Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich
begrüße Sie alle herzlich und wünsche uns einen guten
Tag und gute Beratungen.
Wir treten sofort in unsere Tagesordnung ein.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und b sowie
den Zusatzpunkt 8 auf:
21 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe
Schummer, Ilse Aigner, Michael Kretschmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Willi
Brase, Nicolette Kressl, Jörg Tauss, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Junge Menschen fördern - Ausbildung
schaffen und Qualifizierung sichern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz
({1}), Britta Haßelmann, Brigitte Pothmer,
Josef Philip Winkler und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Perspektiven schaffen - Angebot und Struktur der beruflichen Bildung verbessern
- Drucksachen 16/5730, 16/5732, 16/7754 Berichterstattung:
Abgeordnete Uwe Schummer
Patrick Meinhardt
Priska Hinz ({2})
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Aufstieg durch Bildung - Qualifizierungsinitiative der Bundesregierung
- Drucksache 16/7750 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick
Meinhardt, Uwe Barth, Cornelia Pieper, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Mehr Chancen durch bessere Bildung und
Qualifizierung
- Drucksache 16/7733 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Das
stößt offenkundig auf große Zustimmung. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Frau
Dr. Schavan.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Das Kabinett hat in seiner
Sitzung am 9. Januar die Qualifizierungsinitiative
„Aufstieg durch Bildung“ verabschiedet. Damit sind
folgende Ziele verbunden: erstens die Bildungschancen
zu stärken, zweitens die Durchlässigkeit im Bildungssystem zu erhöhen, drittens die Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung zu fördern, viertens
jedem Jugendlichen - so haben wir es auch im Koalitionsvertrag vereinbart - eine Chance auf Schulabschluss und qualifizierte Ausbildung zu geben und
schließlich fünftens mit den Ländern ein Maßnahmenbündel zu vereinbaren, das im Herbst 2008 beim Treffen
Redetext
der Regierungschefs von Bund und Ländern verabschiedet werden wird.
Mit der Qualifizierungsinitiative, die in zwei Stufen
durchgeführt wird, sollen alle Akteure an einen Tisch gebracht werden. Die Initiative der beiden Regierungsfraktionen „Jugend - Ausbildung und Arbeit“ vom letzten
Sommer wurde aufgegriffen und in gemeinsamer Verantwortung des Arbeits- und des Bildungsministeriums
in konkrete Maßnahmen umgesetzt.
Dieses Maßnahmenbündel, das vom Bund verantwortet wird, wird mit den Maßnahmen der Länder zusammengebracht und ist ein wichtiges, ja zentrales Reformwerk für die zweite Hälfte der Legislaturperiode unter
der Überschrift „Aufstieg durch Bildung“. Denn wir
wollen, dass jeder Jugendliche in Deutschland zu Abschluss und Qualifikation kommt.
({0})
Im Einzelnen geht es bei der Initiative um Folgendes:
Die Bildungschancen zu stärken heißt, vermehrt in die
frühkindliche Bildung zu investieren und sie zu profilieren. Deshalb ist die flächendeckende Weiterbildungsinitiative für Erzieherinnen und Erzieher vorgesehen. Im
ersten Durchgang sollen 80 000 der insgesamt
230 000 Erzieherinnen und Erzieher in Deutschland weitergebildet werden, und zwar in gemeinsamer Verantwortung des Familien- und des Bildungsministeriums,
mit dem Deutschen Jugendinstitut und anderen Partnern.
Es ist viel in Bewegung im Hinblick auf die Qualifikation derer, die in Kindertagesstätten arbeiten. Das ist
wichtig, um Bildung in den frühen Jahren zu stärken.
Dazu gehört die bessere organisatorische und konzeptionelle Verbindung zwischen Grundschulen und Kindertagesstätten. Wir werden die entsprechenden Bildungshäuser in mehreren Bundesländern begleiten und
fördern. Hier entsteht künftig die erste gemeinsame Bildungsphase des Bildungssystems in Deutschland.
({1})
Die Initiative „Haus der kleinen Forscher“ wird ausgebaut. Bis 2010 sollen von dieser Initiative 10 000 Kindertagesstätten erreicht werden. Wer will, dass sich mehr
Jugendliche in Deutschland für Naturwissenschaften und
Technik entscheiden, muss früh ansetzen und dafür sorgen, dass der Zugang zu Naturphänomenen und allem,
was in dieser Phase möglich ist, offen ist.
Bildungschancen stärken heißt Sorge dafür tragen,
dass jeder einen Schulabschluss macht. Die Kultusministerkonferenz spricht von einer Halbierung der Zahl
der Schulabbrecher. Wir haben bereits einen leichten
Rückgang in den letzten Jahren erreicht. Nun ist ein
Schub notwendig. Dazu gibt es eine Reihe von Maßnahmen: flächendeckende Praxisklassen, Einrichtung von
Ausbildungspaten, insgesamt 73 Projekte für rund 1 500
sogenannte harte Schulverweigerer, stärkere Zusammenarbeit, Erschließung des Potenzials überbetrieblicher Berufsbildungsstätten für die Arbeit in den Abgangsklassen
vor allen Dingen an Hauptschulen. Ich finde, es ist ein
bildungspolitisch, gesellschaftspolitisch und jugendpolitisch zentrales Ziel, dass jeder Jugendliche in Deutschland zu einem Schulabschluss kommt.
({2})
Über die Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung wird in Deutschland seit langem gesprochen. Ich glaube, wir sind uns in diesem Hause einig: Die berufliche Bildung in Deutschland, die duale
Ausbildung, die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und Schulen, ist ein Flaggschiff im deutschen Bildungssystem und einer der zentralen Gründe, warum die
Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland, verglichen mit
internationalen Werten, deutlich niedriger ist. Das System der dualen Ausbildung muss gestärkt werden.
Gleichwertigkeit muss erreicht werden. Wir wollen uns
vor allem um diejenigen kümmern, die in den letzten
Jahren keine Chance bekommen haben. So ist es im Innovationskreis „Berufliche Bildung“ beschlossen worden. Dort haben wir - genauso wie im Antrag der Regierungsfraktionen - gesagt, dass diese Gruppe in den
nächsten Jahren eine zweite Chance braucht. Dafür werden Ausbildungsplätze geschaffen. Die Anregungen der
Fraktionen werden aufgegriffen. Herr Kollege Scholz
wird dazu gleich mehr sagen. Ich bin davon überzeugt,
dass das eine große Chance ist, in den nächsten zwei,
drei Jahren die Probleme, die sich in den letzten Jahren
angehäuft haben, zielgenau anzugehen. Jeder braucht
berufliche Qualifikation. Es kann nicht sein, dass
15 Prozent der 20- bis 29-Jährigen in Deutschland keinen Berufsabschluss haben.
({3})
Diese Regierung und die sie tragenden Fraktionen haben
die Kraft, dieses Thema aufzugreifen.
Dazu gehört die Stärkung sozialpädagogischer
Ausbildungshilfen für Unternehmen, die eine zweite
Chance geben. Dazu gehören die Ausbildungsbausteine
für diejenigen, die abgebrochen haben und wieder in
eine neue Ausbildung einsteigen werden. Um Gleichwertigkeit zu schaffen, sind aber auch finanzielle Anreize notwendig. Deshalb führen wir ein Aufstiegsstipendium für Absolventinnen und Absolventen der
beruflichen Bildung ein, die ein Studium absolvieren
wollen. Das ist ein ganz neues Instrument mit einer elternunabhängigen Förderung. Wir sagen begabten jungen
Leuten aus der beruflichen Bildung: Ja, wir unterstützen
den Weg ins Studium.
({4})
Des Weiteren geht es um die strukturelle Weiterentwicklung des Meister-BAföG. Eine 10-prozentige Erhöhung ist erfolgt. Nun geht es darum, mehr Berufe und
mehr Personen zu fördern, Familien stärker zu unterstützen, die Fortbildungsmöglichkeiten für Migranten zu
verbessern, Impulse für mehr Existenzgründungen und
zusätzliche Arbeits- und Ausbildungsplätze zu geben.
1996 hat Jürgen Rüttgers das Meister-BAföG eingeführt.
({5})
Es ist ein wichtiges Signal für die Gleichwertigkeit von
beruflicher und allgemeiner Bildung. Ich freue mich
- ich habe das gestern in einer Pressemitteilung gelesen -,
dass es auch innerhalb der Fraktionen - die SPD-Fraktion hat Eckdaten vorgelegt - einen großen Konsens darüber gibt, das Meister-BAföG strukturell weiterzuentwickeln, den Kreis derjenigen, die anspruchsberechtigt
sind, zu erweitern.
Meine Damen und Herren, des Weiteren werden wir
einzelne Maßnahmen auf den Weg bringen, die genau an
den Stellen ansetzen, die heute immer wieder analysiert
werden: Stichwort Naturwissenschaften, Interesse für
Technik. Ich habe über die frühkindliche Bildung gesprochen. Die nächste wichtige Schnittstelle ist die
Schnittstelle zwischen Schule und Studium. Deshalb ist
es erforderlich, die Möglichkeit eines Freiwilligen Technischen Jahres in der Zeit zwischen Abitur und Studienbeginn einzuführen.
In diesem Zusammenhang erwähne ich auch den nationalen Pakt zur Gewinnung von mehr jungen Frauen
für natur- und ingenieurwissenschaftliche Berufe, an denen sich rund 30 Unternehmen und große Verbände beteiligen werden, aber auch wichtige Maßnahmen für die
Verbesserung der Chancen von Frauen im Bereich der
Hochschulen. Als Stichworte nenne ich hier das Professorinnenprogramm sowie mit Blick auf die Vereinbarkeit
von Familie und Beruf das Programm zur Qualifizierung
arbeitsloser Akademikerinnen und Akademiker, das gezielt für Berufsrückkehrerinnen geöffnet werden soll.
Das Stärken von Bildungschancen bezieht sich auch
auf das Lernen im Lebenslauf. Der „Innovationskreis
Weiterbildung“ hat gute Impulse erarbeitet, übrigens unter Beteiligung der Länder. Wir werden analog zum Ausbildungspakt eine Weiterbildungsallianz begründen. Der
Ausbildungspakt hat in den letzten Jahren viel Bewegung im Bereich der Ausbildung geschaffen. So soll es
auch im Bereich der Weiterbildung sein. Konkrete Beiträge aller Partner werden mit Ländern, Kommunen - es
gibt sehr innovative Ansätze in den Kommunen - und
den Sozialpartnern vereinbart werden. Im Rahmen der
Vertiefung des Konzepts „Lernende Regionen“ soll die
Weiterbildungsbeteiligung in Deutschland von 43 auf
50 Prozent gesteigert werden.
Noch in diesem Jahr werden wir mit den großen Stiftungen eine Initiative in Deutschland starten - das Einverständnis aller Beteiligten liegt vor -, um regionale
Weiterbildungsstrukturen aufzubauen, letztlich also
Sorge dafür zu tragen, dass im Bildungssystem das geschieht, was sich im Wissenschaftssystem schon anbahnt: Alle Bildungseinrichtungen müssen sich die
Frage stellen, welchen Beitrag sie zu lebenslanger Bildung und zu lebenslangem Lernen im gesamten System
leisten können.
Meine Damen und Herren, ich bin davon überzeugt,
dass es uns mit diesem Maßnahmenbündel, das schon
jetzt auch andere Akteure einschließt, gelingen wird, an
wichtigen Schnittstellen im Bildungssystem - in den frühen Jahren mit Blick auf die Gleichwertigkeit der unterschiedlichen Segmente des Bildungssystems, später an
der Schnittstelle von beruflicher zu akademischer Bildung sowie von Schule und Studium - Veränderungen
herbeizuführen, die zu einer deutlichen Verbesserung
des Bildungssystems und vor allem - das ist ein zentrales Anliegen - zu einer deutlichen Verbesserung der Bildungschancen für Jugendliche in Deutschland beitragen.
Ich danke den anderen Häusern für die gute Zusammenarbeit und den Fraktionen für ihre Impulse in dem
Antrag aus dem Juni 2007.
Vielen Dank.
({6})
Ich danke der Bundesministerin für die Einhaltung
der Redezeit, was bei Mitgliedern der Bundesregierung
nicht immer der Fall ist.
({0})
Deswegen kann ich ohne unnötigen Verzug im Rahmen
der vereinbarten Rednerliste dem Kollegen Uwe Barth
für die FDP-Fraktion das Wort erteilen.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Qualifizierungsoffensive der Bundesregierung ist kaum
beschlossen, aber schon im Netz verfügbar. Wie man
hört, ist auch die Hochglanzbroschüre bereits auf dem
Weg.
({0})
Ich kann direkt vor mir sehen, wie die Menschen zu
Hause am PC und am Küchentisch sitzen und das Werk
mit Spannung lesen.
({1})
Da lesen sie dann Sätze wie die folgenden: Exzellenz in
der Bildung ist ein Auftrag aus unserer Geschichte und
Tradition, der in die Zukunft übersetzt werden muss. Bildung und Qualifizierung sind der Schlüssel für die Zukunft unseres Landes und aller Bürgerinnen und Bürger.
({2})
Das sind Sätze, die nun wahrlich keine neuen Erkenntnisse darstellen und die sich in so ziemlich jedem
Parteiprogramm so oder so ähnlich finden lassen.
Den mit der Offensive angestrebten Erkenntnis- und
Wissensgewinn, Frau Ministerin, wünsche ich vor allem
dem Erfinder des Wortes „Wissensbeschleunigung“.
Dieses Wort enthüllt für mich geradezu beispielhaft die
Sinnleere und vor allem den plakativen Charakter der
ganzen Veranstaltung. Allein über dieses Wort aus dem
für Bildung zuständigen Ministerium müsste man, wenn
mehr Zeit wäre, länger reden. Die Zeit habe ich leider
nicht. „Wissensbeschleunigung“!
Vor allem inhaltlich enttäuscht die Initiative. Die Ansätze und Strategien sind für die Lösung der beschriebenen Probleme weitgehend ungeeignet. In dem Ziel, unsere Bildungseinrichtungen wieder zur Weltspitze zu
führen und damit unseren Kindern Chancen im globalen
Wettbewerb zu eröffnen, sind wir uns völlig einig. Doch
bis dahin ist es ein weiter Weg. In einer Umfrage des
DIHK aus dem Jahr 2006 beklagte jedes zweite Unter14450
nehmen vor allem die mangelnde Ausbildungsreife der
Schulabgänger. 12 Prozent der Befragten gaben an,
dass sie nicht alle Ausbildungsplätze, die zur Verfügung
stehen, besetzen können, weil die Schulabgänger unzureichend ausgebildet sind. Gestern Abend hat der Präsident des Branchenverbunds der ostdeutschen Bauindustrie gesagt, dass 22,5 Prozent der Bewerber nicht
hinreichend gut lesen oder rechnen können. Ich kann mir
diese Zahl wirklich nicht vorstellen, aber der Mann
macht einen seriösen Eindruck, und ich habe keinen Anlass, anzunehmen, dass er sich die Zahlen nur ausgedacht hat.
({3})
Zur Lösung des Grundsatzproblems ist das, was Sie uns
hier liefern, so brauchbar wie die Zahnspange für Rentner: wohl gut gemeint, aber zu spät angesetzt und deshalb oft ins Leere gehend.
({4})
Die FDP hat mit ihrem eigenen Antrag „Mehr Chancen durch bessere Bildung und Qualifizierung“ ihre Vorschläge hier eingebracht. Auf der Suche nach Lösungsansätzen haben wir uns mit Akteuren auseinander- und
vor allem zusammengesetzt. Herausgekommen ist ein
gemeinsames Positionspapier mit dem Zentralverband
des Deutschen Handwerks, welches sich gerade den Defiziten im Umfeld der beruflichen Bildung widmet. Wir
haben Ansätze formuliert, die den Bereich der vorschulischen und der schulischen Bildung umfassen, eine Neuorientierung auch im Bereich der dualen Berufsausbildung einschließen und schließlich auch die Hochschule
und das lebenslange Lernen mit einbeziehen. Teilweise
gibt es dabei durchaus Parallelen, aber auch Abweichungen und neue Ansätze.
Wenn es darum geht, junge Menschen vor Schulversagen, vor mangelnder Ausbildungsreife und damit vor
Perspektivlosigkeit zu schützen, dann ist ein Professorinnenprogramm wenig hilfreich. Auch Fortbildungsprogramme für Erzieherinnen und Erzieher gibt es hinreichend viele. Das Problem ist, dass aufgrund der engen
Personaldecke an den Kindertagesstätten Erzieherinnen
und Erzieher viel zu selten in der Lage sind, von den angebotenen Programmen Gebrauch zu machen. Ähnlich
verhält es sich mit dem Aufstiegsstipendium für Berufsabsolventen. Natürlich müssen mehr Absolventinnen
und Absolventen für ein Studium gewonnen werden.
Doch scheitert dies in aller Regel nicht an den finanziellen oder rechtlichen Hürden eines Studiums. Alleine die
begrenzten Studienplatzkapazitäten stehen diesem Ziel
im Wege. Gerade deswegen müssen wir im Ausschuss
gemeinsam bei den Verhandlungen zum Hochschulpakt II darauf drängen, dessen Volumen zu erhöhen, um
hier etwas bewirken zu können.
({5})
Frau Ministerin, zu Ihrem ursprünglichen Vorschlag,
einen Ausbildungsbonus einzuführen, hatten sich Arbeitgeberverband und Handwerksvereinigung zu Wort
gemeldet und vor Fehlsteuerungen und Mitnahmeeffekten gewarnt. Hier haben Sie tatsächlich reagiert und das
gut funktionierende Modell eines im Übrigen FDP-geführten Ministeriums aus Baden-Württemberg nahezu
eins zu eins übernommen. Das ist in Ordnung.
({6})
In Baden-Württemberg und Niedersachsen funktioniert
der Ausbildungsplatzzuschuss gut, und er ist ein Erfolgsmodell. Wir warten mit Spannung ab und hoffen
gemeinsam, dass möglichst viele der immerhin
400 000 vom Ausbildungsmarkt derzeit ausgeschlossenen Altbewerberinnen und Altbewerber von dieser Maßnahme profitieren können. Ob letztlich die erhofften
100 000 Ausbildungsplätze entstehen, bleibt abzuwarten. Ich muss sagen, dass angesichts der aus meiner Sicht
etwas unsystematischen und praxisfernen Ausgestaltung
des Paketes durchaus Skepsis angebracht ist.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort erhält nun der Bundesminister für Arbeit
und Soziales, Olaf Scholz.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bildung, Ausbildung und Qualifizierung sind
Schlüsselfragen im Hinblick auf die Chancen jedes Einzelnen und die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft.
Deshalb ist die Qualifizierungsinitiative zu Recht ein
ganz zentrales Vorhaben der Großen Koalition. Ich will
hier etwas zu den arbeitsmarktpolitischen Projekten dieser Initiative sagen. Dabei stehen die Ausbildungs- und
Berufschancen junger Menschen natürlich im Mittelpunkt.
Unsere Marktwirtschaft lebt davon, dass derjenige,
der einen Beruf lernen will, das auch kann. Deshalb ist
es unsere zentrale Aufgabe, dass wir dieses Versprechen
erfüllen.
({0})
Wir müssen jungen Menschen helfen, denen eine fehlende Ausbildung zum Stolperstein wird, obwohl sie mit
aller Macht eine Ausbildung wollen und sich intensiv
darum bemühen. Wir müssen auch diejenigen wieder auf
das Gleis Richtung Arbeitswelt setzen, die eine
schlechte Schulbildung haben und denen der Wert der
Ausbildung vielleicht erst vermittelt werden muss. Wir
dürfen uns nicht damit abfinden, dass es Jahr für Jahr
ganze Hauptschulklassen gibt, deren Schüler allesamt
keine Lehrstelle finden. Wir sind schon daran gewöhnt,
dass solche Hauptschulklassen am Ende der Ausbildungssaison in den Zeitungen abgebildet sind. Ich
glaube, dass wir uns das nicht nur anschauen sollten;
vielmehr muss es für uns ein Ansporn zum Handeln sein.
({1})
Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass viele Jugendliche beim ersten Kontakt mit dem Berufsleben nur
Ablehnung erfahren. Man muss sich auch die Reaktionen der jungen Leute vorstellen, wenn einige abstrakt
davon reden, dass sie selbst nicht ausbildungsgeeignet
seien. Alle brauchen eine Chance, wenn sie sich anstrengen. Ich wiederhole: alle, auch schlechte Schüler und
auch solche, die keinen Abschluss erreicht haben.
({2})
Wir wollen deshalb denen eine neue Perspektive geben, die schon lange einen Ausbildungsplatz suchen.
Wir werden die Berufswahlvorbereitung in den letzten
Jahren der Schule und den Übergang in Ausbildung besser gestalten. Außerdem werden wir die Förderung und
Begleitung während der Ausbildung verbessern. Den
Anstoß dazu haben - Ehre, wem Ehre gebührt - im Sommer die Koalitionsfraktionen gegeben.
Klar: Betriebliche Berufsausbildung ist in allererster
Linie eine Aufgabe der Unternehmen. Sie müssen sich
kümmern, übrigens schon aus wohlverstandenem Eigeninteresse. Denn indem Unternehmen jungen Menschen
Chancen eröffnen und die Fachkräfte von morgen ausbilden, verbessern sie auch ihre eigenen Chancen im globalen Wettbewerb und die unserer ganzen Volkswirtschaft.
Es darf daher in erster Linie nicht darum gehen, ob
sich Ausbildung betriebswirtschaftlich rechnet. Das tut
sie nicht immer. Trotzdem muss sie stattfinden.
({3})
Sie ist in jedem Falle volkswirtschaftlich der beste Weg,
Fachkräftemangel zu vermeiden. Sie entscheidet mit
darüber, ob wir, als Nation, unsere volkswirtschaftlichen
Potenziale nutzen können. Wer nicht ausbildet, soll über
Fachkräftemangel nicht klagen.
({4})
Die Politik hilft den Unternehmen dabei, ihre Verantwortung wahrzunehmen. Wir haben gemeinsam mit den
Unternehmensverbänden den Ausbildungspakt ins Leben gerufen, der jährlich 60 000 neue Ausbildungsplätze
bringen soll.
({5})
Wir unterstützen jährlich 40 000 Plätze für betriebliche
Einstiegsqualifizierungen, aus denen zwei Drittel der
Teilnehmer in einen betrieblichen Ausbildungsplatz
wechseln - ein schöner Erfolg. Wir fördern Ausbildung
und Qualifizierung mit den Mitteln der aktiven Arbeitsmarktpolitik.
Der Erfolg ist sichtbar. Der Ausbildungsmarkt entwickelt sich positiv. Die Zahl der neuen Ausbildungsverträge stieg 2007 um 8,6 Prozent gegenüber 2006.
625 900 Ausbildungsverträge wurden zum Stichtag
30. September 2007 neu für das Ausbildungsjahr 2007/
2008 abgeschlossen. Allein im Ausbildungspakt, von
dem schon die Rede war, wurden nach vorläufigen Zahlen 79 200 Ausbildungsverträge im Jahr 2007 neu eingeworben.
({6})
Aber es gibt einen sehr großen Handlungsbedarf.
Wir brauchen noch mehr Ausbildungsplätze in Betrieben, bei Freiberuflern und in Verwaltungen, um allen
Ausbildungswilligen und -fähigen ein Angebot im dualen System zu machen. Ganz besonders müssen wir uns
um diejenigen kümmern, die seit längerem erfolglos
nach einem Ausbildungsplatz suchen.
Vor acht Jahren suchten rund 40 Prozent der gemeldeten Bewerber seit längerem erfolglos eine Lehrstelle.
Heute sind es bereits über 52 Prozent. Diese Bugwelle
ist bei den Berufsberatern beinahe schon sprichwörtlich.
Viele junge Menschen stecken in Ersatzmaßnahmen.
Diese sind, wie die Einstiegsqualifizierung, hilfreich,
aber sie sind eben nur ein Ersatz und nicht das, was die
jungen Menschen eigentlich anstreben.
Ich will dazu ausdrücklich fragen: Was soll eigentlich
mit jungen Leuten geschehen, die die Schule abgeschlossen haben und nach einem Ausbildungsplatz suchen? Es finden wichtige und gute Dinge für sie statt,
aber nicht das, was sie eigentlich anstreben, nämlich
- um es mit einem klassischen Wort zu sagen - endlich
eine Lehre. Das müssen wir für unsere jungen Leute besser regeln.
({7})
Das Kernstück des Konzepts „Jugend - Ausbildung
und Arbeit“ ist deshalb ein Ausbildungsbonus, mit dem
wir bis 2010 rund 100 000 zusätzliche Ausbildungsplätze für Altbewerber schaffen wollen - gerade weil die
Altbewerberproblematik so groß ist, wie ich sie eben beschrieben habe. Darum haben wir auch großzügige Kriterien ausgesucht. Der Ausbildungsbonus richtet sich an
Altbewerber, die maximal über einen Realschulabschluss verfügen. Das Problem mit den Hauptschülern
ist bekannt; ich habe es schon beschrieben. Aber die
Schwierigkeit, eine Ausbildungsstelle zu finden, betrifft
immer mehr auch Realschüler. Wir haben uns bewusst
entschieden, nicht zu sagen: Wir nehmen den Notendurchschnitt: 3,5; wenn jemand schlechter ist, bekommt
das Unternehmen eine Förderung, wenn jemand besser
ist, soll es sie nicht bekommen. Es würde auch absurde
Situationen in den Abgangsklassen der Schulen schaffen, wenn dann eventuell die Schüler mit ihren Lehrern
darüber verhandeln, ob sie nicht doch einen etwas
schlechteren Durchschnitt bekommen können.
Darum haben wir beschlossen, die ganze Gruppe einzubeziehen und genügend andere Kriterien zu finden,
um Missbrauch und Mitnahmeeffekte zu verhindern. Er
soll sich an diejenigen richten, die bereits seit über zwei
Jahren vergeblich auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz sind, und natürlich an diejenigen, die individuell benachteiligt sind - ein Kriterium, das die Arbeitsvermittlung schon lange kennt und das hier immer weiter
eine Rolle spielen muss.
Wenn ein Arbeitgeber für einen jungen Menschen aus
dieser Gruppe einen zusätzlichen Ausbildungsplatz
schafft - dadurch ist die Mitnahme von Leistungen für
etwas, das man sowieso geplant hat, weitgehend ausgeschlossen -, dann bekommt er dafür einen Bonus von
4 000, 5 000 oder 6 000 Euro. Wir haben uns dabei an
der Hälfte der Ausbildungsvergütung für ein Jahr orientiert. Es soll eine plakative Summe sein, damit der Aufruf an die Unternehmerinnen und Unternehmer in diesem Land, zusätzliche Ausbildungsplätze für junge
Leute zu schaffen, die es schwer haben, einen Ausbildungsplatz zu finden, verstanden wird und damit er auch
Wirkung hat. Ich bin froh, dass das jetzt möglich geworden ist.
({8})
Wir unterstützen also diejenigen, die es in der Vergangenheit besonders schwer hatten, einen Ausbildungsplatz zu finden.
Aber der Ausbildungsbonus ist nicht das Einzige, was
wir planen. Wir werden die Möglichkeiten der ausbildungsbegleitenden Hilfen, etwa die sozialpädagogische
Unterstützung, ausbauen. Wir wollen so Chancen für
lernbeeinträchtigte und benachteiligte Jugendliche auf
einen Berufsabschluss schaffen. Wir werden die erfolgreichen Patenmodelle zum Anlass nehmen, den Einsatz
von Berufseinstiegsbegleitern besser und systematischer
zu machen. So wollen wir erproben, wie leistungsschwächere Schüler beim Übergang in eine Ausbildung über
einen längeren Zeitraum individuell begleitet werden
können. Beides - sozialpädagogische Begleitung und
Einsatz von Paten - hilft einerseits den Betrieben, mit
jungen Leuten klarzukommen, die etwas weniger gut auf
den Betriebsalltag eingestellt sind, und andererseits den
jungen Auszubildenden, sich in der nicht ganz dem
Schulalltag entsprechenden Realität des Arbeitslebens
zurechtzufinden.
({9})
Das ist ein Stück Realität, das wir damit zur Kenntnis
nehmen.
Jenseits all der Diskussionen, die notwendig sind,
versteht jeder von uns den Ausbilder, den Meister oder
den Chef, der sagt: Ich würde ja gern, aber wenn ich mir
all das anschaue, was ich da noch nebenbei machen
muss, komme ich zu dem Schluss, dass mich das überfordert. - Diese Leute wollen wir unterstützen und ihnen
sagen: Traut euch! Wir helfen euch, damit das auch
klappt. - Das ist ein gutes Bündnis, das Gesellschaft und
Betriebe schließen können, um den jungen Leuten zu
helfen. Wir sollten diesen Versuch weiter ausbauen.
({10})
Meine Damen und Herren, wir wollen auch die Berufsberatung mit zusätzlichen Berufsberatern und Vermittlern weiter verstärken, weil wir es natürlich schaffen
müssen, dass die jungen Leute und die Ausbildungsplätze zueinanderkommen.
Letztlich geht es auch darum - meine Kollegin
Schavan hat darüber schon gesprochen -, die Ausbildungsförderung auch im Hinblick auf diejenigen ein bisschen zu verbessern, die aus der beruflichen Situation
heraus für die Ausbildung zuständig sind.
Alles zusammen hilft den jungen Leuten. Es hilft unserer Gesellschaft. Es ist ein Stück vorsorgender Sozialstaat und hat viel mit Zukunft zu tun. Hoffnung ist das
Wichtigste im Leben des einzelnen Menschen und einer
Gesellschaft. Daran zu bauen und mitzuhelfen, dass die
Hoffnungen vieler Menschen erfüllt werden können, ist
eine wichtige Aufgabe.
Schönen Dank, meine Damen und Herren.
({11})
Cornelia Hirsch ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Eigentlich heißt es ja: Einsicht ist der beste Weg zur Besserung. Bei Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren von der
Bundesregierung, ist dies offensichtlich nicht der Fall.
Auf der einen Seite kann man zwar daran, dass Sie die
Qualifizierungsinitiative gestartet haben, feststellen,
dass bei Ihnen durchaus eine gewisse Einsicht vorhanden
ist. Schließlich beschreiben Sie da, dass Sie die Sorge haben, dass es zu einem Fachkräftemangel kommt. Sie
schreiben sogar ganz konkret, dass schon jetzt gut ausgebildete Menschen fehlen. Anders und vielleicht auch für
die Zuhörerinnen und Zuhörer etwas deutlicher ausgedrückt: Man kann das ganz klar als Einsicht werten, dass
Ihre Bildungspolitik der letzten Jahre offensichtlich so
miserabel war, dass das Bildungssystem komplett gegen
die Wand gefahren wurde und dass Sie jetzt die Konsequenzen spüren.
({0})
Wenn Einsicht bis zu einem gewissen Grad da ist,
muss man sich jetzt aber auf der anderen Seite überlegen, wie es um die Besserung bestellt ist. Eine Besserung ist nach wie vor nicht eingetreten. Das, was Sie in
der Qualifizierungsinitiative zusammengeschrieben haben, stellt nichts weiter als ein mutloses Weiter-so dar,
gepaart mit minimalen Trippelschritten und zahlreichen
Ankündigungen, denen, wie wir aus den Sonntagsreden
der Bundesregierung wissen, jegliche Grundlage und
jegliche Verbindlichkeit fehlen.
({1})
Die Linke sagt Nein zu so einer Qualifizierungsinitiative. Wir fordern eine Qualifizierungsinitiative, die diesen Namen auch wirklich verdient. Das würde zuerst
einmal bedeuten, dass man die Qualifizierungsinitiative,
die Sie hier vorgelegt haben, in drei Bereichen auf eine
vollkommen andere Grundlage stellt.
Auf eine andere Grundlage stellen heißt zum Ersten:
auf eine andere finanzielle Grundlage. Frau Ministerin
Schavan, Sie haben in der Presse davon gesprochen, dass
für die Qualifizierungsinitiative in den nächsten drei Jahren 500 Millionen Euro zur Verfügung stehen. Man vergleiche einmal diese 500 Millionen Euro mit den Geldern für andere bildungspolitische Programme wie zum
Beispiel für das Ganztagsschulprogramm. Hierfür wurden - selbst da sagen Expertinnen und Experten, dass
das noch zu wenig Geld ist - insgesamt 4 Milliarden
Euro zur Verfügung gestellt. Auf diesem Weg ist es dann
gelungen, dass zumindest in Ansätzen ein bisschen etwas an den Schulen in Bewegung gekommen ist. Es ist
nun wirklich sehr interessant, wie Sie es schaffen wollen, mit 500 Millionen Euro etwas Ähnliches - und dann
auch noch bezogen auf das gesamte Bildungssystem - zu
erreichen. Die Linke glaubt nicht, dass das klappen wird.
({2})
Wir haben andere Vorschläge vorgelegt. Wir fordern
eine grundsätzlich andere Steuerpolitik. Man könnte beispielsweise eine Börsenumsatzsteuer einführen. Auf diesem Weg könnte es gelingen, eine nachhaltige, bessere
Bildung zu finanzieren.
({3})
- Der liegt schon seit Urzeiten vor, Herr Barth; den hätten Sie einmal lesen sollen, statt ihn, wie ich glaube, sofort abzulehnen.
({4})
Auf eine andere Grundlage stellen heißt zum Zweiten: auf eine strukturell andere Grundlage. Frau Ministerin Schavan, wenn Sie in jedem Interview, das Sie geben, das gegliederte Schulsystem lobpreisen, dann führt
das dazu, dass die Länder davon absehen, Schritte hin zu
einer anderen Bildung einzuleiten. Eine andere Bildung,
die Schluss macht mit einer Auslese, einer sozialen Selektion, und stattdessen auf individuelle Förderung setzt,
dafür kämpft die Linke.
({5})
Auf eine andere Grundlage stellen heißt zum Dritten:
auf eine politisch andere Grundlage. Ihr Ausgangspunkt
ist, dass die Wirtschaft ruft, ihr fehlten gut ausgebildete
Fachkräfte.
({6})
Die Linke sagt: Uns geht es um das Recht auf Bildung.
Das ist ein großer Unterschied. Denn in Ihrer Logik kann
es gut passieren, dass eine Absolventin das Pech hat, in
dem Jahr ihren Schulabschluss zu machen, in dem die
Wirtschaft ebendiese Töne gerade einmal nicht von sich
gibt. Dieser Absolventin wird von Ihnen dann gesagt: Es
tut uns leid; du wirst gerade nicht gebraucht. - Das kann
nun wirklich nicht der Anspruch einer demokratischen
Gesellschaft sein. Deshalb fordert die Linke ein Recht
auf Bildung.
({7})
Wenn Sie die Qualifizierungsinitiative auf diese
Weise auf eine andere Grundlage gestellt hätten, dann
hätten Sie auch wirklich mutige Schritte machen können, um einen bildungspolitischen Schub zu geben. Da
ich Sie nicht überfordern will, will ich nur fünf ganz
konkrete Punkte anführen,
({8})
die die Linke schon in mehreren Anträgen deutlich gemacht hat. Zur frühkindlichen Bildung werde ich nicht
sprechen. Diesen Punkt wird nachher mein Kollege
Volker Schneider aufgreifen.
Erstens. Herr Minister Scholz, was soll dieser Ausbildungsbonus? Sie können doch nicht ernsthaft die jahrelange Ausbildungsverweigerung der Unternehmen jetzt
auch noch mit weiteren Steuergeschenken belohnen. Sie
haben vorhin gesagt: Wer nicht ausbildet, soll nicht über
fehlende Fachkräfte klagen. Das ist natürlich eine großartige Ankündigung. Die Linke würde es besser finden,
wenn Sie wirklich Druck auf die Unternehmen ausüben
würden. Die Linke sagt: Wer nicht ausbildet, soll zahlen.
Wir fordern eine gesetzliche Ausbildungsplatzumlage.
({9})
Zweitens. Frau Ministerin Schavan, Sie haben von sozialer Durchlässigkeit gesprochen. Auch da könnten Sie
ganz konkrete Schritte gehen. Die Linke sagt: Wir brauchen jetzt dringend ein bundesweites Hochschulzulassungsgesetz. Als wichtigster Punkt muss darin enthalten
sein, dass Absolventinnen und Absolventen aus dem Bereich der beruflichen Bildung das Recht auf Zulassung
zu Hochschulen haben. - Sie nicken. Es wäre aber noch
besser, wenn ein entsprechender Antrag von Ihnen vorliegen würde.
({10})
Drittens. Man kann nicht bei dieser unzureichenden
BAföG-Novelle stehen bleiben.
({11})
Auch da brauchen wir weitere Schritte. Stichpunkte
sind: Ausbau des Schüler-BAföG und eine schrittweise
Rückführung des Darlehenszuschusses.
Ich habe noch zwei weitere Punkte. Da meine Redezeit
fast zu Ende ist, nur kurz: Wir brauchen schon jetzt einen
zweiten Hochschulpakt, mit dem es wirklich gelingt, die
Studienplatzkapazitäten auszubauen. Und Punkt 5: Man
darf die Weiterbildung nicht mehr länger so stiefmütterlich behandeln, wie Sie es tun, sondern man muss endlich
ein Bundesweiterbildungsgesetz auf den Weg bringen.
({12})
Das könnte dann ein bildungspolitischer Schub nach
vorne sein. Dafür kämpft die Linke; dafür werden wir
auch weiter kämpfen. Ihre Qualifizierungsinitiative leistet dazu leider nur herzlich wenig.
Besten Dank.
({13})
Das Wort erhält nun der Kollege Kai Gehring für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Ministerin, es ist schon beeindruckend, mit welchem Engagement Sie sich für die Vermarktung Ihrer nationalen Qualifizierungsinitiative einsetzen.
({0})
Auf sämtlichen Kanälen wird da die Lösung fast aller
Probleme verkauft: von Fachkräftemangel über Bildungsungerechtigkeit bis hin zur Jugendgewalt. Ich hätte
mich gefreut, wenn Sie sich mit dem gleichen Engagement um die Inhalte und um die Substanz Ihrer Initiative
gekümmert hätten.
({1})
Wer sich Ihren Papierstapel einmal genauer ansieht,
kommt schnell zu dem Ergebnis: Viel Lärm um herzlich
wenig! Was Sie da zusammengetragen haben, ist ein
Bauchladen an Modellversuchen, alten Pilotprojekten
und Vorschlägen an die Adresse der Länder. Darunter ist
kaum eine strukturelle Reform. Das ist keine Brücke auf
dem Weg zur Beseitigung des Fachkräftemangels. Ein
roter Faden fehlt völlig, ein grüner sowieso.
({2})
Dabei wäre eine wirksame Initiative für bessere Bildung und gerechtere Teilhabe nötiger denn je. Schließlich haben viel zu wenig junge Menschen Zugang zu guter Bildung. Wir haben viel zu viele Schulabbrecher, zu
viele Jugendliche in Warteschleifen und zu wenig Studierende, sodass uns in Zukunft Hunderttausende Fachkräfte fehlen. Dazu haben Sie mit Ihrer zögerlichen Politik beigetragen.
Aber schauen wir uns Ihr Ankündigungspotpourri im
Einzelnen an. Sie haben vorhin beim Punkt frühkindliche Bildung angekündigt, 80 000 Erzieherinnen und Erzieher fortbilden zu wollen. Das ist wichtig; das klingt
gut. Welche Maßnahmen stehen aber dahinter? Dahinter
steht ein Internetportal, das Sie aufbauen wollen. Das
war’s. Das ist keine Qualifizierungsinitiative; das hat
schon fast den Charakter einer Täuschungsinitiative.
({3})
Mit einer Qualifizierungsinitiative, die diesen Namen
auch verdient, müssen Sie dafür sorgen, dass diejenigen,
die sich professionell um unsere kleinsten Kinder kümmern, endlich auf Hochschulniveau qualifiziert werden.
Dazu ist von Ihnen aber nichts zu hören.
Auch beim Hochschulzugang für beruflich Qualifizierte formulieren Sie nur halbherzige Ziele und wirkungsarme Maßnahmen. Wir müssen den Weg zum
Campus von Hindernissen befreien, gerade auch für
Menschen ohne Abitur. Was steht in Ihrem Papier? Sie
wollen gerade einmal 1 000 Erwachsenen mit einem beruflichen Ausbildungsabschluss ein Aufstiegsstipendium
zahlen.
({4})
Das ist viel zu kurz gedacht und zu wenig gemacht. Wer
den Aufstieg durch Bildung wirklich ermöglichen will,
muss die Hochschulen endlich strukturell für möglichst
viele öffnen, auch für diejenigen, die nur einen Ausbildungsabschluss erworben haben.
({5})
Strukturell öffnen heißt, dass man ein paar Dinge
mehr machen muss. Wir Grüne fordern das Ende der
Studiengebühren, weil sie Studienberechtigte und natürlich auch beruflich Qualifizierte vom Studium abschrecken. Wir wollen das Meister-BAföG zu einem Erwachsenen-BAföG weiterentwickeln, das den zweiten und
dritten Bildungsweg wirklich öffnet. Wir brauchen klare
und bundeseinheitlich geregelte Zugangswege zum Studium ohne Abitur.
({6})
Eine Übersicht über die verschiedenen Studienvoraussetzungen in den einzelnen Bundesländern - liebe
Kolleginnen und Kollegen, schauen Sie sich das einmal
an - umfasst derzeit mehr als 40 dichtgedruckte Seiten.
Das ist noch weniger Substanz auf noch mehr Seiten als
bei Ihrer Qualifizierungsinitiative. Das ist aber vor allen
Dingen eine Entmutigung für Bildungswillige, die an die
Hochschule kommen wollen. Anstatt das Hochschulrahmengesetz abzuschaffen, was Sie im Kabinett beschlossen haben, und den deutschen Hochschulraum weiter zu
zerfleddern, sollten Sie zusammen mit den Ländern bundeseinheitliche und attraktive Zugangswege in die Hörsäle ebnen. Das ist dringend erforderlich.
({7})
Sie wollen auch den Übergang von der Schule in die
Hochschule erleichtern. Das ist schön. Es ist noch schöner, dass Sie nach anderthalb Jahren endlich unsere Forderung, eine Servicestelle für eine effiziente Studienplatzvergabe einzurichten, aufgreifen. Aber auch die
modernste Servicestelle kann letztlich nur Mangelverwaltung sein, wenn in diesem Land massenhaft Studienplätze fehlen. Eine wirksame Qualifizierungsinitiative
muss in allererster Linie mehr Geld in zusätzliche Studienplätze investieren. Ihr „Hochschulpäktchen“ ist nur
ein erster Schritt. Wir wissen doch alle, dass dieser
Hochschulpakt völlig unterfinanziert ist. Nehmen Sie
endlich mehr Geld in die Hand, sonst stehen noch mehr
junge Menschen vor verschlossenen Hörsaaltüren oder
kommen nicht auf den Campus.
({8})
Natürlich haben Sie auch das freiwillige technische
Jahr in Ihr Sammelsurium aufgenommen. Zur Bekämpfung des Fachkräftemangels trägt ein solches staatlich
alimentiertes Langzeitpraktikum überhaupt nicht bei.
({9})
Anstatt für weitere Warteschleifen zwischen Schule und
Ausbildung 4 Millionen Euro zu verschwenden und dafür das Markenzeichen des Freiwilligenjahres zu missKai Gehring
brauchen, sollten Sie sich endlich wirksam gegen prekäre und unfaire Praktika einsetzen. Auch diesbezüglich
warten wir seit zweieinhalb Jahren auf Initiativen von
Ihnen.
({10})
Ganz am Ende Ihrer Vorlage zu einer Qualifizierungsinitiative findet man eine alte Bekannte aus dem Bereich
Weiterbildung: die Weiterbildungsprämie. Sie wird seit
zweieinhalb Jahren von Ihnen angekündigt. Wir warten
noch immer auf eine Gesetzesinitiative. Wie sieht es mit
der Umsetzung aus? Nach wie vor Fehlanzeige! Sie sollten endlich einmal in die Pötte kommen, Frau Schavan.
({11})
Wenn ich mir die Liste Ihrer unerfüllten Wünsche an
die Länder anschaue, kann ich nur festhalten: Der Bund
hat sich mit der schwarz-roten Föderalismusreform viel
zu sehr aus der Bildungspolitik verabschiedet. Das war
ein großer Fehler. Wir werden die Ganztagsschulen
künftig nicht mehr fördern können. Die Förderung wird
auslaufen. Mit dem Ausbau ist es dann wahrscheinlich
vorbei, wenn die Länder es nicht aufgreifen und forcieren.
Frau Ministerin, Sie müssen beweisen, dass Sie nicht
nur Chefin des größten Ankündigungsressorts sind. Sie
müssen endlich einmal Taten folgen lassen und konkret
zur Umsetzung kommen.
({12})
Das Wort erhält nun die Kollegin Ilse Aigner, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir debattieren heute über die Qualifizierungsinitiative unserer Bundesregierung, erstellt unter
der Federführung unserer Ministerin Schavan zusammen
mit den Ministern Scholz und Glos. Sie ist ein wichtiger
Baustein für die Qualifizierung unserer jungen Menschen, für die Zukunft, für die Weiterbildung in unserem
Land und für die frühkindliche Bildung. Diese breite Palette wurde von der Bundesregierung auf den Weg gebracht. Dafür ein ganz herzliches Dankeschön!
({0})
Ein wichtiger Baustein der Qualifizierungsinitiative
basiert auf unserem gemeinsam entwickelten Antrag
„Junge Menschen fördern - Ausbildung schaffen und
Qualifizierung sichern“. Hier geht es im Wesentlichen
um die berufliche Qualifizierung. Das duale Ausbildungssystem ist eine der tragenden Säulen unseres Bildungssystems, fast ein Alleinstellungsmerkmal; das ist
ein positiver Punkt. Es ist eine wesentliche Voraussetzung für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unseres
Landes und für die Unternehmerinnen und Unternehmer
eine lohnende Investition in die Zukunft ihres Betriebes.
Es sichert den Nachwuchs an qualifizierten Fachkräften,
der auch in der Zukunft so dringend benötigt wird.
({1})
Für uns - natürlich auch für die jungen Menschen
selbst - ist es wichtig, dass jeder junge Mensch eine
Chance auf Ausbildung hat. Dazu muss einerseits das
Angebot an Ausbildungsplätzen stimmen. Andererseits
müssen die Auszubildenden die Möglichkeit und die Fähigkeit haben, eine Berufsausbildung aufzunehmen.
Es wurde schon angesprochen: Natürlich liegt die
Schulausbildung in der Kompetenz der Länder. Deshalb
wird es im Herbst gemeinsam mit den Ländern eine Initiative geben, durch die die Schulabbrecherquote deutlich gesenkt bzw. halbiert werden soll. Auch das
geschieht unter der Federführung unserer Ministerin
Schavan.
({2})
Es wurde hier schon viel gesagt; alle möglichen alten
Forderungen wurden aufgewärmt. Ich will auf eines hinweisen: Es gab vor zwei Jahren 550 000 Ausbildungsplätze. Im aktuellen Ausbildungsjahr gibt es 626 000 Ausbildungsplätze. Das ist ein Plus von 14 Prozent und eine
riesige Leistung der Unternehmerinnen und Unternehmer.
({3})
Das zeigt, dass die wirtschaftliche Entwicklung die Basis für die Schaffung neuer Ausbildungsplätze ist. Deshalb sage ich ein herzliches Dankeschön an unsere Bundeskanzlerin. Unter ihrer Führung ist ein wirtschaftlicher
Aufschwung entstanden, der sich direkt auf den Ausbildungsstellenmarkt auswirkt. Ein herzliches Dankeschön!
({4})
Trotzdem ist durch die schlechte wirtschaftliche
Situation zu Beginn dieses Jahrzehnts leider eine - es ist
nicht anders zu beschreiben - Bugwelle an sogenannten
Altbewerbern entstanden; dies wurde schon angesprochen.
({5})
Die Zahl der Altbewerber lag im Jahr 2006 schon bei
über der Hälfte aller Bewerber, die in diesem Jahr die
Schule beendet hatten, und ist letztendlich so hoch geblieben. Deshalb müssen wir eines der Hauptaugenmerke auf die Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze
für diejenigen richten, die schon länger als zwei Jahre
auf einen Ausbildungsplatz warten und sonstige Vermittlungshindernisse aufweisen. Dies ist ein ganz wichtiger
Punkt.
Ich möchte dem Kollegen Uwe Schummer ganz herzlich dafür danken, dass er bereits 2003 auf diesen Punkt
hingewiesen hat. Ich zitiere aus dem entsprechenden
Protokoll:
Es wäre sinnvoller, diese Gelder in eine direkte Unterstützung von Ausbildungsbetrieben umzulenken.
Lieber Uwe Schummer, ich glaube, das war schon 2003
wegweisend.
Wir haben dies jetzt in der Qualifizierungsinitiative
umgesetzt. Bis zum Jahr 2010 sollen 100 000 neue Ausbildungsplätze für diese Jugendlichen geschaffen werden. Der Hintergrund des Ganzen ist: Es ist für einen
Ausbilder deutlich schwieriger, jemanden mit Ausbildungshemmnissen auszubilden. Er braucht ausbildungsbegleitende Hilfen; diese sind vorgesehen. Er bekommt
auch in finanzieller Hinsicht eine Entlastung, um zusätzliche Ausbildungsplätze zu schaffen. Wir glauben, dass
das Geld hier besser eingesetzt ist, als wenn die Betroffenen an einer Maßnahme nach der anderen teilnehmen;
denn diese haben sie alle schon durchlaufen. Deshalb ist
dieses Vorhaben ein Kernstück der Qualifizierungsinitiative. Ich bedanke mich ganz herzlich, dass diese Regelung umgesetzt wird.
({6})
Eine weitere wichtige Maßnahme, die übrigens schon
eine Rolle spielt - auch das muss man hervorheben -, ist
die Einstiegsqualifizierung. Wir haben dieses Programm mittlerweile auf 40 000 Plätze aufgestockt. Auch
hier zeigt sich: Von den jungen Menschen, die in die Betriebe kommen und ihre Fähigkeiten dort zeigen können
- vielleicht ist es für sie auch wichtig, dass sie von der
Schulbank wegkommen -, erhalten sehr viele, nämlich
60 bis 70 Prozent, anschließend eine Ausbildungsstelle.
Diese hervorragende Maßnahme hat großen Erfolg.
Auch das kann man, wie ich glaube, nicht oft genug sagen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Wirtschaft
braucht künftig noch mehr qualifiziertes Fachpersonal.
Deshalb ist eine Ausbildung eine gute Investition in die
Zukunft. Hierbei geht es um die Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschaft. Wir werden in der nächsten Zeit wahrscheinlich einen Fachkräftemangel zu verzeichnen haben. Deshalb dürfen wir niemanden abschreiben,
sondern müssen uns um jeden kümmern. Das hat sich
die Koalition zum Ziel gesetzt.
({8})
Das Wort hat nun der Kollege Patrick Meinhardt,
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Frau Kollegin Aigner, wir beraten heute nicht
nur die Qualifizierungsinitiative der Bundesregierung,
({0})
sondern wir beraten auch den besonders guten Antrag
der FDP-Fraktion mit dem Titel „Mehr Chancen durch
bessere Bildung und Qualifizierung“.
({1})
Dieser Antrag basiert auf einem gemeinsamen Positionspapier des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks und der FDP-Bundestagsfraktion. Ich glaube, es
ist gut und richtig, dass man, wenn es um die Frage geht,
wie eine gute Ausbildung und eine gute berufliche Bildung in Deutschland funktionieren, dorthin schaut, wo
tatsächlich Erfolge zu verzeichnen sind. Immerhin hat
der Mittelstand in der Bundesrepublik Deutschland, obwohl das Handwerk in zwei Jahren 10 000 Arbeitsplätze
verloren hat, bei der Ausbildung einen Aufwuchs von
10 Prozent hinbekommen. Das zeigt uns, wie verantwortliche Ausbildungspolitik aussehen kann. Dafür
muss man dem Mittelstand in Deutschland dankbar sein.
({2})
In unserem Positionspapier haben wir vor allem auf
drei Bereiche abgehoben:
Der erste Bereich, den ich ansprechen möchte, ist aus
unserer Sicht in dem Konzept der Bundesregierung völlig unzureichend dargestellt. Wir haben kein Problem
damit, die Begriffe „Elite“ und „Leistung“ in den Mund
zu nehmen. Wir brauchen leistungsfördernde Maßnahmen, und wir brauchen auch bei der beruflichen Bildung
eine Hochbegabtenförderung. Warum ruft die Bundesregierung eigentlich keine Exzellenzinitiative „berufliche Bildung“ ins Leben? Dies ist in der Bundesrepublik
Deutschland überfällig.
({3})
Zum Zweiten ist es enorm wichtig, dass wir bei den
Ausbildungsberufen flexibel vorgehen, verstärkt in Modulen denken und mehr zwei- und dreijährige Ausbildungsgänge anbieten. Durch die Flexibilisierung der
Ausbildung können wir dafür sorgen, dass jungen Menschen Alternativen, die sie im Augenblick noch nicht haben, angeboten werden und dass ihnen der Einstieg in
eine Ausbildung ermöglicht wird. Das brauchen wir in
der Bundesrepublik Deutschland.
Wenn wir das umsetzen wollen, dann muss es zum
Dritten zu einer Stärkung der überbetrieblichen Ausbildung kommen. Hier verstehe ich die Bundesregierung
überhaupt nicht. Bei den Mitteln für die Förderung der
Verbundausbildung hatten wir in den letzten sieben Jahren eine Reduzierung von 69 Millionen Euro auf 29 Millionen Euro zu verzeichnen. Gleichzeitig wissen wir,
dass 88 Prozent der Betriebe in der Bundesrepublik
Deutschland, die ein bis neun Beschäftigte haben, im
Moment nicht ausbilden, weil sie häufig keinen vollen
Ausbildungsplatz zur Verfügung stellen können. Wir
müssen in die Förderung der Verbundausbildung investieren, um kleinen und Kleinstbetrieben die Möglichkeit
zu geben, jungen Menschen aufgrund ihrer mittelständischen Erfahrung eine Perspektive zu eröffnen.
({4})
Die sogenannte Nationale Qualifizierungsinitiative,
Herr Kollege Tauss, soll drei Schwerpunkte haben: Altbewerber, Weiterbildung, Schulabbrecherquote. Frau
Ministerin, ich frage mich: Wo ist Ihr Konzept bei der
Schulabbrecherquote? Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie mehr tut, als zu verhandeln, bis am
Schluss irgendetwas herauskommt. Das Papier der Kultusministerkonferenz ist, mit Verlaub gesagt, wieder einmal reine Makulatur, reiner Prosatext. Die Bildungspolitiker verwundert es nicht, dass so etwas bei der KMK
herauskommt; denn wer 60 Jahre für die Festlegung von
Bildungsstandards beim Abitur braucht, der ist nicht auf
der Höhe der Zeit. Solch einen trägen Bürokratiemoloch
kann sich die Bundesrepublik Deutschland schon lange
nicht mehr leisten.
({5})
Er sollte schnell durch eine flotte, schlanke Bildungskonferenz ersetzt werden.
({6})
Zur Weiterbildung der Erzieherinnen und Erzieher. Die 80 000 Erzieherinnen und Erzieher sollen im
Rahmen einer Weiterbildungsoffensive die Möglichkeit
bekommen, ihre berufliche Fortbildung zu intensivieren.
Grundsätzlich ist das ein guter Ansatz. Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, das mit Ihrer Weiterbildungsinitiative zu vergleichen, für die für das Jahr 2008 gerade
einmal 15 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden. Jetzt machen wir eine ganz einfache Rechnung:
Wenn in diesem Zusammenhang für die Zahlung einer
Weiterbildungsprämie für alle Betroffenen in der Bundesrepublik Deutschland nur 15 Millionen Euro zur Verfügung stehen,
({7})
dann kommt, Herr Kollege Tauss, unter dem Strich heraus, dass diese Mittel nur für die Erzieherinnen und Erzieher reichen würden; dann könnte niemand anders von
der Weiterbildungsinitiative profitieren. Einen Antrag
der Bundesregierung, diese Mittel zu erhöhen, gibt es
nicht. Doch ohne eine Erhöhung der Mittel ist die Weiterbildungsinitiative Makulatur.
({8})
Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, ist der
große Bereich der Altbewerber. Als Erstes möchte ich
sagen: Wir von der FDP sind froh, dass es keinen grundsätzlichen, mittelstandsfeindlichen, bürokratiefördernden Ausbildungsbonus geben wird.
({9})
Dies ist ein gutes Signal. Aber schauen wir uns nun Ihre
Altbewerberinitiative an. Wenn man das Zeile für Zeile,
Satz für Satz, Seite für Seite
({10})
- Wort für Wort, Kollege Tauss - durchliest, sieht man:
Da wurde nichts anderes getan, als eins zu eins das Papier des FDP-Wirtschaftsministers von Baden-Württemberg, Ernst Pfister, abzuschreiben.
