforderung in den Raum zu stellen, ohne dabei die Schritte im Blick zu behalten, die gemacht werden müssen, um letztlich zu einem Ergebnis zu kommen. Denn wir müssen ergebnisorientiert arbeiten. ({2}) - Die Schwärmerei gilt nicht für die Fachleute, die wir hier haben; aber sie gilt für gewisse Bewegungen, die die Maximalforderung immer wieder gerne aufgreifen. Es gab in den letzten Jahren bei aller Ernüchterung, Herr Hoyer, einige kleinere Fortschritte zu verzeichnen, gerade im Bereich der Rüstungskontrolle. So gingen einige Initiativen von europäischem Boden aus. Ein Punkt, der in diesem Kontext gerne unterschätzt wird: Viele Initiativen sind aus den Bürgergesellschaften Europas, aus der Zivilgesellschaft heraus entstanden. Viele Initiativen haben sich im Bereich von Nichtregierungsorganisationen entwickelt. Engagierte Bürger haben Problemlagen aufgegriffen und zum Beispiel den rüstungskontrollpolitischen Aspekt mit menschenrechtlichen Grundgedanken zu koppeln gesucht. Gerade in unserem Lande gibt es hier einige Initiativen, die hervorzuheben sind. Ich will beispielhaft die Hamburger Erklärung nennen, deren Zielsetzung sich insbesondere auf den Schutz der Städte richtet, gekoppelt mit dem Anspruch, die Wirkungen von Streubomben zu vermeiden. Solche Initiativen können durchaus Impulse setzen; das sollten wir nicht aus dem Blick verlieren. Es ist wichtig, dass wir so engagierte Menschen in unserem Lande haben. Dies sei nur beispielhaft hierfür genannt. ({3}) Trotz dieser Einflüsse dürfen wir eines nicht vergessen: Die Hauptakteure in diesem - ich setze das in Anführungszeichen - Spiel, und das ist fast ein zynischer Ansatz, werden die Staaten bleiben. Die Nationalstaaten werden sich als Teil des internationalen Systems von ihrer Aufgabe der Friedenssicherung nicht entbinden lassen können, gerade mit Blick darauf, dass andere Initiativen entstehen. Aufgrund dieser Erkenntnis müssen wir weiterhin den Schulterschluss mit denen, die wir als Partner begreifen, suchen und uns mit unseren Partnern über die Differenzen, die wir in gewissen Punkten haben, offen und klar austauschen. Wir müssen dabei weiterhin die Europäische Union und insbesondere die NATO als gewachsene Plattform für rüstungskontrollpolitische Aktivitäten betrachten und sie stärken; dies erscheint notwendig. ({4}) Auch in der Zukunft wird es entscheidend sein, mit dem Anspruch der Einigkeit mit unseren Partnern multilaterale Initiativen zu lancieren und durch internationale Regime globale Ordnungsmechanismen zu schaffen. Ich sage aber noch einmal: Die gebotenen Abrüstungsschritte sind an den sicherheitspolitischen Realitäten zu messen und nicht an dem, was wir uns möglicherweise letztlich wünschen würden. Auch die internationale Rüstungskontrolle kommt nicht ohne Streit- und Konfliktlinien aus, und diese Konflikte müssen ausgetragen werden. Aber wir müssen auch sehen, dass nicht alle Mitglieder der Staatenfamilie - das gilt auch für enge Partner und solche, die wir uns als enge Partner wünschen - immer von den gleichen hehren Motiven getragen sind, auch wenn sie genau diese Motive in den Vordergrund stellen. So kommt es, dass rüstungspolitische Abkommen von manchen Staaten bewusst mit sachfremden Erwägungen verknüpft und als Druckmittel eingesetzt werden, leider teilweise mit Erfolg. Das ist aber ein Ansinnen, dem wir mit Entschiedenheit entgegenzutreten haben, gerade dort, wo enge Partnerschaften, möglicherweise sogar strategische Partnerschaften, bestehen oder gewünscht sind. Ich möchte hier beispielhaft die einseitige Aussetzung des KSE-Vertrages durch Russland im vergangenen Dezember nennen. Was hier geschehen ist, halte ich für eine traurige Entwicklung, die nicht zielführend ist. Wir müssen in diesem gesamten Kontext durchaus auch die innere und außenpolitische Neuausrichtung Russlands im Blick behalten und dort kritisch sein, wo Kritik angebracht ist. Ich glaube, in diesem Punkt müssen wir kritisch sein. Auch hier kann man immer wieder heraushören, dass es auch innerhalb Russlands Kräfte geben kann - an Abrüstung interessierte, in erster Linie zivilgesellschaftliche Kräfte -, die es zu fördern gilt. Diese tun sich aber schwer, hier durchzudringen und bei diesem Punkt innerhalb ihres eigenen Landes Erfolge zu erlangen. Wir dürfen uns zudem keinem vordergründigen Kalkül beugen, den KSE-Vertrag und möglicherweise auch andere abrüstungspolitische Regime zur Erreichung anderer Ziele instrumentalisieren zu lassen. In unseren Augen bleibt der Kreml weiterhin aufgefordert, seinen internationalen Verpflichtungen uneingeschränkt nachzukommen. Das umfasst die vollumfängliche Erfüllung der Istanbul-Commitments. Das ist ein Schritt, den wir weiterhin einzufordern haben. Es wird auch nicht zu Unrecht daran erinnert - auch in diesem Hause -, dass irgendwann einmal die Möglichkeit einer Ratifizierung gegeben sein könnte. Das ist richtig. Dies kann allerdings erst geschehen, wenn Russland im Gegenzug gleichzeitig seinen Verpflichtungen zum völligen Abzug aus Moldau und Georgien nachkommt. Die Istanbul-Commitments zählen für uns weiterhin und sollten auch eingefordert werden. Das bleibt richtig und wichtig. ({5}) Wir dürfen auch darauf hinweisen, dass von unseren russischen Partnern hinsichtlich INF und START I, das im Jahre 2009 einer Neubestimmung bedarf, ebenfalls kooperative Schritte angebracht wären. Es bedarf in diesem Kontext aber auch des Hinweises von unserer Seite, dass wir insgesamt mit einer starken und glaubwürdigen westlichen Stimme zu sprechen haben. Mit diesem Anspruch haben auch unsere Partner und Freunde in den USA immer wieder zu kämpfen. Wir dürfen das hier offen ansprechen und den Hinweis geben, dass wir uns an dem einen oder anderen Punkt noch mehr Entgegenkommen und manchmal auch mehr Vorbildwirkung wünschen, um weitere Schritte einzuleiten. Es ist richtig, dass es hier auch den einen oder anderen erfreulichen Schritt gab, zumal im vergangenen Jahr. Das hat in den Verhandlungen über INF und in einigen Initiativen, die mit Blick auf START I langsam und sehr schüchtern beginnen, seinen Niederschlag gefunden. Wir dürfen aber den Hinweis wagen, dass es gerade im Bereich der Rüstungskontrolle und der Abrüstung einige Jahre gab, in denen die Vereinigten Staaten gelegentlich einen unseligen Pfad des Unilateralismus gegangen sind. Von daher nehmen wir eher erfreut zur Kenntnis, dass der Weg wieder hin zu multilateralen Ansätzen führt, sodass hier letztlich mit Ergebnissen gearbeitet werden kann. Die Vereinigten Staaten stehen eben in besonderer Verpflichtung, den Bestimmungen des Nichtverbreitungsvertrages noch engagierter als bisher nachzukommen. Sie haben eine besondere Vorbildwirkung. Ich habe das bereits benannt. Diesen Ansatz dürfen wir von unserer Seite aus in aller Freundschaft immer wieder kundtun. In diesem Kontext ist auch noch einmal der Abzug von Atomwaffen aus Deutschland zu sehen. Das kommt in dieser Debatte immer wieder. Ich glaube, auch hier müssen wir realitätsnah handeln und agieren. Wir haben immer wieder darin übereingestimmt, dass uns die Zielsetzung eint, wir aber hinsichtlich der notwendigen Schritte möglicherweise differieren. Ich glaube, dass wir uns hier immer wieder deutlich machen müssen, welche tatsächlichen Einflusssphären und Einflusspotenziale wir haben, um genau diese Schrittabfolge zu erreichen, die es zwar schon gibt, die aber in meinen Augen noch weitergehen könnte. ({6}) - Ich gucke nicht nur die SPD an, sondern auch Sie, Herr Nachtwei. Es war auch Ihr Außenminister, der im Jahre 2005 gemeinsam mit dem Bundeskanzler Schröder die Zielsetzung der nuklearen Teilhabe nicht infrage gestellt hat. Ich kann dabei also beide angucken. ({7}) Das gilt tatsächlich für alle - auch hinsichtlich der Verantwortung, die daraus erwächst. ({8}) Das größte und virulenteste Thema in diesem Jahr bleibt der Iran. Dies wurde bereits angesprochen. Auf diesem Feld werden wir mehr Kreativität brauchen als das bisher Gegebene. Es bleibt richtig und wichtig, unter dem Dach der Vereinten Nationen gemeinsam eine Lösung herbeizuführen. Deswegen halten wir auch eine dritte Sanktionsrunde weiterhin für erforderlich, Herr Bundesaußenminister. Wir werden aber auch alles ausschöpfen müssen, was uns an intellektuellen Impulsen gegeben ist, um weiterhin einem doch durchschaubaren taktischen Spiel des Irans zu begegnen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Karl Theodor Guttenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003543, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Der „National Intelligence Estimate“ der Geheimdienste der Vereinigten Staaten hat eine gewisse Entwarnung gegeben, was mögliche Reaktionen anbelangt. Eine Entwarnung in Bezug auf das iranische Nuklearprogramm gibt es in meinen Augen nicht. Herzlichen Dank. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Paul Schäfer für die Fraktion Die Linke. ({0}) Herr Kollege, Sie haben heute Geburtstag. Ich gratuliere Ihnen herzlich und wünsche Ihnen alles Gute. ({1})

Paul Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003833, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer die Abrüstungsberichte Paul Schäfer ({0}) seit längerem verfolgt hat, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, das alles schon mal irgendwie gelesen zu haben. Zu diesem Déjà-vu gehört: Die Bundesregierung gibt sich in ihrer Darstellung in allen Foren - A-Waffen, B-Waffen, C-Waffen - erdenkliche Mühe, um den stagnierenden Rüstungskontrollprozess wieder in Gang zu bringen - und sei es im Schneckentempo; die Bundesregierung bzw. die Bundesrepublik will ja, nur die anderen nicht. Herr Außenminister, ich gestehe durchaus zu, dass sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Ihres Hauses dort erdenkliche Mühe geben. Das soll hier auch ausdrücklich gewürdigt werden. Zu diesem Déjà-vu gehört aber auch: Die Bundesregierung versucht krampfhaft, der Öffentlichkeit eine Bettelsuppe als Bouillabaisse zu verkaufen. Es hilft doch einfach nicht weiter, den Schluss zu ziehen, es gebe bei der Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik eine gemischte Bilanz. Es gibt keine gemischte Bilanz! Das ist Schönfärberei; das ist Augenwischerei. ({1}) Die Tendenz ist eindeutig. Es wird wieder mehr Geld für Waffen ausgegeben. Die Streitkräfte werden überall radikal modernisiert, und die Geschäfte mit Waffenverkäufen laufen weltweit wieder glänzend - egal in welche Richtung wir schauen. Im Westen gehen die USA mit ihren Kriegshaushalten mit weitem Vorsprung voran, die NATO im Schlepptau. Um uns herum folgt die Europäische Union, die auch ein neues, militärisch gestütztes Machtzentrum werden will, diesem Rüstungstrend, wenn auch zögerlich. Im Osten steigert Russland seine Militärausgaben. Im asiatisch-pazifischen Raum drohen neue Rüstungswettläufe. Und allgemein investieren alle die Staaten, die von dem Rohstoffboom der letzten Jahre profitiert haben, nicht zuletzt in Rüstung. Zumindest für mich und für die Linke hängt dies unverkennbar auch damit zusammen, dass die führenden Militärmächte schon länger davon abgegangen sind, Streitkräfte für die Zwecke der Verteidigung oder der bloßen Abschreckung bereithalten zu wollen. Nein, heute geht es allenthalben um Einsatzarmeen, um Interventionsstreitkräfte. Dafür muss in großem Stil umgerüstet werden. Leider wird dieser Zusammenhang bei allen anderen Kollegen in den übrigen Fraktionen systematisch ausgeblendet. Wenn wir heute über Abrüstung bzw. Aufrüstung reden wollen, ist dieser Zusammenhang aber zentral. Mit Abrüstung hat dieser Trend also gar nichts zu tun. ({2}) Das hat niemand anderes als der Bundesaußenminister in unserer letztjährigen Debatte hier gesagt, indem er wörtlich erklärt hat: Abrüstung erscheint wie ein Stichwort aus vergangener Zeit. Selbst mit Rüstungskontrolle hat die aktuelle Entwicklung nichts zu tun. Bekanntlich geht es bei Rüstungskontrolle ja um gesteuerte und ausgehandelte Rüstungsentwicklung. Das ist noch etwas völlig anderes als Abrüstung. Aber selbst diese Art der Rüstungskontrolle ist gegenwärtig in einer tiefen Krise; Kollege Mützenich hat es gesagt. In einem Bereich hatten wir substanzielle Einschnitte, und zwar bei den Antipersonenminen. Gott sei Dank sind einige Hunderttausende davon zerstört worden. Dies geschah aber auch aufgrund des Ottawa-Prozesses, also angestoßen durch zivilgesellschaftliche Initiativen, die in diesem Zusammenhang extrem wichtig sind. Ich freue mich, dass endlich auch einmal ein Kollege von der CDU ein positives Wort dazu findet und einräumt, dass diese Initiativen elementar sind, wenn wir Abrüstung voranbringen wollen. ({3}) Ansonsten frage ich mich aber: Wo ist die gemischte Bilanz? Es ist gut, wenn sich Staaten Zentralasiens für atomwaffenfrei erklären. Aber welche Bedeutung hat das, wenn gleichzeitig die bestehenden Atommächte ihre Arsenale kräftig modernisieren und perfektionieren? Es ist ein hoffnungsvolles Zeichen, wenn - das ist schon erwähnt worden - eine bemerkenswerte Reihe von ehemaligen US-Außen- und -Verteidigungsministern ein kräftiges Umdenken in der atomaren Rüstungsfrage anmahnt. Aber wir wollen, dass sich endlich einmal im Amt befindliche Außen- und Verteidigungsminister für nukleare Abrüstung einsetzen. ({4}) In der Frage der Nuklearwaffen ist - das ist uns, glaube ich, allen klar - ein kritischer Punkt erreicht. Wir können uns in 2010 kein erneutes Scheitern der Überprüfungskonferenz leisten. Man muss über die Möglichkeiten der Bundesrepublik Deutschland, etwas zu verändern, reden. Lieber Herr Kollege Mützenich, da geht es nicht um Innenpolitik. Wenn man konstatiert, dass wir auf diesem Feld die Situation einer umfassenden Stagnation haben, dann stellt sich doch die Frage: Wie kann man einen Ausweg finden? Was könnte ein Schritt sein, um überhaupt wieder eine Dynamik anzustoßen? Ich meine, dass eine Bundesregierung da couragiert sein und mehr unternehmen muss als so einen kläglichen und zaghaften Vorstoß wie Herr Fischer damals in der NATO. Die Bundesregierung muss deutlich machen, dass die bei uns in Büchel und Ramstein lagernden Atomwaffen wegmüssen. ({5}) Mit dem Verzicht auf nukleare Teilhabe kann man dann auch versuchen, die internationale Debatte zu beeinflussen. Paul Schäfer ({6}) Ich finde es gut, dass die Bundesregierung zusammen mit Norwegen jetzt eine Initiative gestartet hat. Denn ohne eine gravierende Änderung der Sicherheitsphilosophie der NATO wird sich auch auf dem Feld der nuklearen Abrüstung nichts tun. Solange die NATO Nuklearwaffen für essenziell wichtig für unsere Sicherheit hält, wird sich nichts bewegen. ({7}) Die Bundesregierung wird künftig, auch bei den nächsten NATO-Gipfelkonferenzen, daran gemessen werden, ob sie diesen Pfad wirklich verfolgt, ob sie nicht klein beigibt und ob sie, gestützt auf Nichtregierungsorganisationen, auf die Middle-Power-Initiative und auf kritische Parlamentariergruppen, Druck ausübt, damit die NATOMilitärdoktrin an der Stelle geändert wird. ({8}) Wir müssen auch die Frage stellen: Wie sieht es bei der konventionellen Rüstung aus? Mit welchen dramatischen Veränderungen wir es seit dem Ende der bipolaren Konfrontation zu tun haben, zeigt sich meines Erachtens gerade an der Entwicklung der konventionellen Rüstung im europäisch-transatlantischen Raum. Der Ausgangspunkt des KSE-Vertrages war, Überraschungsoffensiven zu verhindern und deshalb schweres Gerät abzubauen. Das sollte in Richtung strukturelle Nichtangriffsfähigkeit gehen. Das war die Idee. Wenn man sich die heutige Entwicklung genauer ansieht, erkennt man, dass sich das ins Gegenteil verkehrt hat. Heute geht es um strukturelle Angriffsfähigkeit. Man will das nicht so nennen; aber was ist Interventionsfähigkeit anderes? ({9}) Es geht um die Fähigkeit zum offensiven Eingreifen, auch wenn es heute um andere Gegner geht, kleinere Staaten, nichtstaatliche Akteure, Terroristen. Aber im Sinne dieser offensiven Fähigkeiten sollen die Streitkräfte umgerüstet werden. Ich finde, dieser Entwicklung muss man Einhalt gebieten. Nun sagt selbst die Bundesregierung, dass neu verhandelt werden muss, dass eine neue Abrüstungsinitiative geschaffen werden muss. Das finde auch ich. Man muss damit beginnen, den Prozess der Ratifizierung des KSE-Vertrages unverzüglich einzuleiten - sonst geht nichts -, und man muss eine neue Abrüstungsidee präsentieren; denn sonst wird nicht einmal der Status quo zu halten sein. Davon bin ich überzeugt. Der Kollege Mützenich hat im Dezember zu Recht gesagt, dass wir ein KSE III brauchen. Ich finde, in dieser Richtung müssen wir weitergehen. Wir machen in unserem Entschließungsantrag diesbezüglich konkrete Vorschläge. Der erste Vorschlag ist, den Status quo in einem ersten Schritt als vertragliche Obergrenze festzulegen. Das dürfte doch völlig unkompliziert sein. Denn die tatsächlichen Bestände liegen weit unter den jetzigen Obergrenzen. Aber das wäre zumindest ein erster Schritt, um wieder Bewegung in die Sache zu bringen und deutlich zu machen, dass wir weiter vorangehen wollen. Unser zweiter Vorschlag ist, die Bestände um ein Drittel zu reduzieren. Das klingt zunächst einmal sehr utopisch. Aber dass das utopisch klingt, zeigt meines Erachtens nur, wie unser Denken wieder von mehr Waffen und mehr Geld für das Militär geprägt ist. Wenn man sich die Dinge anschaut, stellt man konkret Folgendes fest: Über 50 000 Waffensysteme sind im KSE-Gebiet abgerüstet worden; fast dieselbe Menge ist durch einseitige Maßnahmen der Mitgliedsländer in den 90er-Jahren verschrottet oder abgerüstet worden. Wir haben aber immer noch eine Riesenmenge. Eine Verringerung um ein Drittel - es geht um ein Gebiet vom Atlantik bis zum Ural - würde konkret bedeuten: Es gäbe immer noch über 15 000 Kampfpanzer, über 18 000 Artilleriegeschütze, über 28 000 gepanzerte Kampffahrzeuge, circa 4 500 Kampfflugzeuge, weit über 1 000 Kampfhubschrauber und noch immer fast 2 Millionen Soldaten unter Waffen. Ich finde, diese solchermaßen reduzierten Waffenarsenale sind mehr als genug, um die Sicherheit in diesem Raum zu garantieren. ({10}) Ich will das kurz begründen. Erstens ist keine akute militärische Bedrohung dieser nördlichen Staaten von außerhalb absehbar. Oder fühlt sich jemand von den Maghreb-Staaten, Syrien oder Jordanien bedroht? Zweitens. Die möglichen Spannungen zwischen den KSE-Mitgliedstaaten - beispielsweise zwischen Griechenland und der Türkei oder Russland und Georgien müssen durch nichtmilitärische, diplomatische Mittel gelöst werden. Wir können es uns nicht mehr leisten, dass solche Konflikte mit Gewalt ausgetragen werden. ({11}) Drittens. Wir brauchen in der Tat ein neues Kooperationsverhältnis zu Russland. Ich halte es für keine gute Idee, wenn der NATO-Oberbefehlshaber mehr US-Truppen in Mitteleuropa belassen will und das mit der Vorsorge gegenüber einem wiedererstarkten Russland begründet. Positives Denken heißt, die Interessen der EU und Russlands in Übereinstimmung zu bringen. Dazu gehören meines Erachtens die Neuverhandlungen über Rüstungsreduzierungen. Wie tief wir mittlerweile wieder in Rüstungswettläufen stecken, zeigt sich auch daran, dass Russland den Status seiner Atomwaffen wieder aufgewertet hat, weil man die drückende Überlegenheit der NATO im konventionellen Bereich kompensieren will. Das war früher genau umgekehrt. Wollen wir dieses Spiel endlos weiterspielen? Auch das Beispiel Raketenabwehr zeigt, in welcher Weise die Russen reagieren: Sie wollen neue Raketen aufstellen, die die beiden Staaten Tschechien und Polen bedrohen. Das zeigt, dass wir uns wieder mitten in einem Rüstungswettlauf befinden. Wir brauchen eine echte und substanzielle Trendwende. Das heißt, die NATO muss als großer Rüstungsblock vorangehen. Wir brauchen eine Wiederbelebung des Konzepts der gemeinsamen Sicherheit, und wir Paul Schäfer ({12}) brauchen eine neue kooperative Sicherheitsarchitektur in Europa und damit die Revitalisierung der OSZE. ({13}) Für die Linke ist das eine prinzipielle Angelegenheit. Es geht nicht nur um die blutleeren Videosequenzen eines vermeintlichen Hightech-Krieges; vielmehr geht es um Massenvernichtungswaffen, um Terrorwaffen, wie die Gruppe um Hans Blix sie genannt hat. Es geht um Angst und Schrecken verbreitende Brandbomben, um Streumunition, die Zivilisten trifft, oder um mit abgereichertem Uran gehärtete Munition, die Menschen über mehrere Generationen schädigen kann. Es geht auch darum, dass Rüstung auch im Frieden tötet. Mit den dafür verwendeten Mitteln könnte man sehr viele wichtige Aufgaben finanzieren. Abrüstung ist ein Gebot der Moral und der Vernunft. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({14})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Winfried Nachtwei für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Friedensgutachten 2007 schreibt Professor Harald Müller von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung - ich zitiere -: Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung liegen in einer beispiellosen Agonie. Die Hinrichtung der Rüstungskontrolle stand auf der Agenda einer Koalition von Neokonservativen und militärgläubigen Nationalisten, die bis zu den Kongresswahlen 2006 maßgeblich die Richtung der amerikanischen Sicherheitspolitik bestimmten. - Dass von der weltweiten Rüstungskontrolle wenigstens noch - ich zitiere weiter - Ruinen mit brauchbarer Substanz übriggeblieben seien, sei dem Widerstand anderer westlicher Staaten wie Kanada, Schweden und Deutschland zu verdanken. Im Jahresabrüstungsbericht wird deutlich, wie vielfältig die Politik in dem Bereich ist, wie zäh und mühsam die Bemühungen auf diesem Feld sind und wie massiv und zum Teil fast deprimierend die Gegentrends sind. Deshalb finde ich es angebracht, gerade den Menschen zu danken, die in diesem Bereich konkret arbeiten. Dazu gehören hier im Auswärtigen Amt Botschafter Lüdeking sowie diejenigen, die im Zentrum für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr und vor Ort in Projekten zur Demilitarisierung, Demobilisierung und Reintegration tätig sind, und die sich in Nichtregierungsorganisationen gegen Streumunition, Landminen und Atomwaffen einsetzen. ({0}) Wir sind uns alle einig, dass der Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa ein Eckpfeiler der Sicherheit in Europa ist. Er ermöglichte in den 90er-Jahren - darauf wird zu Recht hingewiesen - eine beispiellose Abrüstung im Frieden. Inzwischen droht dieser Eckpfeiler aber einzustürzen. Am 12. Dezember setzte Russland den Vertrag einseitig außer Kraft. Das war so kurzsichtig wie destruktiv. Nun geht es um nicht weniger, als dieses Vertragswerk zu retten. Kollege Guttenberg, wer die Ratifizierungshindernisse - sie waren sicherlich vor Jahren berechtigt - angesichts erheblich veränderter Kräfteverhältnisse zwischen der NATO und Russland und angesichts dessen, dass es in Moldawien nur noch um ein Munitionsdepot geht, weiter anführt, verkennt den Ernst der Lage. Es ist nun notwendig, ohne weiteres Hin und Her zur Ratifizierung zu kommen. ({1}) Im letzten Jahr wurde das Ottawa-Abkommen zum Verbot von Antipersonenminen zehn Jahre alt. In der Tat ist das Ottawa-Abkommen ein beispielloser Erfolg aus der Zivilgesellschaft heraus. Das hat es zuvor noch nie in der Weltgeschichte gegeben. Inzwischen steht der humanitäre Skandal um die Streumunition im Mittelpunkt. Diese Munition wirkt unterschiedslos und trifft gerade die Zivilbevölkerung in Nachkriegsgebieten. Die Bundesregierung tritt für ein Verbot von Streumunition ein; das ist gut so. Allerdings wird ihr Engagement ganz erheblich dadurch geschmälert, dass seit einem Bundestagsbeschluss, initiiert von der Großen Koalition - ich habe allerdings eher den Eindruck, dass manche Formulierungen vom Verteidigungsministerium kamen -, zwischen gefährlicher und ungefährlicher Streumunition unterschieden wird. Ich sage ganz deutlich: Das ist humanitäre Augenwischerei. ({2}) Es geht darum, die Bewegung gegen die Streumunition breit anzulegen und wirksam zu machen sowie für eine vollständige Ächtung von Streumunition einzutreten. Zu Recht wird im Jahresabrüstungsbericht die Politik gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und für nukleare Abrüstung an erste Stelle gesetzt. Die Logik des Nichtsverbreitungsvertrages ist eigentlich ganz einfach: Der Verzicht auf den Erwerb von Atomwaffen ist nur möglich, wenn Atomwaffenstaaten ihr Versprechen der nuklearen Abrüstung ernst nehmen und zumindest schrittweise einlösen. Von Letzterem kann seit Jahren keine Rede mehr sein. Das Gegenteil findet sogar statt. Der Prozess der Verbreitung von Nuklearwaffen bzw. der dafür notwendigen Technologie droht - darauf wurde schon mehrfach hingewiesen - völlig außer Kontrolle zu geraten. Der von Präsident Kennedy formulierte Albtraum einer Welt mit Dutzenden Atomwaffenstaaten droht allmählich Realität zu werden. Was kann Deutschland, was kann die Bundesregierung dagegen tun? Ich habe sicherlich kein Patentrezept. Aber ich möchte zwei Aspekte ansprechen, die dabei sehr wichtig sind. Erstens. In der Bundesrepublik gibt es - das wurde schon mehrfach angesprochen - einige Dutzend amerikanische Atomwaffen. Verglichen mit den 80er-Jahren ist das sicherlich nur ein Rest. Aber im Hinblick auf die Nichtverbreitungspolitik der Bundesregierung sind diese Atomwaffen ein enormer Klotz am Bein der Glaubwürdigkeit unserer Politik. ({3}) Diese Atomwaffen müssen - sie waren ethisch sowieso nie verantwortbar und sind militärisch längst nicht mehr zu begründen - abgezogen werden. Bringen Sie bitte ein bisschen Mut auf - das gilt auch für den Verteidigungsminister, der erfreulicherweise an der Abrüstungsdebatte teilnimmt -, und sorgen Sie dafür, dass diese Waffen abgezogen werden, die nukleare Teilhabe aufgegeben wird und alle taktischen Atomwaffen aus Europa verschwinden! ({4}) Ein zweiter Aspekt ist das Abkommen zwischen den USA und Indien über die Zusammenarbeit auf dem zivilen Nuklearsektor. Manchmal wird gesagt, mit diesem Abkommen könne die Atomwaffenmacht Indien an das System nuklearer Nichtverbreitung herangeführt werden. Das Motiv ist gut; aber die Tatsachen sind andere, und die Wirkung ist in völligem Gegensatz zu dem Motiv eine fundamentale Schwächung dieses Systems. Nun kommt es in der Tat darauf an, wie sich die Bundesregierung in der Nuclear Suppliers Group, in der Entscheidungen nur im Konsens möglich sind, hierzu verhält. Bitte nutzen Sie die Möglichkeit, diesen Schlag gegen nukleare Nichtverbreitung zu verhindern. Tun Sie dies nicht, können Sie die ganze Glaubwürdigkeit Ihrer sonst ehrlich gemeinten nuklearen Abrüstungspolitik in der Pfeife rauchen. - Herr Minister, Sie haben jetzt direkt das Wort dazu. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Nachtwei, die Worterteilung erfolgt immer noch durch den amtierenden Präsidenten. - Für die Bundesregierung hat nun Herr Bundesminister Dr. FrankWalter Steinmeier das Wort. ({0})

Dr. Frank Walter Steinmeier (Minister:in)

Politiker ID: 11004167

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Ich bedanke mich für die doppelte Worterteilung am heutigen Morgen. - Ich erwarte nicht, dass die Regierung von der Opposition grenzenlos gelobt wird. Wenn dies immerhin mit Blick auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes geschehen ist, dann will ich mich dafür ausdrücklich bedanken. Außerdem sage ich heute ausnahmsweise umgekehrt auch in Richtung der Opposition: Einen Großteil Ihrer Kritik kann ich sogar nachvollziehen. Auch ich bin nicht zufrieden - ich kann und werde nicht zufrieden sein mit dem Stand, den der Abrüstungsbericht wiedergibt. Herr Hoyer, ich versichere Ihnen: Ich werde mich auch nicht damit abfinden, dass dies so bleibt, wie es ist. ({0}) Das ist letztlich der Grund dafür, warum ich in der Debatte, die wir hier vor einem Jahr geführt haben, sagte, mir erscheine es so - Herr Schäfer, Sie haben es eben zitiert -, als redeten wir hier über ein Thema aus einer vergangenen Zeit oder über ein, wie Herr zu Guttenberg gesagt hat, Orchideenthema, das die Reihen hier in diesem Hause und erst recht die Titelseiten der Tageszeitungen nicht mehr fülle. Insofern bin ich froh, dass wir, was die letzten zwölf Monate angeht, miteinander ein ganzes Stück vorangekommen sind. Nach der Beobachtung der vielen Außenministertreffen, die ich auf europäischer Ebene und international hinter mir habe, glaube ich, sagen zu können, dass dies immerhin wieder ein Thema der Gespräche zwischen den Außenministern geworden ist. Wenn ich die Zeitungen in den letzten Monaten richtig gelesen habe, dann ist auch die Sensibilität der Öffentlichkeit gegenüber diesem Thema wieder gewachsen. Weil dies letztlich nicht nur meine, sondern auch Ihrer aller Arbeit ist, bedanke ich mich ausdrücklich dafür, dass wir gemeinsam daran gearbeitet haben, dieses wichtige Thema wieder ganz nach vorn auf die Tagesordnung zu holen. ({1}) Dies geht natürlich nie ganz ohne Streit und Kontroverse. Das wissen Sie, und das gilt gerade für dieses Thema. Rückblickend für die letzten zwölf Monate sage ich: Manchmal mag es ja sogar Sinn haben, sich etwas von dem sicherheitspolitischen Mainstream zu entfernen und das Schweigen, das gelegentlich mit ihm verbunden ist, zu durchbrechen, wobei man aber stets versuchen sollte, realistisch zu bleiben und nicht naiv zu werden. Ich rede über den Streit über Missile Defense. Damit keine neuen Missverständnisse in diesem Hohen Haus und anderswo aufkommen, sage ich dazu: Natürlich dürfen wir neue Gefahren und neue Bedrohungen, die entstehen, nicht ignorieren. Das ist unsere Pflicht; dafür haben wir uns gegenüber der deutschen Bevölkerung verbürgt. Aber wir müssen schon sehr genau hinschauen, ob unsere Reaktion auf die möglicherweise wachsenden neuen Bedrohungen wirklich einen Zuwachs an Sicherheit bringt. Das ist der einzige Grund dafür, weshalb ich im letzten Jahr gesagt habe, wir sollten noch einmal darüber nachdenken, von wem solche Bedrohungen ausgehen, mit welchen Risiken sie für uns verbunden sind und ob sie allein ein Risiko für Europa, auch ein Risiko für die USA oder, was in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle spielt, auch ein Risiko für Russland darstellen. Mein schlichtes Plädoyer vor einem Jahr war: Wenn das neue Bedrohungen sind, die auch Russland betreffen, dann gibt es eigentlich gar keine Notwendigkeit, hier Entscheidungen über den russischen Kopf hinweg zu treffen, sondern das bedeutet, mindestens den Versuch zu machen, Russland, das Objekt dieser neuartigen Bedrohungen sein könnte, in die Gegenwehr mit einzubeziehen. ({2}) Niemand, auch ich nicht, kann Ihnen sagen, ob das am Ende gelingen wird. Aber in der abrüstungspolitischen Debatte, die wir heute Morgen führen, kann man doch sagen, dass es immerhin ein Fortschritt gegenüber dem Zustand von vor zwölf Monaten ist, dass sich die USA und Russland jetzt in Gesprächen befinden, in denen Vorschläge ausgetauscht werden, wie man sich gemeinsam gegen eine mögliche neuartige Bedrohung zur Wehr setzt. Das ist ein Fortschritt gegenüber dem letzten Jahr. ({3}) Diesen Fortschritt wünschte ich mir ausdrücklich auch beim KSE-Vertrag, Herr zu Guttenberg. Das ist mir ein wirkliches Anliegen. Ich sehe das Risiko für uns Europäer eigentlich darin liegen, dass es sein könnte, dass Teile der vertragschließenden Parteien - sowohl der USA als auch Russlands - nicht mehr dasselbe Interesse an der Erhaltung dieses Vertrages haben, wie das noch zum Abschluss der Fall war. Was bedeutet das für uns? Das heißt nicht, dass wir uns jetzt zerknirscht hinsetzen können und diesen Prozess beobachten können; vielmehr müssen wir daran erinnern, dass dieser KSE-Vertrag im Grunde genommen das Kernstück europäischer Abrüstungsarchitektur ist. ({4}) Wir dürfen für uns daraus ableiten, wenn die Bewertung richtig ist, dass wir dieses Kernstück europäischer Abrüstungsarchitektur auch durch den Willen der beiden Hauptstädte Moskau und Washington nicht in Gefahr geraten lassen dürfen. So ist es keine leichte Aufgabe, aber immerhin haben wir uns dieser Aufgabe gestellt. Wir sind die Ersten gewesen, die im Oktober des vergangenen Jahres nach Bad Saarow eingeladen und erstaunlicherweise die Feststellung gemacht haben, dass all diejenigen, die sich bis dahin nicht zu Wort gemeldet hatten, das gleiche Anliegen verfolgt haben, nämlich danach zu suchen, wie der KSE-Vertrag in seiner Grundstruktur erhalten bleiben kann und wie wir in einen Prozess eintreten, in dem möglicherweise die Ratifizierung Fortschritte macht. Nach Bad Saarow haben wir mittlerweile zwei Folgekonferenzen gehabt, eine in Paris und eine in Madrid. Wir haben von den Russen, denen wir vorwerfen müssen, dass sie den gegenwärtigen Zustand, in dem wir sind, provoziert haben, die Zusicherung, dass sie trotz des Inkrafttretens des Moratoriums bei diesen Gesprächen weiterhin präsent sein werden und nach einer Lösung suchen, die sich an den schon vorhin referierten Kriterien orientieren muss. Das Jahr 2008 wird uns abrüstungspolitisch nicht in Ruhe lassen, aber immerhin hat es mit einigen ganz positiven Signalen begonnen, Signalen der Unterstützung. Herr Hoyer und viele andere von Ihnen haben den Artikel von Kissinger, Shultz, Perry und Sam Nunn über eine atomwaffenfreie Welt im Wall Street Journal zitiert. Das ist ein anspruchsvolles, aber nicht unrealistisches Programm, wie man dort hinkommt. ({5}) Interessant ist auch - Sie alle, die Sie in den letzten Wochen in den USA unterwegs waren, haben das mitbekommen -, dass das nicht etwas ist, was isoliert für diese vier Personen steht. Das ist ein Thema, das sich in der amerikanischen Öffentlichkeit, auch auf den Titelseiten amerikanischer Tageszeitungen, breitmacht. Deshalb, so glaube ich, dürfen wir durchaus hoffen, dass diese Stimmen gerade im Zuge der Vorbereitung auf die Präsidentschaftswahl zusätzlich Gehör finden. ({6}) Wenn wir bei Atomwaffen sind, dann sind wir auch bei der Reform des Atomwaffensperrvertrags. Die ganze Thematik können wir jetzt hier nicht behandeln, aber ich bin einig mit denen, die vorhin hier am Mikrofon gesagt haben, dass wir es uns nicht noch einmal leisten können, dass eine nächste Überprüfungsperiode so ergebnislos ausgeht wie die letzte. ({7}) Das setzt allerdings voraus, dass, erstens, die Atommächte bereit sind, an einer Reform, die das Regime des Atomwaffensperrvertrages nachhaltig sichert, mitzuwirken, und dass, zweitens, wir, die wir auf Atomwaffen verzichtet haben, mit Ideen zur Seite stehen, um eine Reform möglich zu machen. Das ist der Grund dafür, dass wir uns beteiligen, zum Beispiel mit Vorschlägen zur Internationalisierung des Brennstoffkreislaufes. Auch hier kann ich Ihnen ankündigen: Wir werden Ende März in Berlin eine Tagung veranstalten, auf der wir versuchen wollen, in der internationalen Staatengemeinschaft bei Fragen wie dieser Mehrheiten zu bekommen. Herr Hoyer, ich bin - wenn ich das sagen darf - nicht Ihrer Meinung, dass in der Nuklearfrage Indien/USA der Lackmustest nur dann bestanden wird, wenn wir in der Nuclear Suppliers Group bei einem schlichten Nein bleiben. Warum sage ich das? Die Lage ist komplex, und sie ist unbefriedigend. Sie ist aber nicht deshalb unbefriedigend, weil wir dort eine Entscheidung zu treffen haben; sie ist vielmehr deswegen unbefriedigend, weil der Atomwaffenstatus Indiens sich weit über den völkerrechtlichen Rahmen hinaus entwickelt hat. Wir stehen jetzt vor der schwierigen Frage, wie wir darauf eigentlich reagieren. Völlig klar ist: Wir müssen von Indien gemeinsam verlangen, dass es Safeguard-Abkommen mit der EU trifft, dass es die internationale Kontrolle sicherstellt und dass es sich auch zur nuklearen Abrüstung als Ziel bekennt. Das alles ist zwar völlig richtig, nur beantwortet es die Frage noch nicht. ({8}) Das gilt auch dann, wenn es sich im Augenblick eher anders verhält, wie Sie ganz richtig beschreiben. Wir müssen doch fragen: Wie reihen wir uns in das System internationaler Kontrolle eigentlich ein? Das war Gegenstand meiner Gespräche, die ich erst gestern Vormittag in Wien mit al-Baradei geführt habe. Wir müssen mit folgendem Sachverhalt verantwortungsvoll umgehen: Wenn wir die Auffassung vertreten, dass wir eine internationale Kontrolle unter dem Dach der Vereinten Nationen, ausgeübt durch die Internationale Atomenergie-Organisation in Wien, brauchen, dann können wir die Interessen einer VN-Behörde bei unseren eigenen Entscheidungen nicht ignorieren, auch nicht ausnahmsweise. Damit sage ich nicht, dass unsere Entscheidung vorprogrammiert ist. Ich sage nur: Wenn wir im Übrigen dafür plädieren, den völkerrechtlichen Rahmen und die Arbeit der Vereinten Nationen zu achten, dann können wir diesen Aspekt hier nicht einfach außen vor lassen. Damit sage ich nicht, dass die Entscheidung vorprogrammiert ist. Ich sage nur: Wir sollten das berücksichtigen. ({9}) Ich bedanke mich, dass Sie darauf hingewiesen haben, dass Fragen der Streumunition, der Kleinwaffen, des Umgangs mit Landminen von dieser Bundesregierung durchaus erfolgreich aufgegriffen worden sind. Diese Fragen zu behandeln, bleibt eine Aufgabe für das laufende Jahr. An all diesen Aufgaben wollen wir mit großer Hartnäckigkeit arbeiten. Ich komme zum Schluss. Abrüstungsarbeit bleibt wichtig. Sie wird immer Mühsal der Ebene bedeuten und nie schnelle Erfolge hervorbringen. Abrüstung wird einen wichtigen Beitrag zu Frieden und Stabilität aber nur dann leisten können, wenn wir wieder lernen, stärker in den Kategorien von regionalen Sicherheitsstrukturen zu denken. ({10}) Deshalb plädiere ich dafür, dass sich unsere Diskussion nicht in Tagesfragen verliert. Regionaler Sicherheitsstrukturen bedarf es in Asien, im Mittleren Osten und auch im Nahen Osten. Auch ich wünsche mir manchmal, dass die Welt einfacher wäre, als sie es tatsächlich ist. Es ist nur leider nicht so. Vielen Dank. ({11})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun für die FDP-Fraktion die Kollegin Elke Hoff. ({0})

