Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Ich begrüße Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, zu
unserer ersten Sitzung im Jahr 2008 und wünsche Ihnen,
Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie den Mitarbeitern der Fraktionen und der Bundestagsverwaltung
ein erfolgreiches Jahr.
({0})
- Ich bedanke mich für die Wünsche.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Vierter Bericht über die Entwicklung der Pflegeversicherung.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat die Bundesministerin für Gesundheit, Ulla Schmidt. Bitte.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich darf mich den guten Wünschen für das neue Jahr anschließen.
Das Kabinett hat heute den Vierten Bericht über die
Entwicklung der Pflegeversicherung beschlossen. Sie
alle wissen, dass mit Einführung der Pflegeversicherung
festgelegt wurde, dass die Bundesregierung dem Bundestag alle drei Jahre einen Bericht über die Entwicklung
der Pflegeversicherung, der Pflegeinfrastruktur und über
andere damit zusammenhängende Fragestellungen vorlegt.
Der Vierte Bericht enthält eine ausführliche Datenzusammenstellung, aus der die Entwicklung der im Zusammenhang mit der pflegerischen Versorgung maßgeblichen Daten hervorgeht. Der Bericht bietet einen
Überblick über den Zeitraum 2004 bis 2006 sowie über
neueste Entwicklungen. Die Daten geben detailliert Auskunft über die Anzahl der Leistungsempfängerinnen und
Leistungsempfänger, strukturiert nach Pflegestufen,
Leistungsarten, Alter und Geschlecht. Die Daten geben
ferner Auskunft über die finanzielle Situation der Pflegeversicherung, unterteilt nach Finanzentwicklung, Ausgabenstruktur und Perspektiven, über die Feststellung der
Pflegebedürftigkeit durch den Medizinischen Dienst der
Krankenversicherung, über die Vergütungen ambulanter
und stationärer Pflegeleistungen, über die Auswirkungen
der Pflegeversicherung im Bereich der Sozialhilfe, über
die Entwicklung der Pflegeinfrastruktur, über die Entwicklung der Ausbildung in der Altenpflege sowie über
die Qualitätssicherung in der Pflege und die demografische Entwicklung.
Die wesentlichen Inhalte sind folgende: Derzeit erhalten jeden Monat rund 2,1 Millionen Menschen Leistungen der Pflegeversicherung. Rund 1,4 Millionen Menschen beziehen ambulante Pflegeleistungen und rund
700 000 Menschen stationäre Leistungen. Mithilfe der
Pflegeversicherung ist es gelungen, einen großen Teil
der Menschen, die pflegebedürftig geworden sind, von
der Sozialhilfe unabhängig zu machen. Sie wissen, dass
vor Einführung der Pflegeversicherung im stationären
Bereich in Deutschland 80 Prozent der pflegebedürftigen Menschen auf Leistungen der Sozialhilfe angewiesen waren. In den neuen Bundesländern waren es zu dem
Zeitpunkt 100 Prozent. Heute stellen wir fest, dass im
ambulanten Bereich weniger als 5 Prozent und im stationären Bereich rund 25 Prozent der Menschen auf Sozialhilfe angewiesen sind. Die jährlichen Aufwendungen für
Sozialhilfe als Ergänzung zu den Leistungen der Pflegeversicherung sind seit dem Jahr 1994 um rund 6 Milliarden Euro auf 3 Milliarden Euro - dieser Wert ist jetzt relativ stabil - gesunken.
Seit 1995 sind im Bereich der Pflege rund 300 000
neue Arbeitsplätze entstanden. Der Bericht gibt Auskunft über die gelungenen Investitionsprogramme in den
neuen Bundesländern, wo im Bereich der Infrastruktur
viel aufgebaut werden muss. Als Beispiel für die Projekte, die zusammen mit dem Bundesministerium für
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zur Sicherstellung
der pflegerischen Versorgung im ambulanten Bereich erprobt werden, nenne ich das Projekt „Gemeindeschwester AGnES“.
Redetext
Die Pflegeversicherung hatte Ende des Jahres 2006
ein Finanzpolster in Höhe von 3,5 Milliarden Euro. Der
Überschuss betrug 2006 450 Millionen Euro; er ist auf
die Einmalleistungen, die 13. Monatsbeiträge, zurückzuführen. Ansonsten hatten wir in den letzten Jahren immer ein Defizit zwischen Einnahmen und Ausgaben. Ich
muss aber hierzu sagen: Das hat nichts mit der demografischen Entwicklung oder den Ausgaben der Pflege zu
tun, sondern ist ganz klar darauf zurückzuführen, dass
wir seit vielen Jahren eine hohe Arbeitslosigkeit hatten
und die Beiträge für die arbeitslosen Menschen gekürzt
wurden, was zu direkten Einnahmeverlusten geführt hat.
Der Bericht vernachlässigt auch nicht, dass es Handlungsbedarf gibt. Dieser Handlungsbedarf wird mit dem
Gesetzentwurf zur strukturellen Weiterentwicklung der
Pflegeversicherung umgesetzt, der dem Bundestag vorliegt und über den Sie derzeit im Ausschuss diskutieren.
Er macht vor allen Dingen deutlich, dass wir mehr tun
müssen, um die Pflegeleistungen auszubauen und sie an
den Bedürfnissen der Menschen zu orientieren, dass wir
die wohnortnahen Versorgungsstrukturen aufbauen und
den Schwerpunkt auf die häusliche Pflege setzen und
diese voranbringen müssen. Stichworte hierfür sind: Vernetzung, Leistungsdynamisierung und Verbesserung der
Leistungen für Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz.
Der Bericht wird Ihnen zugeleitet. Er ist nach der Kabinettssitzung sofort ins Internet gestellt worden und
kann als ergänzende Grundlage für die Diskussion über
die Weiterentwicklung der Pflegeversicherung genutzt
werden.
Vielen Dank.
Herzlichen Dank, Frau Ministerin.
Ich bitte, zunächst Fragen zu dem Themenbereich zu
stellen, über den soeben berichtet wurde.
Das Wort hat der Kollege Ilja Seifert.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Ministerin, ich
verstehe ja, dass Sie zunächst einmal die positiven
Aspekte besonders hervorheben, aber Sie verstehen vielleicht auch, dass mich und uns die kritischen Momente
etwas mehr interessieren; denn diese müssen verändert
werden. Was sagt denn der Bericht über die gravierenden
Vorwürfe in Bezug auf gefährliche Pflege, auf Mängel in
der Pflege aus? Wir haben ja den MDK-Bericht noch im
Kopf, der aufzeigte, dass ungefähr ein Drittel der pflegebedürftigen Menschen nicht genügend zu essen und zu
trinken bekommen und dass sie zu einem erheblichen
Maße an Dekubitus und ähnlichen Dingen leiden. Wie
soll dies abgeschafft werden? Da besteht - zumindest
laut MDK-Bericht - erheblicher Handlungsbedarf. Was
sagt der jetzt vorliegende Bericht dazu, und was will die
Herr Kollege Seifert, der Bericht greift auch das auf,
was in den Berichten des MDK hervorgehoben wurde.
Im zweiten Bericht des MDK wurde deutlich, dass sich
trotz bestimmter Mängel die Situation der Pflegebedürftigen verbessert hat. Ich bitte bei der Diskussion über
Missstände, die es gibt, immer zu beachten - auch das
wurde klar -, dass bei 90 Prozent der Überprüfungen
festgestellt wurde, dass die pflegebedürftigen Menschen
eine gute und ausreichende Versorgung erhalten.
Aber die verbleibenden 10 Prozent sind tatsächlich zu
viel. Deswegen haben wir in dem Gesetzentwurf, der
dem Bundestag vorliegt, dem Bereich der Qualitätssicherung eine ganz besondere Bedeutung zugemessen.
Ich sehe vor allen Dingen in der Verkürzung der Zeiträume zwischen den Überprüfungen, also der Kontrollfunktionen, in der Vernetzung mit den Kontrollen der
Heimaufsicht und vor allen Dingen in der Forderung,
dass die Berichte veröffentlicht werden, und zwar Einrichtung für Einrichtung, sowohl im ambulanten wie im
stationären Sektor, wesentliche Merkmale dafür, dass die
durchgeführten Qualitätsprüfungen und die Anstrengungen zur Verbesserung der Qualität, die es in vielen Einrichtungen gibt, dazu führen, dass die Betroffenen und
ihre Familien anhand der Ergebnisse die Qualität einer
Einrichtung kontrollieren können. Wir hoffen, dass dann
durch das Abstimmen mit den Füßen die Einrichtungen,
die schlechte Ergebnisse haben, keinen Zulauf mehr bekommen, und die Einrichtungen, die bereits Anstrengungen unternommen haben, noch mehr Anstrengungen unternehmen, damit sie positiv bewertet werden.