({11})
Schauen Sie sich das Papier des Wirtschaftsministers
von Baden-Württemberg an, und Sie werden sehen:
({12})
Diese Initiative ist eins zu eins abgeschrieben worden.
Sagen wir einmal, es ist ein gutes Zeichen, dass die Bundesregierung zumindest in diesem Bereich lernfähig ist
und mit liberalen Konzepten aus Baden-Württemberg
versucht, eine Initiative in die Wege zu leiten.
({13})
Nichtsdestoweniger fehlt diesem Konzept bedauerlicherweise eine ganze Reihe von Inhalten. Wir vermissen
bei den Altbewerbern die Förderung durch sozialpädagogische Maßnahmen für all die Jugendlichen, denen
wir helfen müssen, aus der Sackgasse herauszukommen.
Deswegen kann ich für die FDP-Fraktion nur feststellen: Diese Qualifizierungsinitiative ist ohne System,
ohne roten Faden und ohne Ziel. Oder, Herr Kollege
Tauss, um es in Worten Ihres ehemaligen Arbeitsministers Münte zu sagen: Altbewerber können Sie nicht,
Weiterbildung können Sie nicht, Qualifizierungsinitiative können Sie nicht.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort erhält nun der Kollege Willi Brase, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich bin Frau
Aigner dankbar, dass Sie auf den Schummer-Ansatz hingewiesen hat, der jetzt als Scholz-Bonus dafür sorgen
wird, dass 100 000 junge Leute in Deutschland eine Zukunftsperspektive bekommen. Ich glaube, das ist eine
gute Sache.
({0})
Wir von der Koalition wollen vor dem Hintergrund
unseres gemeinsamen Antrages mit der Qualifizierungsinitiative Ausbildung organisieren. Wir wissen, dass wir
trotz guter Zahlen - über 60 000 zusätzliche Ausbildungsplätze - noch weitere brauchen. Wenn das Jahr
2007 komplett abgerechnet wird, wird sich herausstellen, dass noch mehr Ausbildungsplätze geschaffen wurden. Wir werden dem drohenden Facharbeitermangel begegnen und die Jugendarbeitslosigkeit weiter abbauen.
Nicht umsonst wurde der Quali-Kombi mit aufgenommen, der mit dafür sorgt, dass junge Leute unter
25 Jahren, die arbeitslos sind, eine vernünftige Perspektive in unserem Lande erhalten.
({1})
Wir sollten nicht vergessen: Die Bundesregierung hat
auch Vorschläge der Fachleute aufgegriffen. Im Hauptausschuss des Berufsbildungsinstituts ist die Forderung,
zukünftig vor allen Dingen auch bei der Übergangs- und
Nachqualifizierung wesentlich stärker auf die betriebliche Ausbildung und Qualifizierung zu setzen, deutlich
diskutiert und ihre Umsetzung empfohlen worden, weil
dies besser und der richtige Weg ist sowie den jungen
Leuten eine vernünftige Perspektive gibt. Ich glaube,
eine solche Umsetzung ist richtig. Das müssen wir machen.
({2})
Wir als SPD-Fraktion sagen: Der Ausbildungsbonus
ist auch ein Angebot an die Unternehmen, also die Arbeitgeber, sich ein Stück weit ihrer Verantwortung zu
stellen. Dieser Bonus wird durch ausbildungsbegleitende
und sozialpädagogische Hilfen unterstützt und begleitet.
({3})
Wenn die Unternehmen dieses Angebot in den nächsten drei Jahren nicht ausreichend wahrnehmen, dann
müssen sie sich darauf einstellen, dass die Debatte über
die berufliche Bildung in eine andere Richtung geht,
nämlich in Richtung einer schulischen Ausbildung. Dafür sind dann aber nicht die Jugendlichen verantwortlich,
sondern die Unternehmen, die keine Ausbildungsplätze
- auch nicht, wenn sie mit staatlichem Geld unterstützt
werden - zur Verfügung stellen.
({4})
Bildung und Qualifizierung sind für die Zukunft unseres Landes notwendig. Ich vermisse bei der Debatte etwas, was wir bei der Diskussion über PISA schon mehrfach erwähnt haben. Ich will hier die Süddeutsche
Zeitung vom 3. Januar dieses Jahres zitieren - es ging
um eine Studie über Bildungschancen -:
Die Aussicht eines Arbeiterkindes, einen Hochschulabschluss zu erreichen, sei um das Zwölffache
schlechter als die eines Akademikerkindes. Um die
Chancen benachteiligter Kinder zu verbessern,
empfiehlt der Forscher eine gezielte Frühförderung
sowie Ganztagsschulen.
Ich will gar nicht auf das Letzte, sondern auf das Erste
eingehen. Ich erinnere mich an meine Kinderzeit. Damals war es häufig so: Wer einen bestimmten sozialen
Hindergrund, als Kind von Arbeitern, hatte, der ging
- das war klar - nicht auf das Gymnasium, sondern in
die duale Ausbildung, da es hieß: Dort gehört er hin. Solche Zustände dürfen und werden wir in diesem Land
nicht mehr akzeptieren. Das ist eine Verschwendung von
Potenzialen und stellt Menschen in eine Ecke, in die sie
nicht gehören.
({5})
Es wird Aufgabe dieser Koalition sein, auf diesem
Weg voranzugehen, um notwendige und bessere Chancen für Kinder - egal vor welchem Hintergrund - zu ermöglichen.
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, der auf der
europäischen Ebene und auch in der Debatte hier eine
Rolle spielt. Wir werden den deutschen Qualifizierungsrahmen entwickeln. Für die SPD will ich hier deutlich
festhalten: Wir werden das nicht unterstützen, wenn damit darauf abgezielt wird, das duale Prinzip - die im
Wesentlichen drei- und dreieinhalbjährige Ausbildung in ein- und halbjährige zertifizierte Module zu zersplittern, wie es manche von der BDA gefordert haben. Dann
ist das Berufsprinzip tot. Ich kann jeden nur davor warnen, dieses hohe Gut aufs Spiel zu setzen. Wir brauchen
auch zukünftig das duale Prinzip in der beruflichen Ausbildung.
({6})
Ein weiterer Punkt, der uns wichtig ist und der in der
Qualifizierungsinitiative eine Rolle spielt, wird durch
das Stichwort „Weniger ist mehr“ beschrieben. Ich
glaube, es macht Sinn, sich endlich zu überlegen, wie
wir die Vielfalt der Programme vor allen Dingen im
Übergangsbereich ein Stück weit bündeln können. Es
gibt gute Beispiele vor Ort in den Regionen unseres Landes. Lassen Sie uns diese aufgreifen! Wir brauchen nicht
noch fünf, sechs oder sieben Sonderprogramme, sondern
wir müssen sie, wie wir das im Koalitionsantrag beschrieben haben, gemeinsam mit den Ländern bündeln,
und wir müssen die wesentlichen Standards festschreiben, damit die Effektivität größer wird und wir mehr
Geld für mehr Plätze haben. Das hilft den jungen Leuten.
Weniger ist mehr - das ist der richtige Weg.
({7})
Ein letzter Punkt. Das duale Ausbildungssystem in seiner Gesamtheit muss sich in den nächsten Jahren bewähren. Die Ausbildungsbeteiligung der Unternehmen liegt
zwischen 24 und 25 Prozent. Ich glaube, es ist genügend
Potenzial vorhanden. Alle Untersuchungen des Bundesinstituts für Berufsbildung belegen: Sowohl in den alten
wie auch in den neuen Ländern gibt es einen Bereich von
25 bis 28 Prozent der Unternehmen, die fachlich, sachlich
und finanziell in der Lage sind, auszubilden. Es kommt in
den Regionen vor Ort darauf an - Ausbildungsmärkte
sind regionale Märkte -, dafür zu sorgen, dass diese Unternehmen stärker ausbilden. Wir können sie mit dem
Ausbildungsbonus für die vom Arbeitsminister schon beschriebenen Personen wunderbar unterstützen.
Ich sage: Nutzen Sie diese Möglichkeiten! Das ist das
Beste für die berufliche Bildung.
Vielen Dank.
({8})
Ich erteile dem Kollegen Volker Schneider, Fraktion
Die Linke, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Qualifizierungsinitiative ist ausweislich der
Unterrichtung der Bundesregierung auch eine Antwort
auf den drohenden Fachkräftemangel. Mir persönlich ist
bereits seit mindestens zehn Jahren bekannt, dass bedingt durch die Demografie im zweiten Jahrzehnt dieses
Jahrhunderts der Bedarf an Fachkräften in Deutschland
stark ansteigen wird.
In der uns vorliegenden Unterrichtung wird dieser
Trend wie folgt präzisiert:
Bis zum Jahr 2013 werden 330 000 Akademikerinnen und Akademiker im Bereich der gewerblichen
Wirtschaft - davon 70 000 Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler sowie 85 000 Ingenieurinnen und Ingenieure - in den Ruhestand gehen. In
den nächsten Jahren werden in den Naturwissenschaften nach Prognosen mindestens 30 Prozent jedes Absolventenjahrgangs fehlen.
Ähnliche Entwicklungen sind im Übrigen auch auf
der Ebene der Meister, der Techniker und bei einer Reihe
von Facharbeitern zu erwarten.
Wie bereits gesagt, ist dies alles lange bekannt und
daher alles andere als neu. Insoweit ist es mehr als erstaunlich, wie die Wirtschaft sehenden Auges und ohne
frühzeitig vorbeugende Maßnahmen zu ergreifen auf
diesen Fachkräftemangel zugesteuert ist.
({0})
Wer sich nur noch am kurzfristigen Erfolg orientiert, wer
nur von Quartalsbericht zu Quartalsbericht denkt, für
den ist die Qualifikation von Mitarbeitern nur ein Kostenfaktor, der den Gewinn schmälert. Wer so kurzfristig
denkt, ist zu einer langfristigen und nachhaltigen Entwicklung von Unternehmen wahrlich nicht in der Lage.
Das ist kein Qualitätsbeweis für einen zu großen Anteil
der Führungskräfte in unserer Wirtschaft.
Nun soll die Politik es wieder richten. Es ist erstaunlich, was hier nun alles kurzfristig in Bewegung versetzt
werden soll. Jetzt entdecken Sie, worauf wir als Linke
gebetsmühlenartig hingewiesen haben - nämlich, dass
unser Bildungssystem in hohem Maße sozial selektiv
wirkt und dass dies nicht nur eine Beeinträchtigung des
Rechts auf Bildung bedeutet, das sich für uns aus dem
Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung ergibt, sondern
auch eine nicht mehr nachvollziehbare Vergeudung von
Ressourcen.
({1})
Das liest sich bei Ihnen so:
Deshalb müssen alle Potenziale genutzt werden. Es
ist ein Kernelement von Zukunftsvorsorge, allen
jungen Menschen eine Chance auf eine gute Ausbildung zu bieten, Kindern aus bildungsfernen
Schichten verstärkt den Zugang zu höherer Bildung
zu ermöglichen, für Frauen und Männer Bedingungen zu schaffen, unter denen sie die Anforderungen
der eigenen Familie mit einer Ausbildung, einem
Studium oder der Berufsausübung vereinbaren können. Mehr Menschen muss der Aufstieg durch Bildung ermöglicht werden. Wir brauchen Weiterbildungsmöglichkeiten für alle während des gesamten
Lebenslaufs.
Richtig so. Schade ist nur, dass es weniger das Recht
auf Bildung, sondern mehr ökonomische Notwendigkeiten sind, die Sie zu einer derart klaren Positionierung
veranlassen.
Auch hinsichtlich der Frage, worin die Bundesregierung die zentralen Weichenstellungen für die Zukunft
sieht, können wir den von Ihnen genannten zentralen
Punkten nur zustimmen.
Aber wie unterfüttern Sie denn diese hehren Ziele?
Da sehen wir noch erheblichen Diskussionsbedarf. Angesichts der mir zur Verfügung stehenden Zeit kann ich
nur einige Punkte kurz ansprechen.
Sie wollen zukünftig frühkindliche Betreuung mit
Bildung verknüpfen. Richtig und gut so! Dafür brauchen
Sie aber entsprechende Fachkräfte - und die bekommen
Sie nicht mit den Qualifizierungsmaßnahmen, die Sie
hier vorschlagen. Wir brauchen auch in Deutschland
Fachkräfte, die auf akademischem Niveau gebildet sind.
Zusammen mit Österreich hinken wir weit hinter der europäischen Entwicklung hinterher. Das kostet Geld. Dieses Geld in die Hand zu nehmen, sind Sie anscheinend
nicht bereit.
({2})
Das gilt insbesondere auch für das, was Sie als frühe
Sprachförderung vorschlagen. Spätestens hier brauchen wir entsprechend vorgebildete akademische Fachkräfte.
In Bezug auf das, was Sie mit den Bildungshäusern
beabsichtigen, kann ich nur Vermutungen anstellen. Wir
als Linke sind ja auch für gemeinsames Lernen.
({3})
Aber doch bitte nicht gemeinsames Lernen von drei bis
zehn, sondern gemeinsames Lernen von 6 bis 18! Das
wäre die Zielsetzung.
({4})
Außerdem wollen Sie die regionalen Weiterbildungsstrukturen stärken. Das ist auch ein sehr guter Ansatz.
Wunderbar; aber wieder einmal mehr mit Projekten, mit
Modellen, mit Stiftungen! Das führt uns doch nicht weiter. Was wir an dieser Stelle brauchen, sind verbindliche,
Volker Schneider ({5})
klare Strukturen - und die bekommen wir nur über ein
bundesweites Weiterbildungsgesetz.
({6})
Bemerkenswert finde ich, dass Sie in das Papier eine
Weiterbildungsallianz hineinschreiben; denn das ist doch
eine Selbstverständlichkeit. Auch ohne eine solche Forderung müssten Wirtschaft und Politik an dieser Stelle
zusammenarbeiten. Wenn Sie das dann auch noch im
Sinne eines Ausbildungspakts ausgestalten wollen, lässt
mich das als Linken das Übelste befürchten.
Positiv hervorheben kann ich den Ausbau der überbetrieblichen Berufsbildungsstätten zu Kompetenzzentren.
Allerdings merkt man an dieser Stelle wieder einmal,
wie forschungslastig Ihre Bildungspolitik ist.
Gänzlich unangebracht in diesem Papier ist allerdings
Ihr Jubel über die Weiterbildungsaktivitäten der Bundesagentur für Arbeit. Sie bauen jetzt auf, was Sie zuvor demontiert haben. Sie sind jetzt noch nicht einmal
wieder auf dem Stand von 2001. Das ist wahrlich kein
Grund zum Jubeln.
({7})
Das Papier zur Qualifizierungsinitiative ist nicht das
schlechteste; es ist immerhin ein Einstieg in die Diskussion. Jetzt müssten Sie sich noch in den weiteren Beratungen bewegen. Optimistisch bin ich in diesem Punkt
nicht; meine Erfahrungen aus der Vergangenheit zeigen
leider etwas anderes.
Vielen Dank.
({8})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Brigitte Pothmer,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
möchte noch etwas zu dem Ausbildungsbonus sagen.
Die Bundesregierung verspricht, in den nächsten drei
Jahren 100 000 zusätzliche Ausbildungsplätze für Altbewerber zu schaffen. Erreicht werden soll das, indem solche Ausbildungsplätze mit 4 000 bis 6 000 Euro gefördert werden.
Ich zitiere einmal, was die Bundesvereinigung der
Deutschen Arbeitgeberverbände zu diesem Programm
sagt: Dieser Ausbildungsbonus „schadet“ durch „Fehlanreize und Mitnahmeeffekte“ der Ausbildung. Schlechter kann ein Urteil des Nutznießers von vermeintlichen Wohltaten einer Regierung wohl nicht ausfallen.
({0})
- Herr Tauss, ich will das ein bisschen ausführen.
Es hat durchaus Gründe, dass die BDA das sagt. Die
Kriterien für den Ausbildungsbonus sind einfach zu
weit gefasst, was dazu führt, dass mit diesem Bonus
praktisch jeder Altbewerber und jede Altbewerberin,
({1})
sogar die leistungsstarke Realschulabgängerin, gefördert
werden kann.
({2})
Bedingung für die Förderung ist nämlich, dass die Bewerberinnen und Bewerber maximal einen Realschulabschluss haben, dass sie sich in diesem Jahr nicht zum
ersten Mal um einen Ausbildungsplatz bewerben, dass
sie fünf abgelehnte Bewerbungen vorlegen können oder
in irgendeiner Weise einen persönlichen Nachteil haben.
Ich sage Ihnen: Bei diesen Kriterien ist praktisch jede
und jeder der 380 000 Altbewerberinnen und Altbewerber förderungsfähig. Es ist dann nicht allein davon abhängig, dass jemand leistungsschwach und aus diesem
Grund förderungsbedürftig ist.
Ich prognostiziere Ihnen: Dieses Programm wird ungeheure Creamingeffekte hervorrufen; denn es werden
in erster Linie die Leistungsstarken und diejenigen unter
den 380 000 Altbewerberinnen und Altbewerbern davon
profitieren, die aufgrund der Tatsache, dass es zu wenig
Ausbildungsplätze gibt, keinen Ausbildungsplatz haben
und nicht aufgrund der Tatsache, dass sie leistungsschwach und in diesem Sinne förderungsbedürftig sind.
Damit senden Sie auch ein falsches Signal an die Arbeitgeber. Denn was für ein Signal ist das an die Unternehmen, die in den letzten Jahren trotz schwieriger wirtschaftlicher Lage und ohne finanzielle Förderung ihrer
Verantwortung für Ausbildung nachgekommen sind und
jetzt nicht in der Lage sind, zusätzliche Ausbildungsplätze zu schaffen?
({3})
Dieses Programm zeigt den Unternehmen doch: Die
sozial verantwortlich handelnden Unternehmen sind die
Dummen. Die FDP klatscht diesem Programm auch
noch Beifall. Ich finde, Sie sind ordnungspolitisch wirklich auf den Hund gekommen.
({4})
Ich bin nicht gegen Eingliederungshilfen, wenn sie
auf die leistungsschwachen Jugendlichen konzentriert
werden.
({5})
- Herr Tauss, wenn Sie das wollten, dann brauchten Sie
keinen neuen Ausbildungsbonus.
({6})
Erstens gibt es bereits eine ganze Reihe von ausbildungsunterstützenden Maßnahmen in den Ländern, die
durch Ihr Programm überflüssig würden. Auch das ist
eine Form von Mitnahmeeffekten.
({7})
Zweitens gab es bisher die Möglichkeit, unter dem Titel „Sonstige Maßnahmen“ im Rahmen des SGB II Ausbildungsplätze zu fördern. Aber die rigide Auslegung
des Bundesarbeitsministeriums hat dazu geführt, dass
diese gezielten Maßnahmen nicht mehr möglich sind.
Sie streichen diese sehr gezielten, konzentrierten Unterstützungsmaßnahmen. Aber gleichzeitig schaffen Sie ein
Programm, mit dem Sie im Grunde das Geld mit der
Gießkanne ausschütten, statt es für gezielte Förderung
einzusetzen. Das müssen Sie den Menschen erst einmal
erklären.
Lassen Sie mich den Unterschied deutlich machen. Der
Unterschied besteht darin, dass die gezielten einzelfallbezogenen Bonuszahlungen tatsächlich den benachteiligten Jugendlichen geholfen haben. Der breit angelegte
Ausbildungsbonus dagegen hilft der Bundesregierung.
Das lässt sich zwar besser verkaufen. Aber das kann
doch nicht Sinn der Sache sein.
({8})
Alle Erfahrungen zeigen, dass ein Betrieb nur dann
einen Auszubildenden oder eine Auszubildende einstellt,
wenn er diese Person für geeignet hält. Sie glauben doch
nicht allen Ernstes, dass eine Person, die ein Betrieb für
ungeeignet hält, eingestellt wird, nur weil er eine Einmalzahlung von 4 000 oder 6 000 Euro bekommt. Er
stellt eine Person nur dann ein, wenn er sie für geeignet
hält, und dann nimmt er das Geld auch mit. Solche Mitnahmeeffekte können wir nicht wollen.
Insofern ist es nicht richtig, bei den Betrieben anzusetzen, wenn Sie etwas für die Benachteiligten tun wollen. Dann müssen Sie vielmehr bei den Benachteiligten
selber ansetzen und die ausbildungsbegleitenden Hilfen
deutlich verbessern. Aber dazu finden sich in Ihrem Programm leider nur sehr vage Aussagen.
({9})
Frau Kollegin Pothmer, Sie müssen leider zum Ende
kommen.
Ich komme gleich zum Schluss.
Sofort.
Dann müssen Sie vor allen Dingen das Ausbildungsmanagement für die kleineren Betriebe verbessern. Gerade denen, die nicht viel Erfahrung mit Ausbildung haben, müssen Sie bei den bürokratischen Hürden helfen.
Mit diesem Programm werden Sie nicht in der Lage
sein, den Berg der Altbewerber abzubauen. Wenn Sie so
weitermachen, dann wird dieser Berg zu einer Wanderdüne. Dann können Sie Ihr Versprechen als Gipfelkreuz
obendrauf nageln.
Ich danke Ihnen.
({0})
Michael Kretschmer erhält nun das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Pothmer, Ihrem Ansehen und dem Ihrer Partei hätten Sie mehr gedient, wenn Sie in der Sache etwas vernünftiger und seriöser argumentiert hätten.
({0})
Was wir mit dieser Qualifizierungsinitiative umsetzen, ist in der Tat ein breit angelegtes Programm von
Einzelmaßnahmen für Menschen, die diesbezüglich
Schwierigkeiten haben, nämlich die knapp 400 000 Altbewerber. Das Programm ist mit denen abgestimmt, die
seit langem in diesem Bereich arbeiten. Deswegen wird
es auch tatsächlich Wirkung zeigen.
Es ist nicht nur das Recht, sondern auch die Aufgabe
der Opposition, etwas zuzuspitzen und auf vermeintliche
Fehler hinzuweisen.
({1})
Aber man sollte dabei so vorgehen, Herr Kollege Barth,
dass diejenigen, die uns Sorgen machen, weil sie
Schwierigkeiten und Probleme haben, und denen wir
Hilfsangebote machen - die sie auch annehmen wollen -,
nicht den Mut verlieren und die Kraft finden, diese
Hilfsangebote anzunehmen. Aber die Art und Weise, wie
hier und an anderer Stelle die Diskussion geführt wird
- auch von der FDP -, ist in vielen Fällen nicht dazu geeignet, sondern nimmt den Menschen den Mut.
({2})
Ziel unserer Politik muss sein, solche Rahmenbedingungen zu schaffen, dass tatsächlich jeder Jugendliche in
Deutschland einen Ausbildungsplatz, einen Studienplatz
oder zumindest die Möglichkeit einer weiterführenden
Ausbildung bekommt. Unsere Möglichkeiten im Bundestag dazu sind vielfältig. Wir haben zuerst die Aufgabe, das wirtschaftliche Umfeld zu organisieren. Wir
sehen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Ausbildung
ist eine Investition in die Zukunft der Jugendlichen, aber
auch der Unternehmen. Jetzt, wo die Zeiten besser sind,
wo die Wirtschaft wieder wächst, steigt auch die Zahl
der Ausbildungsplätze, und zwar im Vergleich zum Vorjahr um ungefähr 10 Prozent bzw. um über 50 000. Das
ist eine gewaltige Leistung. Ich danke der Bundesregierung und der Koalition, dass sie durch eine kluge Politik
dies ermöglicht haben.
({3})
Damit komme ich zur Qualifizierungsinitiative. Wir
schaffen Hilfsangebote für diejenigen, die ausgebildet
werden wollen, aber auch für diejenigen, die ausbilden.
Hierzu ist eine ganze Reihe von Maßnahmen aufgezählt
worden. Darauf will ich im Einzelnen nicht mehr eingehen, wohl aber auf die Kritik. Sie haben die Kriterien genannt und damit aus meiner Sicht deutlich gemacht, dass
es sich um ein Programm handelt, das zielgerichtet auf
diejenigen wirkt, die es schwer haben. Wer seit mehreren
Jahren einen Ausbildungsplatz sucht, ist dringend darauf
angewiesen, weitergebildet zu werden, eine Lösung zu
bekommen. Daher ist es richtig, dass wir hier zusätzlich
Geld in die Hand nehmen, obwohl es eigentlich die Aufgabe der Unternehmen ist. Natürlich können solche
Maßnahmen nur eine Ausnahme sein. Es kann nicht
richtig sein, dass der Staat im Bereich der dualen Ausbildung den Unternehmen die Ausbildung in nennenswertem Umfang finanziert.
Wir sind in diesem Bereich auf einem guten Weg.
Aber wir haben noch eine ganze Reihe von Problemen
zu lösen. Das Wesentliche ist, dass wir diejenigen, die
die Schule abschließen, in die Lage versetzen, sich den
richtigen Beruf auszusuchen. Hier habe ich in der Tat
große Sorgen. Wenn ich mit den jungen Leuten an den
Schulen in meinem Wahlkreis spreche, merke ich immer
wieder, dass sie nicht wissen, welche Berufe es gibt und
was sich hinter den verschiedenen Berufen verbirgt.
Deswegen ist ein wichtiger Baustein der Qualifizierungsinitiative, junge Leute schon in ihrer Schulzeit in
die Unternehmen zu bringen, sodass sie einen Eindruck
von der Firma und vor allen Dingen von den Berufen bekommen. Ich halte das für einen wichtigen Punkt.
({4})
- Herr Kollege Tauss, wir haben uns ja gemeinsam darum bemüht.
In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass der Bund nicht für alles zuständig ist. Im Wesentlichen ist Bildungspolitik Länderpolitik.
({5})
Die Erfolge in den Bundesländern sind sehr unterschiedlich, wenn es um Schulabbrecher und Berufsorientierung
geht. Ich glaube, dass wir in Sachsen besser sind als
manches andere Bundesland. Wir wollen uns unsere Erfolge nicht kaputtreden lassen.
({6})
Wir kommen auch nicht weiter, wenn wir versuchen, einen Durchschnitt in Deutschland zu bilden. Vielmehr ist
es wichtig, das eine oder andere zu übernehmen - ein
gutes Beispiel ist Baden-Württemberg ({7})
und es anderen vorzuschlagen; das ist gar kein Problem.
Wir sollten die besten Beispiele aufgreifen und für eine
entsprechende Umsetzung sorgen.
({8})
Die Stimmung in diesem Land hat sich verbessert.
Das merken wir überall, Gott sei Dank auch auf dem
Ausbildungsmarkt. Das ist ein gutes Zeichen für die jungen Leute. Wir hoffen, dass es so weitergeht.
Vielen Dank.
({9})
Der Kollege Dieter Grasedieck ist der nächste Redner
für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Unsere Bundesregierung geht wahrlich mutige Schritte und bietet den Jugendlichen - auch
den benachteiligten Jugendlichen - und den Studenten
Hilfen an. Zusätzliche Ausbildungsplätze, Frau Pothmer,
werden angeboten. Die Jugend braucht eine Chance, sie
braucht mehr Unterstützung, Hoffnung und Perspektive.
Genau dies greifen wir als Koalition und als Bundesregierung auf. Die Herausforderung unseres Jahrhunderts, die Ausbildung einerseits und das lebenslange
Lernen andererseits, wird hier in den entscheidenden
Schritten angegangen.
Das Wissen ändert sich täglich. Genau deshalb brauchen wir eine breite Unterstützung. Neue Patente, neue
Berichte aus den einzelnen wissenschaftlichen Fachbereichen kommen täglich hinzu. Flugzeuge werden per
Satellit gelenkt. Das war in den letzten Jahren ein entscheidender Fortschritt. Wer hätte davon vor zehn Jahren
geträumt? Die Stärke und die Geschwindigkeit der Taifune können durch Satellitenbeobachtung vorherberechnet werden. Auch das ist ein entscheidender Fortschritt.
Die Welt wird komplexer und komplizierter. Wenn
Sie die Fertigung etwa im Schweißbereich der Automobilindustrie von vor zehn Jahren und von heute vergleichen, dann erkennen Sie, dass die Schweißqualität
und die Fertigungsgeschwindigkeit besser geworden
sind. Hier werden hochqualifizierte Industriemechaniker
eingesetzt. Heute arbeiten hochqualifizierte Zerspanungsmechaniker an CNC-Maschinen: Die Arbeit unserer Facharbeiter ist theoretischer, komplexer und komplizierter geworden. Weil wir in Zukunft noch mehr
hochqualifizierte Facharbeiter benötigen, haben wir dieses Programm aufgelegt.
({0})
Wir brauchen mehr Qualifizierung in den verschiedensten Bereichen. Wir brauchen mehr Ausbildungsplätze in Deutschland, weil wir in der Zukunft Exportweltmeister bleiben wollen. Dazu wird jeder Jugendliche
gebraucht. Das muss die Botschaft dieses Antrags und
dieser Initiative der Bundesregierung sein.
({1})
Auf diesem Gebiet, meine sehr verehrten Damen und
Herren, arbeiten wir erfolgreich auch gegen Jugendkriminalität. Da ist die Bundesregierung ganz sicherlich erfolgreich. Sie geht mutige Schritte; das muss ich schon
sagen, wenn ich mir die konkreten Maßnahmen unseres
Ministers Scholz einmal ansehe. Es gibt 100 000 zusätzliche Ausbildungsplätze für Altbewerber - das ist erwähnt worden -, 200 zusätzliche Berufsberater werden
eingestellt. Auch das ist wichtig.
({2})
Wir machen uns über das neue Patensystem Gedanken. Berufsbegleiter sind hier eingesetzt worden. In meinem Wahlkreis führe ich mit 14 Paten in Schulen ein Patensystem durch. Dort erfolgt eine Berufsbegleitung
durch Experten, unter denen Elektriker genauso wie Ingenieure, Maschinenbauer und Betriebswirte vertreten
sind. Wir überlegen uns gemeinsam, welcher Beruf für
den Schüler richtig ist. Dies wird mit den Jugendlichen
diskutiert, und es werden Bewerbungen geschrieben und
Bewerbungsgespräche vorbereitet. Das ist wirklich Integrationsarbeit, meine Damen und Herren.
({3})
Deutschland braucht in der Zukunft kreative und innovative Fachkräfte. Schon heute werden von der Industrie 50 000 Diplomingenieure gesucht; 85 000 werden es
bis 2013 sein, wie vorhin in der Debatte schon erwähnt
worden ist. Erforderlich ist eine kontinuierliche Verbesserung ihrer Qualifikation; denn auf der anderen Seite
sind noch 20 000 Ingenieure arbeitslos, weil bei ihnen
bestimmte Kenntnisse nicht vorhanden sind. Dies zeigt,
dass hier noch etwas aufgearbeitet werden muss. Auch
dies ist im Antrag festgelegt worden; wir brauchen in der
nächsten Zeit eine kontinuierliche Weiterbildung.
({4})
Die Wissensexplosion, meine Damen und Herren, erfordert lebenslanges Lernen und mehr Ausbildungsplätze für junge Menschen. Eine schleichende Dequalifizierung bei älteren Fachkräften muss verhindert werden.
Nur so können wir unseren Wissensvorsprung erhalten
und die Wettbewerbsfähigkeit weiter verbessern. Hier
sind die Bundesregierung und die Koalition auf dem
richtigen Wege.
({5})
Ich erteile dem Kollegen Uwe Schummer, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Es
wäre undenkbar, dass die arabischen Länder ihre Ölvorräte im Wüstensand versickern lassen oder die Südafrikaner ihre Goldnuggets in den Flussläufen belassen. Das
Potenzial, das wir in unserer Volkswirtschaft haben, besteht aus kreativen, motivierten und qualifizierten Menschen. Es ist gut, dass der Antrag „Junge Menschen fördern - Ausbildung schaffen und Qualifizierung sichern“
und auch die Qualifizierungsinitiative mit dem alten,
ewigen Kreislauf Schluss machen, nämlich: verheerende
Ausbildungsplatzlücken Mitte des Jahres, in den Monaten Juni, Juli, August, dann der Reflex der einen Seite,
die eine Strafsteuer für diejenigen fordert, die nicht ausbilden, und die Forderung der anderen Seite, die Ausbildungsvergütungen zu reduzieren, und am Ende dann
eine Klinkenputzaktion, um Ausbildungsplätze zu mobilisieren. Nein, wir als Union und SPD haben überlegt,
was wir jenseits der Reflexe und ohne Ideologie als
Große Koalition entwickeln können, damit die Menschen konkret, praktisch und zeitnah eine Chance für
eine Berufsausbildung bekommen. Diese Initiative ist
das Ergebnis gemeinsamer Überlegungen.
({0})
Im Zweijahresvergleich - das ist Markenzeichen der
Merkel-Regierung - sank die Zahl der Arbeitslosen um
1,2 Millionen. Die Zahl der Erwerbstätigen liegt bei
etwa 40 Millionen. Zeitverzögert folgt nun auch der
Ausbildungsmarkt. Mit 626 000 Ausbildungsverträgen
haben wir einen der höchsten Stände in der letzten Zeit.
Wir hatten bereits im letzten Ausbildungsjahr eine Steigerung der Zahl der Ausbildungsplätze um 4,8 Prozent,
in diesem Ausbildungsjahr haben wir eine weitere Steigerung um 8,6 Prozent. Die Zahl der Arbeitslosen bis
25 Jahre sank im gleichen Zeitraum von 524 000 auf
341 000, also um 35 Prozent. Auch das ist eine wichtige
Botschaft für junge Menschen. Sie haben wieder verstärkt eine berufliche Perspektive.
So etwas geht nur im Zusammenwirken von Politik,
Wirtschaft und den Sozialpartnern. In Deutschland investieren die Unternehmen 30 Milliarden Euro jährlich
für die berufliche Qualifizierung. Jedes andere Land
wäre dankbar, wenn eine solche Mitfinanzierung durch
die Wirtschaft stattfinden würde. Auch dies ist ein Prä
der starken dualen Ausbildung in unserem Lande.
({1})
Über 60 Prozent der Schulabgänger entscheiden sich für
einen der 341 Ausbildungsberufe. Es sind 1,5 Millionen
junge Menschen, die von 492 000 Betrieben qualifiziert
werden. Das ist nicht nur Wirtschaftskultur, das ist auch
Ausbildungskultur in Deutschland.
Der Ausbildungspakt ist ein Erfolgsmodell, auch
weil er von der Großen Koalition im letzten Jahr zeitlich
verlängert und qualitativ verbessert worden ist. Es war
wichtig, dass der drittstärkste Ausbilder, der Bundesverband der Freien Berufe, in den Ausbildungspakt eingetreten ist. Es ist ein Fehler - das sage ich als IG-Metaller -,
dass sich die Gewerkschaften immer noch nicht am Ausbildungspakt beteiligen.
({2})
Gewerkschaften gehören nicht in die Meckerecke; Gewerkschaften gehören an den Verhandlungstisch und
sonst nirgendwohin.
({3})
- Kehlkopf ersetzt noch keinen Nachdenkkopf. Welche
politischen Pappnasen Sie sind, haben Sie am Mittwochnachmittag sinnbildlich hier im Plenum gezeigt.
({4})
Jeder zweite Ausbildungsvertrag ist mit einem Menschen abgeschlossen worden, der vor mehr als zwölf
Monaten aus der Schule entlassen wurde. Wir müssen
deshalb neben den Schulabgängern auch die sogenannten Altbewerber mit im Blick behalten. Ein wichtiges
Kind des Ausbildungspaktes sind die Einstiegspraktika, die eine Weitervermittlungsquote von 74,7 Prozent
zu verzeichnen haben, davon 65,5 Prozent in eine klassische berufliche Ausbildung. Das zeigt den hohen Wert
dieser EQJ-Programme, der Einstiegspraktika. Wenn
diese jetzt mit Bausteinen der Ausbildung kombiniert
werden, dann bedeutet dies - kammerzertifiziert -, dass
diese Zeit auch verstärkt bei der Nachvermittlung anerkannt wird und den jungen Menschen nicht mehr Lebenszeit verloren geht. Diese kann vielmehr effizient genutzt werden.
Der Qualifizierungskombilohn für langzeitarbeitslose Jugendliche aus der Werkstatt des Arbeitsministers
Karl-Josef Laumann ist ein weiteres wichtiges Instrument, um den 341 000 verbliebenen jungen Langzeitarbeitslosen eine Perspektive zu geben. Es wirkt unterschwellig und kann eine Brücke in eine spätere berufliche
Ausbildung sein.
15 Prozent der Schulabgänger werden von den Kammern als nicht ausbildungsfähig bewertet. Ich kann nur
sagen: Auch da muss man vorsichtig sein. Ich habe erlebt, dass sogenannte nicht ausbildungsfähige junge
Menschen ihren Führerschein gemacht haben. Tausend
Fragen, Tausend Antworten - sie lesen motiviert und engagiert die Bücher und bestehen eine hochkomplexe
theoretische Fahrprüfung. Sie sehen nämlich das Auto
vor der Tür und denken: Es lohnt sich. Ich habe ein Ziel;
ich möchte die Führerscheinprüfung bestehen. - Auch
dies ist eine Frage der Motivation. Es geht darum, ob
man sich um Menschen kümmert, ob man sie frühzeitig
auf die richtige Schiene setzt und ob man sie begleitet,
bis sie eine vernünftige Ausbildung durchlaufen haben.
({5})
Wir wollen die Abbrecherquote von 20 Prozent senken, und zwar unter anderem dadurch, dass - finanziert
durch ein von Annette Schavan initiiertes 15-Millionen-Euro-Programm - zwei Jahre vor der Entlassung ein
Schnupperkursus in einer überbetrieblichen Ausbildungswerkstatt besucht werden kann. Wo sind denn unter einem Dach Holzwerkstatt, Metallwerkstatt, Hauswirtschaft, Verwaltung und auch Gartenbau, sodass man
in 14 Tagen alle Berufsbereiche kennenlernen kann?
Wenn man diesen Kursus absolviert hat, kann man ein
Profiling für die nächsten zwei Jahre erstellen und klären, welche weiteren Betriebspraktika bis zum Ausbildungsabschluss für eine zielgerichtete Berufsorientierung und Berufsberatung sinnvoll sind. Ein Patenmodell
soll diese jungen Menschen begleiten und unterstützen.
Das heißt, nicht wenige Wochen, sondern zwei Jahre vor
der Entlassung müssen zielgerichtete Angebote entwickelt werden. Dieses Vorhaben wird systematisch umgesetzt.
Ich möchte abschließend sagen: Die Wirtschaft kritisiert, dass aufgrund der mangelnden Ausbildung Aufträge in Höhe von 20 Milliarden Euro verloren gehen.
Die 341 000 langzeitarbeitslosen Jugendlichen kosten
uns etwa 8 Milliarden Euro an nicht gezahlten Steuern
und Beiträgen und an notwendigen Leistungsausgaben.
Das Teuerste ist Arbeitslosigkeit, und wir steuern dagegen.
({6})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Jörg Tauss, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Lieber Kollege Barth - Sie telefonieren gerade -, ich
weiß gar nicht, was Sie gegen Wissensbeschleunigung
haben. Das ist doch eigentlich ein schöner Begriff, der
auch dieses Programm ziert.
({0})
Es ist übrigens kein neuer Begriff. Er stammt aus der
Makroökonomie und den Sozialwissenschaften. Da können wir Ihr Wissen noch ein wenig beschleunigen; das
ist nicht das Problem.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken,
selbstverständlich ist Bildung ein Wert an sich; das ist
überhaupt keine Frage. Allerdings müssen wir dem drohenden Fachkräftemangel entgegenwirken. Außerdem
müssen wir die Bildungspolitik in den Mittelpunkt der
Integrationspolitik stellen. Das sind die zentralen Herausforderungen, die wir bewältigen müssen. Mit dieser
Qualifizierungsinitiative haben diese Bundesregierung
und die Große Koalition richtige Antworten gegeben.
({1})
Der Versuch, beide Ziele - Bekämpfung des Fachkräftemangels und Förderung der Integration - zu erreichen,
ist die Grundlage dessen, was wir hier tun.
Natürlich sind damit auch Risiken verbunden; das ist
völlig klar. Wir sind bei einem großen Teil dessen, was
wir umsetzen müssen, auf die Länder angewiesen. Deswegen bin ich nicht beglückt, dass die Bundesratsbank
ausgerechnet während dieser Debatte sehr leer ist.
({2})
Wir hoffen, dass dies kein Zeichen dafür ist, dass sich
die Länder nicht im entsprechenden Maße an dem, was
wir hier anbieten, beteiligen. Ich glaube - auch da können wir optimistisch sein -, sie werden es tun; denn auch
die Länder wissen, dass wir uns einen bildungspolitischen Stillstand bis zum Bildungsgipfel im Herbst nicht
leisten können. Dieses Jahr, also 2008, muss ein weiteres
Jahr des Aufbruchs sein.
({3})
Man kann zu dieser Großen Koalition sagen, was man
will. Frau Schavan und ich konnten uns in vielen bildungspolitischen Fragen nie so richtig leiden. Wir haben
uns aber zu Beginn dieser Koalition zusammengesetzt,
um die Frage zu klären, was wir gemeinsam erreichen
wollen: Wir wollen gemeinsam, dass diese Große Koalition am Ende ihrer Amtszeit dafür steht, dass Deutschland im Bereich „Bildung, Wissenschaft und Forschung“
vorangebracht worden ist. Das ist unser gemeinsames
Ziel, an dessen Erreichung wir trotz vieler unterschiedlicher Auffassungen in der Sache arbeiten.
({4})
Liebe Frau Kollegin Pothmer - Sie haben mich
menschlich richtig enttäuscht -, ich weise Ihre Kritik am
Ausbildungsbonus ganz entschieden zurück. Entschuldigung! Joschka Fischer würde sich politisch sozusagen
im Grabe umdrehen. Ihr wart mal eine Partei der Sozialbewegungen. Lesen Sie das einmal nach: Der Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit begrüßt das aktuelle
Vorhaben, für jugendliche Altbewerber einen Ausbildungsbonus zu schaffen. Unterschrieben haben das Deutsche Rote Kreuz, die Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelische Jugend, die Bundesarbeitsgemeinschaft der
regionalen Ausbildungsträger, der Paritätische Wohlfahrtsverband, der Internationale Bund für Sozialarbeit,
die Katholische Jugendsozialarbeit usw. Und die Grünen
zitieren die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände! Ich bin ja völlig fertig, liebe Kolleginnen
und Kollegen! Das kostet einen richtig Nerven.
({5})
Herr Kollege Tauss, wir wollen nicht hoffen, dass Sie
völlig fertig sind, zumal Sie noch fünf Minuten Redezeit
haben.
Fünf Minuten und 49 Sekunden, Herr Präsident.
Das wäre wirklich ein Jammer, zumal Ihnen die Kollegin Pothmer durch eine Zwischenfrage zu zusätzlicher
Redezeit verhelfen möchte.
Kollegin Pothmer nimmt diese Kritik zurück; das
finde ich prima.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Tauss, ich möchte einen Versuch unternehmen, die persönliche Enttäuschung, die ich Ihnen zugefügt habe, etwas abzumildern.
Menschliche!
({0})
Diese menschliche Enttäuschung. - In dem Positionspapier, das Sie gerade zitiert haben, wird ausdrücklich
kritisiert, dass das im SGB II vorgesehene Instrument
- nämlich weitere Leistungen -, mit dem gezielt benachteiligte Jugendliche gefördert werden können, jetzt von
der Bundesregierung unmöglich gemacht wird. In diesem Positionspapier wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass neben dem Ausbildungsplatzbonus insbesondere an den persönlichen Nachteilen der Jugendlichen
angesetzt werden muss.
({0})
Ich möchte deutlich machen, wie hoch Mitnahmeeffekte sein können. Die Einstiegsqualifizierungen sind
hier mehrfach lobend erwähnt worden.
({1})
Ist Ihnen bekannt, Herr Tauss, dass bei diesen Einstiegsqualifizierungen, die hier so hochgehalten werden und
die ausdrücklich auf Schulabbrecherinnen und Schulabbrecher gerichtet werden sollten, mehr als 50 Prozent der
Personen mindestens einen Realabschulabschluss oder
einen höheren Abschluss haben? So viel zu den zielgerichteten Maßnahmen dieser Bundesregierung. Nichts,
aber auch nichts deutet darauf hin, dass das beim Ausbildungsbonus besser sein wird.
({2})
Liebe Kollegin Pothmer, jetzt bin ich menschlich ein
bisschen beruhigt, weil ich merke, dass es Ihnen nicht
um die Verlautbarung eines Verbandes aus der Wirtschaft geht, sondern um die Sache. Dazu kann ich Ihnen
sagen: Damit rennen Sie offene Türen ein; denn genau
über diesen Bereich, was die Frage des Anwendungsbereichs von § 16 und anderes anbelangt, haben wir in der
Vergangenheit vielleicht zu wenig diskutiert. Das wollen
wir nun ändern. Genau das steht übrigens in dem Schreiben; es liegt mir vor.
({0})
In dem Schreiben heißt es:
Um dies … zu gewährleisten, bedarf es dringend
realitäts- und bedarfsorientierter Alternativen zur
bisherigen Ausschreibungspraxis …
({1})
Darüber haben wir mit der Bundesagentur bereits vielfach geredet. Wir haben nicht nur geredet, sondern auch
verbessert. - Ferner heißt es darin: Wir brauchen Aussagen zur Absicherung der Förderinstrumente in der Benachteiligtenförderung. - Auch dies ist in dem Programm vorgesehen.
Weil Sie auf die Realschülerinnen und Realschüler
abgehoben haben: Ich habe die Situation bei der Schaffung eines Ausbildungsplatzes erlebt. In meinem Büro
hat sich eine junge Frau als Auszubildende beworben.
Sie hat einen ganz ordentlichen Realschulabschluss,
hatte aber trotzdem über mehrere Jahre hinweg keinen
Ausbildungsplatz bekommen. Sie war immer zweite Siegerin. Sie war gar nicht schlecht, aber ihr wurde keine
Chance gegeben. - Von daher ist es natürlich richtig,
dass wir uns auch um Realschülerinnen und Realschüler
kümmern.
Klar ist dabei: Die Priorität muss natürlich bei denen
liegen, die keinen Schulabschluss oder sonstige Defizite
haben. Aber man kann doch die einen nicht gegen die
anderen ausspielen. Man muss für alle etwas tun, die in
den letzten Jahren nicht die Chance hatten, einen Ausbildungsplatz zu bekommen.
({2})
Wir werden im Arbeitsausschuss miteinander vorankommen. Der Minister ist der Letzte, der dem im Wege
steht.
({3})
Wir haben eine Diskussion geführt. Die Kollegin
Aigner war gar nicht zufrieden, als die SPD vom ScholzBonus geredet hat. Sie hat gesagt, das sollten wir nicht
tun. Das mache ich jetzt auch nicht,
({4})
auch wenn ich es nicht schlecht finde, dass man Namen
mit Politik verbindet; Riester-Rente und wie auch immer.
({5})
Aber in der Tat - auch das ist heute schon angeklungen -:
Es gibt viele Beteiligte. Wir könnten vom Schummer/
Brase-Bonus reden.
({6})
Wir könnten vom Müntefering-Bonus reden. Wie gesagt,
Scholz-Bonus gefällt mir ganz gut.
({7})
Wenn dieser Begriff, egal mit welchem Namen er versehen wird, dafür steht, dass für die Jugendlichen etwas
getan wurde und Hunderttausende Jugendliche, die bisher keine Chance hatten, aus der Statistik der Altbewerber fallen und sich in betrieblichen Maßnahmen wiederfinden, dann wäre das ein großer Erfolg. Dass wir daran
beteiligt sind, erfüllt uns natürlich mit großem Stolz.
({8})
Wir wollen das Instrument der Ausbildungspaten,
Frau Kollegin Pothmer, in den Mittelpunkt stellen. Hier
gibt es eine ganze Reihe von Ansätzen. In diesem Zusammenhang möchte ich auch noch einmal auf die von
Ihnen zitierten Arbeitgeberfreunde zurückkommen. Die
Vertreter der Arbeitgeber in der Bundesagentur für Arbeit haben gemeinsam mit den Gewerkschaften ausdrücklich gefordert, dass wir Beitragsmittel in die Hand
nehmen, um einen Bonus zu schaffen und damit etwas
für die Altbewerber zu tun. Das Gemäkel aus Teilen der
Wirtschaft kann ich also nicht ganz nachvollziehen.
Aber wir werden mit allen ruhig darüber diskutieren
und, wie ich glaube, diesem Projekt zum Erfolg verhelfen. Wir sind allerdings in der Tat darauf angewiesen,
dass die Betriebe mitmachen. Aus diesem Grunde wollen wir über alle Bedenken, die in diesem Zusammenhang geäußert werden, sachlich diskutieren.
Kolleginnen und Kollegen, über die 80 000 Erzieherinnen und Erzieher ist gesprochen worden. Was da geschieht, ist doch eine prima Geschichte. Ich bitte, hier
insbesondere eines zu sehen: Wir wollen dafür sorgen,
dass ein Internetauftritt eingerichtet wird, über den Erzieherinnen und Erziehern E-Learning-Angebote unterbreitet werden sollen. Ich weiß gar nicht, was es daran
wieder auszusetzen gibt.
({9})
Dass dies nicht ausreicht, dass parallel dazu die Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher verbessert werden
muss, ist natürlich eine Tatsache, die jeder von uns
kennt; darüber mäkelt im Grunde genommen auch keiner. Im Übrigen hat die Ministerin - auch das steht im
Programm - gesagt, dass geprüft werden soll, das
Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz für Sozialberufe
und damit auch für Erzieherinnen und Erzieher zu öffnen. Das finde ich prima. Die Ministerin hat gestern sogar angekündigt, dass sie das konkret in 2008 tun wolle.
Da hat sie uns auf ihrer Seite. Die entsprechende Kritik,
liebe Kolleginnen und Kollegen, geht also ein Stück weit
ins Leere.
Wir müssen noch einen weiteren Aspekt, den ich
schon kurz angedeutet habe, ansprechen, nämlich die
Integration junger Menschen, insbesondere solcher
mit Migrationshintergrund. Eines müssen wir sehen
- das steht in dem Bericht auch schwarz auf weiß drin -:
Jugendliche mit Migrationshintergrund, also Kinder von
Eltern, die aus dem Ausland zu uns gekommen sind, haben bei gleicher Leistung nur eine halb so große Chance,
eine qualifizierte Berufsausbildung aufzunehmen, wie
deutschstämmige Jugendliche. Eine halb so große
Chance! Das ist ein gesellschaftlicher Skandal; denn so
werden Bildungschancen ungerecht verteilt.
({10})
Herr Kauder - leider sehe ich ihn gerade nicht -, wir
könnten die aktuelle Diskussion über den Populismus
von Koch in Hessen ein bisschen herunterholen und damit auch einen Konfliktpunkt in unserer Koalition bereinigen, wenn einmal anerkannt würde, dass statt Wegsperren, Abschieben und Vergessen die Sicherung echter
Chancengleichheit in der beruflichen Bildung insgesamt
ein wichtiger Beitrag gegen Gewalt in diesem Lande
wäre.
({11})
Auch dies ist ein wichtiger Punkt, den wir mit unserer
Initiative erreichen wollen. Das finde ich gut; denn für
mich ist das beste Erziehungscamp nicht besser als ein
guter Ausbildungsplatz. Gute Ausbildungsplätze ersetzen im Zweifel keine Erziehungsmaßnahmen,
({12})
aber wir brauchen möglichst viele davon, um Chancengleichheit herzustellen und damit auch Jugendkriminalität einzudämmen. All dies hängt nämlich logisch zusammen.
({13})
Im Übrigen ist es ja nicht nur eine soziale Tat, wenn
man Auszubildende einstellt. Ich habe vorhin von meiner Auszubildenden geredet. Ich habe in dieser Woche
auch wieder einen jungen Menschen eingestellt. Es
macht doch Spaß, mit jungen Leuten zusammenzuarbeiten, die an der Schwelle zum Eintritt in das Berufsleben
sind, die neugierig und intelligent sind. Es geht doch
nicht nur um die Sicherung des Fachkräftebedarfs, es
geht im besten Sinne des Wortes auch um Zukunftssicherung. Auch Leute meiner Generation, die mit diesen jungen Leuten zusammenarbeiten, können etwas lernen und Spaß daran haben. Ausbildung stellt also nicht
nur eine Belastung dar. Sie macht natürlich Arbeit und
fordert einen heraus. Man sollte den Ausbildungsbetrieben sagen: Liebe Leute, macht etwas für die Auszubildenden! - Ich habe den Eindruck - das hat auch der Ausbildungspakt gezeigt -, dass sich diese Erkenntnis in den
letzten Jahren in der Wirtschaft immer mehr durchgesetzt hat.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, einen Punkt
möchte ich noch gerne ansprechen: Die Bundeskanzlerin, die ja heute Morgen hier freundlicherweise anwesend war und damit gezeigt hat, wie wichtig sie selbst
dieses Thema nimmt, wird zu einem Bildungsgipfel einladen. Ich begrüße dies ausdrücklich. Ich sage das mit einem kleinen ironischen Nebenhieb, weil es noch gar
nicht so lange her ist, dass Frau Merkel im Rahmen der
Föderalismusdebatte sagte: Wenn der Tauss Schulpolitik
machen will, soll er doch in den Landtag gehen. - Ich
bin nicht in den Landtag gegangen und fühle mich hier
unverändert sehr wohl. Dass ich immer noch über Schulund Bildungspolitik reden kann und dass die Bundeskanzlerin zu einem Bildungsgipfel einlädt, das zeigt
doch, wie weit wir im Laufe der Debatte gekommen
sind. Ich begrüße diese Entwicklung sehr.
({14})
Die Erfolgsgeschichte der Initiative für kleine Forscherinnen und Forscher ist schon angesprochen worden. Ich bedanke mich sehr bei den Wirtschaftseinrichtungen und vor allem bei der Helmholtz-Gemeinschaft,
die diese Initiative auf den Weg gebracht hat, um bei
Kindern sowie deren Erzieherinnen und Erziehern ihr Interesse an den Naturwissenschaften frühzeitig zu wecken. Das ist prima.
({15})
Last, but not least. Was die Opposition heute vorgetragen hat, war allenfalls Gemäkel. Die Große Koalition
kann auf dem Bildungssektor Impulse geben. Wir haben
dies mit dem Hochschulpakt und der BAföG-Novelle
getan. Wir setzen dies fort mit der Qualifizierungsinitiative zur Stärkung des Ausbildungsbereiches insgesamt.
Wir wollen das Meister-BAföG ausweiten. Das alles
verbessert die Chancengleichheit in unserem Bildungssystem, erzeugt Qualifizierungsperspektiven und sichert
die Zukunft in unserem Lande.
Ich bin daher durchaus zufrieden. Wenn es dann auch
noch schnell geht und es keine Blockaden von Länderseite oder anderer Seite gibt, dann hat die Große Koalition an dieser Stelle wirklich etwas bewirkt. Darauf können wir gemeinsam stolz sein.
Danke schön.
({16})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung auf Drucksache 16/7754. Der Ausschuss
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die
Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD auf der Drucksache 16/5730 mit dem Titel „Junge
Menschen fördern - Ausbildung schaffen und Qualifi-
zierung sichern“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der
Stimme? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/5732 mit
dem Titel „Perspektiven schaffen - Angebot und Struk-
tur der beruflichen Bildung verbessern“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Damit ist auch diese Beschlussemp-
fehlung mehrheitlich angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 21 b und zum
Zusatzpunkt 8. Hier wird interfraktionell die Überweisung
der Vorlagen auf den Drucksachen 16/7750 und 16/7733
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 h
auf:
22 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zum Stand der
Bemühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung
und Nichtverbreitung sowie über die Entwick14468
Präsident Dr. Norbert Lammert
lung der Streitkräftepotenziale ({0})
- Drucksache 16/5211 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({2}) zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Paul Schäfer ({3}), Monika Knoche,
Hüseyin-Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zum Stand der
Bemühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung
und Nichtverbreitung sowie über die Entwicklung der Streitkräftepotenziale ({4})
- Drucksachen 16/1483, 16/2999, 16/4594 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Harald Leibrecht
Dr. Norman Paech
Jürgen Trittin
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Norman Paech, Alexander Ulrich, Paul
Schäfer ({6}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Abzug der Atomwaffen aus Deutschland
- Drucksachen 16/448, 16/4593 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Harald Leibrecht
Dr. Norman Paech
Jürgen Trittin
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({7}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Winfried Nachtwei, Jürgen Trittin, Marieluise
Beck ({8}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Abrüstung der taktischen Atomwaffen voran-
treiben - US-Atomwaffen aus Deutschland
und Europa vollständig abziehen
- Drucksachen 16/819, 16/4592 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Harald Leibrecht
Dr. Norman Paech
Jürgen Trittin
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({9}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen
Trittin, Winfried Nachtwei, Volker Beck ({10}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Nuklearen Dammbruch verhindern - Indien
an das Regime zur nuklearen Abrüstung, Rüs-
tungskontrolle und Nichtweiterverbreitung
heranführen
- Drucksachen 16/834, 16/4591 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Eckart von Klaeden
Harald Leibrecht
Dr. Norman Paech
Jürgen Trittin
f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({11}) zu dem Antrag der Abgeordneten Paul
Schäfer ({12}), Dr. Norman Paech, Monika
Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Keine Unterstützung für die indische Atom-
rüstung
- Drucksachen 16/1445, 16/4590 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Dr. Werner Hoyer
Dr. Norman Paech
Jürgen Trittin
g) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({13}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Winfried Nachtwei, Alexander Bonde, Volker
Beck ({14}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zivilbevölkerung wirksamer schützen - Streu-
munition ächten
- Drucksachen 16/2749, 16/4589 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Harald Leibrecht
Wolfgang Gehrcke
Jürgen Trittin
h) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({15}) zu dem Antrag der Abgeordneten Paul
Präsident Dr. Norbert Lammert
Schäfer ({16}), Monika Knoche, Hüseyin-Kenan
Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Keine neuen Raketen in Europa - stattdessen
Stärkung der globalen Sicherheit durch Rüstungskontrolle und Abrüstung
- Drucksachen 16/5456, 16/7516 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Dr. Werner Hoyer
Wolfgang Gehrcke
Jürgen Trittin
Zum Jahresabrüstungsbericht 2006 der Bundesregierung liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der
FDP und der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll auch
diese Aussprache eineinhalb Stunden dauern. - Dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Dr. Rolf Mützenich für die SPDFraktion.