Elke Hoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003771, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Minister Steinmeier, natürlich: Die Welt ist nicht einfach. Wir werden uns verheben, wenn wir glauben, dass wir durch unsere Debatte hier die Welt und die Arbeit für sie einfacher machen können. Ich hatte in der Diskussion am heutigen Morgen den Eindruck, dass wir hier in diesem Hause zwar in Nuancen unterschiedlicher Meinung sind, dass wir aber in den Grundstrukturen der Abrüstungspolitik in vielen Punkten durchaus auf einer gemeinsamen Basis aufbauen können. Wenn Sie eine belastbare Analyse der neuen Bedrohungsszenarien vorlegen, wenn wir gemeinsam versuchen, alte Reflexe abzulegen, um zugunsten der Bewältigung neuer Herausforderungen eine neue Politik zu betreiben und eine neue Diskussion zu führen, dann können Sie sicherlich mit der Unterstützung dieses Hauses rechnen. Wir diskutieren heute über den vorliegenden Jahresabrüstungsbericht. Wenn man ihn genauer liest, stellt man fest: Es wird auch hier vonseiten der Bundesregierung der Eindruck erweckt, sie käme in Krisenzeiten ihren selbstgesteckten Zielen einer verantwortungsvollen Abrüstungs- und Nichtverbreitungspolitik in vollem Umfang nach. Wenn ich mir jetzt aber Ihre Worte vergegenwärtige, insbesondere in Bezug auf das Thema, das der Kollege Hoyer und viele andere Kollegen mit Recht auf die Agenda gesetzt haben, nämlich wie sich die Bundesregierung in der Nuclear Suppliers Group zum Thema US-indisches-Nuklearabkommen verhält, bedaure ich es doch sehr, dass Sie dazu hier im Plenum keine klaren Worte gefunden haben. In dem Moment, in dem wir von der bisherigen Linie abweichen, legen wir an die Grundfesten der Nichtverbreitung und des Nichtverbreitungsvertrages wirklich Hand an. Wir werden hier ganz klar, wie viele andere Kolleginnen und Kollegen des Hauses auch, darauf drängen, dass Sie genauso wie andere Mitgliedstaaten - Irland und Schweden haben beispielsweise grundlegende Bedenken angemeldet - zu diesem Thema nicht weiterhin schweigen wie die Bundeskanzlerin anlässlich ihres Indienbesuches, sondern uns Parlamentariern rechtzeitig darüber Klarheit verschaffen, wie Sie sich dann verhalten. ({0}) Wir sind der Auffassung, dass die bilateralen Vereinbarungen zwischen Washington und Neu Delhi in ihrer jetzigen Form die Normen und Prinzipien der nuklearen Nichtverbreitung unterminieren und dass sie im Widerspruch zu dem stehen, was der Bundestag seit vielen Jahren und Jahrzehnten fordert. Durch Ihr Schweigen vergeben Sie auch eine historische Chance, Indien tatsächlich an das Nichtverbreitungsregime heranzuführen. Solche Fragen müssen im Vorfeld geklärt werden. Man kann es nicht dem Prozess danach überlassen, dass man sich Schritt für Schritt auf den NPT zubewegt. Ich denke, es ist ein Gebot der Fairness und der Verlässlichkeit, im Vorfeld belastbare Signale und Reaktionen zu finden. ({1}) Wenn so etwas wie nukleare Doppelstandards entstünden, die kaum zu erklären wären, wenn wir über die Schwierigkeiten mit Iran diskutieren, würden wir uns in eine Position begeben, mit der wir die Funktion eines ehrlichen Maklers im Bereich der Abrüstungspolitik verlassen würden. Wir sollten uns davor hüten, unser gutes und hohes Ansehen, das wir in der Welt auf diesem Gebiet haben, aufs Spiel zu setzen, um vielleicht an der einen oder anderen Stelle einer Vorstellung Nahrung zu geben, die wir dann nicht erfüllen können. Deutschland wird im Mai 2008 den Vorsitz haben. Wir erwarten von der Bundesregierung daher, dass sie den Vorsitz dazu nutzt, entsprechende abrüstungspolitische Bedingungen einzufordern. ({2}) Die abrüstungspolitische Glaubwürdigkeit ist ein Kapital, das Deutschland nicht aufs Spiel setzen darf. Wenn renommierte Außenpolitiker wie Henry Kissinger - ich darf an dieser Stelle aber auch unseren ehemaligen Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher erwähnen vor dem Zerfall der etablierten Nuklearordnung und vor der drohenden Gefahr einer neuen Phase der nuklearen Aufrüstung warnen, sollte dies für uns alle Anlass genug sein, uns heute hier Gedanken darüber zu machen, welchen Beitrag wir dazu leisten können. Ich darf jetzt auf das Thema Iran noch kurz zu sprechen kommen, auch angesichts der Redezeit. - Für einen dauerhaften Erfolg beispielsweise der Entschärfung der iranischen Nuklearkrise werden die P 5 und Deutschland, die in der nächsten Woche wieder in Berlin zu Beratungen zusammenkommen werden, auch bereit sein müssen, neue Wege und Anreize zu finden. Deswegen bin ich froh, dass hier heute erwähnt worden ist, dass über neue Strategien oder überhaupt über eine Strategie diskutiert wird. Machen wir uns nichts vor! Die Signale von Zerstrittenheit, die zurzeit gegenüber dem Iran ausgesendet werden, sind alles andere als hilfreich, wenn es darum geht, in absehbarer Zeit zu einem Ergebnis zu kommen. ({3}) Solange einige Akteure hinter den Kulissen den Anreicherungsstopp und einen potenziellen Regime-Change immer noch miteinander verknüpfen und solange beschlossene Wirtschaftssanktionen in der Realität von vielen unterlaufen werden, wird die bisherige Drohkulisse gegenüber dem Iran langfristig wenig Wert haben. Wenn die eigene, die interne Glaubwürdigkeit dadurch infrage gestellt wird, dann müssen wir uns doch nicht wundern, wenn Iran mit seinen vielfältigen internationalen Wirtschaftsbeziehungen Möglichkeiten suchen wird, einen Bypass zu finden. Das wird immer möglich sein; deshalb muss über die Sinnhaftigkeit solcher Maßnahmen nachgedacht werden, auch um die eigene Glaubwürdigkeit zu erhalten. Wir sind deshalb der Meinung, dass die Aufnahme von bilateralen Verhandlungen zwischen Washington und Teheran spätestens nach den US-Präsidentschaftswahlen zumindest in Erwägung gezogen werden muss, zumindest angedacht werden sollte. Einen Erfolg bilateraler Verhandlungen konnten wir ja im Zusammenhang mit dem Atomprogramm Nordkoreas feststellen. Ich bin der Auffassung, dass Gespräche miteinander immer nützlich sind, gerade bei solch schwierigen Themen, damit, wie Sie, Herr Minister, es gesagt haben, die Welt etwas einfacher wird. Dadurch wird nämlich die Möglichkeit eröffnet, den gemeinsamen Bedenken, die beide Partner haben - man muss alle Seiten ernst nehmen -, Rechnung zu tragen, auch durch neue strategische Überlegungen: weg von den alten Reflexen, hin zu einer Abrüstungspolitik, die der Realität auf unseren Welt gerecht wird. In diesem Bereich haben Sie unsere Unterstützung; denn wir alle haben ja das Interesse, Frieden zu schaffen. Ich hoffe sehr, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es uns im Jahr 2008 gelingen wird, positive Signale zu senden, und dass wir nicht immer wieder feststellen müssen, dass letztendlich alle unsere guten Worte in einer Sackgasse münden. Daran wollen wir alle gemeinsam arbeiten. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist nun der Kollege Holger Haibach für die CDU/CSU-Fraktion.

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns, wie ich glaube, in der Analyse einig, dass sich die internationalen Abrüstungsbemühungen in einer Krise befinden. Ich würde sagen, dass diese Krise Ausfluss einer anderen Krise ist, nämlich der Krise der internationalen Staatengemeinschaft insgesamt. Überall, wo in internationalen Strukturen agiert wird, sehen wir große Probleme. Denken Sie nur an die Reform der UN oder andere Dinge. All das wirkt sich eben auch an dieser Stelle aus. Natürlich ist es richtig, dass dann einem Land wie Deutschland eine besondere Bedeutung zukommt. Herr Hoyer hat darauf hingewiesen, dass wir dadurch, dass wir uns - richtigerweise - entschlossen haben, Atomwaffen zu entsagen, in einer besonderen Position sind. Frau Hoff hat davon gesprochen, dass wir Deutsche sozusagen die Position des ehrlichen Maklers übernehmen können. Wir sollten uns aber davor hüten, deutsche Außenpolitik mit Erwartungen aufzuladen, die sie beim besten Willen zu erfüllen nicht in der Lage ist. Wir haben eine wichtige Aufgabe; das ist keine Frage. Wir sollten aber - das ist, wie ich glaube, auch wichtig, zu sehen realistisch mit unseren Chancen und Möglichkeiten umgehen. Ich kann das gerne am Beispiel des amerikanisch-indischen Deals festmachen. Ich habe großes Vertrauen in diese Bundesregierung und gehe davon aus, dass sie sich nach besten Kräften bemüht. Aber wenn der Bundesaußenminister nach NeuDelhi fliegt und seinem indischen Amtskollegen sagt: „Begebt euch einmal schön unter den Hut der internatioHolger Haibach nalen Gemeinschaft“, so wird das - das ist mein Eindruck - wohl kaum dazu führen, dass das tatsächlich sofort so geschieht. Insofern müssen wir immer schauen, welche Möglichkeiten wir haben, auch aufgrund der Führungsrolle, die wir in der Nuclear Suppliers Group haben, aber wir sollten uns nicht überschätzen. Ich habe manchmal den Eindruck, dass sich diese ganze Debatte irgendwo zwischen Fatalismus und Idealismus abspielt. So müssen wir - es ist richtig, was der Bundesaußenminister da gesagt hat - versuchen, dazwischen einen vernünftigen Weg zu finden. Die Politik der Bundesregierung zeigt ja sehr deutlich, dass man sich stark bemüht: Es gibt - das will ich an dieser Stelle auch einmal sagen - quasi keine internationale Krise und quasi keine internationale Vereinbarung, an der diese Bundesregierung nicht maßgeblich beteiligt gewesen ist, sei es der Nahostkonflikt, sei es der Atomstreit mit Nordkorea, sei es die Krise der KSE. ({0}) - Nicht an der Krise, sondern an der Bewältigung dieser Krise. - Es gibt auch noch viele andere Bereiche, in denen diese Bundesregierung beteiligt ist. All diejenigen, die kritisieren, dass die Erfolge nicht so gewesen sind, wie sie es sich gewünscht hätten, die dürfen nie außer Acht lassen, dass wir nicht die einzig Beteiligten gewesen sind. Dass die Bundesregierung einen großen Anteil an der Beilegung von Konflikten gehabt hat, steht außer Frage. Das sollten wir auch deutlich machen. ({1}) Ich möchte einen zweiten Punkt erwähnen. Es wird davon gesprochen, dass beispielsweise der amerikanisch-indische Nukleardeal eine Herausforderung für die etablierte Nuklearordnung sei. Das ist zweifelsohne richtig. Um dieses Thema müssen wir uns ernsthaft kümmern. Es führt uns weiter zu der Frage, ob diese Nuklearordnung eigentlich unserer heutigen Zeit noch gerecht wird. Sie stammt aus einer Zeit, als es nur vier Nuklearstaaten gab. Je nachdem, welchen Geheimdienstberichten man glauben will, kann man sagen, dass es heute zehn, 15 oder 20 Staaten gibt, die in der Lage sind, spaltbares Material und vielleicht Bomben zu produzieren. Da stellt sich die Frage, ob wir unser internationales Instrumentarium nicht an dieser Tatsache ausrichten und weiterentwickeln müssen. Denn wir werden kaum in der Lage sein, mit Instrumenten, die vor zehn oder 20 Jahren wirkungsvoll gewesen sind, die Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Wir müssen vielmehr zu Veränderungen bereit sein. ({2}) Das heißt aber nicht, dass wir von unserem Ziel ablassen, sondern dass wir die heutigen Gegebenheiten anerkennen. ({3}) Der Bundesaußenminister hat recht, wenn er sagt, dass die Welt leider nicht so einfach ist, wie wir sie uns gerne machen würden, wenn wir es denn könnten. Dies gilt zum Beispiel auch - das ist ebenfalls schon vom Kollegen zu Guttenberg deutlich gemacht worden für das Thema Raketenabzug aus Deutschland. Wir reden über amerikanische Waffen, die sich quasi auf amerikanischem Boden befinden und die unter NATO-Kuratel stehen. Deshalb wird es für uns nicht einfach sein, zu sagen, dass diese Raketen in Deutschland nicht stationiert bleiben können. Wir sind uns zwar im Ziel einig. Aber Kollege zu Guttenberg hat schon klargemacht, dass wir in der Frage, auf welchem Weg wir das Ziel erreichen, unterschiedlicher Meinung sein können. Die klare Sicht auf die Dinge in der Welt, die die Bundesregierung bewiesen hat, kann man auch beim Thema Streumunition relativ deutlich erkennen. Der vorgelegte Dreistufenplan ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. All diejenigen, die kritisieren, dass das zu wenig ist und dass man Streumunition lieber heute als morgen verbieten sollte, dürfen nicht übersehen, dass wir nicht die einzigen sind, die das Heft des Handelns in der Hand haben. Die großen Staaten, die Streumunition produzieren, haben sich in Wien bis zuletzt sehr stark dagegen gewehrt, dass es überhaupt zu einer Vereinbarung gekommen ist. Insofern finde ich, dass auch an dieser Stelle die Bundesregierung ihre Bereitschaft zum Handeln und auch ihren Blick für das Machbare bewiesen hat. Ein letzter Punkt, den ich in dieser Debatte ansprechen möchte. Es geht um die Frage, wie wir uns in den internationalen Konflikten verhalten. Es geht dabei nicht nur um Russland und um den Raketenschild; es geht nicht nur um Nordkorea. Viele kleine Konflikte zeigen, dass wir mit unserer Strategie auf dem richtigen Wege sind: Einerseits müssen wir unsere Entschlossenheit zum Handeln und andererseits die Bereitschaft zu Verhandlungen zeigen. Man kann über Nordkorea geteilter Meinung sein. Aber eines ist klar: Der große Konflikt ist abgewendet. Trotzdem darf man Nordkorea an dieser Stelle nicht aus der Verantwortung entlassen. Nordkorea ist seiner Berichtspflicht bis heute nicht nachgekommen. Die Frist endete am 31. Dezember. Es ist daher richtig, dass dieser Vorgang weiter beobachtet wird und zu internationalen Konsequenzen führen muss. Ich glaube, dass wir hier eine Debatte führen, die nicht viel öffentliche Aufmerksamkeit findet. Das gilt für die Abrüstung genauso wie für die zivile Krisenprävention. All das sind keine Themen, die - wie man so schön auf Neudeutsch sagt - sexy sind. Interessanterweise findet jede Diskussion über die Verlängerung von Militäreinsätzen in den Medien wesentlich mehr Widerhall als die Diskussion, die wir heute Morgen führen. Nichtsdestoweniger entbindet dies nicht von unserer Pflicht, unsere Arbeit fortzusetzen. ({4}) - Entschuldigung, die Presse kontrollieren wir nicht. Wir haben Gott sei Dank ein freies Land. Das kann man zwar bedauern, man muss es aber zur Kenntnis nehmen. Wir sind alle aufgefordert, unsere Bemühungen voranzutreiben und unseren Teil dafür zu tun. Bleiben wir dabei aber realistisch und bewahren wir uns den klaren Blick für das, was machbar ist. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Alexander Bonde für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Alexander Bonde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003509, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da das Außenbild der Koalition in Klima und Stil nicht gerade von Abrüstung geprägt ist, ist es schön, dass zumindest in dieser Debatte über große abrüstungspolitische Linien sowohl in der Koalition als auch im ganzen Haus gewisse Gemeinsamkeiten festzustellen sind. Der Jahresabrüstungsbericht 2006 liefert viel Interessantes. Es ist allerdings auch interessant, zu sehen, wie wenig an der einen oder anderen Stelle steht, wo es dünn wird, und festzustellen, wo die grundsätzlichen Linien, über die wir uns einig sind, im konkreten Handeln mit der einen oder anderen politischen Linie kollidieren. Das eine oder andere Engagement ist wohl doch zu hinterfragen. Der indische Nukleardeal ist angesprochen worden. Wichtig ist aber auch die Frage der Streumunition. Die Bundesregierung hat sich mit einem Trick, mit der Aufteilung in gefährliche und ungefährliche Streumunition, aus der Bewegung herausgestohlen. Wenn man diesen Trick durchzieht, wird man bei der Streumunition am Ende nur eine Modernisierung, aber keinen Ausstieg aus der Nutzung dieser gefährlichen Munition erreichen. Man muss bei dieser Koalition immer genau zwischen den Zeilen lesen. Ich fürchte, dass Sie auf die Position „Streumunition ist gefährlich - Punkt“ zurückgebracht werden müssen. ({0}) Wenn die Bundesregierung unsere gemeinsame Position ernst nimmt, muss sie mehr offensive Initiativen vorlegen. Wir bedauern sehr, dass im Rahmen der G-8und der EU-Ratspräsidentschaft in diesem Zusammenhang von Deutschland wenig zu hören war. Ein Aspekt, der uns besonders irritiert, taucht im Abrüstungsbericht in einem Nebensatz auf. Es geht um die Frage der Planung von US-Raketenabwehrsystemen in Europa. Ich zitiere aus dem Bericht: Neben dem Investitionsbedarf für aktuelle Einsätze werden umfangreiche Ressourcen für Entwicklung und Aufbau eines nationalen Raketenabwehrsystems und die Erzielung von sog. space dominance verwendet. Ich finde, dass es einem Bericht wie diesem gut anstehen würde, sich mit den möglichen Konsequenzen auseinanderzusetzen. Herr Minister, was Sie hier gesagt haben, ist sehr wohltuend. Wir wüssten aber schon gerne, ob das die Position der gesamten Bundesregierung ist. Es war wohltuend, von Ihnen zu hören, dass Sie Gefahren sehen. Wir wüssten aber gerne, ob Sie die deutsche Position nun endlich in den europäischen Gremien vertreten, da die Diskussion dort schon eine ganze Weile läuft. Stoßen Sie dort Warnungen aus, und werden diese ernst genommen? Es ist ja kein Zufall, dass auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges über die Beschränkung von Raketenabwehrsystemen verhandelt wurde. Das war ein wichtiges Element, um aus der Rüstungsspirale - Abwehr und Abwehr der Abwehr - auszubrechen. Mit dem, was im Moment auf dem Tisch liegt, kommen wir potenziell auf diese Position zurück. Das ist eine Fragestellung, die Europa insgesamt betrifft, die im Moment aber im Rahmen von trilateralen Verhandlungen verhandelt wird. Ich kann nicht erkennen, dass die Bundesregierung alles tut, was in ihrer Macht steht, um diesen Prozess in einen europäischen Diskussionsprozess zu überführen. Diese Dynamik birgt auch Gefahren; denn die Fragestellung setzt Anreize, Waffen, die in der Lage sind, diese Abwehrsysteme zu überwinden, in größerer Stückzahl zu produzieren. Die Diskussion über diese Planungen hat es Nationen wie Russland natürlich erleichtert, Modernisierungsprogramme ihrer Waffensysteme nach innen zu legitimieren. Wir alle erinnern uns an den Auftritt von Präsident Putin im letzten Jahr. Wenn wir uns hier in abrüstungspolitischen Linien einig sind, erwarte ich von der Bundesregierung, dass ihre Handlungen dann auch in diese Linien passen und dass man keine gegenteiligen Signale sendet in Debatten, die nicht laut genug oder mit unklarer Position geführt werden, und dass man sie nicht offensiv konterkariert. Ich wünsche mir mehr abrüstungspolitische Reden von Ihnen, auch außerhalb von abrüstungspolitischen Debatten, nämlich in den Gremien, in denen zum Schluss tatsächlich entschieden wird, in welche Richtung diese Welt läuft. Herzlichen Dank. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Uta Zapf für die SPD-Fraktion.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Hoyer, ich will Sie ein bisschen aufheitern; Sie waren bei Ihrer Rede so deprimiert. ({0}) Am 14. Januar dieses Jahres hat Barbados den Atomteststoppvertrag ratifiziert. ({1}) Das ist doch eine gute Nachricht. Aber vielleicht ist das schon das Ende der guten Nachrichten. Ich denke, deshalb sind wir hier auch so engagiert. Ich bin ein bisschen erschrocken, Kollege zu Guttenberg, als Sie gesagt haben, das sei ein Orchideenthema. ({2}) - Gut: gewesen. Das mag ja sein. Ich teile diese Meinung nicht. Denn womit haben wir es hier zu tun? Mit ganz harten sicherheitspolitischen Realitäten. Wenn sich diese verschlechtern, wenn wir nicht handeln, dann kann es tatsächlich zu einer Katastrophe kommen. Wenn Sie sagen, Visionen seien nicht so wichtig, sondern die Schritte, die dorthin führen, dann möchte ich gerne die ehemalige Außenministerin von Großbritannien, Frau Beckett, zitieren, die sagt: Wir brauchen Visionen, damit wir wissen, welche Schritte wir unternehmen müssen, um dort hinzukommen. ({3}) Ich glaube, das ist was, was wir hier tun, was unser Außenminister tut und was wir in unseren Anträgen vorschlagen. Wenn Shultz, Perry, Kissinger und Nunn in ihrem hier schon zitierten Aufruf in The Wall Street Journal schreiben, das das ganze System am Rande des Verderbens, auf der Kippe steht, dann müssen wir das, denke ich, sehr ernst nehmen. Wir müssen noch einmal ganz konkret die Diskussion darüber führen, was wir machen können. Dazu möchte ich gern ein paar ganz konkrete Vorschläge machen. Der erste betrifft die Frage, wie wir damit umgehen, dass bestehende Abrüstungsverträge entweder überhaupt gar nicht umgesetzt werden, zum Beispiel START II, oder auf der Kippe stehen, zum Beispiel INF, also der Mittelstreckenvertrag, dass andere wie START I auslaufen oder dass andere ohne Verbindlichkeit sind, weil sie schnell widerrufbar, schnell kündbar, nicht irreversibel und nicht überprüfbar sind wie SORT. Es gibt einen Hinweis: Die USA und Russland haben in Bezug auf INF eine Initiative zur Multilateralisierung dieses Vertrages angekündigt. Ich denke, das ist eine gute Initiative. ({4}) Denn das gesamte Problem beschränkt sich nicht auf diese beiden Staaten, sondern hat mittlerweile wesentlich größere Dimensionen erreicht. Wenn es gelingt, diese Diskussion anzustoßen, könnten wir einen Schritt weiterkommen. Für START I muss man mindestens eine Verlängerung erwirken oder versuchen, einen Nachfolgevertrag auszuhandeln. Darauf sollten wir bei der Überprüfungskonferenz Hinweise geben. Die Folgeverträge müssen im Gegensatz zu SORT unumkehrbar und überprüfbar sein. Ich lobe jetzt einmal mit wenigen Worten einige Initiativen, wie zum Beispiel die Initiative zum Brennstoffkreislauf. Ich denke, das ist eine ganz wichtige Initiative, bei der Deutschland eine ganz große Rolle gespielt hat. Das müssen wir voranbringen. Man muss einmal ein bisschen hinter die Kulissen schauen. Warum ist Abrüstung so unpopulär und schwierig geworden? Ich glaube, es liegt an zweierlei. Es liegt vor allen Dingen an der Rolle der Nuklearwaffen in den Strategien. Wer Nuklearwaffen zu Einsatzwaffen erklärt, wird schlicht und ergreifend andere nicht zum Verzicht auf diese Waffenkategorien überreden können. Ich glaube, das ist eine Aufgabe, über die auch innerhalb der NATO diskutiert werden muss. Ich bin für die Initiative von Norwegen und Deutschland dankbar. Man muss die Bedeutung von Nuklearwaffen innerhalb der NATO in der Tat weit „herunterzonen“. Dabei muss man auch über den Abzug der hier stationierten amerikanischen Waffen reden. Lassen Sie mich noch etwas intensiver auf ein Thema eingehen, das mir immer sehr am Herzen gelegen hat - es ist von manchen Kolleginnen und Kollegen bereits angerissen worden -: Wie wird sich Deutschland in der Nuclear Suppliers Group in Bezug auf das US-indische Abkommen verhalten? Das ist eine ganze schwierige Aufgabe. Hier muss man mit sehr viel Fingerspitzengefühl vorgehen. Kollege Haibach hat gesagt, die Nuklearordnung sei veraltet. Ja, sie ist veraltet. Es gibt aber viele Prinzipien, die auch in einer neuen Nuklearordnung Bestand haben müssen. Das sind Prinzipien, die verhindern, dass Atomwaffen unter dem Deckmäntelchen der zivilen Nutzung der Energie hergestellt werden. ({5}) Ich glaube, wir müssen in der Nuclear Suppliers Group in Bezug auf dieses Abkommen folgende Bedingungen stellen: Indien muss den CTBT zeichnen, ein Teststoppmoratorium einhalten und die Produktion von waffenfähigem Material verbindlich stoppen. Ich meine, man müsste von Indien auch verlangen, dass sich dieses Land ähnlich wie andere Staaten zur Abrüstung seiner Nuklearwaffen und nicht etwa zur weiteren Aufrüstung verpflichtet und sicherstellt, dass die vorhandenen Arsenale nicht mithilfe aus der zivilen Nutzung abgezweigten bzw. umgeleiteten Materials aufgestockt werden können. ({6}) Das wäre ein Weg, Indien näher an das Nichtverbreitungsregime heranzuführen. Wenn das durchgesetzt werden könnte, dann würde ich mich sehr freuen. Noch mehr würde ich mich freuen, wenn wir in diesem Hause einen gemeinsamen Antrag in diesem Sinne beschließen könnten, weil das unserer Regierung ein Stück weit den Rücken stärken würde. Danke sehr. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat der Kollege Gert Winkelmeier das Wort.

Gert Winkelmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003864, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Beim Studium der Jahresabrüstungsberichte kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich die jeweiligen Bundesregierungen darin stets kräftig auf die eigene Schulter klopfen. Nicht dass ich etwas dagegen hätte; Klappern gehört bekanntlich zum Handwerk. Wenn Sie das aber machen, dann müssen Sie auch Substanzielles vorweisen können. Daran hapert es gewaltig. Die Bundesregierung betont immer wieder das seit Erlangung der vollen Souveränität gewachsene Gewicht Deutschlands innerhalb der Staatengemeinschaft. Sie leitet daraus den Anspruch ab, in der Welt mehr als früher mitzureden und mehr Verantwortung zu übernehmen. Das ist an sich löblich. Doch eigenartigerweise hören wir diese Begründungen meistens dann, wenn es darum geht, militärische Einsätze zu rechtfertigen oder einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu fordern. Ich frage mich, wo die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung beim Thema „Abrüstung und Rüstungskontrolle“ bleibt. Hier könnte Deutschland international punkten und sein Ansehen durch rüstungskontrollpolitische Initiativen weltweit signifikant verbessern, ({0}) wenn auch nicht bei jedem seiner Verbündeten; das will ich gerne eingestehen. Exemplarisch für die Kluft zwischen dem Anspruch und dem realen Handeln der Bundesregierung ist folgender Vergleich: Auf Seite 4 des Jahresabrüstungsberichts 2006 steht, es bleibe das vorrangige Ziel der Bundesregierung, „den internationalen Konsens … über die … Dringlichkeit der Bekämpfung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen zu bewahren.“ Doch diesem Ziel fehlt es am notwendigen Engagement. Auf Seite 23 lesen wir im Zusammenhang mit dem Biowaffenübereinkommen: Wegen der weiterhin großen Sprengkraft des Themas wurde die Einführung eines Verifikationsmechanismus für das BWÜ nicht weiter verfolgt. Doch was nützt der Welt eines der umfassendsten Waffenverbote, solange ein entsprechendes Kontrollsystem fehlt - und das seit über 30 Jahren! Wir wissen alle, wer hier der Hauptbremser ist. Sie rühmen sich, die Überprüfungskonferenz 2006 proaktiv vorbereitet zu haben. Nur, wo bleibt dieses Proaktive gegenüber der NATO-Führungsmacht? Ist die Bundesregierung jemals auf die Idee gekommen, die zynischen, menschenverachtenden Hoffnungen des Paul Wolfowitz anzuprangern, dass biologische Waffen eines Tages zu einem politisch nützlichen Mittel werden könnten? Nein. Solche Sätze stehen aber seit 2000 in einem offiziösen US-Strategiepapier. Bisher übt sich die Bundesregierung diesbezüglich in beredtem Schweigen. Mangelnde Konsequenz aus bündnistaktischen Gründen gibt es auch in vielen anderen Bereichen. Einige möchte ich ansprechen. So werden in Büchel in Rheinland-Pfalz beim Jagdbombergeschwader 33 noch immer amerikanische taktische Atomwaffen vorgehalten. 18 Jahre nach Ende des Kalten Krieges und der Abschreckungsstrategie der gesicherten gegenseitigen Vernichtung müssen diese Waffen endlich abgezogen werden. Das wäre ein glaubwürdiges Signal, dass Deutschland seine Verpflichtungen aus dem Atomwaffensperrvertrag ernst nimmt. ({1}) Ein anderes Beispiel: Unter den Blindgängern von Streumunition haben weltweit Millionen unschuldiger Zivilisten zu leiden. Auch hier agiert die Bundesregierung halbherzig, weil sie an der Option für den Einsatz dieser Munition weiterhin festhält. Hier kann es aber nicht nur darum gehen, wie Sie meinen, die Zivilbevölkerung besser zu schützen. Nein, Streumunition ist geächtet. Sie gehört weltweit vernichtet. In diesem Sinne sollte die Bundesregierung auf die NATO-Führungsmacht und andere Staaten einwirken. ({2}) Das ist der wirksamste Schutz für die Zivilbevölkerung. Ich erwarte, dass Sie dem Beispiel Österreichs und Belgiens folgen und Streumunition ohne Wenn und Aber ächten. Das ist nachahmenswert, hier sollten Sie abrüstungspolitische Verantwortung übernehmen. ({3}) Was ich in Ihren Abrüstungsberichten völlig vermisse, ist die sogenannte DU-Munition; das ist Munition, die mit einem Mantel aus abgereichertem Uran umhüllt ist. Die Bundeswehr hat so etwas nicht in ihren Beständen; doch die USA und andere Bündnispartner setzen solche Munition ein und vergiften und verstrahlen mit dem entstehenden Urandioxid ganze Landstriche. Auch auf diesem Feld übernehmen Sie keine politische Verantwortung. „Außenpolitik ist Friedenspolitik“, liest der Besucher auf der Homepage des Auswärtigen Amtes. Wer wollte dem widersprechen? Eine erfolgreiche Friedenspolitik setzt aber international Vertrauen voraus. Ob dieses Vertrauen durch eine halbherzige Abrüstungspolitik entsteht, ist zu bezweifeln. Denn gleichzeitig wird die Bundeswehr zur globalen Interventionsarmee umgebaut. Es ist Abrüstungsscharlatanerie, wenn in der Bundeswehr nur Material abgerüstet wird, das nach dem Umbau zur weltweit agierenden Armee sowieso nicht mehr benötigt wird. Letzter Gedanke. Wir dürfen gespannt sein, ob sich die Bundesregierung bei der anstehenden Ratifizierung des Vertrages von Lissabon zur militärischen Aufrüstung verpflichten wird. Eben das wäre kein abrüstungspolitisches Signal und widerspräche der Intention dieser Debatte. Vielen Dank. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Hans Raidel für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hans Raidel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001768, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, auch die heutige Debatte zeigt, dass Deutschland in Abrüstungsfragen ein wichtiger Schrittmacher und Impulsgeber ist. Wir müssen unser Licht durchaus nicht unter den Scheffel stellen. Herr Minister, ich bedanke mich bei Ihrem Hause sehr herzlich für die geleistete Arbeit. Es stimmt einfach nicht, wenn hier festgestellt wird, dass sich Deutschland an der Fortschreibung dieser wichtigen Ideen nicht konsequent und nicht ausreichend beteilige. Das Gegenteil ist der Fall. Wir können viele Beispiele dafür anfügen, nicht nur aus dem Bereich der Abrüstung und Nichtverbreitung; wir sind auch im Bereich der Kleinwaffen tätig. Mit dem International Code of Conduct unterstützen wir die Rüstungsexportkontrolle. Gerade an der Vernichtung von Munition und überzähligen Waffen sind wir mit viel Geld und Engagement beteiligt, um beispielsweise Reste aus den vergangenen Kriegen, insbesondere in Russland, zu beseitigen. Der Vorwurf, wir würden in praktischen Fragen zu wenig tun, trägt also mit Sicherheit nicht. Es ist natürlich immer richtig, die Frage zu stellen. Wer keine Visionen hat, ist kein Realist. Wir sind aber visionär und betrachten die Dinge gleichzeitig realistisch. Das bedeutet natürlich, dass wir uns darüber Gedanken machen, wie die einzelnen Probleme im sogenannten Krisenbogen zu sehen sind. Wir nehmen uns jedes einzelne Land vor, von Indien angefangen über den Iran bis hin zu Pakistan und anderen Ländern. Diese Themen sind uns geläufig und bekannt. Natürlich wissen wir, dass wir uns neu justieren müssen. Wir wissen auch, dass wir insgesamt eine Neubewertung vorzunehmen haben, weil viele Instrumentarien, die in der Vergangenheit richtig waren, heute möglicherweise neu zu bewerten und einzuordnen sind. Wir wissen, dass Verhandlungen und Dialog heute die wichtigsten Instrumente sind und zum Erfolg führen, dass Drohungen und Sanktionen nur selten wirksam sind und dass zur Problemlösung neben Sicherheitsgarantien auch Anreize gehören, die größer als die Furcht vor Nachteilen sein müssen. Das ist ein ganz entscheidendes Thema, das in dem Bereich Verhandlung und Dialog besonders dargestellt werden muss. Kofi Annan hat in seiner Abschlussrede als UN-Generalsekretär festgestellt, dass Abrüstungsschritte im Rahmen der bestehenden Verträge über atomare, biologische und chemische Waffen sträflich vernachlässigt worden sind. Sein Nachfolger stellt auch fest, dass die Anstrengungen verstärkt werden müssen. Vielleicht wäre es ja gut, wieder einmal den Vorschlag zu machen, im Rahmen der UNO eine weltweite Konferenz durchzuführen, damit diesen wichtigen Themen wieder der Stellenwert zugewiesen werden kann, der ihnen eigentlich innewohnt. Sie wissen, dass es verschiedene Anläufe dafür gab. Sie alle sind damals gescheitert. Eine Neuauflage wäre aus meiner Sicht durchaus wichtig. Der nächste wichtige Punkt ist meiner Auffassung nach, die Amerikaner und die Russen, die die eigentlichen Key-Player bei diesen ganzen Themenkreisen sind, vor einer Art Selbstisolation zu bewahren. Im Moment hat man den Eindruck, als ob sie wichtige Abrüstungsthemen mehr innen- als außenpolitisch motiviert einfach hochstilisieren, wobei sich jeder mehr der eigenen Sache als dem Ganzen verpflichtet fühlt. Es wurde darauf hingewiesen: Das war früher, in den 70er- und 80er-Jahren, als die großen Abrüstungsthemen zielführend verhandelt werden konnten, ein bisschen anders. Man muss die USA wieder an diese Rolle heranführen. Auch Russland muss begreifen, dass seine Position - es stellt zum Beispiel Zusammenhänge zwischen der Raketenstationierung und anderen Problemen her - letztlich nicht zielführend sein kann. Wir sollten die Genfer Verhandlungen wieder mit neuem Leben erfüllen. Sie wissen, die einzelnen Regime, über die dort verhandelt wird, leiden derzeit alle - ich sage es einmal ganz vorsichtig - an einer übermäßigen Zurückhaltung der Akteure, sodass nicht einmal Tagesordnungen gestaltet werden. Sie haben auf das Scheitern der letzten Konferenz im Jahr 2005 hingewiesen. Auch hier trifft der Vorwurf nicht Deutschland. Wir haben mit unserer Arbeit dazu beigetragen, dass die einzelnen Regime nicht gänzlich abgelehnt worden sind, sondern wenigstens neue Anläufe vereinbart worden sind. Auch darauf haben Sie hingewiesen. Aus meiner Sicht ist wichtig, dass Deutschland hier nicht alleine als Schrittmacher auftritt, sondern dass wir in all diesen Fragen den europäischen Kontext suchen; denn ich glaube, dass sich die Effektivität und die Effizienz stark erhöhen könnten, wenn wir europäisch mit einer Stimme sprächen, wenn wir hier eine gemeinsame Sprache hätten. Meines Erachtens sind wir durchaus der Motor einer Europäisierung all dieser Aufgaben. Es wurde davon gesprochen, dass das Jahr 2008 zu einem Jahr des Stillstandes werden könnte. Wir müssen alles tun, damit das nicht eintritt. In diesem Zusammenhang gibt es zwei Eckpunkte. Das eine ist die Präsidentschaftswahl in Russland, das andere die Wahl in Amerika. Man muss nun versuchen, das Rad weiterzudrehen. Das Jahr 2009 wird dann die Nagelprobe bringen, inwieweit die neuen Regime bereit sind, sich als Key-Player wirklich auf diese Fragen einzulassen. Denn es ist richtig, wenn festgestellt wird, wer wann wo welches Interesse hat und wer wen stützt. In diesen Bereichen findet ein trickreiches Spiel statt. Die Frage „Wer nützt wen aus?“ ist nicht unberechtigt, vor allem auch nicht folgende Frage: Woher kommt das Geld, um in unliebsamen Bereichen die Finanzvorlagen zu unterstützen? Ich meine, dass Deutschland auf einem guten Weg ist. Wir dürfen Stillstand und Rückschritt nicht zulassen. Wir sollten uns weiterhin nicht beirren lassen, Herr Minister. Selbstverständlich gehören auch Seitenwind und Gegenwind dazu. Das Parlament gibt Ihnen und allen Einrichtungen der Bundeswehr sowie dem Außenministerium aber den notwendigen Rückenwind. Unser Ziel muss weiter sein, dass Deutschland in all diesen Fragen Motor, Schrittmacher und Impulsgeber ist. Wir helfen mit, wo wir helfen können. Dies liegt in unserem ureigenen Interesse. Vielen Dank. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Andreas Weigel für die SPD-Fraktion. ({0})