Wir wollen, dass Prozess-, Struktur- und Ergebnisqualität überprüft werden. Wir wollen, dass die einzelnen Menschen bei jeder Prüfung mehr im Mittelpunkt
stehen. Zu unseren Vorschlägen gehört auch, dass wir
Expertenstandards entwickeln wollen, um denen, die im
Bereich der Pflege tätig sind, Hilfestellungen geben zu
können, wie zum Beispiel ein Dekubitus vermieden oder
eine ausreichende Nahrungszufuhr gesichert werden
kann. Insofern - das habe ich bereits gesagt - wird in
diesem Bericht auch aufgezeigt, wo Defizite bestehen.
Mit diesem Gesetzentwurf, der dem Parlament vorliegt,
haben wir im Rahmen der Diskussion über die Weiterentwicklung der Pflegeversicherung Antworten gegeben, um diese Situation zu verbessern.
Danke schön. - Die nächste Frage stellt die Kollegin
Mattheis.
Herzlichen Dank, Frau Ministerin, für Ihren Bericht.
Ich habe eine Frage, die über den Aspekt der Qualität,
der uns alle beschäftigt, hinausgeht. Es geht um die Pflegeinfrastruktur bzw. die Pflegestrukturen. Im Prinzip ist
es der Auftrag der Länder, diese aufzubauen und zu erweitern. Meine Frage an Sie ist: Welche Möglichkeiten
haben wir vonseiten des Bundes, um die Entwicklung
der Pflegeinfrastruktur noch ein Stück weit zu unterstützen? Gibt es hier Möglichkeiten, und wie können wir sie
nutzen?
Ich glaube, es ist erst einmal richtig, Frau Kollegin
Mattheis, zu sagen, dass die Länder beim Aufbau der Infrastruktur eine originäre Verpflichtung haben, auch in
den Kommunen. Ich erinnere daran, dass bei der Verabschiedung der Pflegeversicherung, die im Jahre 1995 in
Kraft trat, davon ausgegangen wurde, dass die im Bereich der Sozialhilfe eingesparten Mittel in den Aufbau
der Infrastruktur investiert werden. Heute besteht in
Deutschland die Situation, dass es rund 21 000 Angebote
gibt, wobei die Zahl ambulanter und stationärer Angebote relativ gleich verteilt ist; das sage ich, ohne dafür
jetzt genaue Zahlen zu nennen.
Was vor Ort aber oft fehlt, ist eine Vernetzung. Aus
einer Reihe von Diskussionen weiß ich, dass vielen
Menschen geholfen werden kann, wenn diejenigen, die
vor Ort entscheiden - in der Pflege, der Altenhilfe, der
Behindertenhilfe und vielen anderen Bereichen -, zumindest miteinander reden. Die Bundesregierung hat in
ihrem Gesetzentwurf, der Ihnen vorliegt, zum Aufbau
der Strukturen gesagt: Wir möchten gerne, dass die Menschen, die vor Ort entscheiden, für die Pflegebedürftigen
arbeiten und den gesamten Fall kennen, miteinander reden und die Leistungen, die sie erbringen, miteinander
abstimmen.
Der Aufbau der Pflegestützpunkte, wie wir sie nennen, wird für den Bereich der Infrastruktur einen weiteren Fortschritt bedeuten. Dann könnte man den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen verschiedene
Leistungen von der Beratung bis zur Entscheidung unter
einem Dach anbieten.
Aus vielen Gesprächen weiß ich: Die Mehrheit der
Menschen, die zu Hause pflegt, beschwert sich nur selten über die Schwere der Pflege, und das, obwohl diese
Arbeit sehr schwierig und mit großem Aufwand verbunden ist und die Familien sehr viel investieren müssen.
Diese Menschen fragen sich vielmehr: Wenn ich das
schon mache, warum muss ich dann immer meine Laufzettel abarbeiten? Warum muss ich immer von Pontius
zu Pilatus laufen? Warum kann man nicht wenigstens
das erleichtern? Deshalb sehe ich den Aufbau der Pflegestützpunkte als einen entscheidenden Fortschritt an.
Danke. - Die nächste Frage stellt die Kollegin Gesine
Lötzsch.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Ministerin,
eine kurze Vorbemerkung: Ich habe mich gefreut, dass
Sie das Modellprojekt „Gemeindeschwester AGnES“ erwähnt haben. Denn gemeinsam mit meiner Fraktion trete
ich seit Jahren dafür ein, dass Gemeindeschwestern wieder wirken können. Das Modellprojekt „Gemeindeschwester AGnES“ haben viele in guter Erinnerung.
Ich möchte an Ihren mündlich vorgetragenen Bericht
anknüpfen. Sie erwähnten die Arbeitsbedingungen der
Menschen, die in der Pflege tätig sind. Ich möchte gerne
wissen, ob Sie einen Überblick darüber haben, welche
Durchschnittslöhne im Pflegebereich erzielt werden und
ob Sie mit mir übereinstimmen, dass die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes, die unsere Fraktion im
Bundestag schon sehr oft gefordert hat, gerade für den
Bereich der Pflege wichtig wäre.
({0})
Ich kann Ihnen jetzt keine Zahlen zur Entwicklung
der Durchschnittslöhne im Pflegebereich nennen. Ich
kann nur eines deutlich machen: Die Entlohnung, die die
Menschen, die in der Pflege tätig sind, erhalten, entspricht in vielen Einrichtungen nicht dem, was ihre Arbeit eigentlich wert ist; das muss einmal gesagt werden.
Ich kenne viele, die nach sehr harter Arbeit mit
1 150 Euro, 1 200 Euro - manche verdienen bis zu
1 400 Euro - nach Hause gehen. Da muss die Gesellschaft diskutieren: Was ist uns die Humanität in der
Pflege wert?
({0})
Wie wollen wir auf Dauer Menschen dafür gewinnen, in
diesem Bereich tätig zu werden? Die Bundesregierung
hat dies zu einem ihrer Aufgabenfelder gemacht. Wir haben in Meseberg beschlossen, eine Arbeitsgruppe unter
Beteiligung verschiedener Ministerien - Sozialministerium, Wirtschaftsministerium, Familienministerium, Gesundheitsministerium - einzurichten. Wir wollen uns zusammensetzen und darüber nachdenken: Wie können
wir die Arbeit von Menschen an Menschen besser fördern? Was müssen wir tun, welche Strukturen müssen
wir schaffen, damit die Menschen adäquat entlohnt werden können? Wie finden wir neue Wege, auch unter Einbeziehung steuerlicher Anreize? Wir sind mitten in der
Diskussion und wollen im April, Mai unsere Vorschläge
hier vorstellen.
Ansonsten will ich sagen: Ich bin sehr dafür, auch im
Bereich der Pflege über Mindestlöhne zu reden; die Gewerkschaften fordern ja Mindestlöhne für den Pflegebereich. Denn wir haben gerade im Bereich der Pflege,
auch im ambulanten Bereich, große Konkurrenz, auch
durch Anbieter aus den osteuropäischen Ländern, die oft
Dumpinglöhne zahlen. Wir müssen, wie Österreich und
andere Länder es getan haben, überlegen: Was können
wir zur Legalisierung derjenigen beitragen, die in diesem Bereich arbeiten? Wie können wir dafür sorgen,
dass die Menschen, die zu Hause arbeiten, abgesichert
sind, entlastet werden, von ihren Löhnen leben können?
Auch das ist ein Thema, über das die Bundesregierung in
dieser ministerienübergreifenden Arbeitsgruppe beraten
und zu dem sie Vorschläge unterbreiten wird.
Die nächste Frage stellt die Kollegin Elisabeth
Scharfenberg.
Vielen Dank. - Frau Ministerin, wie bewerten Sie die
Forderung nach neutraler und unabhängiger Beratung
und Begleitung der von Pflege Betroffenen, gerade in
Bezug auf die Pflegestützpunkte, die in dem Referentenentwurf bzw. im Gesetzentwurf erwähnt sind? Wie werden Neutralität und Unabhängigkeit gewährleistet?