({17})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Abrüstung
und Rüstungskontrolle sind lediglich Instrumente. Wenn
sie aber angewandt werden, können sie die Zusammenarbeit und das friedliche Zusammenleben stärken. Deswegen ist der politische Wille die Voraussetzung für Abrüstung und Rüstungskontrolle. Leider hat es in den
vergangenen Jahren an diesem politischen Willen gemangelt. Ich bin daher der Bundesregierung dankbar,
dass sie mit all ihren Kräften versucht, dafür einzutreten,
dass Abrüstung und Rüstungskontrolle vorangebracht
werden. Politische Initiativen sind notwendig. Diese haben wir unternommen.
({0})
Auf der anderen Seite müssen wir natürlich feststellen, dass wir in einer Krise sind; das ist gar keine Frage.
Denn an diesem politischen Willen hat es immer wieder
gemangelt. Wir sind konfrontiert mit dem Aussetzen,
mit der Missachtung und auch mit der Kündigung von
Verträgen. Wir haben bei verschiedenen Gelegenheiten
schon darüber diskutiert. Gleichzeitig sind wir mit einer
großen Aufrüstung konfrontiert. Allein im vergangenen
Jahr betrugen die entsprechenden Ausgaben 900 Milliarden Euro. Daran hatten die USA einen Anteil von
42 Prozent.
Dennoch ist es gut, darauf hinzuweisen, dass - wie
ich gerade erwähnt habe - schon Initiativen unternommen worden sind. Ich möchte an erster Stelle daran erinnern, dass der Bundesaußenminister seit mehreren
Monaten versucht, zum Beispiel zum internationalen
Brennstoffkreislauf Vorschläge vorzulegen und sie mit
den Partnern abzustimmen. Das hat viel mit dem Iran,
aber auch mit der Diskriminierung innerhalb der internationalen Gemeinschaft zu tun; Stichwort: Atomwaffensperrvertrag. Ich danke dem Außenminister für diese Initiativen.
({1})
Der eine oder andere in diesem Saal würde das vielleicht
als Alleingang bezeichnen. Ich aber bin froh, dass dort
ein Außenminister arbeitet, der mit Mut, Kreativität und
Beharrlichkeit über den Tellerrand hinausschaut und die
Dinge voranbringt. Vielen Dank!
({2})
Ich glaube, wir sollten uns auch vergegenwärtigen,
dass wir versuchen, Initiativen wie die globale Partnerschaft mit Russland voranzubringen. Im Abkommen von
Dayton zum Beispiel haben wir die Abrüstung und die
Rüstungskontrolle verankert. Das war wichtig, damit das
Instrument der Abrüstung und Rüstungskontrolle genutzt werden kann.
Ich will an eine andere Erfahrung anknüpfen. Vergegenwärtigen wir uns einmal, wie Libyen und Nordkorea
auf den Weg der Abrüstung gebracht worden sind: durch
Dialog, durch Verhandlungen und durch Gespräche.
Eine Voraussetzung war unabdingbar: Man musste die
Regime, die politischen Akteure anerkennen. Ich glaube,
das sind wichtige Hinweise, wenn man versucht, gegenüber dem Iran die richtigen Maßnahmen zu ergreifen.
Das Atomwaffenprogramm, das in der jetzigen Gestalt
möglicherweise verdächtig ist, ist natürlich abzulehnen.
Gleichzeitig ist aber auf Dialog, Kooperation und Angebote zu setzen. Nordkorea und Libyen haben den richtigen Weg gewiesen.
({3})
Ich würde mich freuen, wenn die Bundesregierung
und die hier vertretenen Parteien es mit den Vertreterinnen und Vertretern im amerikanischen Kongress schaffen würden bzw. wenn die Bundeskanzlerin es mit der
neuen Präsidentin oder dem neuen Präsidenten schaffen
würde, die Rüstungsbegrenzungskultur, die für die
transatlantische Gemeinschaft immer gegolten hat, wiederzubeleben. Das gehört genauso dazu wie andere Initiativen. Deshalb bin ich dankbar, dass der deutsche
Außenminister zusammen mit dem norwegischen
Außenminister in der NATO versucht, die Abrüstungsinitiative voranzutreiben. Auch das ist ein gutes Signal,
das von dieser Regierungsbank ausgeht.
({4})
Wer sich für Abrüstung und Rüstungskontrolle einsetzt, darf dies nicht für die Innenpolitik missbrauchen.
Der eine oder andere Antrag, der heute hier vorliegt,
beschäftigt sich eigentlich nur unter dem Aspekt der Innenpolitik mit diesem Thema. Ich glaube, deswegen
übersieht der eine oder andere, dass zum Beispiel in
Ramstein keine Atomwaffen mehr lagern. Er übersieht,
dass Sozialdemokraten wie Peter Struck dafür eingetreten sind, dass in der NATO über die besondere Situation
in Deutschland diskutiert wird. Ich fordere die Bundesregierung auf, dafür genauso einzutreten. Ich denke, das
ist der richtige Weg. Wir müssen aber auch sagen: Es
geht nicht nur um die wenigen Atomwaffen, die in
Deutschland lagern, sondern um die taktischen Kernwaffen insgesamt. Sie müssen einer Nulllösung zugeführt
werden, genauso wie damals die Mittelstreckenraketen.
Das wäre die richtige politische Antwort.
({5})
Gleichzeitig möchte ich darauf hinweisen, dass wir
hin und wieder widersprüchliche Hinweise geben. Die
EU-Strategie gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen ist wichtig gewesen. Sie hat natürlich etwas
mit der Invasion im Irak zu tun, mit der Diskussion, die
die USA damals provoziert haben. Die Verbreitung von
Kernwaffen ist aber nur die eine Seite der Medaille. Die
andere Seite der Medaille ist, dass die Kernwaffenmächte weiter qualitativ aufrüsten und sich gleichzeitig
nicht an vorhandene Verträge halten. Auch das muss
man ansprechen.
({6})
Ich glaube, wir müssen die Kernwaffenstaaten von hier
aus auffordern, zu verhandeln, ihre Rüstungen zu begrenzen und abzurüsten. Das wäre die richtige Antwort.
({7})
Ich möchte versuchen, an dieser Stelle auf einen
zweiten Widerspruch in Europa aufmerksam zu machen.
Ich sehe mit Verwunderung, dass der französische Präsident bei seinen Besuchen im Nahen Osten immer wieder händeringend versucht, Atomkraftwerke anzubieten.
Das ist sein gutes Recht; das spreche ich ihm nicht ab.
Ich wäre aber dankbar, wenn er bei diesen doch etwas
aufdringlichen Verkaufstouren versuchen würde, auf das
Proliferationsrisiko hinzuweisen.
({8})
Deswegen wäre es gut, wenn die Bundeskanzlerin, wenn
sie diese Risiken auch sieht, mit dem französischen Präsidenten darüber spräche. Eine gemeinsame europäische
Initiative an dieser Stelle wäre notwendig.
Zum Schluss möchte ich auf die Frage der Raketenabwehr aufmerksam machen. Gott sei Dank hat die
neue Regierung in Polen Gelassenheit gegenüber diesem
Thema an den Tag gelegt und versucht, alle Beteiligten
in diesen Prozess einzubinden. Ich glaube, die Bundesregierung tut gut daran, die polnische Regierung dabei zu
unterstützen. Denn wir brauchen Vertrauensbildung. Dafür sind Abrüstung und Rüstungskontrolle notwendig.
Dafür ist auch der Dialog mit allen Partnern in diesem
Verhältnis wichtig. Ich denke, da sind wir auf einem guten Weg.
Vielen Dank.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Werner Hoyer,
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dies ist der Jahresabrüstungsbericht. Wenn man ihn liest
und mit den Berichten der letzten Jahre vergleicht, muss
man sagen: Das sind eigentlich Kapitulationsurkunden
der Völkergemeinschaft gegenüber dem, was abrüstungspolitisch erforderlich wäre.
({0})
Das sind Dokumentationen des Stillstandes. Wenn wir
im nächsten Jahr über den Jahresabrüstungsbericht 2007
reden, dann wird - das können wir jetzt, Anfang 2008,
schon sagen - darin das Gleiche stehen wie in dem Bericht für das Jahr 2006, über den wir heute debattieren.
Seien wir ehrlich: Die letzten zehn Jahre waren für
die Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik weitgehend
verlorene Jahre. Weder in den sieben Jahren rot-grüner
Koalition noch in den bisher zwei Jahren der Großen
Koalition hatte die Abrüstungs- und Nonproliferationspolitik Konjunktur. Ich freue mich, dass jetzt Signale,
dass sich das ändern wird, zu sehen sind.
Es ist ein Fanal und für uns Europäer und übrigens
auch für die jüngere Generation von Außen- und Sicherheitspolitikern fast beschämend, dass es die Altmeister
der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik sind
- es handelt sich um William Perry, Henry Kissinger,
Sam Nunn und andere -, die uns jetzt darauf aufmerksam machen, dass wir hier einen riesigen Rückstand haben. Der Weckruf in The Wall Street Journal dieser Woche ist alarmierend. Ich zitiere:
Wir stehen in der Frage der Verbreitung nuklearer
Waffen und Technologien heute an einem entscheidenden Punkt. Wir sehen uns konfrontiert mit der
ganz realen Möglichkeit, dass die Verbreitung dieser tödlichsten Waffen nicht mehr kontrollierbar ist.
Und die Maßnahmen, die dem international entgegengesetzt werden, sind eindeutig unzureichend.
Es ist spannend und ermutigend, dass diese Debatte
gerade in den Vereinigten Staaten geführt wird. Wir sollten uns da nicht wegducken. Denn es sind ja - Herr
Mützenich hat zu Recht darauf hingewiesen - gerade die
offiziellen Atommächte, gerade auch die, die permanent
im Weltsicherheitsrat sitzen, die sich an der Glaubwürdigkeit der globalen Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik versündigen. Natürlich ist es richtig, darauf hinzuweisen, dass Länder wie der Iran den Nachweis führen
müssen, weder im Haupt- noch im Nebenzweck zivile
Atomprogramme militärisch zu missbrauchen. Das ist
völlig richtig und notwendig. Aber wie viel glaubwürdiger wären wir - gerade wir im Westen -, wenn sich die
großen Atommächte nicht nur um die Abwehr der Ambitionen neuer Nuklearmächte kümmern würden, sondern
wenn sie Geist und Buchstaben der gültigen Rüstungskontrollabkommen auch tatsächlich gerecht werden würden?
({1})
Was ist mit Deutschland? Deutschland hat ohne Wenn
und Aber auf den Besitz von und die Verfügung über
Atomwaffen verzichtet. Ich denke, das wird niemand ändern wollen. Das ist ein Kapital für unsere Außen- und
Sicherheitspolitik. Aber warum verkaufen wir das nicht
offensiver? Warum ergreifen Sie, Herr Minister
Steinmeier, nicht gemeinsam mit anderen nichtnuklearen
Staaten - starken Industrie- und Schwellenländern - die
Initiative, um gegenüber den Ländern der Dritten Welt
und anderen Schwellenländern deutlich zu machen: Es
gibt eine gute Perspektive in der Globalisierung, ohne
Atommacht zu sein.
Noch in den 90er-Jahren hat eine Reihe von Staaten
auf den Besitz von Atomwaffen verzichtet. Gegenwärtig entwickelt es sich in die andere Richtung. Die internationalen Vertragswerke, die eigentlich die unkontrollierte Verbreitung verhindern sollten, scheinen zu
erodieren. Es ist also höchste Zeit, dass etwas geschieht.
Ich freue mich, dass die Bundesregierung jetzt offenbar
aktiver werden will.
Die Münchener Sicherheitskonferenz könnte eine
sehr gute Gelegenheit sein, auch von den Nuklearmächten einschließlich der engsten Verbündeten eine entschlossene Abrüstungspolitik einzufordern. Herr Minister, nutzen Sie diese Chance. Nutzen Sie endlich Ihre
Möglichkeiten, Abrüstung und Rüstungskontrolle am
Ratstisch in Brüssel wieder zu einem Thema zu machen,
({2})
zum Beispiel im Hinblick auf die Raketenabwehr und
die nukleare Roadshow, die der französische Staatspräsident in Nordafrika und an anderer Stelle unternimmt.
Nutzen Sie dieses Thema auch bei Ihren ernsthaften Versuchen, die Ratifizierung des angepassten Vertrages über
konventionelle Streitkräfte in Europa doch noch voranzubringen. Ich glaube, dass wir uns hier in eine gewisse
Sackgasse begeben haben, aus der wir heraus müssen.
({3})
Meine Damen und Herren, an Papieren fehlt es nicht,
auch nicht in Ihrer Partei, Herr Minister; der Kollege
Mützenich ist dafür ein sehr gutes Beispiel. Der Lackmustest für die Glaubwürdigkeit der Abrüstungspolitik
der Bundesregierung wird aber demnächst anstehen,
wenn es um den amerikanisch-indischen Nukleardeal
geht. Dass dieser amerikanisch-indische Nukleardeal
ausgerechnet von Deutschland und unter deutschem Vorsitz abgesegnet werden könnte, ist eine abenteuerliche
Vorstellung.
({4})
Wenn das so läuft, dann gibt es bei der nuklearen Proliferation kein Halten mehr. Die Logik, die einige veranlasst, zu sagen, wenn wir diesem Deal zustimmen, dann
können wir die Inder vielleicht Schritt für Schritt an die
großen Abrüstungs- und Rüstungskontrollabkommen
heranführen, erweist sich als eine schiere Illusion, wovon sich auch die Bundeskanzlerin bei ihrem Besuch in
Indien überzeugen konnte. Diese Auffassung wird nämlich von der Mehrheit im indischen Parlament nicht geteilt. Gerade weil eine Mehrheit im indischen Parlament
diesen Deal nur mittragen will, wenn ein solcher abrüstungspolitischer und vermeintlich souveränitätsmindernder Nebeneffekt ausgeschlossen wird, überwiegen, wie
Sie, Herr Mützenich, zu Recht gesagt haben, die Nachteile und die Risiken bei weitem.
Deshalb wird Deutschlands Haltung zu diesem indisch-amerikanischen Abkommen der Lackmustest dafür sein, was wir von Ihren guten Worten über eine neue
Abrüstungspolitik für bare Münze nehmen können. Ich
wünsche Ihnen und uns allen, dass Sie diesen Lackmustest bestehen.
({5})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Dr. Hoyer, es ist tatsächlich eine
erfreuliche Entwicklung, dass ein Orchideenthema der
90er-Jahre, das uns nach dem Ende des Kalten Krieges,
aber auch noch um die Jahrtausendwende herum beschäftigt hat, nun in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit gerückt ist.
({0})
Das zeigt letztlich aber auch die ganze Dramatik. Dass
wir dieses Thema heute nicht zum ersten Mal in der
Kernzeit behandeln, ist genau der Fingerzeig, dessen es
bedarf. Inhaltlich müssen wir aber mit Sicherheit noch
weiter fortschreiten. Die Stichworte Nordkorea und Iran
sind schon gefallen, und auch die Ereignisse, die wir insbesondere im letzten Jahr in Russland beobachten mussten, wurden bereits erwähnt.
Herr Hoyer, Ihr genereller Eindruck von den Abrüstungsberichten der letzten Jahre, dass im Grunde eine
gewisse Stagnation festzustellen ist, ist nicht falsch. Das
ändert aber nichts daran - das will ich an dieser Stelle
deutlich machen -, dass wir gleichzeitig - wir wollen
nämlich niemandem den Mut nehmen - Ihren beiden
Häusern, meine Herren Minister, eine erstklassige Arbeit
zu attestieren haben, was die Erstellung dieser Berichte
und die notwendigen Signale anbelangt, die aus Ihren
Häusern kommen; gelegentlich darf man in diesen Tagen
ja auch einmal loben. Unser Dank gilt den Damen und
Herren, die sich auf dem Gebiet der Abrüstung engagieren. Das ist kein leichtes Brot.
({1})
Die Entwicklung im rüstungskontrollpolitischen und
im abrüstungspolitischen Bereich wird in meinen Augen
von zwei wesentlichen Bewegungen bestimmt: von der
Wiederbelebung alter Konfliktmuster, die wir eigentlich schon an den Rand gedrängt sahen, und davon, dass
neue Bedrohungslagen entstehen, die in Teilen der Welt
zu einer Modernisierung gewisser Waffenarsenale führen. Diese neuen Bedrohungslagen haben unter anderem
dazu geführt, dass die Staaten in ihrer Gesamtheit, vor
allem aber die neuen, aufstrebenden Großmächte, nicht
bereit sind - zumindest in großen Teilen nicht bereit sind -,
auf die Erhaltung und den Aufbau ihrer Waffenarsenale
in dem Maße zu verzichten, wie wir alle in diesem
Hause uns das wohl wünschen würden. Selbstverständlich wäre eine massenvernichtungswaffenfreie Welt
eine bessere Welt; darüber brauchen wir nicht zu sprechen. Aber wir haben die Realität zu sehen. Eine international optimierte Rüstungskontrolle ist in meinen
Augen zielgerichteter, als sich in utopische Schwärmerei
zu begeben, romantischen Träumereien nachzuhängen
und immer die Maximalforderung in den Raum zu stellen, ohne dabei die Schritte im Blick zu behalten, die gemacht werden müssen, um letztlich zu einem Ergebnis
zu kommen. Denn wir müssen ergebnisorientiert arbeiten.
({2})
- Die Schwärmerei gilt nicht für die Fachleute, die wir
hier haben; aber sie gilt für gewisse Bewegungen, die die
Maximalforderung immer wieder gerne aufgreifen.
Es gab in den letzten Jahren bei aller Ernüchterung,
Herr Hoyer, einige kleinere Fortschritte zu verzeichnen,
gerade im Bereich der Rüstungskontrolle. So gingen einige Initiativen von europäischem Boden aus. Ein Punkt,
der in diesem Kontext gerne unterschätzt wird: Viele
Initiativen sind aus den Bürgergesellschaften Europas,
aus der Zivilgesellschaft heraus entstanden. Viele Initiativen haben sich im Bereich von Nichtregierungsorganisationen entwickelt. Engagierte Bürger haben
Problemlagen aufgegriffen und zum Beispiel den rüstungskontrollpolitischen Aspekt mit menschenrechtlichen
Grundgedanken zu koppeln gesucht. Gerade in unserem
Lande gibt es hier einige Initiativen, die hervorzuheben
sind. Ich will beispielhaft die Hamburger Erklärung nennen, deren Zielsetzung sich insbesondere auf den Schutz
der Städte richtet, gekoppelt mit dem Anspruch, die Wirkungen von Streubomben zu vermeiden. Solche Initiativen können durchaus Impulse setzen; das sollten wir
nicht aus dem Blick verlieren. Es ist wichtig, dass wir so
engagierte Menschen in unserem Lande haben. Dies sei
nur beispielhaft hierfür genannt.
({3})
Trotz dieser Einflüsse dürfen wir eines nicht vergessen: Die Hauptakteure in diesem - ich setze das in Anführungszeichen - Spiel, und das ist fast ein zynischer
Ansatz, werden die Staaten bleiben. Die Nationalstaaten werden sich als Teil des internationalen Systems von
ihrer Aufgabe der Friedenssicherung nicht entbinden
lassen können, gerade mit Blick darauf, dass andere Initiativen entstehen. Aufgrund dieser Erkenntnis müssen
wir weiterhin den Schulterschluss mit denen, die wir als
Partner begreifen, suchen und uns mit unseren Partnern
über die Differenzen, die wir in gewissen Punkten haben, offen und klar austauschen. Wir müssen dabei weiterhin die Europäische Union und insbesondere die
NATO als gewachsene Plattform für rüstungskontrollpolitische Aktivitäten betrachten und sie stärken; dies erscheint notwendig.
({4})
Auch in der Zukunft wird es entscheidend sein, mit
dem Anspruch der Einigkeit mit unseren Partnern multilaterale Initiativen zu lancieren und durch internationale Regime globale Ordnungsmechanismen zu schaffen. Ich sage aber noch einmal: Die gebotenen
Abrüstungsschritte sind an den sicherheitspolitischen
Realitäten zu messen und nicht an dem, was wir uns
möglicherweise letztlich wünschen würden.
Auch die internationale Rüstungskontrolle kommt
nicht ohne Streit- und Konfliktlinien aus, und diese Konflikte müssen ausgetragen werden. Aber wir müssen
auch sehen, dass nicht alle Mitglieder der Staatenfamilie
- das gilt auch für enge Partner und solche, die wir uns
als enge Partner wünschen - immer von den gleichen
hehren Motiven getragen sind, auch wenn sie genau
diese Motive in den Vordergrund stellen. So kommt es,
dass rüstungspolitische Abkommen von manchen Staaten bewusst mit sachfremden Erwägungen verknüpft und
als Druckmittel eingesetzt werden, leider teilweise mit
Erfolg. Das ist aber ein Ansinnen, dem wir mit Entschiedenheit entgegenzutreten haben, gerade dort, wo enge
Partnerschaften, möglicherweise sogar strategische Partnerschaften, bestehen oder gewünscht sind.
Ich möchte hier beispielhaft die einseitige Aussetzung des KSE-Vertrages durch Russland im vergangenen Dezember nennen. Was hier geschehen ist, halte
ich für eine traurige Entwicklung, die nicht zielführend
ist. Wir müssen in diesem gesamten Kontext durchaus
auch die innere und außenpolitische Neuausrichtung
Russlands im Blick behalten und dort kritisch sein, wo
Kritik angebracht ist. Ich glaube, in diesem Punkt müssen wir kritisch sein.
Auch hier kann man immer wieder heraushören, dass
es auch innerhalb Russlands Kräfte geben kann - an Abrüstung interessierte, in erster Linie zivilgesellschaftliche Kräfte -, die es zu fördern gilt. Diese tun sich aber
schwer, hier durchzudringen und bei diesem Punkt innerhalb ihres eigenen Landes Erfolge zu erlangen.
Wir dürfen uns zudem keinem vordergründigen Kalkül
beugen, den KSE-Vertrag und möglicherweise auch andere abrüstungspolitische Regime zur Erreichung anderer
Ziele instrumentalisieren zu lassen. In unseren Augen
bleibt der Kreml weiterhin aufgefordert, seinen internationalen Verpflichtungen uneingeschränkt nachzukommen. Das umfasst die vollumfängliche Erfüllung der
Istanbul-Commitments. Das ist ein Schritt, den wir weiterhin einzufordern haben.
Es wird auch nicht zu Unrecht daran erinnert - auch
in diesem Hause -, dass irgendwann einmal die Möglichkeit einer Ratifizierung gegeben sein könnte. Das ist
richtig. Dies kann allerdings erst geschehen, wenn Russland im Gegenzug gleichzeitig seinen Verpflichtungen
zum völligen Abzug aus Moldau und Georgien nachkommt. Die Istanbul-Commitments zählen für uns weiterhin und sollten auch eingefordert werden. Das bleibt
richtig und wichtig.
({5})
Wir dürfen auch darauf hinweisen, dass von unseren russischen Partnern hinsichtlich INF und START I, das im
Jahre 2009 einer Neubestimmung bedarf, ebenfalls kooperative Schritte angebracht wären.
Es bedarf in diesem Kontext aber auch des Hinweises
von unserer Seite, dass wir insgesamt mit einer starken
und glaubwürdigen westlichen Stimme zu sprechen haben. Mit diesem Anspruch haben auch unsere Partner
und Freunde in den USA immer wieder zu kämpfen. Wir
dürfen das hier offen ansprechen und den Hinweis geben, dass wir uns an dem einen oder anderen Punkt noch
mehr Entgegenkommen und manchmal auch mehr Vorbildwirkung wünschen, um weitere Schritte einzuleiten.
Es ist richtig, dass es hier auch den einen oder anderen erfreulichen Schritt gab, zumal im vergangenen Jahr.
Das hat in den Verhandlungen über INF und in einigen
Initiativen, die mit Blick auf START I langsam und sehr
schüchtern beginnen, seinen Niederschlag gefunden.
Wir dürfen aber den Hinweis wagen, dass es gerade im
Bereich der Rüstungskontrolle und der Abrüstung einige
Jahre gab, in denen die Vereinigten Staaten gelegentlich
einen unseligen Pfad des Unilateralismus gegangen sind.
Von daher nehmen wir eher erfreut zur Kenntnis, dass
der Weg wieder hin zu multilateralen Ansätzen führt, sodass hier letztlich mit Ergebnissen gearbeitet werden
kann.
Die Vereinigten Staaten stehen eben in besonderer
Verpflichtung, den Bestimmungen des Nichtverbreitungsvertrages noch engagierter als bisher nachzukommen. Sie haben eine besondere Vorbildwirkung. Ich habe
das bereits benannt. Diesen Ansatz dürfen wir von unserer Seite aus in aller Freundschaft immer wieder kundtun.
In diesem Kontext ist auch noch einmal der Abzug
von Atomwaffen aus Deutschland zu sehen. Das
kommt in dieser Debatte immer wieder. Ich glaube, auch
hier müssen wir realitätsnah handeln und agieren. Wir
haben immer wieder darin übereingestimmt, dass uns die
Zielsetzung eint, wir aber hinsichtlich der notwendigen
Schritte möglicherweise differieren. Ich glaube, dass wir
uns hier immer wieder deutlich machen müssen, welche
tatsächlichen Einflusssphären und Einflusspotenziale
wir haben, um genau diese Schrittabfolge zu erreichen,
die es zwar schon gibt, die aber in meinen Augen noch
weitergehen könnte.
({6})
- Ich gucke nicht nur die SPD an, sondern auch Sie, Herr
Nachtwei. Es war auch Ihr Außenminister, der im Jahre
2005 gemeinsam mit dem Bundeskanzler Schröder die
Zielsetzung der nuklearen Teilhabe nicht infrage gestellt hat. Ich kann dabei also beide angucken.
({7})
Das gilt tatsächlich für alle - auch hinsichtlich der
Verantwortung, die daraus erwächst.
({8})
Das größte und virulenteste Thema in diesem Jahr
bleibt der Iran. Dies wurde bereits angesprochen. Auf
diesem Feld werden wir mehr Kreativität brauchen als
das bisher Gegebene. Es bleibt richtig und wichtig, unter
dem Dach der Vereinten Nationen gemeinsam eine Lösung herbeizuführen. Deswegen halten wir auch eine
dritte Sanktionsrunde weiterhin für erforderlich, Herr
Bundesaußenminister. Wir werden aber auch alles ausschöpfen müssen, was uns an intellektuellen Impulsen
gegeben ist, um weiterhin einem doch durchschaubaren
taktischen Spiel des Irans zu begegnen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Der
„National Intelligence Estimate“ der Geheimdienste der
Vereinigten Staaten hat eine gewisse Entwarnung gegeben, was mögliche Reaktionen anbelangt. Eine Entwarnung in Bezug auf das iranische Nuklearprogramm gibt
es in meinen Augen nicht.
Herzlichen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Paul Schäfer für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Kollege, Sie haben heute Geburtstag. Ich gratuliere Ihnen herzlich und wünsche Ihnen alles Gute.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wer die Abrüstungsberichte
Paul Schäfer ({0})
seit längerem verfolgt hat, kann sich des Eindrucks nicht
erwehren, das alles schon mal irgendwie gelesen zu haben.
Zu diesem Déjà-vu gehört: Die Bundesregierung gibt
sich in ihrer Darstellung in allen Foren - A-Waffen,
B-Waffen, C-Waffen - erdenkliche Mühe, um den stagnierenden Rüstungskontrollprozess wieder in Gang zu
bringen - und sei es im Schneckentempo; die Bundesregierung bzw. die Bundesrepublik will ja, nur die anderen
nicht.
Herr Außenminister, ich gestehe durchaus zu, dass
sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Ihres Hauses
dort erdenkliche Mühe geben. Das soll hier auch ausdrücklich gewürdigt werden.
Zu diesem Déjà-vu gehört aber auch: Die Bundesregierung versucht krampfhaft, der Öffentlichkeit eine
Bettelsuppe als Bouillabaisse zu verkaufen. Es hilft doch
einfach nicht weiter, den Schluss zu ziehen, es gebe bei
der Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik eine gemischte Bilanz. Es gibt keine gemischte Bilanz! Das ist
Schönfärberei; das ist Augenwischerei.
({1})
Die Tendenz ist eindeutig. Es wird wieder mehr Geld
für Waffen ausgegeben. Die Streitkräfte werden überall
radikal modernisiert, und die Geschäfte mit Waffenverkäufen laufen weltweit wieder glänzend - egal in welche
Richtung wir schauen. Im Westen gehen die USA mit ihren Kriegshaushalten mit weitem Vorsprung voran, die
NATO im Schlepptau. Um uns herum folgt die Europäische Union, die auch ein neues, militärisch gestütztes
Machtzentrum werden will, diesem Rüstungstrend,
wenn auch zögerlich. Im Osten steigert Russland seine
Militärausgaben. Im asiatisch-pazifischen Raum drohen
neue Rüstungswettläufe. Und allgemein investieren
alle die Staaten, die von dem Rohstoffboom der letzten
Jahre profitiert haben, nicht zuletzt in Rüstung.
Zumindest für mich und für die Linke hängt dies unverkennbar auch damit zusammen, dass die führenden
Militärmächte schon länger davon abgegangen sind,
Streitkräfte für die Zwecke der Verteidigung oder der
bloßen Abschreckung bereithalten zu wollen. Nein,
heute geht es allenthalben um Einsatzarmeen, um Interventionsstreitkräfte. Dafür muss in großem Stil umgerüstet werden.
Leider wird dieser Zusammenhang bei allen anderen
Kollegen in den übrigen Fraktionen systematisch ausgeblendet. Wenn wir heute über Abrüstung bzw. Aufrüstung reden wollen, ist dieser Zusammenhang aber zentral.
Mit Abrüstung hat dieser Trend also gar nichts zu tun.
({2})
Das hat niemand anderes als der Bundesaußenminister in
unserer letztjährigen Debatte hier gesagt, indem er wörtlich erklärt hat:
Abrüstung erscheint wie ein Stichwort aus vergangener Zeit.
Selbst mit Rüstungskontrolle hat die aktuelle Entwicklung nichts zu tun. Bekanntlich geht es bei Rüstungskontrolle ja um gesteuerte und ausgehandelte Rüstungsentwicklung. Das ist noch etwas völlig anderes als
Abrüstung. Aber selbst diese Art der Rüstungskontrolle
ist gegenwärtig in einer tiefen Krise; Kollege Mützenich
hat es gesagt.
In einem Bereich hatten wir substanzielle Einschnitte,
und zwar bei den Antipersonenminen. Gott sei Dank
sind einige Hunderttausende davon zerstört worden.
Dies geschah aber auch aufgrund des Ottawa-Prozesses,
also angestoßen durch zivilgesellschaftliche Initiativen,
die in diesem Zusammenhang extrem wichtig sind.
Ich freue mich, dass endlich auch einmal ein Kollege
von der CDU ein positives Wort dazu findet und einräumt, dass diese Initiativen elementar sind, wenn wir
Abrüstung voranbringen wollen.
({3})
Ansonsten frage ich mich aber: Wo ist die gemischte
Bilanz?
Es ist gut, wenn sich Staaten Zentralasiens für atomwaffenfrei erklären. Aber welche Bedeutung hat das,
wenn gleichzeitig die bestehenden Atommächte ihre
Arsenale kräftig modernisieren und perfektionieren? Es
ist ein hoffnungsvolles Zeichen, wenn - das ist schon erwähnt worden - eine bemerkenswerte Reihe von ehemaligen US-Außen- und -Verteidigungsministern ein kräftiges Umdenken in der atomaren Rüstungsfrage anmahnt.
Aber wir wollen, dass sich endlich einmal im Amt befindliche Außen- und Verteidigungsminister für nukleare
Abrüstung einsetzen.
({4})
In der Frage der Nuklearwaffen ist - das ist uns,
glaube ich, allen klar - ein kritischer Punkt erreicht. Wir
können uns in 2010 kein erneutes Scheitern der Überprüfungskonferenz leisten. Man muss über die Möglichkeiten der Bundesrepublik Deutschland, etwas zu verändern, reden. Lieber Herr Kollege Mützenich, da geht es
nicht um Innenpolitik. Wenn man konstatiert, dass wir
auf diesem Feld die Situation einer umfassenden Stagnation haben, dann stellt sich doch die Frage: Wie kann
man einen Ausweg finden? Was könnte ein Schritt sein,
um überhaupt wieder eine Dynamik anzustoßen? Ich
meine, dass eine Bundesregierung da couragiert sein und
mehr unternehmen muss als so einen kläglichen und zaghaften Vorstoß wie Herr Fischer damals in der NATO.
Die Bundesregierung muss deutlich machen, dass die bei
uns in Büchel und Ramstein lagernden Atomwaffen
wegmüssen.
({5})
Mit dem Verzicht auf nukleare Teilhabe kann man
dann auch versuchen, die internationale Debatte zu beeinflussen.
Paul Schäfer ({6})
Ich finde es gut, dass die Bundesregierung zusammen
mit Norwegen jetzt eine Initiative gestartet hat. Denn
ohne eine gravierende Änderung der Sicherheitsphilosophie der NATO wird sich auch auf dem Feld der nuklearen Abrüstung nichts tun. Solange die NATO Nuklearwaffen für essenziell wichtig für unsere Sicherheit
hält, wird sich nichts bewegen.
({7})
Die Bundesregierung wird künftig, auch bei den nächsten NATO-Gipfelkonferenzen, daran gemessen werden,
ob sie diesen Pfad wirklich verfolgt, ob sie nicht klein
beigibt und ob sie, gestützt auf Nichtregierungsorganisationen, auf die Middle-Power-Initiative und auf kritische
Parlamentariergruppen, Druck ausübt, damit die NATOMilitärdoktrin an der Stelle geändert wird.
({8})
Wir müssen auch die Frage stellen: Wie sieht es bei
der konventionellen Rüstung aus? Mit welchen dramatischen Veränderungen wir es seit dem Ende der bipolaren Konfrontation zu tun haben, zeigt sich meines Erachtens gerade an der Entwicklung der konventionellen
Rüstung im europäisch-transatlantischen Raum. Der
Ausgangspunkt des KSE-Vertrages war, Überraschungsoffensiven zu verhindern und deshalb schweres Gerät
abzubauen. Das sollte in Richtung strukturelle Nichtangriffsfähigkeit gehen. Das war die Idee. Wenn man
sich die heutige Entwicklung genauer ansieht, erkennt
man, dass sich das ins Gegenteil verkehrt hat. Heute geht
es um strukturelle Angriffsfähigkeit. Man will das nicht
so nennen; aber was ist Interventionsfähigkeit anderes?
({9})
Es geht um die Fähigkeit zum offensiven Eingreifen,
auch wenn es heute um andere Gegner geht, kleinere
Staaten, nichtstaatliche Akteure, Terroristen. Aber im
Sinne dieser offensiven Fähigkeiten sollen die Streitkräfte umgerüstet werden. Ich finde, dieser Entwicklung
muss man Einhalt gebieten.
Nun sagt selbst die Bundesregierung, dass neu verhandelt werden muss, dass eine neue Abrüstungsinitiative geschaffen werden muss. Das finde auch ich. Man
muss damit beginnen, den Prozess der Ratifizierung des
KSE-Vertrages unverzüglich einzuleiten - sonst geht
nichts -, und man muss eine neue Abrüstungsidee präsentieren; denn sonst wird nicht einmal der Status quo zu
halten sein. Davon bin ich überzeugt.
Der Kollege Mützenich hat im Dezember zu Recht
gesagt, dass wir ein KSE III brauchen. Ich finde, in dieser Richtung müssen wir weitergehen. Wir machen in
unserem Entschließungsantrag diesbezüglich konkrete
Vorschläge. Der erste Vorschlag ist, den Status quo in einem ersten Schritt als vertragliche Obergrenze festzulegen. Das dürfte doch völlig unkompliziert sein. Denn die
tatsächlichen Bestände liegen weit unter den jetzigen
Obergrenzen. Aber das wäre zumindest ein erster
Schritt, um wieder Bewegung in die Sache zu bringen
und deutlich zu machen, dass wir weiter vorangehen
wollen.
Unser zweiter Vorschlag ist, die Bestände um ein
Drittel zu reduzieren. Das klingt zunächst einmal sehr
utopisch. Aber dass das utopisch klingt, zeigt meines Erachtens nur, wie unser Denken wieder von mehr Waffen
und mehr Geld für das Militär geprägt ist. Wenn man
sich die Dinge anschaut, stellt man konkret Folgendes
fest: Über 50 000 Waffensysteme sind im KSE-Gebiet
abgerüstet worden; fast dieselbe Menge ist durch einseitige Maßnahmen der Mitgliedsländer in den 90er-Jahren
verschrottet oder abgerüstet worden. Wir haben aber immer noch eine Riesenmenge.
Eine Verringerung um ein Drittel - es geht um ein Gebiet vom Atlantik bis zum Ural - würde konkret bedeuten: Es gäbe immer noch über 15 000 Kampfpanzer,
über 18 000 Artilleriegeschütze, über 28 000 gepanzerte
Kampffahrzeuge, circa 4 500 Kampfflugzeuge, weit über
1 000 Kampfhubschrauber und noch immer fast 2 Millionen Soldaten unter Waffen. Ich finde, diese solchermaßen reduzierten Waffenarsenale sind mehr als genug,
um die Sicherheit in diesem Raum zu garantieren.
({10})
Ich will das kurz begründen. Erstens ist keine akute
militärische Bedrohung dieser nördlichen Staaten von
außerhalb absehbar. Oder fühlt sich jemand von den Maghreb-Staaten, Syrien oder Jordanien bedroht?
Zweitens. Die möglichen Spannungen zwischen den
KSE-Mitgliedstaaten - beispielsweise zwischen Griechenland und der Türkei oder Russland und Georgien müssen durch nichtmilitärische, diplomatische Mittel
gelöst werden. Wir können es uns nicht mehr leisten,
dass solche Konflikte mit Gewalt ausgetragen werden.
({11})
Drittens. Wir brauchen in der Tat ein neues Kooperationsverhältnis zu Russland. Ich halte es für keine gute
Idee, wenn der NATO-Oberbefehlshaber mehr US-Truppen in Mitteleuropa belassen will und das mit der Vorsorge gegenüber einem wiedererstarkten Russland begründet. Positives Denken heißt, die Interessen der EU
und Russlands in Übereinstimmung zu bringen. Dazu
gehören meines Erachtens die Neuverhandlungen über
Rüstungsreduzierungen.
Wie tief wir mittlerweile wieder in Rüstungswettläufen stecken, zeigt sich auch daran, dass Russland den
Status seiner Atomwaffen wieder aufgewertet hat, weil
man die drückende Überlegenheit der NATO im konventionellen Bereich kompensieren will. Das war früher genau umgekehrt. Wollen wir dieses Spiel endlos weiterspielen?
Auch das Beispiel Raketenabwehr zeigt, in welcher
Weise die Russen reagieren: Sie wollen neue Raketen
aufstellen, die die beiden Staaten Tschechien und Polen
bedrohen. Das zeigt, dass wir uns wieder mitten in einem
Rüstungswettlauf befinden.
Wir brauchen eine echte und substanzielle Trendwende. Das heißt, die NATO muss als großer Rüstungsblock vorangehen. Wir brauchen eine Wiederbelebung
des Konzepts der gemeinsamen Sicherheit, und wir
Paul Schäfer ({12})
brauchen eine neue kooperative Sicherheitsarchitektur in
Europa und damit die Revitalisierung der OSZE.
({13})
Für die Linke ist das eine prinzipielle Angelegenheit.
Es geht nicht nur um die blutleeren Videosequenzen eines vermeintlichen Hightech-Krieges; vielmehr geht es
um Massenvernichtungswaffen, um Terrorwaffen, wie
die Gruppe um Hans Blix sie genannt hat. Es geht um
Angst und Schrecken verbreitende Brandbomben, um
Streumunition, die Zivilisten trifft, oder um mit abgereichertem Uran gehärtete Munition, die Menschen über
mehrere Generationen schädigen kann.
Es geht auch darum, dass Rüstung auch im Frieden
tötet. Mit den dafür verwendeten Mitteln könnte man
sehr viele wichtige Aufgaben finanzieren. Abrüstung ist
ein Gebot der Moral und der Vernunft.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Nächster Redner ist der Kollege Winfried Nachtwei
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Im Friedensgutachten 2007 schreibt Professor Harald
Müller von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung - ich zitiere -: Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung liegen in einer beispiellosen
Agonie. Die Hinrichtung der Rüstungskontrolle stand
auf der Agenda einer Koalition von Neokonservativen
und militärgläubigen Nationalisten, die bis zu den Kongresswahlen 2006 maßgeblich die Richtung der amerikanischen Sicherheitspolitik bestimmten. - Dass von der
weltweiten Rüstungskontrolle wenigstens noch - ich zitiere weiter - Ruinen mit brauchbarer Substanz übriggeblieben seien, sei dem Widerstand anderer westlicher
Staaten wie Kanada, Schweden und Deutschland zu verdanken.
Im Jahresabrüstungsbericht wird deutlich, wie vielfältig die Politik in dem Bereich ist, wie zäh und mühsam
die Bemühungen auf diesem Feld sind und wie massiv
und zum Teil fast deprimierend die Gegentrends sind.
Deshalb finde ich es angebracht, gerade den Menschen
zu danken, die in diesem Bereich konkret arbeiten. Dazu
gehören hier im Auswärtigen Amt Botschafter Lüdeking
sowie diejenigen, die im Zentrum für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr und vor Ort in Projekten zur Demilitarisierung, Demobilisierung und Reintegration tätig sind, und die sich in Nichtregierungsorganisationen
gegen Streumunition, Landminen und Atomwaffen einsetzen.
({0})
Wir sind uns alle einig, dass der Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa ein Eckpfeiler der
Sicherheit in Europa ist. Er ermöglichte in den 90er-Jahren - darauf wird zu Recht hingewiesen - eine beispiellose Abrüstung im Frieden. Inzwischen droht dieser
Eckpfeiler aber einzustürzen. Am 12. Dezember setzte
Russland den Vertrag einseitig außer Kraft. Das war so
kurzsichtig wie destruktiv. Nun geht es um nicht weniger, als dieses Vertragswerk zu retten. Kollege
Guttenberg, wer die Ratifizierungshindernisse - sie waren sicherlich vor Jahren berechtigt - angesichts erheblich veränderter Kräfteverhältnisse zwischen der NATO
und Russland und angesichts dessen, dass es in Moldawien nur noch um ein Munitionsdepot geht, weiter anführt, verkennt den Ernst der Lage. Es ist nun notwendig, ohne weiteres Hin und Her zur Ratifizierung zu
kommen.
({1})
Im letzten Jahr wurde das Ottawa-Abkommen zum
Verbot von Antipersonenminen zehn Jahre alt. In der Tat
ist das Ottawa-Abkommen ein beispielloser Erfolg aus
der Zivilgesellschaft heraus. Das hat es zuvor noch nie in
der Weltgeschichte gegeben. Inzwischen steht der humanitäre Skandal um die Streumunition im Mittelpunkt.
Diese Munition wirkt unterschiedslos und trifft gerade
die Zivilbevölkerung in Nachkriegsgebieten. Die Bundesregierung tritt für ein Verbot von Streumunition ein;
das ist gut so. Allerdings wird ihr Engagement ganz erheblich dadurch geschmälert, dass seit einem Bundestagsbeschluss, initiiert von der Großen Koalition - ich habe allerdings eher den Eindruck, dass manche Formulierungen
vom Verteidigungsministerium kamen -, zwischen gefährlicher und ungefährlicher Streumunition unterschieden wird. Ich sage ganz deutlich: Das ist humanitäre Augenwischerei.
({2})
Es geht darum, die Bewegung gegen die Streumunition
breit anzulegen und wirksam zu machen sowie für eine
vollständige Ächtung von Streumunition einzutreten.
Zu Recht wird im Jahresabrüstungsbericht die Politik
gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und für nukleare Abrüstung an erste Stelle gesetzt.
Die Logik des Nichtsverbreitungsvertrages ist eigentlich
ganz einfach: Der Verzicht auf den Erwerb von Atomwaffen ist nur möglich, wenn Atomwaffenstaaten ihr
Versprechen der nuklearen Abrüstung ernst nehmen und
zumindest schrittweise einlösen. Von Letzterem kann
seit Jahren keine Rede mehr sein. Das Gegenteil findet
sogar statt. Der Prozess der Verbreitung von Nuklearwaffen bzw. der dafür notwendigen Technologie droht
- darauf wurde schon mehrfach hingewiesen - völlig außer Kontrolle zu geraten. Der von Präsident Kennedy
formulierte Albtraum einer Welt mit Dutzenden Atomwaffenstaaten droht allmählich Realität zu werden.
Was kann Deutschland, was kann die Bundesregierung dagegen tun? Ich habe sicherlich kein Patentrezept.
Aber ich möchte zwei Aspekte ansprechen, die dabei
sehr wichtig sind. Erstens. In der Bundesrepublik gibt es
- das wurde schon mehrfach angesprochen - einige Dutzend amerikanische Atomwaffen. Verglichen mit den
80er-Jahren ist das sicherlich nur ein Rest. Aber im Hinblick auf die Nichtverbreitungspolitik der Bundesregierung sind diese Atomwaffen ein enormer Klotz am Bein
der Glaubwürdigkeit unserer Politik.
({3})
Diese Atomwaffen müssen - sie waren ethisch sowieso
nie verantwortbar und sind militärisch längst nicht mehr
zu begründen - abgezogen werden. Bringen Sie bitte ein
bisschen Mut auf - das gilt auch für den Verteidigungsminister, der erfreulicherweise an der Abrüstungsdebatte
teilnimmt -, und sorgen Sie dafür, dass diese Waffen abgezogen werden, die nukleare Teilhabe aufgegeben wird
und alle taktischen Atomwaffen aus Europa verschwinden!
({4})
Ein zweiter Aspekt ist das Abkommen zwischen den
USA und Indien über die Zusammenarbeit auf dem zivilen Nuklearsektor. Manchmal wird gesagt, mit diesem
Abkommen könne die Atomwaffenmacht Indien an das
System nuklearer Nichtverbreitung herangeführt werden. Das Motiv ist gut; aber die Tatsachen sind andere,
und die Wirkung ist in völligem Gegensatz zu dem Motiv eine fundamentale Schwächung dieses Systems. Nun
kommt es in der Tat darauf an, wie sich die Bundesregierung in der Nuclear Suppliers Group, in der Entscheidungen nur im Konsens möglich sind, hierzu verhält.
Bitte nutzen Sie die Möglichkeit, diesen Schlag gegen
nukleare Nichtverbreitung zu verhindern. Tun Sie dies
nicht, können Sie die ganze Glaubwürdigkeit Ihrer sonst
ehrlich gemeinten nuklearen Abrüstungspolitik in der
Pfeife rauchen. - Herr Minister, Sie haben jetzt direkt
das Wort dazu.
({5})
Herr Kollege Nachtwei, die Worterteilung erfolgt immer noch durch den amtierenden Präsidenten. - Für die
Bundesregierung hat nun Herr Bundesminister Dr. FrankWalter Steinmeier das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Ich bedanke mich für die doppelte Worterteilung am heutigen Morgen. - Ich erwarte nicht, dass die
Regierung von der Opposition grenzenlos gelobt wird.
Wenn dies immerhin mit Blick auf die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes geschehen ist,
dann will ich mich dafür ausdrücklich bedanken.
Außerdem sage ich heute ausnahmsweise umgekehrt
auch in Richtung der Opposition: Einen Großteil Ihrer
Kritik kann ich sogar nachvollziehen. Auch ich bin nicht
zufrieden - ich kann und werde nicht zufrieden sein mit dem Stand, den der Abrüstungsbericht wiedergibt.
Herr Hoyer, ich versichere Ihnen: Ich werde mich auch
nicht damit abfinden, dass dies so bleibt, wie es ist.
({0})
Das ist letztlich der Grund dafür, warum ich in der
Debatte, die wir hier vor einem Jahr geführt haben,
sagte, mir erscheine es so - Herr Schäfer, Sie haben es
eben zitiert -, als redeten wir hier über ein Thema aus einer vergangenen Zeit oder über ein, wie Herr zu
Guttenberg gesagt hat, Orchideenthema, das die Reihen
hier in diesem Hause und erst recht die Titelseiten der
Tageszeitungen nicht mehr fülle. Insofern bin ich froh,
dass wir, was die letzten zwölf Monate angeht, miteinander ein ganzes Stück vorangekommen sind. Nach der
Beobachtung der vielen Außenministertreffen, die ich
auf europäischer Ebene und international hinter mir
habe, glaube ich, sagen zu können, dass dies immerhin
wieder ein Thema der Gespräche zwischen den Außenministern geworden ist. Wenn ich die Zeitungen in den
letzten Monaten richtig gelesen habe, dann ist auch die
Sensibilität der Öffentlichkeit gegenüber diesem Thema
wieder gewachsen. Weil dies letztlich nicht nur meine,
sondern auch Ihrer aller Arbeit ist, bedanke ich mich
ausdrücklich dafür, dass wir gemeinsam daran gearbeitet
haben, dieses wichtige Thema wieder ganz nach vorn
auf die Tagesordnung zu holen.
({1})
Dies geht natürlich nie ganz ohne Streit und Kontroverse. Das wissen Sie, und das gilt gerade für dieses
Thema. Rückblickend für die letzten zwölf Monate sage
ich: Manchmal mag es ja sogar Sinn haben, sich etwas
von dem sicherheitspolitischen Mainstream zu entfernen
und das Schweigen, das gelegentlich mit ihm verbunden
ist, zu durchbrechen, wobei man aber stets versuchen
sollte, realistisch zu bleiben und nicht naiv zu werden.
Ich rede über den Streit über Missile Defense.
Damit keine neuen Missverständnisse in diesem Hohen Haus und anderswo aufkommen, sage ich dazu: Natürlich dürfen wir neue Gefahren und neue Bedrohungen, die entstehen, nicht ignorieren. Das ist unsere
Pflicht; dafür haben wir uns gegenüber der deutschen
Bevölkerung verbürgt. Aber wir müssen schon sehr genau hinschauen, ob unsere Reaktion auf die möglicherweise wachsenden neuen Bedrohungen wirklich einen
Zuwachs an Sicherheit bringt. Das ist der einzige Grund
dafür, weshalb ich im letzten Jahr gesagt habe, wir sollten noch einmal darüber nachdenken, von wem solche
Bedrohungen ausgehen, mit welchen Risiken sie für uns
verbunden sind und ob sie allein ein Risiko für Europa,
auch ein Risiko für die USA oder, was in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle spielt, auch ein Risiko für
Russland darstellen. Mein schlichtes Plädoyer vor einem
Jahr war: Wenn das neue Bedrohungen sind, die auch
Russland betreffen, dann gibt es eigentlich gar keine
Notwendigkeit, hier Entscheidungen über den russischen
Kopf hinweg zu treffen, sondern das bedeutet, mindestens den Versuch zu machen, Russland, das Objekt dieser neuartigen Bedrohungen sein könnte, in die Gegenwehr mit einzubeziehen.
({2})
Niemand, auch ich nicht, kann Ihnen sagen, ob das
am Ende gelingen wird. Aber in der abrüstungspolitischen Debatte, die wir heute Morgen führen, kann man
doch sagen, dass es immerhin ein Fortschritt gegenüber
dem Zustand von vor zwölf Monaten ist, dass sich die
USA und Russland jetzt in Gesprächen befinden, in denen Vorschläge ausgetauscht werden, wie man sich gemeinsam gegen eine mögliche neuartige Bedrohung zur
Wehr setzt. Das ist ein Fortschritt gegenüber dem letzten
Jahr.
({3})
Diesen Fortschritt wünschte ich mir ausdrücklich
auch beim KSE-Vertrag, Herr zu Guttenberg. Das ist
mir ein wirkliches Anliegen. Ich sehe das Risiko für uns
Europäer eigentlich darin liegen, dass es sein könnte,
dass Teile der vertragschließenden Parteien - sowohl der
USA als auch Russlands - nicht mehr dasselbe Interesse
an der Erhaltung dieses Vertrages haben, wie das noch
zum Abschluss der Fall war.
Was bedeutet das für uns? Das heißt nicht, dass wir
uns jetzt zerknirscht hinsetzen können und diesen Prozess beobachten können; vielmehr müssen wir daran erinnern, dass dieser KSE-Vertrag im Grunde genommen
das Kernstück europäischer Abrüstungsarchitektur ist.
({4})
Wir dürfen für uns daraus ableiten, wenn die Bewertung
richtig ist, dass wir dieses Kernstück europäischer Abrüstungsarchitektur auch durch den Willen der beiden
Hauptstädte Moskau und Washington nicht in Gefahr geraten lassen dürfen. So ist es keine leichte Aufgabe, aber
immerhin haben wir uns dieser Aufgabe gestellt.
Wir sind die Ersten gewesen, die im Oktober des vergangenen Jahres nach Bad Saarow eingeladen und erstaunlicherweise die Feststellung gemacht haben, dass
all diejenigen, die sich bis dahin nicht zu Wort gemeldet
hatten, das gleiche Anliegen verfolgt haben, nämlich danach zu suchen, wie der KSE-Vertrag in seiner Grundstruktur erhalten bleiben kann und wie wir in einen Prozess eintreten, in dem möglicherweise die Ratifizierung
Fortschritte macht. Nach Bad Saarow haben wir mittlerweile zwei Folgekonferenzen gehabt, eine in Paris und
eine in Madrid. Wir haben von den Russen, denen wir
vorwerfen müssen, dass sie den gegenwärtigen Zustand,
in dem wir sind, provoziert haben, die Zusicherung, dass
sie trotz des Inkrafttretens des Moratoriums bei diesen
Gesprächen weiterhin präsent sein werden und nach einer Lösung suchen, die sich an den schon vorhin referierten Kriterien orientieren muss.
Das Jahr 2008 wird uns abrüstungspolitisch nicht in
Ruhe lassen, aber immerhin hat es mit einigen ganz positiven Signalen begonnen, Signalen der Unterstützung.
Herr Hoyer und viele andere von Ihnen haben den Artikel von Kissinger, Shultz, Perry und Sam Nunn über
eine atomwaffenfreie Welt im Wall Street Journal zitiert. Das ist ein anspruchsvolles, aber nicht unrealistisches Programm, wie man dort hinkommt.
({5})
Interessant ist auch - Sie alle, die Sie in den letzten Wochen in den USA unterwegs waren, haben das mitbekommen -, dass das nicht etwas ist, was isoliert für diese
vier Personen steht. Das ist ein Thema, das sich in der
amerikanischen Öffentlichkeit, auch auf den Titelseiten
amerikanischer Tageszeitungen, breitmacht. Deshalb, so
glaube ich, dürfen wir durchaus hoffen, dass diese Stimmen gerade im Zuge der Vorbereitung auf die Präsidentschaftswahl zusätzlich Gehör finden.
({6})
Wenn wir bei Atomwaffen sind, dann sind wir auch
bei der Reform des Atomwaffensperrvertrags. Die
ganze Thematik können wir jetzt hier nicht behandeln,
aber ich bin einig mit denen, die vorhin hier am Mikrofon gesagt haben, dass wir es uns nicht noch einmal leisten können, dass eine nächste Überprüfungsperiode so
ergebnislos ausgeht wie die letzte.