Andreas Weigel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003656, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Vielzahl der Anträge, die wir heute unter diesem Tagesordnungspunkt behandeln, kommt schon einem abrüstungspolitischen Rundumschlag gleich. Von einigen ist gelobt worden, dass wir das Thema Abrüstung an so prominenter Stelle im Bundestag behandeln. Tun wir dies aber immer nur dann, wenn sich eine bestimmte Anzahl von Anträgen angesammelt hat, so halte ich das für bedenklich. Aus meiner Sicht ist wichtig, dass wir aktuell Bezug auf das nehmen, was geschieht, und aktuelle Bewertungen vornehmen. Vor diesem Hintergrund ist es in meinen Augen sehr bedenklich, dass wir in dieser Woche in einigen Ausschüssen noch den Jahresabrüstungsbericht 2004 behandelt haben. In der Kürze der Zeit will ich mich auf das Thema Streumunition und insbesondere auf die laufenden Verhandlungen dazu konzentrieren. Ich habe durchaus berechtigte Hoffnungen - und viele in diesem Haus auch -, dass wir bei diesem Thema im Jahr 2008 zu einem erfolgreichen Abschluss kommen. Streumunition ist für die Szenarien des kalten Krieges gemacht. In der Realität ist ihre Wirkung verheerend. 98 Prozent der Opfer sind Zivilisten. Die Selbstzerstörungsmechanismen funktionieren unter realen Kampfbedingungen oftmals nicht so, wie wir uns das vorstellen, und versagen. Eine erst jüngst veröffentlichte Studie von norwegischen Militärexperten zum Libanon-Krieg 2006 hat belegt, dass die angegebene Blindgängerrate von 1 Prozent tatsächlich eine Blindgängerrate von 10 Prozent bedeutet. Wer sich von Ihnen in den letzten Wochen im PaulLöbe-Haus die Ausstellung „Explosives Erbe des Krieges“ angeschaut hat, wird gesehen haben, welche eindrucksvollen Erfolge wir in den letzten Jahren erzielen konnten, aber auch, vor welchen Herausforderungen wir noch stehen. Welche Herausforderungen wir noch zu bewältigen haben, konnte ich in den letzten Wochen bei einem meiner Besuche in Afghanistan selber erleben. In Afghanistan sind über 4 Millionen Menschen unmittelbar durch Minen und Blindgänger bedroht. Projekte zur Minenräumung führen dazu, dass Taliban das Räumpersonal beschießen, sodass mittlerweile mehr Räumpersonal durch den Beschuss von Taliban als durch das Beseitigen von Minen ums Leben kommt. Vor vier Wochen haben wir im Unterausschuss „Abrüstung“ eine öffentliche Anhörung zum Thema Streumunition durchgeführt. Die eingeladenen Experten haben einhellig auf die Unzuverlässigkeit und die fehlende militärische Notwendigkeit von Streumunition hingewiesen. Die humanitären Schäden, die durch diese Munition verursacht werden, wiegen weit schwerer als der militärische Nutzen. Umstritten ist auch die Zuverlässigkeit sogenannter alternativer Munitionstypen, die nicht für Flächen-, sondern für Punktziele eingesetzt werden sollen. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss das oberste Ziel für uns ein umfassendes Verbot von Streumunition sein. Ziel ist, die Herstellung, Verbreitung und Verwendung dieser Waffen zu sanktionieren. Es ist klar, dass man das nicht von heute auf morgen tun kann, sondern nur Schritt für Schritt. Ich glaube, das, was die Bundesregierung in dem Bereich getan hat und tut, kann sich sehen lassen und ist alles andere als eine trickreiche Politik. ({0}) Wenn wir aber Ausnahmen für alternative Munition zulassen wollen, dann geht das meines Erachtens nur, wenn klare Bedingungen erfüllt werden. Ich will drei nennen: erstens eine nachgewiesene hohe technische Zuverlässigkeit der alternativen Munition, zweitens die nachgewiesene Fähigkeit dieser Munition, militärische Ziele tatsächlich punktgenau zu bekämpfen, und drittens eine strikte Begrenzung der durch die Munition verstreuten Sprengköpfe. Unsere Fraktion begrüßt einhellig den von der Bundesregierung entwickelten Dreistufenplan für einen universellen Verzicht auf Streumunition. Er hat sich auch als nützliche Verhandlungsgrundlage herausgestellt. Er hat zu einem Aufbrechen der Blockade der Genfer UNVerhandlungen im November 2007 beigetragen. Das war ein großer Erfolg, besonders wenn man bedenkt, dass 2006 ein ähnliches Bemühen gescheitert ist. Darüber hinaus haben - das ist heute schon mehrfach angesprochen worden - zivilgesellschaftliche Organisationen mit dazu beigetragen, dass wir im Rahmen des sogenannten Oslo-Prozesses im vergangenen Jahr ein ganzes Stück vorangekommen sind. Außerhalb des UNRahmens haben sich mittlerweile 140 Staaten an Verhandlungen über ein internationales Abkommen zur Ächtung von Streumunition beteiligt. Das ist ein ermutigendes Zeichen, vor allen Dingen wenn man bedenkt, dass es ein Jahr zuvor nicht einmal 50 Staaten waren. Es ist wichtig, dass wir gemeinsam im Rahmen der UN-Verhandlungen, aber auch zivilgesellschaftlich an diesem Thema arbeiten. Wir sollten im Rahmen des Oslo-Prozesses im Mai 2008 in Dublin zu positiven Verhandlungsergebnissen kommen. Ich hoffe darauf, dass durch diese Ergebnisse, ähnlich wie im Ottawa-Prozess, ein Schneeballeffekt entsteht und dass wir in Zukunft Streumunition ächten und nicht mehr zum Einsatz bringen müssen. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Zu Tagesordnungspunkt 22 a wird interfraktionell die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/5211 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Die Entschließungsanträge auf den Drucksa- chen 16/7790 und 16/7791 sollen an dieselben Aus- schüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Über- weisungen so beschlossen. Wir kommen nun zu einer Reihe von Abstimmungen. Tagesordnungspunkt 22 b. Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke zum Jahresabrüstungsbericht 2005 der Bundesregierung auf Drucksache 16/1483. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4594, den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/2999 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- nen, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke. Tagesordnungspunkt 22 c. Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Abzug der Atomwaffen aus Deutschland“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 16/4593, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/448 abzuleh- nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Auch diese Beschluss- empfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Ko- alitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke. Tagesordnungspunkt 22 d. Dabei geht es um die Be- schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Abrüstung der taktischen Atomwaffen voran- treiben - US-Atomwaffen aus Deutschland und Europa vollständig abziehen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4592, den An- trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- sache 16/819 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion der FDP und der Fraktion Die Linke. Tagesordnungspunkt 22 e. Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Nuklearen Dammbruch verhindern - Indien an das Regime zur nuk- learen Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtweiter- verbreitung heranführen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4591, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/834 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltun- gen? - Dann ist auch diese Beschlussempfehlung ange- nommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge- gen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion der FDP und der Fraktion Die Linke. Tagesordnungspunkt 22 f. Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Keine Unterstützung für die in- dische Atomrüstung“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4590, den An- trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/1445 ab- zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp- fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali- tionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion der FDP1) und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Tagesordnungspunkt 22 g. Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Zivilbevölke- rung wirksamer schützen - Streumunition ächten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4589, den Antrag der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/2749 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen mit den Stimmen der Koalitions- fraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion der FDP und der Fraktion Die Linke. Tagesordnungspunkt 22 h. Wir kommen zur Abstim- mung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Keine neuen Raketen in Europa - stattdessen Stärkung der globalen Sicherheit durch Rüstungskon- trolle und Abrüstung“. Der Ausschuss empfiehlt in sei- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7516, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5456 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Be- schlussempfehlung ist damit angenommen mit den Stim- men der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen. Damit rufe ich den Zusatzpunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg Rohde, Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP 1) Anlage 2 Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Altersvorsorge für Geringverdiener attraktiv gestalten - Drucksache 16/7177 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Dr. Heinrich Kolb von der FDP-Fraktion das Wort. ({1})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern hatten wir Gelegenheit, über die Rentenfinanzen sozusagen aus der Gesamtperspektive zu debattieren. Dabei wurde deutlich, dass sich die Liquidität der Rentenversicherung zwar insgesamt verbessert hat, dass diese Verbesserung jedoch nicht auf die gute konjunkturelle Entwicklung, sondern ausschließlich auf die Sondereffekte des Vorziehens der Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge und der Beitragssatzerhöhung Anfang 2007 zurückzuführen ist. Ein Verdienst der Bundesregierung ist es also nicht. ({0}) Heute befassen wir uns nun mit dem Thema Altersvorsorge aus der Perspektive des Einzelnen, und zwar unter besonderer Berücksichtigung der Frage: Lohnt sich die private Vorsorge auch für diejenigen Versicherten, die vergleichsweise geringe Verdienste haben? Die Regierung und vor allem Vertreter der SPD-Fraktion haben gestern bestritten, dass es bei der privaten Vorsorge von Geringverdienern überhaupt ein Problem gibt, und haben der Opposition vorgeworfen, die Menschen in unverantwortlicher Weise zu verunsichern. Dem halte ich entgegen: Es gibt ein Problem bei der privaten Vorsorge von Geringverdienern. Unverantwortlich ist alleine das beschönigende Gerede der Bundesregierung, vor allem der SPD. ({1}) Sie stecken den Kopf in den Sand. Sie betreiben eine Vogel-Strauß-Politik. Die Dummen sind dabei wieder einmal diejenigen, die sich trotz eines geringen Verdienstes nicht alleine auf den Staat verlassen wollen. Das kann und darf nicht sein. ({2}) Dabei hat der ehemalige Bundesarbeitsminister Walter Riester selbst gestern in einem Interview mit Spiegel Online die Problematik grundsätzlich gut umrissen: Wenn jemand in fortgeschrittenem Alter erkennen sollte, dass er nach der Pensionierung ganz sicher auf die Grundsicherung von 660 Euro im Monat angewiesen ist, dann macht es ökonomisch keinen Sinn, eine Riester-Rente abzuschließen. Aber das ist bei der überwiegenden Mehrheit der Menschen nicht der Fall. Seine Einschätzung ist insofern richtig, als die private Vorsorge nach derzeitiger Rechtslage für diejenigen Menschen keinen Sinn macht, die absehbar auf Grundsicherung angewiesen sein werden; denn ihre Altersvorsorge wird zu 100 Prozent mit der Grundsicherung verrechnet. Diejenigen, die gering verdienen und deswegen nur geringe Rentenansprüche erwerben, erhalten somit im bestehenden System den Fehlanreiz, auf private Vorsorge gänzlich zu verzichten, weil sie sich nicht lohnt. Diesen Fehlanreiz wollen wir mit unserem Antrag beseitigen. ({3}) Die FDP befasst sich übrigens mit diesem Problem nicht erst seit gestern oder seit Anfang dieser Woche. Vielmehr hat sie bereits im November letzten Jahres den Antrag eingebracht, der heute Grundlage der Beratungen ist. Ich sage das deswegen, weil der Kollege Lafontaine glaubte, die gestrige Debatte umwidmen und das Problem thematisieren zu müssen. Herr Kollege Lafontaine und Herr Kollege Gysi - Sie werden gleich noch reden -, seien Sie ganz ruhig! Die FDP hat das Problem klar auf dem Schirm. ({4}) Ich sage Ihnen voraus - das sollte unsere gemeinsame Hoffnung sein -: Nach dem Kurswechsel bei der abgabenfreien Entgeltumwandlung, bei der die Regierung erst jahrelang das Problem bestritt, um dann in einer spektakulären 180-Grad-Wende auf den zuvor allein von der FDP vertretenen Kurs einer unbefristeten Abgabenfreiheit einzuschwenken, und nach dem Kurswechsel bei der Zwangsverrentung, bei der die Regierung erst auf Druck der Opposition einen unerträglichen Zustand wenigstens ein Stück weit abmildern will, ({5}) wird es auch bei der Riester-Rente für Geringverdiener in absehbarer Zeit Bewegung bei der Regierung geben. Das ist auch gut so. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, aller guten Dinge sind drei. Machen Sie es sich selbst nicht zu schwer; der Kollege Peter Weiß, der als rentenpolitischer Sprecher für diese Frage zuständig ist, hat bereits signalisiert, dass er Handlungsbedarf sieht, auch wenn sein Lösungsansatz jedenfalls für Geringverdiener nicht zielführend ist. Das Beste, was ich Ihnen empfehlen kann, ist: Stimmen Sie dem FDP-Vorschlag zu; denn er ist ein Vorschlag mit Augenmaß. Im Folgenden werde ich ihn noch näher erläutern. Zuvor muss ich allerdings klarstellen, dass die gestern hier gemachte Aussage des Kollegen Schaaf von der SPD - Herr Kollege, ich bitte Sie, zuzuhören -, man müsse nur Mindestlöhne einführen und dann sei das ProDr. Heinrich L. Kolb blem gelöst, einfach nicht stimmt. Wir haben die Zahlen in unserem Antrag aufgeführt; Sie sehen sie in der Begründung. Ein Versicherter mit einem Monatsverdienst von 1 850 Euro muss über 35 Jahre in die Rentenversicherung einzahlen, um Grundsicherungsniveau zu erreichen. Bei 1 625 Euro Bruttomonatsverdienst sind es 40 Jahre, und ein Versicherter mit 1 450 Euro Monatsverdienst muss 45 Jahre Beiträge einzahlen, um Grundsicherungsniveau zu erreichen. ({7}) - Ja, eingezahlt haben. 1 450 Euro brutto im Monat, Herr Schaaf, entsprechen bei einer 38,5-Stunden-Woche - Urlaubsbezahlung, Feiertagsbezahlung, Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld sind eingerechnet - einem Stundenlohn von etwa 7,80 Euro. Das liegt also deutlich über dem, was die SPD nach meiner Kenntnis an Mindestlohn fordert. Diese Ausrede zieht jedenfalls nicht, Herr Schaaf. ({8}) Es zieht auch nicht der Hinweis auf eine angeblich nur geringe Zahl von Betroffenen. Dass heute nur 2 Prozent der Menschen - etwa 370 000 - im Rentenalter Grundsicherung beziehen, ist nicht mehr als ein erstes Indiz. Dass der Kreis der künftig Betroffenen erheblich größer sein wird, ergibt sich schon daraus, dass mit dem von der rot-grünen Bundesregierung beschlossenen Rentenversicherungs-Nachhaltigkeitsgesetz das Rentenniveau bis zum Jahr 2030 um rund 20 Prozent abgesenkt wird. Dazu kommt, dass mehr und mehr Erwerbsbiografien längere Zeiten von Arbeitslosigkeit und insbesondere ALG-II-Bezug enthalten, in denen für die Altersvorsorge so gut wie nichts getan wird. Als Drittes muss der Trend weg von der Vollzeitbeschäftigung bedacht werden. Bereits ein Drittel aller Beschäftigten arbeitet heute nicht mehr Vollzeit, hat entsprechend niedrigere Bruttogehälter und wegen der Beitragsäquivalenz der gesetzlichen Rente auch eine entsprechend geringere Rentenerwartung. Herr Schaaf, Sie müssen also nicht nur einen Mindestlohn von 7,80 Euro fordern, sondern auch verlangen, dass es nur noch Vollzeitarbeitsverhältnisse gibt, um sicherzustellen, dass das Problem, dass wir vortragen, in Zukunft nicht mehr relevant wird. ({9}) Man muss auch wissen, dass von den 10 Millionen Riester-Sparern etwa 2,5 Millionen, also ein Viertel, einen Bruttojahresverdienst von 12 000 Euro und weniger haben. Dieser Personenkreis ist aus heutiger Sicht extrem gefährdet, im Alter in die Grundsicherung zu geraten und damit der vollen Anrechnung nach heutiger Gesetzeslage zu unterliegen. Damit ist klar, dass gehandelt werden muss. Es muss heute gehandelt werden, weil Rentenfragen Vertrauensfragen sind und lange Übergangszeiträume erforderlich sind. Wir müssen heute dafür sorgen, dass junge Menschen nicht am Sinn der privaten Vorsorge zweifeln. Deswegen hat der Antrag, den wir als FDP vorgelegt haben, ein klares Leitbild: Wer freiwillig für das Alter sparen soll, für den muss sich das Sparen auch lohnen. Anderenfalls spart niemand freiwillig. ({10}) Das ist aus Sicht des Einzelnen irrational. Ihm vorzuschlagen, Herr Schaaf, er solle sparen, obwohl er nichts davon hat, ist doch einfach irrational. Dies entbehrt doch jeder Grundlage und widerspricht den Erfahrungen des täglichen Lebens. Ich werde den Verdacht nicht los - Herr Schaaf, ich spreche Sie an, weil Sie sich hier in die Debatte einschalten -, dass diejenigen, die das freiwillige Sparen nicht attraktiv machen wollen, am Ende etwas ganz anderes im Sinn haben, nämlich ein Obligatorium, eine Riester-Pflicht. Dagegen allerdings sprechen wir uns ganz entschieden aus. ({11}) Der Gedanke unseres Antrags ist auch: Derjenige, der privat für sein Alter vorsorgt, der also einen Riester-Vertrag abgeschlossen hat, muss mehr als derjenige haben, der nichts getan hat und sich alleine auf den Staat verlässt. Das ist eine Grundforderung der Gerechtigkeit. Das widerspricht nicht dem Subsidiaritätsprinzip der Sozialhilfe; im Gegenteil, das ergänzt das Subsidiaritätsprinzip in sinnvoller und gerechter Weise. Unser Vorschlag lautet also: Wer privat oder betrieblich für das Alter vorsorgt, der soll, wenn er Grundsicherung im Alter bezieht, bis zu 100 Euro aus seiner Vorsorge monatlich als Freibetrag vorab behalten dürfen. Bei Beträgen, die darüber hinausgehen, sollen 80 Prozent auf die Grundsicherung angerechnet werden. Das ist maßgeschneidert für die Bedürfnisse gerade von Geringverdienern, die auch nach langer Riester-Sparzeit in der Regel über Beträge von 100, 150 oder 200 Euro im Monat aus zusätzlicher privater Vorsorge nicht hinauskommen werden. Deswegen wird das den Interessen gerade dieser Menschen gerecht. Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, unserem Antrag im Ausschuss und auch im Plenum zuzustimmen, damit die private Altersvorsorge, die ein wichtiges Standbein der Alterssicherung in Deutschland ist, nicht in Misskredit gerät und sich die Menschen in unserem Lande, die sie gut gebrauchen können, weil sie gering verdienen, nicht von ihr abwenden. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP legt uns heute einen Antrag vor, in dem sie uns auffordert, etwas zu beschließen, was schon Realität ist; denn der Antrag heißt „Altersvorsorge für Geringverdiener attraktiv gestalten“. Was ist denn attraktiv, wenn nicht eine Förderung von bis zu 90 Prozent für jemanden, der 5 Euro Eigenbeitrag im Monat leistet? ({0}) Das ist eine attraktive Förderung. Was ausgerechnet Sie von der FDP geritten hat, hier den ansonsten völlig selbstverständlichen Nachrangigkeitsgrundsatz bei einer steuerfinanzierten Fürsorgeleistung aufzugeben, bleibt Ihr Geheimnis. ({1}) Es zeigt sich jedenfalls: Ordnungspolitik ist bei uns gut aufgehoben und nicht bei Ihnen. Ihre Vorschläge haben mit Ordnungspolitik nichts zu tun. ({2}) Die Pressemitteilungen der letzten Tage waren in diesem Zusammenhang wirklich sehr interessant. Ich will ausdrücklich auf das verweisen, was das Bundesarbeitsministerium in Reaktion auf einen Bericht öffentlich erklärt hat.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Brauksiepe, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb?

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön. Sie waren schon eine Minute lang nicht dran. Daher habe ich Verständnis für die Zwischenfrage.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Brauksiepe, nachdem Sie uns hier gescholten und der ordnungspolitischen Nachlässigkeit geziehen haben, wollte ich fragen, wie Sie die Forderung Ihres Fraktionskollegen Peter Weiß beurteilen, der doch öffentlich gefordert hat, man solle die Hälfte der RiesterVorsorge bei der Anrechnung außen vor lassen. Das müsste dann mindestens ebenso verwerflich sein. Wie beurteilen Sie das? ({0})

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kolb, ich spreche hier als Sprecher der CDU/CSU-Fraktion für den Bereich Arbeit und Soziales. Was ich Ihnen sage, entspricht der Meinung der CDU/CSU-Fraktion. ({0}) Ich komme auf das zurück, was das Arbeitsministerium zu einem Fernsehbericht, in dem von Recherchen die Rede war - die Recherchen bestanden in einem Blick in das Gesetz -, erklärt hat. Ich will das hier vortragen, weil das völlig richtig ist: Armutsvermeidung erfolgt in der Erwerbsphase durch die Grundsicherung für Arbeitsuchende … und in der Ruhestandsphase durch die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung … Ich betone: Armutsvermeidung. Ich will deutlich sagen: Kein Sozialstaat der Welt ist perfekt, auch unserer nicht. Ich bin weit davon entfernt, zu sagen, dass wir in jedem Fall Armut vermeiden können. Aber ich wäre dankbar, wenn wir folgenden richtigen Grundsatz auch in anderen Debatten berücksichtigen würden: Derjenige, der arbeitet und eine Familie ernähren muss und, um das zu können, zusätzliche Sozialleistungen bekommt, ist nicht arm trotz Arbeit, sondern er bekommt diese Sozialleistung, damit Armut verhindert wird. Das Gleiche gilt für die Grundsicherung. Das sollten wir in der Debatte immer bedenken. ({1}) Ich komme auf den Gesetzentwurf zurück, den die damalige rot-grüne Regierung zu diesem Thema hier im Jahr 2000 eingebracht hat. Da hieß es ausdrücklich: Um verschämte Armut, insbesondere im Alter, zu verhindern, wird die Inanspruchnahme von Hilfe zum Lebensunterhalt dadurch erleichtert, dass auf den Unterhaltsrückgriff gegenüber Kindern und Eltern verzichtet wird. - Es ging um die Vermeidung von verschämter Altersarmut. Wir hatten damals unsere Bedenken wegen der unklaren Finanzierungslasten für die Kommunen. Da haben wir leider recht behalten. Die Frage der Aufteilung der Finanzen gibt bis heute Anlass zu permanentem Streit zwischen Bund und Kommunen. Aber es bestand doch Einigkeit darin: Arm ist insbesondere derjenige im Alter, der verbriefte Rechte, die er hat, nicht in Anspruch nimmt, aus Scham, aus Unwissenheit oder aus anderen Gründen. Wer diese Leistungen erhält, vermeidet, arm zu werden. Es ist falsch, in der Debatte ständig den Umstand, dass jemand Transfers bezieht, damit gleichzusetzen, dass er arm ist. Transferbezug ist kein Kennzeichen für Armut. ({2}) Es gibt erstaunliche Pressemitteilungen. In einer Pressemitteilung der grünen Kolleginnen Christine Scheel und Irmingard Schewe-Gerigk, die ich gelesen habe, wird erst einmal pflichtgemäß die Regierung beschimpft, und zwar für gesetzliche Zustände, die die rotgrüne Bundesregierung herbeigeführt hat. Dann schreiben Sie: Wir waren schon immer der Auffassung, dass die private Altersvorsorge nicht auf die gesetzliche Grundsicherung angerechnet werden darf. - Das ist schon erstaunlich. Sie haben in dem gemeinsamen Gesetzentwurf aus guten Gründen festgelegt, dass eine solche Anrechnung erfolgt. In der Begründung steht: Soweit das Kapital seiner Zweckbestimmung entsprechend im Alter aufgelöst wird, werden die daraus erzielten Einnahmen auf die Sozialhilfe angerechnet. Sie selbst haben das im Jahr 2001 beschlossen, und jetzt sagen Sie, Sie seien schon immer der Auffassung gewesen, die private Altersvorsorge dürfe nicht auf die gesetzliche Grundsicherung angerechnet werden. Für wie dumm oder vergesslich halten Sie die Menschen eigentlich, meine Damen und Herren von den Grünen? ({3}) Herr Kollege Gysi, jetzt können Sie mit dem Klatschen aufhören; jetzt komme ich nämlich zu Ihnen im Zusammenhang mit der Frage: Für wie dumm oder vergesslich halten Sie die Leute eigentlich? Ihre Fraktion hat sofort erklärt: Riester-Betrug sofort stoppen! Ich bin zugegebenermaßen kein Jurist, aber so viel weiß ich: Betrug ist eine Straftat. Jemanden nur deswegen, weil er anderer Meinung in der Sache ist, als Straftäter zu bezeichnen, ist eines Demokraten unwürdig. ({4}) Ich habe herausgesucht, wie eigentlich die rentenpolitische Bilanz dieser Partei, die sich zurzeit „Die Linke“ nennt und die auch einmal anders hieß, aussieht. Im Jahr 1989 hat der damalige SED-Chef, Erich Honecker, aus Anlass des 40. Jahrestages der DDR einmal kräftig etwas auf den Tisch gelegt ({5}) und hat kräftig die Mindestrente in der DDR auf 330 Mark erhöht. ({6}) Ich wiederhole: sage und schreibe 330 Mark, natürlich DDR-Mark. Die D-Mark wurde ja erst ein Jahr später - gegen den ausdrücklichen Widerstand von Oskar Lafontaine - mit der Währungsunion eingeführt. 330 DDR-Mark Mindestrente, das war Ihre Bilanz. ({7}) Das ist das, was Sie vorzuweisen haben. 480 Mark Höchstrente nach 45 Versicherungsjahren, das ist Ihre Rentenpolitik. Sie sind die Letzten, die einen Grund haben, uns Betrug vorzuwerfen. Die deutsche Einheit war ein Glücksfall für uns alle, und wir haben alle davon profitiert. Die DDR-Rentner haben in besonderem Maße von der deutschen Einheit profitiert. Das ist eine Tatsache. ({8}) Die Große Koalition muss nicht erst in Zukunft handeln, weil wir in diesen Fragen schon in der Vergangenheit gehandelt haben und es weiter tun. Wir stellen auch in diesem Jahr erhebliche Zuschüsse für sämtliche Säulen der Alterssicherung zur Verfügung. Auch in diesem Jahr sind im Bundeshaushalt fast 80 Milliarden Euro Zuschuss zur gesetzlichen Rentenversicherung vorgesehen. Wir haben schon im letzten Jahr beschlossen, zur Stärkung der betrieblichen Säule der Alterssicherung auch im nächsten Jahr und darüber hinaus die abgabenfreie Entgeltumwandlung für Betriebsrenten fortzuführen. Wir haben auch die dritte Säule der Alterssicherung, die private Säule, attraktiver gemacht. Wir haben zum 1. Januar dieses Jahres die Kinderzulage in der sogenannten Riester-Rente von 185 auf 300 Euro erhöht. Das heißt, wir haben bereits gehandelt. Wir haben auch durch die bürokratische Entrümpelung des Riester-Instrumentariums dafür gesorgt, dass es heute rund 10 Millionen sogenannte Riester-Verträge gibt, Tendenz stark steigend. Wir wissen: Die allermeisten von denjenigen, die noch keinen solchen Vertrag haben, tun etwas. Die allermeisten sparen für das Alter. Das ist auch richtig so. Die jungen Menschen planen keine Sozialhilfekarrieren. Sie überlegen sich als junge Menschen nicht, was sie tun müssten, um am Ende mehr als die Grundsicherung zu haben, sondern sie sorgen vor und das mit Recht. Die allermeisten handeln so. Jeder weiß: Die Chance auf eine Rente über Grundsicherungsniveau ist selbstverständlich umso größer, je mehr man privat tut. Deswegen muss die Botschaft lauten: Man muss etwas für die private Altersvorsorge tun. Deswegen unterstützt der Staat das. Das ist genau die richtige Politik. ({9}) Wir sind in der Großen Koalition selbstverständlich im Gespräch darüber, wie wir das sogenannte RiesterInstrumentarium noch verbessern können. Dabei geht es auch um die Förderung des Eigenheims im Zusammenhang mit der Altersvorsorge. Wir erwarten für Ende März den dritten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Der Bundesarbeitsminister hat ihn in dieser Woche im Ausschuss für diesen Termin angekündigt. Wir werden dann konkrete aktuelle Zahlen dazu haben, wie groß das Problem ist, sodass wir wissen, über wie viele Menschen wir jeweils reden. Die Erfahrungen und Erkenntnisse, die die Bundesregierung uns mitteilt, werden selbstverständlich einfließen, wenn es darum geht, ob und gegebenenfalls an welchen Stellen wir die private Altersvorsorge über die schon heute bis zu 90-prozentige Bezuschussung hinaus mit staatlicher Förderung noch attraktiver machen können. Völlig klar ist: Es ist richtig, dass man die Fördermöglichkeiten nutzt, die schon jetzt da sind. Auch die Verbraucherschützer sagen vor dem Hintergrund der Debatten in diesen Tagen völlig zu Recht: Niemand sollte auf die Zulagen verzichten, die er für seine private Altersvorsorge bekommt. Es ist richtig, sie in Anspruch zu nehmen. Es ist politisch richtig, sie anzubieten. Es wäre völlig falsch, auf die umfangreichen Fördermöglichkeiten zu verzichten. Wir werden die Debatten fortsetzen, wenn die neuen Erkenntnisse aus dem dritten Armutsund Reichtumsbericht vorliegen. Völlig klar ist schon heute auch: Die Warnungen vor dem Abschluss eines Vertrages über eine Riester-Rente sind völlig fehl am Platze. Das Gegenteil ist richtig. „Bitte weiter riestern!“, so hat das Handelsblatt gestern einen Beitrag überschrieben. Diesen Appell teilen wir. Das ist genau der richtige Weg. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Dr. Gregor Gysi von der Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Brauksiepe hat hier von Erich Honecker gesprochen. Ich finde das interessant. Ich bin ihm in meinem Leben nie begegnet, aber die erste Reihe Ihrer beiden Parteien hatte ihn ja ständig auf dem Sofa. Ich hoffe, Sie erzählen mir mal, wie der so war. ({0}) Davon abgesehen geht es heute um die Riester-Rente und damit um die Veränderungen in der Rentenpolitik, die allerdings von SPD und Grünen eingeleitet worden sind. Sie haben die Rentenformel der gesetzlichen Rente verändert. Sie haben gesagt: Die Rentenentwicklung wird nicht mehr an die Produktivität gekoppelt. Sie begründeten das mit der Demografie; aber ich sage Ihnen: Produktivität schlägt Demografie. Das war Ihr entscheidender Fehler, und zwar ein Fehler, der auch zur Altersarmut führt. ({1}) 1990 spiegelte die gesetzliche Rente 75 Prozent der durchschnittlichen Löhne und Gehälter wider. Heute sind wir bei 51 Prozent, angestrebt werden 40 Prozent. Ergo haben Sie auch gewusst, dass Sie Altersarmut organisieren. Das ist das eigentliche Problem. ({2}) Alle Veränderungen, die damit in Zusammenhang stehen, waren diesbezüglich durchdacht. Im Osten wird Altersarmut ganz verschärft auftreten, aber ebenso im Westen. Auch das wissen Sie. Sie wird nicht bei den heutigen Rentnerinnen und Rentnern auftreten - bei denen ist es zum Teil schon schlimm genug -, sondern bei denen, die jetzt arbeiten und die dann nur Anspruch auf Minirenten haben. Warum? Sie von SPD und Grünen waren nicht bereit, die alte Formel aufrechtzuerhalten. Zu Beginn Ihrer Regierungszeit haben Sie sie zwar wieder eingeführt und die Kohl-Formel abgeschafft. ({3}) Ein Jahr später hat sich Schröder aber bei Union und FDP entschuldigt und die Kohl-Formel wieder eingeführt. Das war damals die Wahrheit. Sie waren auch nicht bereit, zu sagen: Wir machen eine Rentenreform und beziehen sämtliche Einkommen in die Rentenzahlungen ein, so wie es in der Schweiz der Fall ist. Sie waren nicht bereit, die Beitragsbemessungsgrenzen anzuheben bzw. aufzuheben. Der große Vorteil wäre doch endlich einmal eine Entlastung der Mittelschicht; denn die durchschnittlich Verdienenden müssen doch einen höheren Prozentsatz bezahlen, weil Sie die Bezieher hoher Einkommen nicht in die gesetzliche Rentenversicherung einbeziehen. Kommen Sie mir ja nicht mit dem Argument, dass das dann zu extrem hohen Rentenauszahlungen führen würde. Man kann die Rentensteigerung abflachen. Das hat auch das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer solidarischen Versicherung erlaubt. Es gäbe Lösungen. Sie aber sind den Weg der Armutsrente gegangen, und zwar zum Nachteil der Gering- und Durchschnittsverdiener. Das ist das Problem. ({4}) Nun wussten Sie ja, dass damit eine geringere Rente verbunden ist. So sind Sie auf die Idee der Riester-Rente gekommen. In diesem Zusammenhang haben Sie sich entschlossen, die Geringverdiener und andere zu unterstützen, und deshalb die staatlichen Zuschüsse eingeführt. Nun ist es ja zum Ersten so, dass die staatlichen Zuschüsse zunächst einmal der Allianz und anderen privaten Versicherungen zugute kommen. Das kann man ja nicht leugnen. Zum Zweiten sparen Sie, sofern eine Riester-Rente vorhanden ist, bei den Ausgaben für die Grundsicherung, weil die Riester-Rente ja angerechnet wird. ({5}) Ergo: Die Zuschüsse, die Sie jetzt zahlen, sparen Sie später, indem Sie weniger für die Grundsicherung aufwenden müssen. Man muss nur einmal darauf hinweisen, damit diese Tatsachen auch der Bevölkerung bekannt werden. ({6}) - Die Allianz Versicherung ist ja auch sehr dankbar. Ich habe Ihnen das schon einmal dargelegt. Sie hat an Sie 60 001 Euro gespendet, an die Union 60 001 Euro, die CSU hat diese noch einmal extra bekommen. Die Grünen haben 60 001 Euro bekommen. ({7}) Die FDP hat sich daneben benommen und hat nur 50 001 Euro bekommen. ({8}) Wir haben gar nichts bekommen. Ich halte es für wichtig, dass es noch eine Partei im Bundestag gibt, die nicht von der Allianz gesponsert wird. Das sage ich Ihnen auch ganz klar. ({9}) Nun kommen wir auf das Beispiel aus der Sendung Monitor. Worum ging es da eigentlich? Machen wir es einmal ganz deutlich: Es geht um zwei Verkäuferinnen, die beide ein Einkommen von 1 000 Euro haben. Beide erhalten einen Werbebrief, in dem die Riester-Rente als ganz toll dargestellt wird. Gerade weil sie so wenig verdienen, sollten beide sie abschließen. Die eine entscheidet sich dafür, die Riester-Rente abzuschließen und die Beiträge zu zahlen. Die andere sagt, sie habe so wenig, sie brauche das Geld, was sie für die Beiträge aufwenden müsste, für Lebensmittel und schließt keinen RiesterVertrag ab. Beide bekommen später eine so geringe Rente, dass sie davon gar nicht leben können. Ergo bekommen sie die Grundsicherung. ({10}) - Dazu, als Sozialleistung. - Nun sagen Sie den beiden: In dem einen Fall wird die Riester-Rente angerechnet, dadurch fallen die Zahlungen zur Sicherstellung der Grundsicherung etwas geringer aus. In dem anderen Fall, wo es keine Riester-Rente gibt, fallen die Zahlungen zur Sicherstellung der Grundsicherung höher aus. Beide bekommen aber am Schluss den gleichen Betrag. ({11}) Sie können doch nicht leugnen, dass die Verkäuferin, die über Jahre Beiträge zur Riester-Rente gezahlt hat, sich am Ende betrogen fühlt. Das ist doch einfach so. ({12}) Sie sagt sich nämlich: Hätte ich die Beiträge nicht bezahlt, bekäme ich höhere staatliche Sozialleistungen und hätte früher Monat für Monat mehr ausgeben können. Das ist doch ganz einfach. Nun sagen Sie mir - das sagte auch schon Herr Riester -, das ist wie bei Sparguthaben bzw. höherer gesetzlicher Rente. Das stimmt erstens bei höherer gesetzlicher Rente nicht. Hier ist es ja zunächst einmal so, dass man zu den Zahlungen verpflichtet ist; das ist ein großer Unterschied zur Riester-Rente, die noch freiwillig ist. Bei der gesetzlichen Rente muss ich zahlen, und mehr, als ich zahlen muss, darf ich auch gar nicht zahlen. Das ist hier der Unterschied. Zweitens stimmt es bei Sparguthaben nicht: Diese haben Sie auch gar nicht beworben. Aber Sie haben einen ungeheuren Werbefeldzug für die Riester-Rente gestartet. Nirgendwo haben Sie geschrieben: Geringverdiener, passt auf, wenn ihr später weniger als die Grundsicherung erhaltet, nutzt euch das Ganze gar nichts. Dann habt ihr zwar die Beiträge bezahlt, aber ihr bekommt keinen Euro mehr als diejenigen, die nicht eingezahlt haben. - Das haben Sie nie erklärt. Dazu darf man - das tut mir leid - Anlagebetrug sagen. ({13}) Wie könnte man das Problem lösen? Das ist ja auch spannend. Jetzt wird die ganze Anrechnungsproblematik ordnungspolitisch diskutiert. Es versteht zwar draußen keiner; das Gleiche gilt ja auch für die Formeln, die Sie, Herr Brauksiepe, angeführt haben. Wer soll all das nachvollziehen? ({14}) Aber das ist ja egal. Wir diskutieren jetzt ordnungspolitisch darüber. Da ist ja auch etwas dran; das alles ist ja sehr kompliziert, und man stellt sich die Frage, warum das eine nicht angerechnet wird, aber das andere. Ergo brauchen wir eine andere Herangehensweise: Sie müssen die alte gesetzliche Rentenformel wieder einführen. Sie müssen die Rentnerinnen und Rentner zukünftig wieder an der gesellschaftlichen Produktivitätsentwicklung beteiligen. Das ist das Entscheidende. ({15}) Ich sage noch einmal: Wir müssen als Nächstes alle Einkommen zur Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung heranziehen. Wir müssen das Grundprinzip aus der Schweiz übernehmen, wo man sagt: Es ist zwar wahr, dass die Millionäre keine gesetzliche Rentenversicherung benötigen, aber die gesetzliche Rentenversicherung benötigt die Millionäre. Diesen Grundsatz müssen wir durchsetzen. ({16}) Wir müssen darüber hinaus - ich habe es schon gesagt die Beitragsbemessungsgrenzen an- bzw. aufheben. Zu diesen mutigen Schritten sind Sie aber nicht bereit, obwohl sie für die Zukunft unserer Gesellschaft und für die Zukunft der Rentnerinnen und Rentner dringend erforderlich wären. Neben diesen mutigen Schritten gäbe es aber noch eine andere Möglichkeit. Sie könnten sagen: Wer später eine Grundsicherung bekommt und ergo nichts von seinen Beiträgen hat, der bekommt Schadenersatz. Sie müssten dann die Beiträge mit Zinsen zurückzahlen. Das wäre übrigens ein Weg, der bei Betrug üblich ist und deswegen nicht völlig aus der Welt ist. ({17}) Diesen Weg werden Sie aber auch nicht gehen. Nun werden Anrechnungsmodelle ins Spiel gebracht. Man könnte sie ausnahmsweise - nicht im Prinzip rechtfertigen, weil es eine Fehlinformation durch die Bundesregierung gab. Aber eine Lösung bringt auch das nicht. Eine Lösung gibt es nur, wenn Sie den mutigen Weg gehen, die Rentnerinnen und Rentner wieder an der Produktivitätsentwicklung zu beteiligen, und den Abgeordneten, Anwälten sowie den Ärztinnen und Ärzten sagen, dass sie künftig ebenfalls in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen müssen. Wir können die Beiträge sogar senken, wenn die höheren Einkommen herangezogen werden. Tun Sie also endlich etwas für die Geringverdienenden und für die Durchschnittsverdiener und nicht nur für die Topverdiener, wie das bisher der Fall ist. Damit können wir den - so nenne ich es - Anlagebetrug beseitigen. Es ist ein Anlagebetrug, weil Sie die Geringverdienenden getäuscht haben, indem Sie ihnen gesagt haben, dass es so wichtig ist, diese Rente abzuschließen. Jetzt sagen Sie aber: Ihr habt zwar einen Beitrag gegen Armut geleistet, aber er nutzt euch nichts. - Das ist nicht hinnehmbar. Danke. ({18})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Gregor Amann von der SPD-Fraktion. ({0})