Sie werden auf jeden Fall gewährleistet - schon durch
das geltende Recht. Wir wollen ja, dass die Pflegeberatung mit dem Fallmanagement verbunden wird. Oft wird
behauptet, dass die Menschen, die die Beratung ausüben,
deswegen nicht unabhängig seien, weil die Pflegekassen
auch die Pflegeberatung finanzieren sollen. Doch wir haben eine Konstruktion, dass man nicht von einer einzelnen Pflegekasse bezahlt wird, sondern die Pflegekassen
als Ganzes die Finanzierung der Pflegeberatung, das
Fallmanagement, übernehmen. Die Menschen, die in
den Pflegestützpunkten angesiedelt werden, sollen nicht
nur beraten, sondern die gesamten Leistungen koordinieren, die Fallbegleitung machen, zum Beispiel das Entlassmanagement, wenn jemand vom Krankenhaus in die
Pflege oder zur Rehabilitation kommt. Damit werden
auch Prävention und Rehabilitation im Bereich der
Pflege umfassend umgesetzt. Ich mache mir keine Sorgen über die Unabhängigkeit. Denn die Menschen, die
dafür bezahlt werden, den Einzelnen zu begleiten, zu beraten und mit ihm zu entscheiden, sind in ihrem Beruf
unabhängig. Insofern ist eine unabhängige Pflegeberatung gewährleistet, allemal mehr, als wenn nur die die
Pflegeberatung machen würden, die auch die professionellen Dienste anbieten. Bei unserer Konstruktion ist
man unabhängiger beraten, weil man von der Solidargemeinschaft bezahlt wird.
Das Wort hat der Kollege Daniel Bahr.
Frau Ministerin, Sie haben in dem Bericht, den Sie
uns vorgetragen haben, auf die finanzielle Situation der
Pflegeversicherung hingewiesen. Es war die FDP, die
seinerzeit, als die Pflegeversicherung 1994 aufgebaut
wurde, immer darauf hingewiesen hat, dass damit allenfalls eine kurzfristige Entlastung vieler sozialhilfebedürftiger Heimbewohner erreicht werden kann, wir aber,
weil die Pflegeversicherung nicht nachhaltig finanziert
ist, schon nach wenigen Jahren vor neuen Problemen
stehen werden. Deswegen möchte ich zu den Zahlen
nachfragen:
Zum Ersten. Wie hat sich der Realwert der Leistungen, die Pflegebedürftige aus der Pflegeversicherung erhalten, in dem Zeitraum von 1994 bis heute entwickelt,
und wie wird er sich in den nächsten Jahren entwickeln?
Trifft es zu, dass die Pflegebedürftigen immer mehr
Leistungen aus der eigenen Tasche bezahlen müssen,
weil es keine Anpassung der Pflegeleistungen an die
steigenden Kosten in der Pflege und insgesamt gab?
Zum Zweiten. Sie haben die Bedarfe der Heimbewohner an zusätzlichen Transferzahlungen nur in der Situation vor Einführung der Pflegeversicherung und in der
heutigen Situation verglichen. Wie hat sich denn diese
Bedürftigkeit hinsichtlich zusätzlicher Leistungen aus
dem Transferhaushalt entwickelt? Trifft es zu, dass mehr
und mehr Heimbewohner auf eine zusätzliche finanzielle
Unterstützung - beispielsweise aus der Sozialhilfe - angewiesen sind, weil sie nicht mehr mit dem auskommen,
was die Pflegeversicherung leistet?
Ich darf auch noch zur Finanzsituation kommen. Sie
haben das Defizit angesprochen und nur den Einmaleffekt des 13. Sozialbeitrages dargestellt. Können Sie auch
darstellen, wie der Effekt des Strafbeitrages für Kinderlose aussieht, ohne den das Defizit in der Pflegeversicherung meiner Einschätzung nach ja noch etwas höher sein
müsste?
Das Letzte müssen Sie noch einmal näher erklären,
Herr Kollege Bahr. Ich kenne keinen Strafbeitrag, der in
der Sozialversicherung bezahlt wird. Vielleicht können
Sie mir da einmal helfen. Ich weiß nicht, ob Sie am Ende
das Urteil des Bundesverfassungsgerichts meinen.
Ich kenne das Urteil des Bundesverfassungsgerichts.
Es hat vorgesehen, dass ein Unterschied zwischen denjenigen, die Kinder erziehen, und den Kinderlosen gemacht werden soll, weil auch durch die Kindererziehung
ein Beitrag dafür geleistet wird, die Pflegeversicherung
insgesamt finanziell nachhaltig zu machen.
Das Bundesverfassungsgericht hat aber mitnichten
vorgesehen, dass es einen höheren Beitragssatz für Kinderlose gibt. Genau das - nämlich 0,25 Prozentpunkte hat die rot-grüne Regierung damals aber beschlossen.
Wie viel macht dieser erhöhte Beitragssatz für Kinderlose für die Pflegeversicherung aus?
Ich rege an, dass die Frau Ministerin die Fragen, die
für sie jetzt erkennbar waren, beantwortet und dass der
Kollege Bahr sich dann vielleicht noch ein zweites Mal
meldet, wenn er noch eine Frage nachschieben möchte.
({0})
Zu dem Letzten, Herr Kollege Bahr. Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, dass es im Bereich der Pflege
zwei Arten von Leistungen gibt. Zum einen ist das die
monetäre Leistung, zum anderen ist das die aktive Hilfe.
Es gibt nur deshalb genügend Personen, die Menschen
im Alter pflegen, weil viele Menschen Kinder haben, die
nicht nur, wie das in anderen Zweigen des Sozialsystems
der Fall ist, in die Pflegekasse einzahlen. All diejenigen,
die keine Kinder haben, sind darauf angewiesen, dass die
Kinder anderer - derjenigen, die Kinder in die Welt gesetzt und aufgezogen haben - den professionellen Beruf
der Pflege ergreifen oder im Bereich des Ehrenamtes
oder anderswo tätig werden.
Es gab dann zwei Möglichkeiten. Man hätte den Beitrag für diejenigen, die Kinder haben, senken können.
Das hätte aber nur sehr schlecht zu den finanziellen Entwicklungen der Pflegeversicherung gepasst. Man hätte
auch die Steuergelder erhöhen können. Ich muss aber sagen, dass das insbesondere nicht zu den Anträgen der
FDP gepasst hätte, die immer wieder sagt, dass wir in
diesem Bereich im Haushalt alles Mögliche streichen.
({0})
Deshalb war es unser Vorschlag, dass diejenigen, die
keine Kinder haben, 0,25 Prozentpunkte mehr an Beiträgen zahlen. Dieser Weg, den wir gegangen sind, wird
auch akzeptiert. Auf kaum einer Veranstaltung - es mag
sein, dass das auf FDP-Veranstaltungen noch anders ist wird dies noch diskutiert. Die Menschen akzeptieren es,
dass die einen, die Kinder aufziehen und dadurch Kosten
haben, weniger zahlen und dass die anderen mit ihren
höheren Beiträgen auch die monetären Leistungen finanzieren, die eben nur so erbracht werden können.
Zu den anderen Fragen. Wir haben einen leichten Anstieg zu verzeichnen. Es waren rund 700 Millionen Euro.
Das ist in etwa gleich geblieben. Das Wachstum ist also
nicht sehr groß. Es können auch 720 Millionen Euro gewesen sein.
In den letzten Jahren gab es tendenziell wieder einen
ganz leichten Anstieg der Zahl derjenigen, die auf zusätzliche Hilfe in der Sozialhilfe angewiesen sind. Wir
liegen aber bei unter 25 Prozent. Ich sage noch einmal:
Vor der Einführung der Pflegeversicherung lagen wir in
Gesamtdeutschland bei 80 Prozent. Das ist ein Riesenunterschied. Das sind gerade die Gründe dafür, warum
wir einen Gesetzentwurf zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung vorgelegt haben, zu der
auch Leistungsdynamisierungen gehören. Das war der
Grund für die Bundesregierung und auch die Koalitionsfraktionen, dem Vorschlag vieler Wissenschaftler, zur
Stärkung der häuslichen Pflege die Leistungen im ambulanten Sektor anzuheben und parallel dazu die Leistungen im stationären Bereich zu kürzen, um zu einer ausgewogenen Finanzierung zu kommen, nicht zu folgen.
Denn wir glauben, dass auch die Finanzierung der Pflege
in stationären Einrichtungen notwendig ist. Wir heben
die Leistungen in der Pflegestufe III und bei den
Schwerstpflegebedürftigen auch im Bereich der stationären Pflege an. Damit wir hier die Unabhängigkeit beibehalten und die gute Finanzierungssituation im stationären Bereich sicherstellen können, haben wir beschlossen,
die Beiträge um 0,25 Prozentpunkte anzuheben, um die
Leistungen durch zusätzliche Mittel statt durch Einsparungen an anderer Stelle zu finanzieren.