({7})
Das setzt allerdings voraus, dass, erstens, die Atommächte bereit sind, an einer Reform, die das Regime des
Atomwaffensperrvertrages nachhaltig sichert, mitzuwirken, und dass, zweitens, wir, die wir auf Atomwaffen
verzichtet haben, mit Ideen zur Seite stehen, um eine Reform möglich zu machen. Das ist der Grund dafür, dass
wir uns beteiligen, zum Beispiel mit Vorschlägen zur Internationalisierung des Brennstoffkreislaufes. Auch hier
kann ich Ihnen ankündigen: Wir werden Ende März in
Berlin eine Tagung veranstalten, auf der wir versuchen
wollen, in der internationalen Staatengemeinschaft bei
Fragen wie dieser Mehrheiten zu bekommen.
Herr Hoyer, ich bin - wenn ich das sagen darf - nicht
Ihrer Meinung, dass in der Nuklearfrage Indien/USA der
Lackmustest nur dann bestanden wird, wenn wir in der
Nuclear Suppliers Group bei einem schlichten Nein bleiben. Warum sage ich das? Die Lage ist komplex, und sie
ist unbefriedigend. Sie ist aber nicht deshalb unbefriedigend, weil wir dort eine Entscheidung zu treffen haben;
sie ist vielmehr deswegen unbefriedigend, weil der
Atomwaffenstatus Indiens sich weit über den völkerrechtlichen Rahmen hinaus entwickelt hat.
Wir stehen jetzt vor der schwierigen Frage, wie wir
darauf eigentlich reagieren. Völlig klar ist: Wir müssen
von Indien gemeinsam verlangen, dass es Safeguard-Abkommen mit der EU trifft, dass es die internationale
Kontrolle sicherstellt und dass es sich auch zur nuklearen Abrüstung als Ziel bekennt. Das alles ist zwar völlig
richtig, nur beantwortet es die Frage noch nicht.
({8})
Das gilt auch dann, wenn es sich im Augenblick eher anders verhält, wie Sie ganz richtig beschreiben.
Wir müssen doch fragen: Wie reihen wir uns in das
System internationaler Kontrolle eigentlich ein? Das
war Gegenstand meiner Gespräche, die ich erst gestern
Vormittag in Wien mit al-Baradei geführt habe. Wir
müssen mit folgendem Sachverhalt verantwortungsvoll
umgehen: Wenn wir die Auffassung vertreten, dass wir
eine internationale Kontrolle unter dem Dach der Vereinten Nationen, ausgeübt durch die Internationale Atomenergie-Organisation in Wien, brauchen, dann können
wir die Interessen einer VN-Behörde bei unseren eigenen Entscheidungen nicht ignorieren, auch nicht ausnahmsweise. Damit sage ich nicht, dass unsere Entscheidung vorprogrammiert ist. Ich sage nur: Wenn wir im
Übrigen dafür plädieren, den völkerrechtlichen Rahmen
und die Arbeit der Vereinten Nationen zu achten, dann
können wir diesen Aspekt hier nicht einfach außen vor
lassen. Damit sage ich nicht, dass die Entscheidung vorprogrammiert ist. Ich sage nur: Wir sollten das berücksichtigen.
({9})
Ich bedanke mich, dass Sie darauf hingewiesen haben, dass Fragen der Streumunition, der Kleinwaffen,
des Umgangs mit Landminen von dieser Bundesregierung durchaus erfolgreich aufgegriffen worden sind.
Diese Fragen zu behandeln, bleibt eine Aufgabe für das
laufende Jahr. An all diesen Aufgaben wollen wir mit
großer Hartnäckigkeit arbeiten.
Ich komme zum Schluss. Abrüstungsarbeit bleibt
wichtig. Sie wird immer Mühsal der Ebene bedeuten und
nie schnelle Erfolge hervorbringen. Abrüstung wird einen wichtigen Beitrag zu Frieden und Stabilität aber nur
dann leisten können, wenn wir wieder lernen, stärker in
den Kategorien von regionalen Sicherheitsstrukturen
zu denken.
({10})
Deshalb plädiere ich dafür, dass sich unsere Diskussion
nicht in Tagesfragen verliert. Regionaler Sicherheitsstrukturen bedarf es in Asien, im Mittleren Osten und
auch im Nahen Osten. Auch ich wünsche mir manchmal,
dass die Welt einfacher wäre, als sie es tatsächlich ist. Es
ist nur leider nicht so.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat nun für die FDP-Fraktion die Kollegin
Elke Hoff.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Herr Minister Steinmeier, natürlich: Die
Welt ist nicht einfach. Wir werden uns verheben, wenn
wir glauben, dass wir durch unsere Debatte hier die Welt
und die Arbeit für sie einfacher machen können. Ich
hatte in der Diskussion am heutigen Morgen den Eindruck, dass wir hier in diesem Hause zwar in Nuancen
unterschiedlicher Meinung sind, dass wir aber in den
Grundstrukturen der Abrüstungspolitik in vielen Punkten durchaus auf einer gemeinsamen Basis aufbauen
können. Wenn Sie eine belastbare Analyse der neuen Bedrohungsszenarien vorlegen, wenn wir gemeinsam versuchen, alte Reflexe abzulegen, um zugunsten der Bewältigung neuer Herausforderungen eine neue Politik zu
betreiben und eine neue Diskussion zu führen, dann können Sie sicherlich mit der Unterstützung dieses Hauses
rechnen.
Wir diskutieren heute über den vorliegenden Jahresabrüstungsbericht. Wenn man ihn genauer liest, stellt
man fest: Es wird auch hier vonseiten der Bundesregierung der Eindruck erweckt, sie käme in Krisenzeiten ihren selbstgesteckten Zielen einer verantwortungsvollen
Abrüstungs- und Nichtverbreitungspolitik in vollem
Umfang nach.
Wenn ich mir jetzt aber Ihre Worte vergegenwärtige,
insbesondere in Bezug auf das Thema, das der Kollege
Hoyer und viele andere Kollegen mit Recht auf die
Agenda gesetzt haben, nämlich wie sich die Bundesregierung in der Nuclear Suppliers Group zum Thema
US-indisches-Nuklearabkommen verhält, bedaure ich es
doch sehr, dass Sie dazu hier im Plenum keine klaren
Worte gefunden haben. In dem Moment, in dem wir von
der bisherigen Linie abweichen, legen wir an die Grundfesten der Nichtverbreitung und des Nichtverbreitungsvertrages wirklich Hand an.
Wir werden hier ganz klar, wie viele andere Kolleginnen und Kollegen des Hauses auch, darauf drängen, dass
Sie genauso wie andere Mitgliedstaaten - Irland und
Schweden haben beispielsweise grundlegende Bedenken
angemeldet - zu diesem Thema nicht weiterhin schweigen wie die Bundeskanzlerin anlässlich ihres Indienbesuches, sondern uns Parlamentariern rechtzeitig darüber
Klarheit verschaffen, wie Sie sich dann verhalten.
({0})
Wir sind der Auffassung, dass die bilateralen Vereinbarungen zwischen Washington und Neu Delhi in ihrer
jetzigen Form die Normen und Prinzipien der nuklearen
Nichtverbreitung unterminieren und dass sie im Widerspruch zu dem stehen, was der Bundestag seit vielen
Jahren und Jahrzehnten fordert. Durch Ihr Schweigen
vergeben Sie auch eine historische Chance, Indien tatsächlich an das Nichtverbreitungsregime heranzuführen. Solche Fragen müssen im Vorfeld geklärt werden.
Man kann es nicht dem Prozess danach überlassen, dass
man sich Schritt für Schritt auf den NPT zubewegt. Ich
denke, es ist ein Gebot der Fairness und der Verlässlichkeit, im Vorfeld belastbare Signale und Reaktionen zu
finden.
({1})
Wenn so etwas wie nukleare Doppelstandards entstünden, die kaum zu erklären wären, wenn wir über die
Schwierigkeiten mit Iran diskutieren, würden wir uns in
eine Position begeben, mit der wir die Funktion eines
ehrlichen Maklers im Bereich der Abrüstungspolitik verlassen würden. Wir sollten uns davor hüten, unser gutes
und hohes Ansehen, das wir in der Welt auf diesem Gebiet haben, aufs Spiel zu setzen, um vielleicht an der einen oder anderen Stelle einer Vorstellung Nahrung zu
geben, die wir dann nicht erfüllen können.
Deutschland wird im Mai 2008 den Vorsitz haben.
Wir erwarten von der Bundesregierung daher, dass sie
den Vorsitz dazu nutzt, entsprechende abrüstungspolitische Bedingungen einzufordern.
({2})
Die abrüstungspolitische Glaubwürdigkeit ist ein Kapital, das Deutschland nicht aufs Spiel setzen darf. Wenn
renommierte Außenpolitiker wie Henry Kissinger - ich
darf an dieser Stelle aber auch unseren ehemaligen Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher erwähnen vor dem Zerfall der etablierten Nuklearordnung und vor
der drohenden Gefahr einer neuen Phase der nuklearen
Aufrüstung warnen, sollte dies für uns alle Anlass genug
sein, uns heute hier Gedanken darüber zu machen, welchen Beitrag wir dazu leisten können.
Ich darf jetzt auf das Thema Iran noch kurz zu sprechen kommen, auch angesichts der Redezeit. - Für einen
dauerhaften Erfolg beispielsweise der Entschärfung der
iranischen Nuklearkrise werden die P 5 und Deutschland, die in der nächsten Woche wieder in Berlin zu Beratungen zusammenkommen werden, auch bereit sein
müssen, neue Wege und Anreize zu finden. Deswegen
bin ich froh, dass hier heute erwähnt worden ist, dass
über neue Strategien oder überhaupt über eine Strategie
diskutiert wird. Machen wir uns nichts vor! Die Signale
von Zerstrittenheit, die zurzeit gegenüber dem Iran ausgesendet werden, sind alles andere als hilfreich, wenn es
darum geht, in absehbarer Zeit zu einem Ergebnis zu
kommen.
({3})
Solange einige Akteure hinter den Kulissen den Anreicherungsstopp und einen potenziellen Regime-Change
immer noch miteinander verknüpfen und solange beschlossene Wirtschaftssanktionen in der Realität von vielen unterlaufen werden, wird die bisherige Drohkulisse
gegenüber dem Iran langfristig wenig Wert haben. Wenn
die eigene, die interne Glaubwürdigkeit dadurch infrage
gestellt wird, dann müssen wir uns doch nicht wundern,
wenn Iran mit seinen vielfältigen internationalen Wirtschaftsbeziehungen Möglichkeiten suchen wird, einen
Bypass zu finden. Das wird immer möglich sein; deshalb
muss über die Sinnhaftigkeit solcher Maßnahmen nachgedacht werden, auch um die eigene Glaubwürdigkeit zu
erhalten.
Wir sind deshalb der Meinung, dass die Aufnahme
von bilateralen Verhandlungen zwischen Washington
und Teheran spätestens nach den US-Präsidentschaftswahlen zumindest in Erwägung gezogen werden muss,
zumindest angedacht werden sollte. Einen Erfolg bilateraler Verhandlungen konnten wir ja im Zusammenhang
mit dem Atomprogramm Nordkoreas feststellen. Ich bin
der Auffassung, dass Gespräche miteinander immer
nützlich sind, gerade bei solch schwierigen Themen, damit, wie Sie, Herr Minister, es gesagt haben, die Welt etwas einfacher wird. Dadurch wird nämlich die Möglichkeit eröffnet, den gemeinsamen Bedenken, die beide
Partner haben - man muss alle Seiten ernst nehmen -,
Rechnung zu tragen, auch durch neue strategische Überlegungen: weg von den alten Reflexen, hin zu einer Abrüstungspolitik, die der Realität auf unseren Welt gerecht
wird. In diesem Bereich haben Sie unsere Unterstützung;
denn wir alle haben ja das Interesse, Frieden zu schaffen.
Ich hoffe sehr, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass
es uns im Jahr 2008 gelingen wird, positive Signale zu
senden, und dass wir nicht immer wieder feststellen
müssen, dass letztendlich alle unsere guten Worte in einer Sackgasse münden. Daran wollen wir alle gemeinsam arbeiten.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Nächster Redner ist nun der Kollege Holger Haibach
für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns,
wie ich glaube, in der Analyse einig, dass sich die internationalen Abrüstungsbemühungen in einer Krise befinden. Ich würde sagen, dass diese Krise Ausfluss einer
anderen Krise ist, nämlich der Krise der internationalen
Staatengemeinschaft insgesamt. Überall, wo in internationalen Strukturen agiert wird, sehen wir große Probleme. Denken Sie nur an die Reform der UN oder andere Dinge. All das wirkt sich eben auch an dieser Stelle
aus.
Natürlich ist es richtig, dass dann einem Land wie
Deutschland eine besondere Bedeutung zukommt. Herr
Hoyer hat darauf hingewiesen, dass wir dadurch, dass
wir uns - richtigerweise - entschlossen haben, Atomwaffen zu entsagen, in einer besonderen Position sind.
Frau Hoff hat davon gesprochen, dass wir Deutsche sozusagen die Position des ehrlichen Maklers übernehmen
können. Wir sollten uns aber davor hüten, deutsche Außenpolitik mit Erwartungen aufzuladen, die sie beim
besten Willen zu erfüllen nicht in der Lage ist. Wir haben eine wichtige Aufgabe; das ist keine Frage. Wir sollten aber - das ist, wie ich glaube, auch wichtig, zu sehen realistisch mit unseren Chancen und Möglichkeiten umgehen. Ich kann das gerne am Beispiel des amerikanisch-indischen Deals festmachen.
Ich habe großes Vertrauen in diese Bundesregierung
und gehe davon aus, dass sie sich nach besten Kräften
bemüht. Aber wenn der Bundesaußenminister nach NeuDelhi fliegt und seinem indischen Amtskollegen sagt:
„Begebt euch einmal schön unter den Hut der internatioHolger Haibach
nalen Gemeinschaft“, so wird das - das ist mein Eindruck - wohl kaum dazu führen, dass das tatsächlich sofort so geschieht. Insofern müssen wir immer schauen,
welche Möglichkeiten wir haben, auch aufgrund der
Führungsrolle, die wir in der Nuclear Suppliers Group
haben, aber wir sollten uns nicht überschätzen.
Ich habe manchmal den Eindruck, dass sich diese
ganze Debatte irgendwo zwischen Fatalismus und Idealismus abspielt. So müssen wir - es ist richtig, was der
Bundesaußenminister da gesagt hat - versuchen, dazwischen einen vernünftigen Weg zu finden. Die Politik der
Bundesregierung zeigt ja sehr deutlich, dass man sich
stark bemüht: Es gibt - das will ich an dieser Stelle auch
einmal sagen - quasi keine internationale Krise und
quasi keine internationale Vereinbarung, an der diese
Bundesregierung nicht maßgeblich beteiligt gewesen ist,
sei es der Nahostkonflikt, sei es der Atomstreit mit
Nordkorea, sei es die Krise der KSE.
({0})
- Nicht an der Krise, sondern an der Bewältigung dieser
Krise. - Es gibt auch noch viele andere Bereiche, in denen diese Bundesregierung beteiligt ist. All diejenigen,
die kritisieren, dass die Erfolge nicht so gewesen sind,
wie sie es sich gewünscht hätten, die dürfen nie außer
Acht lassen, dass wir nicht die einzig Beteiligten gewesen sind. Dass die Bundesregierung einen großen Anteil
an der Beilegung von Konflikten gehabt hat, steht außer
Frage. Das sollten wir auch deutlich machen.
({1})
Ich möchte einen zweiten Punkt erwähnen. Es wird
davon gesprochen, dass beispielsweise der amerikanisch-indische Nukleardeal eine Herausforderung für die
etablierte Nuklearordnung sei. Das ist zweifelsohne
richtig. Um dieses Thema müssen wir uns ernsthaft
kümmern. Es führt uns weiter zu der Frage, ob diese Nuklearordnung eigentlich unserer heutigen Zeit noch gerecht wird. Sie stammt aus einer Zeit, als es nur vier
Nuklearstaaten gab. Je nachdem, welchen Geheimdienstberichten man glauben will, kann man sagen, dass
es heute zehn, 15 oder 20 Staaten gibt, die in der Lage
sind, spaltbares Material und vielleicht Bomben zu produzieren. Da stellt sich die Frage, ob wir unser internationales Instrumentarium nicht an dieser Tatsache ausrichten und weiterentwickeln müssen. Denn wir werden
kaum in der Lage sein, mit Instrumenten, die vor zehn
oder 20 Jahren wirkungsvoll gewesen sind, die Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Wir müssen vielmehr zu Veränderungen bereit sein.
({2})
Das heißt aber nicht, dass wir von unserem Ziel ablassen, sondern dass wir die heutigen Gegebenheiten anerkennen.
({3})
Der Bundesaußenminister hat recht, wenn er sagt, dass
die Welt leider nicht so einfach ist, wie wir sie uns gerne
machen würden, wenn wir es denn könnten.
Dies gilt zum Beispiel auch - das ist ebenfalls schon
vom Kollegen zu Guttenberg deutlich gemacht worden für das Thema Raketenabzug aus Deutschland. Wir reden über amerikanische Waffen, die sich quasi auf amerikanischem Boden befinden und die unter NATO-Kuratel stehen. Deshalb wird es für uns nicht einfach sein, zu
sagen, dass diese Raketen in Deutschland nicht stationiert bleiben können. Wir sind uns zwar im Ziel einig.
Aber Kollege zu Guttenberg hat schon klargemacht, dass
wir in der Frage, auf welchem Weg wir das Ziel erreichen, unterschiedlicher Meinung sein können.
Die klare Sicht auf die Dinge in der Welt, die die Bundesregierung bewiesen hat, kann man auch beim Thema
Streumunition relativ deutlich erkennen. Der vorgelegte
Dreistufenplan ist ein wichtiger Schritt in die richtige
Richtung. All diejenigen, die kritisieren, dass das zu wenig ist und dass man Streumunition lieber heute als morgen verbieten sollte, dürfen nicht übersehen, dass wir
nicht die einzigen sind, die das Heft des Handelns in der
Hand haben. Die großen Staaten, die Streumunition produzieren, haben sich in Wien bis zuletzt sehr stark dagegen gewehrt, dass es überhaupt zu einer Vereinbarung
gekommen ist. Insofern finde ich, dass auch an dieser
Stelle die Bundesregierung ihre Bereitschaft zum Handeln und auch ihren Blick für das Machbare bewiesen
hat.
Ein letzter Punkt, den ich in dieser Debatte ansprechen möchte. Es geht um die Frage, wie wir uns in den
internationalen Konflikten verhalten. Es geht dabei nicht
nur um Russland und um den Raketenschild; es geht
nicht nur um Nordkorea. Viele kleine Konflikte zeigen,
dass wir mit unserer Strategie auf dem richtigen Wege
sind: Einerseits müssen wir unsere Entschlossenheit zum
Handeln und andererseits die Bereitschaft zu Verhandlungen zeigen.
Man kann über Nordkorea geteilter Meinung sein.
Aber eines ist klar: Der große Konflikt ist abgewendet.
Trotzdem darf man Nordkorea an dieser Stelle nicht aus
der Verantwortung entlassen. Nordkorea ist seiner Berichtspflicht bis heute nicht nachgekommen. Die Frist
endete am 31. Dezember. Es ist daher richtig, dass dieser
Vorgang weiter beobachtet wird und zu internationalen
Konsequenzen führen muss.
Ich glaube, dass wir hier eine Debatte führen, die
nicht viel öffentliche Aufmerksamkeit findet. Das gilt
für die Abrüstung genauso wie für die zivile Krisenprävention. All das sind keine Themen, die - wie man so
schön auf Neudeutsch sagt - sexy sind. Interessanterweise findet jede Diskussion über die Verlängerung von
Militäreinsätzen in den Medien wesentlich mehr Widerhall als die Diskussion, die wir heute Morgen führen.
Nichtsdestoweniger entbindet dies nicht von unserer
Pflicht, unsere Arbeit fortzusetzen.
({4})
- Entschuldigung, die Presse kontrollieren wir nicht. Wir
haben Gott sei Dank ein freies Land. Das kann man zwar
bedauern, man muss es aber zur Kenntnis nehmen.
Wir sind alle aufgefordert, unsere Bemühungen voranzutreiben und unseren Teil dafür zu tun. Bleiben wir
dabei aber realistisch und bewahren wir uns den klaren
Blick für das, was machbar ist.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Alexander Bonde für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Da das Außenbild der Koalition in Klima und Stil nicht
gerade von Abrüstung geprägt ist, ist es schön, dass zumindest in dieser Debatte über große abrüstungspolitische Linien sowohl in der Koalition als auch im ganzen
Haus gewisse Gemeinsamkeiten festzustellen sind.
Der Jahresabrüstungsbericht 2006 liefert viel Interessantes. Es ist allerdings auch interessant, zu sehen, wie
wenig an der einen oder anderen Stelle steht, wo es dünn
wird, und festzustellen, wo die grundsätzlichen Linien,
über die wir uns einig sind, im konkreten Handeln mit
der einen oder anderen politischen Linie kollidieren. Das
eine oder andere Engagement ist wohl doch zu hinterfragen. Der indische Nukleardeal ist angesprochen worden.
Wichtig ist aber auch die Frage der Streumunition.
Die Bundesregierung hat sich mit einem Trick, mit der
Aufteilung in gefährliche und ungefährliche Streumunition, aus der Bewegung herausgestohlen. Wenn man diesen Trick durchzieht, wird man bei der Streumunition
am Ende nur eine Modernisierung, aber keinen Ausstieg
aus der Nutzung dieser gefährlichen Munition erreichen.
Man muss bei dieser Koalition immer genau zwischen
den Zeilen lesen. Ich fürchte, dass Sie auf die Position
„Streumunition ist gefährlich - Punkt“ zurückgebracht
werden müssen.
({0})
Wenn die Bundesregierung unsere gemeinsame Position ernst nimmt, muss sie mehr offensive Initiativen
vorlegen. Wir bedauern sehr, dass im Rahmen der G-8und der EU-Ratspräsidentschaft in diesem Zusammenhang von Deutschland wenig zu hören war.
Ein Aspekt, der uns besonders irritiert, taucht im Abrüstungsbericht in einem Nebensatz auf. Es geht um die
Frage der Planung von US-Raketenabwehrsystemen in
Europa. Ich zitiere aus dem Bericht:
Neben dem Investitionsbedarf für aktuelle Einsätze
werden umfangreiche Ressourcen für Entwicklung
und Aufbau eines nationalen Raketenabwehrsystems und die Erzielung von sog. space dominance
verwendet.
Ich finde, dass es einem Bericht wie diesem gut anstehen würde, sich mit den möglichen Konsequenzen auseinanderzusetzen. Herr Minister, was Sie hier gesagt haben, ist sehr wohltuend. Wir wüssten aber schon gerne,
ob das die Position der gesamten Bundesregierung ist.
Es war wohltuend, von Ihnen zu hören, dass Sie Gefahren sehen. Wir wüssten aber gerne, ob Sie die deutsche
Position nun endlich in den europäischen Gremien vertreten, da die Diskussion dort schon eine ganze Weile
läuft. Stoßen Sie dort Warnungen aus, und werden diese
ernst genommen?
Es ist ja kein Zufall, dass auf dem Höhepunkt des
Kalten Krieges über die Beschränkung von Raketenabwehrsystemen verhandelt wurde. Das war ein wichtiges
Element, um aus der Rüstungsspirale - Abwehr und Abwehr der Abwehr - auszubrechen. Mit dem, was im Moment auf dem Tisch liegt, kommen wir potenziell auf
diese Position zurück. Das ist eine Fragestellung, die Europa insgesamt betrifft, die im Moment aber im Rahmen
von trilateralen Verhandlungen verhandelt wird. Ich
kann nicht erkennen, dass die Bundesregierung alles tut,
was in ihrer Macht steht, um diesen Prozess in einen europäischen Diskussionsprozess zu überführen. Diese
Dynamik birgt auch Gefahren; denn die Fragestellung
setzt Anreize, Waffen, die in der Lage sind, diese Abwehrsysteme zu überwinden, in größerer Stückzahl zu
produzieren.
Die Diskussion über diese Planungen hat es Nationen
wie Russland natürlich erleichtert, Modernisierungsprogramme ihrer Waffensysteme nach innen zu legitimieren. Wir alle erinnern uns an den Auftritt von Präsident
Putin im letzten Jahr.
Wenn wir uns hier in abrüstungspolitischen Linien einig sind, erwarte ich von der Bundesregierung, dass ihre
Handlungen dann auch in diese Linien passen und dass
man keine gegenteiligen Signale sendet in Debatten, die
nicht laut genug oder mit unklarer Position geführt werden, und dass man sie nicht offensiv konterkariert. Ich
wünsche mir mehr abrüstungspolitische Reden von Ihnen, auch außerhalb von abrüstungspolitischen Debatten, nämlich in den Gremien, in denen zum Schluss tatsächlich entschieden wird, in welche Richtung diese
Welt läuft.
Herzlichen Dank.
({1})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Uta Zapf für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Hoyer, ich will Sie ein bisschen aufheitern;
Sie waren bei Ihrer Rede so deprimiert.
({0})
Am 14. Januar dieses Jahres hat Barbados den Atomteststoppvertrag ratifiziert.
({1})
Das ist doch eine gute Nachricht. Aber vielleicht ist das
schon das Ende der guten Nachrichten. Ich denke, deshalb sind wir hier auch so engagiert. Ich bin ein bisschen
erschrocken, Kollege zu Guttenberg, als Sie gesagt haben, das sei ein Orchideenthema.
({2})
- Gut: gewesen. Das mag ja sein.
Ich teile diese Meinung nicht. Denn womit haben wir
es hier zu tun? Mit ganz harten sicherheitspolitischen
Realitäten. Wenn sich diese verschlechtern, wenn wir
nicht handeln, dann kann es tatsächlich zu einer Katastrophe kommen. Wenn Sie sagen, Visionen seien nicht
so wichtig, sondern die Schritte, die dorthin führen, dann
möchte ich gerne die ehemalige Außenministerin von
Großbritannien, Frau Beckett, zitieren, die sagt: Wir
brauchen Visionen, damit wir wissen, welche Schritte
wir unternehmen müssen, um dort hinzukommen.
({3})
Ich glaube, das ist was, was wir hier tun, was unser Außenminister tut und was wir in unseren Anträgen vorschlagen.
Wenn Shultz, Perry, Kissinger und Nunn in ihrem hier
schon zitierten Aufruf in The Wall Street Journal schreiben, das das ganze System am Rande des Verderbens,
auf der Kippe steht, dann müssen wir das, denke ich,
sehr ernst nehmen. Wir müssen noch einmal ganz konkret die Diskussion darüber führen, was wir machen
können. Dazu möchte ich gern ein paar ganz konkrete
Vorschläge machen.
Der erste betrifft die Frage, wie wir damit umgehen,
dass bestehende Abrüstungsverträge entweder überhaupt
gar nicht umgesetzt werden, zum Beispiel START II, oder
auf der Kippe stehen, zum Beispiel INF, also der Mittelstreckenvertrag, dass andere wie START I auslaufen
oder dass andere ohne Verbindlichkeit sind, weil sie
schnell widerrufbar, schnell kündbar, nicht irreversibel
und nicht überprüfbar sind wie SORT. Es gibt einen Hinweis: Die USA und Russland haben in Bezug auf INF
eine Initiative zur Multilateralisierung dieses Vertrages
angekündigt. Ich denke, das ist eine gute Initiative.
({4})
Denn das gesamte Problem beschränkt sich nicht auf
diese beiden Staaten, sondern hat mittlerweile wesentlich größere Dimensionen erreicht. Wenn es gelingt,
diese Diskussion anzustoßen, könnten wir einen Schritt
weiterkommen. Für START I muss man mindestens eine
Verlängerung erwirken oder versuchen, einen Nachfolgevertrag auszuhandeln. Darauf sollten wir bei der Überprüfungskonferenz Hinweise geben. Die Folgeverträge
müssen im Gegensatz zu SORT unumkehrbar und überprüfbar sein.
Ich lobe jetzt einmal mit wenigen Worten einige Initiativen, wie zum Beispiel die Initiative zum Brennstoffkreislauf. Ich denke, das ist eine ganz wichtige Initiative, bei der Deutschland eine ganz große Rolle
gespielt hat. Das müssen wir voranbringen.
Man muss einmal ein bisschen hinter die Kulissen
schauen. Warum ist Abrüstung so unpopulär und schwierig geworden? Ich glaube, es liegt an zweierlei. Es liegt
vor allen Dingen an der Rolle der Nuklearwaffen in den
Strategien. Wer Nuklearwaffen zu Einsatzwaffen erklärt, wird schlicht und ergreifend andere nicht zum Verzicht auf diese Waffenkategorien überreden können.
Ich glaube, das ist eine Aufgabe, über die auch innerhalb der NATO diskutiert werden muss. Ich bin für die
Initiative von Norwegen und Deutschland dankbar. Man
muss die Bedeutung von Nuklearwaffen innerhalb der
NATO in der Tat weit „herunterzonen“. Dabei muss man
auch über den Abzug der hier stationierten amerikanischen Waffen reden.
Lassen Sie mich noch etwas intensiver auf ein Thema
eingehen, das mir immer sehr am Herzen gelegen hat
- es ist von manchen Kolleginnen und Kollegen bereits
angerissen worden -: Wie wird sich Deutschland in der
Nuclear Suppliers Group in Bezug auf das US-indische
Abkommen verhalten? Das ist eine ganze schwierige
Aufgabe. Hier muss man mit sehr viel Fingerspitzengefühl vorgehen.
Kollege Haibach hat gesagt, die Nuklearordnung sei
veraltet. Ja, sie ist veraltet. Es gibt aber viele Prinzipien,
die auch in einer neuen Nuklearordnung Bestand haben
müssen. Das sind Prinzipien, die verhindern, dass Atomwaffen unter dem Deckmäntelchen der zivilen Nutzung
der Energie hergestellt werden.
({5})
Ich glaube, wir müssen in der Nuclear Suppliers
Group in Bezug auf dieses Abkommen folgende Bedingungen stellen: Indien muss den CTBT zeichnen, ein
Teststoppmoratorium einhalten und die Produktion von
waffenfähigem Material verbindlich stoppen. Ich meine,
man müsste von Indien auch verlangen, dass sich dieses
Land ähnlich wie andere Staaten zur Abrüstung seiner
Nuklearwaffen und nicht etwa zur weiteren Aufrüstung
verpflichtet und sicherstellt, dass die vorhandenen Arsenale nicht mithilfe aus der zivilen Nutzung abgezweigten
bzw. umgeleiteten Materials aufgestockt werden können.
({6})
Das wäre ein Weg, Indien näher an das Nichtverbreitungsregime heranzuführen. Wenn das durchgesetzt werden könnte, dann würde ich mich sehr freuen. Noch
mehr würde ich mich freuen, wenn wir in diesem Hause
einen gemeinsamen Antrag in diesem Sinne beschließen
könnten, weil das unserer Regierung ein Stück weit den
Rücken stärken würde.
Danke sehr.
({7})
Nun hat der Kollege Gert Winkelmeier das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Beim Studium der Jahresabrüstungsberichte kann man
sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich die jeweiligen Bundesregierungen darin stets kräftig auf die eigene
Schulter klopfen. Nicht dass ich etwas dagegen hätte;
Klappern gehört bekanntlich zum Handwerk. Wenn Sie
das aber machen, dann müssen Sie auch Substanzielles
vorweisen können. Daran hapert es gewaltig.
Die Bundesregierung betont immer wieder das seit Erlangung der vollen Souveränität gewachsene Gewicht
Deutschlands innerhalb der Staatengemeinschaft. Sie
leitet daraus den Anspruch ab, in der Welt mehr als früher
mitzureden und mehr Verantwortung zu übernehmen.
Das ist an sich löblich. Doch eigenartigerweise hören wir
diese Begründungen meistens dann, wenn es darum geht,
militärische Einsätze zu rechtfertigen oder einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu fordern.
Ich frage mich, wo die Bereitschaft zur Übernahme
von Verantwortung beim Thema „Abrüstung und Rüstungskontrolle“ bleibt. Hier könnte Deutschland international punkten und sein Ansehen durch rüstungskontrollpolitische Initiativen weltweit signifikant verbessern,
({0})
wenn auch nicht bei jedem seiner Verbündeten; das will
ich gerne eingestehen.
Exemplarisch für die Kluft zwischen dem Anspruch
und dem realen Handeln der Bundesregierung ist folgender Vergleich: Auf Seite 4 des Jahresabrüstungsberichts 2006 steht, es bleibe das vorrangige Ziel der Bundesregierung, „den internationalen Konsens … über die
… Dringlichkeit der Bekämpfung der Verbreitung von
Massenvernichtungswaffen zu bewahren.“
Doch diesem Ziel fehlt es am notwendigen Engagement.
Auf Seite 23 lesen wir im Zusammenhang mit dem Biowaffenübereinkommen:
Wegen der weiterhin großen Sprengkraft des Themas wurde die Einführung eines Verifikationsmechanismus für das BWÜ nicht weiter verfolgt.
Doch was nützt der Welt eines der umfassendsten
Waffenverbote, solange ein entsprechendes Kontrollsystem fehlt - und das seit über 30 Jahren! Wir wissen
alle, wer hier der Hauptbremser ist. Sie rühmen sich, die
Überprüfungskonferenz 2006 proaktiv vorbereitet zu haben. Nur, wo bleibt dieses Proaktive gegenüber der
NATO-Führungsmacht? Ist die Bundesregierung jemals
auf die Idee gekommen, die zynischen, menschenverachtenden Hoffnungen des Paul Wolfowitz anzuprangern, dass biologische Waffen eines Tages zu einem politisch nützlichen Mittel werden könnten? Nein. Solche
Sätze stehen aber seit 2000 in einem offiziösen US-Strategiepapier. Bisher übt sich die Bundesregierung diesbezüglich in beredtem Schweigen.
Mangelnde Konsequenz aus bündnistaktischen Gründen gibt es auch in vielen anderen Bereichen. Einige
möchte ich ansprechen. So werden in Büchel in Rheinland-Pfalz beim Jagdbombergeschwader 33 noch immer
amerikanische taktische Atomwaffen vorgehalten. 18 Jahre
nach Ende des Kalten Krieges und der Abschreckungsstrategie der gesicherten gegenseitigen Vernichtung müssen diese Waffen endlich abgezogen werden. Das wäre
ein glaubwürdiges Signal, dass Deutschland seine Verpflichtungen aus dem Atomwaffensperrvertrag ernst nimmt.
({1})
Ein anderes Beispiel: Unter den Blindgängern von
Streumunition haben weltweit Millionen unschuldiger
Zivilisten zu leiden. Auch hier agiert die Bundesregierung halbherzig, weil sie an der Option für den Einsatz
dieser Munition weiterhin festhält. Hier kann es aber
nicht nur darum gehen, wie Sie meinen, die Zivilbevölkerung besser zu schützen. Nein, Streumunition ist geächtet. Sie gehört weltweit vernichtet. In diesem Sinne
sollte die Bundesregierung auf die NATO-Führungsmacht und andere Staaten einwirken.
({2})
Das ist der wirksamste Schutz für die Zivilbevölkerung.
Ich erwarte, dass Sie dem Beispiel Österreichs und Belgiens folgen und Streumunition ohne Wenn und Aber
ächten. Das ist nachahmenswert, hier sollten Sie abrüstungspolitische Verantwortung übernehmen.
({3})
Was ich in Ihren Abrüstungsberichten völlig vermisse, ist die sogenannte DU-Munition; das ist Munition, die mit einem Mantel aus abgereichertem Uran umhüllt ist. Die Bundeswehr hat so etwas nicht in ihren
Beständen; doch die USA und andere Bündnispartner
setzen solche Munition ein und vergiften und verstrahlen
mit dem entstehenden Urandioxid ganze Landstriche.
Auch auf diesem Feld übernehmen Sie keine politische
Verantwortung.
„Außenpolitik ist Friedenspolitik“, liest der Besucher
auf der Homepage des Auswärtigen Amtes. Wer wollte
dem widersprechen? Eine erfolgreiche Friedenspolitik
setzt aber international Vertrauen voraus. Ob dieses
Vertrauen durch eine halbherzige Abrüstungspolitik entsteht, ist zu bezweifeln. Denn gleichzeitig wird die Bundeswehr zur globalen Interventionsarmee umgebaut. Es
ist Abrüstungsscharlatanerie, wenn in der Bundeswehr
nur Material abgerüstet wird, das nach dem Umbau zur
weltweit agierenden Armee sowieso nicht mehr benötigt
wird.
Letzter Gedanke. Wir dürfen gespannt sein, ob sich
die Bundesregierung bei der anstehenden Ratifizierung
des Vertrages von Lissabon zur militärischen Aufrüstung
verpflichten wird. Eben das wäre kein abrüstungspolitisches Signal und widerspräche der Intention dieser Debatte.
Vielen Dank.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Hans Raidel für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich glaube, auch die heutige Debatte zeigt, dass
Deutschland in Abrüstungsfragen ein wichtiger Schrittmacher und Impulsgeber ist. Wir müssen unser Licht
durchaus nicht unter den Scheffel stellen.
Herr Minister, ich bedanke mich bei Ihrem Hause
sehr herzlich für die geleistete Arbeit. Es stimmt einfach
nicht, wenn hier festgestellt wird, dass sich Deutschland
an der Fortschreibung dieser wichtigen Ideen nicht konsequent und nicht ausreichend beteilige. Das Gegenteil
ist der Fall. Wir können viele Beispiele dafür anfügen,
nicht nur aus dem Bereich der Abrüstung und Nichtverbreitung; wir sind auch im Bereich der Kleinwaffen tätig. Mit dem International Code of Conduct unterstützen
wir die Rüstungsexportkontrolle. Gerade an der Vernichtung von Munition und überzähligen Waffen sind wir
mit viel Geld und Engagement beteiligt, um beispielsweise Reste aus den vergangenen Kriegen, insbesondere
in Russland, zu beseitigen.
Der Vorwurf, wir würden in praktischen Fragen zu
wenig tun, trägt also mit Sicherheit nicht. Es ist natürlich
immer richtig, die Frage zu stellen. Wer keine Visionen
hat, ist kein Realist. Wir sind aber visionär und betrachten die Dinge gleichzeitig realistisch. Das bedeutet natürlich, dass wir uns darüber Gedanken machen, wie die
einzelnen Probleme im sogenannten Krisenbogen zu sehen sind. Wir nehmen uns jedes einzelne Land vor, von
Indien angefangen über den Iran bis hin zu Pakistan und
anderen Ländern. Diese Themen sind uns geläufig und
bekannt.
Natürlich wissen wir, dass wir uns neu justieren müssen. Wir wissen auch, dass wir insgesamt eine Neubewertung vorzunehmen haben, weil viele Instrumentarien, die in der Vergangenheit richtig waren, heute
möglicherweise neu zu bewerten und einzuordnen sind.
Wir wissen, dass Verhandlungen und Dialog heute die
wichtigsten Instrumente sind und zum Erfolg führen,
dass Drohungen und Sanktionen nur selten wirksam sind
und dass zur Problemlösung neben Sicherheitsgarantien
auch Anreize gehören, die größer als die Furcht vor
Nachteilen sein müssen. Das ist ein ganz entscheidendes
Thema, das in dem Bereich Verhandlung und Dialog besonders dargestellt werden muss.
Kofi Annan hat in seiner Abschlussrede als UN-Generalsekretär festgestellt, dass Abrüstungsschritte im
Rahmen der bestehenden Verträge über atomare, biologische und chemische Waffen sträflich vernachlässigt
worden sind. Sein Nachfolger stellt auch fest, dass die
Anstrengungen verstärkt werden müssen. Vielleicht
wäre es ja gut, wieder einmal den Vorschlag zu machen,
im Rahmen der UNO eine weltweite Konferenz durchzuführen, damit diesen wichtigen Themen wieder der
Stellenwert zugewiesen werden kann, der ihnen eigentlich innewohnt. Sie wissen, dass es verschiedene Anläufe dafür gab. Sie alle sind damals gescheitert. Eine
Neuauflage wäre aus meiner Sicht durchaus wichtig.
Der nächste wichtige Punkt ist meiner Auffassung
nach, die Amerikaner und die Russen, die die eigentlichen Key-Player bei diesen ganzen Themenkreisen sind,
vor einer Art Selbstisolation zu bewahren. Im Moment
hat man den Eindruck, als ob sie wichtige Abrüstungsthemen mehr innen- als außenpolitisch motiviert einfach
hochstilisieren, wobei sich jeder mehr der eigenen Sache
als dem Ganzen verpflichtet fühlt. Es wurde darauf hingewiesen: Das war früher, in den 70er- und 80er-Jahren,
als die großen Abrüstungsthemen zielführend verhandelt
werden konnten, ein bisschen anders. Man muss die
USA wieder an diese Rolle heranführen. Auch Russland
muss begreifen, dass seine Position - es stellt zum Beispiel Zusammenhänge zwischen der Raketenstationierung und anderen Problemen her - letztlich nicht zielführend sein kann.
Wir sollten die Genfer Verhandlungen wieder mit
neuem Leben erfüllen. Sie wissen, die einzelnen Regime, über die dort verhandelt wird, leiden derzeit alle
- ich sage es einmal ganz vorsichtig - an einer übermäßigen Zurückhaltung der Akteure, sodass nicht einmal
Tagesordnungen gestaltet werden.
Sie haben auf das Scheitern der letzten Konferenz im
Jahr 2005 hingewiesen. Auch hier trifft der Vorwurf
nicht Deutschland. Wir haben mit unserer Arbeit dazu
beigetragen, dass die einzelnen Regime nicht gänzlich
abgelehnt worden sind, sondern wenigstens neue Anläufe vereinbart worden sind. Auch darauf haben Sie
hingewiesen.
Aus meiner Sicht ist wichtig, dass Deutschland hier
nicht alleine als Schrittmacher auftritt, sondern dass wir
in all diesen Fragen den europäischen Kontext suchen;
denn ich glaube, dass sich die Effektivität und die Effizienz stark erhöhen könnten, wenn wir europäisch mit
einer Stimme sprächen, wenn wir hier eine gemeinsame
Sprache hätten. Meines Erachtens sind wir durchaus der
Motor einer Europäisierung all dieser Aufgaben.
Es wurde davon gesprochen, dass das Jahr 2008 zu einem Jahr des Stillstandes werden könnte. Wir müssen alles tun, damit das nicht eintritt. In diesem Zusammenhang gibt es zwei Eckpunkte. Das eine ist die
Präsidentschaftswahl in Russland, das andere die Wahl
in Amerika. Man muss nun versuchen, das Rad weiterzudrehen. Das Jahr 2009 wird dann die Nagelprobe bringen, inwieweit die neuen Regime bereit sind, sich als
Key-Player wirklich auf diese Fragen einzulassen.
Denn es ist richtig, wenn festgestellt wird, wer wann
wo welches Interesse hat und wer wen stützt. In diesen
Bereichen findet ein trickreiches Spiel statt. Die Frage
„Wer nützt wen aus?“ ist nicht unberechtigt, vor allem
auch nicht folgende Frage: Woher kommt das Geld, um
in unliebsamen Bereichen die Finanzvorlagen zu unterstützen?
Ich meine, dass Deutschland auf einem guten Weg ist.
Wir dürfen Stillstand und Rückschritt nicht zulassen.
Wir sollten uns weiterhin nicht beirren lassen, Herr Minister. Selbstverständlich gehören auch Seitenwind und
Gegenwind dazu. Das Parlament gibt Ihnen und allen
Einrichtungen der Bundeswehr sowie dem Außenministerium aber den notwendigen Rückenwind. Unser Ziel
muss weiter sein, dass Deutschland in all diesen Fragen
Motor, Schrittmacher und Impulsgeber ist. Wir helfen
mit, wo wir helfen können. Dies liegt in unserem ureigenen Interesse.
Vielen Dank.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Andreas Weigel für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Vielzahl der Anträge, die wir heute unter diesem Tagesordnungspunkt behandeln, kommt schon einem abrüstungspolitischen Rundumschlag gleich. Von einigen
ist gelobt worden, dass wir das Thema Abrüstung an so
prominenter Stelle im Bundestag behandeln. Tun wir
dies aber immer nur dann, wenn sich eine bestimmte Anzahl von Anträgen angesammelt hat, so halte ich das für
bedenklich. Aus meiner Sicht ist wichtig, dass wir aktuell Bezug auf das nehmen, was geschieht, und aktuelle
Bewertungen vornehmen.
Vor diesem Hintergrund ist es in meinen Augen sehr
bedenklich, dass wir in dieser Woche in einigen Ausschüssen noch den Jahresabrüstungsbericht 2004 behandelt haben.
In der Kürze der Zeit will ich mich auf das Thema
Streumunition und insbesondere auf die laufenden Verhandlungen dazu konzentrieren. Ich habe durchaus berechtigte Hoffnungen - und viele in diesem Haus auch -,
dass wir bei diesem Thema im Jahr 2008 zu einem erfolgreichen Abschluss kommen.
Streumunition ist für die Szenarien des kalten Krieges
gemacht. In der Realität ist ihre Wirkung verheerend.
98 Prozent der Opfer sind Zivilisten. Die Selbstzerstörungsmechanismen funktionieren unter realen Kampfbedingungen oftmals nicht so, wie wir uns das vorstellen,
und versagen. Eine erst jüngst veröffentlichte Studie von
norwegischen Militärexperten zum Libanon-Krieg 2006
hat belegt, dass die angegebene Blindgängerrate von
1 Prozent tatsächlich eine Blindgängerrate von 10 Prozent bedeutet.
Wer sich von Ihnen in den letzten Wochen im PaulLöbe-Haus die Ausstellung „Explosives Erbe des Krieges“ angeschaut hat, wird gesehen haben, welche eindrucksvollen Erfolge wir in den letzten Jahren erzielen
konnten, aber auch, vor welchen Herausforderungen wir
noch stehen. Welche Herausforderungen wir noch zu bewältigen haben, konnte ich in den letzten Wochen bei einem meiner Besuche in Afghanistan selber erleben. In
Afghanistan sind über 4 Millionen Menschen unmittelbar durch Minen und Blindgänger bedroht. Projekte zur
Minenräumung führen dazu, dass Taliban das Räumpersonal beschießen, sodass mittlerweile mehr Räumpersonal durch den Beschuss von Taliban als durch das Beseitigen von Minen ums Leben kommt.
Vor vier Wochen haben wir im Unterausschuss „Abrüstung“ eine öffentliche Anhörung zum Thema Streumunition durchgeführt. Die eingeladenen Experten haben einhellig auf die Unzuverlässigkeit und die fehlende
militärische Notwendigkeit von Streumunition hingewiesen. Die humanitären Schäden, die durch diese Munition verursacht werden, wiegen weit schwerer als der
militärische Nutzen. Umstritten ist auch die Zuverlässigkeit sogenannter alternativer Munitionstypen, die nicht
für Flächen-, sondern für Punktziele eingesetzt werden
sollen.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss das
oberste Ziel für uns ein umfassendes Verbot von Streumunition sein. Ziel ist, die Herstellung, Verbreitung und
Verwendung dieser Waffen zu sanktionieren. Es ist klar,
dass man das nicht von heute auf morgen tun kann, sondern nur Schritt für Schritt. Ich glaube, das, was die Bundesregierung in dem Bereich getan hat und tut, kann sich
sehen lassen und ist alles andere als eine trickreiche Politik.
({0})
Wenn wir aber Ausnahmen für alternative Munition
zulassen wollen, dann geht das meines Erachtens nur,
wenn klare Bedingungen erfüllt werden. Ich will drei
nennen: erstens eine nachgewiesene hohe technische Zuverlässigkeit der alternativen Munition, zweitens die
nachgewiesene Fähigkeit dieser Munition, militärische
Ziele tatsächlich punktgenau zu bekämpfen, und drittens
eine strikte Begrenzung der durch die Munition verstreuten Sprengköpfe.
Unsere Fraktion begrüßt einhellig den von der Bundesregierung entwickelten Dreistufenplan für einen universellen Verzicht auf Streumunition. Er hat sich auch
als nützliche Verhandlungsgrundlage herausgestellt. Er
hat zu einem Aufbrechen der Blockade der Genfer UNVerhandlungen im November 2007 beigetragen. Das war
ein großer Erfolg, besonders wenn man bedenkt, dass
2006 ein ähnliches Bemühen gescheitert ist.
Darüber hinaus haben - das ist heute schon mehrfach
angesprochen worden - zivilgesellschaftliche Organisationen mit dazu beigetragen, dass wir im Rahmen des sogenannten Oslo-Prozesses im vergangenen Jahr ein ganzes Stück vorangekommen sind. Außerhalb des UNRahmens haben sich mittlerweile 140 Staaten an Verhandlungen über ein internationales Abkommen zur
Ächtung von Streumunition beteiligt. Das ist ein ermutigendes Zeichen, vor allen Dingen wenn man bedenkt,
dass es ein Jahr zuvor nicht einmal 50 Staaten waren.
Es ist wichtig, dass wir gemeinsam im Rahmen der
UN-Verhandlungen, aber auch zivilgesellschaftlich an
diesem Thema arbeiten. Wir sollten im Rahmen des
Oslo-Prozesses im Mai 2008 in Dublin zu positiven Verhandlungsergebnissen kommen. Ich hoffe darauf, dass
durch diese Ergebnisse, ähnlich wie im Ottawa-Prozess,
ein Schneeballeffekt entsteht und dass wir in Zukunft
Streumunition ächten und nicht mehr zum Einsatz bringen müssen.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Zu Tagesordnungspunkt 22 a wird interfraktionell die
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/5211 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Die Entschließungsanträge auf den Drucksa-
chen 16/7790 und 16/7791 sollen an dieselben Aus-
schüsse überwiesen werden. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Über-
weisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zu einer Reihe von Abstimmungen.
Tagesordnungspunkt 22 b. Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses zu dem Entschließungsantrag
der Fraktion Die Linke zum Jahresabrüstungsbericht
2005 der Bundesregierung auf Drucksache 16/1483. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/4594, den Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/2999 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke.
Tagesordnungspunkt 22 c. Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion
Die Linke mit dem Titel „Abzug der Atomwaffen aus
Deutschland“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/4593, den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/448 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
ist dagegen? - Enthaltungen? - Auch diese Beschluss-
empfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke.
Tagesordnungspunkt 22 d. Dabei geht es um die Be-
schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu
dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Abrüstung der taktischen Atomwaffen voran-
treiben - US-Atomwaffen aus Deutschland und Europa
vollständig abziehen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4592, den An-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 16/819 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der
Fraktion der FDP und der Fraktion Die Linke.
Tagesordnungspunkt 22 e. Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Nuklearen
Dammbruch verhindern - Indien an das Regime zur nuk-
learen Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtweiter-
verbreitung heranführen“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4591,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/834 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltun-
gen? - Dann ist auch diese Beschlussempfehlung ange-
nommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge-
gen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
bei Enthaltung der Fraktion der FDP und der Fraktion
Die Linke.
Tagesordnungspunkt 22 f. Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion
Die Linke mit dem Titel „Keine Unterstützung für die in-
dische Atomrüstung“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4590, den An-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/1445 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke bei Enthaltung der Fraktion der FDP1) und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Tagesordnungspunkt 22 g. Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Zivilbevölke-
rung wirksamer schützen - Streumunition ächten“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/4589, den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/2749 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist damit angenommen mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion der FDP und der
Fraktion Die Linke.
Tagesordnungspunkt 22 h. Wir kommen zur Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen
Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit
dem Titel „Keine neuen Raketen in Europa - stattdessen
Stärkung der globalen Sicherheit durch Rüstungskon-
trolle und Abrüstung“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7516, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5456
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist damit angenommen mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei
Gegenstimmen der Linken und Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/ Die Grünen.
Damit rufe ich den Zusatzpunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg
Rohde, Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Karl Addicks,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
1) Anlage 2
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Altersvorsorge für Geringverdiener attraktiv
gestalten
- Drucksache 16/7177 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Dr. Heinrich Kolb von der FDP-Fraktion das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestern hatten wir Gelegenheit, über die Rentenfinanzen
sozusagen aus der Gesamtperspektive zu debattieren.
Dabei wurde deutlich, dass sich die Liquidität der Rentenversicherung zwar insgesamt verbessert hat, dass
diese Verbesserung jedoch nicht auf die gute konjunkturelle Entwicklung, sondern ausschließlich auf die Sondereffekte des Vorziehens der Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge und der Beitragssatzerhöhung Anfang
2007 zurückzuführen ist. Ein Verdienst der Bundesregierung ist es also nicht.
({0})
Heute befassen wir uns nun mit dem Thema Altersvorsorge aus der Perspektive des Einzelnen, und zwar
unter besonderer Berücksichtigung der Frage: Lohnt sich
die private Vorsorge auch für diejenigen Versicherten,
die vergleichsweise geringe Verdienste haben? Die Regierung und vor allem Vertreter der SPD-Fraktion haben
gestern bestritten, dass es bei der privaten Vorsorge von
Geringverdienern überhaupt ein Problem gibt, und haben der Opposition vorgeworfen, die Menschen in unverantwortlicher Weise zu verunsichern. Dem halte ich
entgegen: Es gibt ein Problem bei der privaten Vorsorge
von Geringverdienern. Unverantwortlich ist alleine das
beschönigende Gerede der Bundesregierung, vor allem
der SPD.
({1})
Sie stecken den Kopf in den Sand. Sie betreiben eine
Vogel-Strauß-Politik. Die Dummen sind dabei wieder
einmal diejenigen, die sich trotz eines geringen Verdienstes nicht alleine auf den Staat verlassen wollen. Das
kann und darf nicht sein.
({2})
Dabei hat der ehemalige Bundesarbeitsminister
Walter Riester selbst gestern in einem Interview mit
Spiegel Online die Problematik grundsätzlich gut umrissen:
Wenn jemand in fortgeschrittenem Alter erkennen
sollte, dass er nach der Pensionierung ganz sicher
auf die Grundsicherung von 660 Euro im Monat angewiesen ist, dann macht es ökonomisch keinen
Sinn, eine Riester-Rente abzuschließen. Aber das
ist bei der überwiegenden Mehrheit der Menschen
nicht der Fall.
Seine Einschätzung ist insofern richtig, als die private
Vorsorge nach derzeitiger Rechtslage für diejenigen
Menschen keinen Sinn macht, die absehbar auf Grundsicherung angewiesen sein werden; denn ihre Altersvorsorge wird zu 100 Prozent mit der Grundsicherung verrechnet. Diejenigen, die gering verdienen und deswegen
nur geringe Rentenansprüche erwerben, erhalten somit
im bestehenden System den Fehlanreiz, auf private Vorsorge gänzlich zu verzichten, weil sie sich nicht lohnt.
Diesen Fehlanreiz wollen wir mit unserem Antrag beseitigen.
({3})
Die FDP befasst sich übrigens mit diesem Problem
nicht erst seit gestern oder seit Anfang dieser Woche.
Vielmehr hat sie bereits im November letzten Jahres den
Antrag eingebracht, der heute Grundlage der Beratungen
ist. Ich sage das deswegen, weil der Kollege Lafontaine
glaubte, die gestrige Debatte umwidmen und das Problem thematisieren zu müssen. Herr Kollege Lafontaine
und Herr Kollege Gysi - Sie werden gleich noch reden -,
seien Sie ganz ruhig! Die FDP hat das Problem klar auf
dem Schirm.
({4})
Ich sage Ihnen voraus - das sollte unsere gemeinsame
Hoffnung sein -: Nach dem Kurswechsel bei der abgabenfreien Entgeltumwandlung, bei der die Regierung
erst jahrelang das Problem bestritt, um dann in einer
spektakulären 180-Grad-Wende auf den zuvor allein von
der FDP vertretenen Kurs einer unbefristeten Abgabenfreiheit einzuschwenken, und nach dem Kurswechsel bei
der Zwangsverrentung, bei der die Regierung erst auf
Druck der Opposition einen unerträglichen Zustand wenigstens ein Stück weit abmildern will,
({5})
wird es auch bei der Riester-Rente für Geringverdiener
in absehbarer Zeit Bewegung bei der Regierung geben.
Das ist auch gut so.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD,
aller guten Dinge sind drei. Machen Sie es sich selbst
nicht zu schwer; der Kollege Peter Weiß, der als rentenpolitischer Sprecher für diese Frage zuständig ist, hat bereits signalisiert, dass er Handlungsbedarf sieht, auch
wenn sein Lösungsansatz jedenfalls für Geringverdiener
nicht zielführend ist. Das Beste, was ich Ihnen empfehlen kann, ist: Stimmen Sie dem FDP-Vorschlag zu; denn
er ist ein Vorschlag mit Augenmaß. Im Folgenden werde
ich ihn noch näher erläutern.