Gregor Amann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003731, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Dr. Gysi, dass Ihre Partei möglicherweise keine Spende von der Allianz bekommen hat, scheint eine dramatische Erfahrung für Sie zu sein. ({0}) Denn Sie haben darüber schon mehrfach im Parlament gesprochen. Da ich aber weiß, dass Sie von dem nicht geringen Vermögen der SED genügend Geld in die Bundesrepublik Deutschland herüberretten konnten, hält sich mein Mitleid in engen Grenzen. ({1}) Zu den großen historischen Errungenschaften der Bundesrepublik Deutschland gehört die Beseitigung der Altersarmut. Das bedeutet nicht, dass es in Deutschland keine alten Menschen gibt, die in Armut leben. Aber es ist bei uns kein Massenphänomen, wie es in anderen Ländern der Fall ist und wie es zu anderen Zeiten in Deutschland der Fall war. ({2}) Nur knapp 3 Prozent der über 65-Jährigen leben heute von der Grundsicherung im Alter. Das bedeutet umgekehrt, dass über 97 Prozent nicht auf staatliche Unterstützung zum Lebensunterhalt angewiesen sind. Andere Bevölkerungsgruppen in der Bundesrepublik haben ein deutlich höheres Armutsrisiko. Aber natürlich muss es unser Bestreben sein, diesen Erfolg auch langfristig zu sichern. Insofern ist das in der Überschrift des FDP-Antrags formulierte Ziel in Ordnung. Wir sollten dabei allerdings vermeiden - dabei schaue ich wieder nach links -, Angst zu schüren und die Menschen zu verunsichern. Stattdessen sollten wir sehr seriös mit den Risiken umgehen, die zur Altersarmut führen können. Es gibt dabei zwei Problemfelder. Zum einen - Herr Dr. Gysi hat es schon angesprochen - sinkt das Versorgungsniveau der gesetzlichen Rentenversicherung. Das ist kein Geheimnis. Ich bin sogar dafür, das allen Menschen offen zu sagen. Denn es ist kein Betriebsunfall, sondern es ist das bewusst angestrebte Ziel von notwendigen Entscheidungen dieses Parlaments in den vergangenen Jahren. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Amann, darf ich Sie unterbrechen? Der Kollege Gysi würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Gregor Amann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003731, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn es zum Erkenntnisgewinn der Linken beiträgt.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wie herum, werden wir sehen. - Ich habe eine Frage zu einem Punkt, der schon ein bisschen zurückliegt. Würden Sie einräumen, dass der Hauptunterschied zwischen der Riester-Rente und der gesetzlichen Rente darin besteht, dass bei der gesetzlichen Rente die Wirtschaft die Hälfte der Beiträge zahlt und bei der RiesterRente die Wirtschaft gar nichts zahlen muss? Das ist der Grund, warum die Riester-Rente anders organisiert worden ist. ({0})

Gregor Amann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003731, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich gebe zu, dass es bei der Riester-Rente keinen Arbeitgeberanteil gibt. ({0}) Ich habe nicht verstanden, worauf Sie mit Ihrer Frage hinauswollen. Ich will daher mit meinen Ausführungen fortfahren. Die Absenkung des Versorgungsniveaus der gesetzlichen Rente - davon sprach ich gerade - ist deshalb notwendig, weil die Grundlage unseres umlagefinanzierten Rentensystems seit Jahren einem dramatischen Wandel unterworfen ist: auf der einen Seite die steigende Lebenserwartung - Stichwort: Rentenbezugsdauer - und auf der anderen Seite die sinkende Geburtenrate. Ohne die Reformen, die wir vollzogen haben, würde unsere gesetzliche Rentenversicherung über kurz oder lang zahlungsunfähig werden. Mit anderen Worten: Durch das bewusst herbeigeführte Absinken des Rentenniveaus haben wir überhaupt erst dafür gesorgt, dass zukünftige Rentnergenerationen aus der gesetzlichen Rentenversicherung eine Rente beziehen können. ({1}) Das hat zu einem Paradigmenwechsel geführt. Die Altersversorgung wird zukünftig auf drei Säulen beruhen müssen: auf der gesetzlichen Rente, der privaten und der betrieblichen Altersvorsorge. Das zweite Problemfeld, mit dem wir uns natürlich beschäftigen müssen, ist, dass die Zahl der Menschen mit geringem Einkommen zunimmt. Nach dem Äquivalenzprinzip bedeuten niedrige Löhne auch niedrige Rentenansprüche. Die Zahl der Menschen mit Brüchen in der Erwerbsbiografie nimmt zu, und die Zahl der Selbstständigen und Scheinselbstständigen ohne irgendeine Altersvorsorge steigt. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Amann, ich möchte Sie noch einmal unterbrechen. Der Kollege Spieth möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.

Gregor Amann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003731, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Amann, Sie sagten, dass die gesetzliche Rentenversicherung angesichts der demografischen Entwicklung und der Einkommensentwicklung zukünftig nicht mehr in der Lage gewesen wäre, Rentenzahlungen zu gewährleisten. Sind Sie wirklich so vermessen, zu behaupten, dass diejenigen, die auf der Grundlage von umfassenden Studien 1989, und zwar ausgerechnet am 9. November 1989, das Rentenreformgesetz verabschiedet haben, genau darauf keine Rücksicht genommen haben? Mit Projektion auf das Jahr 2030 ist damals gesagt worden: Wir machen eine Rentenreform - sie ist übrigens 1992 wirksam geworden -, damit wir in Zukunft einen Beitrag in Höhe von 28 Prozent fordern können, aber paritätisch finanziert, von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu je 14 Prozent. In der Konsequenz sollte, auch unter Berücksichtigung der demografischen Entwicklung, eine lebensstandardsichernde Rente bezahlbar sein. Das war damals der einheitliche Wille des Deutschen Bundestages. Das wurde am 9. November 1989 beschlossen. Sind Sie nicht der Auffassung, dass durch die massiven Veränderungen, die damals im Rentenrecht stattgefunden haben, eine lebensstandardsichernde Rente hätte gewährleistet werden können? Sind Sie nicht der Auffassung, dass Sie mit der Einbeziehung der Riester-Rente am Ende zwar auch einen Beitragssatz von 28 Prozent erreichen werden, der Arbeitgeberbeitrag zur paritätisch finanzierten Rente, die nicht mehr armutsfrei ist, aber nur noch 11 Prozent beträgt? Der Arbeitnehmer muss 17 Prozent leisten, nämlich 11 Prozent für die gesetzlichen Rentenversicherung und 6 Prozent für die private Absicherung. Sind Sie nicht auch der Auffassung, dass es nahe am Betrug der Öffentlichkeit ist, wenn man heute behauptet, die Rentenreform von 1992 wäre nicht lebensstandardsichernd gewesen und hätte all diese Aspekte nicht hinreichend berücksichtigt? ({0})

Gregor Amann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003731, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich glaube, Sie haben gerade die Redezeit Ihres Kollegen überschritten, dem offiziell Redezeit eingeräumt wurde. Ich bleibe bei meiner Meinung: Aufgrund des demografischen Wandels käme das umlagefinanzierte System sehr wohl in Probleme und wäre auf Dauer nicht finanzierbar. Natürlich gibt es Alternativen zur Absenkung des Rentenniveaus. Man kann natürlich auch den Beitragssatz entsprechend in die Höhe schrauben. Ich glaube aber, dass das keine kluge Entscheidung wäre. ({0}) Da gibt es Grenzen, weil die Lohnnebenkosten eine Rolle spielen und Arbeit unter Umständen unbezahlbar machen. Wenn die Lohnnebenkosten steigen, steigt ja nicht nur die Belastung der Arbeitgeber, sondern auch die Belastung des einzelnen Arbeitnehmers, der das auch bezahlen muss. ({1}) Es kann doch nicht sein, dass zukünftige Beitragszahler quasi zu Sklaven zukünftiger Rentnergenerationen werden und deren Rente bezahlen müssen. Da es für die Höhe des Rentenversicherungssatzes Grenzen gibt, ist Ihre Alternative kein gangbarer Weg. ({2}) Wir müssen sehr wohl darüber nachdenken, wie wir Altersarmut in Zukunft verhindern können. Was ist notwendig? Aufgrund der Kopplung von Löhnen und Renten - diese Kopplung ist sehr sinnvoll, auch wenn der Abgeordnete Lafontaine in der gestrigen Aussprache meinte, diesen Zusammenhang ignorieren zu können; sie ist sinnvoll, weil Löhne und Renten die Einnahme- und Ausgabenseite desselben Systems darstellen - ist die wichtigste Maßnahme zur Verhinderung von Altersarmut eine gute Wirtschaftspolitik, die für Wachstum und Beschäftigung sorgt. Hier hat diese Regierung einige Erfolge vorzuweisen. Denn die daraus resultierenden Lohnsteigerungen führen auf der einen Seite zu mehr Einnahmen der Rentenversicherung und auf der anderen Seite zu höheren individuellen Rentenansprüchen. Es ist nicht Aufgabe der Politik, in Tarifverhandlungen einzugreifen. Dennoch wünsche ich den Gewerkschaften von dieser Stelle aus viel Erfolg für ihre Tarifverhandlungen in diesem Jahr. Angesichts des enormen Anstiegs der Unternehmensgewinne und der Managergehälter in der jüngsten Zeit ist sehr wohl ein finanzieller Spielraum vorhanden, um die Arbeitnehmer am Wirtschaftsaufschwung zu beteiligen. Genauso wichtig, um Geringverdiener vor Altersarmut zu schützen - um die geht es in dem Antrag -, ist natürlich - da hatte Kollege Anton Schaaf gestern vollkommen recht, Herr Dr. Kolb - die Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns. ({3}) Ich wiederhole: Höhere Löhne führen zu höheren Rentenansprüchen. ({4}) All das sucht man im Antrag der FDP vergebens. Stattdessen verstärken Sie die Verunsicherung der Menschen, denen in unverantwortlichen und schlecht recherchierten Medienberichten suggeriert wird, die private Altersvorsorge in Form von Riester-Verträgen lohne sich nicht für Geringverdiener. Dabei ist die staatliche Förderung bei der Riester-Rente gerade für Geringverdiener besonders attraktiv. Die Kombination von gesetzlicher Rentenversicherung, Riester-Vertrag und einer betrieblichen Altersvorsorge wird verhindern, dass Menschen in Altersarmut geraten. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Amann, es droht eine dritte Zwischenfrage. Herr Kollege Rohde möchte Ihnen diese stellen.

Gregor Amann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003731, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. - Herr Kollege Amann, Sie haben gerade von schlecht recherchierten Medienberichten gesprochen. Es gab mehrere Medienberichte, zum Beispiel von Plusminus und Monitor. ({0}) Diese Kritik wurde von den Magazinen zurückgewiesen. Davon einmal abgesehen, wir haben bereits zwei Monate vorher eine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet und eindeutige Aussagen erhalten, dass hier ein Problem besteht. ({1}) Die Frage, die Herr Gysi aufgeworfen hat und die auf unserem Antrag basiert, lautet: Soll es möglich sein, dass jemand, der eine Riester-Rente abschließt, später genauso viel hat wie jemand, der keine Riester-Rente abschließt? Das ist die Kernfrage. Die Abgeordneten der SPD und auch der Arbeitsminister sind der Beantwortung dieser Frage bisher ausgewichen. ({2}) Deswegen frage ich Sie noch einmal ganz deutlich: Wie stehen Sie zu dieser Kernfrage? ({3})

Gregor Amann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003731, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn ich einmal davon ausgehe, dass die FDP nicht nur die Interessen der Versicherungswirtschaft vertritt - das würde ich Ihnen auch nie unterstellen -, ({0}) dann müssen Sie, wenn Sie die Riester-Rente bei der Einkommensanrechnung nicht berücksichtigen, aufgrund des Grundsatzes der Gleichbehandlung alle anderen Sparformen konsequent genauso behandeln. ({1}) Dann dürfen Sie private Sparkonten, die Betriebsrente, das Häuschen, das jemand hat, und die Aktien, die er sich vielleicht im Laufe seines Lebens für die Altersvorsorge gekauft hat, nicht berücksichtigen. Wenn Sie das alles nicht berücksichtigen, dann verwandeln Sie die Grundsicherung im Alter zu einer bedarfsunabhängigen Grundrente. ({2}) Das ist ein völlig anderes Konzept als das, das wir heute haben. Das kann man wollen; aber dann sollten Sie das auch sagen. Sie sollten den Menschen dann auch sagen, was das kostet. Das ist der falsche Weg. ({3}) - Aus meiner Sicht schon. Die Grundsicherung ist keine allgemeine Grundrente, Herr Rohde, sondern eine bedarfsorientierte Transferleistung, die denen helfen soll, die es aus eigener Kraft nicht schaffen. Wir Sozialdemokraten stehen zu dieser gesellschaftlichen Solidaritätsleistung. Ja, wir haben sie sogar zusammen mit den Grünen im Jahr 2003 eingeführt. Aber die Forderung in Ihrem Antrag, bei der Bedürftigkeitsprüfung die private oder betriebliche Altersvorsorge nicht oder zumindest nur teilweise zu berücksichtigen, stellt - das habe ich gerade versucht zu sagen - das Nachrangigkeitsprinzip unseres Sozialstaats auf den Kopf. Denn diese Forderung räumt der aus Steuermitteln finanzierten Fürsorgeleistung Vorrang ein vor der Eigenverantwortung des Einzelnen. Wenn man dies konsequent zu Ende denkt, gibt es überhaupt keinen Grund, eigenverantwortlich für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, solange es die Möglichkeit des Bezugs von Transferleistungen gibt. Da sich die FDP in dieser entscheidenden Frage erstaunlicherweise mit der Linkspartei trifft und auf derselben Linie denkt ({4}) - Sie haben die gleiche Gedankenwelt wie die Linkspartei -, ({5}) erlauben Sie mir als Sozialdemokrat zum Abschluss einen gut gemeinten Rat: Ich weiß, dass es in Ihrer Partei derzeit eine für mich durchaus nachvollziehbare große Unzufriedenheit mit dem derzeitigen Parteivorsitzenden Guido Westerwelle gibt. ({6}) Ich rate Ihnen dennoch, ihn nicht durch Oskar Lafontaine zu ersetzen. Danke. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Jörg Rohde von der FDP-Fraktion. ({0})

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Als Erstes muss ich den Vorwurf zurückweisen, dass wir mit Herrn Westerwelle unzufrieden sind. ({0}) Ich möchte daran erinnern, dass wir gerade über einen Antrag diskutieren, der von der FDP-Bundestagsfraktion unter Führung von Guido Westerwelle erarbeitet worden ist. Wir haben diesen Antrag im November letzten Jahres gemeinsam verabschiedet. Das bedeutet, dass wir als Gesamtfraktion hinter unserer Forderung stehen. Das deckt sich nicht mit dem Populismus der Linksfraktion. Vielmehr handelt es sich um einen sachorientierten Vorschlag, wie in einer speziellen Frage, deren Beantwortung Sie eben ausgewichen sind, verfahren werden könnte. Ich möchte einen weiteren wesentlichen Unterschied herausstellen: Bei der gesetzlichen Rentenversicherung handelt es sich um eine Pflichtversicherung, während die anderen Elemente, über die wir diskutieren, freiwilliger Natur sind. ({1}) Wir brauchen einen Freibetrag, um einen Anreiz zu schaffen, damit die Leute freiwillig vorsorgen. ({2}) Auf diese Fragen hätte ich von den Vertretern der Regierungsparteien gerne Antworten gehört. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Amann, wollen Sie erwidern? - Bitte schön. ({0})

Gregor Amann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003731, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Einen nicht unbeträchtlichen Teil Ihrer Kurzintervention haben Sie dazu genutzt, uns klarzumachen, wie zufrieden Sie mit Guido Westerwelle sind; ({0}) das nehme ich zur Kenntnis. Da ja immer böse Berichte in den Zeitungen stehen, scheint es Ihnen ein großes Anliegen zu sein, uns das mitzuteilen. Zum inhaltlichen Teil Ihrer Kurzintervention. Ich könnte Ihnen meine Rede jetzt noch einmal vorlesen; ich weiß nicht, ob der Herr Präsident das zulassen würde. Ich überlasse es meinen beiden Kollegen, die nach mir sprechen werden, Ihnen noch einmal zu erklären, warum das, was Sie vorschlagen, nicht sinnvoll ist. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt hat das Wort die Kollegin Christine Scheel vom Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte hervorheben, ({0}) dass wir die Einführung der Grundsicherung im Alter ({1}) deswegen massiv unterstützt haben, weil dadurch verschämte Altersarmut bekämpft werden kann. Menschen, die ins Rentenalter kommen, werden angeschrieben und darauf aufmerksam gemacht, dass sie möglicherweise einen Anspruch auf Grundsicherung im Alter haben. Das war ein Riesenfortschritt, den wir in diesem Hause gemeinsam beschlossen haben. ({2}) Der zweite Erfolg ist, dass heute jeder Einzelne immer wieder Mitteilungen bekommt, denen er entnehmen kann, wie hoch seine Versorgungsansprüche im Alter sind, sodass er sich darauf einstellen kann, zusätzlich vorsorgen zu müssen; auch das ist ein Riesenfortschritt. Dadurch wird gewährleistet, dass im Alter keine große Überraschung in der Form auf einen zukommt, dass man dann denkt: Um Himmels willen, ich habe mit etwas ganz anderem gerechnet! - Vielmehr wird man jetzt kontinuierlich unterrichtet und kann sich auf das, was einen erwartet, einstellen. Der dritte Punkt ist, dass bis auf die Linkspartei alle wissen, dass wir aufgrund der demografischen Entwicklung ({3}) und in Anbetracht der Frage, welche Beitragssätze in unserer Marktwirtschaft zumutbar sind, ({4}) um die vorhandenen Arbeitsplätze erhalten zu können, gemeinsam eine Stärkung der privaten und der betrieblichen Altersvorsorge beschlossen haben.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Scheel, Herr Spieth würde auch Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. - Sie wollen das nicht?

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein. Da ich diese Debatte aufmerksam verfolgt habe, habe ich gehört, was er vorhin gesagt hat. Ich vermute, dass er jetzt wieder darlegen will, wie die Situation 1989 war. Dieses Argument kenne ich schon. Aus diesem Grunde möchte ich gerne mit meinen Gedanken fortfahren. ({0}) Wichtig ist: Die private und die betriebliche Altersvorsorge müssen stark sein. Sie müssen in Zukunft vor allem für junge Leute eine hohe Relevanz haben, damit sie sich im Alter einen bestimmten Lebensstandard leisten können und nicht nur auf die Leistungen der gesetzlichen umlagefinanzierten Rentenversicherung angewiesen sind. Diese Meinung teilen bis auf die Linkspartei alle Fraktionen hier; das sehe ich am Nicken der Kollegen. Das Handelsblatt hat gestern noch etwas anderes geschrieben, lieber Kollege Brauksiepe: „Koalition bangt um Ruf der Riester-Rente“. In der Tat besteht große Verunsicherung darüber, ob es Sinn macht, eine RiesterRente abzuschließen. Doch wie die Koalition immer sagt, brauchen wir die Bereitschaft der Leute, für das Alter zusätzlich vorzusorgen. Deshalb ist es ein Riesenproblem, wenn wir eine solche Debatte haben. Ich teile ein Stück weit die Zielsetzung des FDP-Antrages. ({1}) Die Altersvorsorge muss für Bürger und Bürgerinnen mit kleinem Einkommen in der Tat attraktiver gemacht werden; das ist überhaupt keine Frage. ({2}) Der konkrete Vorschlag der FDP löst bei uns allerdings keine Begeisterung aus. ({3}) Wir haben die komplizierten Hinzuverdienstregelungen beim Arbeitslosengeld II immer kritisiert. Jetzt wollen Sie diese komplizierten Hinzuverdienstregelungen auf die private Altersvorsorge übertragen. Das kann es auch nicht sein. Deswegen trägt dieser Vorschlag zur Verwirrung bei. ({4}) Wir Grünen haben uns immer für die Riester-Rente eingesetzt. Damit wurde ein Kulturwandel, ein Bewusstseinswandel in der Bevölkerung ausgelöst. Mittlerweile sind, wie gesagt, 10 Millionen Riester-Verträge abgeschlossen. Das ist auch gut so. Aber ich sage an dieser Stelle ganz bewusst auch: Ich verstehe die Empörung, die durch die kritischen Fernsehsendungen in der Bevölkerung ausgelöst wurde, verstehe, dass man sich darüber wundert, dass man, obwohl man bereit ist, zusätzlich etwas für das Alter zu tun, später nichts mehr davon haben soll. Das ist das Problem, mit dem wir uns hier auseinandersetzen müssen. ({5}) Aus diesem Grund haben wir, wie Sie wissen, schon während der rot-grünen Regierungszeit das Altersvorsorgekonto vorgeschlagen. Wir haben damals in den zuständigen Ausschüssen lange darüber diskutiert, wie ein solches Altersvorsorgekonto funktionieren kann, auf das man alle möglichen Verträge - die Riester-Rente, aber auch andere Produkte - übertragen kann und das dann bis zu einer bestimmten Größenordnung steuerfrei gestellt wird. ({6}) Als Größenordnung schwebten uns 3 000 Euro vor; das liegt über dem heutigen Niveau. Wir haben vorgeschlagen, dass das dann geschützt ist, weil es sich um eine freiwillige private Altersvorsorge handelt. Sie ist nicht verpflichtend. ({7}) Das ist die Idee, die wir hier eingebracht haben, weil wir sehen, dass wir angesichts des rasanten Wandels in der Arbeitswelt immer unstetere und unsicherere Erwerbsbiografien haben. Die Vorsorgesparer fragen sich natürlich zu Recht, ob es sich überhaupt lohnt, zusätzlich etwas zurückzulegen, wenn dies am Ende voll mit der Grundsicherung verrechnet wird; denn zusätzliche Vorsorge ist ja nicht zum Nulltarif zu haben. ({8}) Die Stiftung Warentest hat letztens klassische Rentenversicherungen verglichen. Wer 25 Jahre lang jedes Jahr rund 1 000 Euro einzahlt, kann mit einer garantierten Rente von 120 Euro im Monat rechnen. Ich denke, wir sollten in den Ausschüssen durchaus überlegen, wie wir mit solchen Zusatzrenten umgehen. ({9}) Schwierig wird es für Bürger und Bürgerinnen mit kleinem Erwerbseinkommen; sie werden trotz zusätzlicher Altersvorsorge häufig kaum über das Niveau der Grundsicherung hinauskommen. Gerade für diese Bürger und Bürgerinnen haben wir die Riester-Rente eingeführt, bei der für die kleinen Einkommen übrigens Förderquoten von bis zu 90 Prozent vorgesehen sind - zu Recht. ({10}) Wir müssen den Leuten aber sagen, dass es sich auch bei sehr niedrigen und unsteten Erwerbseinkommen durchaus rechnet, ein paar Euros für das Alter beiseitezulegen. Das ist der Punkt. Man kann nicht sagen: Pech gehabt, selbst schuld! Deswegen haben wir das Altersvorsorgekonto vorgeschlagen. Klar ist aber auch, dass wir das Problem der Altersarmut nicht allein mit einer Begrenzung der Verrechnung der Altersvorsorge mit der Grundsicherung lösen können ({11}) und dass aus nicht existenzsichernden Löhnen keine Renten folgen können, die über der Grundsicherung liegen - auch dann nicht, wenn man 50 Jahre lang arbeitet. ({12}) Darum brauchen wir eine Entlastung der Empfänger kleiner Einkommen. Dazu haben wir die Einführung unseres Progressivmodells - auch das hat etwas damit zu tun - und gleichzeitig eine höhere Bewertung der Rentenbeiträge von Geringverdienern gefordert. ({13}) Wir fordern: Die umlagefinanzierte gesetzliche Rente muss sicherer werden. Das heißt, wir brauchen ein anderes Bewertungssystem. ({14}) Mit der Halbierung der Rentenbeiträge für Langzeitarbeitslose hat die Regierung im Übrigen dazu beigetragen, dass zukünftig mehr Bürgerinnen und Bürger im Alter Grundsicherung beziehen müssen. Sie haben das mit ausgelöst. In Zukunft werden also leider mehr als 3 Millionen Menschen Grundsicherung im Alter beziehen. Ich finde, wer Altersarmut heute und in Zukunft vermeiden will, muss heute die entsprechenden Weichen stellen. Wir Grünen wollen die Rentenbeiträge von Geringverdienern höher bewerten und gute und attraktive Bedingungen für die betriebliche und private Altersvorsorge schaffen; denn die Bürgerinnen und Bürger - vor allem die jungen Leute - müssen bereits heute vorsorgen. Wer eine gute Altersvorsorge will, braucht einen langen Atem. Danke schön. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Frank Spieth. Ich erkläre aber gleichzeitig, dass ich danach wegen der fortgeschrittenen Zeit an diesem Freitagnachmittag keine weiteren Kurzinterventionen mehr zulassen werde. - Herr Spieth.

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, Herr Präsident. - Frau Scheel, ich bedauere es, dass Sie mir nicht die Möglichkeit eingeräumt haben, eine Zwischenfrage zu stellen, sodass ich mich zu einer Kurzintervention melden musste; denn jetzt ist mein Beitrag etwas aus dem Zusammenhang gerissen. Sie haben vorhin in etwa Folgendes gesagt: Jeder, der von seinem Rentenversicherungsträger eine Rentenauskunft erhält, kann anhand der Rentenauskunft nachvollziehen, welche Rente er auf der Grundlage seiner geleisteten Beiträge im Rentenalter haben wird. - Bis dahin ist das gut und richtig. Sie haben dann aber behauptet, dass der Betroffene daraus ableiten kann, ob er mit seinem späteren Einkommen möglicherweise unterhalb der Grundsicherung liegen wird, weshalb er Grundsicherungsleistungen erhalten wird. ({0}) - Sie haben aber den Eindruck erweckt. - Mit Verlaub: Das ist aus der Rentenauskunft nicht zu erkennen. ({1}) Die zusätzlichen Einkommen, die möglicherweise neben den aus den Beitragszahlungen resultierenden Rentenleistungen entstehen, sind aus der Rentenauskunft nicht zu ersehen. Insofern kann der oder die Betreffende aus der Rentenauskunft auch nicht erkennen, ob er oder sie ergänzende Leistungen zur Grundsicherung erhalten wird. Ich will nur dieser Aussage hier widersprechen, damit in der Öffentlichkeit, bei den Menschen draußen am Bildschirm, kein falscher Eindruck entsteht.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Scheel, zur Erwiderung. - Bitte.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Spieth, entweder haben Sie mich bewusst falsch verstehen wollen, oder Sie haben mir nicht zugehört. ({0}) Ich habe gesagt, dass es gut ist, dass die Menschen diese Auskunft bekommen. Sie haben jetzt ja auch bestätigt, dass das eine gute Sache ist. Dann habe ich gesagt, dass man aufgrund der Auskunft erkennen kann, wie die eigene Situation ist. Es ist nicht Aufgabe der Rentenversicherer, in diesem Stadium darauf hinzuweisen, ob jemand noch etwas tun soll oder nicht. Darum geht es überhaupt nicht. Es geht darum, dass die Menschen einschätzen können, welche Ansprüche sie aus der gesetzlichen Rentenversicherung bislang erworben haben nicht mehr und nicht weniger.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Max Straubinger von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren in dieser Woche bereits das dritte Mal über die Altersvorsorge der Menschen in unserem Land. ({0}) Damit wiederholt sich manches. Das kann man den Menschen aber natürlich nicht ersparen. Es gibt immer wieder verschiedene Anträge dazu, und es ist richtig, dass man darüber diskutiert. Der heutige Antrag der FDP-Bundestagsfraktion, Riester-Renten-Sparverträge und auch die weitere private und betriebliche Altersvorsorge gerade bei der Grundsicherung nur zum Teil anzurechnen bzw. hier einen Freibetrag vorzusehen, mag insgesamt natürlich sehr populär sein. ({1}) Wenn jemand besser gestellt wird, ist es immer gut. Trotzdem verweise ich darauf, dass wir an den Grundfesten unseres Sozialstaates und den daraus abgeleiteten Prinzipien festhalten sollten; ({2}) denn nach unserer Meinung wird dies auch in die Zukunft hinein tragen. Das Äquivalenzprinzip in der gesetzlichen Rentenversicherung, das heute gerade von der Linken wieder angezweifelt worden ist, ist aufrechtzuerhalten. In Bezug auf die soziale Unterstützung der Menschen ist auch das Nachrangigkeitsprinzip aufrechtzuerhalten. Schließlich ist dies eine Grundvoraussetzung des Sozialstaates. Die Menschen sollen selbst für ihr Leben im Alter sorgen können. In diese Lage müssen wir sie versetzen. Dazu hat die Bundesregierung in den vergangenen zwei Jahren einen erheblichen Beitrag geleistet: mit dem Abbau der Arbeitslosigkeit, der Stärkung der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland und den daraus erzielten Chancen für die Menschen in Deutschland. ({3}) Die Begründung der FDP ist, hiermit möglicher Altersarmut vorzubeugen. Ich möchte den Faktor der Altersarmut nicht geringschätzen. Dass wir aber in einem der reichsten Länder der Welt permanent über Altersarmut bzw. über Armutsgrenzen und dergleichen mehr diskutieren, wird in vielen Teilen Europas garantiert nicht verstanden. Trotzdem ist es natürlich die Aufgabe des Sozialstaates, die entsprechenden unterstützenden Leistungen zu gewähren; Kollege Brauksiepe hat das ja bereits dargestellt. Vor allen Dingen sollten wir nicht von Armut sprechen, wenn es um die Grundleistungen für Menschen, also die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit, geht. Wir geben den Menschen ein Gerüst, eine unterste Auffanglinie, damit sie nicht in völlige Armut fallen, sondern auch im Alter ein menschenwürdiges Auskommen haben. Das ist das Prinzip unseres Sozialstaates. Dies ist meines Erachtens hier besonders hervorzuheben. Werte Damen und Herren, ich halte es auch für bedeutsam, darauf hinzuweisen, dass die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen bereits einiges dazu beigetragen haben: ({4}) durch die Stärkung der betrieblichen Altersversorgung, den Anreiz der Entgeltumwandlung - dies wird auch weiter fortgeführt - und natürlich durch die steuerliche Förderung, die mit dem Riester-Sparen und der RürupRente - sie wurde heute überhaupt noch nicht genannt verbunden ist. Mit diesen drei Sicherungssystemen ist es den vielen Menschen in unserem Land, die jeden Tag hart arbeiten, möglich, über die sogenannte Altersarmutsgrenze zu gelangen bzw. die Grundsicherung nicht in Anspruch zu nehmen. Frau Kollegin Scheel hat bereits deutlich gemacht, was private Rentenversicherungen zu leisten imstande sind. Sie hat nur vergessen, auch die zu erwartenden Gewinne anzuführen; denn damit wird natürlich ein weit höheres Rentenniveau erzielt. ({5}) Wenn man bei den Riester-Sparverträgen die Gewinnerwartung mit einrechnet, sieht man, dass ein Durchschnittsverdiener, der in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlt und zugleich einen Riester-Vertrag abgeschlossen hat, bereits nach 20-jähriger Beitragszahlung im Alter eine Anwartschaft erreichen wird, die über der sogenannten Grundsicherung liegt. Dabei sind noch nicht einmal die betriebliche Altersversorgung, private Sparvermögen und andere möglicherweise über die lange Lebensarbeitszeit hinweg erworbene Ansprüche mit berücksichtigt. Dies herauszustellen, ist sehr bedeutsam. Von daher darf man nicht ständig von Armut reden. ({6}) Ich bin schon bestürzt über diese Auseinandersetzung, insbesondere darüber, wie sie von den Linken geführt wird. So hat Herr Dr. Gysi heute in diesem Zusammenhang wieder ausgeführt, dass Riester-Verträge Anlagebetrug seien. ({7}) Das stimmt in keiner Weise. Im Gegenteil: Riester-Verträge werden so weit wie möglich gefördert, mit bis zu über 90 Prozent Förderleistung durch Steuergelder. Viele Vorrednerinnen und Vorredner haben das bereits zum Ausdruck gebracht. Steuergelder werden nicht nur von Privatpersonen gezahlt, sondern auch von Unternehmen, Herr Dr. Gysi. Deshalb ist hier festzustellen, dass auch die Wirtschaft mit ihren Steuerlasten einen enormen Beitrag zur Förderung der Riester-Rente leistet. ({8}) Aber wenn hier schon von Betrug die Rede ist, dann möchte ich auch anführen, dass die Betrogenen in unserem Land die Menschen in der ehemaligen DDR unter dem SED-Regime waren. Kollege Brauksiepe hat dargelegt, dass Honecker nach 40 Jahren Kommunismus die Mindestrente auf 330 Ost-Mark angehoben hat. Nur hat der Kollege Brauksiepe eines dabei vergessen, nämlich dass sich die Bürgerinnen und Bürger in der DDR dafür nichts kaufen konnten. ({9}) Das ist entscheidend. Deshalb waren sie die Betrogenen. Erst unser gesetzliches Rentenversicherungssystem hat auch für die Menschen im Osten Deutschlands eine gute, existenzsichernde, sogar weit über das Existenzminimum hinausgehende Grundlage geschaffen. Wir können gemeinsam stolz darauf sein, dass wir das erreicht haben. ({10}) Deshalb kann ich nur dazu aufrufen, die Verunsicherung der Menschen zu beenden und sie aufzufordern, Altersvorsorge zu betreiben, mit Riester-Sparverträgen, mit Rürup-Sparverträgen, mit Lebensversicherungen oder anderen Anlageformen. Uns geht es darum, diese Vielfalt zu erhalten. Auch in diesem Sinne ist der Antrag der FDP-Bundestagsfraktion kontraproduktiv. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Lothar Binding von der SPD-Fraktion. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über eine sehr ernste Frage, nämlich darüber, ob es nicht einzelnen Menschen in unserem Land trotz einer klugen Gesetzgebung sehr schlecht gehen kann. Wir müssen feststellen: Wir werden keine Gesetzgebung finden, bei der es allen Menschen immer gleich gut geht und die für alle Menschen in gleicher Weise gerecht ist. Wir müssen aber prüfen, ob die Gesetzgebung auf Gerechtigkeit angelegt ist. Wir müssen erkennen, dass es einigen Menschen sehr schlecht geht. Deshalb müssen wir prüfen, ob wir ein Gesetz einführen sollten, um dies in Einzelfällen zu überwinden. Dabei müssen wir nach dem Preis fragen. Die FDP macht einen Vorschlag, der einen extrem hohen Preis hat, nämlich den Preis, dass das Sozialstaatsprinzip der Nachhaltigkeit aufgegeben werden müsste. Das hätte zur Folge, dass es künftig nicht nur Einzelnen schlecht geht oder sie ungerecht behandelt werden, sondern es darüber hinaus auch vielen anderen sehr viel schlechter geht als heute. Deshalb ist der Ansatz der FDP nicht gut. Ich warne alle Leute, denen es schlecht geht, davor, sich darauf zu verlassen, dass gerade die FDP die Armut zu überwinden hilft. ({0}) Lothar Binding ({1}) Das halte ich für ein gewisses Problem. Wenn man das genauer untersucht, findet man möglicherweise heraus, dass Sie langfristig doch auf dem Weg zum Bürgergeld sind und die sonstigen Risiken privatisieren wollen. ({2}) Das ist etwas, was wir natürlich nicht wollen. Niemand kann behaupten, wir hätten kein Demografieproblem. Wir haben ein großes Demografieproblem, aber das ist nicht unser einziges Problem. ({3}) Was wir nicht haben, ist ein Wohlstandsproblem. Im Durchschnitt geht es allen wunderbar. Wir haben allerdings ein Problem mit der Verteilung von Produktivität; das sehe auch ich so. Die Frage ist nur, ob man die Produktivität über Rentenversicherungsbeiträge und ein Rentensystem so verteilen kann, dass es anschließend gerecht zugeht. Das zu glauben, ist verrückt; denn das wäre so etwas wie der Versuch, eine Länge in Kilogramm zu messen. Das führt in der Regel nicht zu guten Ergebnissen. Deshalb ist das der falsche Weg. Wir müssen die Verteilung der Produktivität auf eine andere Grundlage stellen: Sie muss auf der gerechten Verteilung von Lohn und Arbeit basieren. Was Ihre Äußerung angeht, Herr Gysi, 28 Prozent Rentenversicherungsbeiträge seien möglich, das sei kein großes Problem, sehe ich eine große Gefahr. Das ist leider nicht ganz symmetrisch. Wenn die Lohnnebenkosten in der Weise angehoben werden, dann erzeugt das Arbeitslosigkeit ohne Ende. Wenn dann später die Versicherungsbeiträge wieder gesenkt werden, dann schafft das noch längst keine Arbeit. ({4}) Diese Asymmetrie birgt ein sehr großes Problem. Ihre zweite Idee zeigt, dass Sie möglicherweise bezogen auf die unterschiedliche Verantwortung in den Alterskohorten die langfristigen Überlegungen aus dem Blick verloren haben. Wenn Sie jetzt die Versicherungspflichtgrenze anheben wollen, ({5}) um die Einnahmeseite zu stärken, dann sind Sie gezwungen, in Zukunft das Äquivalenzprinzip aufzugeben. Wenn man die Menschen heute verstärkt zur Kasse bittet, dann muss man auch damit rechnen, dass sie künftig höhere Ansprüche haben. Denn eines ist klar: Wenn es um die Rente geht, dann reden wir eigentlich nie über Geld. Denn das, was die gegenwärtige Generation erarbeitet, bekommt demnächst die Generation, die bisher ihre Eltern finanziert hat, die jetzt nicht mehr arbeiten. Was wir heute einzahlen, hat mit dem, was wir künftig bekommen, nichts zu tun. ({6}) - Ja, von hinten durch die Brust ins Auge. Sie haben gesagt, dass Sie sich um das Niveau kümmern wollen, aber Sie müssen auch angeben, von welchem Niveau Sie sprechen. Man muss den Niveaubegriff definieren. Offen gestanden habe ich lieber 60 Prozent von 200 Prozent als 70 Prozent von 100 Prozent. ({7}) Man muss deutlich machen, worüber man redet. Bei der Frage des zukünftigen Niveaus wird festgelegt, wie viel ein Rentner bezogen auf die dann arbeitende Generation hat. Deshalb ist es tausendmal wichtiger, sich darum zu kümmern, dass die Menschen in Zukunft viel verdienen und dass das Einkommen gerecht verteilt ist. Dann wird es auch den Rentnern gut gehen. Vielleicht geht es ihnen dann mit 30 Prozent besser als mit 50 Prozent bei einem anderen Rentenniveau. ({8}) Das Niveau ist eine entscheidende Frage. Deshalb ist uns die Frage der Grundsicherung sehr wichtig. Denn wir wollen erreichen, dass keiner die Grundsicherung braucht. Das ist das eigentliche Ziel. ({9}) Was die Grundsicherung von etwa 680 Euro monatlich angeht - dieser Betrag steht derzeit zur Diskussion -, ({10}) wäre es eine Ungerechtigkeit, jemandem, der Renteneinnahmen, Ersparnisse oder eine Riester-Rente hat, zusätzlich 680 Euro als Grundsicherung zu gewähren. Die vorgeschlagene Änderung hinsichtlich der Anrechnung der Riester-Rente ist insofern schlecht. ({11}) - Wie wird denn ein Freibetrag begründet? Worin liegt der Unterschied zwischen meiner Riester-Rente und meinem Sparbuch hinsichtlich der Anrechnungsmöglichkeiten bei meiner künftigen Rente? ({12}) Das wäre so unsystematisch, dass Sie damit ein Schlaglicht darauf werfen, wie viel Ihnen gewisse Prinzipien des Sozialstaats wert sind. ({13}) Lothar Binding ({14}) - Darauf will ich kurz eingehen. Vielleicht wäre es sogar gut. Wenn Sie sich mit Familien, denen es schlecht geht, ({15}) ein bisschen auskennen würden, dann wüssten Sie, dass eine solche Familie jeden Monat aufs Neue darauf verzichtet, etwas anzusparen, und dies verschiebt, weil das Geld zu knapp ist. ({16}) - Du mit deinen Zwischenrufen! Du hast gestern einen Zwischenruf formuliert. Der besagte etwas ganz Schlimmes. ({17}) - Ja, das haben wir abgesprochen. Es gibt keine Debatte, in der der Kollege Niebel keinen unanständigen Zwischenruf formuliert. ({18}) Gestern hat der Kollege Riester etwas sehr Ernsthaftes gesagt: Man sollte nicht immer weitere Bereiche der Erwerbsarbeit aus der Versicherungspflicht herausnehmen. Dirk Niebel ist dazu der Zuruf „Zwangs-Riester!“ eingefallen. Die Bild-Zeitung hat schon einmal den Gedanken mit derselben Überschrift kaputt gemacht. Dirk, wir kennen uns gut. Deshalb möchte ich eine persönliche Bemerkung machen: Dein Denken beruht auf völlig anderen Grundsätzen. ({19}) Ich will das an drei Beispielen klarmachen. Du willst die Bundesagentur für Arbeit abschaffen. ({20}) Du hast den unanständigen Vergleich zwischen der Großen Koalition und der Nationalen Front gezogen. Du hattest auch keine Scheu, eine FDP-Zentrale im Arbeitsamt, bei deinem Arbeitgeber, aufzumachen. Wer in einem solchen Korsett denkt und hier permanent solche Zurufe macht wie du, hat für mich unter sozialen Gesichtspunkten jede Glaubwürdigkeit verloren. ({21}) Ich möchte das gar nicht weiter vertiefen. Sie sollten beim Alterseinkommen nicht regeln, was Sie beim Arbeitseinkommen verweigern. Mit dieser Formel lässt sich gut beschreiben, warum Sie eine Lösung für ein Problem vorgeben, dessen Ursachen Sie nicht bekämpfen wollen. ({22})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Hennrich von der CDU/CSU-Fraktion.