Da die Leistungssätze seit fast zehn Jahren - abgesehen von kleinen Bewegungen - weitgehend unverändert
geblieben sind, ist es im Übrigen klar, dass gemessen an
der Preisentwicklung und den Ausgaben für Löhne und
Investitionen eine negative Entwicklung zu verzeichnen
ist. Deshalb haben wir vor, die Leistungssätze ab 1. Juli
anzuheben und ab 2015 eine Dynamisierung der Leistungen einzuführen. Dabei ist eine regelmäßige Überprüfung der Anpassung vorgesehen, um zu verhindern,
dass sich die Kosten stärker entwickeln als die Leistungen.
Was Ihre Feststellung angeht, dass die Menschen
mehr bezahlen müssen, lege ich sehr großen Wert darauf, dass wir an dem festhalten, was damals auch unter
Ihrer Regierungsbeteiligung beschlossen und auf den
Weg gebracht wurde, nämlich dass die Pflegeversicherung eine ergänzende Versicherung ist. Die Pflegeversicherung deckt nicht die Kosten der Pflege ab. Für die
Pflege ist der Einzelne zuständig. Die Pflegeversicherung gibt dem Einzelnen einen Zuschuss; ihm wird ein
entsprechend hoher Kostenanteil erstattet, damit er die
pflegebedingt entstehenden Leistungen finanzieren
kann. Das bezieht sich auf die reinen Pflegekosten. In
stationären Einrichtungen entstehen noch weitere Kosten.
Die nächste Frage stellt die Kollegin Spielmann.
Frau Ministerin, im Zusammenhang mit dem Bericht
sind auch Fragen der demografischen Entwicklung und
der Beitragssatzentwicklung von Interesse. Obwohl eine
langfristige Finanzierungslösung leider noch nicht gefunden werden konnte, wie wir alle wissen, finde ich
persönlich es gut, dass die drängenden strukturellen und
auch leistungsrechtlichen Fragen der Pflege mit unserem
Gesetzentwurf angegangen werden. Teilen Sie meine
Auffassung?
({0})
Ja. Deshalb haben wir schließlich den Gesetzentwurf
vorgelegt. Ich hätte mir zwar gewünscht, dass wir zu
Lösungen der langfristigen Finanzierung kommen, entscheidend ist aber, dass wir jetzt notwendige Strukturveränderungen auf den Weg bringen. Denn wir müssen
die Pflege auch in 10, 15 oder 20 Jahren sicherstellen. Es
müssen eine stärkere Vernetzung in der wohnortnahen
Versorgung und eine entsprechende Infrastruktur aufgebaut werden, um adäquate und niedrigschwellige Betreuungsangebote für Menschen mit eingeschränkter
Alltagskompetenz - also demenziell Erkrankte, psychisch Kranke und geistig Behinderte - zu schaffen. Das
alles muss beschlossen und umgesetzt werden. Mit der
Entscheidung der Bundesregierung, die Beiträge ab
1. Juli um 0,25 Prozentpunkte anzuheben, können wir
die Leistungen bis etwa 2014 oder 2015 finanzieren. Das
hängt auch von der konjunkturellen Lage ab. Wenn sie
sich weiterhin so gut entwickelt wie jetzt, wäre das sicherlich noch länger möglich. Trotzdem könnte die bei
der Pflegeversicherung gesetzlich vorgeschriebene Mindestrücklage von 1,5 Monatsausgaben gesichert werden.
Wir müssen nun alles für den Aufbau der notwendigen Strukturen tun. Wir müssen denjenigen helfen, die
mehr Pflege und Betreuung bedürfen, und denjenigen,
die zu Hause diese schwierige Aufgabe wahrnehmen.
Wir müssen dafür sorgen, dass die Arbeit der professionellen Kräfte - hoffentlich - besser bewertet wird.
In der nächsten Legislaturperiode werden wir sicherlich erneut über eine langfristige Finanzierung debattieren müssen. Aber wir kommen auf jeden Fall bis etwa
2015 mit einem Beitrag von 1,95 Prozent hin und können die gesetzlich vorgeschriebene und notwendige
Rücklage - derzeit sind das rund 2,3 Milliarden Euro bilden.
Das Wort hat der Kollege Heinz Lanfermann.
Frau Ministerin, Sie haben vorhin einiges zu den Pflegestützpunkten gesagt und sind der Sorge entgegengetreten, die Berater könnten nicht unabhängig sein, weil sie
für die Pflegekassen arbeiteten. Ich möchte gerne von
Ihnen wissen, wie sich diese Aussage mit Ihrer Aussage
in dem Schreiben an die Abgeordneten der Koalition
verträgt. Ich zitiere aus dem vorletzten Absatz auf
Seite 3: Auf jeden Fall entscheiden die jeweiligen Mitarbeiter der Kommunen und der Kassen jeweils getrennt
für ihre Bereiche. Das heißt, es gibt mehrere Entscheidungsträger, wenn es um die Finanzierung geht. Wie
verträgt sich dies wiederum mit der Aufforderung des
Kollegen Zöller, Sie mögen überprüfen, ob der Gesetzentwurf nicht gegen das Verbot der Mischverwaltung
verstößt, die das Bundesverfassungsgericht bei der
Hartz-IV-Gesetzgebung moniert hat? In Ihrer Einbringungsrede am 14. Dezember 2007 haben Sie im Plenum
gesagt:
Ich bin sehr froh darüber, dass alle diese guten Ansätze auch vom Bundesrat so gesehen werden.
Diese Ansätze … zu Pflegestützpunkten weiterzuentwickeln und dafür zu sorgen, dass Leistungen
unter einem Dach und aus einer Hand angeboten
werden, ist ein wichtiger Schritt voran.
Ich fände es gut, wenn Sie nun aufklärten, wer was in
diesen Pflegestützpunkten entscheiden soll. Wie viele
Menschen von welchen Stellen sollen dort tätig werden?
Das ist auch im Hinblick auf die Finanzierung interessant. Wie soll das im Hinblick auf die Kompetenzverteilung und das verfassungsgerichtliche Verbot der Mischverwaltung genau aussehen?
Herr Kollege Lanfermann, was Sie ansprechen, ist im
Prinzip schon die Antwort auf den Vorwurf, der unter anderem von Ihrer Seite erhoben wird - er stimmt nicht -,
dass wir mit den Pflegestützpunkten eine neue Bürokratie aufbauen. Heute entscheiden die Vertreter der Kommunen über die Leistungen der Altenhilfe. Zudem gibt
es Entscheidungen über Leistungen der Behindertenhilfe, der Versorgungsämter, der Pflegekassen und der
Krankenkassen. Ich habe das eben dargelegt. Wir haben
vorgeschlagen, dass in jedem Wohnbezirk bzw. Quartier
mit 20 000 Einwohnern - der Bundesrat will mehr Flexibilität; darüber müssen wir uns im Parlament verständigen und entscheiden; entscheidend ist dabei, was effektiv ist; in der Stadt kann man sicherlich eine größere
Einwohnerzahl zugrunde legen als auf dem Land - ein
Pflegestützpunkt eingerichtet wird. Wir möchten, dass
derjenige, der die Nachricht bekommt, dass der Vater,
die Mutter oder der Ehepartner wahrscheinlich pflegebedürftig ist, nur zu einer Stelle gehen muss, um vollständig beraten zu werden. Der Berater der Pflegekasse zum
Beispiel kann darauf aufmerksam machen, dass man
möglicherweise auch Anspruch auf Leistungen nach
SGB IX hat und dass der Kollege, der für das Weitere
zuständig ist, gleich daneben sitzt. Der Berater kann koordinieren und mit dem Betroffenen darüber reden, welches die besten Angebote für einen pflegebedürftigen
Menschen sind, sodass die Pflegestufe möglichst niedrig
ist und möglichst alle Maßnahmen der Rehabilitation
und der Prävention umgesetzt werden.
Der Pflegeberater bzw. der Fallmanager der Krankenkasse kann doch nicht entscheiden, was die Kommune
finanzieren soll. Dann gäbe es eine Mischfinanzierung.
Aber alle sitzen an einem Tisch und unter einem Dach.
Derjenige, der eine Leistung in Anspruch nehmen will,
weiß: Hier ist die Stelle, an die ich mich wenden muss;
hier erhalte ich alles. In fortschrittlichen Kommunen wie
zum Beispiel derjenigen, aus der ich komme, gibt es
schon sehr lange ein Bürgerbüro. Die Bürgerinnen und
Bürger unserer Stadt, ob sie nun einen Pass, das Aufgebot für eine Hochzeit bestellen wollen oder einen Erbschein brauchen, gehen an eine Stelle, die das für sie organisiert. Sie müssen also nicht mehr von Amt zu Amt
laufen und jedes Mal vor der Tür sitzen. Das ist die Idee
der Pflegestützpunkte. Deswegen gibt es auch keine
Mischverwaltung.
Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts mussten wir
noch einmal prüfen - es war vorher bereits geprüft worden -, ob dieses Urteil etwas an der Aussage der beteiligten Verfassungsministerien ändert, dass die Idee der
Pflegestützpunkte verfassungskonform sei. Das ist selbstverständlich geschehen. Die Aussage der beteiligten
Ressorts ist ganz klar, dass das Urteil die hier in Rede
stehenden Vorschläge nicht betrifft. Insofern werden wir
daran weiterarbeiten. Die Vorschläge wurden heute in
den Gesundheitsausschuss eingebracht, und wir werden
in den nächsten Wochen über sie beraten; in der nächsten
Woche werden dazu öffentliche Anhörungen stattfinden.
Ich bin relativ sicher, dass diese verfassungsrechtliche
Frage ganz überwiegend so gesehen wird.
Ich habe zum Thema Pflegestützpunkte sehr viele
Diskussionen geführt und Veranstaltungen besucht. Mir
geht es persönlich nicht um einen bestimmten Verwaltungsaufbau, sondern um die Frage, wie ich für die Menschen, die bereit sind, viel Zeit in die Pflege ihrer
Freunde und Angehörigen zu stecken, all das, was drum
herum zu regeln ist, so erleichtern kann, dass sie sich
wirklich darauf konzentrieren können, die Menschen zu
betreuen und zu pflegen, und trotzdem noch etwas Zeit
für sich selbst finden. Ich will der Belastung entgegenwirken, die dann auftritt, wenn jemand das Gefühl hat,
das Amt schicke ihn zu immer weiteren Ämtern, wonach
er wieder von vorne anfangen muss. Die Frage, die mir
oft gestellt wird, lautet: Könnt ihr mir das nicht erlassen?
Ich habe meinen Beruf aufgegeben, und ich leiste die
Pflege gern. Aber bitte das nicht auch noch! Deswegen
stellen die vorgesehenen Pflegestützpunkte eine positive
Entwicklung dar, die auch mit unserer Verfassung vereinbar ist und etwas mit Humanität einer Gesellschaft zu
tun hat.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mir liegen noch drei
Wortmeldungen zur Befragung der Bundesregierung
vor, und ich beabsichtige auch, diese drei Fragen zuzulassen. Ich bitte aber die Fragesteller, bei ihrer Fragestellung die erforderliche Kürze zu beachten, sodass wir alsbald in die Fragestunde eintreten können. - Das Wort hat
der Kollege Seifert.
Frau Ministerin, ich freue mich, dass Sie vorhin schon
einmal die Wertefrage angesprochen haben: Wie viel ist
das wert, und wie viel bekommen die Menschen, die die
Arbeit leisten? Sagt denn der Bericht auch etwas über
die grundsätzliche Diskussion aus, die wir einmal führen
müssen, was Pflege eigentlich ist und was sie alles umfassen muss? Wird der Pflegebegriff in diesem Bericht
überhaupt problematisiert und, wenn ja, in welche Richtung? Hat der Bericht einen Bezug dazu hergestellt, dass
den Menschen, die Pflege oder Assistenz brauchen, die
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben auch unter den
Bedingungen der Pflege- bzw. Assistenzbedürftigkeit ermöglicht werden kann?
Der Bericht benennt in vielen Bereichen die Probleme, die entstanden sind, und geht auch auf sie ein. Zu
der Frage, wie die Weiterentwicklung des Pflegebedürftigkeitsbegriffes aussieht, kann der Bericht allerdings
noch nicht im Detail Stellung nehmen. Aus der Diskussion der Vergangenheit heraus haben wir als Bundesregierung eine Kommission eingesetzt. Die ersten Gutachten zu der Frage, ob man die Bedürfnisse der einzelnen
Pflegebedürftigen stärker modulhaft erfüllen und dadurch besser auf sie eingehen kann, sind fertig. Wir werden in diesem Jahr in einer Region diese neue Art der
Bewertung der Pflegebedürftigkeit in großem Umfang
erproben. Niemand darf sich vorstellen, dass wir einen
neuen Begriff erfinden und dann plötzlich alle glücklich
sind. Vielmehr wollen wir, dass dies auch im Vergleich
zu dem umgesetzt wird, was wir bisher haben, damit
Schritt für Schritt Entwicklungen Platz greifen, die dem
Einzelnen gerechter werden, auch wenn sie für andere
natürlich Veränderungen mit sich bringen.
Das Wort hat die Kollegin Scharfenberg.
Vielen Dank. - Frau Ministerin, Sie sprachen von
Handlungsbedarf in einigen Bereichen. Handlungsbedarf ergibt sich, wenn Problemfelder erkannt, analysiert
und im besten Fall dann auch beseitigt werden. Ich
denke, ein solches Problemfeld ist die defizitäre Finanzentwicklung in der sozialen Pflegeversicherung. Das
Problem wurde erkannt. Folgerichtig könnte es eigentlich mit einer nachhaltigen Finanzierung beseitigt werden. Es gab diesbezüglich im Koalitionsvertrag festgelegte Reformschritte. Warum wird dieses Problem nicht
nachhaltig angegangen? Was ist ein Bericht wert, dessen
Erkenntnisse nicht bis in letzter Instanz umgesetzt werden?
Wir hatten im Koalitionsvertrag zwei Vereinbarungen
getroffen. Die eine war, dass mit der anstehenden Pflegereform mit dem Aufbau einer Demografiereserve begonnen werden soll. Die andere Vereinbarung und Bedingung für die Umsetzung der ersten war, dass es einen
Ausgleich zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung geben soll, weil wir eine ungleiche Risikoverteilung haben. Das eine ist mit dem anderen eng verknüpft. Die Koalitionspartner konnten sich darauf nicht
einigen. Deswegen werden beide Schritte nicht getan;
denn um eine Demografiereserve aufzubauen, brauche
ich das notwendige Geld. Über die Gerechtigkeit in der
Finanzierung gibt es unterschiedliche Auffassungen zwischen den Koalitionsparteien. Deswegen muss man das
in der nächsten Legislaturperiode angehen.
Danke, Frau Ministerin. - Der Kollege Koppelin hat
noch eine Frage zu den übrigen Themen der Kabinettssitzung. Bitte.
Ich habe eine Frage an das Bundeskanzleramt. Den
Medien war zu entnehmen, dass ein beamteter Staatssekretär im Verkehrsministerium in den Ruhestand versetzt
worden ist. Darf ich fragen, ob das heute in der Kabinettssitzung bekanntgegeben wurde, und welche Gründe
haben dafür gesprochen, diesen Staatssekretär im Verkehrsministerium in den Ruhestand zu versetzen?
Herr Abgeordneter, dieser Punkt war nicht Gegenstand der Kabinettssitzung. Es ist also nicht darüber gesprochen worden.
Eine Nachfrage. Danach beenden wir die Befragung
der Bundesregierung.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ist es in der Großen
Koalition üblich, dass solche Vorgänge wie die Versetzung eines sehr hohen Beamten in den Ruhestand, der
quasi vom Kabinett benannt werden muss, gar nicht im
Kabinett bekanntgegeben werden, oder wie ist das Verfahren? Herr Staatsminister, Sie kennen auch frühere
Kabinette. Da ist es sicher anders gelaufen.
Soweit ich mich an meine Mitgliedschaft in früheren
Kabinetten erinnern kann, an denen auch Ihre Partei beteiligt war, war es in der Regel nicht üblich, über Entlassungen und In-Ruhestand-Versetzungen einzelner, auch
höherer Beamter im Kabinett ausführlich zu reden.
Herzlichen Dank, Herr Staatsminister Neumann. - Ich
beende die Befragung der Bundesregierung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
- Drucksache 16/7707 Ich rufe die Fragen auf der Drucksache 16/7707 in der
üblichen Reihenfolge auf.
Wir kommen zum Geschäftsbereich der Bundeskanzlerin und des Bundeskanzleramtes. Zur Beantwortung
steht der Staatsminister Bernd Neumann zur Verfügung.