Zuvor muss ich allerdings klarstellen, dass die gestern
hier gemachte Aussage des Kollegen Schaaf von der
SPD - Herr Kollege, ich bitte Sie, zuzuhören -, man
müsse nur Mindestlöhne einführen und dann sei das ProDr. Heinrich L. Kolb
blem gelöst, einfach nicht stimmt. Wir haben die Zahlen
in unserem Antrag aufgeführt; Sie sehen sie in der Begründung. Ein Versicherter mit einem Monatsverdienst
von 1 850 Euro muss über 35 Jahre in die Rentenversicherung einzahlen, um Grundsicherungsniveau zu erreichen. Bei 1 625 Euro Bruttomonatsverdienst sind es
40 Jahre, und ein Versicherter mit 1 450 Euro Monatsverdienst muss 45 Jahre Beiträge einzahlen, um Grundsicherungsniveau zu erreichen.
({7})
- Ja, eingezahlt haben.
1 450 Euro brutto im Monat, Herr Schaaf, entsprechen bei einer 38,5-Stunden-Woche - Urlaubsbezahlung,
Feiertagsbezahlung, Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld sind
eingerechnet - einem Stundenlohn von etwa 7,80 Euro.
Das liegt also deutlich über dem, was die SPD nach meiner Kenntnis an Mindestlohn fordert. Diese Ausrede
zieht jedenfalls nicht, Herr Schaaf.
({8})
Es zieht auch nicht der Hinweis auf eine angeblich
nur geringe Zahl von Betroffenen. Dass heute nur
2 Prozent der Menschen - etwa 370 000 - im Rentenalter Grundsicherung beziehen, ist nicht mehr als ein erstes Indiz. Dass der Kreis der künftig Betroffenen erheblich größer sein wird, ergibt sich schon daraus, dass mit
dem von der rot-grünen Bundesregierung beschlossenen
Rentenversicherungs-Nachhaltigkeitsgesetz das Rentenniveau bis zum Jahr 2030 um rund 20 Prozent abgesenkt
wird. Dazu kommt, dass mehr und mehr Erwerbsbiografien längere Zeiten von Arbeitslosigkeit und insbesondere ALG-II-Bezug enthalten, in denen für die Altersvorsorge so gut wie nichts getan wird.
Als Drittes muss der Trend weg von der Vollzeitbeschäftigung bedacht werden. Bereits ein Drittel aller
Beschäftigten arbeitet heute nicht mehr Vollzeit, hat entsprechend niedrigere Bruttogehälter und wegen der Beitragsäquivalenz der gesetzlichen Rente auch eine entsprechend geringere Rentenerwartung.
Herr Schaaf, Sie müssen also nicht nur einen Mindestlohn von 7,80 Euro fordern, sondern auch verlangen,
dass es nur noch Vollzeitarbeitsverhältnisse gibt, um sicherzustellen, dass das Problem, dass wir vortragen, in
Zukunft nicht mehr relevant wird.
({9})
Man muss auch wissen, dass von den 10 Millionen
Riester-Sparern etwa 2,5 Millionen, also ein Viertel, einen Bruttojahresverdienst von 12 000 Euro und weniger
haben. Dieser Personenkreis ist aus heutiger Sicht extrem gefährdet, im Alter in die Grundsicherung zu geraten und damit der vollen Anrechnung nach heutiger Gesetzeslage zu unterliegen. Damit ist klar, dass gehandelt
werden muss.
Es muss heute gehandelt werden, weil Rentenfragen
Vertrauensfragen sind und lange Übergangszeiträume erforderlich sind. Wir müssen heute dafür sorgen, dass
junge Menschen nicht am Sinn der privaten Vorsorge
zweifeln. Deswegen hat der Antrag, den wir als FDP
vorgelegt haben, ein klares Leitbild: Wer freiwillig für
das Alter sparen soll, für den muss sich das Sparen auch
lohnen. Anderenfalls spart niemand freiwillig.
({10})
Das ist aus Sicht des Einzelnen irrational. Ihm vorzuschlagen, Herr Schaaf, er solle sparen, obwohl er nichts
davon hat, ist doch einfach irrational. Dies entbehrt doch
jeder Grundlage und widerspricht den Erfahrungen des
täglichen Lebens. Ich werde den Verdacht nicht los
- Herr Schaaf, ich spreche Sie an, weil Sie sich hier in
die Debatte einschalten -, dass diejenigen, die das freiwillige Sparen nicht attraktiv machen wollen, am Ende
etwas ganz anderes im Sinn haben, nämlich ein Obligatorium, eine Riester-Pflicht. Dagegen allerdings sprechen wir uns ganz entschieden aus.
({11})
Der Gedanke unseres Antrags ist auch: Derjenige, der
privat für sein Alter vorsorgt, der also einen Riester-Vertrag abgeschlossen hat, muss mehr als derjenige haben,
der nichts getan hat und sich alleine auf den Staat verlässt. Das ist eine Grundforderung der Gerechtigkeit.
Das widerspricht nicht dem Subsidiaritätsprinzip der
Sozialhilfe; im Gegenteil, das ergänzt das Subsidiaritätsprinzip in sinnvoller und gerechter Weise. Unser Vorschlag lautet also: Wer privat oder betrieblich für das Alter vorsorgt, der soll, wenn er Grundsicherung im Alter
bezieht, bis zu 100 Euro aus seiner Vorsorge monatlich
als Freibetrag vorab behalten dürfen. Bei Beträgen, die
darüber hinausgehen, sollen 80 Prozent auf die Grundsicherung angerechnet werden. Das ist maßgeschneidert
für die Bedürfnisse gerade von Geringverdienern, die
auch nach langer Riester-Sparzeit in der Regel über Beträge von 100, 150 oder 200 Euro im Monat aus zusätzlicher privater Vorsorge nicht hinauskommen werden.
Deswegen wird das den Interessen gerade dieser Menschen gerecht.
Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, unserem Antrag im Ausschuss und auch im Plenum zuzustimmen, damit die private Altersvorsorge, die ein wichtiges Standbein der Alterssicherung in Deutschland ist,
nicht in Misskredit gerät und sich die Menschen in unserem Lande, die sie gut gebrauchen können, weil sie gering verdienen, nicht von ihr abwenden.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
FDP legt uns heute einen Antrag vor, in dem sie uns auffordert, etwas zu beschließen, was schon Realität ist;
denn der Antrag heißt „Altersvorsorge für Geringverdiener attraktiv gestalten“. Was ist denn attraktiv, wenn
nicht eine Förderung von bis zu 90 Prozent für jemanden, der 5 Euro Eigenbeitrag im Monat leistet?
({0})
Das ist eine attraktive Förderung. Was ausgerechnet Sie
von der FDP geritten hat, hier den ansonsten völlig
selbstverständlichen Nachrangigkeitsgrundsatz bei einer
steuerfinanzierten Fürsorgeleistung aufzugeben, bleibt
Ihr Geheimnis.
({1})
Es zeigt sich jedenfalls: Ordnungspolitik ist bei uns gut
aufgehoben und nicht bei Ihnen. Ihre Vorschläge haben
mit Ordnungspolitik nichts zu tun.
({2})
Die Pressemitteilungen der letzten Tage waren in diesem Zusammenhang wirklich sehr interessant. Ich will
ausdrücklich auf das verweisen, was das Bundesarbeitsministerium in Reaktion auf einen Bericht öffentlich erklärt hat.
Herr Kollege Brauksiepe, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb?
Bitte schön. Sie waren schon eine Minute lang nicht
dran. Daher habe ich Verständnis für die Zwischenfrage.
Herr Kollege Brauksiepe, nachdem Sie uns hier gescholten und der ordnungspolitischen Nachlässigkeit geziehen haben, wollte ich fragen, wie Sie die Forderung
Ihres Fraktionskollegen Peter Weiß beurteilen, der doch
öffentlich gefordert hat, man solle die Hälfte der RiesterVorsorge bei der Anrechnung außen vor lassen. Das
müsste dann mindestens ebenso verwerflich sein. Wie
beurteilen Sie das?
({0})
Herr Kollege Kolb, ich spreche hier als Sprecher der
CDU/CSU-Fraktion für den Bereich Arbeit und Soziales. Was ich Ihnen sage, entspricht der Meinung der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Ich komme auf das zurück, was das Arbeitsministerium zu einem Fernsehbericht, in dem von Recherchen
die Rede war - die Recherchen bestanden in einem Blick
in das Gesetz -, erklärt hat. Ich will das hier vortragen,
weil das völlig richtig ist:
Armutsvermeidung erfolgt in der Erwerbsphase
durch die Grundsicherung für Arbeitsuchende …
und in der Ruhestandsphase durch die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung …
Ich betone: Armutsvermeidung. Ich will deutlich sagen:
Kein Sozialstaat der Welt ist perfekt, auch unserer nicht.
Ich bin weit davon entfernt, zu sagen, dass wir in jedem
Fall Armut vermeiden können. Aber ich wäre dankbar,
wenn wir folgenden richtigen Grundsatz auch in anderen
Debatten berücksichtigen würden: Derjenige, der arbeitet und eine Familie ernähren muss und, um das zu können, zusätzliche Sozialleistungen bekommt, ist nicht arm
trotz Arbeit, sondern er bekommt diese Sozialleistung,
damit Armut verhindert wird. Das Gleiche gilt für die
Grundsicherung. Das sollten wir in der Debatte immer
bedenken.
({1})
Ich komme auf den Gesetzentwurf zurück, den die damalige rot-grüne Regierung zu diesem Thema hier im
Jahr 2000 eingebracht hat. Da hieß es ausdrücklich: Um
verschämte Armut, insbesondere im Alter, zu verhindern, wird die Inanspruchnahme von Hilfe zum Lebensunterhalt dadurch erleichtert, dass auf den Unterhaltsrückgriff gegenüber Kindern und Eltern verzichtet
wird. - Es ging um die Vermeidung von verschämter Altersarmut. Wir hatten damals unsere Bedenken wegen
der unklaren Finanzierungslasten für die Kommunen. Da
haben wir leider recht behalten. Die Frage der Aufteilung der Finanzen gibt bis heute Anlass zu permanentem
Streit zwischen Bund und Kommunen.
Aber es bestand doch Einigkeit darin: Arm ist insbesondere derjenige im Alter, der verbriefte Rechte, die er
hat, nicht in Anspruch nimmt, aus Scham, aus Unwissenheit oder aus anderen Gründen. Wer diese Leistungen
erhält, vermeidet, arm zu werden. Es ist falsch, in der
Debatte ständig den Umstand, dass jemand Transfers bezieht, damit gleichzusetzen, dass er arm ist. Transferbezug ist kein Kennzeichen für Armut.
({2})
Es gibt erstaunliche Pressemitteilungen. In einer Pressemitteilung der grünen Kolleginnen Christine Scheel
und Irmingard Schewe-Gerigk, die ich gelesen habe,
wird erst einmal pflichtgemäß die Regierung beschimpft, und zwar für gesetzliche Zustände, die die rotgrüne Bundesregierung herbeigeführt hat. Dann schreiben Sie: Wir waren schon immer der Auffassung, dass
die private Altersvorsorge nicht auf die gesetzliche
Grundsicherung angerechnet werden darf. - Das ist
schon erstaunlich. Sie haben in dem gemeinsamen Gesetzentwurf aus guten Gründen festgelegt, dass eine solche Anrechnung erfolgt. In der Begründung steht:
Soweit das Kapital seiner Zweckbestimmung entsprechend im Alter aufgelöst wird, werden die daraus erzielten Einnahmen auf die Sozialhilfe angerechnet.
Sie selbst haben das im Jahr 2001 beschlossen, und
jetzt sagen Sie, Sie seien schon immer der Auffassung
gewesen, die private Altersvorsorge dürfe nicht auf die
gesetzliche Grundsicherung angerechnet werden. Für
wie dumm oder vergesslich halten Sie die Menschen eigentlich, meine Damen und Herren von den Grünen?
({3})
Herr Kollege Gysi, jetzt können Sie mit dem Klatschen aufhören; jetzt komme ich nämlich zu Ihnen im
Zusammenhang mit der Frage: Für wie dumm oder vergesslich halten Sie die Leute eigentlich? Ihre Fraktion
hat sofort erklärt: Riester-Betrug sofort stoppen! Ich bin
zugegebenermaßen kein Jurist, aber so viel weiß ich: Betrug ist eine Straftat. Jemanden nur deswegen, weil er
anderer Meinung in der Sache ist, als Straftäter zu bezeichnen, ist eines Demokraten unwürdig.
({4})
Ich habe herausgesucht, wie eigentlich die rentenpolitische Bilanz dieser Partei, die sich zurzeit „Die Linke“
nennt und die auch einmal anders hieß, aussieht. Im
Jahr 1989 hat der damalige SED-Chef, Erich Honecker,
aus Anlass des 40. Jahrestages der DDR einmal kräftig
etwas auf den Tisch gelegt
({5})
und hat kräftig die Mindestrente in der DDR auf
330 Mark erhöht.
({6})
Ich wiederhole: sage und schreibe 330 Mark, natürlich
DDR-Mark. Die D-Mark wurde ja erst ein Jahr später
- gegen den ausdrücklichen Widerstand von Oskar
Lafontaine - mit der Währungsunion eingeführt.
330 DDR-Mark Mindestrente, das war Ihre Bilanz.
({7})
Das ist das, was Sie vorzuweisen haben. 480 Mark
Höchstrente nach 45 Versicherungsjahren, das ist Ihre
Rentenpolitik. Sie sind die Letzten, die einen Grund haben, uns Betrug vorzuwerfen. Die deutsche Einheit war
ein Glücksfall für uns alle, und wir haben alle davon profitiert. Die DDR-Rentner haben in besonderem Maße
von der deutschen Einheit profitiert. Das ist eine Tatsache.
({8})
Die Große Koalition muss nicht erst in Zukunft handeln, weil wir in diesen Fragen schon in der Vergangenheit gehandelt haben und es weiter tun. Wir stellen auch
in diesem Jahr erhebliche Zuschüsse für sämtliche Säulen der Alterssicherung zur Verfügung. Auch in diesem
Jahr sind im Bundeshaushalt fast 80 Milliarden Euro Zuschuss zur gesetzlichen Rentenversicherung vorgesehen.
Wir haben schon im letzten Jahr beschlossen, zur Stärkung der betrieblichen Säule der Alterssicherung auch
im nächsten Jahr und darüber hinaus die abgabenfreie
Entgeltumwandlung für Betriebsrenten fortzuführen.
Wir haben auch die dritte Säule der Alterssicherung, die
private Säule, attraktiver gemacht. Wir haben zum
1. Januar dieses Jahres die Kinderzulage in der sogenannten Riester-Rente von 185 auf 300 Euro erhöht. Das
heißt, wir haben bereits gehandelt.
Wir haben auch durch die bürokratische Entrümpelung des Riester-Instrumentariums dafür gesorgt, dass es
heute rund 10 Millionen sogenannte Riester-Verträge
gibt, Tendenz stark steigend. Wir wissen: Die allermeisten von denjenigen, die noch keinen solchen Vertrag haben, tun etwas. Die allermeisten sparen für das Alter.
Das ist auch richtig so. Die jungen Menschen planen
keine Sozialhilfekarrieren. Sie überlegen sich als junge
Menschen nicht, was sie tun müssten, um am Ende mehr
als die Grundsicherung zu haben, sondern sie sorgen vor und das mit Recht. Die allermeisten handeln so.
Jeder weiß: Die Chance auf eine Rente über Grundsicherungsniveau ist selbstverständlich umso größer, je
mehr man privat tut. Deswegen muss die Botschaft lauten: Man muss etwas für die private Altersvorsorge tun. Deswegen unterstützt der Staat das. Das ist genau die
richtige Politik.
({9})
Wir sind in der Großen Koalition selbstverständlich
im Gespräch darüber, wie wir das sogenannte RiesterInstrumentarium noch verbessern können. Dabei geht es
auch um die Förderung des Eigenheims im Zusammenhang mit der Altersvorsorge.
Wir erwarten für Ende März den dritten Armuts- und
Reichtumsbericht der Bundesregierung. Der Bundesarbeitsminister hat ihn in dieser Woche im Ausschuss für
diesen Termin angekündigt. Wir werden dann konkrete
aktuelle Zahlen dazu haben, wie groß das Problem ist,
sodass wir wissen, über wie viele Menschen wir jeweils
reden. Die Erfahrungen und Erkenntnisse, die die Bundesregierung uns mitteilt, werden selbstverständlich einfließen, wenn es darum geht, ob und gegebenenfalls an
welchen Stellen wir die private Altersvorsorge über die
schon heute bis zu 90-prozentige Bezuschussung hinaus
mit staatlicher Förderung noch attraktiver machen können.
Völlig klar ist: Es ist richtig, dass man die Fördermöglichkeiten nutzt, die schon jetzt da sind. Auch die
Verbraucherschützer sagen vor dem Hintergrund der Debatten in diesen Tagen völlig zu Recht: Niemand sollte
auf die Zulagen verzichten, die er für seine private Altersvorsorge bekommt. Es ist richtig, sie in Anspruch zu
nehmen. Es ist politisch richtig, sie anzubieten. Es wäre
völlig falsch, auf die umfangreichen Fördermöglichkeiten zu verzichten. Wir werden die Debatten fortsetzen,
wenn die neuen Erkenntnisse aus dem dritten Armutsund Reichtumsbericht vorliegen.
Völlig klar ist schon heute auch: Die Warnungen vor
dem Abschluss eines Vertrages über eine Riester-Rente
sind völlig fehl am Platze. Das Gegenteil ist richtig.
„Bitte weiter riestern!“, so hat das Handelsblatt gestern
einen Beitrag überschrieben. Diesen Appell teilen wir.
Das ist genau der richtige Weg.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat der Kollege Dr. Gregor Gysi von der
Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier ({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Brauksiepe hat hier von Erich Honecker gesprochen. Ich
finde das interessant. Ich bin ihm in meinem Leben nie
begegnet, aber die erste Reihe Ihrer beiden Parteien hatte
ihn ja ständig auf dem Sofa. Ich hoffe, Sie erzählen mir
mal, wie der so war.
({0})
Davon abgesehen geht es heute um die Riester-Rente
und damit um die Veränderungen in der Rentenpolitik,
die allerdings von SPD und Grünen eingeleitet worden
sind. Sie haben die Rentenformel der gesetzlichen Rente
verändert. Sie haben gesagt: Die Rentenentwicklung
wird nicht mehr an die Produktivität gekoppelt. Sie begründeten das mit der Demografie; aber ich sage Ihnen:
Produktivität schlägt Demografie. Das war Ihr entscheidender Fehler, und zwar ein Fehler, der auch zur Altersarmut führt.
({1})
1990 spiegelte die gesetzliche Rente 75 Prozent der
durchschnittlichen Löhne und Gehälter wider. Heute
sind wir bei 51 Prozent, angestrebt werden 40 Prozent.
Ergo haben Sie auch gewusst, dass Sie Altersarmut organisieren. Das ist das eigentliche Problem.
({2})
Alle Veränderungen, die damit in Zusammenhang stehen, waren diesbezüglich durchdacht. Im Osten wird Altersarmut ganz verschärft auftreten, aber ebenso im Westen. Auch das wissen Sie. Sie wird nicht bei den
heutigen Rentnerinnen und Rentnern auftreten - bei denen ist es zum Teil schon schlimm genug -, sondern bei
denen, die jetzt arbeiten und die dann nur Anspruch auf
Minirenten haben.
Warum? Sie von SPD und Grünen waren nicht bereit,
die alte Formel aufrechtzuerhalten. Zu Beginn Ihrer Regierungszeit haben Sie sie zwar wieder eingeführt und
die Kohl-Formel abgeschafft.
({3})
Ein Jahr später hat sich Schröder aber bei Union und
FDP entschuldigt und die Kohl-Formel wieder eingeführt. Das war damals die Wahrheit.
Sie waren auch nicht bereit, zu sagen: Wir machen
eine Rentenreform und beziehen sämtliche Einkommen
in die Rentenzahlungen ein, so wie es in der Schweiz der
Fall ist.
Sie waren nicht bereit, die Beitragsbemessungsgrenzen anzuheben bzw. aufzuheben. Der große Vorteil wäre
doch endlich einmal eine Entlastung der Mittelschicht;
denn die durchschnittlich Verdienenden müssen doch einen höheren Prozentsatz bezahlen, weil Sie die Bezieher
hoher Einkommen nicht in die gesetzliche Rentenversicherung einbeziehen. Kommen Sie mir ja nicht mit dem
Argument, dass das dann zu extrem hohen Rentenauszahlungen führen würde. Man kann die Rentensteigerung abflachen. Das hat auch das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer solidarischen Versicherung
erlaubt. Es gäbe Lösungen. Sie aber sind den Weg der
Armutsrente gegangen, und zwar zum Nachteil der Gering- und Durchschnittsverdiener. Das ist das Problem.
({4})
Nun wussten Sie ja, dass damit eine geringere Rente
verbunden ist. So sind Sie auf die Idee der Riester-Rente
gekommen. In diesem Zusammenhang haben Sie sich
entschlossen, die Geringverdiener und andere zu unterstützen, und deshalb die staatlichen Zuschüsse eingeführt. Nun ist es ja zum Ersten so, dass die staatlichen
Zuschüsse zunächst einmal der Allianz und anderen privaten Versicherungen zugute kommen. Das kann man ja
nicht leugnen. Zum Zweiten sparen Sie, sofern eine
Riester-Rente vorhanden ist, bei den Ausgaben für die
Grundsicherung, weil die Riester-Rente ja angerechnet
wird.
({5})
Ergo: Die Zuschüsse, die Sie jetzt zahlen, sparen Sie
später, indem Sie weniger für die Grundsicherung aufwenden müssen. Man muss nur einmal darauf hinweisen, damit diese Tatsachen auch der Bevölkerung bekannt werden.
({6})
- Die Allianz Versicherung ist ja auch sehr dankbar. Ich
habe Ihnen das schon einmal dargelegt. Sie hat an Sie
60 001 Euro gespendet, an die Union 60 001 Euro, die
CSU hat diese noch einmal extra bekommen. Die Grünen haben 60 001 Euro bekommen.
({7})
Die FDP hat sich daneben benommen und hat nur
50 001 Euro bekommen.
({8})
Wir haben gar nichts bekommen. Ich halte es für wichtig, dass es noch eine Partei im Bundestag gibt, die nicht
von der Allianz gesponsert wird. Das sage ich Ihnen
auch ganz klar.
({9})
Nun kommen wir auf das Beispiel aus der Sendung
Monitor. Worum ging es da eigentlich? Machen wir es
einmal ganz deutlich: Es geht um zwei Verkäuferinnen,
die beide ein Einkommen von 1 000 Euro haben. Beide
erhalten einen Werbebrief, in dem die Riester-Rente als
ganz toll dargestellt wird. Gerade weil sie so wenig verdienen, sollten beide sie abschließen. Die eine entscheidet sich dafür, die Riester-Rente abzuschließen und die
Beiträge zu zahlen. Die andere sagt, sie habe so wenig,
sie brauche das Geld, was sie für die Beiträge aufwenden
müsste, für Lebensmittel und schließt keinen RiesterVertrag ab. Beide bekommen später eine so geringe
Rente, dass sie davon gar nicht leben können. Ergo bekommen sie die Grundsicherung.
({10})
- Dazu, als Sozialleistung. - Nun sagen Sie den beiden:
In dem einen Fall wird die Riester-Rente angerechnet,
dadurch fallen die Zahlungen zur Sicherstellung der
Grundsicherung etwas geringer aus. In dem anderen
Fall, wo es keine Riester-Rente gibt, fallen die Zahlungen zur Sicherstellung der Grundsicherung höher aus.
Beide bekommen aber am Schluss den gleichen Betrag.
({11})
Sie können doch nicht leugnen, dass die Verkäuferin, die
über Jahre Beiträge zur Riester-Rente gezahlt hat, sich
am Ende betrogen fühlt. Das ist doch einfach so.
({12})
Sie sagt sich nämlich: Hätte ich die Beiträge nicht bezahlt, bekäme ich höhere staatliche Sozialleistungen und
hätte früher Monat für Monat mehr ausgeben können.
Das ist doch ganz einfach.
Nun sagen Sie mir - das sagte auch schon Herr
Riester -, das ist wie bei Sparguthaben bzw. höherer gesetzlicher Rente. Das stimmt erstens bei höherer gesetzlicher Rente nicht. Hier ist es ja zunächst einmal so, dass
man zu den Zahlungen verpflichtet ist; das ist ein großer
Unterschied zur Riester-Rente, die noch freiwillig ist.
Bei der gesetzlichen Rente muss ich zahlen, und mehr,
als ich zahlen muss, darf ich auch gar nicht zahlen. Das
ist hier der Unterschied. Zweitens stimmt es bei Sparguthaben nicht: Diese haben Sie auch gar nicht beworben.
Aber Sie haben einen ungeheuren Werbefeldzug für die
Riester-Rente gestartet. Nirgendwo haben Sie geschrieben: Geringverdiener, passt auf, wenn ihr später weniger
als die Grundsicherung erhaltet, nutzt euch das Ganze
gar nichts. Dann habt ihr zwar die Beiträge bezahlt, aber
ihr bekommt keinen Euro mehr als diejenigen, die nicht
eingezahlt haben. - Das haben Sie nie erklärt. Dazu darf
man - das tut mir leid - Anlagebetrug sagen.
({13})
Wie könnte man das Problem lösen? Das ist ja auch
spannend. Jetzt wird die ganze Anrechnungsproblematik
ordnungspolitisch diskutiert. Es versteht zwar draußen
keiner; das Gleiche gilt ja auch für die Formeln, die Sie,
Herr Brauksiepe, angeführt haben. Wer soll all das nachvollziehen?
({14})
Aber das ist ja egal. Wir diskutieren jetzt ordnungspolitisch darüber. Da ist ja auch etwas dran; das alles ist ja
sehr kompliziert, und man stellt sich die Frage, warum
das eine nicht angerechnet wird, aber das andere. Ergo
brauchen wir eine andere Herangehensweise: Sie müssen die alte gesetzliche Rentenformel wieder einführen.
Sie müssen die Rentnerinnen und Rentner zukünftig
wieder an der gesellschaftlichen Produktivitätsentwicklung beteiligen. Das ist das Entscheidende.
({15})
Ich sage noch einmal: Wir müssen als Nächstes alle
Einkommen zur Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung heranziehen. Wir müssen das Grundprinzip
aus der Schweiz übernehmen, wo man sagt: Es ist zwar
wahr, dass die Millionäre keine gesetzliche Rentenversicherung benötigen, aber die gesetzliche Rentenversicherung benötigt die Millionäre. Diesen Grundsatz müssen wir durchsetzen.
({16})
Wir müssen darüber hinaus - ich habe es schon gesagt die Beitragsbemessungsgrenzen an- bzw. aufheben. Zu
diesen mutigen Schritten sind Sie aber nicht bereit, obwohl sie für die Zukunft unserer Gesellschaft und für die
Zukunft der Rentnerinnen und Rentner dringend erforderlich wären. Neben diesen mutigen Schritten gäbe es
aber noch eine andere Möglichkeit. Sie könnten sagen:
Wer später eine Grundsicherung bekommt und ergo
nichts von seinen Beiträgen hat, der bekommt Schadenersatz. Sie müssten dann die Beiträge mit Zinsen zurückzahlen. Das wäre übrigens ein Weg, der bei Betrug üblich ist und deswegen nicht völlig aus der Welt ist.
({17})
Diesen Weg werden Sie aber auch nicht gehen.
Nun werden Anrechnungsmodelle ins Spiel gebracht.
Man könnte sie ausnahmsweise - nicht im Prinzip rechtfertigen, weil es eine Fehlinformation durch die
Bundesregierung gab. Aber eine Lösung bringt auch das
nicht. Eine Lösung gibt es nur, wenn Sie den mutigen
Weg gehen, die Rentnerinnen und Rentner wieder an der
Produktivitätsentwicklung zu beteiligen, und den Abgeordneten, Anwälten sowie den Ärztinnen und Ärzten sagen, dass sie künftig ebenfalls in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen müssen.
Wir können die Beiträge sogar senken, wenn die höheren Einkommen herangezogen werden. Tun Sie also
endlich etwas für die Geringverdienenden und für die
Durchschnittsverdiener und nicht nur für die Topverdiener, wie das bisher der Fall ist. Damit können wir den
- so nenne ich es - Anlagebetrug beseitigen. Es ist ein
Anlagebetrug, weil Sie die Geringverdienenden getäuscht haben, indem Sie ihnen gesagt haben, dass es so
wichtig ist, diese Rente abzuschließen. Jetzt sagen Sie
aber: Ihr habt zwar einen Beitrag gegen Armut geleistet,
aber er nutzt euch nichts. - Das ist nicht hinnehmbar.
Danke.
({18})
Das Wort hat der Kollege Gregor Amann von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Dr. Gysi, dass Ihre Partei möglicherweise
keine Spende von der Allianz bekommen hat, scheint
eine dramatische Erfahrung für Sie zu sein.
({0})
Denn Sie haben darüber schon mehrfach im Parlament
gesprochen. Da ich aber weiß, dass Sie von dem nicht
geringen Vermögen der SED genügend Geld in die Bundesrepublik Deutschland herüberretten konnten, hält
sich mein Mitleid in engen Grenzen.
({1})
Zu den großen historischen Errungenschaften der
Bundesrepublik Deutschland gehört die Beseitigung der
Altersarmut. Das bedeutet nicht, dass es in Deutschland
keine alten Menschen gibt, die in Armut leben. Aber es
ist bei uns kein Massenphänomen, wie es in anderen
Ländern der Fall ist und wie es zu anderen Zeiten in
Deutschland der Fall war.
({2})
Nur knapp 3 Prozent der über 65-Jährigen leben heute
von der Grundsicherung im Alter. Das bedeutet umgekehrt, dass über 97 Prozent nicht auf staatliche Unterstützung zum Lebensunterhalt angewiesen sind. Andere
Bevölkerungsgruppen in der Bundesrepublik haben ein
deutlich höheres Armutsrisiko. Aber natürlich muss es
unser Bestreben sein, diesen Erfolg auch langfristig zu
sichern. Insofern ist das in der Überschrift des FDP-Antrags formulierte Ziel in Ordnung. Wir sollten dabei allerdings vermeiden - dabei schaue ich wieder nach links -,
Angst zu schüren und die Menschen zu verunsichern.
Stattdessen sollten wir sehr seriös mit den Risiken umgehen, die zur Altersarmut führen können.
Es gibt dabei zwei Problemfelder. Zum einen - Herr
Dr. Gysi hat es schon angesprochen - sinkt das Versorgungsniveau der gesetzlichen Rentenversicherung. Das
ist kein Geheimnis. Ich bin sogar dafür, das allen Menschen offen zu sagen. Denn es ist kein Betriebsunfall,
sondern es ist das bewusst angestrebte Ziel von notwendigen Entscheidungen dieses Parlaments in den vergangenen Jahren.
({3})
Herr Kollege Amann, darf ich Sie unterbrechen? Der
Kollege Gysi würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage
stellen.
Wenn es zum Erkenntnisgewinn der Linken beiträgt.
Wie herum, werden wir sehen. - Ich habe eine Frage
zu einem Punkt, der schon ein bisschen zurückliegt.
Würden Sie einräumen, dass der Hauptunterschied zwischen der Riester-Rente und der gesetzlichen Rente darin besteht, dass bei der gesetzlichen Rente die Wirtschaft die Hälfte der Beiträge zahlt und bei der RiesterRente die Wirtschaft gar nichts zahlen muss? Das ist der
Grund, warum die Riester-Rente anders organisiert worden ist.
({0})
Ich gebe zu, dass es bei der Riester-Rente keinen Arbeitgeberanteil gibt.
({0})
Ich habe nicht verstanden, worauf Sie mit Ihrer Frage hinauswollen. Ich will daher mit meinen Ausführungen
fortfahren.
Die Absenkung des Versorgungsniveaus der gesetzlichen Rente - davon sprach ich gerade - ist deshalb notwendig, weil die Grundlage unseres umlagefinanzierten
Rentensystems seit Jahren einem dramatischen Wandel
unterworfen ist: auf der einen Seite die steigende Lebenserwartung - Stichwort: Rentenbezugsdauer - und
auf der anderen Seite die sinkende Geburtenrate. Ohne
die Reformen, die wir vollzogen haben, würde unsere
gesetzliche Rentenversicherung über kurz oder lang zahlungsunfähig werden. Mit anderen Worten: Durch das
bewusst herbeigeführte Absinken des Rentenniveaus haben wir überhaupt erst dafür gesorgt, dass zukünftige
Rentnergenerationen aus der gesetzlichen Rentenversicherung eine Rente beziehen können.
({1})
Das hat zu einem Paradigmenwechsel geführt. Die Altersversorgung wird zukünftig auf drei Säulen beruhen
müssen: auf der gesetzlichen Rente, der privaten und der
betrieblichen Altersvorsorge.
Das zweite Problemfeld, mit dem wir uns natürlich
beschäftigen müssen, ist, dass die Zahl der Menschen
mit geringem Einkommen zunimmt. Nach dem Äquivalenzprinzip bedeuten niedrige Löhne auch niedrige Rentenansprüche. Die Zahl der Menschen mit Brüchen in
der Erwerbsbiografie nimmt zu, und die Zahl der Selbstständigen und Scheinselbstständigen ohne irgendeine
Altersvorsorge steigt.
({2})
Herr Kollege Amann, ich möchte Sie noch einmal unterbrechen. Der Kollege Spieth möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Bitte.
Bitte schön.
Herr Kollege Amann, Sie sagten, dass die gesetzliche
Rentenversicherung angesichts der demografischen Entwicklung und der Einkommensentwicklung zukünftig
nicht mehr in der Lage gewesen wäre, Rentenzahlungen
zu gewährleisten. Sind Sie wirklich so vermessen, zu behaupten, dass diejenigen, die auf der Grundlage von umfassenden Studien 1989, und zwar ausgerechnet am
9. November 1989, das Rentenreformgesetz verabschiedet haben, genau darauf keine Rücksicht genommen haben? Mit Projektion auf das Jahr 2030 ist damals gesagt
worden: Wir machen eine Rentenreform - sie ist übrigens 1992 wirksam geworden -, damit wir in Zukunft einen Beitrag in Höhe von 28 Prozent fordern können,
aber paritätisch finanziert, von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu je 14 Prozent. In der Konsequenz sollte,
auch unter Berücksichtigung der demografischen Entwicklung, eine lebensstandardsichernde Rente bezahlbar
sein. Das war damals der einheitliche Wille des Deutschen Bundestages. Das wurde am 9. November 1989
beschlossen.
Sind Sie nicht der Auffassung, dass durch die massiven Veränderungen, die damals im Rentenrecht stattgefunden haben, eine lebensstandardsichernde Rente hätte
gewährleistet werden können? Sind Sie nicht der Auffassung, dass Sie mit der Einbeziehung der Riester-Rente
am Ende zwar auch einen Beitragssatz von 28 Prozent
erreichen werden, der Arbeitgeberbeitrag zur paritätisch
finanzierten Rente, die nicht mehr armutsfrei ist, aber
nur noch 11 Prozent beträgt? Der Arbeitnehmer muss
17 Prozent leisten, nämlich 11 Prozent für die gesetzlichen Rentenversicherung und 6 Prozent für die private
Absicherung. Sind Sie nicht auch der Auffassung, dass
es nahe am Betrug der Öffentlichkeit ist, wenn man
heute behauptet, die Rentenreform von 1992 wäre nicht
lebensstandardsichernd gewesen und hätte all diese
Aspekte nicht hinreichend berücksichtigt?
({0})
Ich glaube, Sie haben gerade die Redezeit Ihres Kollegen überschritten, dem offiziell Redezeit eingeräumt
wurde.
Ich bleibe bei meiner Meinung: Aufgrund des demografischen Wandels käme das umlagefinanzierte System
sehr wohl in Probleme und wäre auf Dauer nicht finanzierbar. Natürlich gibt es Alternativen zur Absenkung
des Rentenniveaus. Man kann natürlich auch den Beitragssatz entsprechend in die Höhe schrauben. Ich
glaube aber, dass das keine kluge Entscheidung wäre.
({0})
Da gibt es Grenzen, weil die Lohnnebenkosten eine
Rolle spielen und Arbeit unter Umständen unbezahlbar
machen. Wenn die Lohnnebenkosten steigen, steigt ja
nicht nur die Belastung der Arbeitgeber, sondern auch
die Belastung des einzelnen Arbeitnehmers, der das auch
bezahlen muss.
({1})
Es kann doch nicht sein, dass zukünftige Beitragszahler quasi zu Sklaven zukünftiger Rentnergenerationen
werden und deren Rente bezahlen müssen. Da es für die
Höhe des Rentenversicherungssatzes Grenzen gibt, ist
Ihre Alternative kein gangbarer Weg.
({2})
Wir müssen sehr wohl darüber nachdenken, wie wir
Altersarmut in Zukunft verhindern können. Was ist notwendig? Aufgrund der Kopplung von Löhnen und Renten - diese Kopplung ist sehr sinnvoll, auch wenn der
Abgeordnete Lafontaine in der gestrigen Aussprache
meinte, diesen Zusammenhang ignorieren zu können; sie
ist sinnvoll, weil Löhne und Renten die Einnahme- und
Ausgabenseite desselben Systems darstellen - ist die
wichtigste Maßnahme zur Verhinderung von Altersarmut eine gute Wirtschaftspolitik, die für Wachstum und
Beschäftigung sorgt. Hier hat diese Regierung einige Erfolge vorzuweisen. Denn die daraus resultierenden
Lohnsteigerungen führen auf der einen Seite zu mehr
Einnahmen der Rentenversicherung und auf der anderen
Seite zu höheren individuellen Rentenansprüchen.
Es ist nicht Aufgabe der Politik, in Tarifverhandlungen einzugreifen. Dennoch wünsche ich den Gewerkschaften von dieser Stelle aus viel Erfolg für ihre Tarifverhandlungen in diesem Jahr. Angesichts des enormen
Anstiegs der Unternehmensgewinne und der Managergehälter in der jüngsten Zeit ist sehr wohl ein finanzieller
Spielraum vorhanden, um die Arbeitnehmer am Wirtschaftsaufschwung zu beteiligen.
Genauso wichtig, um Geringverdiener vor Altersarmut zu schützen - um die geht es in dem Antrag -, ist
natürlich - da hatte Kollege Anton Schaaf gestern vollkommen recht, Herr Dr. Kolb - die Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns.
({3})
Ich wiederhole: Höhere Löhne führen zu höheren Rentenansprüchen.
({4})
All das sucht man im Antrag der FDP vergebens.
Stattdessen verstärken Sie die Verunsicherung der Menschen, denen in unverantwortlichen und schlecht recherchierten Medienberichten suggeriert wird, die private
Altersvorsorge in Form von Riester-Verträgen lohne sich
nicht für Geringverdiener. Dabei ist die staatliche Förderung bei der Riester-Rente gerade für Geringverdiener
besonders attraktiv. Die Kombination von gesetzlicher
Rentenversicherung, Riester-Vertrag und einer betrieblichen Altersvorsorge wird verhindern, dass Menschen in
Altersarmut geraten.
({5})
Herr Kollege Amann, es droht eine dritte Zwischenfrage. Herr Kollege Rohde möchte Ihnen diese stellen.
Ja, gerne.
Bitte schön.
Vielen Dank. - Herr Kollege Amann, Sie haben gerade von schlecht recherchierten Medienberichten gesprochen. Es gab mehrere Medienberichte, zum Beispiel
von Plusminus und Monitor.
({0})
Diese Kritik wurde von den Magazinen zurückgewiesen.
Davon einmal abgesehen, wir haben bereits zwei Monate vorher eine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet und eindeutige Aussagen erhalten, dass hier ein Problem besteht.
({1})
Die Frage, die Herr Gysi aufgeworfen hat und die auf
unserem Antrag basiert, lautet: Soll es möglich sein, dass
jemand, der eine Riester-Rente abschließt, später genauso viel hat wie jemand, der keine Riester-Rente abschließt? Das ist die Kernfrage. Die Abgeordneten der
SPD und auch der Arbeitsminister sind der Beantwortung dieser Frage bisher ausgewichen.
({2})
Deswegen frage ich Sie noch einmal ganz deutlich: Wie
stehen Sie zu dieser Kernfrage?
({3})
Wenn ich einmal davon ausgehe, dass die FDP nicht
nur die Interessen der Versicherungswirtschaft vertritt
- das würde ich Ihnen auch nie unterstellen -,
({0})
dann müssen Sie, wenn Sie die Riester-Rente bei der
Einkommensanrechnung nicht berücksichtigen, aufgrund des Grundsatzes der Gleichbehandlung alle anderen Sparformen konsequent genauso behandeln.
({1})
Dann dürfen Sie private Sparkonten, die Betriebsrente,
das Häuschen, das jemand hat, und die Aktien, die er
sich vielleicht im Laufe seines Lebens für die Altersvorsorge gekauft hat, nicht berücksichtigen. Wenn Sie das
alles nicht berücksichtigen, dann verwandeln Sie die
Grundsicherung im Alter zu einer bedarfsunabhängigen
Grundrente.
({2})
Das ist ein völlig anderes Konzept als das, das wir heute
haben. Das kann man wollen; aber dann sollten Sie das
auch sagen. Sie sollten den Menschen dann auch sagen,
was das kostet. Das ist der falsche Weg.
({3})
- Aus meiner Sicht schon.
Die Grundsicherung ist keine allgemeine Grundrente,
Herr Rohde, sondern eine bedarfsorientierte Transferleistung, die denen helfen soll, die es aus eigener Kraft
nicht schaffen. Wir Sozialdemokraten stehen zu dieser
gesellschaftlichen Solidaritätsleistung. Ja, wir haben sie
sogar zusammen mit den Grünen im Jahr 2003 eingeführt.
Aber die Forderung in Ihrem Antrag, bei der Bedürftigkeitsprüfung die private oder betriebliche Altersvorsorge nicht oder zumindest nur teilweise zu berücksichtigen, stellt - das habe ich gerade versucht zu sagen - das
Nachrangigkeitsprinzip unseres Sozialstaats auf den
Kopf. Denn diese Forderung räumt der aus Steuermitteln
finanzierten Fürsorgeleistung Vorrang ein vor der Eigenverantwortung des Einzelnen. Wenn man dies konsequent zu Ende denkt, gibt es überhaupt keinen Grund, eigenverantwortlich für seinen Lebensunterhalt zu sorgen,
solange es die Möglichkeit des Bezugs von Transferleistungen gibt.
Da sich die FDP in dieser entscheidenden Frage erstaunlicherweise mit der Linkspartei trifft und auf derselben Linie denkt
({4})
- Sie haben die gleiche Gedankenwelt wie die Linkspartei -,
({5})
erlauben Sie mir als Sozialdemokrat zum Abschluss einen gut gemeinten Rat: Ich weiß, dass es in Ihrer Partei
derzeit eine für mich durchaus nachvollziehbare große
Unzufriedenheit mit dem derzeitigen Parteivorsitzenden
Guido Westerwelle gibt.
({6})
Ich rate Ihnen dennoch, ihn nicht durch Oskar
Lafontaine zu ersetzen.
Danke.
({7})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Jörg Rohde von der FDP-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Als Erstes muss ich
den Vorwurf zurückweisen, dass wir mit Herrn
Westerwelle unzufrieden sind.
({0})
Ich möchte daran erinnern, dass wir gerade über einen
Antrag diskutieren, der von der FDP-Bundestagsfraktion
unter Führung von Guido Westerwelle erarbeitet worden
ist. Wir haben diesen Antrag im November letzten Jahres
gemeinsam verabschiedet. Das bedeutet, dass wir als
Gesamtfraktion hinter unserer Forderung stehen. Das
deckt sich nicht mit dem Populismus der Linksfraktion.
Vielmehr handelt es sich um einen sachorientierten Vorschlag, wie in einer speziellen Frage, deren Beantwortung Sie eben ausgewichen sind, verfahren werden
könnte.
Ich möchte einen weiteren wesentlichen Unterschied
herausstellen: Bei der gesetzlichen Rentenversicherung
handelt es sich um eine Pflichtversicherung, während die
anderen Elemente, über die wir diskutieren, freiwilliger
Natur sind.
({1})
Wir brauchen einen Freibetrag, um einen Anreiz zu
schaffen, damit die Leute freiwillig vorsorgen.
({2})
Auf diese Fragen hätte ich von den Vertretern der Regierungsparteien gerne Antworten gehört.
Vielen Dank.
({3})
Herr Amann, wollen Sie erwidern? - Bitte schön.
({0})
Einen nicht unbeträchtlichen Teil Ihrer Kurzintervention haben Sie dazu genutzt, uns klarzumachen, wie zufrieden Sie mit Guido Westerwelle sind;
({0})
das nehme ich zur Kenntnis. Da ja immer böse Berichte
in den Zeitungen stehen, scheint es Ihnen ein großes Anliegen zu sein, uns das mitzuteilen.
Zum inhaltlichen Teil Ihrer Kurzintervention. Ich
könnte Ihnen meine Rede jetzt noch einmal vorlesen; ich
weiß nicht, ob der Herr Präsident das zulassen würde.
Ich überlasse es meinen beiden Kollegen, die nach mir
sprechen werden, Ihnen noch einmal zu erklären, warum
das, was Sie vorschlagen, nicht sinnvoll ist.
({1})
Jetzt hat das Wort die Kollegin Christine Scheel vom
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte hervorheben,
({0})
dass wir die Einführung der Grundsicherung im Alter
({1})
deswegen massiv unterstützt haben, weil dadurch verschämte Altersarmut bekämpft werden kann. Menschen,
die ins Rentenalter kommen, werden angeschrieben und
darauf aufmerksam gemacht, dass sie möglicherweise
einen Anspruch auf Grundsicherung im Alter haben. Das
war ein Riesenfortschritt, den wir in diesem Hause gemeinsam beschlossen haben.
({2})
Der zweite Erfolg ist, dass heute jeder Einzelne immer wieder Mitteilungen bekommt, denen er entnehmen
kann, wie hoch seine Versorgungsansprüche im Alter
sind, sodass er sich darauf einstellen kann, zusätzlich
vorsorgen zu müssen; auch das ist ein Riesenfortschritt.
Dadurch wird gewährleistet, dass im Alter keine große
Überraschung in der Form auf einen zukommt, dass man
dann denkt: Um Himmels willen, ich habe mit etwas
ganz anderem gerechnet! - Vielmehr wird man jetzt kontinuierlich unterrichtet und kann sich auf das, was einen
erwartet, einstellen.
Der dritte Punkt ist, dass bis auf die Linkspartei alle
wissen, dass wir aufgrund der demografischen Entwicklung
({3})
und in Anbetracht der Frage, welche Beitragssätze in unserer Marktwirtschaft zumutbar sind,
({4})
um die vorhandenen Arbeitsplätze erhalten zu können,
gemeinsam eine Stärkung der privaten und der betrieblichen Altersvorsorge beschlossen haben.
Frau Kollegin Scheel, Herr Spieth würde auch Ihnen
gerne eine Zwischenfrage stellen. - Sie wollen das
nicht?
Nein. Da ich diese Debatte aufmerksam verfolgt
habe, habe ich gehört, was er vorhin gesagt hat. Ich vermute, dass er jetzt wieder darlegen will, wie die Situation 1989 war. Dieses Argument kenne ich schon. Aus
diesem Grunde möchte ich gerne mit meinen Gedanken
fortfahren.
({0})
Wichtig ist: Die private und die betriebliche Altersvorsorge müssen stark sein. Sie müssen in Zukunft vor
allem für junge Leute eine hohe Relevanz haben, damit
sie sich im Alter einen bestimmten Lebensstandard leisten können und nicht nur auf die Leistungen der gesetzlichen umlagefinanzierten Rentenversicherung angewiesen sind. Diese Meinung teilen bis auf die Linkspartei
alle Fraktionen hier; das sehe ich am Nicken der Kollegen.
Das Handelsblatt hat gestern noch etwas anderes geschrieben, lieber Kollege Brauksiepe: „Koalition bangt
um Ruf der Riester-Rente“. In der Tat besteht große Verunsicherung darüber, ob es Sinn macht, eine RiesterRente abzuschließen. Doch wie die Koalition immer
sagt, brauchen wir die Bereitschaft der Leute, für das Alter zusätzlich vorzusorgen. Deshalb ist es ein Riesenproblem, wenn wir eine solche Debatte haben.
Ich teile ein Stück weit die Zielsetzung des FDP-Antrages.
({1})
Die Altersvorsorge muss für Bürger und Bürgerinnen
mit kleinem Einkommen in der Tat attraktiver gemacht
werden; das ist überhaupt keine Frage.
({2})
Der konkrete Vorschlag der FDP löst bei uns allerdings
keine Begeisterung aus.
({3})
Wir haben die komplizierten Hinzuverdienstregelungen
beim Arbeitslosengeld II immer kritisiert. Jetzt wollen
Sie diese komplizierten Hinzuverdienstregelungen auf
die private Altersvorsorge übertragen. Das kann es auch
nicht sein. Deswegen trägt dieser Vorschlag zur Verwirrung bei.
({4})
Wir Grünen haben uns immer für die Riester-Rente
eingesetzt. Damit wurde ein Kulturwandel, ein Bewusstseinswandel in der Bevölkerung ausgelöst. Mittlerweile
sind, wie gesagt, 10 Millionen Riester-Verträge abgeschlossen. Das ist auch gut so. Aber ich sage an dieser
Stelle ganz bewusst auch: Ich verstehe die Empörung,
die durch die kritischen Fernsehsendungen in der Bevölkerung ausgelöst wurde, verstehe, dass man sich darüber
wundert, dass man, obwohl man bereit ist, zusätzlich etwas für das Alter zu tun, später nichts mehr davon haben
soll. Das ist das Problem, mit dem wir uns hier auseinandersetzen müssen.
({5})
Aus diesem Grund haben wir, wie Sie wissen, schon
während der rot-grünen Regierungszeit das Altersvorsorgekonto vorgeschlagen. Wir haben damals in den zuständigen Ausschüssen lange darüber diskutiert, wie ein
solches Altersvorsorgekonto funktionieren kann, auf das
man alle möglichen Verträge - die Riester-Rente, aber
auch andere Produkte - übertragen kann und das dann
bis zu einer bestimmten Größenordnung steuerfrei gestellt wird.
({6})
Als Größenordnung schwebten uns 3 000 Euro vor; das
liegt über dem heutigen Niveau. Wir haben vorgeschlagen, dass das dann geschützt ist, weil es sich um eine
freiwillige private Altersvorsorge handelt. Sie ist nicht
verpflichtend.
({7})
Das ist die Idee, die wir hier eingebracht haben, weil wir
sehen, dass wir angesichts des rasanten Wandels in der
Arbeitswelt immer unstetere und unsicherere Erwerbsbiografien haben.
Die Vorsorgesparer fragen sich natürlich zu Recht, ob
es sich überhaupt lohnt, zusätzlich etwas zurückzulegen,
wenn dies am Ende voll mit der Grundsicherung verrechnet wird; denn zusätzliche Vorsorge ist ja nicht zum
Nulltarif zu haben.
({8})
Die Stiftung Warentest hat letztens klassische Rentenversicherungen verglichen. Wer 25 Jahre lang jedes Jahr
rund 1 000 Euro einzahlt, kann mit einer garantierten
Rente von 120 Euro im Monat rechnen. Ich denke, wir
sollten in den Ausschüssen durchaus überlegen, wie wir
mit solchen Zusatzrenten umgehen.
({9})
Schwierig wird es für Bürger und Bürgerinnen mit
kleinem Erwerbseinkommen; sie werden trotz zusätzlicher Altersvorsorge häufig kaum über das Niveau der
Grundsicherung hinauskommen. Gerade für diese Bürger und Bürgerinnen haben wir die Riester-Rente eingeführt, bei der für die kleinen Einkommen übrigens Förderquoten von bis zu 90 Prozent vorgesehen sind - zu
Recht.
({10})
Wir müssen den Leuten aber sagen, dass es sich auch bei
sehr niedrigen und unsteten Erwerbseinkommen durchaus rechnet, ein paar Euros für das Alter beiseitezulegen.
Das ist der Punkt. Man kann nicht sagen: Pech gehabt,
selbst schuld! Deswegen haben wir das Altersvorsorgekonto vorgeschlagen.
Klar ist aber auch, dass wir das Problem der Altersarmut nicht allein mit einer Begrenzung der Verrechnung
der Altersvorsorge mit der Grundsicherung lösen können
({11})
und dass aus nicht existenzsichernden Löhnen keine
Renten folgen können, die über der Grundsicherung liegen - auch dann nicht, wenn man 50 Jahre lang arbeitet.
({12})
Darum brauchen wir eine Entlastung der Empfänger
kleiner Einkommen. Dazu haben wir die Einführung unseres Progressivmodells - auch das hat etwas damit zu
tun - und gleichzeitig eine höhere Bewertung der Rentenbeiträge von Geringverdienern gefordert.
({13})
Wir fordern: Die umlagefinanzierte gesetzliche Rente
muss sicherer werden. Das heißt, wir brauchen ein anderes Bewertungssystem.
({14})
Mit der Halbierung der Rentenbeiträge für Langzeitarbeitslose hat die Regierung im Übrigen dazu beigetragen, dass zukünftig mehr Bürgerinnen und Bürger im
Alter Grundsicherung beziehen müssen. Sie haben das
mit ausgelöst. In Zukunft werden also leider mehr als
3 Millionen Menschen Grundsicherung im Alter beziehen. Ich finde, wer Altersarmut heute und in Zukunft
vermeiden will, muss heute die entsprechenden Weichen
stellen.
Wir Grünen wollen die Rentenbeiträge von Geringverdienern höher bewerten und gute und attraktive Bedingungen für die betriebliche und private Altersvorsorge schaffen; denn die Bürgerinnen und Bürger - vor
allem die jungen Leute - müssen bereits heute vorsorgen. Wer eine gute Altersvorsorge will, braucht einen
langen Atem.
Danke schön.
({15})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Frank Spieth. Ich erkläre aber gleichzeitig,
dass ich danach wegen der fortgeschrittenen Zeit an diesem Freitagnachmittag keine weiteren Kurzinterventionen mehr zulassen werde. - Herr Spieth.
Danke, Herr Präsident. - Frau Scheel, ich bedauere
es, dass Sie mir nicht die Möglichkeit eingeräumt haben,
eine Zwischenfrage zu stellen, sodass ich mich zu einer
Kurzintervention melden musste; denn jetzt ist mein
Beitrag etwas aus dem Zusammenhang gerissen.
Sie haben vorhin in etwa Folgendes gesagt: Jeder, der
von seinem Rentenversicherungsträger eine Rentenauskunft erhält, kann anhand der Rentenauskunft nachvollziehen, welche Rente er auf der Grundlage seiner geleisteten Beiträge im Rentenalter haben wird. - Bis dahin ist
das gut und richtig.
Sie haben dann aber behauptet, dass der Betroffene
daraus ableiten kann, ob er mit seinem späteren Einkommen möglicherweise unterhalb der Grundsicherung liegen wird, weshalb er Grundsicherungsleistungen erhalten wird.
({0})
- Sie haben aber den Eindruck erweckt. - Mit Verlaub:
Das ist aus der Rentenauskunft nicht zu erkennen.
({1})
Die zusätzlichen Einkommen, die möglicherweise neben
den aus den Beitragszahlungen resultierenden Rentenleistungen entstehen, sind aus der Rentenauskunft nicht
zu ersehen. Insofern kann der oder die Betreffende aus
der Rentenauskunft auch nicht erkennen, ob er oder sie
ergänzende Leistungen zur Grundsicherung erhalten
wird.
Ich will nur dieser Aussage hier widersprechen, damit
in der Öffentlichkeit, bei den Menschen draußen am
Bildschirm, kein falscher Eindruck entsteht.
Frau Kollegin Scheel, zur Erwiderung. - Bitte.
Herr Kollege Spieth, entweder haben Sie mich bewusst falsch verstehen wollen, oder Sie haben mir nicht
zugehört.
({0})
Ich habe gesagt, dass es gut ist, dass die Menschen
diese Auskunft bekommen. Sie haben jetzt ja auch bestätigt, dass das eine gute Sache ist. Dann habe ich gesagt,
dass man aufgrund der Auskunft erkennen kann, wie die
eigene Situation ist. Es ist nicht Aufgabe der Rentenversicherer, in diesem Stadium darauf hinzuweisen, ob jemand noch etwas tun soll oder nicht. Darum geht es
überhaupt nicht. Es geht darum, dass die Menschen einschätzen können, welche Ansprüche sie aus der gesetzlichen Rentenversicherung bislang erworben haben nicht mehr und nicht weniger.
Das Wort hat jetzt der Kollege Max Straubinger von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir diskutieren in dieser Woche bereits das dritte Mal
über die Altersvorsorge der Menschen in unserem Land.
({0})
Damit wiederholt sich manches. Das kann man den
Menschen aber natürlich nicht ersparen. Es gibt immer
wieder verschiedene Anträge dazu, und es ist richtig,
dass man darüber diskutiert.