Michael Hennrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003551, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Ich darf heute zu dem Antrag der FDP mit dem Titel „Altersvorsorge für Geringverdiener attraktiv gestalten“ sprechen. Ich habe in dieser Woche gelesen, dass die Apotheker in NordrheinWestfalen gegen die FDP Sturm laufen. Heute liegt uns nun ein Antrag zu den Geringverdienern vor. Verkehrte Welt! ({0}) Ich freue mich aber, dass mittlerweile die sozialen Probleme in unserem Land auch bei der FDP angekommen sind. Ich bedauere nur, dass in Ihrem Antrag nicht die richtigen Relationen hergestellt wurden. Wenn wir über das Thema Grundsicherung im Alter sprechen, sollten wir immer bedenken, dass es um 2 Prozent der Bevölkerung geht. 98 Prozent der Bevölkerung beziehen keine Grundsicherung im Alter. ({1}) Diese Leistung ist auf die gesetzliche Rente und Eigenvorsorge - die meisten haben die notwendigen Vorkehrungen bei der Altersvorsorge getroffen - zurückzuführen. Das war Ihnen in Ihrem Antrag leider keiner Erwähnung wert. Es ist richtig, über das Thema Altersarmut zu sprechen. Ich bin mir darüber im Klaren, dass wir uns in Zukunft mehr Gedanken über das Rentenniveau machen müssen, als es momentan der Fall ist, weil sich die Erwerbsbiografien der Menschen dramatisch verändern. Aber wir sollten keine Schnellschüsse wagen. Sie sind auf einen Zug aufgesprungen, der von Monitor und anderen Medien in Gang gesetzt wurde. ({2}) Aber das ist keine seriöse Rentenpolitik. ({3}) Ihnen fehlt ein schlüssiges Gesamtkonzept. ({4}) Zuerst eine Bestandsaufnahme: Wir haben ein Alterssicherungssystem, das sich über Jahre und Jahrzehnte bewährt hat. Das wird uns von der OECD ausdrücklich bestätigt. Wir haben ein Drei-Säulen-System, einen Dreiklang aus gesetzlicher Rente sowie privater und betrieblicher Altersvorsorge. Dieses System müssen wir permanent nachjustieren, das will ich überhaupt nicht infrage stellen. Wir haben insbesondere in den letzten Jah14504 ren unser Augenmerk auf die Situation der Geringverdiener gerichtet. Ich möchte in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass im letzten Alterssicherungsbericht ausdrücklich hervorgehoben wurde, dass das Rentenniveau für den Durchschnittsverdiener gleichbleibt und dass es sich in den nächsten Jahren für den Geringverdiener deutlich erhöht. Vor diesem Hintergrund passt Ihr Antrag nicht. Ich möchte an dieser Stelle deutlich hervorheben: Sie wollen die Altersvorsorge für Geringverdiener attraktiv gestalten. Vor vier Wochen haben wir im Parlament die Dauer der Förderung der betrieblichen Altersvorsorge, die Sozialversicherungsfreiheit der Entgeltumwandlung, verlängert, und zwar unbefristet. ({5}) - Wir sind der Gesetzgeber. Dann haben wir es freiwillig gemacht. ({6}) Wir haben des Weiteren Verbesserungen bei der Riester-Rente vorgenommen. Deswegen können Sie uns nicht vorwerfen, dass wir nichts für Geringverdiener tun. Ich möchte an einem Punkt deutlich machen, wie absurd Ihr Antrag ist. Sie sagen, Geringverdiener, die in die Riester-Rente oder in die betriebliche Altersvorsorge einzahlen und zum Teil zu 90 Prozent vom Staat gefördert werden, sollten im Alter privilegiert werden. ({7}) - Stopp, Moment, Herr Kolb! Diejenigen, die privat mittels eines Sparbuchs sparen oder ohne staatliche Hilfe eine Immobilie bauen und vermieten, werden bei Ihrem Vorschlag nicht berücksichtigt. Sie werden sogar noch einmal bestraft, weil sie mit ihren Steuern die spätere Privilegierung mehr oder weniger fördern. Das ist das Absurde an ihrem Vorschlag. ({8}) Ein zweiter Aspekt. In Ihrem Antrag steht nichts zum Thema Finanzierung, keine einzige Zahl dazu, was das den Haushalt kostet. ({9}) - Natürlich kostet es etwas. Über finanzielle Auswirkungen steht nichts in Ihrem Antrag. Das müssen Sie einmal seriös vorrechnen. ({10}) Ein dritter Aspekt. Sie haben in Ihrem Antrag im Grunde genommen überhaupt nicht die Nachhaltigkeit, die Sicherheit für die Zukunft deutlich gemacht. Wir müssen jetzt den Alterssicherungsbericht abwarten, der im Herbst erscheinen und uns verlässliche Zahlen darüber geben wird, wie sich das Rentenniveau in Zukunft entwickeln wird. Wir wissen doch heute schon, dass wir mit der Situation zu kämpfen haben werden, dass uns die Erwerbstätigen ausgehen. Wie die künftigen Erwerbsbiografien der Menschen aussehen werden, wissen wir heute nicht. Wir brauchen junge Kräfte. Da müssen wir das Geld hineinstecken, nicht aber in eine Alimentierung. Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Aspekt erwähnen, auf den Sie auch keine Antwort finden: die Nachrangigkeit. ({11}) Der Kollege Max Straubinger hat schon ganz deutlich darauf hingewiesen. Wir haben den Grundsatz der Subsidiarität in der Sozialhilfe. Warum sagen Sie dann, dass Sie im Bereich der Rentenversicherung den Subsidiaritätsgrundsatz aushebeln wollen, und mit welcher Begründung wollen Sie ihn in der Sozialhilfe belassen? ({12}) - Ja, aber beim Arbeitslosengeld II ist der fundamentale Unterschied der, dass wir für die Menschen einen Anreiz schaffen wollen, dass sie in Arbeit gehen. Diese Situation haben wir bei der Rente nicht. ({13}) Deswegen ist dies überhaupt nicht miteinander vergleichbar. Ich schlage Ihnen vor, dass Sie Ihren Antrag in diesen vier Punkten überarbeiten. Dann können wir vielleicht darüber diskutieren. Aber so, wie er vorliegt, ist er vollkommen unausgereift. Herzlichen Dank. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich dem Kollegen Rolf Stöckel von der SPDFraktion das Wort. ({0})

Rolf Stöckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003240, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Schluss dieser Debatte hebe ich eines hervor: Dass in einigen Beiträgen die Systematik und die Prinzipien des deutschen Sozialstaatssystems, der sozialen Sicherungssysteme beleuchtet worden sind, ist ja nicht nur lehrreich, sondern auch für diejenigen wichtig, die in der Hektik einer solchen Debatte und mit Blick auf Einzelpunkte den Überblick verlieren. Die deutschen Sicherungssysteme waren und sind erfolgreich. Gleichwohl müssen sie weiterentwickelt werden. Dies haben wir nicht nur mit der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder begonnen, sondern auch in der Großen Koalition mit den Kollegen der CDU/CSU sinnvoll weitergeführt. Wir werden uns dieser Aufgabe in jedem Jahr stellen müssen. Deswegen gibt es Evaluationen, Statistiken und Alterssicherungsberichte. Wir tun gut daran, dass unser Sozialstaat weiterhin auf drei Säulen ruht: auf einer beitragsfinanzierten und der Arbeitsleistung äquivalenten Sozialversicherung, auf dem, was Menschen privat durch Arbeit und Sparen vorsorgen können, und auf einer steuerfinanzierten Grundsicherung, die das menschenwürdige Existenzminimum gewährleisten muss. Darüber kann man trefflich streiten, was wir auch tun. Daran werden wir auch in diesem Jahr weiter zu arbeiten haben. Aber dass diese steuerfinanzierte, bedarfsabhängige Grundsicherung das Prinzip der Subsidiarität, der Bedarfsabhängigkeit - das sagt das Wort ja -, aber auch der Hilfe zur Selbsthilfe und der Mitwirkungspflicht beinhaltet, ist konstitutiv dafür, dass diejenigen, die Steuern und Beiträge zahlen, also die Stärkeren, ihre Solidarität mit den Schwächeren dokumentieren und diesen Sozialstaat seit Jahrzehnten mittragen. Seit 1961 gelten diese Prinzipien der Sozialhilfe. Wir haben mit der Grundsicherung im Alter einen Grundsatz der Subsidiarität verlassen. Bei der Unterhaltspflicht wird das Einkommen oder das Vermögen der Kinder unterhalb eines Betrages von 100 000 Euro nicht angerechnet. Das begründet auch die Unterschiede zu dem anderen Grundsicherungssystem für Erwerbsfähige und dem System der Sozialhilfe. Diejenigen, die nicht unter diese beiden Systeme fallen, sind nur noch eine geringe Anzahl. Ich glaube, dass wir deutlich machen müssen, dass wir auf der einen Seite hier dem Subsidiaritätsprinzip Rechnung tragen, auf der anderen Seite aber nicht anfangen, an allen möglichen Stellen dieses Grundsicherungssystems das Subsidiaritätsprinzip einzuführen. Wir könnten auch über die Anrechnung von Kindergeld beim ALG II sprechen. Wir haben heute schon über die Anrechnung diverser anderer Alterssicherungsarten gesprochen. Wenn Sie, Herr Kolb, sagen, das Bürgergeld wäre nicht gut, dann kommen wir zum Kern der Sache. ({0}) Auch mit anderen Anträgen in diesem Hause werden das Prinzip der Grundsicherung und das Prinzip der Subsidiarität infrage gestellt, und zwar entweder mit Blick auf eine besonders gut verdienende Wählergruppe oder auf die Parteiklientel oder auf die Älteren. Das soll schon in allen Fraktionen vorgekommen sein. ({1}) Das alles trägt dazu bei, nicht nur die Menschen zu verunsichern, sondern auch insgesamt die Solidarität dieses Systems zu untergraben. Letztendlich handelt es sich bei dem ausreichenden, bedarfsunabhängigen Grundeinkommen bzw. dem Bürgergeld um Hirngespinste und soziale Utopien. Das wird etwa von den Grünen, der FDP und von den Linken - ich erinnere auch noch an das Modell von Althaus von der CDU - in ganz unterschiedlicher Weise vorgetragen, wobei eines allen Vorschlägen bzw. Modellen, die gemacht werden, innewohnt, nämlich dass die Finanzierbarkeit nicht nachgewiesen und in keiner Weise sozial gerecht dargestellt werden kann. Letztendlich führt das FDP-Modell des Bürgergeldes zu einer schlechten Absicherung und zu einem schlechten Grundeinkommen, das nicht armutsfest ist, es sei denn, Sie erhöhen die Steuern für diejenigen, die es zu finanzieren haben, so, dass alle Ihre Vorschläge zu Flattax und Vereinfachung des Steuerrechts Makulatur werden. Diesen inneren Widerspruch Ihrer Bürgergeldträume können Sie nicht auflösen. ({2}) Letztendlich steht der Versuch dahinter, mit der attraktiven Vorstellung eines bedarfsunabhängigen Bürgergeldes oder eines Grundeinkommens, das nicht finanziert werden kann, jedenfalls nicht sozial gerecht, den Bürgern Sand in die Augen zu streuen und alle anderen Risiken, die dieser Sozialstaat zu tragen hat, zu privatisieren. Das machen wir Sozialdemokraten nicht mit. ({3}) Wir machen uns jetzt auch keine Gedanken beispielsweise darüber - Kollege Hennrich ist darauf eingegangen -, wenn wir über die Risiken der Altersarmut in 10, 15 oder 20 Jahren reden, welche Beträge bei einem Vermögen angerechnet werden. Wir setzen auf Aktivierung, den Abbau von Arbeitslosigkeit, auf Qualifizierung, Bildung und gute Arbeitsbedingungen auch für diejenigen, die jetzt gering entlohnte Dienstleistungen verrichten und für Hungerlöhne arbeiten müssen. Die SPD und die Gewerkschaften fordern bessere Arbeitsbedingungen, Mindestarbeitsbedingungen, eine gerechte Entlohnung und eine Teilhabe der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am wirtschaftlichen Wachstum und an den Produktivitätszuwächsen. Das bleibt die beste Alterssicherung. Das bleibt die beste Versicherung dafür, nicht die steuerfinanzierte Grundsicherung in Anspruch nehmen zu müssen. Dass ein Magazin in einem Sender, der mit GEZ-Mitteln, also mit öffentlichen Gebühren, finanziert wird, diejenigen, die im Moment von der GEZ-Gebühr wahrscheinlich befreit sind, die aber nicht ihr Leben lang von der GEZ-Gebühr befreit sein sollen, verunsichert und damit eine Kampagne fährt, die letztendlich etwas mit der Landtagswahl in Hessen zu tun hat, finde ich schon ziemlich abseitig. ({4}) Das gefährdet die soziale Sicherung und die Armutsbekämpfung in Deutschland mehr als alles andere. Insofern bleiben wir dabei, dass bei der steuerfinanzierten Grundsicherung das Nachrangigkeitsprinzip grundsätzlich erhalten bleibt und dass wir durch einen aktivierenden und vorbeugenden Sozialstaat, gute Arbeitsbedingungen und Mindestlöhne Vorsorge betreiben und die Menschen befähigen müssen, eigenständig, aus eigener Kraft, zu leben. Da, wo das aufgrund von Krankheit nicht möglich ist, haben diese Menschen weiterhin unsere Solidarität, und zwar in Form einer menschenwürdigen Grundsicherung. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/7177 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 24 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Waffengesetzes und weiterer Vorschriften - Drucksache 16/7717 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Reinhard Grindel von der CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Waffenrecht sorgt für einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen den Interessen der legalen Waffenbesitzer einerseits, also der Jäger, der Schützen, der Sammler historischer Waffen, und dem Interesse am Schutz von öffentlicher Sicherheit und Ordnung andererseits. Das Waffenrecht allein ist kein Instrument zur Eindämmung der wachsenden Gewaltkriminalität. Es muss aber zu seiner Bekämpfung beitragen. Insofern bewegen wir uns mit dem Gesetz zur Änderung des Waffengesetzes nicht im politisch luftleeren Raum, sondern wir müssen die aktuelle Debatte um die Jugendkriminalität sehr genau im Blick haben. Deshalb will ich als einen Schwerpunkt des neuen Waffenrechts die Ächtung der sogenannten Anscheinswaffen hervorheben, die wir mit dem neuen § 42 a des Waffengesetzes vornehmen. Die Koalitionsparteien beobachten mit Sorge, dass diese Anscheinswaffen nach wie vor von zu vielen, vor allen Dingen von Jugendlichen, gebraucht werden. Der Umgang mit diesen Waffen, die Kriegs- oder Polizeiwaffen originalgetreu nachgebaut sind, ist geeignet, die Hemmschwelle im Umgang mit Waffen schlechthin sinken zu lassen. ({0}) Außerdem weisen alle Experten zu Recht darauf hin, dass von diesen Waffen ein erhebliches Drohpotenzial ausgeht, weil sie zu kriminellen Zwecken eingesetzt werden können. Hinzu kommt, dass Polizeibeamte die täuschend echt wirkenden Nachbildungen im Einsatz mit echten Schusswaffen verwechseln und dann in einer vermeintlichen Notwehrsituation von der Dienstwaffe Gebrauch machen könnten - mit verheerenden Folgen. Die Koalition wird mit der Änderung des Waffengesetzes alle rechtsstaatlich vertretbaren Maßnahmen beschließen, damit von Anscheinswaffen künftig keine Gefahr ausgeht. Das ist kein Kinderspielzeug, und wir wollen, dass diese Waffen aus dem öffentlichen Straßenbild verschwinden, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Wir haben uns bereits jetzt innerhalb der Koalitionsfraktionen - auch im Lichte von Empfehlungen aus dem Bundesrat - darauf verständigt, die Regelung des Anscheinsparagrafen dadurch noch einmal zu verschärfen, dass wir auf das Merkmal des schuss- oder zugriffsbereiten Führens der Waffe verzichten und den Transport in einem verschlossenen Behältnis vorschreiben. Dadurch wird erreicht, dass nach dem Kauf einer solchen Anscheinswaffe praktisch nur noch der Transport in der verschweißten Packungsfolie nach Hause und die Verwendung dieser Waffe auf dem befriedeten Privatbesitztum möglich sind. Wir beziehen in den Anscheinsparagrafen neben Lang- - das darf ich gerade der Opposition sagen - auch Kurzwaffen ein; denn es sind zum Beispiel Nachbildungen von Faustfeuerwaffen, wie sie bei der Polizei verwandt werden, im Umlauf. Insofern gehen wir hier auch auf Anregungen aus dem Bundesrat ein. Für den Verstoß gegen das Verbot des Führens von Anscheinswaffen prüfen wir die Einführung einer Bußgeldvorschrift; das tut das Bundesjustizministerium. Das ist das, was der Gesetzgeber tun kann. Ich will von dieser Stelle aus einen Appell an die Eltern richten - es schauen ja auch einige zu -: Auch Sie können durch intensive Gespräche mit Ihren Kindern dazu beitragen, dass solche Waffen nicht verwandt werden. Das ist nicht nur eine Aufgabe des Gesetzgebers. ({2}) Aus dem Kreis der Jäger sind wir darauf aufmerksam gemacht worden, dass es jetzt offenbar modern ist, dass auch Jagdwaffen sich von ihrem äußeren Erscheinungsbild dem von Kriegswaffen annähern und deshalb unter den Anscheinsparagrafen fallen könnten. Wir werden das mit einer Klarstellung ausschließen, wonach unter den entsprechenden Paragrafen nicht solche Waffen falReinhard Grindel len, die - wie wir es formulieren wollen - einen Antrieb durch heiße Gase erhalten. Der Entwurf der Änderung des Waffengesetzes enthält bisher keine Regelung zum Thema Softair-Waffen. Ich möchte betonen, dass sich die Koalitionsfraktionen darauf verständigt haben, zu einer Ergänzung des Regierungsentwurfs zu kommen. Wir wollen, dass nunmehr zum Spiel bestimmte Schusswaffen nur darunter fallen, wenn aus ihnen bauartbedingt auch starre Geschosse verschossen werden können, denen eine Bewegungsenergie von nicht mehr als 0,08 Joule mitgegeben wird. Wir erfassen damit einen ganz großen Teil der SoftairWaffen und wollen auch hier erreichen, dass diese aus dem öffentlichen Straßenbild zurückgedrängt werden. Das ist geboten, weil von diesen Softair-Waffen nicht unerhebliche Gesundheitsgefahren ausgehen; hier werden schließlich Plastikkugeln verschossen. Eine Ächtung dieser Softair-Waffen ist aber auch unter präventiven Gesichtspunkten notwendig. Ich komme auf den Ausgangspunkt meiner Überlegungen und den Hinweis auf die Debatte um Gewalttaten zurück. Wir können doch nicht vielfältige Überlegungen darüber anstellen, wie wir auf allen Ebenen und möglichst früh der wachsenden Gewaltbereitschaft und kriminellen Energie von Kindern und Jugendlichen begegnen können, und gleichzeitig zulassen, dass unter Einschluss von Gesundheitsrisiken mit Anscheins- oder Softair-Waffen auf öffentlichen Straßen und Plätzen in der Gegend herumgeschossen wird. Das wäre ein völlig falsches politisches Signal. ({3}) Ich sage ausdrücklich: Dahinter haben wirtschaftliche Interessen, für die ich Verständnis habe, zurückzutreten. Angesichts der vielfältigen öffentlichen Debatten kann es niemanden überraschen, weder Produzenten noch Konsumenten, dass der Gesetzgeber in diesem Bereich entschlossen handelt. Insoweit kommen hier Fragen des Vertrauensschutzes nicht in Betracht. Dass solche veränderten gesetzlichen Rahmenbedingungen sehr wohl etwas bewirken können, zeigt das Beispiel der Gas-, Schreckschuss- und Signalwaffen. Wir haben diese Waffen im Rahmen der letzten Gesetzesnovelle waffenscheinpflichtig gemacht, was zu einer Reduzierung der Verkaufszahlen um rund 90 Prozent geführt hat. Insofern kann auch das Waffenrecht einen Beitrag zur Bekämpfung der Gewaltkriminalität leisten. Ich will an dieser Stelle erwähnen, dass der Deutsche Schützenbund sich mit der Bitte an uns gewandt hat, die Altersgrenze für das Schießen auf Schießständen unter qualifizierter Aufsicht von zwölf auf zehn Jahre zu senken, wie dies bereits bei der letzten Novelle des Waffengesetzes vorgesehen war, bevor der Amoklauf von Erfurt wiederum zu einer Korrektur dieses Vorschlags geführt hat. Ich habe durchaus Verständnis für die Argumentation des Schützenbundes, nach der eine Bedrohung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nicht zu befürchten wäre. ({4}) In der Tat gibt es wissenschaftliche Studien, die belegen, dass beim schießsportlichen Training nicht nur die Konzentrationsfähigkeit gesteigert wird, sondern auch der verantwortungsvolle Umgang mit Waffen und der Respekt vor Waffen erlernt werden. Ich kann ebenfalls nachvollziehen, dass der Deutsche Schützenbund auf die Bedürfnisse der Nachwuchsarbeit hinweist und eine Teilnahme an der Jugendolympiade des IOC frühes Training und Ausbildung voraussetzt. Trotzdem, liebe Kolleginnen und Kollegen, bitte ich um Verständnis dafür, dass die Koalition diesen Vorschlag zur Änderung des Waffengesetzes nicht aufgreifen wird. Die Debatte über die Absenkung der Altersgrenzen für den Erwerb großkalibriger Waffen im Sommer 2007 hat gezeigt, dass wir es hier mit einem ausgesprochen sensiblen Thema zu tun haben, das voller Verunglimpfungspotenziale steckt. Gerade im Umfeld der Debatte über die Jugendgewalt halte ich es für ausgeschlossen, dass wir Innenpolitiker auch nur ansatzweise die Chance hätten, der Öffentlichkeit gegenüber verständlich zu kommunizieren, weshalb wir jetzt die Altersgrenze für das Schießen mit Druckluftwaffen senken wollen. Es besteht die Gefahr, dass wir hier falsche Signale aussenden. Das würde möglicherweise auch den Schützenvereinen schaden. Deshalb muss es beim Schießen mit Laserwaffen bleiben und bei den Ausnahmevorschriften, die das Waffengesetz heute schon vorsieht. Meine Erfahrung ist die - ich will das hier hervorheben -, dass in vielen Bereichen hiervon unbürokratisch und angemessen Gebrauch gemacht wird. Insoweit halte ich es für vertretbar, es bei dieser Regelung so zu belassen. Gleichwohl will ich auch an dieser Stelle deutlich machen, was ich schon bei der letzten Debatte zum Waffenrecht betont habe: Die Schützenvereine in Deutschland leisten eine hervorragende Jugendarbeit, sie haben in vielen Städten und Gemeinden eine große Bedeutung für den Zusammenhalt im Dorf und das kulturelle Leben vor Ort. Sie haben es nicht verdient, unter eine Art Generalverdacht gestellt zu werden. Auch das will ich hier ausdrücklich hervorheben. ({5}) Außerdem schaffen wir mit der Änderung des Waffengesetzes die grundsätzlichen Voraussetzungen für die Umsetzung des VN-Schusswaffenprotokolls. Durch einige Übergangsregelungen werden aber bürokratische Hürden für Jäger, die im Ausland jagen wollen, oder auch für das Waffengewerbe vermieden. Durch die Einführung entsprechender Blockiersysteme sorgen wir für die notwendige Sicherheit auch bei Erbwaffen, was durch den Wegfall des Erbenprivilegs notwendig geworden ist. Wir wollen dabei - ich will das hervorheben, Kollege Wolff, weil Sie das ansprechen werden - Sammler nicht unangemessen belasten. Das will ich ausdrücklich betonen. ({6}) Wegen des Auslaufens des Erbenprivilegs müssen wir das Änderungsgesetz zum Waffenrecht zügig im Ausschuss beraten. Ich rufe dazu auf, dass wir das tun; selbstverständlich gehört dazu auch die Durchführung einer Anhörung. Ich sehe hier aber kein Problem, weil es im Kern nicht um Ideologien geht, sondern darum, mehr Sicherheit für unsere Bürger zu schaffen. Das wollen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf erreichen. Herzlichen Dank fürs Zuhören. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Hartfrid Wolff von der FDP-Fraktion. ({0})

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die aktuelle Diskussion über das Waffenrecht erscheint mir schon etwas schräg. Wenn das bisherige Waffengesetz überhaupt geändert werden muss, dann deshalb, weil das geltende Waffenrecht vereinfacht und verständlicher werden muss. Daran hat sich leider auch durch die rotgrüne Waffenrechtsreform vom Jahre 2002 nichts geändert. Im Gegenteil: Von Vereinfachung, Rücknahme der Regelungsdichte, Übersichtlichkeit und Lesbarkeit kann keine Rede sein. Die vom Kollegen Grindel gerade genannten Bereiche, in denen nachjustiert werden soll, lassen vermuten, dass hier keine klare Linie verfolgt wird, sondern es nur um Änderungen an der einen oder anderen Stelle geht. Bei der nun vorliegenden Novelle hätte ich deshalb mehr Anstrengungen zur Entbürokratisierung von der Bundesregierung erwartet. Die amtierende Koalition meint, dass die neue Vorlage neben der Umsetzung internationalen Rechts den Vollzug des Waffengesetzes erleichtern und Unklarheiten und Lücken beseitigen würde. Die FDP hat jedoch erhebliche Zweifel, dass die Bundesregierung ihr selbst gestecktes Ziel erreicht. Der unübersichtliche Wust des deutschen Waffenrechts wird nur bedingt geklärt und zum Teil sogar unsinniger und unübersichtlicher. So stellt sich mir schon die Frage, ob es sachlich wirklich erforderlich ist, die bislang vorgesehene Kontrolle bei der Verbringung von Schusswaffen ins Ausland nun zu verdoppeln. Bringt es wirklich einen Sicherheitsgewinn, wenn sich zwei Behörden damit beschäftigen? ({0}) Das Gleiche gilt für die neuen Buchführungspflichten. Es ist geradezu possierlich, wie hübsch die Ministerialbeamten im Gesetzentwurf jeden einzelnen bürokratischen Zusatzaufwand auf eine vermeintlich unbedeutende Größe heruntergerechnet haben. Tatsächlich ist hiermit aber eine zusätzliche Belastung für die knapp kalkulierende mittelständische Wirtschaft verbunden. Ein solcher Umgang mit Händlern und Herstellern am Standort Deutschland stellt eine Zumutung dar. Wo bleibt da der klare Sicherheitsgewinn? ({1}) Man hat den Eindruck, dass hier der wirtschaftspolitische Sachverstand der Bundesregierung, insbesondere des Innenministeriums, auf der Strecke geblieben ist. Darüber hinaus ist die Erweiterung der Kennzeichnungs- und Buchführungsregelungen eindeutig gegen die berechtigten Interessen der legalen Waffenbesitzer, insbesondere der Jäger, der Sportschützen und der Sammler von antiquarischen Waffen, gerichtet. Als Zielgruppe werden nun auch die Erben genauer ins Visier genommen. Man muss einfach einmal darauf hinweisen: Das Erbrecht ist eine grundrechtlich geschützte Position, die nicht einfach über Bord geworfen werden darf. Die Begründungen für Einschränkungen, die ich hier vielfach gehört habe, reichen mir nicht aus. Ich denke da zum Beispiel an den Einsatz von Blockiersystemen. ({2}) Gerade bei historischen Waffen - ich freue mich, dass der Herr Grindel an der Stelle Einsicht gezeigt hat - ist dies doppelt absurd. Erstens wird der kulturhistorische Wert solcher Waffen durch Blockiersysteme herabgesetzt oder gar völlig zerstört. Zweitens geht von vielen dieser Waffen rein technisch schon keine Gefahr mehr aus. Hinzu kommt, dass die entsprechenden Kosten für bestimmte Sammlerstücke, bei denen die Blockiersysteme nur individuell handgefertigt werden können, so hoch sein dürften, dass sie an den Wert der Waffe selbst heranreichen. Welchen Sicherheitsgewinn versprechen Sie sich von solchen Regelungen bei antiquarischen Waffen? Das verstehe ich nicht. Angesichts des höchst zweifelhaften Sicherheitsgewinns stellt sich nicht nur die Frage nach der Verhältnismäßigkeit, sondern auch die nach dem Respekt vor Eigentum und Freiheit. ({3}) Ich muss Ihnen sagen, es wundert mich nicht, dass dieser Respekt bei der SPD an der Stelle fehlt. Es freut mich aber, dass es bei der Union gewisse Einsichten gibt. Allerdings würde ich mich freuen, wenn etwas mehr Freiheit zugelassen werden würde. ({4}) Herr Wieland, ich will es ganz deutlich sagen: Die FDP ist bereit, ernsthaft über dieses Thema zu reden, wenn es darum geht, die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten und zu verbessern. ({5}) Hartfrid Wolff ({6}) Waffengewalt muss wirksam bekämpft werden, ({7}) aber nicht mit dem Waffenrecht alleine. ({8}) Die Antwort auf die Kleine Anfrage der FDP-Fraktion hat gezeigt, dass nur 2 bis 3 Prozent aller im Zusammenhang mit Straftaten sichergestellten Schusswaffen aus legalem Besitz stammen. Angesichts der Tatsache, dass 97 oder 98 Prozent der Schusswaffenstraftaten bereits am Waffengesetz vorbei begangen werden, ist das Herumdoktern am Waffengesetz nicht unbedingt eine wirksame Variante, sondern purer Aktionismus. ({9}) Lieber Herr Wieland, Problemlösungen im Bereich der Kriminalität müssen deshalb nicht primär das Waffenrecht, sondern insbesondere den Zusammenhang von Straftat und Strafe sowie den Täter ins Blickfeld nehmen und auch den Bereich der Kriminalprävention - schütteln Sie doch nicht den Kopf! - umfassen; denn die Kriminalprävention ist an der Stelle einer der wesentlichen Punkte. ({10}) Dazu haben wir noch keine Vorschläge gehört. ({11}) Die FDP wird bei diesem Gesetzesvorhaben die weiteren Beratungen sehr genau verfolgen und beobachten, welche Änderungsvorhaben wirklich der Sicherheit und der Klarstellung dienen ({12}) und welche insbesondere zur Vereinfachung beitragen. Vielen Dank. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Gabriele Fograscher von der SPD-Fraktion. ({0})