Die Frage 1 hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch gestellt:
Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass es für die
deutsch-polnischen Beziehungen hilfreich ist, wenn der
Staatsminister und Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Bernd Neumann, öffentlich erklärt, dass das
Zentrum gegen Vertreibung auch ohne polnische Beteiligung
beschlossen werden könnte, und trifft es zu, dass das Konzept
für das „sichtbare Zeichen“ sehr ausgereift ist und demzufolge
die polnische Seite diesem Konzept nur noch zustimmen kann
oder ganz verzichten muss ({0})?
Bitte, Herr Staatsminister.
In der angeführten Meldung der Berliner Zeitung
wird in unzutreffender Weise aus einem Interview zitiert,
das der Focus mit mir geführt und in seiner Ausgabe
vom 31. Dezember 2007 veröffentlicht hat. Dort habe
ich im Gegenteil darauf hingewiesen, dass wir der neuen
polnischen Regierung angeboten haben, am „sichtbaren
Zeichen“ mitzuwirken. Auf die weitere Frage: „Ziehen
Sie das Projekt jetzt aber auch ohne polnische Beteiligung durch?“ habe ich wörtlich geantwortet:
Das Konzept ist bereits sehr ausgereift und durchdacht, auf gar keinen Fall soll hier Geschichte umgedeutet werden. Deswegen glaube ich, dass wir
eine Tolerierung des Projekts durch Polen erreichen
können, eine Beteiligung und Mitarbeit wären aber
sicher noch besser.
Diesem Ziel dient die für den 5. Februar geplante Reise
einer deutschen Delegation unter meiner Leitung, bei der
die Planungen in Warschau erläutert und die Optionen
deutsch-polnischen Zusammenwirkens eruiert werden
sollen.
Ihre Schlussfolgerungen, Frau Kollegin, dass die polnische Seite dem Konzept nur zustimmen kann oder
ganz verzichten muss, ist unzutreffend. Richtig ist aber,
dass das „sichtbare Zeichen“ als eine staatliche Aufgabe
in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft durch mein Haus
errichtet und umgesetzt werden soll. Dieses Vorgehen
entspricht dem Auftrag, der im Koalitionsvertrag formuliert ist, und diesen Auftrag wollen wir erfüllen. So ist
mein letzter Satz in dem besagten Focus-Interview zu
verstehen. Dieser Satz lautet:
In jedem Fall werden wir das im Koalitionsvertrag
vereinbarte „sichtbare Zeichen“ in absehbarer Zeit
im Kabinett beschließen.
Um weiteren Irritationen vorzubeugen, möchte ich
darauf hinweisen, dass der in Ihrer Anfrage gewählte
Terminus „Zentrum gegen Vertreibung“ in diesem Zusammenhang nicht passt. Das geplante, in öffentlichrechtlicher Trägerschaft zu errichtende „sichtbare Zeichen“ gegen Flucht und Vertreibung ist mit der Stiftung
Zentrum gegen Vertreibung nicht identisch.
Danke. - Frau Lötzsch, Sie haben die Möglichkeit zu
zwei Nachfragen. Bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
Vielen Dank, Herr Staatsminister. - Augenscheinlich
haben Sie meine Anfrage genutzt - das ist erfreulich -,
um in der Sache präziser zu werden und nachzudenken.
Das ist gut.
Ich möchte gerne wissen, welche Reaktionen es von
der polnischen, der tschechischen und der russischen
Seite auf die bisherigen Planungen der Bundesregierung
gibt und inwieweit Sie diese Reaktionen in Ihre Überlegungen schon einbezogen haben.
Russische Reaktionen sind mir nicht bekannt; es liegen keine entsprechenden Meldungen vor. Wir haben
aber unmittelbar nach Bildung der Regierung, ausgehend von der Zielsetzung, ein solches „sichtbares Zeichen“ zu errichten, Kontakte in verschiedene Richtungen aufgenommen.
Sie wissen, dass in der Koalitionsvereinbarung auch
auf das europäische Netzwerk Bezug genommen wird,
dem zurzeit Polen, Ungarn, die Slowakei und wir angehören. Ich hatte eine Arbeitsgruppe zur Entwicklung eines Konzeptes eingesetzt. Dieser Gruppe gehörten zwei
verantwortliche Wissenschaftler aus Ungarn und Polen
an. Ich habe im Laufe der Jahre 2006 und 2007 eine
Reihe von Gesprächen, auch mit dem damaligen polnischen Kulturminister - er gehört der Regierung inzwischen nicht mehr an -, vorgenommen.
Kürzlich, Anfang dieses Jahres - am 11. Januar -,
fand in Warschau ein Symposium zu dem Thema „Erinnerungsorte in Ost- und Mitteleuropa“ statt. Schirmherren waren die Kulturminister der vier von mir genannten
Länder. Auch auf diesem Forum hat der Kollege Markus
Meckel die Gelegenheit ergriffen, über die Zielsetzung
dieses „sichtbaren Zeichens“, so wie es die Koalition
vereinbart hat, zu referieren. Das heißt, hier gibt es seit
längerem umfangreiche Kontakte. Dass es prinzipielle
Fragestellungen gibt, insbesondere im polnischen Bereich, ist bekannt. Gerade mit der neuen polnischen Regierung wollen wir versuchen, die Chance zu nutzen,
diese Bedenken im positiven Sinne auszuräumen, zu zerstreuen. Das ist auch der Grund für meine Reise nach
Polen.
Danke. - Ihre zweite Nachfrage.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatsminister,
Sie wurden in einem weiteren Presseorgan, in der Welt,
Ende vergangenen Jahres zitiert, dass Sie, um Irritationen auszuräumen, Anfang 2008 zu einem wissenschaftlichen Symposium mit osteuropäischen Wissenschaftlern einladen möchten. Ich möchte gerne wissen, wann
dieses Symposium stattfinden soll, welche Wissenschaftler aus welchen osteuropäischen Ländern Sie bereits eingeladen haben und ob Sie schon Zusagen erhalten haben.
Im Augenblick befindet sich mein Entwurf, die Ausgangsbasis, für das „sichtbare Zeichen“ in der Kabinettsabstimmung. Es ist vorher im Rahmen der Koalition eine
Einigung erfolgt, und jetzt nehmen die verschiedenen
Ressorts Stellung. Ich gehe davon aus, dass es unter Einbeziehung des Besuches in Polen alsbald zu einem Kabinettsbeschluss kommt. Damit ist erst einmal der Grundstein gelegt, die Diskussionsgrundlage geschaffen. Wenn
man ein Symposium durchführt, muss man ja wissen,
worüber man redet.
Es ist ernsthaft geplant, unmittelbar danach ein internationales Symposium durchzuführen, bei dem dieser
Entwurf zur Diskussion steht. Daran sollen Wissenschaftler aus den unterschiedlichsten Ländern teilnehmen. Das Ganze ist in der Vorbereitung, insbesondere
- wie soll ich sagen? - bei den zuständigen Einrichtungen, die Erfahrungen hierbei haben, wie dem Haus der
Geschichte oder dem Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa in Oldenburg. Das wird geschehen.
Mir ist im Augenblick nicht bekannt, wer eingeladen
wird. Hinweise von Ihnen zu Wissenschaftlern oder anderen Personen, die dazu profunde Kenntnisse haben,
beziehen wir gern ein. Aber ich gehe davon aus, dass das
in der Breite schon geschieht und dass wir nicht nur Vertreter aus Polen einladen, sondern auch Wissenschaftler
aus anderen osteuropäischen Ländern.
Danke schön. Das Wort zu einer Zusatzfrage hat die
Kollegin Angelica Schwall-Düren.
Herr Staatsminister, ich freue mich sehr, dass es Ende
des Monats zu der Reise nach Warschau kommt. Ich
möchte Sie fragen, ob Sie nicht mit mir der Meinung
sind, dass die Gesprächsbereitschaft der neuen polnischen Regierung auch genutzt werden müsste, um dort
mehr zu tun, als nur das Konzept vorzustellen, nämlich
tatsächlich ein echtes Gespräch zu führen, also wegzukommen von einem - so sage ich jetzt einmal - patriarchalischen Verhalten nach dem Motto: „Schaut doch
mal: Wir können eure Bedenken zerstreuen. Jetzt stimmt
doch zu!“ und dahin zu kommen, tatsächlich dem zuzuhören, was uns die Polen zu sagen haben, deren Ideen
und Vorstellungen einzubeziehen, um in diesem Sinne
auch der Formulierung des Koalitionsvertrages zu entsprechen, nach der im Zusammenhang mit dem Netzwerk „Erinnerung und Solidarität“ dieses „sichtbare Zeichen“ errichtet werden soll. Damit ist ja gemeint, dass
man auch die Vorstellungen der Partner, hier insbesondere Polens, einbindet.