Der heutige Antrag der FDP-Bundestagsfraktion,
Riester-Renten-Sparverträge und auch die weitere private und betriebliche Altersvorsorge gerade bei der
Grundsicherung nur zum Teil anzurechnen bzw. hier einen Freibetrag vorzusehen, mag insgesamt natürlich sehr
populär sein.
({1})
Wenn jemand besser gestellt wird, ist es immer gut.
Trotzdem verweise ich darauf, dass wir an den
Grundfesten unseres Sozialstaates und den daraus abgeleiteten Prinzipien festhalten sollten;
({2})
denn nach unserer Meinung wird dies auch in die Zukunft hinein tragen. Das Äquivalenzprinzip in der gesetzlichen Rentenversicherung, das heute gerade von der
Linken wieder angezweifelt worden ist, ist aufrechtzuerhalten. In Bezug auf die soziale Unterstützung der
Menschen ist auch das Nachrangigkeitsprinzip aufrechtzuerhalten. Schließlich ist dies eine Grundvoraussetzung
des Sozialstaates.
Die Menschen sollen selbst für ihr Leben im Alter
sorgen können. In diese Lage müssen wir sie versetzen.
Dazu hat die Bundesregierung in den vergangenen zwei
Jahren einen erheblichen Beitrag geleistet: mit dem Abbau der Arbeitslosigkeit, der Stärkung der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland und den daraus erzielten Chancen für die Menschen in Deutschland.
({3})
Die Begründung der FDP ist, hiermit möglicher Altersarmut vorzubeugen. Ich möchte den Faktor der Altersarmut nicht geringschätzen. Dass wir aber in einem
der reichsten Länder der Welt permanent über Altersarmut bzw. über Armutsgrenzen und dergleichen mehr
diskutieren, wird in vielen Teilen Europas garantiert
nicht verstanden. Trotzdem ist es natürlich die Aufgabe
des Sozialstaates, die entsprechenden unterstützenden
Leistungen zu gewähren; Kollege Brauksiepe hat das ja
bereits dargestellt.
Vor allen Dingen sollten wir nicht von Armut sprechen, wenn es um die Grundleistungen für Menschen,
also die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit, geht. Wir geben den Menschen ein Gerüst, eine
unterste Auffanglinie, damit sie nicht in völlige Armut
fallen, sondern auch im Alter ein menschenwürdiges
Auskommen haben. Das ist das Prinzip unseres Sozialstaates. Dies ist meines Erachtens hier besonders hervorzuheben.
Werte Damen und Herren, ich halte es auch für bedeutsam, darauf hinzuweisen, dass die Bundesregierung
und die sie tragenden Fraktionen bereits einiges dazu
beigetragen haben:
({4})
durch die Stärkung der betrieblichen Altersversorgung,
den Anreiz der Entgeltumwandlung - dies wird auch
weiter fortgeführt - und natürlich durch die steuerliche
Förderung, die mit dem Riester-Sparen und der RürupRente - sie wurde heute überhaupt noch nicht genannt verbunden ist. Mit diesen drei Sicherungssystemen ist es
den vielen Menschen in unserem Land, die jeden Tag
hart arbeiten, möglich, über die sogenannte Altersarmutsgrenze zu gelangen bzw. die Grundsicherung
nicht in Anspruch zu nehmen.
Frau Kollegin Scheel hat bereits deutlich gemacht,
was private Rentenversicherungen zu leisten imstande
sind. Sie hat nur vergessen, auch die zu erwartenden Gewinne anzuführen; denn damit wird natürlich ein weit
höheres Rentenniveau erzielt.
({5})
Wenn man bei den Riester-Sparverträgen die Gewinnerwartung mit einrechnet, sieht man, dass ein Durchschnittsverdiener, der in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlt und zugleich einen Riester-Vertrag
abgeschlossen hat, bereits nach 20-jähriger Beitragszahlung im Alter eine Anwartschaft erreichen wird, die über
der sogenannten Grundsicherung liegt. Dabei sind noch
nicht einmal die betriebliche Altersversorgung, private
Sparvermögen und andere möglicherweise über die
lange Lebensarbeitszeit hinweg erworbene Ansprüche
mit berücksichtigt. Dies herauszustellen, ist sehr bedeutsam. Von daher darf man nicht ständig von Armut reden.
({6})
Ich bin schon bestürzt über diese Auseinandersetzung, insbesondere darüber, wie sie von den Linken geführt wird. So hat Herr Dr. Gysi heute in diesem Zusammenhang wieder ausgeführt, dass Riester-Verträge
Anlagebetrug seien.
({7})
Das stimmt in keiner Weise. Im Gegenteil: Riester-Verträge werden so weit wie möglich gefördert, mit bis zu
über 90 Prozent Förderleistung durch Steuergelder. Viele
Vorrednerinnen und Vorredner haben das bereits zum
Ausdruck gebracht. Steuergelder werden nicht nur von
Privatpersonen gezahlt, sondern auch von Unternehmen,
Herr Dr. Gysi. Deshalb ist hier festzustellen, dass auch
die Wirtschaft mit ihren Steuerlasten einen enormen Beitrag zur Förderung der Riester-Rente leistet.
({8})
Aber wenn hier schon von Betrug die Rede ist, dann
möchte ich auch anführen, dass die Betrogenen in unserem Land die Menschen in der ehemaligen DDR unter
dem SED-Regime waren. Kollege Brauksiepe hat dargelegt, dass Honecker nach 40 Jahren Kommunismus die
Mindestrente auf 330 Ost-Mark angehoben hat. Nur hat
der Kollege Brauksiepe eines dabei vergessen, nämlich
dass sich die Bürgerinnen und Bürger in der DDR dafür
nichts kaufen konnten.
({9})
Das ist entscheidend. Deshalb waren sie die Betrogenen.
Erst unser gesetzliches Rentenversicherungssystem
hat auch für die Menschen im Osten Deutschlands eine
gute, existenzsichernde, sogar weit über das Existenzminimum hinausgehende Grundlage geschaffen. Wir
können gemeinsam stolz darauf sein, dass wir das erreicht haben.
({10})
Deshalb kann ich nur dazu aufrufen, die Verunsicherung der Menschen zu beenden und sie aufzufordern, Altersvorsorge zu betreiben, mit Riester-Sparverträgen, mit
Rürup-Sparverträgen, mit Lebensversicherungen oder
anderen Anlageformen. Uns geht es darum, diese Vielfalt zu erhalten. Auch in diesem Sinne ist der Antrag der
FDP-Bundestagsfraktion kontraproduktiv.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort hat der Kollege Lothar Binding von der
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir diskutieren heute über eine sehr ernste
Frage, nämlich darüber, ob es nicht einzelnen Menschen
in unserem Land trotz einer klugen Gesetzgebung sehr
schlecht gehen kann. Wir müssen feststellen: Wir werden keine Gesetzgebung finden, bei der es allen Menschen immer gleich gut geht und die für alle Menschen
in gleicher Weise gerecht ist. Wir müssen aber prüfen, ob
die Gesetzgebung auf Gerechtigkeit angelegt ist.
Wir müssen erkennen, dass es einigen Menschen sehr
schlecht geht. Deshalb müssen wir prüfen, ob wir ein
Gesetz einführen sollten, um dies in Einzelfällen zu
überwinden. Dabei müssen wir nach dem Preis fragen.
Die FDP macht einen Vorschlag, der einen extrem hohen
Preis hat, nämlich den Preis, dass das Sozialstaatsprinzip
der Nachhaltigkeit aufgegeben werden müsste. Das hätte
zur Folge, dass es künftig nicht nur Einzelnen schlecht
geht oder sie ungerecht behandelt werden, sondern es
darüber hinaus auch vielen anderen sehr viel schlechter
geht als heute. Deshalb ist der Ansatz der FDP nicht gut.
Ich warne alle Leute, denen es schlecht geht, davor, sich
darauf zu verlassen, dass gerade die FDP die Armut zu
überwinden hilft.
({0})
Lothar Binding ({1})
Das halte ich für ein gewisses Problem. Wenn man das
genauer untersucht, findet man möglicherweise heraus,
dass Sie langfristig doch auf dem Weg zum Bürgergeld
sind und die sonstigen Risiken privatisieren wollen.
({2})
Das ist etwas, was wir natürlich nicht wollen.
Niemand kann behaupten, wir hätten kein Demografieproblem. Wir haben ein großes Demografieproblem,
aber das ist nicht unser einziges Problem.
({3})
Was wir nicht haben, ist ein Wohlstandsproblem. Im
Durchschnitt geht es allen wunderbar. Wir haben allerdings ein Problem mit der Verteilung von Produktivität;
das sehe auch ich so. Die Frage ist nur, ob man die Produktivität über Rentenversicherungsbeiträge und ein
Rentensystem so verteilen kann, dass es anschließend
gerecht zugeht. Das zu glauben, ist verrückt; denn das
wäre so etwas wie der Versuch, eine Länge in Kilogramm zu messen. Das führt in der Regel nicht zu guten
Ergebnissen. Deshalb ist das der falsche Weg. Wir müssen die Verteilung der Produktivität auf eine andere
Grundlage stellen: Sie muss auf der gerechten Verteilung
von Lohn und Arbeit basieren.
Was Ihre Äußerung angeht, Herr Gysi, 28 Prozent
Rentenversicherungsbeiträge seien möglich, das sei kein
großes Problem, sehe ich eine große Gefahr. Das ist leider nicht ganz symmetrisch. Wenn die Lohnnebenkosten
in der Weise angehoben werden, dann erzeugt das Arbeitslosigkeit ohne Ende. Wenn dann später die Versicherungsbeiträge wieder gesenkt werden, dann schafft
das noch längst keine Arbeit.
({4})
Diese Asymmetrie birgt ein sehr großes Problem.
Ihre zweite Idee zeigt, dass Sie möglicherweise bezogen auf die unterschiedliche Verantwortung in den Alterskohorten die langfristigen Überlegungen aus dem Blick
verloren haben. Wenn Sie jetzt die Versicherungspflichtgrenze anheben wollen,
({5})
um die Einnahmeseite zu stärken, dann sind Sie gezwungen, in Zukunft das Äquivalenzprinzip aufzugeben.
Wenn man die Menschen heute verstärkt zur Kasse
bittet, dann muss man auch damit rechnen, dass sie künftig höhere Ansprüche haben. Denn eines ist klar: Wenn
es um die Rente geht, dann reden wir eigentlich nie über
Geld. Denn das, was die gegenwärtige Generation erarbeitet, bekommt demnächst die Generation, die bisher
ihre Eltern finanziert hat, die jetzt nicht mehr arbeiten.
Was wir heute einzahlen, hat mit dem, was wir künftig
bekommen, nichts zu tun.
({6})
- Ja, von hinten durch die Brust ins Auge. Sie haben gesagt, dass Sie sich um das Niveau kümmern wollen, aber
Sie müssen auch angeben, von welchem Niveau Sie
sprechen. Man muss den Niveaubegriff definieren. Offen gestanden habe ich lieber 60 Prozent von 200 Prozent als 70 Prozent von 100 Prozent.
({7})
Man muss deutlich machen, worüber man redet. Bei der
Frage des zukünftigen Niveaus wird festgelegt, wie viel
ein Rentner bezogen auf die dann arbeitende Generation
hat. Deshalb ist es tausendmal wichtiger, sich darum zu
kümmern, dass die Menschen in Zukunft viel verdienen
und dass das Einkommen gerecht verteilt ist. Dann wird
es auch den Rentnern gut gehen. Vielleicht geht es ihnen
dann mit 30 Prozent besser als mit 50 Prozent bei einem
anderen Rentenniveau.
({8})
Das Niveau ist eine entscheidende Frage. Deshalb ist
uns die Frage der Grundsicherung sehr wichtig. Denn
wir wollen erreichen, dass keiner die Grundsicherung
braucht. Das ist das eigentliche Ziel.
({9})
Was die Grundsicherung von etwa 680 Euro monatlich
angeht - dieser Betrag steht derzeit zur Diskussion -,
({10})
wäre es eine Ungerechtigkeit, jemandem, der Renteneinnahmen, Ersparnisse oder eine Riester-Rente hat, zusätzlich 680 Euro als Grundsicherung zu gewähren. Die vorgeschlagene Änderung hinsichtlich der Anrechnung der
Riester-Rente ist insofern schlecht.
({11})
- Wie wird denn ein Freibetrag begründet? Worin liegt
der Unterschied zwischen meiner Riester-Rente und
meinem Sparbuch hinsichtlich der Anrechnungsmöglichkeiten bei meiner künftigen Rente?
({12})
Das wäre so unsystematisch, dass Sie damit ein Schlaglicht darauf werfen, wie viel Ihnen gewisse Prinzipien
des Sozialstaats wert sind.
({13})
Lothar Binding ({14})
- Darauf will ich kurz eingehen. Vielleicht wäre es sogar
gut. Wenn Sie sich mit Familien, denen es schlecht geht,
({15})
ein bisschen auskennen würden, dann wüssten Sie, dass
eine solche Familie jeden Monat aufs Neue darauf verzichtet, etwas anzusparen, und dies verschiebt, weil das
Geld zu knapp ist.
({16})
- Du mit deinen Zwischenrufen! Du hast gestern einen
Zwischenruf formuliert. Der besagte etwas ganz Schlimmes.
({17})
- Ja, das haben wir abgesprochen. Es gibt keine Debatte,
in der der Kollege Niebel keinen unanständigen Zwischenruf formuliert.
({18})
Gestern hat der Kollege Riester etwas sehr Ernsthaftes
gesagt:
Man sollte nicht immer weitere Bereiche der Erwerbsarbeit aus der Versicherungspflicht herausnehmen.
Dirk Niebel ist dazu der Zuruf „Zwangs-Riester!“ eingefallen. Die Bild-Zeitung hat schon einmal den Gedanken
mit derselben Überschrift kaputt gemacht.
Dirk, wir kennen uns gut. Deshalb möchte ich eine
persönliche Bemerkung machen: Dein Denken beruht
auf völlig anderen Grundsätzen.
({19})
Ich will das an drei Beispielen klarmachen. Du willst die
Bundesagentur für Arbeit abschaffen.
({20})
Du hast den unanständigen Vergleich zwischen der Großen Koalition und der Nationalen Front gezogen. Du
hattest auch keine Scheu, eine FDP-Zentrale im Arbeitsamt, bei deinem Arbeitgeber, aufzumachen. Wer in einem solchen Korsett denkt und hier permanent solche
Zurufe macht wie du, hat für mich unter sozialen Gesichtspunkten jede Glaubwürdigkeit verloren.
({21})
Ich möchte das gar nicht weiter vertiefen.
Sie sollten beim Alterseinkommen nicht regeln, was
Sie beim Arbeitseinkommen verweigern. Mit dieser Formel lässt sich gut beschreiben, warum Sie eine Lösung
für ein Problem vorgeben, dessen Ursachen Sie nicht bekämpfen wollen.
({22})
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Hennrich von
der CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren Kollegen! Ich darf heute zu dem
Antrag der FDP mit dem Titel „Altersvorsorge für Geringverdiener attraktiv gestalten“ sprechen. Ich habe in
dieser Woche gelesen, dass die Apotheker in NordrheinWestfalen gegen die FDP Sturm laufen. Heute liegt uns
nun ein Antrag zu den Geringverdienern vor. Verkehrte
Welt!
({0})
Ich freue mich aber, dass mittlerweile die sozialen Probleme in unserem Land auch bei der FDP angekommen
sind. Ich bedauere nur, dass in Ihrem Antrag nicht die
richtigen Relationen hergestellt wurden.
Wenn wir über das Thema Grundsicherung im Alter
sprechen, sollten wir immer bedenken, dass es um
2 Prozent der Bevölkerung geht. 98 Prozent der Bevölkerung beziehen keine Grundsicherung im Alter.
({1})
Diese Leistung ist auf die gesetzliche Rente und Eigenvorsorge - die meisten haben die notwendigen Vorkehrungen bei der Altersvorsorge getroffen - zurückzuführen. Das war Ihnen in Ihrem Antrag leider keiner
Erwähnung wert. Es ist richtig, über das Thema Altersarmut zu sprechen. Ich bin mir darüber im Klaren, dass wir
uns in Zukunft mehr Gedanken über das Rentenniveau
machen müssen, als es momentan der Fall ist, weil sich
die Erwerbsbiografien der Menschen dramatisch verändern. Aber wir sollten keine Schnellschüsse wagen. Sie
sind auf einen Zug aufgesprungen, der von Monitor und
anderen Medien in Gang gesetzt wurde.
({2})
Aber das ist keine seriöse Rentenpolitik.
({3})
Ihnen fehlt ein schlüssiges Gesamtkonzept.
({4})
Zuerst eine Bestandsaufnahme: Wir haben ein Alterssicherungssystem, das sich über Jahre und Jahrzehnte
bewährt hat. Das wird uns von der OECD ausdrücklich
bestätigt. Wir haben ein Drei-Säulen-System, einen
Dreiklang aus gesetzlicher Rente sowie privater und betrieblicher Altersvorsorge. Dieses System müssen wir
permanent nachjustieren, das will ich überhaupt nicht infrage stellen. Wir haben insbesondere in den letzten Jah14504
ren unser Augenmerk auf die Situation der Geringverdiener gerichtet. Ich möchte in diesem Zusammenhang
daran erinnern, dass im letzten Alterssicherungsbericht
ausdrücklich hervorgehoben wurde, dass das Rentenniveau für den Durchschnittsverdiener gleichbleibt und
dass es sich in den nächsten Jahren für den Geringverdiener deutlich erhöht. Vor diesem Hintergrund passt Ihr
Antrag nicht.
Ich möchte an dieser Stelle deutlich hervorheben: Sie
wollen die Altersvorsorge für Geringverdiener attraktiv
gestalten. Vor vier Wochen haben wir im Parlament die
Dauer der Förderung der betrieblichen Altersvorsorge,
die Sozialversicherungsfreiheit der Entgeltumwandlung, verlängert, und zwar unbefristet.
({5})
- Wir sind der Gesetzgeber. Dann haben wir es freiwillig
gemacht.
({6})
Wir haben des Weiteren Verbesserungen bei der
Riester-Rente vorgenommen. Deswegen können Sie uns
nicht vorwerfen, dass wir nichts für Geringverdiener tun.
Ich möchte an einem Punkt deutlich machen, wie absurd Ihr Antrag ist. Sie sagen, Geringverdiener, die in die
Riester-Rente oder in die betriebliche Altersvorsorge
einzahlen und zum Teil zu 90 Prozent vom Staat gefördert werden, sollten im Alter privilegiert werden.
({7})
- Stopp, Moment, Herr Kolb! Diejenigen, die privat mittels eines Sparbuchs sparen oder ohne staatliche Hilfe
eine Immobilie bauen und vermieten, werden bei Ihrem
Vorschlag nicht berücksichtigt. Sie werden sogar noch
einmal bestraft, weil sie mit ihren Steuern die spätere
Privilegierung mehr oder weniger fördern. Das ist das
Absurde an ihrem Vorschlag.
({8})
Ein zweiter Aspekt. In Ihrem Antrag steht nichts zum
Thema Finanzierung, keine einzige Zahl dazu, was das
den Haushalt kostet.
({9})
- Natürlich kostet es etwas. Über finanzielle Auswirkungen steht nichts in Ihrem Antrag. Das müssen Sie einmal
seriös vorrechnen.
({10})
Ein dritter Aspekt. Sie haben in Ihrem Antrag im
Grunde genommen überhaupt nicht die Nachhaltigkeit,
die Sicherheit für die Zukunft deutlich gemacht. Wir
müssen jetzt den Alterssicherungsbericht abwarten, der
im Herbst erscheinen und uns verlässliche Zahlen darüber geben wird, wie sich das Rentenniveau in Zukunft
entwickeln wird. Wir wissen doch heute schon, dass wir
mit der Situation zu kämpfen haben werden, dass uns die
Erwerbstätigen ausgehen. Wie die künftigen Erwerbsbiografien der Menschen aussehen werden, wissen wir
heute nicht. Wir brauchen junge Kräfte. Da müssen wir
das Geld hineinstecken, nicht aber in eine Alimentierung.
Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Aspekt erwähnen, auf den Sie auch keine Antwort finden: die
Nachrangigkeit.
({11})
Der Kollege Max Straubinger hat schon ganz deutlich
darauf hingewiesen. Wir haben den Grundsatz der Subsidiarität in der Sozialhilfe. Warum sagen Sie dann, dass
Sie im Bereich der Rentenversicherung den Subsidiaritätsgrundsatz aushebeln wollen, und mit welcher Begründung wollen Sie ihn in der Sozialhilfe belassen?
({12})
- Ja, aber beim Arbeitslosengeld II ist der fundamentale
Unterschied der, dass wir für die Menschen einen Anreiz
schaffen wollen, dass sie in Arbeit gehen. Diese Situation haben wir bei der Rente nicht.
({13})
Deswegen ist dies überhaupt nicht miteinander vergleichbar. Ich schlage Ihnen vor, dass Sie Ihren Antrag
in diesen vier Punkten überarbeiten. Dann können wir
vielleicht darüber diskutieren. Aber so, wie er vorliegt,
ist er vollkommen unausgereift.
Herzlichen Dank.
({14})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich dem Kollegen Rolf Stöckel von der SPDFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am
Schluss dieser Debatte hebe ich eines hervor: Dass in einigen Beiträgen die Systematik und die Prinzipien des
deutschen Sozialstaatssystems, der sozialen Sicherungssysteme beleuchtet worden sind, ist ja nicht nur lehrreich, sondern auch für diejenigen wichtig, die in der
Hektik einer solchen Debatte und mit Blick auf Einzelpunkte den Überblick verlieren. Die deutschen Sicherungssysteme waren und sind erfolgreich. Gleichwohl
müssen sie weiterentwickelt werden. Dies haben wir
nicht nur mit der rot-grünen Bundesregierung unter
Gerhard Schröder begonnen, sondern auch in der Großen Koalition mit den Kollegen der CDU/CSU sinnvoll
weitergeführt. Wir werden uns dieser Aufgabe in jedem
Jahr stellen müssen. Deswegen gibt es Evaluationen,
Statistiken und Alterssicherungsberichte.
Wir tun gut daran, dass unser Sozialstaat weiterhin
auf drei Säulen ruht: auf einer beitragsfinanzierten und
der Arbeitsleistung äquivalenten Sozialversicherung, auf
dem, was Menschen privat durch Arbeit und Sparen vorsorgen können, und auf einer steuerfinanzierten Grundsicherung, die das menschenwürdige Existenzminimum
gewährleisten muss. Darüber kann man trefflich streiten,
was wir auch tun. Daran werden wir auch in diesem Jahr
weiter zu arbeiten haben.
Aber dass diese steuerfinanzierte, bedarfsabhängige
Grundsicherung das Prinzip der Subsidiarität, der Bedarfsabhängigkeit - das sagt das Wort ja -, aber auch der
Hilfe zur Selbsthilfe und der Mitwirkungspflicht beinhaltet, ist konstitutiv dafür, dass diejenigen, die Steuern
und Beiträge zahlen, also die Stärkeren, ihre Solidarität
mit den Schwächeren dokumentieren und diesen Sozialstaat seit Jahrzehnten mittragen. Seit 1961 gelten diese
Prinzipien der Sozialhilfe.
Wir haben mit der Grundsicherung im Alter einen
Grundsatz der Subsidiarität verlassen. Bei der Unterhaltspflicht wird das Einkommen oder das Vermögen der
Kinder unterhalb eines Betrages von 100 000 Euro nicht
angerechnet. Das begründet auch die Unterschiede zu
dem anderen Grundsicherungssystem für Erwerbsfähige
und dem System der Sozialhilfe. Diejenigen, die nicht
unter diese beiden Systeme fallen, sind nur noch eine geringe Anzahl. Ich glaube, dass wir deutlich machen
müssen, dass wir auf der einen Seite hier dem Subsidiaritätsprinzip Rechnung tragen, auf der anderen Seite aber
nicht anfangen, an allen möglichen Stellen dieses
Grundsicherungssystems das Subsidiaritätsprinzip einzuführen. Wir könnten auch über die Anrechnung von
Kindergeld beim ALG II sprechen. Wir haben heute
schon über die Anrechnung diverser anderer Alterssicherungsarten gesprochen.
Wenn Sie, Herr Kolb, sagen, das Bürgergeld wäre
nicht gut, dann kommen wir zum Kern der Sache.
({0})
Auch mit anderen Anträgen in diesem Hause werden das
Prinzip der Grundsicherung und das Prinzip der Subsidiarität infrage gestellt, und zwar entweder mit Blick auf
eine besonders gut verdienende Wählergruppe oder auf
die Parteiklientel oder auf die Älteren. Das soll schon in
allen Fraktionen vorgekommen sein.
({1})
Das alles trägt dazu bei, nicht nur die Menschen zu verunsichern, sondern auch insgesamt die Solidarität dieses
Systems zu untergraben. Letztendlich handelt es sich bei
dem ausreichenden, bedarfsunabhängigen Grundeinkommen bzw. dem Bürgergeld um Hirngespinste und soziale Utopien. Das wird etwa von den Grünen, der FDP
und von den Linken - ich erinnere auch noch an das Modell von Althaus von der CDU - in ganz unterschiedlicher Weise vorgetragen, wobei eines allen Vorschlägen
bzw. Modellen, die gemacht werden, innewohnt, nämlich dass die Finanzierbarkeit nicht nachgewiesen und in
keiner Weise sozial gerecht dargestellt werden kann.
Letztendlich führt das FDP-Modell des Bürgergeldes zu
einer schlechten Absicherung und zu einem schlechten
Grundeinkommen, das nicht armutsfest ist, es sei denn,
Sie erhöhen die Steuern für diejenigen, die es zu finanzieren haben, so, dass alle Ihre Vorschläge zu Flattax und
Vereinfachung des Steuerrechts Makulatur werden. Diesen inneren Widerspruch Ihrer Bürgergeldträume können Sie nicht auflösen.
({2})
Letztendlich steht der Versuch dahinter, mit der attraktiven Vorstellung eines bedarfsunabhängigen Bürgergeldes oder eines Grundeinkommens, das nicht finanziert
werden kann, jedenfalls nicht sozial gerecht, den Bürgern Sand in die Augen zu streuen und alle anderen Risiken, die dieser Sozialstaat zu tragen hat, zu privatisieren.
Das machen wir Sozialdemokraten nicht mit.
({3})
Wir machen uns jetzt auch keine Gedanken beispielsweise darüber - Kollege Hennrich ist darauf eingegangen -, wenn wir über die Risiken der Altersarmut in 10,
15 oder 20 Jahren reden, welche Beträge bei einem Vermögen angerechnet werden. Wir setzen auf Aktivierung,
den Abbau von Arbeitslosigkeit, auf Qualifizierung, Bildung und gute Arbeitsbedingungen auch für diejenigen,
die jetzt gering entlohnte Dienstleistungen verrichten
und für Hungerlöhne arbeiten müssen. Die SPD und die
Gewerkschaften fordern bessere Arbeitsbedingungen,
Mindestarbeitsbedingungen, eine gerechte Entlohnung
und eine Teilhabe der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am wirtschaftlichen Wachstum und an den Produktivitätszuwächsen. Das bleibt die beste Alterssicherung. Das bleibt die beste Versicherung dafür, nicht die
steuerfinanzierte Grundsicherung in Anspruch nehmen
zu müssen.
Dass ein Magazin in einem Sender, der mit GEZ-Mitteln, also mit öffentlichen Gebühren, finanziert wird,
diejenigen, die im Moment von der GEZ-Gebühr wahrscheinlich befreit sind, die aber nicht ihr Leben lang von
der GEZ-Gebühr befreit sein sollen, verunsichert und
damit eine Kampagne fährt, die letztendlich etwas mit
der Landtagswahl in Hessen zu tun hat, finde ich schon
ziemlich abseitig.
({4})
Das gefährdet die soziale Sicherung und die Armutsbekämpfung in Deutschland mehr als alles andere.
Insofern bleiben wir dabei, dass bei der steuerfinanzierten Grundsicherung das Nachrangigkeitsprinzip
grundsätzlich erhalten bleibt und dass wir durch einen
aktivierenden und vorbeugenden Sozialstaat, gute Arbeitsbedingungen und Mindestlöhne Vorsorge betreiben
und die Menschen befähigen müssen, eigenständig, aus
eigener Kraft, zu leben. Da, wo das aufgrund von Krankheit nicht möglich ist, haben diese Menschen weiterhin
unsere Solidarität, und zwar in Form einer menschenwürdigen Grundsicherung.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7177 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Waffengesetzes und weiterer Vorschriften
- Drucksache 16/7717 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Reinhard Grindel von der
CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Waffenrecht sorgt für einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen den Interessen der legalen Waffenbesitzer einerseits, also der Jäger, der Schützen, der Sammler
historischer Waffen, und dem Interesse am Schutz von
öffentlicher Sicherheit und Ordnung andererseits. Das
Waffenrecht allein ist kein Instrument zur Eindämmung
der wachsenden Gewaltkriminalität. Es muss aber zu
seiner Bekämpfung beitragen.
Insofern bewegen wir uns mit dem Gesetz zur Änderung des Waffengesetzes nicht im politisch luftleeren
Raum, sondern wir müssen die aktuelle Debatte um die
Jugendkriminalität sehr genau im Blick haben. Deshalb
will ich als einen Schwerpunkt des neuen Waffenrechts
die Ächtung der sogenannten Anscheinswaffen hervorheben, die wir mit dem neuen § 42 a des Waffengesetzes
vornehmen.
Die Koalitionsparteien beobachten mit Sorge, dass
diese Anscheinswaffen nach wie vor von zu vielen, vor
allen Dingen von Jugendlichen, gebraucht werden. Der
Umgang mit diesen Waffen, die Kriegs- oder Polizeiwaffen originalgetreu nachgebaut sind, ist geeignet, die
Hemmschwelle im Umgang mit Waffen schlechthin sinken zu lassen.
({0})
Außerdem weisen alle Experten zu Recht darauf hin,
dass von diesen Waffen ein erhebliches Drohpotenzial
ausgeht, weil sie zu kriminellen Zwecken eingesetzt
werden können. Hinzu kommt, dass Polizeibeamte die
täuschend echt wirkenden Nachbildungen im Einsatz mit
echten Schusswaffen verwechseln und dann in einer vermeintlichen Notwehrsituation von der Dienstwaffe Gebrauch machen könnten - mit verheerenden Folgen.
Die Koalition wird mit der Änderung des Waffengesetzes alle rechtsstaatlich vertretbaren Maßnahmen beschließen, damit von Anscheinswaffen künftig keine Gefahr ausgeht. Das ist kein Kinderspielzeug, und wir
wollen, dass diese Waffen aus dem öffentlichen Straßenbild verschwinden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Wir haben uns bereits jetzt innerhalb der Koalitionsfraktionen - auch im Lichte von Empfehlungen aus dem
Bundesrat - darauf verständigt, die Regelung des Anscheinsparagrafen dadurch noch einmal zu verschärfen,
dass wir auf das Merkmal des schuss- oder zugriffsbereiten Führens der Waffe verzichten und den Transport in
einem verschlossenen Behältnis vorschreiben. Dadurch
wird erreicht, dass nach dem Kauf einer solchen Anscheinswaffe praktisch nur noch der Transport in der
verschweißten Packungsfolie nach Hause und die Verwendung dieser Waffe auf dem befriedeten Privatbesitztum möglich sind. Wir beziehen in den Anscheinsparagrafen neben Lang- - das darf ich gerade der Opposition
sagen - auch Kurzwaffen ein; denn es sind zum Beispiel
Nachbildungen von Faustfeuerwaffen, wie sie bei der
Polizei verwandt werden, im Umlauf. Insofern gehen wir
hier auch auf Anregungen aus dem Bundesrat ein.
Für den Verstoß gegen das Verbot des Führens von
Anscheinswaffen prüfen wir die Einführung einer Bußgeldvorschrift; das tut das Bundesjustizministerium. Das
ist das, was der Gesetzgeber tun kann.
Ich will von dieser Stelle aus einen Appell an die Eltern richten - es schauen ja auch einige zu -: Auch Sie
können durch intensive Gespräche mit Ihren Kindern
dazu beitragen, dass solche Waffen nicht verwandt werden. Das ist nicht nur eine Aufgabe des Gesetzgebers.
({2})
Aus dem Kreis der Jäger sind wir darauf aufmerksam
gemacht worden, dass es jetzt offenbar modern ist, dass
auch Jagdwaffen sich von ihrem äußeren Erscheinungsbild dem von Kriegswaffen annähern und deshalb unter
den Anscheinsparagrafen fallen könnten. Wir werden
das mit einer Klarstellung ausschließen, wonach unter
den entsprechenden Paragrafen nicht solche Waffen falReinhard Grindel
len, die - wie wir es formulieren wollen - einen Antrieb
durch heiße Gase erhalten.
Der Entwurf der Änderung des Waffengesetzes enthält bisher keine Regelung zum Thema Softair-Waffen.
Ich möchte betonen, dass sich die Koalitionsfraktionen
darauf verständigt haben, zu einer Ergänzung des Regierungsentwurfs zu kommen. Wir wollen, dass nunmehr
zum Spiel bestimmte Schusswaffen nur darunter fallen,
wenn aus ihnen bauartbedingt auch starre Geschosse
verschossen werden können, denen eine Bewegungsenergie von nicht mehr als 0,08 Joule mitgegeben wird.
Wir erfassen damit einen ganz großen Teil der SoftairWaffen und wollen auch hier erreichen, dass diese aus
dem öffentlichen Straßenbild zurückgedrängt werden.
Das ist geboten, weil von diesen Softair-Waffen nicht
unerhebliche Gesundheitsgefahren ausgehen; hier werden schließlich Plastikkugeln verschossen. Eine Ächtung dieser Softair-Waffen ist aber auch unter präventiven Gesichtspunkten notwendig.
Ich komme auf den Ausgangspunkt meiner Überlegungen und den Hinweis auf die Debatte um Gewalttaten zurück. Wir können doch nicht vielfältige Überlegungen darüber anstellen, wie wir auf allen Ebenen und
möglichst früh der wachsenden Gewaltbereitschaft und
kriminellen Energie von Kindern und Jugendlichen begegnen können, und gleichzeitig zulassen, dass unter
Einschluss von Gesundheitsrisiken mit Anscheins- oder
Softair-Waffen auf öffentlichen Straßen und Plätzen in
der Gegend herumgeschossen wird. Das wäre ein völlig
falsches politisches Signal.
({3})
Ich sage ausdrücklich: Dahinter haben wirtschaftliche
Interessen, für die ich Verständnis habe, zurückzutreten.
Angesichts der vielfältigen öffentlichen Debatten kann
es niemanden überraschen, weder Produzenten noch
Konsumenten, dass der Gesetzgeber in diesem Bereich
entschlossen handelt. Insoweit kommen hier Fragen des
Vertrauensschutzes nicht in Betracht.
Dass solche veränderten gesetzlichen Rahmenbedingungen sehr wohl etwas bewirken können, zeigt das Beispiel der Gas-, Schreckschuss- und Signalwaffen. Wir
haben diese Waffen im Rahmen der letzten Gesetzesnovelle waffenscheinpflichtig gemacht, was zu einer Reduzierung der Verkaufszahlen um rund 90 Prozent geführt
hat. Insofern kann auch das Waffenrecht einen Beitrag
zur Bekämpfung der Gewaltkriminalität leisten.
Ich will an dieser Stelle erwähnen, dass der Deutsche
Schützenbund sich mit der Bitte an uns gewandt hat, die
Altersgrenze für das Schießen auf Schießständen unter
qualifizierter Aufsicht von zwölf auf zehn Jahre zu senken, wie dies bereits bei der letzten Novelle des Waffengesetzes vorgesehen war, bevor der Amoklauf von Erfurt
wiederum zu einer Korrektur dieses Vorschlags geführt
hat.
Ich habe durchaus Verständnis für die Argumentation
des Schützenbundes, nach der eine Bedrohung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nicht zu befürchten
wäre.
({4})
In der Tat gibt es wissenschaftliche Studien, die belegen,
dass beim schießsportlichen Training nicht nur die Konzentrationsfähigkeit gesteigert wird, sondern auch der
verantwortungsvolle Umgang mit Waffen und der Respekt vor Waffen erlernt werden. Ich kann ebenfalls
nachvollziehen, dass der Deutsche Schützenbund auf die
Bedürfnisse der Nachwuchsarbeit hinweist und eine
Teilnahme an der Jugendolympiade des IOC frühes Training und Ausbildung voraussetzt.
Trotzdem, liebe Kolleginnen und Kollegen, bitte ich
um Verständnis dafür, dass die Koalition diesen Vorschlag zur Änderung des Waffengesetzes nicht aufgreifen wird. Die Debatte über die Absenkung der Altersgrenzen für den Erwerb großkalibriger Waffen im
Sommer 2007 hat gezeigt, dass wir es hier mit einem
ausgesprochen sensiblen Thema zu tun haben, das voller
Verunglimpfungspotenziale steckt. Gerade im Umfeld
der Debatte über die Jugendgewalt halte ich es für ausgeschlossen, dass wir Innenpolitiker auch nur ansatzweise
die Chance hätten, der Öffentlichkeit gegenüber verständlich zu kommunizieren, weshalb wir jetzt die Altersgrenze für das Schießen mit Druckluftwaffen senken
wollen. Es besteht die Gefahr, dass wir hier falsche Signale aussenden. Das würde möglicherweise auch den
Schützenvereinen schaden. Deshalb muss es beim Schießen mit Laserwaffen bleiben und bei den Ausnahmevorschriften, die das Waffengesetz heute schon vorsieht.
Meine Erfahrung ist die - ich will das hier hervorheben -,
dass in vielen Bereichen hiervon unbürokratisch und angemessen Gebrauch gemacht wird. Insoweit halte ich es
für vertretbar, es bei dieser Regelung so zu belassen.
Gleichwohl will ich auch an dieser Stelle deutlich machen, was ich schon bei der letzten Debatte zum Waffenrecht betont habe: Die Schützenvereine in Deutschland
leisten eine hervorragende Jugendarbeit, sie haben in
vielen Städten und Gemeinden eine große Bedeutung für
den Zusammenhalt im Dorf und das kulturelle Leben vor
Ort. Sie haben es nicht verdient, unter eine Art Generalverdacht gestellt zu werden. Auch das will ich hier ausdrücklich hervorheben.
({5})
Außerdem schaffen wir mit der Änderung des Waffengesetzes die grundsätzlichen Voraussetzungen für die
Umsetzung des VN-Schusswaffenprotokolls. Durch einige Übergangsregelungen werden aber bürokratische
Hürden für Jäger, die im Ausland jagen wollen, oder
auch für das Waffengewerbe vermieden.
Durch die Einführung entsprechender Blockiersysteme sorgen wir für die notwendige Sicherheit auch bei
Erbwaffen, was durch den Wegfall des Erbenprivilegs
notwendig geworden ist. Wir wollen dabei - ich will das
hervorheben, Kollege Wolff, weil Sie das ansprechen
werden - Sammler nicht unangemessen belasten. Das
will ich ausdrücklich betonen.
({6})
Wegen des Auslaufens des Erbenprivilegs müssen wir
das Änderungsgesetz zum Waffenrecht zügig im Ausschuss beraten. Ich rufe dazu auf, dass wir das tun;
selbstverständlich gehört dazu auch die Durchführung
einer Anhörung. Ich sehe hier aber kein Problem, weil es
im Kern nicht um Ideologien geht, sondern darum, mehr
Sicherheit für unsere Bürger zu schaffen. Das wollen wir
mit dem vorliegenden Gesetzentwurf erreichen.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({7})
Das Wort hat der Kollege Hartfrid Wolff von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die aktuelle Diskussion über das Waffenrecht erscheint mir
schon etwas schräg. Wenn das bisherige Waffengesetz
überhaupt geändert werden muss, dann deshalb, weil das
geltende Waffenrecht vereinfacht und verständlicher
werden muss. Daran hat sich leider auch durch die rotgrüne Waffenrechtsreform vom Jahre 2002 nichts geändert. Im Gegenteil: Von Vereinfachung, Rücknahme der
Regelungsdichte, Übersichtlichkeit und Lesbarkeit kann
keine Rede sein. Die vom Kollegen Grindel gerade genannten Bereiche, in denen nachjustiert werden soll, lassen vermuten, dass hier keine klare Linie verfolgt wird,
sondern es nur um Änderungen an der einen oder anderen Stelle geht. Bei der nun vorliegenden Novelle hätte
ich deshalb mehr Anstrengungen zur Entbürokratisierung von der Bundesregierung erwartet.
Die amtierende Koalition meint, dass die neue Vorlage neben der Umsetzung internationalen Rechts den
Vollzug des Waffengesetzes erleichtern und Unklarheiten und Lücken beseitigen würde. Die FDP hat jedoch
erhebliche Zweifel, dass die Bundesregierung ihr selbst
gestecktes Ziel erreicht. Der unübersichtliche Wust des
deutschen Waffenrechts wird nur bedingt geklärt und
zum Teil sogar unsinniger und unübersichtlicher.
So stellt sich mir schon die Frage, ob es sachlich wirklich erforderlich ist, die bislang vorgesehene Kontrolle bei
der Verbringung von Schusswaffen ins Ausland nun zu
verdoppeln. Bringt es wirklich einen Sicherheitsgewinn,
wenn sich zwei Behörden damit beschäftigen?
({0})
Das Gleiche gilt für die neuen Buchführungspflichten. Es ist geradezu possierlich, wie hübsch die
Ministerialbeamten im Gesetzentwurf jeden einzelnen
bürokratischen Zusatzaufwand auf eine vermeintlich unbedeutende Größe heruntergerechnet haben. Tatsächlich
ist hiermit aber eine zusätzliche Belastung für die knapp
kalkulierende mittelständische Wirtschaft verbunden.
Ein solcher Umgang mit Händlern und Herstellern am
Standort Deutschland stellt eine Zumutung dar. Wo
bleibt da der klare Sicherheitsgewinn?
({1})
Man hat den Eindruck, dass hier der wirtschaftspolitische Sachverstand der Bundesregierung, insbesondere
des Innenministeriums, auf der Strecke geblieben ist.
Darüber hinaus ist die Erweiterung der Kennzeichnungs- und Buchführungsregelungen eindeutig gegen
die berechtigten Interessen der legalen Waffenbesitzer,
insbesondere der Jäger, der Sportschützen und der
Sammler von antiquarischen Waffen, gerichtet. Als Zielgruppe werden nun auch die Erben genauer ins Visier
genommen. Man muss einfach einmal darauf hinweisen:
Das Erbrecht ist eine grundrechtlich geschützte Position,
die nicht einfach über Bord geworfen werden darf. Die
Begründungen für Einschränkungen, die ich hier vielfach gehört habe, reichen mir nicht aus. Ich denke da
zum Beispiel an den Einsatz von Blockiersystemen.
({2})
Gerade bei historischen Waffen - ich freue mich, dass
der Herr Grindel an der Stelle Einsicht gezeigt hat - ist
dies doppelt absurd. Erstens wird der kulturhistorische
Wert solcher Waffen durch Blockiersysteme herabgesetzt oder gar völlig zerstört. Zweitens geht von vielen
dieser Waffen rein technisch schon keine Gefahr mehr
aus. Hinzu kommt, dass die entsprechenden Kosten für
bestimmte Sammlerstücke, bei denen die Blockiersysteme nur individuell handgefertigt werden können, so
hoch sein dürften, dass sie an den Wert der Waffe selbst
heranreichen. Welchen Sicherheitsgewinn versprechen
Sie sich von solchen Regelungen bei antiquarischen
Waffen? Das verstehe ich nicht.
Angesichts des höchst zweifelhaften Sicherheitsgewinns stellt sich nicht nur die Frage nach der Verhältnismäßigkeit, sondern auch die nach dem Respekt vor Eigentum und Freiheit.
({3})
Ich muss Ihnen sagen, es wundert mich nicht, dass dieser
Respekt bei der SPD an der Stelle fehlt. Es freut mich
aber, dass es bei der Union gewisse Einsichten gibt. Allerdings würde ich mich freuen, wenn etwas mehr Freiheit zugelassen werden würde.
({4})
Herr Wieland, ich will es ganz deutlich sagen: Die
FDP ist bereit, ernsthaft über dieses Thema zu reden,
wenn es darum geht, die Sicherheit der Bürgerinnen und
Bürger zu gewährleisten und zu verbessern.
({5})
Hartfrid Wolff ({6})
Waffengewalt muss wirksam bekämpft werden,
({7})
aber nicht mit dem Waffenrecht alleine.
({8})
Die Antwort auf die Kleine Anfrage der FDP-Fraktion
hat gezeigt, dass nur 2 bis 3 Prozent aller im Zusammenhang mit Straftaten sichergestellten Schusswaffen aus legalem Besitz stammen. Angesichts der Tatsache, dass
97 oder 98 Prozent der Schusswaffenstraftaten bereits
am Waffengesetz vorbei begangen werden, ist das Herumdoktern am Waffengesetz nicht unbedingt eine wirksame Variante, sondern purer Aktionismus.
({9})
Lieber Herr Wieland, Problemlösungen im Bereich
der Kriminalität müssen deshalb nicht primär das Waffenrecht, sondern insbesondere den Zusammenhang von
Straftat und Strafe sowie den Täter ins Blickfeld nehmen
und auch den Bereich der Kriminalprävention - schütteln Sie doch nicht den Kopf! - umfassen; denn die Kriminalprävention ist an der Stelle einer der wesentlichen
Punkte.
({10})
Dazu haben wir noch keine Vorschläge gehört.
({11})
Die FDP wird bei diesem Gesetzesvorhaben die weiteren Beratungen sehr genau verfolgen und beobachten,
welche Änderungsvorhaben wirklich der Sicherheit und
der Klarstellung dienen
({12})
und welche insbesondere zur Vereinfachung beitragen.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Fograscher von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Das geltende Waffenrecht regelt detailliert und sehr
restriktiv - das ist richtig - den Umgang mit Waffen wie
Messern und Schusswaffen sowie mit Munition. Es regelt Erwerb, Aufbewahrung, Handel und Transport von
Waffen. Es definiert als verbotene Gegenstände neben
Schusswaffen zum Beispiel Würgehölzer, Springmesser
und Schlagringe. Es verbietet deren Besitz und das Inverkehrbringen.
Die Regelungen des Waffengesetzes werden in der
Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Waffengesetz
näher ausgestaltet. Diese regelt die Ausnahmen und die
Vorschriften für den Umgang mit Waffen sowie die Ausgestaltung von Schießstätten. In ihr ist auch die Abgrenzung von erlaubnisfreien und erlaubnispflichtigen
Schusswaffen durch - unter anderem - die maximale
Schussenergie definiert. Nach dem Waffengesetz kann
auch eine Spielzeugwaffe, zum Beispiel eine SoftairWaffe, mit der man Kunststoffkügelchen verschießt, eine
Schusswaffe sein.
Immer wieder werden Forderungen nach einer Verschärfung dieses Waffenrechts laut, auch in der aktuellen
Debatte. Ich finde schon, dass man die Vorschläge auf
ihre Praktikabilität hin untersuchen muss und dass man
sich fragen muss, ob sie zu mehr Sicherheit für die Bevölkerung führen. Allerdings muss hinter dem Sicherheitsbedürfnis - Herr Wolff, auch diesen Punkt muss
man erwähnen - das Interesse der Unternehmen bei der
Herstellung von Waffen zurückstehen.
({0})
Was tun wir in dem vorliegenden Entwurf? Wir übernehmen die Regelungen des VN-Schusswaffenprotokolls und setzen die EU-Waffenrichtlinie in nationales
Recht um. In § 24 des Waffengesetzes wird die vorgeschriebene Art der Kennzeichnung von Waffen erweitert, um Rückverfolgung und Herkunft der Waffen international zu erleichtern. Das ist eine wichtige Hilfe zur
Aufklärung von Straftaten. Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass es eine Ausnahmeregelung für
Sammlerwaffen geben wird.
({1})
Waffen dürfen künftig nur noch ins EU-Ausland verbracht werden, wenn zum einen eine Ausfuhrerlaubnis
und zum anderen eine Einfuhrgenehmigung des Empfängerstaates vorliegen.
Wir werden das Waffenrecht um ein Verbot zum Führen von Anscheinswaffen ergänzen. Darunter fallen neben Kriegswaffennachbildungen auch Kurzwaffen. Anscheinswaffen sind nahezu echt aussehende Imitate von
echten Waffen. Von ihnen geht ein beträchtliches Drohund Gefährdungspotenzial aus, weil selbst die Polizei im
Ernstfall nicht erkennen kann, ob es sich um ein Imitat
oder eine echte Waffe handelt. Wir werden das Führen
von Anscheinswaffen in der Öffentlichkeit verbieten.
Die Auflage, nach der diese Waffen nur noch in einem
verschlossenen Behältnis transportiert werden dürfen,
soll ein deutliches Signal setzen: Diese Waffen haben im
öffentlichen Raum nichts zu suchen.
({2})
Ob das Führen von Anscheinswaffen in der Öffentlichkeit zusätzlich bußgeldbewehrt werden kann, wird im
BMJ derzeit noch geprüft.
Auch wenn das Verbot des Erwerbs und des Handels
mit diesen Waffenimitaten wünschenswert wäre, muss
man hier die Frage nach der Verhältnismäßigkeit und der
Vereinbarkeit mit EU-Recht stellen. Erst wenn sich
zeigt, dass sich der jetzige Regelungsvorschlag in der
Praxis nicht bewährt, muss man über weitere Schritte
nachdenken.
Ein weiterer Punkt, den wir nach Auslaufen der Übergangsregelung im jetzigen Gesetz regeln wollen, ist das
sogenannte Erbenprivileg. Kann der Erbe einer Schusswaffe ein Bedürfnis nachweisen, ist er zuverlässig und
persönlich geeignet, so wird diese Waffe entsprechend
jeder käuflich erworbenen behandelt. Kann der Erbe das
Bedürfnis nicht nachweisen, muss er dafür sorgen, dass
die Waffe schussunfähig gemacht wird. Dazu wird die
Waffe in Zukunft nicht unumkehrbar zerstört werden
müssen, sondern mithilfe eines Blockiersystems, das inzwischen von der Industrie entwickelt wurde, schussunfähig gemacht. Damit wird die Waffe nicht zerstört, ihr
Wert bleibt erhalten. Für etwa 80 Prozent aller Waffen
gibt es inzwischen diese Blockiersysteme. Für Waffen,
für die es noch keine technische Lösung gibt, kann eine
Ausnahmegenehmigung beantragt werden. Ich denke,
dass wir damit eine praktikable und dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung angemessene Regelung gefunden haben.
Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf gefordert, dass mit der gelben Waffenbesitzkarte keine verbandsfremden Waffen mehr erworben
werden dürfen. Dieser Empfehlung werden wir nicht folgen. Sie würde unserer Ansicht nach die gelbe Waffenbesitzkarte ad absurdum führen. Es bleibt dabei: Sportschützen können maximal zwei Waffen pro Halbjahr
erwerben, wenn sie Mitglied in einem anerkannten Verband sind, seit mindestens zwölf Monaten aktiv sind und
die persönlichen Voraussetzungen erfüllen. Die Waffenbehörde kann bei Auffälligkeiten, insbesondere bei Anhaltspunkten für bloßes Waffenhorten, intervenieren.
Fazit: Deutschland hat - und wird das auch in Zukunft haben - eines der strengsten und restriktivsten
Waffengesetze weltweit, und das ist richtig und gut so.
Legale Waffenbesitzer wie Schützen, Jäger und Sammler
gehen verantwortungsvoll und zuverlässig mit ihren
Waffen um. Die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik und des Periodischen Sicherheitsberichts zeigen, dass
legal erworbene Waffen und Sammlerwaffen eine unbedeutende Deliktsrelevanz haben. Sorgen machen uns die
illegalen Waffen, deren Dunkelziffer extrem hoch ist und
die sich vorwiegend in Händen von Kriminellen befinden. Dieses Problem kann ein noch so scharfes Waffenrecht nicht lösen.
({3})
Bei den anstehenden Beratungen werden wir auch die
Berliner Initiative nochmals ernsthaft prüfen
({4})
und versuchen, praktikable Lösungen zu finden. In der
Berliner Initiative geht es darum, Messer, die eigentlich
Kampfmesser oder Militärmesser sind, als Waffen zu definieren und somit dem Waffenrecht zu unterwerfen.
({5})
Wir wollen natürlich nicht, dass für Angler, Taucher, Jäger und andere die Ausübung ihres Hobbys unmöglich
wird. Gefährliche Messer, die ursprünglich aus dem militärischen Bereich kommen, haben aber im öffentlichen
Raum unserer Städte und Gemeinden nichts zu suchen.
({6})
Ich kann für meine Fraktion sagen, dass wir die Berliner Initiative zum Messerverbot genau prüfen werden.
({7})
Die vorgeschlagenen Lösungen und die Definition nach
Klingenlänge und -form bringen allerdings enorme Probleme bei der Abgrenzung von Alltagsgegenständen mit
sich. Wir versuchen, eine Formulierung und Definition
zu finden, die die gefährlichen Messer umfasst und
durch die sich das Führen dieser in der Öffentlichkeit
verbieten lässt.
Ich freue mich auf konstruktive Beratungen im Ausschuss und auf die Erkenntnisse durch die Anhörung, die
wir noch durchführen werden.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau von der Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
dieser Debatte geht es um zwei Anträge. Beide betreffen
das Waffenrecht. Durch den ersten, den sogenannten
Berliner Entwurf, sollen Messer, Hieb-, Stich- und Stoßwaffen klassifiziert werden, die bisher nicht als Waffen
galten. Mit dem zweiten soll EU-Recht ins Binnenrecht
übernommen werden. Die Linke steht beiden Anträgen
grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber. Ein schärferes
Waffenrecht ist zwar kein Garant für weniger Gewalt,
aber ein lockeres Waffenrecht leistet mehr Gewalt Vorschub. Das kann niemand wollen. Die Linke will es jedenfalls nicht.
({0})
Im Berliner Entwurf gibt es zwei entscheidende Kriterien: Hieb- und Stoßwaffen, Messer und Springmesser
müssen erstens eine bestimmte Klingenlänge ausweisen
und zweitens zugriffsbereit mitgeführt werden. Trifft
beides zu, so kann das geächtet werden. Dagegen gibt es
Kritik, zum Beispiel weil auch ein Messer, das einen halben Zentimeter kürzer ist, als vorgeschlagen wird, zur
Waffe werden kann. Andererseits kann man nicht jeden
Gegenstand, der zur Waffe taugt, als Waffe einstufen.
Man müsste sonst sogar das Flaschenbier verbieten.
Beim EU-Recht geht es darum, unerlaubten Handel
mit Waffen und Munition zu verhindern. Im Visier dieses Vorschlages ist zugleich die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität. Auch bei diesem Ansinnen dürften die Fraktionen nicht grundsätzlich über Kreuz liegen.
Außerdem sollen weitere Waffen verboten werden,
zum Beispiel sogenannte Anscheinswaffen. Das sind
Waffen, denen man nicht ansehen kann, ob sie echt und
scharf, ob sie Sammelstücke oder Attrappen sind. Einer
Geisel dürfte es übrigens egal sein, ob eine scharfe oder
eine Scheinwaffe auf sie zielt. Insofern ist das ein vernünftiger Vorschlag.
Es gibt noch weitere Punkte, über die ich gern diskutiert hätte, zum Beispiel das Waffenregister. Derzeit ist
es Ländersache, Waffen, deren Besitzer oder deren Herkunft zu erfassen. Ausnahmsweise denkt an dieser Stelle
die Linke - und nur in diesem Zusammenhang - über ein
bundesweites Zentralregister nach.
({1})
Es gibt noch weitere Vorschläge. Manche sind so simpel, dass man staunt. Auf dem Markt gibt es ein kleines
Sicherheitsschloss. Eingesetzt, verhindert es, dass Unbefugte scharfe Waffen nutzen können, etwa Jagdgewehre
oder Sportpistolen. Eine entsprechende Maßnahme oder
Vorschrift könnte mehr Sicherheit schaffen.
Im Gesetzentwurf gibt es aber auch Formulierungen,
bei denen ich sage: Achtung und Vorsicht. So soll bestraft werden können, wer beim Unterstützen von Vorbereitungshandlungen von Bestrebungen, die auf Gewalt
gerichtet sind, ertappt wurde oder dessen verdächtigt
wird. Wer diese Aussage von schlichter Schönheit nicht
verstanden hat, braucht sich nicht zu grämen. Das ist typisches Rechtskauderwelsch. Aber es zielt darauf, dass
nicht ein Täter bestraft wird, sondern eine mögliche Unterstützung einer möglichen Vorbereitung von einer
möglichen Bestrebung einer Tat. Ich warne davor, namens des Waffenrechtes Elemente des politischen Strafrechts auszuweiten. Es riecht förmlich nach § 129 Strafgesetzbuch. Er ist ein Fremdkörper und wird obendrein
gern missbraucht; Generalbundesanwältin Harms hat das
mehrfach demonstriert.