Gabriele Fograscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das geltende Waffenrecht regelt detailliert und sehr restriktiv - das ist richtig - den Umgang mit Waffen wie Messern und Schusswaffen sowie mit Munition. Es regelt Erwerb, Aufbewahrung, Handel und Transport von Waffen. Es definiert als verbotene Gegenstände neben Schusswaffen zum Beispiel Würgehölzer, Springmesser und Schlagringe. Es verbietet deren Besitz und das Inverkehrbringen. Die Regelungen des Waffengesetzes werden in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Waffengesetz näher ausgestaltet. Diese regelt die Ausnahmen und die Vorschriften für den Umgang mit Waffen sowie die Ausgestaltung von Schießstätten. In ihr ist auch die Abgrenzung von erlaubnisfreien und erlaubnispflichtigen Schusswaffen durch - unter anderem - die maximale Schussenergie definiert. Nach dem Waffengesetz kann auch eine Spielzeugwaffe, zum Beispiel eine SoftairWaffe, mit der man Kunststoffkügelchen verschießt, eine Schusswaffe sein. Immer wieder werden Forderungen nach einer Verschärfung dieses Waffenrechts laut, auch in der aktuellen Debatte. Ich finde schon, dass man die Vorschläge auf ihre Praktikabilität hin untersuchen muss und dass man sich fragen muss, ob sie zu mehr Sicherheit für die Bevölkerung führen. Allerdings muss hinter dem Sicherheitsbedürfnis - Herr Wolff, auch diesen Punkt muss man erwähnen - das Interesse der Unternehmen bei der Herstellung von Waffen zurückstehen. ({0}) Was tun wir in dem vorliegenden Entwurf? Wir übernehmen die Regelungen des VN-Schusswaffenprotokolls und setzen die EU-Waffenrichtlinie in nationales Recht um. In § 24 des Waffengesetzes wird die vorgeschriebene Art der Kennzeichnung von Waffen erweitert, um Rückverfolgung und Herkunft der Waffen international zu erleichtern. Das ist eine wichtige Hilfe zur Aufklärung von Straftaten. Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass es eine Ausnahmeregelung für Sammlerwaffen geben wird. ({1}) Waffen dürfen künftig nur noch ins EU-Ausland verbracht werden, wenn zum einen eine Ausfuhrerlaubnis und zum anderen eine Einfuhrgenehmigung des Empfängerstaates vorliegen. Wir werden das Waffenrecht um ein Verbot zum Führen von Anscheinswaffen ergänzen. Darunter fallen neben Kriegswaffennachbildungen auch Kurzwaffen. Anscheinswaffen sind nahezu echt aussehende Imitate von echten Waffen. Von ihnen geht ein beträchtliches Drohund Gefährdungspotenzial aus, weil selbst die Polizei im Ernstfall nicht erkennen kann, ob es sich um ein Imitat oder eine echte Waffe handelt. Wir werden das Führen von Anscheinswaffen in der Öffentlichkeit verbieten. Die Auflage, nach der diese Waffen nur noch in einem verschlossenen Behältnis transportiert werden dürfen, soll ein deutliches Signal setzen: Diese Waffen haben im öffentlichen Raum nichts zu suchen. ({2}) Ob das Führen von Anscheinswaffen in der Öffentlichkeit zusätzlich bußgeldbewehrt werden kann, wird im BMJ derzeit noch geprüft. Auch wenn das Verbot des Erwerbs und des Handels mit diesen Waffenimitaten wünschenswert wäre, muss man hier die Frage nach der Verhältnismäßigkeit und der Vereinbarkeit mit EU-Recht stellen. Erst wenn sich zeigt, dass sich der jetzige Regelungsvorschlag in der Praxis nicht bewährt, muss man über weitere Schritte nachdenken. Ein weiterer Punkt, den wir nach Auslaufen der Übergangsregelung im jetzigen Gesetz regeln wollen, ist das sogenannte Erbenprivileg. Kann der Erbe einer Schusswaffe ein Bedürfnis nachweisen, ist er zuverlässig und persönlich geeignet, so wird diese Waffe entsprechend jeder käuflich erworbenen behandelt. Kann der Erbe das Bedürfnis nicht nachweisen, muss er dafür sorgen, dass die Waffe schussunfähig gemacht wird. Dazu wird die Waffe in Zukunft nicht unumkehrbar zerstört werden müssen, sondern mithilfe eines Blockiersystems, das inzwischen von der Industrie entwickelt wurde, schussunfähig gemacht. Damit wird die Waffe nicht zerstört, ihr Wert bleibt erhalten. Für etwa 80 Prozent aller Waffen gibt es inzwischen diese Blockiersysteme. Für Waffen, für die es noch keine technische Lösung gibt, kann eine Ausnahmegenehmigung beantragt werden. Ich denke, dass wir damit eine praktikable und dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung angemessene Regelung gefunden haben. Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf gefordert, dass mit der gelben Waffenbesitzkarte keine verbandsfremden Waffen mehr erworben werden dürfen. Dieser Empfehlung werden wir nicht folgen. Sie würde unserer Ansicht nach die gelbe Waffenbesitzkarte ad absurdum führen. Es bleibt dabei: Sportschützen können maximal zwei Waffen pro Halbjahr erwerben, wenn sie Mitglied in einem anerkannten Verband sind, seit mindestens zwölf Monaten aktiv sind und die persönlichen Voraussetzungen erfüllen. Die Waffenbehörde kann bei Auffälligkeiten, insbesondere bei Anhaltspunkten für bloßes Waffenhorten, intervenieren. Fazit: Deutschland hat - und wird das auch in Zukunft haben - eines der strengsten und restriktivsten Waffengesetze weltweit, und das ist richtig und gut so. Legale Waffenbesitzer wie Schützen, Jäger und Sammler gehen verantwortungsvoll und zuverlässig mit ihren Waffen um. Die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik und des Periodischen Sicherheitsberichts zeigen, dass legal erworbene Waffen und Sammlerwaffen eine unbedeutende Deliktsrelevanz haben. Sorgen machen uns die illegalen Waffen, deren Dunkelziffer extrem hoch ist und die sich vorwiegend in Händen von Kriminellen befinden. Dieses Problem kann ein noch so scharfes Waffenrecht nicht lösen. ({3}) Bei den anstehenden Beratungen werden wir auch die Berliner Initiative nochmals ernsthaft prüfen ({4}) und versuchen, praktikable Lösungen zu finden. In der Berliner Initiative geht es darum, Messer, die eigentlich Kampfmesser oder Militärmesser sind, als Waffen zu definieren und somit dem Waffenrecht zu unterwerfen. ({5}) Wir wollen natürlich nicht, dass für Angler, Taucher, Jäger und andere die Ausübung ihres Hobbys unmöglich wird. Gefährliche Messer, die ursprünglich aus dem militärischen Bereich kommen, haben aber im öffentlichen Raum unserer Städte und Gemeinden nichts zu suchen. ({6}) Ich kann für meine Fraktion sagen, dass wir die Berliner Initiative zum Messerverbot genau prüfen werden. ({7}) Die vorgeschlagenen Lösungen und die Definition nach Klingenlänge und -form bringen allerdings enorme Probleme bei der Abgrenzung von Alltagsgegenständen mit sich. Wir versuchen, eine Formulierung und Definition zu finden, die die gefährlichen Messer umfasst und durch die sich das Führen dieser in der Öffentlichkeit verbieten lässt. Ich freue mich auf konstruktive Beratungen im Ausschuss und auf die Erkenntnisse durch die Anhörung, die wir noch durchführen werden. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Petra Pau von der Fraktion Die Linke. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Debatte geht es um zwei Anträge. Beide betreffen das Waffenrecht. Durch den ersten, den sogenannten Berliner Entwurf, sollen Messer, Hieb-, Stich- und Stoßwaffen klassifiziert werden, die bisher nicht als Waffen galten. Mit dem zweiten soll EU-Recht ins Binnenrecht übernommen werden. Die Linke steht beiden Anträgen grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber. Ein schärferes Waffenrecht ist zwar kein Garant für weniger Gewalt, aber ein lockeres Waffenrecht leistet mehr Gewalt Vorschub. Das kann niemand wollen. Die Linke will es jedenfalls nicht. ({0}) Im Berliner Entwurf gibt es zwei entscheidende Kriterien: Hieb- und Stoßwaffen, Messer und Springmesser müssen erstens eine bestimmte Klingenlänge ausweisen und zweitens zugriffsbereit mitgeführt werden. Trifft beides zu, so kann das geächtet werden. Dagegen gibt es Kritik, zum Beispiel weil auch ein Messer, das einen halben Zentimeter kürzer ist, als vorgeschlagen wird, zur Waffe werden kann. Andererseits kann man nicht jeden Gegenstand, der zur Waffe taugt, als Waffe einstufen. Man müsste sonst sogar das Flaschenbier verbieten. Beim EU-Recht geht es darum, unerlaubten Handel mit Waffen und Munition zu verhindern. Im Visier dieses Vorschlages ist zugleich die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität. Auch bei diesem Ansinnen dürften die Fraktionen nicht grundsätzlich über Kreuz liegen. Außerdem sollen weitere Waffen verboten werden, zum Beispiel sogenannte Anscheinswaffen. Das sind Waffen, denen man nicht ansehen kann, ob sie echt und scharf, ob sie Sammelstücke oder Attrappen sind. Einer Geisel dürfte es übrigens egal sein, ob eine scharfe oder eine Scheinwaffe auf sie zielt. Insofern ist das ein vernünftiger Vorschlag. Es gibt noch weitere Punkte, über die ich gern diskutiert hätte, zum Beispiel das Waffenregister. Derzeit ist es Ländersache, Waffen, deren Besitzer oder deren Herkunft zu erfassen. Ausnahmsweise denkt an dieser Stelle die Linke - und nur in diesem Zusammenhang - über ein bundesweites Zentralregister nach. ({1}) Es gibt noch weitere Vorschläge. Manche sind so simpel, dass man staunt. Auf dem Markt gibt es ein kleines Sicherheitsschloss. Eingesetzt, verhindert es, dass Unbefugte scharfe Waffen nutzen können, etwa Jagdgewehre oder Sportpistolen. Eine entsprechende Maßnahme oder Vorschrift könnte mehr Sicherheit schaffen. Im Gesetzentwurf gibt es aber auch Formulierungen, bei denen ich sage: Achtung und Vorsicht. So soll bestraft werden können, wer beim Unterstützen von Vorbereitungshandlungen von Bestrebungen, die auf Gewalt gerichtet sind, ertappt wurde oder dessen verdächtigt wird. Wer diese Aussage von schlichter Schönheit nicht verstanden hat, braucht sich nicht zu grämen. Das ist typisches Rechtskauderwelsch. Aber es zielt darauf, dass nicht ein Täter bestraft wird, sondern eine mögliche Unterstützung einer möglichen Vorbereitung von einer möglichen Bestrebung einer Tat. Ich warne davor, namens des Waffenrechtes Elemente des politischen Strafrechts auszuweiten. Es riecht förmlich nach § 129 Strafgesetzbuch. Er ist ein Fremdkörper und wird obendrein gern missbraucht; Generalbundesanwältin Harms hat das mehrfach demonstriert. Kurzum: Die Linke wird die Gesetzesvorlage - wie stets - konstruktiv mitberaten und mit eigenen Vorschlägen bereichern; denn grundsätzlich gilt: Gewalt hat weder in der Politik noch im Alltag etwas zu suchen. Gewalt ist zu ächten. Deshalb ist ein gutes Waffenrecht so wichtig. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die Kollegin Silke Stokar von Neuforn vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach den aufgeregten Debatten der vergangenen Tage zum Thema Jugendgewalt habe ich eigentlich erwartet, dass der Bundesinnenminister mit der Reform des Waffenrechts einen überzeugenden Beitrag zur Gewaltprävention vorlegt. ({0}) Im Gegenteil, das ist erneut der Beweis: CDU-Innenminister reden gerne über innere Sicherheit. Dann, wenn sie konsequent handeln und real Verantwortung tragen könnten, handeln sie aber nicht konsequent. ({1}) Wir wollen uns nicht daran gewöhnen, dass das griffbereite Messer in der Tasche zu einem ganz normalen Teil unserer Alltagskultur wird. ({2}) Wir sagen ganz klar: Das staatliche Gewaltmonopol wird aufgeweicht, wenn der Rechtsstaat vor der zunehmenden Bewaffnung im öffentlichen Raum kapituliert. Deswegen unterstützen wir die Initiative des Berliner Innensenators Körting, der das Mitführen gefährlicher Messer im öffentlichen Raum verbieten will. Genau dazu, Herr Grindel, steht im Gesetzentwurf von Herrn Schäuble nichts. Genau dazu, Herr Grindel, haben auch Sie nichts gesagt. Ich habe sehr wohl zur Kenntnis genommen - das ist mein nächster Kritikpunkt -, dass Sie angekündigt haben, die Regelungen im Bereich der Anscheinswaffen verbessern zu wollen. Hier reicht es natürlich nicht aus, nur Imitate von Kriegswaffen zu berücksichtigen. ({3}) - Herr Wolff, Ihnen von der FDP möchte ich sagen: Wir sind für Freiheits- und Bürgerrechte. Das Tragen von Waffen im öffentlichen Raum ist aber kein Freiheits- und Bürgerrecht. ({4}) Das, was Sie hier gemacht haben, ist dumpfer Populismus. ({5}) Das war nichts anderes als Lobbyarbeit, ({6}) und zwar für Waffenhändler und Waffenbesitzer. ({7}) Die Zahlen, die Sie genannt haben, sind schon deswegen falsch, weil ein Großteil der heute illegalen Waffen einmal legal erworben worden ist. Sie haben in dieser Frage null Problembewusstsein. Sie sind ein Lobbyist für die Waffenindustrie und sonst gar nichts. ({8}) Meine Damen und Herren, ich möchte noch auf das Hamburger Beispiel der Reeperbahn eingehen, weil es sehr deutlich zeigt, wie wenig es bringt, wenn wir nur bestimmte Räume als waffenfreie Zonen definieren. Die Zahl der Messerattacken in Hamburg ist dadurch nicht zurückgegangen; denn schwere Körperverletzungen mit dem Instrument Messer finden überall im öffentlichen Raum statt: in der U-Bahn, in der Straßenbahn, vor Diskotheken, vor Schulen und auf den Straßen. Das geschieht nicht nur auf der Reeperbahn. Ich finde es absolut absurd - in dieser Diskussion macht sich der Staat einfach lächerlich -, wenn die Polizei auf der Reeperbahn Waffen einzieht und der Hamburger Senat dafür sorgt, dass genau diese Waffen wenige Tage später bei der öffentlichen Onlineauktion des Zolls, einer staatlichen Einrichtung, zu Dumpingpreisen wieder auf den Markt gebracht werden. Ich frage mich, ob die CDU-geführte Regierung in Hamburg wirklich so sehr am Ende ist, dass sie ihren Haushalt in Ordnung bringen muss, indem sie als öffentlicher Waffenhändler auftritt. Angesichts dieser Beweise aus dem Umkreis der Union stelle ich fest: So kann man mit den Themen Jugendgewalt, Bewaffnung und innere Sicherheit nicht umgehen. ({9}) - Ich will Ihnen einmal ganz deutlich sagen: Wer den Berliner Ansatz bzw. unseren Ansatz verfolgt, ({10}) der will selbstverständlich nicht - dass Sie das dennoch behaupten, gehört zu Ihrem Populismus - einem Pfadfinder sein Taschenmesser wegnehmen. ({11}) Wir wollen auch Anglern, Campern und Jägern nicht ihre Messer wegnehmen. ({12}) Wir wollen nur nicht hinnehmen - in dieser Frage haben wir übrigens den Großteil der Bevölkerung auf unserer Seite -, dass es immer mehr junge Männer für ein selbstverständliches Recht halten, mit sehr gefährlichen Messern, griffbereit in der Hosentasche, herumzulaufen. ({13}) Wir können täglich in der Zeitung lesen - ich kenne das aus Hannover -, wie häufig es vorkommt, dass Jugendliche das Messer, das sie in der Tasche tragen, ziehen und andere Jugendliche damit verletzen, bis hin zur Todesfolge. ({14}) Für dieses reale Problem bieten Sie keine Lösung an. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident, ich komme zum Schluss. - Ich habe zur Kenntnis genommen, dass die Koalitionsfraktionen beim Gesetzentwurf des Ministers erheblichen Verbesserungsbedarf sehen. Wir werden uns konstruktiv an den weiteren Beratungen beteiligen. Wir sind der Auffassung, dass wir eine Anhörung brauchen, weil die Kompetenz der Großen Koalition hier ganz offensichtlich nicht ausreichend ist. ({0}) Danke schön. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/7717 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das scheint der Fall zu sein. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Frank Spieth, Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Wiedereinführung der vollständigen Zuzahlungsbefreiungen für Versicherte mit geringem Einkommen im Wege der Härtefallregelung - Drucksachen 16/6033, 16/7435 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Carola Reimann Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Christian Kleiminger von der SPDFraktion das Wort. ({1})

Christian Kleiminger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003787, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In einem sollten wir uns einig sein, nämlich dass für Kranke und Menschen mit niedrigem Einkommen keine Zutrittsbarrieren zu notwendiger medizinischer Versorgung errichtet werden dürfen. ({0}) In Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, behaupten Sie aber, dass ein Zusammenhang bestehe zwischen den Zuzahlungen einerseits und dem Gesundheitszustand der sozial Schwächsten in unserer Gesellschaft andererseits. Unbestritten gibt es eine Relation zwischen Armut und Krankheit. Arbeitslosigkeit, schwierige Wohnsituationen, niedriges Bildungsniveau, all das sind Ursachen dafür. Darum versuchen wir ja, eine Politik zu machen, die genau an diesen Stellen ansetzt, auch durch Prävention und Information; darauf komme ich noch zurück. Im Hinblick auf Ihren Antrag stellt sich jedoch eine andere Frage, nämlich: Inwieweit besteht der von Ihnen behauptete Zusammenhang zwischen einer Zuzahlungsbefreiung und dem Gesundheitszustand der Betroffenen? Trägt das, was Sie fordern, wirklich dazu bei, dass es für Benachteiligte im Gesundheitswesen mehr soziale Gerechtigkeit gibt? Zu diesem Themenfeld gibt es noch nicht besonders viele aussagekräftige Untersuchungen. Auch der Gesundheitsmonitor lässt keine belastbaren Schlüsse zu, ob der Rückgang der Zahl der Arztkontakte mit der Vermeidung wichtiger oder unwichtiger Arztbesuche zu erklären ist. Man weiß nicht sicher, ob relevante Untersuchungen vermieden worden sind oder nur sogenannte Bagatelluntersuchungen. Daher halte ich es für wichtig, hierzu vermehrt Analysen durchzuführen. Erinnern wir uns: Der Ausgangspunkt für die Einführung von Zuzahlungen seinerzeit war doch, wie wir alle wissen, die Erkenntnis, dass häufigere Arztbesuche nicht in jedem Fall gesünder machen, dass man nicht bei jedem Husten gleich einen Doktor braucht. Dennoch werden die Ärzte hierzulande häufiger aufgesucht als in vielen anderen europäischen Ländern. Bei der Einführung der Regelung standen daher die Steuerungswirkungen im Vordergrund. Das mag sehr technisch klingen; doch die Absicht ist einfach: Die Versicherten - alle Versicherten - sollten ein stärkeres Kostenbewusstsein entwickeln und von medizinischen Leistungen dem individuellen Bedarf entsprechend Gebrauch machen. Nehmen wir das Beispiel Praxisgebühr: Mit ihrer Hilfe sollte die Lotsenfunktion der Hausärzte gestärkt werden. Ergebnis ist, dass sowohl die Zahl der Praxiskontakte allgemein als auch die Zahl der Facharztbesuche ohne Überweisung zurückgegangen sind - meines Erachtens nicht unbedingt zum Schaden der Menschen. Mit der Gesundheitsreform ist außerdem der Leistungskatalog der Kassen erweitert worden. Kinder sind weiter komplett von den Zuzahlungen ausgenommen. Alle Versicherten haben einen Anspruch auf kostenlose Früherkennungsmaßnahmen und Vorsorgeuntersuchungen. All das gehört auch zur Wahrheit. Vor allem aber - hier sehe ich wirklich noch einen großen Handlungsbedarf - gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten, die Kosten für die Gesundheitsvorsorge auch durch eigenes Verhalten zu mindern. Mit dem AVWG ist es möglich geworden, rezeptpflichtige Medikamente zuzahlungsfrei zu erhalten. Auch das Hausarztmodell ist ein gutes Instrument. Seit April letzten Jahres ist jede Kasse dazu verpflichtet, ihren Versicherten diesen Tarif anzubieten. Ich weiß aus meinen Gesprächen im Wahlkreis in Rostock auch, dass bei vielen, die eigentlich Aufklärung betreiben müssten, in diesem Punkt noch große Defizite herrschen. Das führt dazu, dass immer noch zu wenige Menschen solche Möglichkeiten nutzen und eigenverantwortlich für ihre Gesundheit vorsorgen. Hier stehen insbesondere die Ärzte, die Krankenkassen und die Apotheker in der Verantwortung, diese Angebote anzusprechen, die Versicherten zu informieren und sie vollständig aufzuklären. Erlauben Sie mir schließlich noch eine Bemerkung: Es fällt natürlich auf, dass Sie sich in Ihrem Antrag in keiner Form zur Finanzierung Ihres Vorschlags sowie zu den entstehenden Folgekosten äußern. ({1}) Das hätte ich schon erwartet, wenn Sie mehr Menschen die Zuzahlungen ersparen möchten. Eines will ich noch hinzufügen: Während wir hier über eine Zuzahlungsbefreiung diskutieren, hören wir in diesen Tagen Rufe aus dem Süden der Republik, mit denen sogar noch höhere Zuzahlungen gefordert werden. Dem treten wir - das sollte klar sein - genauso entschieden wie Ihrem Antrag entgegen. ({2}) Wenn wir in Zukunft die notwendige medizinische Versorgung für alle gewährleisten wollen, dann müssen wir dafür sorgen, dass sich auch alle nach ihrer jeweiligen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit an den Kosten des Systems beteiligen. ({3}) Zu einer solidarischen Gesellschaft gehört umgekehrt auch, dass Benachteiligte gestützt werden. Das müssen sie. Hören Sie einmal kurz zu: Meiner Meinung nach müssen wir das auch in unsere Überlegungen im Rahmen der Diskussion über eine Anhebung des Regelsatzes beim AGL II einfließen lassen. Statt über weitere Zuzahlungsbefreiungen zu diskutieren, sollten wir uns lieber überlegen, wie wir im Bereich der Prävention auch Menschen mit niedrigem Einkommen oder mit Migrationshintergrund erreichen. ({4}) Wir brauchen dringend mehr niedrigschwellige Angebote und breitere Informationen darüber. Es geht darum, die Menschen zu erreichen, die keine Infobroschüren lesen und keine Infonummern wählen; ({5}) denn der soziale Status darf - da stimmen wir Ihnen ja zu nicht der entscheidende Negativfaktor für den Gesundheitszustand sein. ({6}) Deshalb sollen gerade durch das Präventionsgesetz, das wir vorbereiten, in dieser Hinsicht neue Wege geebnet werden; ({7}) denn durch Prävention wird die Gesundheit geschützt. Diese vierte Säule im Gesundheitsweisen muss gestärkt werden. Meines Erachtens werden auf diese Weise die existierenden Unterschiede im Gesundheitsbereich viel stärker abgebaut. So schaffen wir besser als mit einer kurzfristigen Zuzahlungsbefreiung nachhaltig soziale Gerechtigkeit. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Heinz Lanfermann, FDPFraktion. ({0})

Heinz Lanfermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002717, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir sprechen heute über die zum 1. Januar 2004 entfallene Zuzahlungsbefreiung für Härtefälle, wie sie in den §§ 61 und 62 des SGB V in der bis zum 31. Dezember 2003 geltenden Fassung vorgesehen war. Eines gleich vorweg: Die FDP teilt dieses spezielle Anliegen, für GKV-Versicherte mit geringem Einkommen wieder eine Härtefallregelung in das SGB V aufzunehmen, um zu verhindern, dass eine notwendige medizinische Versorgung wegen nicht aufbringbarer Zuzahlungen unterbleibt. ({0}) Das haben wir übrigens - auch wenn Sie das vielleicht erstaunt, Frau Kollegin Ferner - im Jahr 2004 mit unserem Antrag vom 14. Januar, Drucksache 15/2351, deutlich gemacht, der die Abschaffung der Praxisgebühren forderte und sich auch mit der Arzneimittelzuzahlung befasste. In diesem Antrag hieß es wörtlich: Die Wiedereinführung der alten Härtefallregelung, die Menschen, die von Sozialhilfe leben, von der Zuzahlung befreit hat, ist ebenfalls unumgänglich. Es ist ungerecht, dass Sozialhilfeempfänger von dem Betrag, den sie zur Sicherung ihres Existenzminimums benötigen, ebenfalls zuzahlen müssen. Die Obergrenze von 71 Euro bzw. 35,50 Euro bei chronisch Kranken mögen für einen Durchschnittsverdiener gering erscheinen. Für einen pflegebedürftigen alten Menschen im Heim, der das aus seinem „Bargeldbetrag zur freien Verfügung“, also seinem Taschengeld, bezahlen muss, sind sie es nicht. Meine Damen und Herren, mit dieser Einschätzung haben sich die Gemeinsamkeiten mit der Linksfraktion dann aber auch erschöpft. ({1}) Der in der Begründung des Antrags der Linken zum Ausdruck kommende Tenor, dass Zuzahlungen grundsätzlich mit großen Problemen behaftet sind, kann so nicht überzeugen. ({2}) Zuzahlungen sind eine Form der Eigenbeteiligung, und Eigenbeteiligungen sind im Gegenteil vom Grundsatz her durchaus ein gutes Instrument, um Menschen dazu zu bewegen, darüber nachzudenken, ob und in welchem Umfang Gesundheitsleistungen - sprich: auch Versicherungs- bzw. Kassenleistungen - in Anspruch genommen werden müssen oder sollen. Sie sind also auch eine Maßnahme, um das Kostenbewusstsein bei den Versicherten zu schärfen und die Finanzmittel im Gesundheitssystem möglichst zielgenau und bedarfsgerecht einzusetzen. Sie sind auch nicht per se belastend oder gar unsozial; denn durch den Einsatz des Mittels der Zuzahlung oder der Eigenbeteiligung ist der Beitrag der gesetzlich krankenversicherten Bürger geringer, als er es ohne dieses Instrument wäre. Das Geld wird ja nur einmal ausgegeben und auch nur einmal bezahlt. Wenn die Linksfraktion nun in ihrer Antragsbegründung fordert, man müsse, statt das Instrument der Zuzahlung zu wählen, auf eine Steuerung staatlicherseits setzen, ist dies nur der Wunsch nach noch mehr Staatsmedizin, als uns die Gesundheitsministerin Schmidt - zunächst unter rot-grüner Flagge und jetzt sogar mit zwar widerwilliger, aber doch realer Unterstützung der Unionsfraktion - beschert hat. Diese Politik der Rationierung und Regulierung, die die Menschen und ihre Bedürfnisse längst aus den Augen verloren hat und lediglich bemüht ist, Löcher zu stopfen und Gelder in einem immer dirigistischeren System durch immer kompliziertere Einzelfallregelungen umzuverteilen, ist längst gescheitert. ({3}) In dem angerichteten Trümmerhaufen ist die Zuzahlungsbefreiung für besondere Härtefälle nur ein weiterer unansehnlicher Stein. ({4}) Der deutsche Arzneimittelmarkt ist ohnehin hochgradig überreguliert. Arzneimittelrichtlinien, gesetzlicher Ausschluss von Arzneimitteln, Festbeträge für Arzneimittel und Nutzenbewertung sind nur einige Stichwörter für die Regulierungswut. Preisfindung geschieht real schon längst nicht mehr am Markt, sondern auf den Schreibtischen des Gesundheitsministeriums. Diese Regelungen durchschaut kein Mensch mehr wirklich. Sie bauen Ihre Politik ja auch darauf auf, dass die Menschen das nicht mehr verstehen und Sie ihnen suggerieren, es sei besonders sozial. Der Versicherte, der im Mittelpunkt allen Wirkens stehen sollte, ist dabei längst aus dem Blick geraten. Gerade deshalb wäre eine Diskussion darüber, ob das angestrebte Ziel einer wirtschaftlich verantwortlichen Arzneimittelversorgung nicht auch anders, nämlich ohne die vielen regulatorischen Mittel, besser zu erreichen ist, so wichtig. Diese Debatte führt zumindest die Bundesregierung jedoch nicht. Meine Damen und Herren, ich darf zusammenfassen: Da wir zwar einerseits der Forderung auf Wiedereinführung der Zuzahlungsbefreiung für Härtefälle zustimmen könnten, Sie aber andererseits Ihren Antrag mit einer Reihe von falschen Thesen untermauert haben, ist es nur folgerichtig, dass sich meine Fraktion enthalten wird. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort nun Kollegen Jens Spahn, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zum vorliegenden Antrag der Linken drei kurze Bemerkungen machen: Erstens. Zuzahlungen sind kein Selbstzweck, sondern als Steuerungsinstrument gedacht. Sie sollen signalisieren: Gesundheit ist etwas wert. Ebenso ist die Dienstleistung, die in dieser Republik 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche, 365 Tage im Jahr flächendeckend, bis in den letzten Winkel, zur Verfügung steht, etwas wert. Auch sozial Schwache und chronisch Kranke sollen und müssen verantwortungsbewusst mit diesen Ressourcen umgehen. Deswegen ist es von Anfang an Ziel dieser Zuzahlungsregelung gewesen, dazu zu animieren, zu überlegen, etwa vor dem Hintergrund der Praxisgebühr, ob es tatsächlich notwendig ist, den Arzt aufzusuchen. Der Durchschnittsdeutsche sucht etwa doppelt so oft einen Arzt auf wie der Durchschnittsfranzose, der Durchschnittsösterreicher oder der Durchschnittsniederländer. Dass er deswegen aber doppelt so gesund wäre, ist bisher nicht festzustellen gewesen; eher das Gegenteil. Deshalb war unser Ziel, dafür zu sorgen, dass in der Zukunft unnötige Arztbesuche möglichst vermieden werden. Die zweite Bemerkung zu dem, was Sie in Ihrem Antrag formulieren: Eine 1- bzw. 2-prozentige Maximalzuzahlung vom Einkommen ist als Regelung schon per definitionem sozial verträglich. Denn wer ein geringes Einkommen hat und wenig hat, muss am Ende, weil 1 Prozent oder 2 Prozent von wenig ebenfalls wenig ist, auch nur wenig Zuzahlungen leisten, während derjenige, der ein höheres Einkommen hat, an der Stelle erheblich höhere Zuzahlungen leisten muss. ({0}) Von daher ist diese Regelung in sich sozial verträglich. Im Übrigen ist sie mit Ausnahmen für Kinder versehen, die keine Zuzahlungen zu leisten haben, darüber hinaus - das ist wichtig; das ist nämlich in der Öffentlichkeit noch nicht überall angekommen - mit Ausnahmen für Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen. Von daher läuft der Vorwurf, den Sie in Ihrem Antrag machen und mit dem Sie ihn begründen, ins Leere. Nichtsdestotrotz müssen wir uns natürlich immer wieder fragen, ob das, was wir mit der Zuzahlungsregelung erreichen wollten, tatsächlich erreicht wird. Im Zusammenhang mit der Praxisgebühr kann ich mich daran erinnern, dass ich einmal am zweiten Tag eines Quartals beim Arzt war, wo ich am Tresen gefragt wurde, ob ich schon einmal die Überweisungen für den Hautarzt, den Augenarzt und diverse andere Ärzte mitnehmen wolle. Als ich sagte, ich hätte eigentlich gar nicht vor, diese Ärzte anschließend aufzusuchen, sagte man mir, es sei üblich, am Anfang des Quartals schon einmal die ganzen Überweisungen mitzugeben, damit das für jeden erledigt sei. Insofern muss man da genau schauen, ob die Steuerungswirkung, die wir wollen, tatsächlich erreicht wird. Dennoch ist das Ziel richtig, ein Bewusstsein für die Kosten des Systems zu schaffen und eine Beteiligung entsprechend dem Einkommen vorzusehen. ({1}) Drittens. Der Antrag steht in einer bestimmten Tradition von Anträgen, die Sie als Linkspartei regelmäßig zu den unterschiedlichsten Themen stellen. Einmal mehr sagen Sie im Grunde nichts zur Deckung der Kosten und der Ausfälle, die damit verbunden wären. Es geht um etwa 500 Millionen Euro. Das sind 0,05 Beitragssatzpunkte. Das ist bemerkenswert angesichts der Tatsache, dass die Opposition uns im Anschluss an diese Debatte noch eine Debatte aufdrücken will aus Sorge um vermeintliche oder tatsächliche Beitragssatzsteigerungen. Diese 0,05 Beitragssatzpunkte schlagen Sie hier vor, ohne mit einem Satz zu erwähnen, wie das anschließend finanziert werden soll. Von daher fällt dieser Antrag in die übliche Liste der Wünsch-dir-was-Anträge der Linkspartei. Sie mögen zwar populär und populistisch sein, aber sie sind nicht fundiert; sie betrachten nicht die Realität und schon gar nicht unsere Zielsetzung. Deswegen ist der Antrag von uns abzulehnen. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun hat Kollege Frank Spieth, Fraktion Die Linke, das Wort. ({0})

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich einige Anmerkungen zu den einzelnen Beiträgen mache, noch einmal zum grundsätzlichen Anliegen dieses Antrags. Der „Linkssozialist und Revolutionär“ Norbert Blüm hat in den 90er-Jahren die Zuzahlungen in der gesetzlichen Krankenversicherung eingeführt. Er hat damals festgestellt, dass aus sozialer Rücksicht auf Menschen mit geringem Einkommen eine Härtefallregelung notwendig sei, damit diese Menschen vor Überforderung bei Zuzahlungen geschützt würden. ({0}) Er ist ein wackerer Christdemokrat. Die Sozialdemokratische Partei hat durch ihre damaligen Vertreter gegen die Härtefallregelung argumentiert, und zwar mit der Begründung, dass sie gar keine Zuzahlungen wolle. 15 Jahre später wird Ihre Einstellung deutlich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD: Was schert mich mein Geschwätz von gestern? Was interessiert uns das, was wir als Partei der sozialen Gerechtigkeit in Wahlkämpfen versprechen? In der Praxis wird dann genau das Gegenteil gemacht, leider weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Das ist sehr bemerkenswert. ({1}) Welches Anliegen verfolgen wir mit der Härtefallregelung? Damit wollen wir das, was bis zum 31. Dezember 2003 gegolten hat, wieder einführen. Übrigens wollten Ihre Fraktion und Ihre Ministerin noch im Jahr 2003 die Härtefallregelung erhalten; sie wurde dann aber auf dem Altar des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes und bei den Nacht- und Nebelabsprachen mit Herrn Seehofer, die das Gesetz ermöglichen sollten, geopfert. Das ist die politische Realität. Mit der Härtefallregelung sollten Menschen mit geringem Einkommen vor Überforderung geschützt werden. Wenn davon die Rede ist, die alte Regelung wieder einzuführen - also Versicherte mit einem Einkommen bis zu 40 Prozent der Bezugsgröße wieder von den Zuzahlungen zu befreien -, dann bedeutet das in Zahlen: Wer weniger als 994 Euro Einkommen bezieht - das betrifft die große Masse der Rentnerinnen und Rentner -, wäre endlich wieder von Eintrittsgebühren beim Arzt, Zuzahlungen zu Arznei- und Heilmitteln und zum Krankenhausbesuch befreit. Darum geht es bei dieser Härtefallregelung im Kern. ({2}) Das haben Sie bei gleichzeitigen deutlichen Erhöhungen der Zuzahlungen Ende 2003 abgeschafft. Das halte ich nach wie vor für einen sozialen Skandal. ({3}) Wir wollen aber mit dieser Regelung nicht nur Menschen mit geringem Einkommen schützen. Wir wollen auch Bezieher von Arbeitslosengeld II, Sozialhilfe, Sozialgeld, Grundsicherung und Ausbildungsförderung nach BAföG oder SGB II, deren Einkünfte unterhalb der Einkommensgrenze liegen, von Zuzahlungen befreien, wie es bis zum 31. Dezember 2003 der Fall war. Vielleicht kann mir jemand erklären, was das, was damals von Schwarz-Gelb eingeführt und von Rot-Grün gemeinsam mit den Konservativen in diesem Hause abgeschafft wurde, mit Populismus zu tun hat. Es geht nur darum, den Zustand der schreienden sozialen Ungerechtigkeit in diesem Land endlich aufzulösen. Lassen Sie mich abschließend das Beispiel einer Gruppe von chronisch Kranken aus Sonneberg im südlichen Thüringen anführen, die in einem Brief klipp und klar feststellen: Am härtesten treffen die Zuzahlungsregelungen immer die chronisch Kranken. Denn deren Ausgaben im Gesundheitswesen nehmen inzwischen erhebliche Ausmaße an, sei es durch die Erhöhung der Krankenkassenbeiträge, die Zuzahlung zu Medikamenten, medizinischen Hilfsmitteln, Brillen, Zahnersatz und psycho- und physiotherapeutischen Maßnahmen, die Benachteiligung der gesetzlich Versicherten gegenüber privat Versicherten und vieles andere mehr. ({4}) Sie scheinen die Lebensrealität der Menschen mit geringem Einkommen in diesem Lande nicht mehr im Fokus zu haben. Wir brauchen wieder Härtefallregelungen, damit Menschen durch Armut und geringe Einkommen nicht von der Gesundheitsversorgung ausgeschlossen werden. Das ist eine Tatsache. ({5}) Danke für Ihre Unaufmerksamkeit. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Harald Terpe, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Harald Terpe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003854, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Vorab eine persönliche Einschätzung: Die Frage, ob sich mit Zuzahlungen mehr Eigenverantwortung und ein verantwortungsbewussterer Umgang mit den Gesundheitsausgaben im erhofften Maße fördern lässt, lässt sich noch nicht sicher beantworten. Ich glaube, darüber sind wir uns einig. Ziel ist tatsächlich gewesen, die Eigenverantwortung zu stärken und eine Steuerung der Gesundheitskosten einzuführen. Insofern hat sich die Richtung unserer Diskussionen über die Gesundheitspolitik in den letzten fünf Jahren verändert. Das muss man zur Kenntnis nehmen. Wir haben die Verpflichtung, auf eine möglichst gerechte Ausgestaltung der Zuzahlungen zu achten. Hier gibt es sicherlich offene Fragen, beispielsweise ob nicht die ohnehin durch Krankheit belasteten Patientinnen und Patienten auch die Hauptlast der Zuzahlungen tragen. Wir müssen darüber diskutieren und uns fragen, ob wir Änderungen vornehmen müssen. Der Antrag der Linken ist aber nicht unbedingt geeignet, auf den aus unserer Sicht unbestreitbaren Zusammenhang zwischen sozialem Status und Gesundheit angemessen zu reagieren. Er wirft neue Gerechtigkeits- und Diskriminierungsfragen auf genauso wie die Frage nach der Finanzierung; darauf wurde schon hingewiesen. Man muss konstatieren, dass die Zuzahlungsregelungen nicht nur Nachteile, sondern auch Vorteile bringen. Danach müssen sich diejenigen, die chronisch krank sind und über geringe Mittel verfügen, nicht vorher einen Schein bei irgendeiner Behörde besorgen, um nachzuweisen, dass sie von der Zuzahlung befreit sind. Wir sind uns wahrscheinlich weitgehend über die Feststellung einig, dass es einen Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und unterschiedlich verteilten Gesundheitschancen gibt. Menschen mit einem schlechteren sozialen Status sind häufiger und anders krank als Menschen mit hoher Bildung und einem höheren Einkommen. Darauf hat der Sachverständigenrat hingewiesen. Das ist auch im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung an vielen Stellen nachzulesen. Allerdings bleiben nach unserer Meinung zumindest aufseiten der Regierungsbank die nötigen Konsequenzen aus. Die Koalition ist bislang praktische Antworten auf die Frage, was sie gegen sozial bedingte Ungleichheiten bei den Gesundheitschancen zu tun gedenkt, schuldig geblieben. Ich will das an zwei Beispielen deutlich machen. Erstes Beispiel. Wir wissen, dass gut gemachte Gesundheitsförderung und Primärprävention vor allem bei Menschen mit niedrigem sozialen Status ansetzen müssen. Seit Monaten wird in der Koalition ergebnislos über den Entwurf eines Präventionsgesetzes inhaltlich gestritten. Das ist keine wirksame Präventionspolitik. Ein Präventionsgesetz müsste über Marketingaktionen der Krankenkassen oder des Bundesgesundheitsministeriums hinausgehen. ({0}) Das zweite Beispiel ist der Regelsatz für Bezieher von ALG II und Sozialhilfe. In den monatlichen Regelleistungen ist bekanntlich ein Anteil von 4 Prozent für Gesundheitsausgaben vorgesehen. Das sind monatlich knapp 14 Euro. Man kann sich leicht ausrechnen, dass dies bei einer Bevölkerungsgruppe, die ohnehin durch einen schlechteren Gesundheitszustand gekennzeichnet ist, in vielen Fällen nicht ausreichend ist. Unsere Antwort darauf lautet nicht, die Regelleistungen isoliert über das Gesundheitssystem zu finanzieren. Wir fordern eine Nachbesserung bei den Regelsätzen. Das heißt, wir wollen sie anheben. Wir haben dazu schon Anträge eingebracht und darüber diskutiert. Ich glaube aber, dass die Koalition die Diskussion über eine Anpassung verweigert und dass manche das Problem noch gar nicht erkannt haben. Wir werden uns bei der Abstimmung über den Antrag der Linken enthalten, weil wir eine gründliche und zielorientierte Debatte darüber für notwendig halten, wie wir die Gesundheitschancen von Menschen mit geringen Einkommen und geringen Bildungsabschlüssen verbessern können. Dieser Ansatz ist anders als der der FDP. Sie befürwortet durchaus die Einführung einer Härtefallregelung, findet aber die Begründung der Linken völlig absurd. Wir hingegen finden einiges in der Begründung, zum Beispiel den Vorschlag, über die Gesundheitschancen zu reden, richtig, nicht aber die Härtefallregelung. Wir müssen erstens endlich ein Gesetz für eine wirksame Gesundheitsprävention auf den Weg bringen. Wir müssen zweitens die Regelsätze bedarfsgerecht anpassen. Wir müssen drittens darüber diskutieren, ob die derzeit genutzten Anreizinstrumente zur individuellen Steuerung der Gesundheitsausgaben geeignet sind. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und schönes Wochenende. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Wiedereinführung der vollständigen Zuzahlungsbefreiungen für Versicherte mit geringem Einkommen im Wege der Härtefallregelung“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7435, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/6033 abzulehnen. ({0}) Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und FDP angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 10 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP Gesundheitsfonds stoppen - Beitragsautonomie der Krankenkassen bewahren Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Daniel Bahr, FDP-Fraktion. ({1})