Ja, ich glaube, dass die von Ihnen geschilderte Zielsetzung richtig ist. Ich wiederhole: Ich habe dieses Einbeziehen bereits mit Vertretern der vorangegangenen Regierung versucht. Ich denke, dass wir jetzt mit der neuen
Regierung einen kooperativeren Partner haben. Das Ziel
ist, wie auch der Kollege Markus Meckel aus Ihrer Fraktion auf der von mir geschilderten Tagung zum Ausdruck gebracht hat, das nicht nur vorzustellen, sondern
auch dafür zu werben, später in Gremien - sagen wir
einmal: in einem wissenschaftlichen Beirat - mitzuwirken. Mit dem Beschluss über das Rohkonzept sind wir
noch nicht bei einem endgültigen Ergebnis. Das Rohkonzept ist im Grunde der erweiterte Text der Koalitionsvereinbarung, auch unter Hinweis darauf, dass wir
hier Geschichte nicht verändern wollen, sondern schon
wissen, welches die Ursachen von Flucht und Vertreibung waren, nämlich das nationalsozialistische Deutschland und dessen Terrorsystem.
Dann kommt der nächste Schritt: das Konzept unter
Einbeziehung von Diskussionen in einem Symposium zu
verfeinern, um dann die eigentliche Dokumentationsstätte, die Ausstellung vorzubereiten. So ist das angelegt.
Hier sind wir optimistisch im Hinblick auf das Ziel,
nicht nur mitzuteilen, sondern auch zu motivieren, dabei
mitzuwirken.
Es soll nicht nur um Flucht und Vertreibung der Deutschen gehen, sondern wir wollen den europäischen Gedanken einbeziehen. Von Flucht und Vertreibung sind,
aus unterschiedlichen Gründen, auch viele andere Völker betroffen. Das soll eine Dokumentationsstätte werden, die Flucht und Vertreibung generell, insbesondere
in Europa, aufarbeitet. Wir fahren mit dem Ziel nach
Polen, hierfür Partner zu gewinnen.
Zu einer weiteren Zusatzfrage hat der Kollege
Rainder Steenblock das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatsminister,
die Frage der Kollegin Lötzsch gibt der Bundesregierung
die Gelegenheit - Sie haben das zum Teil ja auch genutzt -, diesen sehr unschönen Bericht aus der Berliner
Zeitung richtigzustellen. Es wäre vielleicht noch besser
gewesen, die Bundesregierung hätte das von sich aus getan, weil die Chancen, die, wie Sie ja zu Recht gesagt
haben, in diesem Projekt liegen, durch so missverständliche Berichterstattung sehr schnell wieder reduziert
werden können.
Sie haben dann gesagt, die Bundesregierung würde
der polnischen Regierung ein Angebot machen. Ich halte
diese Begrifflichkeit auch für missverständlich, weil das
so verstanden werden könnte: Wir sagen, wie ihr mitmachen könnt, und ihr könnt euch dann entscheiden, ob ihr
das wollt.
Herr Staatsminister, würden Sie mir zustimmen, dass
es angesichts der neuen politischen Situation in Polen
Aufgabe der Bundesregierung wäre, der neuen polnischen Regierung gegenüber zu sagen, wir wollen in einen Dialogprozess treten und haben ein großes Interesse
daran, auch die Vorstellungen der polnischen Regierung
in das Verfahren einzubeziehen, um zu verhindern, dass
es wie in der Vergangenheit zu Irritationen kommt, die ja
zum Teil auch von einer Ihrer Fraktionskolleginnen immer wieder neu geschürt wurden, also dass es jetzt um
die Aufnahme eines Dialogs geht und nicht um die Annahme oder Ablehnung von Angeboten?
Ich bilde mir ein, ich habe mit meinen vorherigen Bemerkungen Ihre Frage schon beantwortet, obwohl ich
nicht wusste, dass Sie sie stellen würden. Ich kann aber
meine Antwort gerne wiederholen: Richtig ist, dass die
Bundesregierung und insbesondere die beiden sie tragenden Fraktionen das Thema „Flucht und Vertreibung“
im Rahmen einer Dokumentationsstätte als „sichtbares
Zeichen“ hier in Berlin aufarbeiten wollen. Das ist unser
gemeinsamer Wille. Das ist der Ausgangspunkt. Jetzt
kommt das Wie; dabei kommt es auch auf die Partner an.
Unter diesem Gesichtspunkt wollen wir natürlich von
Anfang an einen gemeinsamen Dialog insbesondere mit
den Exekutiven der vier von mir genannten Länder und
von mir aus auch ihrer Parlamente herbeiführen.
Der ganze Prozess ist ja als eine Art Dialogprozess
angelegt. Wenn die Bundesregierung nun die Absichtserklärung, die in der Koalitionsvereinbarung steht, konkretisiert und ihre Pläne dann auf einem Symposium zur
Diskussion stellt, zu dem wir insbesondere kompetente
Vertreter aus den betroffenen Ländern einladen, dann
impliziert das ja, dass man deren Meinung einbeziehen
will. Wenn wir dazu einladen - wie jetzt jüngst vom
Kollegen Meckel geschehen, aber auch von mir schon
mehrfach getan -, an der Ausgestaltung dieses „sichtbaren Zeichens“ teilzunehmen, dann führen wir, wie ich
finde, genau den Dialog, den Sie meinen. Das ist unsere
Absicht.
Die verkürzte Wiedergabe meines Interviews in der
Berliner Zeitung war, wie gesagt, nicht hilfreich. Wenn
man aber den Artikel des Focus liest, auf den da Bezug
genommen wurde, dann wird klar, was gemeint ist. Insofern bin ich dankbar, dass ich hier noch einmal die Gelegenheit hatte, das zu interpretieren.
Danke, Herr Staatsminister.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Da die Fragen 2 und 3 von
mir gestellt wurden und ich im Moment erkennbar andere Verpflichtungen habe, muss die Bundesregierung
diese Fragen schriftlich beantworten.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach zur Verfügung.
Die Fragen 4 und 5 des Kollegen Kai Gehring werden
aufgrund Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinien schriftlich beantwortet; das heißt, dass dieses Thema, weil es aktuell in
dieser Sitzungswoche noch behandelt wird, heute nicht
hier in der Fragestunde aufgerufen wird.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Die Fragen zu diesem Geschäftsbereich
sollen durch den Parlamentarischen Staatssekretär
Dr. Gerd Müller beantwortet werden.
Wir kommen damit zur Frage 6 der Kollegin Bärbel
Höhn:
Plant die Bundesregierung eine Verschiebung der Fristen
zur Abschaffung der Batteriekäfighaltung von Legehennen
nach § 33 Abs. 4 der Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung
- 31. Dezember 2008 bzw. 31. Dezember 2009 -, und wird sie
an der derzeitig gültigen Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung bezüglich des Käfigverbots auch dann festhalten, wenn
auf europäischer Ebene die Aufhebung der zugrunde liegenden Richtlinie 1999/74/EC bzw. eine Verschiebung ihres Inkrafttretens beschlossen würde?
Frau Präsidentin! Ich danke der Kollegin Höhn für die
präzise Frage, die ich kurz wiederhole: Plant die Bundesregierung eine Verschiebung der Fristen zur Abschaffung
der Batteriekäfighaltung von Legehennen - Nein, ist die
Antwort -, und wird sie an der derzeit gültigen Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung bezüglich des Käfigverbots auch dann festhalten, wenn auf europäischer
Ebene die Aufhebung der zugrunde liegenden Richtlinie
beschlossen würde? Ja, ist die Antwort.
Dann habe ich keine Nachfrage. Okay.
Wenn das so ist, dann danke ich dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär.
Das war ein modellhaftes Beispiel dafür, wie man
Fragestunden abwickeln könnte.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Die
Fragen beantwortet der Parlamentarische Staatssekretär
Achim Großmann.
Ich rufe die Frage 7 des Kollegen Dr. Anton Hofreiter
auf:
Hat die Bundesregierung bei der Bewertung des industriepolitischen Nutzens der geplanten Transrapidverbindung in
München auch vergleichend untersucht, welcher möglicherweise höhere industriepolitische Nutzen durch Investitionen
in andere Bereiche als den Transrapid zu erzielen sind, und,
wenn nein, warum nicht?
Herr Staatssekretär.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Dr. Hofreiter,
Sie fragen zum Transrapid. Meine Antwort: Das von der
Bundesregierung in Auftrag gegebene Gutachten zum
industriepolitischen Nutzen des Transrapid München berücksichtigt unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten, dass Gelder, die für dieses Vorhaben aufgewandt
werden, für andere Bereiche nicht mehr zur Verfügung
stehen. Das ist die sogenannte Opportunitätsbetrachtung.