Kurzum: Die Linke wird die Gesetzesvorlage - wie
stets - konstruktiv mitberaten und mit eigenen Vorschlägen bereichern; denn grundsätzlich gilt: Gewalt hat weder in der Politik noch im Alltag etwas zu suchen. Gewalt ist zu ächten. Deshalb ist ein gutes Waffenrecht so
wichtig.
({2})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat die Kollegin Silke Stokar von Neuforn vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach den
aufgeregten Debatten der vergangenen Tage zum Thema
Jugendgewalt habe ich eigentlich erwartet, dass der Bundesinnenminister mit der Reform des Waffenrechts einen
überzeugenden Beitrag zur Gewaltprävention vorlegt.
({0})
Im Gegenteil, das ist erneut der Beweis: CDU-Innenminister reden gerne über innere Sicherheit. Dann, wenn
sie konsequent handeln und real Verantwortung tragen
könnten, handeln sie aber nicht konsequent.
({1})
Wir wollen uns nicht daran gewöhnen, dass das griffbereite Messer in der Tasche zu einem ganz normalen
Teil unserer Alltagskultur wird.
({2})
Wir sagen ganz klar: Das staatliche Gewaltmonopol
wird aufgeweicht, wenn der Rechtsstaat vor der zunehmenden Bewaffnung im öffentlichen Raum kapituliert.
Deswegen unterstützen wir die Initiative des Berliner Innensenators Körting, der das Mitführen gefährlicher
Messer im öffentlichen Raum verbieten will. Genau
dazu, Herr Grindel, steht im Gesetzentwurf von Herrn
Schäuble nichts. Genau dazu, Herr Grindel, haben auch
Sie nichts gesagt.
Ich habe sehr wohl zur Kenntnis genommen - das ist
mein nächster Kritikpunkt -, dass Sie angekündigt haben, die Regelungen im Bereich der Anscheinswaffen
verbessern zu wollen. Hier reicht es natürlich nicht aus,
nur Imitate von Kriegswaffen zu berücksichtigen.
({3})
- Herr Wolff, Ihnen von der FDP möchte ich sagen: Wir
sind für Freiheits- und Bürgerrechte. Das Tragen von
Waffen im öffentlichen Raum ist aber kein Freiheits- und
Bürgerrecht.
({4})
Das, was Sie hier gemacht haben, ist dumpfer Populismus.
({5})
Das war nichts anderes als Lobbyarbeit,
({6})
und zwar für Waffenhändler und Waffenbesitzer.
({7})
Die Zahlen, die Sie genannt haben, sind schon deswegen
falsch, weil ein Großteil der heute illegalen Waffen einmal legal erworben worden ist. Sie haben in dieser Frage
null Problembewusstsein. Sie sind ein Lobbyist für die
Waffenindustrie und sonst gar nichts.
({8})
Meine Damen und Herren, ich möchte noch auf das
Hamburger Beispiel der Reeperbahn eingehen, weil es
sehr deutlich zeigt, wie wenig es bringt, wenn wir nur
bestimmte Räume als waffenfreie Zonen definieren. Die
Zahl der Messerattacken in Hamburg ist dadurch nicht
zurückgegangen; denn schwere Körperverletzungen mit
dem Instrument Messer finden überall im öffentlichen
Raum statt: in der U-Bahn, in der Straßenbahn, vor Diskotheken, vor Schulen und auf den Straßen. Das geschieht nicht nur auf der Reeperbahn.
Ich finde es absolut absurd - in dieser Diskussion
macht sich der Staat einfach lächerlich -, wenn die Polizei auf der Reeperbahn Waffen einzieht und der Hamburger Senat dafür sorgt, dass genau diese Waffen wenige Tage später bei der öffentlichen Onlineauktion des
Zolls, einer staatlichen Einrichtung, zu Dumpingpreisen
wieder auf den Markt gebracht werden. Ich frage mich,
ob die CDU-geführte Regierung in Hamburg wirklich so
sehr am Ende ist, dass sie ihren Haushalt in Ordnung
bringen muss, indem sie als öffentlicher Waffenhändler
auftritt. Angesichts dieser Beweise aus dem Umkreis der
Union stelle ich fest: So kann man mit den Themen Jugendgewalt, Bewaffnung und innere Sicherheit nicht
umgehen.
({9})
- Ich will Ihnen einmal ganz deutlich sagen: Wer den
Berliner Ansatz bzw. unseren Ansatz verfolgt,
({10})
der will selbstverständlich nicht - dass Sie das dennoch
behaupten, gehört zu Ihrem Populismus - einem Pfadfinder sein Taschenmesser wegnehmen.
({11})
Wir wollen auch Anglern, Campern und Jägern nicht
ihre Messer wegnehmen.
({12})
Wir wollen nur nicht hinnehmen - in dieser Frage haben
wir übrigens den Großteil der Bevölkerung auf unserer
Seite -, dass es immer mehr junge Männer für ein selbstverständliches Recht halten, mit sehr gefährlichen Messern, griffbereit in der Hosentasche, herumzulaufen.
({13})
Wir können täglich in der Zeitung lesen - ich kenne das
aus Hannover -, wie häufig es vorkommt, dass Jugendliche das Messer, das sie in der Tasche tragen, ziehen und
andere Jugendliche damit verletzen, bis hin zur Todesfolge.
({14})
Für dieses reale Problem bieten Sie keine Lösung an.
({15})
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. - Ich habe
zur Kenntnis genommen, dass die Koalitionsfraktionen
beim Gesetzentwurf des Ministers erheblichen Verbesserungsbedarf sehen. Wir werden uns konstruktiv an den
weiteren Beratungen beteiligen. Wir sind der Auffassung, dass wir eine Anhörung brauchen, weil die Kompetenz der Großen Koalition hier ganz offensichtlich
nicht ausreichend ist.
({0})
Danke schön.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7717 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das scheint der Fall zu sein. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Frank
Spieth, Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Wiedereinführung der vollständigen Zuzahlungsbefreiungen für Versicherte mit geringem Einkommen im Wege der Härtefallregelung
- Drucksachen 16/6033, 16/7435 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Carola Reimann
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Christian Kleiminger von der SPDFraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
einem sollten wir uns einig sein, nämlich dass für
Kranke und Menschen mit niedrigem Einkommen keine
Zutrittsbarrieren zu notwendiger medizinischer Versorgung errichtet werden dürfen.
({0})
In Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Linken, behaupten Sie aber, dass ein Zusammenhang bestehe zwischen den Zuzahlungen einerseits und dem Gesundheitszustand der sozial Schwächsten in unserer
Gesellschaft andererseits. Unbestritten gibt es eine Relation zwischen Armut und Krankheit. Arbeitslosigkeit,
schwierige Wohnsituationen, niedriges Bildungsniveau,
all das sind Ursachen dafür. Darum versuchen wir ja,
eine Politik zu machen, die genau an diesen Stellen ansetzt, auch durch Prävention und Information; darauf
komme ich noch zurück. Im Hinblick auf Ihren Antrag
stellt sich jedoch eine andere Frage, nämlich: Inwieweit
besteht der von Ihnen behauptete Zusammenhang zwischen einer Zuzahlungsbefreiung und dem Gesundheitszustand der Betroffenen? Trägt das, was Sie fordern,
wirklich dazu bei, dass es für Benachteiligte im Gesundheitswesen mehr soziale Gerechtigkeit gibt?
Zu diesem Themenfeld gibt es noch nicht besonders
viele aussagekräftige Untersuchungen. Auch der Gesundheitsmonitor lässt keine belastbaren Schlüsse zu, ob
der Rückgang der Zahl der Arztkontakte mit der Vermeidung wichtiger oder unwichtiger Arztbesuche zu erklären ist. Man weiß nicht sicher, ob relevante Untersuchungen vermieden worden sind oder nur sogenannte
Bagatelluntersuchungen. Daher halte ich es für wichtig,
hierzu vermehrt Analysen durchzuführen.
Erinnern wir uns: Der Ausgangspunkt für die Einführung von Zuzahlungen seinerzeit war doch, wie wir alle
wissen, die Erkenntnis, dass häufigere Arztbesuche nicht
in jedem Fall gesünder machen, dass man nicht bei jedem Husten gleich einen Doktor braucht. Dennoch werden die Ärzte hierzulande häufiger aufgesucht als in vielen anderen europäischen Ländern. Bei der Einführung
der Regelung standen daher die Steuerungswirkungen
im Vordergrund. Das mag sehr technisch klingen; doch
die Absicht ist einfach: Die Versicherten - alle Versicherten - sollten ein stärkeres Kostenbewusstsein entwickeln und von medizinischen Leistungen dem individuellen Bedarf entsprechend Gebrauch machen.
Nehmen wir das Beispiel Praxisgebühr: Mit ihrer
Hilfe sollte die Lotsenfunktion der Hausärzte gestärkt
werden. Ergebnis ist, dass sowohl die Zahl der Praxiskontakte allgemein als auch die Zahl der Facharztbesuche ohne Überweisung zurückgegangen sind - meines
Erachtens nicht unbedingt zum Schaden der Menschen.
Mit der Gesundheitsreform ist außerdem der Leistungskatalog der Kassen erweitert worden. Kinder sind
weiter komplett von den Zuzahlungen ausgenommen.
Alle Versicherten haben einen Anspruch auf kostenlose
Früherkennungsmaßnahmen und Vorsorgeuntersuchungen. All das gehört auch zur Wahrheit. Vor allem aber
- hier sehe ich wirklich noch einen großen Handlungsbedarf - gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten, die
Kosten für die Gesundheitsvorsorge auch durch eigenes
Verhalten zu mindern.
Mit dem AVWG ist es möglich geworden, rezeptpflichtige Medikamente zuzahlungsfrei zu erhalten.
Auch das Hausarztmodell ist ein gutes Instrument. Seit
April letzten Jahres ist jede Kasse dazu verpflichtet, ihren Versicherten diesen Tarif anzubieten. Ich weiß aus
meinen Gesprächen im Wahlkreis in Rostock auch, dass
bei vielen, die eigentlich Aufklärung betreiben müssten,
in diesem Punkt noch große Defizite herrschen. Das
führt dazu, dass immer noch zu wenige Menschen solche
Möglichkeiten nutzen und eigenverantwortlich für ihre
Gesundheit vorsorgen. Hier stehen insbesondere die
Ärzte, die Krankenkassen und die Apotheker in der Verantwortung, diese Angebote anzusprechen, die Versicherten zu informieren und sie vollständig aufzuklären.
Erlauben Sie mir schließlich noch eine Bemerkung:
Es fällt natürlich auf, dass Sie sich in Ihrem Antrag in
keiner Form zur Finanzierung Ihres Vorschlags sowie zu
den entstehenden Folgekosten äußern.
({1})
Das hätte ich schon erwartet, wenn Sie mehr Menschen
die Zuzahlungen ersparen möchten. Eines will ich noch
hinzufügen: Während wir hier über eine Zuzahlungsbefreiung diskutieren, hören wir in diesen Tagen Rufe aus
dem Süden der Republik, mit denen sogar noch höhere
Zuzahlungen gefordert werden. Dem treten wir - das
sollte klar sein - genauso entschieden wie Ihrem Antrag
entgegen.
({2})
Wenn wir in Zukunft die notwendige medizinische
Versorgung für alle gewährleisten wollen, dann müssen
wir dafür sorgen, dass sich auch alle nach ihrer jeweiligen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit an den Kosten
des Systems beteiligen.
({3})
Zu einer solidarischen Gesellschaft gehört umgekehrt
auch, dass Benachteiligte gestützt werden. Das müssen
sie. Hören Sie einmal kurz zu: Meiner Meinung nach
müssen wir das auch in unsere Überlegungen im Rahmen der Diskussion über eine Anhebung des Regelsatzes
beim AGL II einfließen lassen.
Statt über weitere Zuzahlungsbefreiungen zu diskutieren, sollten wir uns lieber überlegen, wie wir im Bereich
der Prävention auch Menschen mit niedrigem Einkommen oder mit Migrationshintergrund erreichen.
({4})
Wir brauchen dringend mehr niedrigschwellige Angebote und breitere Informationen darüber. Es geht darum,
die Menschen zu erreichen, die keine Infobroschüren lesen und keine Infonummern wählen;
({5})
denn der soziale Status darf - da stimmen wir Ihnen ja zu nicht der entscheidende Negativfaktor für den Gesundheitszustand sein.
({6})
Deshalb sollen gerade durch das Präventionsgesetz,
das wir vorbereiten, in dieser Hinsicht neue Wege geebnet werden;
({7})
denn durch Prävention wird die Gesundheit geschützt.
Diese vierte Säule im Gesundheitsweisen muss gestärkt
werden. Meines Erachtens werden auf diese Weise die
existierenden Unterschiede im Gesundheitsbereich viel
stärker abgebaut. So schaffen wir besser als mit einer
kurzfristigen Zuzahlungsbefreiung nachhaltig soziale
Gerechtigkeit.
({8})
Das Wort hat nun Kollege Heinz Lanfermann, FDPFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wir sprechen heute über die zum
1. Januar 2004 entfallene Zuzahlungsbefreiung für Härtefälle, wie sie in den §§ 61 und 62 des SGB V in der bis
zum 31. Dezember 2003 geltenden Fassung vorgesehen
war.
Eines gleich vorweg: Die FDP teilt dieses spezielle
Anliegen, für GKV-Versicherte mit geringem Einkommen wieder eine Härtefallregelung in das SGB V aufzunehmen, um zu verhindern, dass eine notwendige medizinische Versorgung wegen nicht aufbringbarer
Zuzahlungen unterbleibt.
({0})
Das haben wir übrigens - auch wenn Sie das vielleicht erstaunt, Frau Kollegin Ferner - im Jahr 2004 mit
unserem Antrag vom 14. Januar, Drucksache 15/2351,
deutlich gemacht, der die Abschaffung der Praxisgebühren forderte und sich auch mit der Arzneimittelzuzahlung befasste. In diesem Antrag hieß es wörtlich:
Die Wiedereinführung der alten Härtefallregelung,
die Menschen, die von Sozialhilfe leben, von der
Zuzahlung befreit hat, ist ebenfalls unumgänglich.
Es ist ungerecht, dass Sozialhilfeempfänger von
dem Betrag, den sie zur Sicherung ihres Existenzminimums benötigen, ebenfalls zuzahlen müssen.
Die Obergrenze von 71 Euro bzw. 35,50 Euro bei
chronisch Kranken mögen für einen Durchschnittsverdiener gering erscheinen. Für einen pflegebedürftigen alten Menschen im Heim, der das aus seinem „Bargeldbetrag zur freien Verfügung“, also
seinem Taschengeld, bezahlen muss, sind sie es
nicht.
Meine Damen und Herren, mit dieser Einschätzung
haben sich die Gemeinsamkeiten mit der Linksfraktion
dann aber auch erschöpft.
({1})
Der in der Begründung des Antrags der Linken zum
Ausdruck kommende Tenor, dass Zuzahlungen grundsätzlich mit großen Problemen behaftet sind, kann so
nicht überzeugen.
({2})
Zuzahlungen sind eine Form der Eigenbeteiligung,
und Eigenbeteiligungen sind im Gegenteil vom Grundsatz her durchaus ein gutes Instrument, um Menschen
dazu zu bewegen, darüber nachzudenken, ob und in welchem Umfang Gesundheitsleistungen - sprich: auch Versicherungs- bzw. Kassenleistungen - in Anspruch genommen werden müssen oder sollen. Sie sind also auch
eine Maßnahme, um das Kostenbewusstsein bei den Versicherten zu schärfen und die Finanzmittel im Gesundheitssystem möglichst zielgenau und bedarfsgerecht einzusetzen.
Sie sind auch nicht per se belastend oder gar unsozial;
denn durch den Einsatz des Mittels der Zuzahlung oder
der Eigenbeteiligung ist der Beitrag der gesetzlich krankenversicherten Bürger geringer, als er es ohne dieses
Instrument wäre. Das Geld wird ja nur einmal ausgegeben und auch nur einmal bezahlt.
Wenn die Linksfraktion nun in ihrer Antragsbegründung fordert, man müsse, statt das Instrument der Zuzahlung zu wählen, auf eine Steuerung staatlicherseits setzen, ist dies nur der Wunsch nach noch mehr
Staatsmedizin, als uns die Gesundheitsministerin
Schmidt - zunächst unter rot-grüner Flagge und jetzt sogar mit zwar widerwilliger, aber doch realer Unterstützung der Unionsfraktion - beschert hat.
Diese Politik der Rationierung und Regulierung, die
die Menschen und ihre Bedürfnisse längst aus den Augen verloren hat und lediglich bemüht ist, Löcher zu
stopfen und Gelder in einem immer dirigistischeren System durch immer kompliziertere Einzelfallregelungen
umzuverteilen, ist längst gescheitert.
({3})
In dem angerichteten Trümmerhaufen ist die Zuzahlungsbefreiung für besondere Härtefälle nur ein weiterer unansehnlicher Stein.
({4})
Der deutsche Arzneimittelmarkt ist ohnehin hochgradig überreguliert. Arzneimittelrichtlinien, gesetzlicher
Ausschluss von Arzneimitteln, Festbeträge für Arzneimittel und Nutzenbewertung sind nur einige Stichwörter
für die Regulierungswut. Preisfindung geschieht real
schon längst nicht mehr am Markt, sondern auf den
Schreibtischen des Gesundheitsministeriums.
Diese Regelungen durchschaut kein Mensch mehr
wirklich. Sie bauen Ihre Politik ja auch darauf auf, dass
die Menschen das nicht mehr verstehen und Sie ihnen
suggerieren, es sei besonders sozial.
Der Versicherte, der im Mittelpunkt allen Wirkens
stehen sollte, ist dabei längst aus dem Blick geraten.
Gerade deshalb wäre eine Diskussion darüber, ob das
angestrebte Ziel einer wirtschaftlich verantwortlichen
Arzneimittelversorgung nicht auch anders, nämlich ohne
die vielen regulatorischen Mittel, besser zu erreichen ist,
so wichtig. Diese Debatte führt zumindest die Bundesregierung jedoch nicht.
Meine Damen und Herren, ich darf zusammenfassen:
Da wir zwar einerseits der Forderung auf Wiedereinführung der Zuzahlungsbefreiung für Härtefälle zustimmen
könnten, Sie aber andererseits Ihren Antrag mit einer
Reihe von falschen Thesen untermauert haben, ist es nur
folgerichtig, dass sich meine Fraktion enthalten wird.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Ich erteile das Wort nun Kollegen Jens Spahn, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte zum vorliegenden Antrag der Linken drei kurze
Bemerkungen machen:
Erstens. Zuzahlungen sind kein Selbstzweck, sondern
als Steuerungsinstrument gedacht. Sie sollen signalisieren: Gesundheit ist etwas wert. Ebenso ist die Dienstleistung, die in dieser Republik 24 Stunden am Tag, sieben
Tage in der Woche, 365 Tage im Jahr flächendeckend,
bis in den letzten Winkel, zur Verfügung steht, etwas
wert. Auch sozial Schwache und chronisch Kranke sollen und müssen verantwortungsbewusst mit diesen Ressourcen umgehen.
Deswegen ist es von Anfang an Ziel dieser Zuzahlungsregelung gewesen, dazu zu animieren, zu überlegen, etwa vor dem Hintergrund der Praxisgebühr, ob es
tatsächlich notwendig ist, den Arzt aufzusuchen. Der
Durchschnittsdeutsche sucht etwa doppelt so oft einen
Arzt auf wie der Durchschnittsfranzose, der Durchschnittsösterreicher oder der Durchschnittsniederländer.
Dass er deswegen aber doppelt so gesund wäre, ist bisher nicht festzustellen gewesen; eher das Gegenteil. Deshalb war unser Ziel, dafür zu sorgen, dass in der Zukunft
unnötige Arztbesuche möglichst vermieden werden.
Die zweite Bemerkung zu dem, was Sie in Ihrem Antrag formulieren: Eine 1- bzw. 2-prozentige Maximalzuzahlung vom Einkommen ist als Regelung schon per
definitionem sozial verträglich. Denn wer ein geringes
Einkommen hat und wenig hat, muss am Ende, weil
1 Prozent oder 2 Prozent von wenig ebenfalls wenig ist,
auch nur wenig Zuzahlungen leisten, während derjenige,
der ein höheres Einkommen hat, an der Stelle erheblich
höhere Zuzahlungen leisten muss.
({0})
Von daher ist diese Regelung in sich sozial verträglich.
Im Übrigen ist sie mit Ausnahmen für Kinder versehen,
die keine Zuzahlungen zu leisten haben, darüber hinaus
- das ist wichtig; das ist nämlich in der Öffentlichkeit
noch nicht überall angekommen - mit Ausnahmen für
Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen. Von daher
läuft der Vorwurf, den Sie in Ihrem Antrag machen und
mit dem Sie ihn begründen, ins Leere.
Nichtsdestotrotz müssen wir uns natürlich immer
wieder fragen, ob das, was wir mit der Zuzahlungsregelung erreichen wollten, tatsächlich erreicht wird. Im Zusammenhang mit der Praxisgebühr kann ich mich daran
erinnern, dass ich einmal am zweiten Tag eines Quartals
beim Arzt war, wo ich am Tresen gefragt wurde, ob ich
schon einmal die Überweisungen für den Hautarzt, den
Augenarzt und diverse andere Ärzte mitnehmen wolle.
Als ich sagte, ich hätte eigentlich gar nicht vor, diese
Ärzte anschließend aufzusuchen, sagte man mir, es sei
üblich, am Anfang des Quartals schon einmal die ganzen
Überweisungen mitzugeben, damit das für jeden erledigt
sei.
Insofern muss man da genau schauen, ob die Steuerungswirkung, die wir wollen, tatsächlich erreicht wird.
Dennoch ist das Ziel richtig, ein Bewusstsein für die
Kosten des Systems zu schaffen und eine Beteiligung
entsprechend dem Einkommen vorzusehen.
({1})
Drittens. Der Antrag steht in einer bestimmten Tradition von Anträgen, die Sie als Linkspartei regelmäßig zu
den unterschiedlichsten Themen stellen. Einmal mehr
sagen Sie im Grunde nichts zur Deckung der Kosten und
der Ausfälle, die damit verbunden wären. Es geht um
etwa 500 Millionen Euro. Das sind 0,05 Beitragssatzpunkte. Das ist bemerkenswert angesichts der Tatsache,
dass die Opposition uns im Anschluss an diese Debatte
noch eine Debatte aufdrücken will aus Sorge um vermeintliche oder tatsächliche Beitragssatzsteigerungen.
Diese 0,05 Beitragssatzpunkte schlagen Sie hier vor,
ohne mit einem Satz zu erwähnen, wie das anschließend
finanziert werden soll. Von daher fällt dieser Antrag in
die übliche Liste der Wünsch-dir-was-Anträge der
Linkspartei. Sie mögen zwar populär und populistisch
sein, aber sie sind nicht fundiert; sie betrachten nicht die
Realität und schon gar nicht unsere Zielsetzung. Deswegen ist der Antrag von uns abzulehnen.
({2})
Nun hat Kollege Frank Spieth, Fraktion Die Linke,
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich einige Anmerkungen zu den einzelnen Beiträgen mache, noch einmal zum
grundsätzlichen Anliegen dieses Antrags. Der „Linkssozialist und Revolutionär“ Norbert Blüm hat in den
90er-Jahren die Zuzahlungen in der gesetzlichen Krankenversicherung eingeführt. Er hat damals festgestellt,
dass aus sozialer Rücksicht auf Menschen mit geringem
Einkommen eine Härtefallregelung notwendig sei, damit
diese Menschen vor Überforderung bei Zuzahlungen geschützt würden.
({0})
Er ist ein wackerer Christdemokrat.
Die Sozialdemokratische Partei hat durch ihre damaligen Vertreter gegen die Härtefallregelung argumentiert,
und zwar mit der Begründung, dass sie gar keine Zuzahlungen wolle. 15 Jahre später wird Ihre Einstellung deutlich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD: Was
schert mich mein Geschwätz von gestern? Was interessiert uns das, was wir als Partei der sozialen Gerechtigkeit in Wahlkämpfen versprechen? In der Praxis wird
dann genau das Gegenteil gemacht, leider weitgehend
unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Das ist sehr bemerkenswert.
({1})
Welches Anliegen verfolgen wir mit der Härtefallregelung? Damit wollen wir das, was bis zum 31. Dezember 2003 gegolten hat, wieder einführen. Übrigens
wollten Ihre Fraktion und Ihre Ministerin noch im Jahr
2003 die Härtefallregelung erhalten; sie wurde dann aber
auf dem Altar des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes
und bei den Nacht- und Nebelabsprachen mit Herrn
Seehofer, die das Gesetz ermöglichen sollten, geopfert.
Das ist die politische Realität.
Mit der Härtefallregelung sollten Menschen mit geringem Einkommen vor Überforderung geschützt werden. Wenn davon die Rede ist, die alte Regelung wieder
einzuführen - also Versicherte mit einem Einkommen
bis zu 40 Prozent der Bezugsgröße wieder von den Zuzahlungen zu befreien -, dann bedeutet das in Zahlen:
Wer weniger als 994 Euro Einkommen bezieht - das betrifft die große Masse der Rentnerinnen und Rentner -,
wäre endlich wieder von Eintrittsgebühren beim Arzt,
Zuzahlungen zu Arznei- und Heilmitteln und zum Krankenhausbesuch befreit. Darum geht es bei dieser Härtefallregelung im Kern.
({2})
Das haben Sie bei gleichzeitigen deutlichen Erhöhungen
der Zuzahlungen Ende 2003 abgeschafft. Das halte ich
nach wie vor für einen sozialen Skandal.
({3})
Wir wollen aber mit dieser Regelung nicht nur Menschen mit geringem Einkommen schützen. Wir wollen
auch Bezieher von Arbeitslosengeld II, Sozialhilfe, Sozialgeld, Grundsicherung und Ausbildungsförderung
nach BAföG oder SGB II, deren Einkünfte unterhalb der
Einkommensgrenze liegen, von Zuzahlungen befreien,
wie es bis zum 31. Dezember 2003 der Fall war.
Vielleicht kann mir jemand erklären, was das, was damals von Schwarz-Gelb eingeführt und von Rot-Grün
gemeinsam mit den Konservativen in diesem Hause abgeschafft wurde, mit Populismus zu tun hat. Es geht nur
darum, den Zustand der schreienden sozialen Ungerechtigkeit in diesem Land endlich aufzulösen.
Lassen Sie mich abschließend das Beispiel einer
Gruppe von chronisch Kranken aus Sonneberg im südlichen Thüringen anführen, die in einem Brief klipp und
klar feststellen: Am härtesten treffen die Zuzahlungsregelungen immer die chronisch Kranken. Denn deren
Ausgaben im Gesundheitswesen nehmen inzwischen erhebliche Ausmaße an, sei es durch die Erhöhung der
Krankenkassenbeiträge, die Zuzahlung zu Medikamenten, medizinischen Hilfsmitteln, Brillen, Zahnersatz und
psycho- und physiotherapeutischen Maßnahmen, die Benachteiligung der gesetzlich Versicherten gegenüber privat Versicherten und vieles andere mehr.
({4})
Sie scheinen die Lebensrealität der Menschen mit geringem Einkommen in diesem Lande nicht mehr im Fokus zu haben. Wir brauchen wieder Härtefallregelungen,
damit Menschen durch Armut und geringe Einkommen
nicht von der Gesundheitsversorgung ausgeschlossen
werden. Das ist eine Tatsache.
({5})
Danke für Ihre Unaufmerksamkeit.
({6})
Ich erteile das Wort Kollegen Harald Terpe, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Vorab eine persönliche Einschätzung: Die Frage, ob sich mit Zuzahlungen mehr Eigenverantwortung und ein verantwortungsbewussterer
Umgang mit den Gesundheitsausgaben im erhofften
Maße fördern lässt, lässt sich noch nicht sicher beantworten. Ich glaube, darüber sind wir uns einig. Ziel ist
tatsächlich gewesen, die Eigenverantwortung zu stärken
und eine Steuerung der Gesundheitskosten einzuführen.
Insofern hat sich die Richtung unserer Diskussionen
über die Gesundheitspolitik in den letzten fünf Jahren
verändert. Das muss man zur Kenntnis nehmen.
Wir haben die Verpflichtung, auf eine möglichst gerechte Ausgestaltung der Zuzahlungen zu achten. Hier
gibt es sicherlich offene Fragen, beispielsweise ob nicht
die ohnehin durch Krankheit belasteten Patientinnen und
Patienten auch die Hauptlast der Zuzahlungen tragen.
Wir müssen darüber diskutieren und uns fragen, ob wir
Änderungen vornehmen müssen. Der Antrag der Linken
ist aber nicht unbedingt geeignet, auf den aus unserer
Sicht unbestreitbaren Zusammenhang zwischen sozialem Status und Gesundheit angemessen zu reagieren. Er
wirft neue Gerechtigkeits- und Diskriminierungsfragen
auf genauso wie die Frage nach der Finanzierung; darauf
wurde schon hingewiesen. Man muss konstatieren, dass
die Zuzahlungsregelungen nicht nur Nachteile, sondern
auch Vorteile bringen. Danach müssen sich diejenigen,
die chronisch krank sind und über geringe Mittel verfügen, nicht vorher einen Schein bei irgendeiner Behörde
besorgen, um nachzuweisen, dass sie von der Zuzahlung
befreit sind.
Wir sind uns wahrscheinlich weitgehend über die
Feststellung einig, dass es einen Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und unterschiedlich verteilten Gesundheitschancen gibt. Menschen mit einem schlechteren sozialen Status sind häufiger und anders krank als
Menschen mit hoher Bildung und einem höheren Einkommen. Darauf hat der Sachverständigenrat hingewiesen. Das ist auch im Armuts- und Reichtumsbericht der
Bundesregierung an vielen Stellen nachzulesen. Allerdings bleiben nach unserer Meinung zumindest aufseiten
der Regierungsbank die nötigen Konsequenzen aus. Die
Koalition ist bislang praktische Antworten auf die Frage,
was sie gegen sozial bedingte Ungleichheiten bei den
Gesundheitschancen zu tun gedenkt, schuldig geblieben.
Ich will das an zwei Beispielen deutlich machen. Erstes Beispiel. Wir wissen, dass gut gemachte Gesundheitsförderung und Primärprävention vor allem bei Menschen mit niedrigem sozialen Status ansetzen müssen.
Seit Monaten wird in der Koalition ergebnislos über den
Entwurf eines Präventionsgesetzes inhaltlich gestritten.
Das ist keine wirksame Präventionspolitik. Ein Präventionsgesetz müsste über Marketingaktionen der Krankenkassen oder des Bundesgesundheitsministeriums hinausgehen.
({0})
Das zweite Beispiel ist der Regelsatz für Bezieher
von ALG II und Sozialhilfe. In den monatlichen Regelleistungen ist bekanntlich ein Anteil von 4 Prozent für
Gesundheitsausgaben vorgesehen. Das sind monatlich
knapp 14 Euro. Man kann sich leicht ausrechnen, dass
dies bei einer Bevölkerungsgruppe, die ohnehin durch
einen schlechteren Gesundheitszustand gekennzeichnet
ist, in vielen Fällen nicht ausreichend ist. Unsere Antwort darauf lautet nicht, die Regelleistungen isoliert über
das Gesundheitssystem zu finanzieren. Wir fordern eine
Nachbesserung bei den Regelsätzen. Das heißt, wir wollen sie anheben. Wir haben dazu schon Anträge eingebracht und darüber diskutiert. Ich glaube aber, dass die
Koalition die Diskussion über eine Anpassung verweigert und dass manche das Problem noch gar nicht erkannt haben.
Wir werden uns bei der Abstimmung über den Antrag
der Linken enthalten, weil wir eine gründliche und zielorientierte Debatte darüber für notwendig halten, wie
wir die Gesundheitschancen von Menschen mit geringen
Einkommen und geringen Bildungsabschlüssen verbessern können. Dieser Ansatz ist anders als der der FDP.
Sie befürwortet durchaus die Einführung einer Härtefallregelung, findet aber die Begründung der Linken völlig
absurd. Wir hingegen finden einiges in der Begründung,
zum Beispiel den Vorschlag, über die Gesundheitschancen zu reden, richtig, nicht aber die Härtefallregelung.
Wir müssen erstens endlich ein Gesetz für eine wirksame Gesundheitsprävention auf den Weg bringen. Wir
müssen zweitens die Regelsätze bedarfsgerecht anpassen. Wir müssen drittens darüber diskutieren, ob die derzeit genutzten Anreizinstrumente zur individuellen Steuerung der Gesundheitsausgaben geeignet sind.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und schönes
Wochenende.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zum Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Wiedereinführung der vollständigen Zuzahlungsbefreiungen für Versicherte mit geringem Einkommen im Wege der Härtefallregelung“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/7435, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 16/6033 abzulehnen.
({0})
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und
FDP angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 10 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der FDP
Gesundheitsfonds stoppen - Beitragsautonomie der Krankenkassen bewahren
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Daniel Bahr, FDP-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich erinnere die schwarz-rote Koalition zunächst an
das, was sie sich selbst für diese Legislaturperiode vorgenommen hat. Im Koalitionsvertrag vom 11. November
2005, in dem sich CDU, CSU und SPD auf ihre Ziele für
diese Legislaturperiode festgelegt haben, heißt es wörtlich:
Für den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung wird in 2006 ein umfassendes Zukunftskonzept
entwickelt, das auch darauf angelegt ist, die Beiträge
zur gesetzlichen Krankenversicherung mindestens
stabil zu halten und möglichst zu senken.
Die schwarz-rote Koalition hat sich nach monatelangen Verhandlungen auf eine Gesundheitsreform geeinigt,
die seit dem 1. April 2007 in Kraft ist. Die Beiträge zur
gesetzlichen Krankenversicherung betrugen zu Beginn
Ihrer Amtszeit als Große Koalition 14,2 Prozent. Sie betragen mittlerweile aufgrund der Politik der schwarz-roten Koalition 14,8 Prozent. Sie haben bisher mitnichten
dazu beigetragen, dass die Beiträge zur gesetzlichen
Krankenversicherung „mindestens stabil“ geblieben oder
sogar gesunken sind. Im Gegenteil, die Bürgerinnen und
Bürger müssen immer mehr zahlen; sie werden für eine
falsche Politik von Schwarz und Rot immer mehr zur
Kasse gebeten.
({0})
In diesem Jahr muss die Bundesregierung erstmals einen bundesweit einheitlichen Beitragssatz für den Gesundheitsfonds festlegen. Berechnungen des Münchener
Instituts für Gesundheitsökonomie gehen von einem Beitragssatz von 15,5 Prozent aus. Der Sachverständigenrat
Gesundheit und andere Institute wie das des Herrn Kollegen Lauterbach
({1})
erwarten einen Satz zwischen 15 und 15,4 Prozent. Verschiedene Krankenkassen haben einen Satz von bis zu
15,5 Prozent berechnet. Fest steht damit, meine Damen
und Herren, dass von Ihnen im Herbst dieses Jahres ein
Beitragssatz oberhalb von 15 Prozent beschlossen werden müsste, damit der Gesundheitsfonds in Kraft treten
kann und die Krankenkassen aus den Zuweisungen aus
dem Gesundheitsfonds 100 Prozent ihrer Ausgaben decken können. Damit steht also fest, dass der Beitragssatz
gegenüber 2005 erneut deutlich steigen wird. Für die
Bürgerinnen und Bürger wird es immer teurer, aber mitnichten besser.
({2})
Die schwarz-rote Bundesregierung geht mit dem Gesundheitsfonds den Weg in ein staatliches und zentralistisches Gesundheitswesen. Demnächst wird die Regierung Jahr für Jahr darüber entscheiden, wie viel Geld
dem Gesundheitswesen zur Verfügung steht. Wenn Sie
in jedem Herbst festlegen müssen, wie hoch ein bundesweit einheitlicher Beitragssatz ist, dann hat dies überhaupt nichts mit Wettbewerb zu tun.
({3})
Bisher entscheiden die Krankenkassen im Rahmen eines
zaghaften Wettbewerbs, wie hoch ihr Beitragssatz ist.
Diese Entscheidung nehmen Sie ihnen weg. Demnächst
entscheiden Sie dann, Frau Schmidt. Jedes Jahr im
Herbst entscheidet die Bundesregierung, wie viel Geld
dem Gesundheitswesen im nächsten Jahr zur Verfügung
stehen wird. Dies wird kein leichtes Spiel sein, wenn die
Ausgaben steigen, wie es jetzt absehbar ist. In diesem
Falle müssen Sie entscheiden, wie hoch der Beitragssatz
ist. Diese Entscheidung wird sich keine Regierung leicht
machen, weil es um einen Anstieg der Lohnzusatzkosten
geht, was eine weitere Belastung des Arbeitsmarkts bedeutet. Dann werden wir in jedem Jahr die Diskussion
haben, auf die Sie gerade einen Vorgeschmack bekommen,
({4})
nämlich den Streit darüber, wie wir kurzfristig verhindern können, dass der Beitragssatz angehoben werden
muss.
({5})
Sie, Frau Schmidt, haben doch schon längst eingestanden, dass der Beitragssatz weiter steigen muss; denn Sie
fahnden bereits nach Vorschlägen, wie man diesen Beitragssatzanstieg verhindern kann, indem Sie überlegen,
wie zusätzliche Steuergelder in den Gesundheitsfonds
fließen oder wie Sie Arzneimittelsparpakete planen können.
Das heißt, das, was Sie jetzt machen, werden wir jedes Jahr erleben. Wir werden erleben, wie versucht wird,
kurzfristig mit Maßnahmen Kostendämpfungspolitik zu
betreiben. Es werden Zuzahlungen erhöht,
({6})
es werden Leistungen gekürzt, es werden Sparopfer von
Krankenhäusern, von Apothekern und von Ärzten verlangt. Die Bürgerinnen und Bürger werden dann erleben,
wie instabil und unsicher dieses Gesundheitswesen
durch die Entscheidung für den Gesundheitsfonds und
einen Einheitsbeitragssatz finanziert wird. Das macht die
Finanzierung des Gesundheitswesens eben nicht nachhaltiger - das aber haben Sie sich vorgenommen -, sondern instabiler. Das ist der große Fehler dieser Reform.
({7})
Demnächst sollen 50 bis 80 Krankheitsbilder bei der
Umverteilung des Geldes im Gesundheitsfonds berücksichtigt werden. Das bedeutet einen enormen Dokumentationsaufwand und schafft Bürokratie bei der Zuteilung
der Gelder an die Krankenkassen, was das Gutachten gerade deutlich gemacht hat. Das wird übrigens einen AnDaniel Bahr ({8})
reiz schaffen, dass die Krankenkassen möglichst viele
Versicherte in diese Krankheitsbilder eingruppieren, und
Deutschland wird dabei wegen Ihrer Gesundheitsreform
kränker.
Ich komme zum Schluss. Der Gesundheitsfonds löst
kein einziges der Probleme, vor dem wir im Gesundheitswesen stehen. Er schafft nur neue. Die Beitragszahler
müssen für eine verkorkste schwarz-rote Gesundheitsreform teuer bezahlen. Stoppen Sie diesen Gesundheitsfonds, damit es für die Beitragszahler nicht immer teurer
wird!
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat nun Annette Widmann-Mauz, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Politik beginnt zunächst einmal mit dem Betrachten der
Realität.
({0})
Das gelingt nicht mit dem Betrachten des Gutachtens,
das im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft präsentiert wurde.
({1})
Das neue Jahr begann mit einem gesundheitspolitischen
Schnellschuss, einem wahren Neujahrsböller: Viel Lärm
um nichts. Dieses Gutachten ist fachlich mangelhaft,
({2})
es ist spekulativ, es ist schlichtweg höchst unseriös.
({3})
Tatsachen werden einfach negiert, und es wird mit Spekulationen gearbeitet. Sie, Herr Bahr, wissen doch
selbst: Die Entwicklung der beitragsrelevanten Einnahmen können Sie und wir im Moment überhaupt nicht abschätzen. Sie kennen nicht die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in diesem Jahr, auch wir
kennen sie nicht. Im Moment steigt sie, und das ist gut.
Sie kennen nicht die Zahl der Arbeitslosen am Ende dieses Jahres, auch wir kennen sie nicht. Im Moment sinkt
die Zahl der Arbeitslosen durch die gute Politik der Bundesregierung.
({4})
Sie kennen die Lohnentwicklung in diesem Jahr nicht.
Ich höre, was die Gewerkschaften fordern, und deshalb
lassen Sie uns doch erst einmal abwarten, wie sich die
Einnahmen in diesem Jahr entwickeln.
Sie kennen das Gutachten des Wissenschaftlichen
Beirats zum Risikostrukturausgleich seit gerade einmal
sieben Tagen. Erst seit sieben Tagen ist es nämlich veröffentlicht. Es handelt sich um eine hochkomplexe Materie.
({5})
Dass Sie schon heute den Mut haben, die Wirkungen,
insbesondere die finanziellen Wirkungen, für jede einzelne Kasse und damit für jeden Versicherten abzuschätzen, finde ich erstaunlich. Dazu kann ich Ihnen nur gratulieren. Wir können das nicht. Wir machen seriöse
Politik.
Auch über die Ausgabenentwicklung wird kräftig
spekuliert. Sie kennen die Ergebnisse der Honorarvereinbarungen nicht, auch ich kenne sie nicht. Wie können
Sie schon jetzt genau sagen, wie viele Milliarden am
Ende dabei herauskommen? Herr Bahr, es geht schlichtweg nicht, dass Sie morgens mit den Ärzten, seien es die
niedergelassenen Ärzte oder sei es der Marburger Bund,
demonstrieren und sagen, dass die Ärzteschaft zu
schlecht honoriert wird und die Arbeitsbedingungen zu
mies sind, und sich nachmittags hier ans Pult stellen und
die Beitragssatzsteigerungen beklagen, die zum Beispiel
aus solchen Lohnerhöhungen resultieren. So geht es
nicht.
({6})
Sie alle wissen, dass dieses Gutachten Dinge schlichtweg übersehen hat, zum Beispiel dass der Steuerzuschuss im nächsten Jahr 4 Milliarden Euro betragen wird
und deshalb 1,5 Milliarden Euro mehr als in diesem Jahr
in den Fonds fließen werden. Niemand kann heute seriös
den Beitragssatz vom 1. Januar nächsten Jahres benennen. Der allgemeine Beitragssatz im nächsten Jahr ergibt
sich aus dem durchschnittlichen Beitragssatz dieses Jahres. Wenn die Beiträge in diesem Jahr stabil bleiben,
dann hat das Auswirkungen auf das Jahr 2009. Es ist genauso irrwitzig, eine Verknüpfung zwischen möglichen
Beitragssatzsteigerungen der gesetzlichen Krankenkassen und dem neuen Finanzierungssystem herzustellen.
Das ist schlichtweg unlauter. Anders ausgedrückt: Wenn
die Beiträge steigen, dann tun sie dies unabhängig davon, ob es einen Gesundheitsfonds gibt;
({7})
denn ihr Anstieg hat ganz andere Gründe, die Sie kennen.
({8})
Ich will Ihnen ein Weiteres sagen. Sie tun hier immer
so - auch heute Nachmittag wieder -, als ob der allgemeine Beitragssatz der einzige Bestandteil des Beitrags
der Versicherten im nächsten Jahr und in der Zukunft
wäre. Sie tun so, als ob jeder Versicherte bei jeder Kasse
gleich viel bezahlen müsste. Aber das wird nicht der Fall
sein. Das neue Finanzierungssystem besteht aus zwei
Teilen, nämlich aus dem allgemeinen Beitragssatz, der
einen Durchschnittssatz aller Kassen abbildet, und aus
der Notwendigkeit, einen Zusatzbeitrag zu verlangen,
oder der Möglichkeit, den Versicherten einen Pauschalbetrag zurückzugeben. Wer also heute in einer Kasse
versichert ist, die wirtschaftlich effizienter arbeitet, der
wird auch in Zukunft - wenn diese Kasse weiterhin so
arbeitet - von Rückzahlungen profitieren können.
Das ist das neue System. Es bringt die Kassen dazu,
dass sie sich jetzt auf diese Finanzierungsform vorbereiten. Sie organisieren ihre Verwaltungsstrukturen um. Sie
schließen Verträge. Das alles läuft an. Die Rabattverträge, die geschlossen werden, bieten doch ein Einsparpotenzial. Aber das beklagen Sie wiederum, weil das
Einsparungen bringen könnte. Sie müssen sich entscheiden, ob Sie auf den Barrikaden bei denjenigen stehen,
die im Grunde jede Veränderung verhindern wollen - sie
kämpfen an vielen Stellen dafür -, oder ob Sie dazu beitragen, dass diese wettbewerblichen Instrumente in unserem System mit dafür sorgen, Beiträge stabil zu halten
und damit am Ende einen Fortschritt für die Versicherten
zu erreichen.
Unsere Maßnahmen führen auch dazu, dass Ausgaben
steigen. Wir haben hier im Parlament übereinstimmend
festgestellt, dass wir zum Beispiel die Impfquote in
Deutschland steigern wollen. Dann dürfen wir aber,
wenn die Ärzte jetzt mehr impfen, nicht höhere Arzneimittelausgaben beklagen.
({9})
Zum Beispiel werden in Berlin sehr viele HPV-Impfungen durchgeführt.
Auch Sie wissen: Wir wollen ebenfalls, dass weiterhin genügend Ärzte für die Versorgung in Deutschland
zur Verfügung stehen. Dazu brauchen wir ein gerechtes
Honorierungssystem. Wenn wir also wollen, dass den
Versicherten der medizinische Fortschritt in einer alternden Gesellschaft zugutekommt, dann müssen wir es jetzt
schaffen, dafür das notwendige Geld zur Verfügung zu
stellen.
Ich kann Ihnen von der FDP nur sagen: Sie haben
heute wieder einmal demonstriert, dass Sie wissen, was
Sie nicht wollen. Das ist nichts Neues. Das können Sie
gut. Wenn Sie uns heute gesagt hätten, was Sie außer der
Streichung des Fonds konkret tun wollen, um die Beitragssätze in unserem Land stabil zu halten, dann wäre
das wirklich eine Aktuelle Stunde wert gewesen. So haben Sie wieder einmal mehr dazu beigetragen, die Menschen mit Spekulationen und Halbwahrheiten zu verunsichern, und Sie haben nur denen im Land wieder
Hoffnung gemacht, die sich immer schon gegen Veränderungen, gegen mehr Transparenz und gegen mehr
Wettbewerb gewehrt haben.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat nun Kollege Frank Spieth, Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es gut, dass die
FDP diesen Antrag zu einer Aktuellen Stunde gestellt
hat; denn sie bietet die Gelegenheit, miteinander über die
Frage zu diskutieren, ob der Gesundheitsfonds, der hier
zur Debatte steht, das eigentliche Problem der vergangenen „Gesundheitsreform“ ist.
({0})
Ich meine, nein.
Der Gesundheitsfonds ist nicht das Problem. Das Problem ist vielmehr, dass die Koalition im vergangenen
Jahr versäumt hat, eine grundlegende Neufinanzierung
der gesetzlichen Krankenversicherung auf den Weg zu
bringen.
({1})
Das heißt, dass wir Privilegien abschaffen, dass wir alle
in die gesetzliche Krankenversicherung einbeziehen und
dass wir von allen Einkommensarten einen Beitrag abverlangen. Das hätte zur Folge, dass man mit einer solchen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung - das wäre
das nämlich - einen Beitrag von im Durchschnitt
10 Prozent realisieren könnte. Das ist die Wirklichkeit.
Dass es dazu nicht gekommen ist, ist ein Problem der
letzten „Gesundheitsreform“.
Unter anderem die FDP schlägt jetzt aus nachvollziehbaren Gründen auf den Sack Gesundheitsfonds. Eigentlich meint sie etwas ganz anderes: Der FDP geht es
im Kern um die Stärkung von Privilegien - das ist meine
feste Überzeugung - und nicht darum, etwas mehr soziale Gerechtigkeit herzustellen.
({2})
In einem Punkt allerdings hat Herr Bahr recht. Es ist
nach meiner Auffassung nicht zulässig, so zu tun, als
würden die Beiträge zu einem Gesundheitsfonds deutlich unter den jetzigen Durchschnittsbeiträgen in der gesetzlichen Krankenversicherung liegen.
({3})
Wir haben aktuell in der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland einen durchschnittlichen Beitragssatz von roundabout 14 Prozent.
(Zuruf des Abg. Dr. Hans Georg Faust ({4})
- Ja, 13,8 Prozent waren es im vergangenen Jahr, 2007,
Herr Dr. Faust; das wissen Sie genau. Am 1. Januar 2008
haben 60 Krankenkassen die Beiträge erhöht, und deshalb sind wir jetzt bei 14 Prozent.
Das ist aber nicht die ganze Wahrheit. Tatsache ist
auch, dass den Versicherten ein Zusatzbeitrag von
0,9 Prozent zugemutet wird. Das heißt, wir sind unterm
Strich bei einer Gesamtbelastung von 14,9 Prozent. Der
Schätzerkreis, der vom Bundesversicherungsamt eingesetzt ist, die Kostenentwicklungen kalkuliert und daraus
beitragsrelevante Schlussfolgerungen zieht, sagt: In diesem Jahr werden die Ausgaben in der GKV und damit
die Beitragsleistungen in etwa um 0,3 Prozent steigen. Dann sind wir schon bei 15,2 Prozent.
({5})
Das ist nicht ganz weit weg von dem, was von dem Institut in München angenommen wurde.
Ich finde, wir sollten ehrlich sein und ehrlich bleiben.
Es war doch unmöglich, dass wir in Deutschland je nach
Wohnort einen Beitragssatz von 13,5 bis 18 Prozent hatten oder je nach Industriebranche oder Handwerk einen
Beitragssatz von 11,3 bis 16 Prozent, inklusive allem.
Das heißt, dass es bisher je nach Wohnort oder Betriebszugehörigkeit unterschiedlich hohe Beitragssätze gab.
Die Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung werden aber überall in Deutschland zu den gleichen
Bedingungen unabhängig von der Höhe des Beitragssatzes bereitgestellt. Insofern ist es schlüssig, wenn am
Ende ein einheitlicher, deutschlandweit gleicher Beitragssatz erhoben wird.
({6})
Das kann doch nicht anders sein als in der Renten- und
in der Arbeitslosenversicherung.
({7})
Wir haben aber mit diesem Gesundheitsfonds ein
ganz anderes Problem in der Tasche. Wenn denn im
Jahr 2009 die Krankenkassen ihre Mittel zu 100 Prozent
aus dem Gesundheitsfonds erhalten - sofern das gelingt,
auch mit dem neuen Risikostrukturausgleich -, wird es
möglicherweise einige Krankenkassen geben, die damit
nicht auskommen. Auf die 0,9 Prozent, die schon jetzt
alle Versicherten zusätzlich zahlen müssen, wird dann
noch etwas draufkommen: Eine Pauschale von bis zu
1 Prozent des Einkommens, die aber mindestens 8 Euro
beträgt. Aber auch das ist nur ein Teil der Wahrheit.
Ein weiterer Teil der Wahrheit in diesem Gesetz wird
überhaupt nicht diskutiert, nämlich dass die Bundesregierung die Beitragssätze erst dann anpasst, wenn die
Ausgaben der zukünftigen Versicherung nur noch zu
95 Prozent durch die Einnahmen gedeckt sind.
({8})
- Das steht im Gesetz.
({9})
- Sie wird nicht vorher erhöhen; davon kann man schon
heute ausgehen. - Ich komme zum Schluss.
Es wird dann ein Delta von 5 Prozentpunkten geben,
das durch die Krankenkassen nicht mehr abgedeckt werden kann. Die Folgen werden sein - anders werden die
Krankenkassen ihre Ausgaben nicht finanzieren können -, dass es zu massiven Leistungskürzungen kommt,
dass die Zuzahlungen erhöht werden oder aber im Umfang jener 5 Prozentpunkte zusätzlich Beiträge erhoben
werden. Das eigentliche Problem der Kopfpauschale ist
die Begrenzung auf 1 Prozent, die von der SPD durchgesetzt worden ist;
({10})
die CDU/CSU wollte das ursprünglich auf 3 Prozent begrenzen. - In der Richtung liegt die Wahrheit.
Es wird spätestens im Jahr 2011 eine deutliche Beitragssatzerhöhung oder erheblich höhere Eigenanteile
der Versicherten geben. Das ist nach meiner Auffassung
sozial unhaltbar.
Danke.
({11})
Das Wort hat nun Bundesministerin Ulla Schmidt.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Man könnte der FDP dankbar sein,
({0})
dass sie uns mit dieser Aktuellen Stunde noch einmal die
Gelegenheit gibt, hier über die Vorzüge eines fairen
Wettbewerbs im Gesundheitswesen zu reden.
({1})
Ich gebe ja zu, dass den Zuhörern und denen, die schon
länger hier sitzen, die Verbindung der Worte „fairer
Wettbewerb“ und „FDP“
({2})
so wie die Verbindung der Worte „der Teufel“ und „das
Weihwasser“ vorkommen muss.
({3})
Immer dann, wenn die FDP nämlich für mehr Wettbewerb eintrat, ging es ihr eigentlich nur darum, Vorteile
für die eigene Klientel zu schaffen.
({4})
Deswegen, Frau Kollegin Widmann-Mauz, passt das
Verhalten der FDP sehr gut zusammen: auf der einen
Seite für mehr Geld für die Pharmaindustrie, für Zahnärzte, für Apotheker und andere streiten, aber anderer14522
seits im Parlament einen Antrag auf Grundversorgung
für alle Menschen einbringen. Das tragen dann die armen Menschen. Diejenigen dagegen, die Geld haben,
könnten sich ihren Krankenversicherungsschutz selber
erweitern.
({5})
Das ist FDP-Politik. Deshalb, Herr Kollege Bahr, werden wir in dieser Frage nie zusammenkommen und gemeinsam etwas auf den Weg bringen.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung will mit der Einführung des Gesundheitsfonds die
Finanzierungsstrukturen der gesetzlichen Krankenversicherung neu gestalten. Wenn alle in diesem Land den
gleichen Anspruch auf Leistungen haben, alle im Prinzip
ins gleiche Krankenhaus gehen, alle bei einer Krankheit
die gleichen Medikamente verordnet bekommen und alle
den gleichen Anspruch auf Kuren und Rehabilitationsmaßnahmen haben - von all dem halte ich sehr viel -,
({7})
dann macht es Sinn, dass auch alle Menschen den gleichen Anteil ihres Einkommens für die Finanzierung dieser Versorgung aufbringen.
({8})
Dass die gesetzliche Krankenversicherung eine Solidargemeinschaft ist, wird ja manchmal vergessen. Hier
ziehen wir nach und machen nun nichts anderes als bei
der Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung. Dort
haben ja auch alle Menschen die gleichen Rechtsansprüche auf Leistungen,
({9})
und zwar egal, ob sie im Osten, im Westen, im Süden
oder im Norden dieses Landes leben.
({10})
Wir werden nicht nur die Beiträge festsetzen, sondern
werden zusätzlich zu den Beiträgen der Versicherten im
Jahr 2009 4 Milliarden Euro aus Steuergeldern für die
gesamtgesellschaftlichen Aufgaben, die heute die Beitragszahlerinnen und -zahler alleine tragen, der GKV zukommen lassen. Dieser Betrag wird in den kommenden
Jahren um jeweils 1,5 Milliarden Euro erhöht, bis eine
Gesamtsumme in Höhe von 14 Milliarden Euro erreicht
ist. Dieser Betrag entspricht dann immerhin 10 Prozent
der derzeitigen Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung; so viel wird dann über Steuergelder finanziert
werden.
({11})
Der Fonds hat eine wichtige Funktion: Er soll das
Geld der Versicherten gerechter verteilen, als es heute
der Fall ist, und zwar erstens, indem unterschiedliche
Einkommensstrukturen bei den Versicherten ausgeglichen werden. Eine Krankenkasse hat ja überhaupt keinen Einfluss darauf, ob sie in einer Region ansässig ist,
in der es hauptsächlich ein niedriges Einkommensniveau
gibt, oder ob sie historisch bedingt fast nur Versicherte
hat, deren Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze liegt. Es ist gerecht, die Einnahmenunterschiede, die sich aus den verschiedenen Einkommensstrukturen ergeben, auszugleichen.
({12})
Zweitens haben wir mit dem Fonds die Möglichkeit,
die Gelder der Versicherten so zu verteilen, dass in Regionen, in denen es besonders viele kranke Menschen
gibt, mehr Geld für eine gute Krankenversorgung fließt
als in Regionen, wo überwiegend junge und gesunde
Versicherte leben.
Insofern schafft der Fonds mehr Gerechtigkeit und
sorgt dafür, dass die Unterschiede zwischen Ost und
West, zwischen Stadt und Land aufgehoben werden und
eine gesamtdeutsche solidarische Finanzierung der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung auf den
Weg gebracht wird.