Daniel Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich erinnere die schwarz-rote Koalition zunächst an das, was sie sich selbst für diese Legislaturperiode vorgenommen hat. Im Koalitionsvertrag vom 11. November 2005, in dem sich CDU, CSU und SPD auf ihre Ziele für diese Legislaturperiode festgelegt haben, heißt es wörtlich: Für den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung wird in 2006 ein umfassendes Zukunftskonzept entwickelt, das auch darauf angelegt ist, die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung mindestens stabil zu halten und möglichst zu senken. Die schwarz-rote Koalition hat sich nach monatelangen Verhandlungen auf eine Gesundheitsreform geeinigt, die seit dem 1. April 2007 in Kraft ist. Die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung betrugen zu Beginn Ihrer Amtszeit als Große Koalition 14,2 Prozent. Sie betragen mittlerweile aufgrund der Politik der schwarz-roten Koalition 14,8 Prozent. Sie haben bisher mitnichten dazu beigetragen, dass die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung „mindestens stabil“ geblieben oder sogar gesunken sind. Im Gegenteil, die Bürgerinnen und Bürger müssen immer mehr zahlen; sie werden für eine falsche Politik von Schwarz und Rot immer mehr zur Kasse gebeten. ({0}) In diesem Jahr muss die Bundesregierung erstmals einen bundesweit einheitlichen Beitragssatz für den Gesundheitsfonds festlegen. Berechnungen des Münchener Instituts für Gesundheitsökonomie gehen von einem Beitragssatz von 15,5 Prozent aus. Der Sachverständigenrat Gesundheit und andere Institute wie das des Herrn Kollegen Lauterbach ({1}) erwarten einen Satz zwischen 15 und 15,4 Prozent. Verschiedene Krankenkassen haben einen Satz von bis zu 15,5 Prozent berechnet. Fest steht damit, meine Damen und Herren, dass von Ihnen im Herbst dieses Jahres ein Beitragssatz oberhalb von 15 Prozent beschlossen werden müsste, damit der Gesundheitsfonds in Kraft treten kann und die Krankenkassen aus den Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds 100 Prozent ihrer Ausgaben decken können. Damit steht also fest, dass der Beitragssatz gegenüber 2005 erneut deutlich steigen wird. Für die Bürgerinnen und Bürger wird es immer teurer, aber mitnichten besser. ({2}) Die schwarz-rote Bundesregierung geht mit dem Gesundheitsfonds den Weg in ein staatliches und zentralistisches Gesundheitswesen. Demnächst wird die Regierung Jahr für Jahr darüber entscheiden, wie viel Geld dem Gesundheitswesen zur Verfügung steht. Wenn Sie in jedem Herbst festlegen müssen, wie hoch ein bundesweit einheitlicher Beitragssatz ist, dann hat dies überhaupt nichts mit Wettbewerb zu tun. ({3}) Bisher entscheiden die Krankenkassen im Rahmen eines zaghaften Wettbewerbs, wie hoch ihr Beitragssatz ist. Diese Entscheidung nehmen Sie ihnen weg. Demnächst entscheiden Sie dann, Frau Schmidt. Jedes Jahr im Herbst entscheidet die Bundesregierung, wie viel Geld dem Gesundheitswesen im nächsten Jahr zur Verfügung stehen wird. Dies wird kein leichtes Spiel sein, wenn die Ausgaben steigen, wie es jetzt absehbar ist. In diesem Falle müssen Sie entscheiden, wie hoch der Beitragssatz ist. Diese Entscheidung wird sich keine Regierung leicht machen, weil es um einen Anstieg der Lohnzusatzkosten geht, was eine weitere Belastung des Arbeitsmarkts bedeutet. Dann werden wir in jedem Jahr die Diskussion haben, auf die Sie gerade einen Vorgeschmack bekommen, ({4}) nämlich den Streit darüber, wie wir kurzfristig verhindern können, dass der Beitragssatz angehoben werden muss. ({5}) Sie, Frau Schmidt, haben doch schon längst eingestanden, dass der Beitragssatz weiter steigen muss; denn Sie fahnden bereits nach Vorschlägen, wie man diesen Beitragssatzanstieg verhindern kann, indem Sie überlegen, wie zusätzliche Steuergelder in den Gesundheitsfonds fließen oder wie Sie Arzneimittelsparpakete planen können. Das heißt, das, was Sie jetzt machen, werden wir jedes Jahr erleben. Wir werden erleben, wie versucht wird, kurzfristig mit Maßnahmen Kostendämpfungspolitik zu betreiben. Es werden Zuzahlungen erhöht, ({6}) es werden Leistungen gekürzt, es werden Sparopfer von Krankenhäusern, von Apothekern und von Ärzten verlangt. Die Bürgerinnen und Bürger werden dann erleben, wie instabil und unsicher dieses Gesundheitswesen durch die Entscheidung für den Gesundheitsfonds und einen Einheitsbeitragssatz finanziert wird. Das macht die Finanzierung des Gesundheitswesens eben nicht nachhaltiger - das aber haben Sie sich vorgenommen -, sondern instabiler. Das ist der große Fehler dieser Reform. ({7}) Demnächst sollen 50 bis 80 Krankheitsbilder bei der Umverteilung des Geldes im Gesundheitsfonds berücksichtigt werden. Das bedeutet einen enormen Dokumentationsaufwand und schafft Bürokratie bei der Zuteilung der Gelder an die Krankenkassen, was das Gutachten gerade deutlich gemacht hat. Das wird übrigens einen AnDaniel Bahr ({8}) reiz schaffen, dass die Krankenkassen möglichst viele Versicherte in diese Krankheitsbilder eingruppieren, und Deutschland wird dabei wegen Ihrer Gesundheitsreform kränker. Ich komme zum Schluss. Der Gesundheitsfonds löst kein einziges der Probleme, vor dem wir im Gesundheitswesen stehen. Er schafft nur neue. Die Beitragszahler müssen für eine verkorkste schwarz-rote Gesundheitsreform teuer bezahlen. Stoppen Sie diesen Gesundheitsfonds, damit es für die Beitragszahler nicht immer teurer wird! Herzlichen Dank. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Annette Widmann-Mauz, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Politik beginnt zunächst einmal mit dem Betrachten der Realität. ({0}) Das gelingt nicht mit dem Betrachten des Gutachtens, das im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft präsentiert wurde. ({1}) Das neue Jahr begann mit einem gesundheitspolitischen Schnellschuss, einem wahren Neujahrsböller: Viel Lärm um nichts. Dieses Gutachten ist fachlich mangelhaft, ({2}) es ist spekulativ, es ist schlichtweg höchst unseriös. ({3}) Tatsachen werden einfach negiert, und es wird mit Spekulationen gearbeitet. Sie, Herr Bahr, wissen doch selbst: Die Entwicklung der beitragsrelevanten Einnahmen können Sie und wir im Moment überhaupt nicht abschätzen. Sie kennen nicht die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in diesem Jahr, auch wir kennen sie nicht. Im Moment steigt sie, und das ist gut. Sie kennen nicht die Zahl der Arbeitslosen am Ende dieses Jahres, auch wir kennen sie nicht. Im Moment sinkt die Zahl der Arbeitslosen durch die gute Politik der Bundesregierung. ({4}) Sie kennen die Lohnentwicklung in diesem Jahr nicht. Ich höre, was die Gewerkschaften fordern, und deshalb lassen Sie uns doch erst einmal abwarten, wie sich die Einnahmen in diesem Jahr entwickeln. Sie kennen das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats zum Risikostrukturausgleich seit gerade einmal sieben Tagen. Erst seit sieben Tagen ist es nämlich veröffentlicht. Es handelt sich um eine hochkomplexe Materie. ({5}) Dass Sie schon heute den Mut haben, die Wirkungen, insbesondere die finanziellen Wirkungen, für jede einzelne Kasse und damit für jeden Versicherten abzuschätzen, finde ich erstaunlich. Dazu kann ich Ihnen nur gratulieren. Wir können das nicht. Wir machen seriöse Politik. Auch über die Ausgabenentwicklung wird kräftig spekuliert. Sie kennen die Ergebnisse der Honorarvereinbarungen nicht, auch ich kenne sie nicht. Wie können Sie schon jetzt genau sagen, wie viele Milliarden am Ende dabei herauskommen? Herr Bahr, es geht schlichtweg nicht, dass Sie morgens mit den Ärzten, seien es die niedergelassenen Ärzte oder sei es der Marburger Bund, demonstrieren und sagen, dass die Ärzteschaft zu schlecht honoriert wird und die Arbeitsbedingungen zu mies sind, und sich nachmittags hier ans Pult stellen und die Beitragssatzsteigerungen beklagen, die zum Beispiel aus solchen Lohnerhöhungen resultieren. So geht es nicht. ({6}) Sie alle wissen, dass dieses Gutachten Dinge schlichtweg übersehen hat, zum Beispiel dass der Steuerzuschuss im nächsten Jahr 4 Milliarden Euro betragen wird und deshalb 1,5 Milliarden Euro mehr als in diesem Jahr in den Fonds fließen werden. Niemand kann heute seriös den Beitragssatz vom 1. Januar nächsten Jahres benennen. Der allgemeine Beitragssatz im nächsten Jahr ergibt sich aus dem durchschnittlichen Beitragssatz dieses Jahres. Wenn die Beiträge in diesem Jahr stabil bleiben, dann hat das Auswirkungen auf das Jahr 2009. Es ist genauso irrwitzig, eine Verknüpfung zwischen möglichen Beitragssatzsteigerungen der gesetzlichen Krankenkassen und dem neuen Finanzierungssystem herzustellen. Das ist schlichtweg unlauter. Anders ausgedrückt: Wenn die Beiträge steigen, dann tun sie dies unabhängig davon, ob es einen Gesundheitsfonds gibt; ({7}) denn ihr Anstieg hat ganz andere Gründe, die Sie kennen. ({8}) Ich will Ihnen ein Weiteres sagen. Sie tun hier immer so - auch heute Nachmittag wieder -, als ob der allgemeine Beitragssatz der einzige Bestandteil des Beitrags der Versicherten im nächsten Jahr und in der Zukunft wäre. Sie tun so, als ob jeder Versicherte bei jeder Kasse gleich viel bezahlen müsste. Aber das wird nicht der Fall sein. Das neue Finanzierungssystem besteht aus zwei Teilen, nämlich aus dem allgemeinen Beitragssatz, der einen Durchschnittssatz aller Kassen abbildet, und aus der Notwendigkeit, einen Zusatzbeitrag zu verlangen, oder der Möglichkeit, den Versicherten einen Pauschalbetrag zurückzugeben. Wer also heute in einer Kasse versichert ist, die wirtschaftlich effizienter arbeitet, der wird auch in Zukunft - wenn diese Kasse weiterhin so arbeitet - von Rückzahlungen profitieren können. Das ist das neue System. Es bringt die Kassen dazu, dass sie sich jetzt auf diese Finanzierungsform vorbereiten. Sie organisieren ihre Verwaltungsstrukturen um. Sie schließen Verträge. Das alles läuft an. Die Rabattverträge, die geschlossen werden, bieten doch ein Einsparpotenzial. Aber das beklagen Sie wiederum, weil das Einsparungen bringen könnte. Sie müssen sich entscheiden, ob Sie auf den Barrikaden bei denjenigen stehen, die im Grunde jede Veränderung verhindern wollen - sie kämpfen an vielen Stellen dafür -, oder ob Sie dazu beitragen, dass diese wettbewerblichen Instrumente in unserem System mit dafür sorgen, Beiträge stabil zu halten und damit am Ende einen Fortschritt für die Versicherten zu erreichen. Unsere Maßnahmen führen auch dazu, dass Ausgaben steigen. Wir haben hier im Parlament übereinstimmend festgestellt, dass wir zum Beispiel die Impfquote in Deutschland steigern wollen. Dann dürfen wir aber, wenn die Ärzte jetzt mehr impfen, nicht höhere Arzneimittelausgaben beklagen. ({9}) Zum Beispiel werden in Berlin sehr viele HPV-Impfungen durchgeführt. Auch Sie wissen: Wir wollen ebenfalls, dass weiterhin genügend Ärzte für die Versorgung in Deutschland zur Verfügung stehen. Dazu brauchen wir ein gerechtes Honorierungssystem. Wenn wir also wollen, dass den Versicherten der medizinische Fortschritt in einer alternden Gesellschaft zugutekommt, dann müssen wir es jetzt schaffen, dafür das notwendige Geld zur Verfügung zu stellen. Ich kann Ihnen von der FDP nur sagen: Sie haben heute wieder einmal demonstriert, dass Sie wissen, was Sie nicht wollen. Das ist nichts Neues. Das können Sie gut. Wenn Sie uns heute gesagt hätten, was Sie außer der Streichung des Fonds konkret tun wollen, um die Beitragssätze in unserem Land stabil zu halten, dann wäre das wirklich eine Aktuelle Stunde wert gewesen. So haben Sie wieder einmal mehr dazu beigetragen, die Menschen mit Spekulationen und Halbwahrheiten zu verunsichern, und Sie haben nur denen im Land wieder Hoffnung gemacht, die sich immer schon gegen Veränderungen, gegen mehr Transparenz und gegen mehr Wettbewerb gewehrt haben. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Frank Spieth, Fraktion Die Linke. ({0})

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es gut, dass die FDP diesen Antrag zu einer Aktuellen Stunde gestellt hat; denn sie bietet die Gelegenheit, miteinander über die Frage zu diskutieren, ob der Gesundheitsfonds, der hier zur Debatte steht, das eigentliche Problem der vergangenen „Gesundheitsreform“ ist. ({0}) Ich meine, nein. Der Gesundheitsfonds ist nicht das Problem. Das Problem ist vielmehr, dass die Koalition im vergangenen Jahr versäumt hat, eine grundlegende Neufinanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung auf den Weg zu bringen. ({1}) Das heißt, dass wir Privilegien abschaffen, dass wir alle in die gesetzliche Krankenversicherung einbeziehen und dass wir von allen Einkommensarten einen Beitrag abverlangen. Das hätte zur Folge, dass man mit einer solchen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung - das wäre das nämlich - einen Beitrag von im Durchschnitt 10 Prozent realisieren könnte. Das ist die Wirklichkeit. Dass es dazu nicht gekommen ist, ist ein Problem der letzten „Gesundheitsreform“. Unter anderem die FDP schlägt jetzt aus nachvollziehbaren Gründen auf den Sack Gesundheitsfonds. Eigentlich meint sie etwas ganz anderes: Der FDP geht es im Kern um die Stärkung von Privilegien - das ist meine feste Überzeugung - und nicht darum, etwas mehr soziale Gerechtigkeit herzustellen. ({2}) In einem Punkt allerdings hat Herr Bahr recht. Es ist nach meiner Auffassung nicht zulässig, so zu tun, als würden die Beiträge zu einem Gesundheitsfonds deutlich unter den jetzigen Durchschnittsbeiträgen in der gesetzlichen Krankenversicherung liegen. ({3}) Wir haben aktuell in der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland einen durchschnittlichen Beitragssatz von roundabout 14 Prozent. (Zuruf des Abg. Dr. Hans Georg Faust ({4}) - Ja, 13,8 Prozent waren es im vergangenen Jahr, 2007, Herr Dr. Faust; das wissen Sie genau. Am 1. Januar 2008 haben 60 Krankenkassen die Beiträge erhöht, und deshalb sind wir jetzt bei 14 Prozent. Das ist aber nicht die ganze Wahrheit. Tatsache ist auch, dass den Versicherten ein Zusatzbeitrag von 0,9 Prozent zugemutet wird. Das heißt, wir sind unterm Strich bei einer Gesamtbelastung von 14,9 Prozent. Der Schätzerkreis, der vom Bundesversicherungsamt eingesetzt ist, die Kostenentwicklungen kalkuliert und daraus beitragsrelevante Schlussfolgerungen zieht, sagt: In diesem Jahr werden die Ausgaben in der GKV und damit die Beitragsleistungen in etwa um 0,3 Prozent steigen. Dann sind wir schon bei 15,2 Prozent. ({5}) Das ist nicht ganz weit weg von dem, was von dem Institut in München angenommen wurde. Ich finde, wir sollten ehrlich sein und ehrlich bleiben. Es war doch unmöglich, dass wir in Deutschland je nach Wohnort einen Beitragssatz von 13,5 bis 18 Prozent hatten oder je nach Industriebranche oder Handwerk einen Beitragssatz von 11,3 bis 16 Prozent, inklusive allem. Das heißt, dass es bisher je nach Wohnort oder Betriebszugehörigkeit unterschiedlich hohe Beitragssätze gab. Die Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung werden aber überall in Deutschland zu den gleichen Bedingungen unabhängig von der Höhe des Beitragssatzes bereitgestellt. Insofern ist es schlüssig, wenn am Ende ein einheitlicher, deutschlandweit gleicher Beitragssatz erhoben wird. ({6}) Das kann doch nicht anders sein als in der Renten- und in der Arbeitslosenversicherung. ({7}) Wir haben aber mit diesem Gesundheitsfonds ein ganz anderes Problem in der Tasche. Wenn denn im Jahr 2009 die Krankenkassen ihre Mittel zu 100 Prozent aus dem Gesundheitsfonds erhalten - sofern das gelingt, auch mit dem neuen Risikostrukturausgleich -, wird es möglicherweise einige Krankenkassen geben, die damit nicht auskommen. Auf die 0,9 Prozent, die schon jetzt alle Versicherten zusätzlich zahlen müssen, wird dann noch etwas draufkommen: Eine Pauschale von bis zu 1 Prozent des Einkommens, die aber mindestens 8 Euro beträgt. Aber auch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Ein weiterer Teil der Wahrheit in diesem Gesetz wird überhaupt nicht diskutiert, nämlich dass die Bundesregierung die Beitragssätze erst dann anpasst, wenn die Ausgaben der zukünftigen Versicherung nur noch zu 95 Prozent durch die Einnahmen gedeckt sind. ({8}) - Das steht im Gesetz. ({9}) - Sie wird nicht vorher erhöhen; davon kann man schon heute ausgehen. - Ich komme zum Schluss. Es wird dann ein Delta von 5 Prozentpunkten geben, das durch die Krankenkassen nicht mehr abgedeckt werden kann. Die Folgen werden sein - anders werden die Krankenkassen ihre Ausgaben nicht finanzieren können -, dass es zu massiven Leistungskürzungen kommt, dass die Zuzahlungen erhöht werden oder aber im Umfang jener 5 Prozentpunkte zusätzlich Beiträge erhoben werden. Das eigentliche Problem der Kopfpauschale ist die Begrenzung auf 1 Prozent, die von der SPD durchgesetzt worden ist; ({10}) die CDU/CSU wollte das ursprünglich auf 3 Prozent begrenzen. - In der Richtung liegt die Wahrheit. Es wird spätestens im Jahr 2011 eine deutliche Beitragssatzerhöhung oder erheblich höhere Eigenanteile der Versicherten geben. Das ist nach meiner Auffassung sozial unhaltbar. Danke. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Bundesministerin Ulla Schmidt. ({0})

Ulla Schmidt (Minister:in)

Politiker ID: 11002019

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man könnte der FDP dankbar sein, ({0}) dass sie uns mit dieser Aktuellen Stunde noch einmal die Gelegenheit gibt, hier über die Vorzüge eines fairen Wettbewerbs im Gesundheitswesen zu reden. ({1}) Ich gebe ja zu, dass den Zuhörern und denen, die schon länger hier sitzen, die Verbindung der Worte „fairer Wettbewerb“ und „FDP“ ({2}) so wie die Verbindung der Worte „der Teufel“ und „das Weihwasser“ vorkommen muss. ({3}) Immer dann, wenn die FDP nämlich für mehr Wettbewerb eintrat, ging es ihr eigentlich nur darum, Vorteile für die eigene Klientel zu schaffen. ({4}) Deswegen, Frau Kollegin Widmann-Mauz, passt das Verhalten der FDP sehr gut zusammen: auf der einen Seite für mehr Geld für die Pharmaindustrie, für Zahnärzte, für Apotheker und andere streiten, aber anderer14522 seits im Parlament einen Antrag auf Grundversorgung für alle Menschen einbringen. Das tragen dann die armen Menschen. Diejenigen dagegen, die Geld haben, könnten sich ihren Krankenversicherungsschutz selber erweitern. ({5}) Das ist FDP-Politik. Deshalb, Herr Kollege Bahr, werden wir in dieser Frage nie zusammenkommen und gemeinsam etwas auf den Weg bringen. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung will mit der Einführung des Gesundheitsfonds die Finanzierungsstrukturen der gesetzlichen Krankenversicherung neu gestalten. Wenn alle in diesem Land den gleichen Anspruch auf Leistungen haben, alle im Prinzip ins gleiche Krankenhaus gehen, alle bei einer Krankheit die gleichen Medikamente verordnet bekommen und alle den gleichen Anspruch auf Kuren und Rehabilitationsmaßnahmen haben - von all dem halte ich sehr viel -, ({7}) dann macht es Sinn, dass auch alle Menschen den gleichen Anteil ihres Einkommens für die Finanzierung dieser Versorgung aufbringen. ({8}) Dass die gesetzliche Krankenversicherung eine Solidargemeinschaft ist, wird ja manchmal vergessen. Hier ziehen wir nach und machen nun nichts anderes als bei der Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung. Dort haben ja auch alle Menschen die gleichen Rechtsansprüche auf Leistungen, ({9}) und zwar egal, ob sie im Osten, im Westen, im Süden oder im Norden dieses Landes leben. ({10}) Wir werden nicht nur die Beiträge festsetzen, sondern werden zusätzlich zu den Beiträgen der Versicherten im Jahr 2009 4 Milliarden Euro aus Steuergeldern für die gesamtgesellschaftlichen Aufgaben, die heute die Beitragszahlerinnen und -zahler alleine tragen, der GKV zukommen lassen. Dieser Betrag wird in den kommenden Jahren um jeweils 1,5 Milliarden Euro erhöht, bis eine Gesamtsumme in Höhe von 14 Milliarden Euro erreicht ist. Dieser Betrag entspricht dann immerhin 10 Prozent der derzeitigen Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung; so viel wird dann über Steuergelder finanziert werden. ({11}) Der Fonds hat eine wichtige Funktion: Er soll das Geld der Versicherten gerechter verteilen, als es heute der Fall ist, und zwar erstens, indem unterschiedliche Einkommensstrukturen bei den Versicherten ausgeglichen werden. Eine Krankenkasse hat ja überhaupt keinen Einfluss darauf, ob sie in einer Region ansässig ist, in der es hauptsächlich ein niedriges Einkommensniveau gibt, oder ob sie historisch bedingt fast nur Versicherte hat, deren Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze liegt. Es ist gerecht, die Einnahmenunterschiede, die sich aus den verschiedenen Einkommensstrukturen ergeben, auszugleichen. ({12}) Zweitens haben wir mit dem Fonds die Möglichkeit, die Gelder der Versicherten so zu verteilen, dass in Regionen, in denen es besonders viele kranke Menschen gibt, mehr Geld für eine gute Krankenversorgung fließt als in Regionen, wo überwiegend junge und gesunde Versicherte leben. Insofern schafft der Fonds mehr Gerechtigkeit und sorgt dafür, dass die Unterschiede zwischen Ost und West, zwischen Stadt und Land aufgehoben werden und eine gesamtdeutsche solidarische Finanzierung der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung auf den Weg gebracht wird. ({13}) Nur auf der Grundlage fairer Verteilung ist Wettbewerb möglich. ({14}) Wir wollen Wettbewerb, um beste Qualität bei der Versorgung zu erreichen. Wir verstehen unter Qualität ({15}) gute Versorgungsangebote und zugleich auch ein nie endendes Bemühen der Krankenkassen, der Vertragspartner, jeden Euro der Versicherten so zielgenau wie möglich für eine gute Versorgung einzusetzen. Eines ist doch klar: In einer Gesellschaft, in der immer mehr Menschen länger leben und in der alle Versicherten die Chance haben sollen - diesen Anspruch wollen wir als Koalitionsfraktionen garantieren -, am medizinischen Fortschritt teilzuhaben, ist es eine immerwährende Aufgabe für alle im Gesundheitswesen Tätigen, für rationellen Einsatz der Gelder und damit für kostengünstige, aber zugleich auch gute Versorgungsangebote mit hohen Qualitätsstandards zu streiten. Das ist mit Fonds und ohne Fonds der Fall. Aber der Fonds sorgt für mehr Gerechtigkeit. Die Kassen haben von uns die Möglichkeit bekommen, mit einem Bündel von Instrumenten - neue Versorgungsverträge, Rabattverträge, Preisverhandlungen, Ausschreibungen und Haushaltsverträge; ich kann die vollständige Liste gar nicht nennen - möglichst effektiv und effizient mit dem Geld der Versicherten umzugehen. Wir werden mit dem Fonds dafür sorgen, dass die Kassen das Geld erhalten, das sie für die Versorgung ihrer Versicherten brauchen. An dieser Stelle fängt der Wettbewerb an. Die Mehrheit der Kassen wird mit dem Geld auskommen. Es wird sogar Kassen geben, die Beiträge zurückzahlen und zum Beispiel Boni einräumen. Es wird aber auch Kassen geben, die einen Zusatzbeitrag erheben, der maximal 1 Prozent des Einkommens ausmachen darf. Die Versicherten haben damit aber die Möglichkeit, genau zu sehen, was mit ihrem Geld passiert. Es herrscht erstmals Transparenz. Denn der Zusatzbeitrag wird nicht einfach automatisch vom Gehaltskonto abgebucht. Die Versicherten können sich überlegen, ob sie mit den Angeboten ihrer Kasse zufrieden sind. Die Menschen verhalten sich bei Beitragserhöhungen in der Regel solidarisch, wenn sie das Gefühl haben, dass sie bei ihrer Kasse gut aufgehoben sind. Die Versicherten haben von uns ein umfangreiches Wechselrecht bekommen, damit sie dann, wenn sie nicht Mitglied ihrer Kasse bleiben wollen, mit den Füßen abstimmen können. Das ist die Basis für einen wirklichen Wettbewerb, weil die Menschen viel mehr Wahlfreiheiten haben und damit mehr Druck auf die Kassen ausüben können, sich verstärkt um gute Versorgungsangebote zu kümmern. Ich sage Ihnen: Was in den ersten Monaten nach der Gesundheitsreform passiert ist, ist ermutigend. Es gibt viele neue Angebote von Telefonhotlines bis hin zu Verträgen, mit denen die Versorgung am Wochenende sichergestellt wird. Es gibt außerdem viele Qualitätsdebatten. Wir stehen hier zwar erst am Anfang. Aber die Entwicklung zeigt, dass wir den richtigen Weg eingeschlagen haben. Denn das Bemühen um die Versicherten und um eine gute Versorgung ist wesentlich größer, als es in den Jahren zuvor der Fall war. Angesichts des Geredes im Zusammenhang mit der Frage, ob die Beiträge steigen oder nicht, ({16}) muss ich fragen: Warum sagt keiner etwas zu der Tatsache, dass viele ältere Menschen in Berlin heute um 4 Prozentpunkte höhere Beiträge zahlen als diejenigen, die Mitglied einer anderen Krankenkasse sind oder in einer anderen Region leben? Warum sagt keiner von denen, die da behaupten, dass der Fonds alles teurer mache, etwas zu der Tatsache, dass derzeit manche Versicherte Beiträge von über 16 Prozent zahlen, während andere nur 12 Prozent zahlen? ({17}) Diese Spreizung hat nichts, aber auch gar nichts mit der Wirtschaftlichkeit der Kassen zu tun, sondern sie hat etwas damit zu tun, dass wir eine ungerechte Verteilung von Einkommen und Risiken haben. Das kann man durch vermehrte Wirtschaftlichkeit nicht ausgleichen. ({18}) Wir bieten also auch denjenigen, die bisher sehr hohe Beiträge zahlen, eine neue Möglichkeit, entsprechend zu reagieren. Der Fonds führt zu mehr Wettbewerb. Ich sage noch einmal: Die Bundesregierung und auch die Koalitionsfraktionen haben überhaupt keinen Grund, dem Geschrei der Lobbyisten in dieser Frage nachzugeben. Den Arbeitgebern geht es nicht um den Fonds. Ihnen geht es darum, dass sie prinzipiell aus der Finanzierung des Gesundheitswesens aussteigen wollen. Solange das noch nicht der Fall ist, werden sie jede Gesundheitsreform kritisieren. Viele Kassenvorstände wollen lieber Intransparenz haben, als sich in einem transparenten Verfahren der Kontrolle durch ihre Versicherten zu stellen und ihr Handeln begründen zu müssen. Die FDP will ein Gesundheitswesen, das für die Gutverdienenden alles bereithält und das für die Armen nur eine Versorgung auf niedrigem Niveau sicherstellt. ({19}) All das will die Bundesregierung nicht. Wir wollen eine gute Versorgung für alle. Deshalb wird der Fonds in diesem Jahr kommen. Danke schön. ({20})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Birgitt Bender, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin Schmidt, es sollte Ihnen eigentlich zu denken geben, dass die Begeisterung für den Einheitsbeitrag zu Ihrem Fonds bei der PDS-Fraktion besonders ausgeprägt ist; ({0}) denn die steht bekanntlich nicht für Wettbewerb, sondern für die Einheitskasse. Ihre enthusiastischen Ausführungen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in Wirklichkeit kein einziges gutes Argument für diesen Fonds gibt. ({1}) Gäbe es einen Preis für das seltsamste Argument, würde ich ihn dem Minister für Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Herrn Seehofer, verleihen; er ist heute leider nicht anwesend. ({2}) Von Herrn Seehofer durften wir jüngst erfahren, der Gesundheitsfonds sei wegen des steuerfinanzierten Zuschusses notwendig, den man der GKV auf diese Weise zukommen lassen werde. Herr Seehofer war bei den Verhandlungen zum Gesundheitsmodernisierungsgesetz im Jahr 2003 dabei. ({3}) Frau Widmann-Mauz, Sie erinnern sich: Damals haben wir den Steuerzuschuss in nicht ganz so wunderbaren Nächten beschlossen. ({4}) Seither hat es in der Großen Koalition viel Gezerre um diesen Steuerzuschuss gegeben. Einmal wurde er gecancelt, ein anderes Mal erhöht, dann wieder gekürzt usw. Dass irgendwer den Fonds im Zusammenhang mit dem Steuerzuschuss vermisst hat, ist mir aber nicht aufgefallen. In Wirklichkeit ist es doch so: Herr Seehofer weiß sehr genau, dass dazu dieser Fonds nicht notwendig ist. Das zeigt doch nur, dass einem gestandenen Gesundheitspolitiker, der heutzutage eine andere Funktion innehat, schlechterdings kein vernünftiges Argument für diesen Fonds einfällt. Ich finde, das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Frau Ministerin Schmidt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, das, was Sie da schaffen, ist eine Geldsammelstelle, die nichts nützt. Sie löst das Gerechtigkeitsproblem in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht, und sie löst das Finanzierungsproblem nicht. Es bleibt bei der einseitigen Anbindung der Beiträge an die Arbeitseinkommen, es bleibt bei der ungerechtfertigten Privilegierung der Vermögenseinkommen, und es bleibt beim Auseinanderklaffen von Beitragsbasis und Sozialprodukt. Stattdessen bekommen wir neue Probleme: Die Bundesregierung wird jedes Jahr den Beitrag festsetzen müssen. ({5}) Jedes Jahr wird er zum Objekt politischen Gezerres werden. Derzeit kann man beobachten, wie das aussehen wird - die Kombattanten laufen sich schon mal warm -: Die CSU, Herr Zöller, beschließt, dieser Einheitsbeitrag solle möglichst niedrig sein, während die Gesundheitsministerin verspricht, der Beitrag werde im Wahljahr so hoch sein, dass keine Kasse einen Zusatzbeitrag erheben müsse. Für die nachfolgenden Jahre verspricht sie das wohlgemerkt nicht. Jahr für Jahr werden Sie also zu entscheiden haben, wie hoch der Beitrag sein soll. Die einen werden schreien: „Nicht zu hoch!“, die anderen werden schreien: „Nicht zu niedrig!“ Wenn Sie zu viel festsetzen, bedeutet das Verschwendung. Setzen Sie zu wenig fest, fehlt nachher Geld. ({6}) Unter anderem dafür brauchen Sie eine milliardenschwere Schwankungsreserve. Die müssen Sie aber erst einmal aufbauen, was auch wieder Geld kostet. Liebe Kollegin Widmann-Mauz, das ist ein Spezifikum des Fonds, der in der Tat eine beitragstreibende Wirkung hat. Hinzu kommen die Steigerung der Arzneimittelausgaben und die Tatsache, dass Sie den Ärzten höhere Honorare versprochen haben. ({7}) Mit diesem Gesundheitsfonds wird es also zu höheren Beiträgen kommen. ({8}) Es kommt ein weiteres Problem hinzu. An den Fonds wird ein Finanzausgleich zwischen den Kassen angebunden, der die Krankheiten berücksichtigt, den wir im Übrigen auch brauchen: der Morbi-RSA. Die Union hat lange dagegen gekämpft. Schließlich ist eine Liste von 50 bis 80 Krankheiten entstanden, die uns jetzt vorliegt. Kein Mensch weiß, warum es nur 50 bis 80 Krankheiten und nicht mehr sind. Darin spiegelt sich der Rest der Fundamentalstrategie der Union wider. Was stellen wir fest? Der Vorschlag berücksichtigt etliche Volkskrankheiten nicht. Asthma und koronare Herzkrankheit kommen nicht vor. Gerade die Krankheiten, für die inzwischen spezielle Behandlungsprogramme entwickelt wurden, wurden nicht berücksichtigt. Mithin ist zu befürchten, dass sich die Behandlung verschlechtert. Also, was bringt uns der Gesundheitsfonds? Er bringt uns keine nachhaltige Finanzierung. Er schwächt die Selbststeuerungsfähigkeit des Gesundheitswesens. Er bringt uns höhere Beiträge und gefährdet die Fortschritte in der Behandlung von chronischen Krankheiten. Angesichts dessen sind Durchhalteparolen hinsichtlich des Gesundheitsfonds völlig fehl am Platz. Schaffen Sie ihn einfach wieder ab, und machen Sie eine echte Reform. Danke. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Jens Spahn, CDU/CSUFraktion.

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Bender, ich bin seit fünf Jahren im Deutschen Bundestag. Wenn ich die letzten Jahre betrachte, muss ich fragen: Ist es nicht so gewesen, dass wir hier auch ohne Fonds in regelmäßigen Abständen über die Ausgabenentwicklung und die Beitragssatzentwicklung der gesetzlichen Krankenkassen beraten haben? Jetzt so zu tun, als würde die Einrichtung eines Fonds dazu führen, dass wir hier im Deutschen Bundestag erstmalig Debatten darüber führen, wie sich die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung entwickeln, ist etwas hanebüchen. ({0}) Politik hat sich in der Vergangenheit mit der Entwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung beschäftigt. Das wird auch in Zukunft so sein. Als Zweites vorneweg: Bei aller persönlichen Wertschätzung für die FDP muss ich sagen, dass es eine gewisse Paradoxie in der Argumentationslinie gibt, wenn man einerseits sagt, man dürfe bei den Apothekern, bei den Krankenhäusern, bei den Ärzten und in all den anderen Bereichen nicht sparen, und andererseits sagt, dass Beiträge nicht steigen dürfen und idealerweise sinken sollten. Die heutige von Ihnen beantragte Debatte zum Gesundheitsfonds hätte besser nicht stattgefunden. Zu der Debatte über den Wettbewerb und den Sinn und Zweck des Fonds an sich: Wir wollen mit dem Fonds in Zukunft vermeiden - das ist vorhin schon dargestellt worden -, dass es für die Kassen eine unterschiedliche Ausgangssituation im Wettbewerb - je nach der Einkommensstruktur ihrer Versicherten - gibt. In Zukunft werden die Kassen für jeden Versicherten die gleiche Grundpauschale, und zwar alters-, risiko- und geschlechtsjustiert, erhalten und befinden sich dann sozusagen auf der gleichen Startlinie, um im Wettbewerb um eine gute, aber eben auch - das ist das Entscheidende - effiziente Versorgung mit einer möglichst effizienten Verwaltung gegeneinander um die Kundschaft anzutreten. So wird dann am Ende - das wird oft vergessen, auch in der Argumentation des geschätzten Koalitionspartners - der Wettbewerb insbesondere über die Höhe des Zusatzbeitrages stattfinden. Es wird einige Kassen geben, in denen die Versicherten 5 oder 8 Euro zurückerhalten, weil die Kasse schon heute besonders gut arbeitet. ({1}) Es wird andere Kassen geben, die am Ende zusätzlich 5, 8 oder 12 Euro Beitrag erheben müssen. Das ist Wettbewerb mit klarer Preissignalfunktion, die wir heute bei den prozentualen Beitragssätzen nicht haben. Das müsste doch eigentlich die große Zustimmung der Freien Demokraten finden. ({2}) Ich kann Ihnen sagen: Der Fonds kommt zum 1. Januar 2009, wenn drei bis vier Bedingungen erfüllt sind. ({3}) Eine Bedingung ist - wir arbeiten selber noch am Gesetzgebungswerk - die Insolvenzfähigkeit der Krankenkassen. Wir sind dabei, die entsprechenden Gespräche zu führen. Wir werden das Ganze - da bin ich zuversichtlich - im entsprechenden Zeitablauf schaffen. Es ist wichtig, dass alle Kassen zum 31. Dezember dieses Jahres schuldenfrei sind, um mit gleichen Bedingungen in den Fonds starten zu können. Eine zweite wichtige Voraussetzung ist, dass es ein vernünftiges Konzept für einen Risikostrukturausgleich gibt, der gerade schon mehrfach angesprochen wurde. Ein entsprechendes Gutachten liegt vor. Darüber ist sicherlich noch zu diskutieren. Wir müssen in den nächsten Wochen auch darüber reden, welche Krankheiten enthalten sind - man wundert sich ja, was alles Eingang gefunden hat - und welche Krankheiten nicht enthalten sind; darüber wundert man sich zum Teil noch viel mehr. Aber auch da liegen wir mit der Auswertung voll im Zeitplan. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die tatsächliche Wirkung der Konvergenzklausel, mit der wir sicherstellen wollen, dass kein Bundesland - es wird erhebliche Verteilungsströme aus dem Süden des Landes vor allem in den Osten geben; da muss man sich nichts weismachen benachteiligt wird. Wir müssen sehen, wie wir das Schritt für Schritt in einer Konvergenzklausel regeln können. Eine weitere wichtige Vorbedingung ist das, was wir bezüglich der ärztlichen Vergütung wollen. Erstmals seit langer Zeit soll eine feste, planbare Euro-Gebührenordnung eingeführt werden, die morbiditätsorientiert und nicht mehr grundlohnsummenorientiert ist. Hier ist die Selbstverwaltung gefragt. Unter dem Strich - ich komme zum Ende -: Wir sind bei all diesen Vorbereitungen für den Fonds voll im Zeitplan. ({4}) Es ist daher vollkommen ohne Not, dass Sie diese Debatte am Freitagnachmittag aufgrund von Gutachten, die offensichtlich auch in ihrer sachlichen Ausgestaltung bei schon so einfachen Details wie der Höhe der steuerlichen Zuschüsse vollkommen ins Leere zielen, vom Zaun brechen. Ich kann nur sagen: Wer den Fonds, auch als politisch Tätiger, jetzt infrage stellt, ({5}) der betreibt ein Stück weit politische Selbstaufgabe. Denn eines kann ich Ihnen versichern: Wir wussten, was wir taten, als wir uns für den Fonds entschieden haben, und wir werden ihn zum 1. Januar 2009 umsetzen. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Konrad Schily, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Konrad Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003840, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich Herrn Spahn die Grundsatzfrage stellen höre, weiß ich: Wir reden über zwei völlig verschiedene Systematiken. Es gibt eine Systematik der Planwirtschaft ({0}) und eine Systematik der freien, dem Einzelnen entgegenkommenden Bedürfnisbefriedigung. Letztere ist die Systematik der FDP. ({1}) Lassen Sie mich noch ein paar Vorbemerkungen machen. Mit Verlaub, Frau Schmidt - Sie sind mit uns nicht gerade zimperlich umgegangen -: Ihr einziges Thema war die Gleichheit. ({2}) Ich sage Ihnen: Da kann man auch Fünfjahrespläne einbringen. ({3}) Schauen wir uns den Vorgang doch einmal an. Sie wollen alles gleichmachen, Sie wollen gleiche Bedingungen herstellen, und Sie wollen sozusagen jedem das gleiche Brot geben. 70 Millionen Versicherte sind aber nicht gleich. 70 Millionen Versicherte sind 70 Millionen einzelne Menschen und einzelne Kranke. ({4}) - Ja. Sie haben auch unterschiedliche Bedürfnisse. Frau Widmann-Mauz, wenn Sie sich das Gutachten für die Auswahl der Krankheiten zur Berücksichtigung im morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich anschauen - ich habe es gelesen -, ({5}) dann stellen Sie fest, dass man natürlich 70 oder 80 Krankheiten berücksichtigen kann. Man kann aber überhaupt nicht vorhersagen, ob eine Krankheit, die in diesem Rahmen erfasst ist, vor Ort nicht wesentlich billiger behandelt werden kann als eine Krankheit, die dort nicht erfasst ist. ({6}) Sie können nicht sagen, dass die Ausgabenvarianz, also die unterschiedliche Höhe der Ausgaben der Krankenkassen, durch den Risikostrukturausgleich abgebildet wird. Dadurch lassen sich etwa 25 Prozent der unterschiedlichen Varianz erklären. Das ist für Sie das Mittel zur Schaffung der großen Gleichheit. Sie möchten etwas unternehmen, um gleiche Verhältnisse herzustellen. Dafür müssten Sie aber alle Menschen gleich alt, gleich groß, gleich dick und am besten gleich krank machen. ({7}) Vielleicht sollten alle Menschen auch noch Mitglieder einer Einheitskasse und einer Einheitspartei werden. Ich möchte einen Absatz aus dem Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs beim Bundesversicherungsamt zitieren: ({8}) Die Erhebung der Daten, die zur Anpassung und Eichung des Regressionsmodells für den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich benötigt werden, erfolgt auf Stichprobenbasis. Die Stichprobe wird, den Empfehlungen des Gutachters Schäfer ({9}) folgend, als Geburtstagsstichprobe realisiert. Die dezentral auf Stichprobenbasis erhobenen Daten werden vom Bundesversicherungsamt auf Plausibilität, Vollständigkeit und Qualität geprüft. Im Rahmen dieser Prüfung werden u.a. die Ausschöpfungsquoten hinsichtlich der Versichertentage und der berücksichtigungsfähigen Leistungsausgaben jeder einzelnen datenliefernden Krankenkasse in Bezug auf ausgewählte Versichertengruppen berechnet. ({10}) Liegen diese Ausschöpfungsquoten außerhalb artspezifischer Toleranzbereiche, so führt das zum Ausschluss der Daten der betreffenden Krankenkasse aus dem Datensatz. ({11}) Das wird zu Bürokratie führen. Damit müssen wir uns beschäftigen. Es wird ungeahnt kompliziert werden. ({12}) Das Leben ist schließlich komplex. Frau Widmann-Mauz, da Sie uns Unbeweglichkeit vorgeworfen haben, muss ich Ihnen sagen: Es ist unredlich, hier noch von wettbewerblichen Systemen zu sprechen. ({13}) Wir können die Wirklichkeit nicht „verdaten“ oder sie in Komma- und Zehntelkommastellen fassen. ({14}) - Ja, der freie Markt, der Wettbewerb kann dem Einzelnen entgegenkommen; er kann dem Einzelnen nämlich ein Produkt anbieten. ({15}) Möchten Sie vielleicht, dass der Arzt sagt: „Ich habe eine Einheitsminute für Sie“, wenn Sie zwanzig Minuten oder eine Stunde bräuchten? ({16}) Der Arzt kann sich beim Kranken nicht nach einer Einheitsnorm richten, er muss variabel bleiben. Ich denke, dass auch Sie das wollen. Aber das Mittel, das Sie wählen, ist grundverkehrt. ({17}) Das Mittel ist pyramidal, es ist 19. Jahrhundert. Der Glaube an die Verdatung, das war der sozialistische Glaube, und der ist faszinierend gescheitert. Vielen Dank. ({18})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun hat das Wort Kollegin Elke Ferner, SPD-Fraktion.

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe bisher geglaubt, dass das Niveau und die Seriosität der Zeitung mit den großen Buchstaben, die ja heute wieder so einen tollen Bericht gebracht hat, oder der Initiative „Neue Soziale Marktwirtschaft“ nicht mehr zu unterbieten ist. ({0}) Die FDP hat allerdings gezeigt, dass das sehr wohl geht. Die FDP möchte die Beiträge senken, habe ich eben vernommen; Leistungskürzungen möchten Sie aber nicht. Wie das funktionieren soll, haben Sie uns nicht verraten. ({1}) - Ach, Sie wollen Leistungskürzungen? Das nehme ich gerne zur Kenntnis. Es hat in den vergangenen Tagen leider auch Krankenkassen gegeben, die, obwohl sie es besser wissen müssten, behauptet haben, dass, wenn der Gesundheitsfonds eingeführt wird, Beitragserhöhungen notwendig würden. Ich sage Ihnen: Das ist grober Unfug. ({2}) Da ist es relativ egal, von welcher Seite so etwas behauptet wird. Die Beiträge müssen erhöht werden, wenn die Ausgaben stärker steigen als die Einnahmen; es hat also auch etwas mit der Einnahmeseite zu tun. Mit der Einführung des Fonds hat das dagegen nichts zu tun. Auch im jetzigen System mussten die Beiträge immer dann erhöht werden, wenn die Ausgaben stärker gestiegen sind als die Einnahmen. ({3}) Eben haben Sie, Herr Bahr, Frau Schmidt und anderen vorgeworfen, dass die Beiträge in der Vergangenheit gestiegen sind. Doch die Beiträge haben nicht wir festgesetzt, sondern, wie es Gesetz ist, die Selbstverwaltung der Krankenkassen. Und auch die können das nicht nach Belieben machen. Die Einnahmen sind nämlich so zu gestalten, dass die Ausgaben, die im folgenden Jahr voraussichtlich entstehen, gedeckt werden können. Künftig wird die Bundesregierung den Beitragssatz festsetzen; dann wird die Verantwortung dafür übernommen werden. Ob die Ausgaben im Jahr 2009 stärker steigen werden als die Einnahmen, kann weder hier im Plenum noch in der Wissenschaft jemand seriös beantworten; so etwas wäre Kaffeesatzleserei. Wenn Sie sich gerne als Hellseher betätigen möchten, Herr Bahr, bitte schön. ({4}) Aber ich würde es mir nicht zutrauen, zu prognostizieren, wie die Lohnabschlüsse in diesem Jahr aussehen werden; wie sich die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung entwickeln wird; welche Einsparpotenziale, die wir den Kassen mit der Gesundheitsreform gegeben haben, noch mobilisiert werden; wie das Ärztehonorarsystem aussehen wird; wie sich die Arzneimittelkosten entwickeln werden. All das wissen wir nicht. ({5}) Das werden Sachverständige, wie bisher, am Ende des Jahres für das folgende Jahr schätzen; daran ändert sich nichts. Zum zweiten Punkt, über den ich sprechen möchte. Natürlich müssen die Einnahmen des Fonds beim Start im Jahr 2009 die Ausgaben zu 100 Prozent decken. ({6}) Ich fand es schon merkwürdig, muss ich sagen, dass der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe der Auffassung ist, dass man ja, damit die Beiträge nicht steigen, unter den 100 Prozent bleiben könne. Wir wissen doch gar nicht, ob die Beiträge steigen müssen oder ob sie stabil bleiben. ({7}) Außerdem wäre so etwas gesetzeswidrig. Ich gehe davon aus, dass sich die Bundesregierung nicht gesetzeswidrig verhalten wird. Die Bundesregierung wird im Herbst dieses Jahres die Beiträge so festsetzen, dass die Ausgaben des Jahres 2009 zu 100 Prozent abgedeckt werden können. ({8}) Da ist es schon merkwürdig, wenn jetzt einige unionsgeführte Länder nicht mehr wissen wollen, was sie im Bundesrat mit beschlossen haben. ({9}) Wir haben den Gesundheitsfonds in Koalitionsrunden beschlossen, wir haben den Gesundheitsfonds hier im Bundestag verabschiedet, und auch der Bundesrat hat dem Gesundheitsfonds zugestimmt. Eine stärkere Steuerfinanzierung, die zu Beitragssatzsenkungen genutzt werden könnte, hätten wir haben können, wenn Herr Stoiber, Herr Koch und Herr Wulff dies nicht verhindert hätten. ({10}) Einer von den dreien ist schon weg, bei den anderen beiden wird es nicht mehr lange dauern. ({11}) Insofern glaube ich, dass wir auch im Jahre 2009 wieder eine Debatte darüber führen werden, wie wir die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung gerechter als bisher verteilen können. „Gerechter verteilen“ heißt, dass alle Einnahmen und nicht nur die Einnahmen aufgrund sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung herangezogen werden, weil manche natürlich stärkere Schultern als diejenigen haben, die heute ausschließlich sozialversicherungspflichtige Einnahmen erzielen. Das heißt, wir werden weiter an unserem Konzept der Bürgerversicherung festhalten. Die Bevölkerung wird dann im Jahre 2009 Gelegenheit haben, auch darüber abzustimmen. Schönen Dank. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Max Straubinger, CDU/CSU-Fraktion, hat jetzt das Wort.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Wahl des Titels der heutigen Aktuellen Stunde, die ja von der FDP beantragt wurde, zeugt von einer gewissen Unseriosität, weil dadurch vermittelt wird, dass die Beiträge angeblich wegen des Gesundheitsfonds steigen. Deshalb soll die Einführung des Gesundheitsfonds verschoben bzw. die Finanzautonomie der Krankenkassen beibehalten werden. Das ist der Antrag der FDP-Bundestagsfraktion. ({0}) Ich glaube, es wäre wichtiger und richtiger, uns in normalen Debatten über die Gesundheitspolitik auszutauschen, als dass die FDP immer dann eine Aktuelle Stunde beantragt, wenn irgendwo wieder ein Gutachten gefertigt wird oder sich irgendeine Stimme erhebt und Kritik übt. Ich glaube nicht, dass uns das großartig erhellen wird. ({1}) Insgesamt zum Gesundheitsfonds: Ich glaube, dass vor der Einführung des Gesundheitsfonds noch viel Arbeit vor uns liegt. Die Frau Bundesministerin hat bereits darauf hingewiesen, was mit dem Gesundheitsfonds bewirkt werden soll, nämlich eine gerechtere Zuordnung der Beitragsmittel, die dann insgesamt aufzubringen sind und unter wettbewerblichen Gesichtspunkten von den Krankenkassen verwaltet bzw. für Gesundheitsleistungen ausgegeben werden. Das alles unterstreichen wir. Gerade als CSU stehen wir zum Gesundheitsfonds, aber wir sagen auch ganz deutlich, dass im Zusammenhang mit dem GKV-WSG, also dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz, natürlich alle Hausaufgaben gemacht werden müssen. Hier mahnen wir selbstverständlich an, dass verschiedenste Bereiche noch eingehend beleuchtet und intensiv diskutiert werden müssen. Das gilt gerade auch für das Gutachten, das jetzt zum Risikostrukturausgleich erschienen ist. Ich möchte durchaus auch anmerken, dass es nicht zeitgerecht erschienen ist. Es war versprochen, dass es bis zum 31. Oktober 2007 vorliegt. ({2}) Es liegt aber erst jetzt vor. Das zeigt sehr deutlich, dass wir hier noch eine intensive Arbeit zu leisten haben. Gerade als Vertreter eines starken Freistaates verhehle ich nicht - wir haben darum gekämpft, und auch unser damaliger Ministerpräsident hat sich sehr intensiv dafür eingesetzt -, dass die Umsetzung der Konvergenzklausel natürlich ein entscheidender Gesichtspunkt für die Einführung und den Start des Gesundheitsfonds ist. Dies muss aufgrund der unterschiedlichen Entwicklungen unseres Gesundheitssystems in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten und aufgrund der unterschiedlichen Kassenarten, für die wir stehen, weil wir der Meinung sind, dass gerade auch unterschiedliche Kassenarten für den Wettbewerb wichtig sind, nachvollziehbar sein. Das gilt genauso für die private Krankenversicherung, die ebenfalls für den Wettbewerb im Gesundheitswesen einen großen Stellenwert und eine große Bedeutung hat und dementsprechend nicht für eine wie auch immer geartete Bürgerversicherung geopfert werden sollte. Die Kollegin Bender hat heute hier einheitliche Beiträge kritisiert. Man muss feststellen, dass auch die Bürgerversicherung hinterher einen einheitlichen Beitragssatz zur Folge haben würde, was in dieser Hinsicht also keine Abkehr vom Gesundheitsfonds bedeuten würde. ({3}) Ich glaube, es ist auch entscheidend, dass die Kassen insolvenzfähig werden. Das ist ja Gesetzesgrundlage. Hier sind aber natürlich noch sehr viele Fragen offen und nicht geklärt. Natürlich haben die einzelnen Bundesländer unterschiedliche Interessenlagen, aber wenn die Finanzhoheit der Krankenkassen eingeschränkt wird - zumindest auf den 1-Prozent-Beitrag -, dann muss auch für die Pensionsrückstellungen irgendjemand anderer als jetzt die Länder Verantwortung übernehmen. Diese Frage ist nicht geklärt. Sie muss geklärt werden. Ich schicke hier voraus: Sie kann nicht dahin gehend geklärt werden, dass dann alle Kassen aufgerufen sind, für eventuelle Pensionsverpflichtungen einzelner Kassen letztendlich die Verantwortung zu übernehmen, beispielsweise über einen Fonds. Das muss schon im Verantwortungsbereich der Krankenkassen liegen - dort, wo auch die Pensionsverpflichtungen angefallen sind. ({4}) Ein Letztes: Mitentscheidend ist - das ist heute auch schon andiskutiert worden - der künftige Beitragssatz. Ich bin nicht der Meinung, dass der Beitragssatz unbedingt steigen muss - schon gar nicht wegen des Fonds. Für diesen Beitragssatz ist aber mitentscheidend, dass die Bundesregierung im Rahmen der Senkung der Lohnnebenkosten eine erfolgreiche Politik betrieben hat. Darauf sind wir stolz. Wir haben hier große Erfolge vorzuweisen. Der Abbau der Arbeitslosigkeit schreitet voran usw. ({5}) Das ist in einem solchen Prozess natürlich auch zu berücksichtigen. Insofern kann nicht argumentiert werden, es sei wichtig, dass der Beitragssatz hoch genug ist, damit kein Zusatzbeitrag erforderlich wird und viele Krankenkassen sogar noch eine Rückgewährung vornehmen können; denn dies geht letztendlich zulasten der Wirtschaftlichkeit der Betriebe in unserem Land, und damit werden Arbeitsplätze vernichtet. Das ist zu beachten. Wir werden, gerade auch als CSU-Fraktion und als Unionsfraktionen, hier natürlich auf diese Punkte Wert legen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Peter Friedrich, SPD-Fraktion. ({0})

Peter Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003754, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mein Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Man ist versucht, schon zu Beginn allen noch Anwesenden ein schönes Wochenende zu wünschen; denn minütlich wird der Saal leerer. Das zeigt vielleicht auch die Bedeutung der Aktuellen Stunde, die wir momentan hier gemeinsam verleben. ({0}) Seit Beginn dieses Jahres erleben wir, dass permanent versucht wird, von interessierter Seite einen Zusammenhang zwischen möglichen Beitragssatzsteigerungen und dem Fonds herzustellen. Ich hatte eigentlich erwartet, dass dies hier erklärt wird; denn bei der Vorbereitung habe ich auf der Homepage der FDP-Fraktion heute folgendes Zitat von Daniel Bahr gefunden: Schuld an dem Anstieg ist der von der Koalition geplante Gesundheitsfonds, der eine neue bürokratische Geldumverteilungsbehörde ist. In einer anderen Mitteilung hieß es heute Morgen: Der Fonds ist schon pleite, bevor er gestartet ist. Man sollte ihn stoppen. Es wird nichts unversucht gelassen. Bei allem Wortgeklingel ist es Ihnen allerdings heute auch nicht gelungen, lieber Kollege Bahr, zu erklären, woher dieser Zusammenhang denn eigentlich kommen soll. ({1}) Das wäre heute Ihre Aufgabe gewesen. Es gibt diesen Zusammenhang nicht. Falls Sie uns nicht glauben, möchte ich ein Zitat von Professor Gerd Glaeske vortragen, ({2}) das da lautet: Für die Ausgabensteigerung ist der Fonds nicht verantwortlich. Ich finde es wichtig, zu wissen, dass genau folgender Zusammenhang der Zahlen besteht: Wie viele Einzahler sind da? Wie hoch ist die Grundlohnsumme? Wie hoch sind die Ausgaben? - Das hat mit Fonds überhaupt nichts zu tun. Ihr bekanntes Argument, so etwas sei zu bürokratisch, ist für Sie ja immer ein grundsätzliches Argument gegen jede Form von Regelung, die Ihnen nicht passt. Es ist aber nicht wirklich zielführend. Die Aktuelle Stunde hat aber eines gebracht: Sie hat aus meiner Sicht sehr deutlich gemacht, dass es einen zentralen Unterschied zwischen der FDP-Fraktion und dem gesamten Rest des Hauses gibt, nämlich den zentralen Unterschied, dass Sie ganz offensichtlich Risikoselektion als ein legitimes Wettbewerbsinstrument betrachten. ({3}) Das muss man Ihren Reden ganz offensichtlich entnehmen. Ihre Intention, dass Sie bei dieser Lösung auch weiterhin die Beitragsautonomie der Kassen beibehalten wollen, heißt doch nichts anderes, als dass Sie weiterhin Unterschiede von den Risken her wollen. Der Beitrag von Herrn Schily war in diesem Zusammenhang wirklich entlarvend. Seine Ausführungen bedeuten doch nichts anderes, als dass die individuell unterschiedlichen Risiken auch als Wettbewerbsvorteil von den Kassen mitgenommen werden können - Wettbewerb zwischen den Kassen. Genau dies wollen wir nicht. Deswegen wollen wir einen einheitlichen Beitragssatz. Daher gibt es den Fonds, den Risikostrukturausgleich. Wir wollen, dass Erfolge aufgrund der Fähigkeit des Managements der Kasse in Bezug auf die Versorgung der Versicherten auch im Vertragswettbewerb weitergegeben werden und dass darüber Wettbewerbsvorteile und Wettbewerbsunterschiede entstehen. Dort soll der Wettbewerb entstehen, auf der Leistungsseite - aber nicht auf der Einnahmenseite. Herr Schily, bei allen Versuchen, das Ganze auf der grundsätzlichen Ebene zu betrachten, müssen Sie ein grundsätzliches Argument akzeptieren. Gesundheit ist kein frei handelbares Gut wie jedes andere. Das ist eben genau nicht so. ({4}) In diese Richtung geht jegliche Ihrer Argumentationen. ({5}) - Ich höre Ihnen sehr genau zu. Ich wäre froh, Sie täten es umgekehrt genauso. Lesen Sie vielleicht noch einmal nach, was Sie gesagt haben. Sie wollen, dass die individuellen Unterschiede in der Versichertenschaft über den Beitragssatz weitergegeben werden. Das haben Sie vorhin gesagt. Ich muss aber auch sagen, dass ich den Widerstand der Grünen gegen den einheitlichen Beitragssatz nicht ganz nachvollziehen kann. ({6}) Wenn man auf der einen Seite mehr Steuerfinanzierung will - dafür bin auch ich -, dann muss man doch auf der anderen Seite politisch darum kämpfen, dass endlich eine politische Waffengleichheit zwischen Beitragsfestsetzungen und Steuerfinanzierung hergestellt wird. Bisher war es doch so, dass in diesem Hause nur die Steuern verantwortet werden mussten. Dann konnte sich die Regierung immer relativ bequem zurücklehnen und sagen: Entschuldigung, die Beitragssätze legen die Kassen fest; wir sind empört, das wollen wir nicht mitmachen. - Aber der Mut, sich stattdessen für eine Steuerfinanzierung einzusetzen, war, je nach Zusammensetzung der Regierung, nicht immer in gleichem Maße vorhanden. Deswegen macht es sehr wohl Sinn, unsere Verantwortung auf das gleiche Niveau zu heben. Kollegin Bender hat gesagt, wir bänden uns da etwas ans Bein. Ich fände es schön, wenn man die damit einhergehende Bereitschaft, hier darüber zu entscheiden, und den Mut, gemeinsam Verantwortung zu tragen, anerkennen würde. Ein letzter Hinweis. Heute wurde schon wieder beschrieben, das sei das Ende des Wettbewerbs. Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, all denen, die in diesen Tagen zu uns kommen, genau zuhören, dann werden Sie feststellen - und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das auch anerkennen würden -, dass hier ein funktionierender Wettbewerb existiert. Der Wettbewerb, der über Verträge, über Versorgungsstrukturen, über Ausschreibung stattfindet, führt noch zu viel Unruhe und zu vielen Klagen, weil manches sich erst einspielen muss; ich erinnere nur an die Rabattlösungen. Jeder von uns war vermutlich in der Apotheke und hat sich das angeschaut. Aber verheimlichen Sie doch bitte nicht, dass das funktionierender Wettbewerb ist! Wenn Sie sich in den Fällen, wo diese Instrumente wirken, die Preise anschauen, können Sie feststellen, dass das, was Sie fürchten, nämlich Beitragserhöhungen aufgrund der Ausgabensteigerungen, an der Stelle am wirksamsten bekämpft wird. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und ein schönes Wochenende. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Georg Faust, CDU/CSUFraktion.

Dr. Hans Georg Faust (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003114, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Populismus allein macht nicht populär. ({0}) Mit der heutigen Aktuellen Stunde wird die FDP auch nicht zur Lieblingspartei der gesetzlich Krankenversicherten werden. Das wollen Sie aber vielleicht auch gar nicht. ({1}) - Natürlich. Wie schon zu vermuten war, gründet sich die Aufregung der FDP auf die Expertise des Instituts für Gesundheitsökonomik in München. 15,5 Prozent Krankenkassenbeitrag wurden da vorhergesagt. Meine lieben Herren von der FDP, der Gesundheitsfonds und die geweissagten Beitragssatzerhöhungen haben herzlich wenig miteinander zu tun. Der Preis eines Kleiderschranks hängt ja auch nicht davon ab, ob ich bar, mit Kreditkarte oder per Überweisung bezahle. ({2}) - Man muss sich eben auf dieses Niveau begeben; das ist leider so. Es gibt ja unterschiedliche Qualitäten von Kleiderschränken. ({3}) - Jetzt hängen Sie nicht die Türen aus! - Die Aussagen des Instituts zu den Ausgaben für Arzneimittel und Krankenhäuser schreiben im Wesentlichen die Ausgabensteigerung in den letzten Jahren linear fort. Das muss man bemerken, wenn man sich die einzelnen Positionen anschaut. Sie berücksichtigen auch nicht die in den einzelnen Jahren veränderten gesetzlichen Rahmenbedingungen. Zudem wird vergessen, dass es auch Ausgabenrückgänge im Jahresvergleich gegeben hat. Die Ausgaben im Krankenhaussektor orientieren sich an der Grundlohnrate, zurzeit 0,64 Prozent. Niemand weiß, was der neue ordnungspolitische Rahmen bringen wird. Das ist reine Spekulation. Die Schwankungsreserve kann aus meiner Einschätzung nicht eingerechnet werden. Sie ist schon im bisherigen System eingepreist gewesen. Sie lag in der Verantwortung der einzelnen Krankenkassen und wurde teilweise leider mit Schulden bedient. Dafür sind Zinsen zu zahlen. Aber diese extra anzusetzen, ist aus meiner Sicht nicht korrekt. Allerdings wird das, was wir den Ärzten mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz versprochen haben, ausgabenrelevant werden. Es ist aber im Interesse der ärztlichen Versorgung in der Fläche notwendig und wird sicher auch von den Kollegen der FDP nicht in Zweifel gezogen. ({4}) Auf der Einnahmenseite steht ein Plus von 1,5 Milliarden Euro, mit dem das Institut rechnet. Das kann mehr oder weniger sein. Vergessen wurden 1,5 Milliarden Euro Steuermittel, die in dem Fonds zu verbuchen sind. Alles in allem keine neuen Erkenntnisse, was den Fonds betrifft. Wir können für die Zukunft nicht mehr sagen als das, dass eine älter werdende Bevölkerung und verbesserte Diagnose- und Therapiemöglichkeiten tendenziell zu höheren Kosten im Gesundheitswesen führen werden und wir uns gemeinsam überlegen müssen, wie das zu verkraften ist. Ich denke, dass die Kritiker des Fonds immer noch nicht verstanden haben, dass zwar der Beitragssatz einheitlich festgelegt wird, der Wettbewerb aber über den Leistungskatalog und die einkommensunabhängigen Rückerstattungen erfolgt. ({5}) Bisher konkurrieren die Kassen um die Höhe des Beitragssatzes. In Zukunft konkurrieren die Kassen um Zuund Abschläge. Der Versicherte spürt jetzt unabhängig von der Höhe seines Einkommens jede Einsparung der Kasse in seinem Portemonnaie. Für die Kassen lohnt es sich, günstigere Tarife mit abgestuften Leistungen anzubieten, und für die Versicherten lohnt es sich, über solche Angebote nachzudenken. Allerdings weise ich an dieser Stelle darauf hin, dass zur Einführung des Fonds wesentliche Voraussetzungen erfüllt werden müssen: Die Kassen müssen entschuldet sein. Die Vereinbarungen zur Konvergenzphase müssen umgesetzt werden. Der Morbi-RSA muss stehen, und die offenen Fragen zum Kasseninsolvenzrecht müssen geklärt werden. Ich bin aber davon überzeugt, dass wir das bis zum Jahresende schaffen werden. ({6}) - Das Thema kann man nicht in fünf Minuten abhandeln. Was die Forderung nach Beitragsautonomie der Krankenkassen betrifft - auch das ist Thema dieser Aktuellen Stunde -, ist Autonomie in Zukunft deutlich mehr auf der Leistungs- und Vertragsseite gefordert. Die Union ist der Auffassung, dass das der richtige Weg ist. Wenn schon Professor Neubauer und Herr Pfister vermutlich keine guten Wahrsager sind, so ist mein Kollege Daniel Bahr erwiesenermaßen ein schlechter Prophet. Am 27. Oktober 2006 sagte er hier für 2007 einen Beitragssatzanstieg der Allgemeinen Ortskrankenkassen im Westen von 1,5 Prozent und im Osten von 2 Prozent voraus. Mein lieber Daniel, in Wirklichkeit ist der AOK-Beitragssatz im Westen von Januar 2007 bis Januar 2008 gleich geblieben ({7}) und im Osten von 13,63 auf 13,55 Prozent gesunken. Es gibt alles in allem viel Lärm um nichts. Der Fonds wird kommen, und ich bitte die Kollegen von der FDP, über das Wochenende in sich zu gehen und sich zu fragen, ob wir uns solche Aktuellen Stunden zumuten müssen. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Christian Kleiminger, SPD-Fraktion. ({0})

Christian Kleiminger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003787, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fürwahr, pünktlich zum neuen Jahr hat uns die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft mit einer weiteren Studie beglückt. Sie schürt die Angst vor horrenden Beitragssätzen zur gesetzlichen Krankenversicherung ab 2009. Damit wagen Sie, Herr Bahr und die anderen Kolleginnen und Kollegen von der FDP, nun den Sturm auf den Gesundheitsfonds oder besser gesagt den Sturm im Wasserglas. Der Gesundheitsfonds wird in 348 Tagen eingeführt. Er ist als solcher kein Allheilmittel - das behauptet auch niemand -, sondern eher ein Kompromiss. Daraus mache ich persönlich auch keinen Hehl. Dennoch ist der Handlungsbedarf viel zu groß, als dass man sich aus der Verantwortung stehlen könnte. Nichts zu tun außer laut nach einem Reformstopp zu rufen, ist auch keine Lösung. ({0}) Der Gesundheitsfonds pur, für sich allein, ist nicht die Idee meiner Partei. Manche von uns hätten sich mutigere Schritte auf dem Weg zu einem solidarischen Gesundheitssystem gewünscht. Auch das wird Ihnen nicht gefallen. Denn ich denke dabei an eine weiter gehende Verpflichtung der privaten Versicherungen oder an eine weitere Aufstockung der Bundeszuschüsse, um eine nachhaltig gerechte Absicherung im Krankheitsfall zu schaffen. Aber das hätte einigen in diesem Hause auch nicht gepasst. Denn Ihre Vorschläge haben mit einem solidarischen Gesundheitssystem nichts zu tun. Vielleicht haben Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, bei Ihrem Sprung ins Wasserglas zum Beispiel vergessen, dass in Ostdeutschland immer noch mehr Menschen ohne Arbeit sind als in Westdeutschland. Es leben dort mehr ältere Menschen. Das Lohnniveau und damit auch die Sozialversicherungsbeiträge sind niedriger, es sei denn, Sie schließen sich noch unserer Forderung nach Einführung eines Mindestlohns an; vielleicht ändert sich das dann. ({1}) Angesichts dieser Situation ist der Ansatz, den der Fonds verfolgt - gekoppelt an den Morbi-RSA - nicht so leicht von der Hand zu weisen. Die notwendige solidarische Verteilung der Mittel soll in den ostdeutschen Ländern dem Erhalt der Struktur der gesetzlichen Krankenversicherung dienen. Gleichzeitig mit dem Gesundheitsfonds soll auch der einheitliche Beitragssatz eingeführt werden. Die genannten Gutachter haben mit ihren Berechnungen Angst und Schrecken verbreitet. Wir wissen, wer da seine Interessen durchsetzen will. Natürlich sind die Freunde der FDP und arbeitgebernahe Verbände gleich mit ins Wasser gesprungen, um hohe Wellen zu schlagen. Dieses Getöse hat dann die vorhin erwähnte Zeitung mit den vier Buchstaben gerne und ungemein fachgerecht dokumentiert. Nicht interessengeleitete Fachleute - diese gibt es auch - halten sich jedoch mit konkreten Zahlen zurück, weil jede Vorhersage über den Beitragssatz zu diesem verfrühten Zeitpunkt einzig und allein zur Spekulation wird. Dass die angesprochene Expertise zudem inhaltlich und methodisch jeder Grundlage entbehrt, wurde bereits hinlänglich erwähnt. Herr Bahr, meine eigene Vorhersage dagegen lautet - das meine ich rein spekulativ -: Sie und ich, wir werden immer älter. Das heißt, die Ausgaben im Gesundheitssystem werden steigen, mit oder ohne den Gesundheitsfonds. Warten Sie es ab! Der Beitragssatz wird im Spätherbst festgesetzt. Er wird vor diesem Hintergrund schwerlich unter die aktuelle Durchschnittsmarke sinken können. Aber ich sage Ihnen eines: Er darf auch gar nicht zu niedrig angesetzt werden; denn umso mehr Kosten tragen dann die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer allein in Form von Zusatzbeiträgen. Ein niedriger Beitragssatz entlastet nur die Arbeitgeber. Korrigieren Sie mich, aber klingt das nicht allzu sehr nach einer kleinen Kopfpauschale? Man könnte den Verdacht hegen, dass hier etwas durchgesetzt werden soll, was bisher nicht gelungen ist. Aber so weit werden wir es sicherlich nicht kommen lassen. Ich bleibe dabei: Unser Ziel einer solidarischen Gesundheitspolitik ist und bleibt die Bürgerversicherung, wenn nicht heute, dann morgen. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun hat als letzte Rednerin in der Aktuellen Stunde Kollegin Carola Reimann, SPD-Fraktion, das Wort.

Dr. Carola Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In den letzten Monaten nach Inkrafttreten der Gesundheitsreform ist es erstaunlich ruhig geworden. Auch von der Opposition kam kaum noch etwas. Das ist wenig verwunderlich, weil alle Weltuntergangsszenarien, die im letzten Jahr hier im Hause aufgezeigt wurden, nicht eingetreten sind. ({0}) Die Reform ist gut angelaufen. 100 000 Menschen sind wieder krankenversichert, die bisher keinen Versicherungsschutz hatten; darauf ist noch nicht hingewiesen worden. Die Versicherten kommen in den Genuss neuer Leistungen. Die Finanzentwicklung bei den Krankenkassen verläuft im Wesentlichen positiv. Ich finde, das kann sich sehen lassen. Das ist natürlich nicht ganz nach Ihrem Geschmack, Kollegen von der FDP. Daher kam Ihnen im neuen Jahr die sogenannte Expertise des Instituts für Gesundheitsökonomik gerade recht. Dass diese eklatante Fehler beinhaltet und vermutlich sogar als Hausarbeit eines Gesundheitsökonomikstudenten abgelehnt würde, scheint Sie nicht zu stören. Jedenfalls scheuen Sie sich nicht, die Ergebnisse dieser Expertise als Beleg für Ihre Forderungen in Ihren Antrag zu schreiben. Ich denke, damit ist alles zur fachlichen Basis gesagt. Trotz neuem Jahr enthält Ihr Antrag keine neuen Argumente und erst recht keine neuen Ideen und Vorschläge. ({1}) Nun geht es wieder um den Gesundheitsfonds. Dieser erregt immer wieder die Gemüter vorrangig derjenigen - diesen Eindruck habe ich -, die ihn nicht komplett verstanden haben. Dabei ist er nichts weiter als ein technisches Instrument der Gesundheitsreform, mit dem Gelder für die GKV eingezogen und verteilt werden. Die Entwicklung des Beitragssatzes hängt deshalb auch nicht ursächlich vom Gesundheitsfonds ab; das ist heute sehr klar geworden. Sie haben für das Gegenteil keine Belege anführen können. Für die Entwicklung des Beitragssatzes sind vielmehr die Entwicklung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung - diese steigt; das ist ausgesprochen positiv -, die Tarifabschlüsse und die Ausgabenentwicklung mit all ihren Facetten - Ausgaben für Ärztehonorare, Arzneimittel usw. - maßgeblich. Trotzdem meinen schon jetzt welche, über die zukünftige Höhe des Beitragssatzes spekulieren zu können, ganze zwölf Monate vor dem Start des Fonds. Seriöse Vorhersagen sind dies nicht, und ich weiß nicht, woher diese hellseherischen Fähigkeiten plötzlich kommen. ({2}) Vielmehr wird damit versucht, die Menschen zu verunsichern und erneut Stimmung gegen die in diesem Hause beschlossene Gesundheitsreform zu machen. Dazu passt dann auch, dass beim Verkünden solcher Horrormeldungen ganz entscheidende Fakten bewusst unterschlagen werden, zum Beispiel, dass ein einheitlicher Beitragssatz nicht die Ausnahme, sondern die Regel in unseren sozialen Sicherungssystemen ist. Man denke an die Rentenversicherung, die Pflegeversicherung und die Arbeitslosenversicherung; überall gibt es einheitliche Beitragssätze. Außerdem geht es um den Zusatzbeitrag. Eine weitere Tatsache ist, dass gut wirtschaftende Kassen ab dem nächsten Jahr die Möglichkeit haben, ihren Versicherten monatlich einen Betrag zurückzuzahlen. Nicht zuletzt hat man natürlich die Möglichkeit, die Kasse zu wechseln, falls diese einen Zusatzbeitrag erhebt. Dies alles gehört mit in eine seriöse Debatte, wenn man denn eine solche führen möchte. ({3}) Für uns Sozialdemokraten ist der entscheidende Fortschritt dieser Reform die Verknüpfung des Gesundheitsfonds mit einem verbesserten morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich, der hier bereits mehrfach angeklungen ist. Mit dem bislang bestehenden Ausgleich konnten weder die unterschiedlichen Einnahmen der Mitglieder noch die unterschiedlichen Gesundheitszustände und Versorgungsbedarfe der Versicherten einer Kasse hinreichend zielgenau ausgeglichen werden. Dies wird jetzt verbessert. Mit der Errichtung des Fonds wird es erstmals zu einem wirklich hundertprozentigen Ausgleich der Einnahmen kommen. Das heißt, für eine Kasse spielt es dann überhaupt keine Rolle mehr, ob sie eine gut verdienende freiwillig versicherte Bundestagsabgeordnete oder eine Rentnerin mit einem vergleichsweise geringen Einkommen aufnimmt. Für beide erhält die Kasse in Zukunft einen festen Betrag von voraussichtlich 150 bis 170 Euro. Doch nicht nur der Ausgleich der Einnahmen wird verbessert, was auch die regionalen Unterschiede betrifft. Der neue Risikostrukturausgleich berücksichtigt ebenfalls schwerwiegende und kostenintensive chronische Krankheiten. Für unser Beispiel bedeutet dies, dass es für eine chronisch kranke Rentnerin einen Zuschlag gibt, nicht aber für die gesunde Abgeordnete, sodass es für die Kasse gleichermaßen attraktiv ist, eine Rentnerin und eine Bundestagsabgeordnete zu versichern. Diese Zuschläge werden dann auf Basis des Gutachtens, das hier bereits angesprochen worden ist, berechnet. Was Herrn Schily angeht, muss man einfach respektieren, dass seriöse Gutachter, die ihre Datengrundlage definieren und erklären, wie die Qualität der Daten sein muss, dies nicht immer in leicht verständlichem Deutsch tun können. Kolleginnen und Kollegen, meiner Ansicht nach sind wir einen guten Schritt hin zu einem gerechteren System gekommen. Der Wettbewerbsvorteil von Kassen, die vorrangig Gesunde versichern, wird sich merklich verringern. Das ist auch richtig so; das wollten wir. Wir haben immer beklagt, dass dem nicht so war. Die Krankenkassen sollen schließlich ihre Energie darauf verwenden, die bestmögliche Versorgung und Betreuung ihrer Versicherten zu bieten, nicht aber darauf, in einen Wettbewerb um gesunde und gut verdienende Versicherte einzutreten. Mit der Verknüpfung von Fonds und verbessertem Risikostrukturausgleich sind wir also auf einem richtigen Weg. Ich wünsche ein schönes Wochenende. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 23. Januar 2008, 13 Uhr, ein. Ich wünsche Ihnen ein gesundes Wochenende. ({0}) Die Sitzung ist geschlossen.