({13})
Nur auf der Grundlage fairer Verteilung ist Wettbewerb möglich.
({14})
Wir wollen Wettbewerb, um beste Qualität bei der Versorgung zu erreichen. Wir verstehen unter Qualität
({15})
gute Versorgungsangebote und zugleich auch ein nie endendes Bemühen der Krankenkassen, der Vertragspartner, jeden Euro der Versicherten so zielgenau wie möglich für eine gute Versorgung einzusetzen. Eines ist doch
klar: In einer Gesellschaft, in der immer mehr Menschen
länger leben und in der alle Versicherten die Chance haben sollen - diesen Anspruch wollen wir als Koalitionsfraktionen garantieren -, am medizinischen Fortschritt
teilzuhaben, ist es eine immerwährende Aufgabe für alle
im Gesundheitswesen Tätigen, für rationellen Einsatz
der Gelder und damit für kostengünstige, aber zugleich
auch gute Versorgungsangebote mit hohen Qualitätsstandards zu streiten. Das ist mit Fonds und ohne Fonds der
Fall. Aber der Fonds sorgt für mehr Gerechtigkeit.
Die Kassen haben von uns die Möglichkeit bekommen,
mit einem Bündel von Instrumenten - neue Versorgungsverträge, Rabattverträge, Preisverhandlungen, Ausschreibungen und Haushaltsverträge; ich kann die vollständige
Liste gar nicht nennen - möglichst effektiv und effizient
mit dem Geld der Versicherten umzugehen. Wir werden
mit dem Fonds dafür sorgen, dass die Kassen das Geld
erhalten, das sie für die Versorgung ihrer Versicherten
brauchen.
An dieser Stelle fängt der Wettbewerb an. Die Mehrheit der Kassen wird mit dem Geld auskommen. Es wird
sogar Kassen geben, die Beiträge zurückzahlen und zum
Beispiel Boni einräumen. Es wird aber auch Kassen geben, die einen Zusatzbeitrag erheben, der maximal
1 Prozent des Einkommens ausmachen darf. Die Versicherten haben damit aber die Möglichkeit, genau zu sehen, was mit ihrem Geld passiert. Es herrscht erstmals
Transparenz. Denn der Zusatzbeitrag wird nicht einfach
automatisch vom Gehaltskonto abgebucht.
Die Versicherten können sich überlegen, ob sie mit
den Angeboten ihrer Kasse zufrieden sind. Die Menschen verhalten sich bei Beitragserhöhungen in der Regel solidarisch, wenn sie das Gefühl haben, dass sie bei
ihrer Kasse gut aufgehoben sind. Die Versicherten haben
von uns ein umfangreiches Wechselrecht bekommen, damit sie dann, wenn sie nicht Mitglied ihrer Kasse bleiben
wollen, mit den Füßen abstimmen können. Das ist die
Basis für einen wirklichen Wettbewerb, weil die Menschen viel mehr Wahlfreiheiten haben und damit mehr
Druck auf die Kassen ausüben können, sich verstärkt um
gute Versorgungsangebote zu kümmern.
Ich sage Ihnen: Was in den ersten Monaten nach der
Gesundheitsreform passiert ist, ist ermutigend. Es gibt
viele neue Angebote von Telefonhotlines bis hin zu Verträgen, mit denen die Versorgung am Wochenende sichergestellt wird. Es gibt außerdem viele Qualitätsdebatten. Wir stehen hier zwar erst am Anfang. Aber die
Entwicklung zeigt, dass wir den richtigen Weg eingeschlagen haben. Denn das Bemühen um die Versicherten
und um eine gute Versorgung ist wesentlich größer, als
es in den Jahren zuvor der Fall war.
Angesichts des Geredes im Zusammenhang mit der
Frage, ob die Beiträge steigen oder nicht,
({16})
muss ich fragen: Warum sagt keiner etwas zu der Tatsache, dass viele ältere Menschen in Berlin heute um
4 Prozentpunkte höhere Beiträge zahlen als diejenigen,
die Mitglied einer anderen Krankenkasse sind oder in einer anderen Region leben? Warum sagt keiner von denen, die da behaupten, dass der Fonds alles teurer mache, etwas zu der Tatsache, dass derzeit manche
Versicherte Beiträge von über 16 Prozent zahlen, während andere nur 12 Prozent zahlen?
({17})
Diese Spreizung hat nichts, aber auch gar nichts mit
der Wirtschaftlichkeit der Kassen zu tun, sondern sie hat
etwas damit zu tun, dass wir eine ungerechte Verteilung
von Einkommen und Risiken haben. Das kann man
durch vermehrte Wirtschaftlichkeit nicht ausgleichen.
({18})
Wir bieten also auch denjenigen, die bisher sehr hohe
Beiträge zahlen, eine neue Möglichkeit, entsprechend zu
reagieren.
Der Fonds führt zu mehr Wettbewerb. Ich sage noch
einmal: Die Bundesregierung und auch die Koalitionsfraktionen haben überhaupt keinen Grund, dem Geschrei
der Lobbyisten in dieser Frage nachzugeben.
Den Arbeitgebern geht es nicht um den Fonds. Ihnen
geht es darum, dass sie prinzipiell aus der Finanzierung
des Gesundheitswesens aussteigen wollen. Solange das
noch nicht der Fall ist, werden sie jede Gesundheitsreform kritisieren.
Viele Kassenvorstände wollen lieber Intransparenz
haben, als sich in einem transparenten Verfahren der
Kontrolle durch ihre Versicherten zu stellen und ihr Handeln begründen zu müssen.
Die FDP will ein Gesundheitswesen, das für die Gutverdienenden alles bereithält und das für die Armen nur
eine Versorgung auf niedrigem Niveau sicherstellt.
({19})
All das will die Bundesregierung nicht. Wir wollen
eine gute Versorgung für alle. Deshalb wird der Fonds in
diesem Jahr kommen.
Danke schön.
({20})
Ich erteile das Wort Kollegin Birgitt Bender, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Ministerin Schmidt, es sollte Ihnen eigentlich zu
denken geben, dass die Begeisterung für den Einheitsbeitrag zu Ihrem Fonds bei der PDS-Fraktion besonders
ausgeprägt ist;
({0})
denn die steht bekanntlich nicht für Wettbewerb, sondern
für die Einheitskasse. Ihre enthusiastischen Ausführungen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in
Wirklichkeit kein einziges gutes Argument für diesen
Fonds gibt.
({1})
Gäbe es einen Preis für das seltsamste Argument,
würde ich ihn dem Minister für Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Herrn Seehofer, verleihen; er ist heute
leider nicht anwesend.
({2})
Von Herrn Seehofer durften wir jüngst erfahren, der Gesundheitsfonds sei wegen des steuerfinanzierten Zuschusses notwendig, den man der GKV auf diese Weise
zukommen lassen werde. Herr Seehofer war bei den Verhandlungen zum Gesundheitsmodernisierungsgesetz im
Jahr 2003 dabei.
({3})
Frau Widmann-Mauz, Sie erinnern sich: Damals haben
wir den Steuerzuschuss in nicht ganz so wunderbaren
Nächten beschlossen.
({4})
Seither hat es in der Großen Koalition viel Gezerre um
diesen Steuerzuschuss gegeben. Einmal wurde er gecancelt, ein anderes Mal erhöht, dann wieder gekürzt usw.
Dass irgendwer den Fonds im Zusammenhang mit dem
Steuerzuschuss vermisst hat, ist mir aber nicht aufgefallen.
In Wirklichkeit ist es doch so: Herr Seehofer weiß
sehr genau, dass dazu dieser Fonds nicht notwendig ist.
Das zeigt doch nur, dass einem gestandenen Gesundheitspolitiker, der heutzutage eine andere Funktion innehat, schlechterdings kein vernünftiges Argument für diesen Fonds einfällt. Ich finde, das muss man sich einmal
auf der Zunge zergehen lassen.
Frau Ministerin Schmidt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, das, was Sie da schaffen, ist eine Geldsammelstelle, die nichts nützt. Sie löst
das Gerechtigkeitsproblem in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht, und sie löst das Finanzierungsproblem nicht. Es bleibt bei der einseitigen Anbindung
der Beiträge an die Arbeitseinkommen, es bleibt bei der
ungerechtfertigten Privilegierung der Vermögenseinkommen, und es bleibt beim Auseinanderklaffen von
Beitragsbasis und Sozialprodukt. Stattdessen bekommen
wir neue Probleme: Die Bundesregierung wird jedes
Jahr den Beitrag festsetzen müssen.
({5})
Jedes Jahr wird er zum Objekt politischen Gezerres werden. Derzeit kann man beobachten, wie das aussehen
wird - die Kombattanten laufen sich schon mal warm -:
Die CSU, Herr Zöller, beschließt, dieser Einheitsbeitrag
solle möglichst niedrig sein, während die Gesundheitsministerin verspricht, der Beitrag werde im Wahljahr so
hoch sein, dass keine Kasse einen Zusatzbeitrag erheben
müsse. Für die nachfolgenden Jahre verspricht sie das
wohlgemerkt nicht. Jahr für Jahr werden Sie also zu entscheiden haben, wie hoch der Beitrag sein soll. Die einen
werden schreien: „Nicht zu hoch!“, die anderen werden
schreien: „Nicht zu niedrig!“ Wenn Sie zu viel festsetzen, bedeutet das Verschwendung. Setzen Sie zu wenig
fest, fehlt nachher Geld.
({6})
Unter anderem dafür brauchen Sie eine milliardenschwere Schwankungsreserve. Die müssen Sie aber erst
einmal aufbauen, was auch wieder Geld kostet. Liebe
Kollegin Widmann-Mauz, das ist ein Spezifikum des
Fonds, der in der Tat eine beitragstreibende Wirkung hat.
Hinzu kommen die Steigerung der Arzneimittelausgaben
und die Tatsache, dass Sie den Ärzten höhere Honorare
versprochen haben.
({7})
Mit diesem Gesundheitsfonds wird es also zu höheren
Beiträgen kommen.
({8})
Es kommt ein weiteres Problem hinzu. An den Fonds
wird ein Finanzausgleich zwischen den Kassen angebunden, der die Krankheiten berücksichtigt, den wir im
Übrigen auch brauchen: der Morbi-RSA. Die Union hat
lange dagegen gekämpft. Schließlich ist eine Liste von
50 bis 80 Krankheiten entstanden, die uns jetzt vorliegt.
Kein Mensch weiß, warum es nur 50 bis 80 Krankheiten
und nicht mehr sind. Darin spiegelt sich der Rest der
Fundamentalstrategie der Union wider. Was stellen wir
fest? Der Vorschlag berücksichtigt etliche Volkskrankheiten nicht. Asthma und koronare Herzkrankheit kommen nicht vor. Gerade die Krankheiten, für die inzwischen spezielle Behandlungsprogramme entwickelt
wurden, wurden nicht berücksichtigt. Mithin ist zu befürchten, dass sich die Behandlung verschlechtert.
Also, was bringt uns der Gesundheitsfonds? Er bringt
uns keine nachhaltige Finanzierung. Er schwächt die
Selbststeuerungsfähigkeit des Gesundheitswesens. Er
bringt uns höhere Beiträge und gefährdet die Fortschritte
in der Behandlung von chronischen Krankheiten. Angesichts dessen sind Durchhalteparolen hinsichtlich des
Gesundheitsfonds völlig fehl am Platz. Schaffen Sie ihn
einfach wieder ab, und machen Sie eine echte Reform.
Danke.
({9})
Das Wort hat nun Kollege Jens Spahn, CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegin Bender, ich bin seit fünf Jahren im Deutschen Bundestag. Wenn ich die letzten Jahre betrachte,
muss ich fragen: Ist es nicht so gewesen, dass wir hier
auch ohne Fonds in regelmäßigen Abständen über die
Ausgabenentwicklung und die Beitragssatzentwicklung
der gesetzlichen Krankenkassen beraten haben? Jetzt so
zu tun, als würde die Einrichtung eines Fonds dazu führen, dass wir hier im Deutschen Bundestag erstmalig Debatten darüber führen, wie sich die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung entwickeln, ist etwas
hanebüchen.
({0})
Politik hat sich in der Vergangenheit mit der Entwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung beschäftigt.
Das wird auch in Zukunft so sein.
Als Zweites vorneweg: Bei aller persönlichen Wertschätzung für die FDP muss ich sagen, dass es eine gewisse Paradoxie in der Argumentationslinie gibt, wenn
man einerseits sagt, man dürfe bei den Apothekern, bei
den Krankenhäusern, bei den Ärzten und in all den anderen Bereichen nicht sparen, und andererseits sagt, dass
Beiträge nicht steigen dürfen und idealerweise sinken
sollten. Die heutige von Ihnen beantragte Debatte zum
Gesundheitsfonds hätte besser nicht stattgefunden.
Zu der Debatte über den Wettbewerb und den Sinn und
Zweck des Fonds an sich: Wir wollen mit dem Fonds in
Zukunft vermeiden - das ist vorhin schon dargestellt worden -, dass es für die Kassen eine unterschiedliche Ausgangssituation im Wettbewerb - je nach der Einkommensstruktur ihrer Versicherten - gibt. In Zukunft werden
die Kassen für jeden Versicherten die gleiche Grundpauschale, und zwar alters-, risiko- und geschlechtsjustiert,
erhalten und befinden sich dann sozusagen auf der gleichen Startlinie, um im Wettbewerb um eine gute, aber
eben auch - das ist das Entscheidende - effiziente Versorgung mit einer möglichst effizienten Verwaltung gegeneinander um die Kundschaft anzutreten.
So wird dann am Ende - das wird oft vergessen, auch
in der Argumentation des geschätzten Koalitionspartners - der Wettbewerb insbesondere über die Höhe des
Zusatzbeitrages stattfinden. Es wird einige Kassen geben, in denen die Versicherten 5 oder 8 Euro zurückerhalten, weil die Kasse schon heute besonders gut arbeitet.
({1})
Es wird andere Kassen geben, die am Ende zusätzlich 5,
8 oder 12 Euro Beitrag erheben müssen. Das ist Wettbewerb mit klarer Preissignalfunktion, die wir heute bei
den prozentualen Beitragssätzen nicht haben. Das müsste
doch eigentlich die große Zustimmung der Freien Demokraten finden.
({2})
Ich kann Ihnen sagen: Der Fonds kommt zum 1. Januar 2009, wenn drei bis vier Bedingungen erfüllt sind.
({3})
Eine Bedingung ist - wir arbeiten selber noch am Gesetzgebungswerk - die Insolvenzfähigkeit der Krankenkassen. Wir sind dabei, die entsprechenden Gespräche
zu führen. Wir werden das Ganze - da bin ich zuversichtlich - im entsprechenden Zeitablauf schaffen. Es ist
wichtig, dass alle Kassen zum 31. Dezember dieses Jahres schuldenfrei sind, um mit gleichen Bedingungen in
den Fonds starten zu können.
Eine zweite wichtige Voraussetzung ist, dass es ein
vernünftiges Konzept für einen Risikostrukturausgleich
gibt, der gerade schon mehrfach angesprochen wurde.
Ein entsprechendes Gutachten liegt vor. Darüber ist sicherlich noch zu diskutieren. Wir müssen in den nächsten Wochen auch darüber reden, welche Krankheiten
enthalten sind - man wundert sich ja, was alles Eingang
gefunden hat - und welche Krankheiten nicht enthalten
sind; darüber wundert man sich zum Teil noch viel mehr.
Aber auch da liegen wir mit der Auswertung voll im
Zeitplan.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die tatsächliche Wirkung der Konvergenzklausel, mit der wir sicherstellen
wollen, dass kein Bundesland - es wird erhebliche Verteilungsströme aus dem Süden des Landes vor allem in
den Osten geben; da muss man sich nichts weismachen benachteiligt wird. Wir müssen sehen, wie wir das
Schritt für Schritt in einer Konvergenzklausel regeln
können.
Eine weitere wichtige Vorbedingung ist das, was wir
bezüglich der ärztlichen Vergütung wollen. Erstmals seit
langer Zeit soll eine feste, planbare Euro-Gebührenordnung eingeführt werden, die morbiditätsorientiert und
nicht mehr grundlohnsummenorientiert ist. Hier ist die
Selbstverwaltung gefragt.
Unter dem Strich - ich komme zum Ende -: Wir sind
bei all diesen Vorbereitungen für den Fonds voll im Zeitplan.
({4})
Es ist daher vollkommen ohne Not, dass Sie diese Debatte am Freitagnachmittag aufgrund von Gutachten, die
offensichtlich auch in ihrer sachlichen Ausgestaltung bei
schon so einfachen Details wie der Höhe der steuerlichen Zuschüsse vollkommen ins Leere zielen, vom Zaun
brechen.
Ich kann nur sagen: Wer den Fonds, auch als politisch
Tätiger, jetzt infrage stellt,
({5})
der betreibt ein Stück weit politische Selbstaufgabe.
Denn eines kann ich Ihnen versichern: Wir wussten, was
wir taten, als wir uns für den Fonds entschieden haben,
und wir werden ihn zum 1. Januar 2009 umsetzen.
({6})
Das Wort hat nun Kollege Konrad Schily, FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich
Herrn Spahn die Grundsatzfrage stellen höre, weiß ich:
Wir reden über zwei völlig verschiedene Systematiken.
Es gibt eine Systematik der Planwirtschaft
({0})
und eine Systematik der freien, dem Einzelnen entgegenkommenden Bedürfnisbefriedigung. Letztere ist die
Systematik der FDP.
({1})
Lassen Sie mich noch ein paar Vorbemerkungen machen. Mit Verlaub, Frau Schmidt - Sie sind mit uns nicht
gerade zimperlich umgegangen -: Ihr einziges Thema
war die Gleichheit.
({2})
Ich sage Ihnen: Da kann man auch Fünfjahrespläne einbringen.
({3})
Schauen wir uns den Vorgang doch einmal an. Sie
wollen alles gleichmachen, Sie wollen gleiche Bedingungen herstellen, und Sie wollen sozusagen jedem das
gleiche Brot geben. 70 Millionen Versicherte sind aber
nicht gleich. 70 Millionen Versicherte sind 70 Millionen
einzelne Menschen und einzelne Kranke.
({4})
- Ja. Sie haben auch unterschiedliche Bedürfnisse.
Frau Widmann-Mauz, wenn Sie sich das Gutachten
für die Auswahl der Krankheiten zur Berücksichtigung
im morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich anschauen - ich habe es gelesen -,
({5})
dann stellen Sie fest, dass man natürlich 70 oder
80 Krankheiten berücksichtigen kann. Man kann aber
überhaupt nicht vorhersagen, ob eine Krankheit, die in
diesem Rahmen erfasst ist, vor Ort nicht wesentlich billiger behandelt werden kann als eine Krankheit, die dort
nicht erfasst ist.
({6})
Sie können nicht sagen, dass die Ausgabenvarianz,
also die unterschiedliche Höhe der Ausgaben der Krankenkassen, durch den Risikostrukturausgleich abgebildet
wird. Dadurch lassen sich etwa 25 Prozent der unterschiedlichen Varianz erklären. Das ist für Sie das Mittel
zur Schaffung der großen Gleichheit. Sie möchten etwas
unternehmen, um gleiche Verhältnisse herzustellen. Dafür müssten Sie aber alle Menschen gleich alt, gleich
groß, gleich dick und am besten gleich krank machen.
({7})
Vielleicht sollten alle Menschen auch noch Mitglieder
einer Einheitskasse und einer Einheitspartei werden.
Ich möchte einen Absatz aus dem Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs beim Bundesversicherungsamt zitieren:
({8})
Die Erhebung der Daten, die zur Anpassung und Eichung des Regressionsmodells für den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich benötigt werden, erfolgt auf Stichprobenbasis. Die Stichprobe
wird, den Empfehlungen des Gutachters Schäfer
({9}) folgend, als Geburtstagsstichprobe realisiert.
Die dezentral auf Stichprobenbasis erhobenen Daten werden vom Bundesversicherungsamt auf Plausibilität, Vollständigkeit und Qualität geprüft. Im
Rahmen dieser Prüfung werden u.a. die Ausschöpfungsquoten hinsichtlich der Versichertentage und
der berücksichtigungsfähigen Leistungsausgaben
jeder einzelnen datenliefernden Krankenkasse in
Bezug auf ausgewählte Versichertengruppen berechnet.
({10})
Liegen diese Ausschöpfungsquoten außerhalb artspezifischer Toleranzbereiche, so führt das zum Ausschluss der Daten der betreffenden Krankenkasse
aus dem Datensatz.
({11})
Das wird zu Bürokratie führen. Damit müssen wir uns
beschäftigen. Es wird ungeahnt kompliziert werden.
({12})
Das Leben ist schließlich komplex.
Frau Widmann-Mauz, da Sie uns Unbeweglichkeit
vorgeworfen haben, muss ich Ihnen sagen: Es ist unredlich, hier noch von wettbewerblichen Systemen zu sprechen.
({13})
Wir können die Wirklichkeit nicht „verdaten“ oder sie in
Komma- und Zehntelkommastellen fassen.
({14})
- Ja, der freie Markt, der Wettbewerb kann dem Einzelnen entgegenkommen; er kann dem Einzelnen nämlich
ein Produkt anbieten.
({15})
Möchten Sie vielleicht, dass der Arzt sagt: „Ich habe
eine Einheitsminute für Sie“, wenn Sie zwanzig Minuten
oder eine Stunde bräuchten?
({16})
Der Arzt kann sich beim Kranken nicht nach einer Einheitsnorm richten, er muss variabel bleiben. Ich denke,
dass auch Sie das wollen. Aber das Mittel, das Sie wählen, ist grundverkehrt.
({17})
Das Mittel ist pyramidal, es ist 19. Jahrhundert. Der
Glaube an die Verdatung, das war der sozialistische
Glaube, und der ist faszinierend gescheitert.
Vielen Dank.
({18})
Nun hat das Wort Kollegin Elke Ferner, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
habe bisher geglaubt, dass das Niveau und die Seriosität
der Zeitung mit den großen Buchstaben, die ja heute
wieder so einen tollen Bericht gebracht hat, oder der Initiative „Neue Soziale Marktwirtschaft“ nicht mehr zu
unterbieten ist.
({0})
Die FDP hat allerdings gezeigt, dass das sehr wohl
geht. Die FDP möchte die Beiträge senken, habe ich
eben vernommen; Leistungskürzungen möchten Sie aber
nicht. Wie das funktionieren soll, haben Sie uns nicht
verraten.
({1})
- Ach, Sie wollen Leistungskürzungen? Das nehme ich
gerne zur Kenntnis.
Es hat in den vergangenen Tagen leider auch Krankenkassen gegeben, die, obwohl sie es besser wissen
müssten, behauptet haben, dass, wenn der Gesundheitsfonds eingeführt wird, Beitragserhöhungen notwendig
würden. Ich sage Ihnen: Das ist grober Unfug.
({2})
Da ist es relativ egal, von welcher Seite so etwas behauptet wird.
Die Beiträge müssen erhöht werden, wenn die Ausgaben stärker steigen als die Einnahmen; es hat also auch
etwas mit der Einnahmeseite zu tun. Mit der Einführung
des Fonds hat das dagegen nichts zu tun. Auch im jetzigen System mussten die Beiträge immer dann erhöht
werden, wenn die Ausgaben stärker gestiegen sind als
die Einnahmen.
({3})
Eben haben Sie, Herr Bahr, Frau Schmidt und anderen vorgeworfen, dass die Beiträge in der Vergangenheit
gestiegen sind. Doch die Beiträge haben nicht wir festgesetzt, sondern, wie es Gesetz ist, die Selbstverwaltung
der Krankenkassen. Und auch die können das nicht nach
Belieben machen. Die Einnahmen sind nämlich so zu
gestalten, dass die Ausgaben, die im folgenden Jahr voraussichtlich entstehen, gedeckt werden können. Künftig
wird die Bundesregierung den Beitragssatz festsetzen;
dann wird die Verantwortung dafür übernommen werden.
Ob die Ausgaben im Jahr 2009 stärker steigen werden
als die Einnahmen, kann weder hier im Plenum noch in
der Wissenschaft jemand seriös beantworten; so etwas
wäre Kaffeesatzleserei. Wenn Sie sich gerne als Hellseher betätigen möchten, Herr Bahr, bitte schön.
({4})
Aber ich würde es mir nicht zutrauen, zu prognostizieren, wie die Lohnabschlüsse in diesem Jahr aussehen
werden; wie sich die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung entwickeln wird; welche Einsparpotenziale,
die wir den Kassen mit der Gesundheitsreform gegeben
haben, noch mobilisiert werden; wie das Ärztehonorarsystem aussehen wird; wie sich die Arzneimittelkosten
entwickeln werden. All das wissen wir nicht.
({5})
Das werden Sachverständige, wie bisher, am Ende des
Jahres für das folgende Jahr schätzen; daran ändert sich
nichts.
Zum zweiten Punkt, über den ich sprechen möchte.
Natürlich müssen die Einnahmen des Fonds beim Start
im Jahr 2009 die Ausgaben zu 100 Prozent decken.
({6})
Ich fand es schon merkwürdig, muss ich sagen, dass der
Vorsitzende der CSU-Landesgruppe der Auffassung ist,
dass man ja, damit die Beiträge nicht steigen, unter den
100 Prozent bleiben könne. Wir wissen doch gar nicht,
ob die Beiträge steigen müssen oder ob sie stabil bleiben.
({7})
Außerdem wäre so etwas gesetzeswidrig. Ich gehe davon aus, dass sich die Bundesregierung nicht gesetzeswidrig verhalten wird. Die Bundesregierung wird im
Herbst dieses Jahres die Beiträge so festsetzen, dass die
Ausgaben des Jahres 2009 zu 100 Prozent abgedeckt
werden können.
({8})
Da ist es schon merkwürdig, wenn jetzt einige unionsgeführte Länder nicht mehr wissen wollen, was sie im
Bundesrat mit beschlossen haben.
({9})
Wir haben den Gesundheitsfonds in Koalitionsrunden
beschlossen, wir haben den Gesundheitsfonds hier im
Bundestag verabschiedet, und auch der Bundesrat hat
dem Gesundheitsfonds zugestimmt. Eine stärkere Steuerfinanzierung, die zu Beitragssatzsenkungen genutzt
werden könnte, hätten wir haben können, wenn Herr
Stoiber, Herr Koch und Herr Wulff dies nicht verhindert
hätten.
({10})
Einer von den dreien ist schon weg, bei den anderen beiden wird es nicht mehr lange dauern.
({11})
Insofern glaube ich, dass wir auch im Jahre 2009 wieder eine Debatte darüber führen werden, wie wir die
Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung
gerechter als bisher verteilen können. „Gerechter verteilen“ heißt, dass alle Einnahmen und nicht nur die
Einnahmen aufgrund sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung herangezogen werden, weil manche natürlich stärkere Schultern als diejenigen haben, die heute
ausschließlich sozialversicherungspflichtige Einnahmen
erzielen.
Das heißt, wir werden weiter an unserem Konzept der
Bürgerversicherung festhalten. Die Bevölkerung wird
dann im Jahre 2009 Gelegenheit haben, auch darüber abzustimmen.
Schönen Dank.
({12})
Kollege Max Straubinger, CDU/CSU-Fraktion, hat
jetzt das Wort.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die
Wahl des Titels der heutigen Aktuellen Stunde, die ja
von der FDP beantragt wurde, zeugt von einer gewissen
Unseriosität, weil dadurch vermittelt wird, dass die Beiträge angeblich wegen des Gesundheitsfonds steigen.
Deshalb soll die Einführung des Gesundheitsfonds verschoben bzw. die Finanzautonomie der Krankenkassen
beibehalten werden. Das ist der Antrag der FDP-Bundestagsfraktion.
({0})
Ich glaube, es wäre wichtiger und richtiger, uns in
normalen Debatten über die Gesundheitspolitik auszutauschen, als dass die FDP immer dann eine Aktuelle
Stunde beantragt, wenn irgendwo wieder ein Gutachten
gefertigt wird oder sich irgendeine Stimme erhebt und
Kritik übt. Ich glaube nicht, dass uns das großartig erhellen wird.
({1})
Insgesamt zum Gesundheitsfonds: Ich glaube, dass
vor der Einführung des Gesundheitsfonds noch viel Arbeit vor uns liegt. Die Frau Bundesministerin hat bereits
darauf hingewiesen, was mit dem Gesundheitsfonds bewirkt werden soll, nämlich eine gerechtere Zuordnung
der Beitragsmittel, die dann insgesamt aufzubringen sind
und unter wettbewerblichen Gesichtspunkten von den
Krankenkassen verwaltet bzw. für Gesundheitsleistungen ausgegeben werden. Das alles unterstreichen wir.
Gerade als CSU stehen wir zum Gesundheitsfonds,
aber wir sagen auch ganz deutlich, dass im Zusammenhang mit dem GKV-WSG, also dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz, natürlich alle Hausaufgaben gemacht
werden müssen. Hier mahnen wir selbstverständlich an,
dass verschiedenste Bereiche noch eingehend beleuchtet
und intensiv diskutiert werden müssen.
Das gilt gerade auch für das Gutachten, das jetzt zum
Risikostrukturausgleich erschienen ist. Ich möchte
durchaus auch anmerken, dass es nicht zeitgerecht erschienen ist. Es war versprochen, dass es bis zum
31. Oktober 2007 vorliegt.
({2})
Es liegt aber erst jetzt vor. Das zeigt sehr deutlich, dass
wir hier noch eine intensive Arbeit zu leisten haben.
Gerade als Vertreter eines starken Freistaates verhehle
ich nicht - wir haben darum gekämpft, und auch unser
damaliger Ministerpräsident hat sich sehr intensiv dafür
eingesetzt -, dass die Umsetzung der Konvergenzklausel
natürlich ein entscheidender Gesichtspunkt für die Einführung und den Start des Gesundheitsfonds ist. Dies
muss aufgrund der unterschiedlichen Entwicklungen unseres Gesundheitssystems in den vergangenen Jahren
und Jahrzehnten und aufgrund der unterschiedlichen
Kassenarten, für die wir stehen, weil wir der Meinung
sind, dass gerade auch unterschiedliche Kassenarten für
den Wettbewerb wichtig sind, nachvollziehbar sein. Das
gilt genauso für die private Krankenversicherung, die
ebenfalls für den Wettbewerb im Gesundheitswesen einen großen Stellenwert und eine große Bedeutung hat
und dementsprechend nicht für eine wie auch immer geartete Bürgerversicherung geopfert werden sollte.
Die Kollegin Bender hat heute hier einheitliche Beiträge kritisiert. Man muss feststellen, dass auch die Bürgerversicherung hinterher einen einheitlichen Beitragssatz zur Folge haben würde, was in dieser Hinsicht also
keine Abkehr vom Gesundheitsfonds bedeuten würde.
({3})
Ich glaube, es ist auch entscheidend, dass die Kassen
insolvenzfähig werden. Das ist ja Gesetzesgrundlage.
Hier sind aber natürlich noch sehr viele Fragen offen und
nicht geklärt. Natürlich haben die einzelnen Bundesländer unterschiedliche Interessenlagen, aber wenn die
Finanzhoheit der Krankenkassen eingeschränkt wird
- zumindest auf den 1-Prozent-Beitrag -, dann muss
auch für die Pensionsrückstellungen irgendjemand anderer als jetzt die Länder Verantwortung übernehmen.
Diese Frage ist nicht geklärt. Sie muss geklärt werden. Ich schicke hier voraus: Sie kann nicht dahin gehend geklärt werden, dass dann alle Kassen aufgerufen
sind, für eventuelle Pensionsverpflichtungen einzelner
Kassen letztendlich die Verantwortung zu übernehmen,
beispielsweise über einen Fonds. Das muss schon im
Verantwortungsbereich der Krankenkassen liegen - dort,
wo auch die Pensionsverpflichtungen angefallen sind.
({4})
Ein Letztes: Mitentscheidend ist - das ist heute auch
schon andiskutiert worden - der künftige Beitragssatz.
Ich bin nicht der Meinung, dass der Beitragssatz unbedingt steigen muss - schon gar nicht wegen des Fonds.
Für diesen Beitragssatz ist aber mitentscheidend, dass
die Bundesregierung im Rahmen der Senkung der Lohnnebenkosten eine erfolgreiche Politik betrieben hat. Darauf sind wir stolz. Wir haben hier große Erfolge vorzuweisen. Der Abbau der Arbeitslosigkeit schreitet voran
usw.
({5})
Das ist in einem solchen Prozess natürlich auch zu berücksichtigen. Insofern kann nicht argumentiert werden,
es sei wichtig, dass der Beitragssatz hoch genug ist, damit kein Zusatzbeitrag erforderlich wird und viele Krankenkassen sogar noch eine Rückgewährung vornehmen
können; denn dies geht letztendlich zulasten der Wirtschaftlichkeit der Betriebe in unserem Land, und damit
werden Arbeitsplätze vernichtet.
Das ist zu beachten. Wir werden, gerade auch als
CSU-Fraktion und als Unionsfraktionen, hier natürlich
auf diese Punkte Wert legen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat nun Kollege Peter Friedrich, SPD-Fraktion.
({0})
Mein Präsident! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Man ist versucht, schon zu Beginn allen noch
Anwesenden ein schönes Wochenende zu wünschen;
denn minütlich wird der Saal leerer. Das zeigt vielleicht
auch die Bedeutung der Aktuellen Stunde, die wir momentan hier gemeinsam verleben.
({0})
Seit Beginn dieses Jahres erleben wir, dass permanent
versucht wird, von interessierter Seite einen Zusammenhang zwischen möglichen Beitragssatzsteigerungen und
dem Fonds herzustellen. Ich hatte eigentlich erwartet,
dass dies hier erklärt wird; denn bei der Vorbereitung
habe ich auf der Homepage der FDP-Fraktion heute folgendes Zitat von Daniel Bahr gefunden:
Schuld an dem Anstieg ist der von der Koalition geplante Gesundheitsfonds, der eine neue bürokratische Geldumverteilungsbehörde ist.
In einer anderen Mitteilung hieß es heute Morgen:
Der Fonds ist schon pleite, bevor er gestartet ist.
Man sollte ihn stoppen.
Es wird nichts unversucht gelassen. Bei allem Wortgeklingel ist es Ihnen allerdings heute auch nicht gelungen, lieber Kollege Bahr, zu erklären, woher dieser Zusammenhang denn eigentlich kommen soll.
({1})
Das wäre heute Ihre Aufgabe gewesen.
Es gibt diesen Zusammenhang nicht. Falls Sie uns
nicht glauben, möchte ich ein Zitat von Professor Gerd
Glaeske vortragen,
({2})
das da lautet: Für die Ausgabensteigerung ist der Fonds
nicht verantwortlich.
Ich finde es wichtig, zu wissen, dass genau folgender
Zusammenhang der Zahlen besteht: Wie viele Einzahler
sind da? Wie hoch ist die Grundlohnsumme? Wie hoch
sind die Ausgaben? - Das hat mit Fonds überhaupt
nichts zu tun.
Ihr bekanntes Argument, so etwas sei zu bürokratisch,
ist für Sie ja immer ein grundsätzliches Argument gegen
jede Form von Regelung, die Ihnen nicht passt. Es ist
aber nicht wirklich zielführend.
Die Aktuelle Stunde hat aber eines gebracht: Sie hat
aus meiner Sicht sehr deutlich gemacht, dass es einen
zentralen Unterschied zwischen der FDP-Fraktion und
dem gesamten Rest des Hauses gibt, nämlich den zentralen Unterschied, dass Sie ganz offensichtlich Risikoselektion als ein legitimes Wettbewerbsinstrument betrachten.
({3})
Das muss man Ihren Reden ganz offensichtlich entnehmen. Ihre Intention, dass Sie bei dieser Lösung auch
weiterhin die Beitragsautonomie der Kassen beibehalten
wollen, heißt doch nichts anderes, als dass Sie weiterhin
Unterschiede von den Risken her wollen. Der Beitrag
von Herrn Schily war in diesem Zusammenhang wirklich entlarvend. Seine Ausführungen bedeuten doch
nichts anderes, als dass die individuell unterschiedlichen
Risiken auch als Wettbewerbsvorteil von den Kassen
mitgenommen werden können - Wettbewerb zwischen
den Kassen.
Genau dies wollen wir nicht. Deswegen wollen wir
einen einheitlichen Beitragssatz. Daher gibt es den
Fonds, den Risikostrukturausgleich. Wir wollen, dass
Erfolge aufgrund der Fähigkeit des Managements der
Kasse in Bezug auf die Versorgung der Versicherten
auch im Vertragswettbewerb weitergegeben werden und
dass darüber Wettbewerbsvorteile und Wettbewerbsunterschiede entstehen. Dort soll der Wettbewerb entstehen, auf der Leistungsseite - aber nicht auf der Einnahmenseite.
Herr Schily, bei allen Versuchen, das Ganze auf der
grundsätzlichen Ebene zu betrachten, müssen Sie ein
grundsätzliches Argument akzeptieren. Gesundheit ist
kein frei handelbares Gut wie jedes andere. Das ist eben
genau nicht so.
({4})
In diese Richtung geht jegliche Ihrer Argumentationen.
({5})
- Ich höre Ihnen sehr genau zu. Ich wäre froh, Sie täten
es umgekehrt genauso. Lesen Sie vielleicht noch einmal
nach, was Sie gesagt haben. Sie wollen, dass die individuellen Unterschiede in der Versichertenschaft über den
Beitragssatz weitergegeben werden. Das haben Sie vorhin gesagt.
Ich muss aber auch sagen, dass ich den Widerstand
der Grünen gegen den einheitlichen Beitragssatz nicht
ganz nachvollziehen kann.
({6})
Wenn man auf der einen Seite mehr Steuerfinanzierung
will - dafür bin auch ich -, dann muss man doch auf der
anderen Seite politisch darum kämpfen, dass endlich
eine politische Waffengleichheit zwischen Beitragsfestsetzungen und Steuerfinanzierung hergestellt wird. Bisher war es doch so, dass in diesem Hause nur die Steuern
verantwortet werden mussten. Dann konnte sich die Regierung immer relativ bequem zurücklehnen und sagen:
Entschuldigung, die Beitragssätze legen die Kassen fest;
wir sind empört, das wollen wir nicht mitmachen. - Aber
der Mut, sich stattdessen für eine Steuerfinanzierung
einzusetzen, war, je nach Zusammensetzung der Regierung, nicht immer in gleichem Maße vorhanden.
Deswegen macht es sehr wohl Sinn, unsere Verantwortung auf das gleiche Niveau zu heben. Kollegin
Bender hat gesagt, wir bänden uns da etwas ans Bein.
Ich fände es schön, wenn man die damit einhergehende
Bereitschaft, hier darüber zu entscheiden, und den Mut,
gemeinsam Verantwortung zu tragen, anerkennen würde.
Ein letzter Hinweis. Heute wurde schon wieder beschrieben, das sei das Ende des Wettbewerbs. Wenn Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, all denen,
die in diesen Tagen zu uns kommen, genau zuhören,
dann werden Sie feststellen - und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das auch anerkennen würden -, dass hier
ein funktionierender Wettbewerb existiert. Der Wettbewerb, der über Verträge, über Versorgungsstrukturen,
über Ausschreibung stattfindet, führt noch zu viel Unruhe und zu vielen Klagen, weil manches sich erst einspielen muss; ich erinnere nur an die Rabattlösungen. Jeder von uns war vermutlich in der Apotheke und hat sich
das angeschaut. Aber verheimlichen Sie doch bitte nicht,
dass das funktionierender Wettbewerb ist! Wenn Sie sich
in den Fällen, wo diese Instrumente wirken, die Preise
anschauen, können Sie feststellen, dass das, was Sie
fürchten, nämlich Beitragserhöhungen aufgrund der
Ausgabensteigerungen, an der Stelle am wirksamsten
bekämpft wird.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und ein schönes
Wochenende.
({7})
Das Wort hat nun Kollege Georg Faust, CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Populismus allein macht nicht populär.
({0})
Mit der heutigen Aktuellen Stunde wird die FDP auch
nicht zur Lieblingspartei der gesetzlich Krankenversicherten werden. Das wollen Sie aber vielleicht auch gar
nicht.
({1})
- Natürlich.
Wie schon zu vermuten war, gründet sich die Aufregung der FDP auf die Expertise des Instituts für Gesundheitsökonomik in München. 15,5 Prozent Krankenkassenbeitrag wurden da vorhergesagt. Meine lieben Herren
von der FDP, der Gesundheitsfonds und die geweissagten Beitragssatzerhöhungen haben herzlich wenig miteinander zu tun. Der Preis eines Kleiderschranks hängt
ja auch nicht davon ab, ob ich bar, mit Kreditkarte oder
per Überweisung bezahle.
({2})
- Man muss sich eben auf dieses Niveau begeben; das ist
leider so. Es gibt ja unterschiedliche Qualitäten von
Kleiderschränken.
({3})
- Jetzt hängen Sie nicht die Türen aus! - Die Aussagen
des Instituts zu den Ausgaben für Arzneimittel und
Krankenhäuser schreiben im Wesentlichen die Ausgabensteigerung in den letzten Jahren linear fort. Das muss
man bemerken, wenn man sich die einzelnen Positionen
anschaut. Sie berücksichtigen auch nicht die in den
einzelnen Jahren veränderten gesetzlichen Rahmenbedingungen. Zudem wird vergessen, dass es auch Ausgabenrückgänge im Jahresvergleich gegeben hat. Die Ausgaben im Krankenhaussektor orientieren sich an der
Grundlohnrate, zurzeit 0,64 Prozent. Niemand weiß, was
der neue ordnungspolitische Rahmen bringen wird. Das
ist reine Spekulation. Die Schwankungsreserve kann aus
meiner Einschätzung nicht eingerechnet werden. Sie ist
schon im bisherigen System eingepreist gewesen. Sie lag
in der Verantwortung der einzelnen Krankenkassen und
wurde teilweise leider mit Schulden bedient. Dafür sind
Zinsen zu zahlen. Aber diese extra anzusetzen, ist aus
meiner Sicht nicht korrekt.
Allerdings wird das, was wir den Ärzten mit dem
GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz versprochen haben,
ausgabenrelevant werden. Es ist aber im Interesse der
ärztlichen Versorgung in der Fläche notwendig und wird
sicher auch von den Kollegen der FDP nicht in Zweifel
gezogen.
({4})
Auf der Einnahmenseite steht ein Plus von 1,5 Milliarden Euro, mit dem das Institut rechnet. Das kann
mehr oder weniger sein. Vergessen wurden 1,5 Milliarden Euro Steuermittel, die in dem Fonds zu verbuchen
sind.
Alles in allem keine neuen Erkenntnisse, was den
Fonds betrifft. Wir können für die Zukunft nicht mehr
sagen als das, dass eine älter werdende Bevölkerung und
verbesserte Diagnose- und Therapiemöglichkeiten tendenziell zu höheren Kosten im Gesundheitswesen führen
werden und wir uns gemeinsam überlegen müssen, wie
das zu verkraften ist.
Ich denke, dass die Kritiker des Fonds immer noch
nicht verstanden haben, dass zwar der Beitragssatz einheitlich festgelegt wird, der Wettbewerb aber über den
Leistungskatalog und die einkommensunabhängigen
Rückerstattungen erfolgt.
({5})
Bisher konkurrieren die Kassen um die Höhe des Beitragssatzes. In Zukunft konkurrieren die Kassen um Zuund Abschläge. Der Versicherte spürt jetzt unabhängig
von der Höhe seines Einkommens jede Einsparung der
Kasse in seinem Portemonnaie. Für die Kassen lohnt es
sich, günstigere Tarife mit abgestuften Leistungen anzubieten, und für die Versicherten lohnt es sich, über solche
Angebote nachzudenken.
Allerdings weise ich an dieser Stelle darauf hin, dass
zur Einführung des Fonds wesentliche Voraussetzungen
erfüllt werden müssen: Die Kassen müssen entschuldet
sein. Die Vereinbarungen zur Konvergenzphase müssen
umgesetzt werden. Der Morbi-RSA muss stehen, und die
offenen Fragen zum Kasseninsolvenzrecht müssen geklärt werden. Ich bin aber davon überzeugt, dass wir das
bis zum Jahresende schaffen werden.
({6})
- Das Thema kann man nicht in fünf Minuten abhandeln.
Was die Forderung nach Beitragsautonomie der Krankenkassen betrifft - auch das ist Thema dieser Aktuellen
Stunde -, ist Autonomie in Zukunft deutlich mehr auf
der Leistungs- und Vertragsseite gefordert. Die Union ist
der Auffassung, dass das der richtige Weg ist.
Wenn schon Professor Neubauer und Herr Pfister vermutlich keine guten Wahrsager sind, so ist mein Kollege
Daniel Bahr erwiesenermaßen ein schlechter Prophet.
Am 27. Oktober 2006 sagte er hier für 2007 einen Beitragssatzanstieg der Allgemeinen Ortskrankenkassen im
Westen von 1,5 Prozent und im Osten von 2 Prozent voraus.
Mein lieber Daniel, in Wirklichkeit ist der AOK-Beitragssatz im Westen von Januar 2007 bis Januar 2008
gleich geblieben
({7})
und im Osten von 13,63 auf 13,55 Prozent gesunken.
Es gibt alles in allem viel Lärm um nichts. Der Fonds
wird kommen, und ich bitte die Kollegen von der FDP,
über das Wochenende in sich zu gehen und sich zu fragen, ob wir uns solche Aktuellen Stunden zumuten müssen.
({8})
Das Wort hat nun Christian Kleiminger, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Fürwahr, pünktlich zum neuen Jahr hat uns die Initiative
Neue Soziale Marktwirtschaft mit einer weiteren Studie
beglückt. Sie schürt die Angst vor horrenden Beitragssätzen zur gesetzlichen Krankenversicherung ab 2009.
Damit wagen Sie, Herr Bahr und die anderen Kolleginnen und Kollegen von der FDP, nun den Sturm auf den
Gesundheitsfonds oder besser gesagt den Sturm im Wasserglas.
Der Gesundheitsfonds wird in 348 Tagen eingeführt.
Er ist als solcher kein Allheilmittel - das behauptet auch
niemand -, sondern eher ein Kompromiss. Daraus mache ich persönlich auch keinen Hehl. Dennoch ist der
Handlungsbedarf viel zu groß, als dass man sich aus der
Verantwortung stehlen könnte. Nichts zu tun außer laut
nach einem Reformstopp zu rufen, ist auch keine Lösung.
({0})
Der Gesundheitsfonds pur, für sich allein, ist nicht die
Idee meiner Partei. Manche von uns hätten sich mutigere
Schritte auf dem Weg zu einem solidarischen Gesundheitssystem gewünscht. Auch das wird Ihnen nicht gefallen. Denn ich denke dabei an eine weiter gehende Verpflichtung der privaten Versicherungen oder an eine
weitere Aufstockung der Bundeszuschüsse, um eine
nachhaltig gerechte Absicherung im Krankheitsfall zu
schaffen. Aber das hätte einigen in diesem Hause auch
nicht gepasst. Denn Ihre Vorschläge haben mit einem solidarischen Gesundheitssystem nichts zu tun.
Vielleicht haben Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, bei Ihrem Sprung ins Wasserglas zum
Beispiel vergessen, dass in Ostdeutschland immer noch
mehr Menschen ohne Arbeit sind als in Westdeutschland. Es leben dort mehr ältere Menschen. Das Lohnniveau und damit auch die Sozialversicherungsbeiträge
sind niedriger, es sei denn, Sie schließen sich noch unserer Forderung nach Einführung eines Mindestlohns an;
vielleicht ändert sich das dann.
({1})
Angesichts dieser Situation ist der Ansatz, den der
Fonds verfolgt - gekoppelt an den Morbi-RSA - nicht so
leicht von der Hand zu weisen. Die notwendige solidarische Verteilung der Mittel soll in den ostdeutschen
Ländern dem Erhalt der Struktur der gesetzlichen Krankenversicherung dienen. Gleichzeitig mit dem Gesundheitsfonds soll auch der einheitliche Beitragssatz eingeführt werden.
Die genannten Gutachter haben mit ihren Berechnungen Angst und Schrecken verbreitet. Wir wissen, wer da
seine Interessen durchsetzen will. Natürlich sind die
Freunde der FDP und arbeitgebernahe Verbände gleich
mit ins Wasser gesprungen, um hohe Wellen zu schlagen. Dieses Getöse hat dann die vorhin erwähnte Zeitung mit den vier Buchstaben gerne und ungemein fachgerecht dokumentiert.
Nicht interessengeleitete Fachleute - diese gibt es
auch - halten sich jedoch mit konkreten Zahlen zurück,
weil jede Vorhersage über den Beitragssatz zu diesem
verfrühten Zeitpunkt einzig und allein zur Spekulation
wird. Dass die angesprochene Expertise zudem inhaltlich und methodisch jeder Grundlage entbehrt, wurde
bereits hinlänglich erwähnt. Herr Bahr, meine eigene
Vorhersage dagegen lautet - das meine ich rein spekulativ -: Sie und ich, wir werden immer älter. Das heißt, die
Ausgaben im Gesundheitssystem werden steigen, mit
oder ohne den Gesundheitsfonds. Warten Sie es ab!
Der Beitragssatz wird im Spätherbst festgesetzt. Er
wird vor diesem Hintergrund schwerlich unter die aktuelle Durchschnittsmarke sinken können. Aber ich sage
Ihnen eines: Er darf auch gar nicht zu niedrig angesetzt
werden; denn umso mehr Kosten tragen dann die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer allein in Form von Zusatzbeiträgen. Ein niedriger Beitragssatz entlastet nur die
Arbeitgeber. Korrigieren Sie mich, aber klingt das nicht
allzu sehr nach einer kleinen Kopfpauschale? Man
könnte den Verdacht hegen, dass hier etwas durchgesetzt
werden soll, was bisher nicht gelungen ist. Aber so weit
werden wir es sicherlich nicht kommen lassen.
Ich bleibe dabei: Unser Ziel einer solidarischen Gesundheitspolitik ist und bleibt die Bürgerversicherung,
wenn nicht heute, dann morgen.
({2})
Nun hat als letzte Rednerin in der Aktuellen Stunde
Kollegin Carola Reimann, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In den letzten Monaten nach Inkrafttreten der Gesundheitsreform ist es erstaunlich ruhig geworden. Auch
von der Opposition kam kaum noch etwas. Das ist wenig
verwunderlich, weil alle Weltuntergangsszenarien, die
im letzten Jahr hier im Hause aufgezeigt wurden, nicht
eingetreten sind.
({0})
Die Reform ist gut angelaufen. 100 000 Menschen sind
wieder krankenversichert, die bisher keinen Versicherungsschutz hatten; darauf ist noch nicht hingewiesen
worden. Die Versicherten kommen in den Genuss neuer
Leistungen. Die Finanzentwicklung bei den Krankenkassen verläuft im Wesentlichen positiv. Ich finde, das
kann sich sehen lassen.
Das ist natürlich nicht ganz nach Ihrem Geschmack,
Kollegen von der FDP. Daher kam Ihnen im neuen Jahr
die sogenannte Expertise des Instituts für Gesundheitsökonomik gerade recht. Dass diese eklatante Fehler beinhaltet und vermutlich sogar als Hausarbeit eines Gesundheitsökonomikstudenten abgelehnt würde, scheint
Sie nicht zu stören. Jedenfalls scheuen Sie sich nicht, die
Ergebnisse dieser Expertise als Beleg für Ihre Forderungen in Ihren Antrag zu schreiben. Ich denke, damit ist alles zur fachlichen Basis gesagt. Trotz neuem Jahr enthält
Ihr Antrag keine neuen Argumente und erst recht keine
neuen Ideen und Vorschläge.
({1})
Nun geht es wieder um den Gesundheitsfonds. Dieser
erregt immer wieder die Gemüter vorrangig derjenigen
- diesen Eindruck habe ich -, die ihn nicht komplett verstanden haben. Dabei ist er nichts weiter als ein technisches Instrument der Gesundheitsreform, mit dem Gelder für die GKV eingezogen und verteilt werden. Die
Entwicklung des Beitragssatzes hängt deshalb auch nicht
ursächlich vom Gesundheitsfonds ab; das ist heute sehr
klar geworden. Sie haben für das Gegenteil keine Belege
anführen können. Für die Entwicklung des Beitragssatzes sind vielmehr die Entwicklung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung - diese steigt; das ist
ausgesprochen positiv -, die Tarifabschlüsse und die
Ausgabenentwicklung mit all ihren Facetten - Ausgaben
für Ärztehonorare, Arzneimittel usw. - maßgeblich.
Trotzdem meinen schon jetzt welche, über die zukünftige Höhe des Beitragssatzes spekulieren zu können,
ganze zwölf Monate vor dem Start des Fonds. Seriöse
Vorhersagen sind dies nicht, und ich weiß nicht, woher
diese hellseherischen Fähigkeiten plötzlich kommen.
({2})
Vielmehr wird damit versucht, die Menschen zu verunsichern und erneut Stimmung gegen die in diesem Hause
beschlossene Gesundheitsreform zu machen.
Dazu passt dann auch, dass beim Verkünden solcher
Horrormeldungen ganz entscheidende Fakten bewusst
unterschlagen werden, zum Beispiel, dass ein einheitlicher Beitragssatz nicht die Ausnahme, sondern die Regel
in unseren sozialen Sicherungssystemen ist. Man denke
an die Rentenversicherung, die Pflegeversicherung und
die Arbeitslosenversicherung; überall gibt es einheitliche
Beitragssätze.
Außerdem geht es um den Zusatzbeitrag. Eine weitere
Tatsache ist, dass gut wirtschaftende Kassen ab dem
nächsten Jahr die Möglichkeit haben, ihren Versicherten
monatlich einen Betrag zurückzuzahlen. Nicht zuletzt
hat man natürlich die Möglichkeit, die Kasse zu wechseln, falls diese einen Zusatzbeitrag erhebt. Dies alles
gehört mit in eine seriöse Debatte, wenn man denn eine
solche führen möchte.
({3})
Für uns Sozialdemokraten ist der entscheidende Fortschritt dieser Reform die Verknüpfung des Gesundheitsfonds mit einem verbesserten morbiditätsorientierten
Risikostrukturausgleich, der hier bereits mehrfach angeklungen ist. Mit dem bislang bestehenden Ausgleich
konnten weder die unterschiedlichen Einnahmen der
Mitglieder noch die unterschiedlichen Gesundheitszustände und Versorgungsbedarfe der Versicherten einer
Kasse hinreichend zielgenau ausgeglichen werden. Dies
wird jetzt verbessert.
Mit der Errichtung des Fonds wird es erstmals zu einem wirklich hundertprozentigen Ausgleich der Einnahmen kommen. Das heißt, für eine Kasse spielt es dann
überhaupt keine Rolle mehr, ob sie eine gut verdienende
freiwillig versicherte Bundestagsabgeordnete oder eine
Rentnerin mit einem vergleichsweise geringen Einkommen aufnimmt. Für beide erhält die Kasse in Zukunft einen festen Betrag von voraussichtlich 150 bis 170 Euro.
Doch nicht nur der Ausgleich der Einnahmen wird
verbessert, was auch die regionalen Unterschiede betrifft. Der neue Risikostrukturausgleich berücksichtigt
ebenfalls schwerwiegende und kostenintensive chronische Krankheiten. Für unser Beispiel bedeutet dies, dass
es für eine chronisch kranke Rentnerin einen Zuschlag
gibt, nicht aber für die gesunde Abgeordnete, sodass es
für die Kasse gleichermaßen attraktiv ist, eine Rentnerin
und eine Bundestagsabgeordnete zu versichern. Diese
Zuschläge werden dann auf Basis des Gutachtens, das
hier bereits angesprochen worden ist, berechnet.
Was Herrn Schily angeht, muss man einfach respektieren, dass seriöse Gutachter, die ihre Datengrundlage
definieren und erklären, wie die Qualität der Daten sein
muss, dies nicht immer in leicht verständlichem Deutsch
tun können.
Kolleginnen und Kollegen, meiner Ansicht nach sind
wir einen guten Schritt hin zu einem gerechteren System
gekommen. Der Wettbewerbsvorteil von Kassen, die
vorrangig Gesunde versichern, wird sich merklich verringern. Das ist auch richtig so; das wollten wir. Wir haben immer beklagt, dass dem nicht so war. Die Krankenkassen sollen schließlich ihre Energie darauf verwenden,
die bestmögliche Versorgung und Betreuung ihrer Versicherten zu bieten, nicht aber darauf, in einen Wettbewerb
um gesunde und gut verdienende Versicherte einzutreten. Mit der Verknüpfung von Fonds und verbessertem
Risikostrukturausgleich sind wir also auf einem richtigen Weg.
Ich wünsche ein schönes Wochenende.
({4})
Die Aktuelle Stunde ist beendet. Wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 23. Januar 2008, 13 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen ein gesundes Wochenende.
({0})
Die Sitzung ist geschlossen.