Detaillierte Angaben zu expansiven und kontraktiven
Wirkungen können dem Gutachten, das Ihnen vorliegt,
entnommen werden. Nicht weiter spezifizierte Investitionen in andere Bereiche können kein Gegenstand der
Untersuchungen sein.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielen Dank. - Kann der sehr geehrte Herr Staatssekretär die zweite Frage gleich im Anschluss an diese
Frage beantworten, da beide Fragen in einem engen
Sachzusammenhang stehen?
Wenn Sie einverstanden sind, rufe ich gleich die
Frage 8 des Kollegen Dr. Anton Hofreiter auf:
Bei welchen anderen Investitionsentscheidungen des Bundes wurde ein industriepolitischer Nutzen unterstellt bzw. explizit beziffert berücksichtigt, oder stellt der Transrapid einen
Einzelfall dar?
Darauf antworte ich sehr gerne sofort. - Bei Investitionsentscheidungen im Verkehrsbereich finden generell
auch andere als rein verkehrliche Nutzen Berücksichtigung. Regelmäßig werden die Auswirkungen auf die Beschäftigung im regionalen Arbeitsmarkt zur Beurteilung
von Projekten herangezogen. Beispiele sind der Bundesverkehrswegeplan und die Standardisierte Bewertung
bei ÖPNV-Vorhaben.
Damit haben Sie die Möglichkeit zu insgesamt vier
Nachfragen. Bitte, Herr Dr. Hofreiter.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank, Herr
Staatssekretär. - Zunächst zur zweiten Antwort: Das ist
mir selbstverständlich bekannt, aber ich habe explizit danach gefragt, ob dieser Terminus des industriepolitischen Nutzens bei anderen verkehrlichen Projekten bereits einmal angewendet worden ist. In dem Gutachten
von Herrn Professor Baum sind ja einige ganz spezielle
Annahmen getroffen worden. Dass verkehrspolitische
Effekte, Raumeffekte und all diese Dinge beim Bundesverkehrswegeplan selbstverständlich berücksichtigt worden sind, ist mir bekannt. Das war nicht die Frage. Die
Frage war, ob ein industriepolitischer Nutzen in dieser
Form bei anderen Verkehrsprojekten schon einmal berücksichtigt worden ist.
Bitte.
Der industriepolitische Nutzen ist definiert als ein
Teil des volkswirtschaftlichen Nutzens, den wir immer
untersuchen. Ich möchte darauf aufmerksam machen
- Sie können sich vielleicht nicht daran erinnern, weil
Sie damals dem Bundestag noch nicht angehörten -,
dass aufgrund eines Hinweises des Bundesrechnungshofes die volkswirtschaftlichen Wirkungen noch einmal
gesondert auf den industriepolitischen Nutzen hin untersucht worden sind. Das war eine spezifische Bitte des
Bundesrechnungshofes, der die damalige rot-grüne Regierung gerne nachgekommen ist. Indirekt und teilweise
auch direkt - das wissen Sie - spielen bei den volkswirtschaftlichen Betrachtungen auch industriepolische Aspekte immer eine Rolle.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Dass indirekt industriepolitische Auswirkungen immer eine Rolle spielen, ist ganz klar. Wenn man zum
Beispiel einen Fluss ausbaut, um den Transport von Eisenerz oder Steinkohle zu einem bestimmten Hafen zu
ermöglichen, hat das selbstverständlich große industriepolitische Auswirkungen, weil unter Umständen ein bestimmter Industriebetrieb erst dadurch konkurrenzfähig
ist. Das ist vollkommen klar. Aber habe ich Sie richtig
verstanden, dass es durchaus eine Sondersituation war
- auf wessen Wunsch auch immer das geschah -, dass
hier explizit die direkten industriepolitischen Auswirkungen untersucht worden sind und nicht nur der indirekte volkswirtschaftliche Nutzen und dass Ihnen derartige Untersuchungen bei anderen verkehrspolitischen
Projekten bis jetzt nicht bekannt sind?
Das ist jetzt eine unzutreffende Interpretation meiner
Antworten. Ich habe gesagt, dass der industriepolitische
Nutzen in der volkswirtschaftlichen Betrachtung immer
eine Rolle spielt. Ihre Frage hat sich ja nicht nur auf den
Verkehrssektor bezogen. Ich könnte auch Ausführungen
zu den einzelnen Technologiebereichen machen, von
Spin-offs bis zur Entwicklung von neuen Technologien.
Im Grunde genommen ist die Magnetschwebebahntechnik eine neue Technologie mit großen Folgen innovativer Art für andere Industriebereiche. Speziell in diesem
Falle ist die normale volkswirtschaftliche Betrachtung
um eine feinere Untersuchung des industriepolitischen
Nutzens ergänzt worden. Das ist aber kein Alleinstellungsmerkmal und kann von daher nicht so präzise einsortiert werden, wie Sie es getan haben. Diese Betrachtung erfolgt de facto auch bei ganz vielen anderen
Entscheidungen.
Ihre dritte Nachfrage.
Zum industriepolitischen Nutzen. Sie haben das Gutachten sicherlich gelesen. Darin wird insbesondere hervorgehoben, dass der industriepolitische Nutzen dadurch
entsteht, dass der deutsche Schiffsbau erheblich vom
Transrapid profitiert. Ich kann mir das immer noch nicht
erklären; aber es steht in dem Gutachten und wird dort
nicht weiter ausgeführt. Weil das so exotisch ist, lautet
meine Frage: Ist untersucht worden, ob, wenn man das
Geld, das für den Transrapid aufgewendet wird, direkt in
die Weiterentwicklung des deutschen Schiffsbaus stecken würde, nicht ein größerer Effekt für den deutschen
Schiffsbau entstehen würde? Man glaubt es ja kaum;
aber laut Gutachten und laut Nutzen-Kosten-Analyse,
auf die sich die Bundesregierung stützt, entsteht ein erheblicher Teil des industriepolitischen Nutzens angeblich im Schiffsbau. Das ist nicht meine Idee!
Nein; aber ich will Ihnen mit meiner Antwort zeigen,
dass Sie außergewöhnlich verengend auf das Gutachten
eingegangen sind.
Sie haben davon gesprochen, dass Ihnen das Gutachten vorliegt. Aufgrund dessen könnten Sie sich eine
Menge Antworten selber geben; aber es geht ja auch darum, dass wir das Parlament informieren.
Ich will aus dem Gutachten zitieren, zunächst einmal
was die Wirkungen betrifft; das ist das, was ich eben Opportunitätsbetrachtung genannt habe. Dort heißt es wörtlich - ich zitiere -:
Den Produktions- und Beschäftigungssteigerungen
stehen allerdings kontraktive Wirkungen gegenüber, die gegengerechnet werden müssen. Diese ergeben sich daraus, dass die finanziellen Mittel, die
für den Bau der Transrapidstrecke gebunden sind,
anderen alternativen Verwendungszwecken entzogen sind. Es wird angenommen, dass in Höhe der
Investitionssumme die allgemeine Staatsnachfrage
nach Gütern und Dienstleistungen ({0}) gemindert wird.
Dasselbe gilt - das fasse ich jetzt zusammen - natürlich
auch für das Ausland.
Wenn Sie in der Kurzfassung sehen, welchen industriepolitischen Nutzen der Gutachter aufgelistet hat,
dann müssen Sie schon aus Gründen der Ehrlichkeit und
Wahrhaftigkeit feststellen, dass der von Ihnen genannte
Aspekt nicht gerade im Vordergrund steht, sondern nur
ein zusätzliches Detail ist. Im Gutachten heißt es - ich
kann da nur den Gutachter zitieren -:
Steigerung der Wertschöpfung, Einkommen und
Beschäftigung aus einer Transrapidanwendung in
Deutschland. Diese Wirkungen entstehen aus Herstellung, Instandhaltung und Betrieb des Transrapid.
Exporterfolge der deutschen Transrapidindustrie im
Ausland. Diese schlagen sich in Deutschland nieder
in Steigerungen der Wertschöpfung und Beschäftigung für Herstellung und Instandhaltung des Transrapid.
Stärkung der Systemkompetenz in der Transrapidtechnologie. Ohne Referenzstrecke in Deutschland
würden Innovationen ausbleiben und die Systemkompetenz verloren gehen.
Dann folgen Hinweise auf die „vielfältigen Dienstleistungen“, die damit zusammenhängen, und auf die
Wirkungen, die aus den Forschungs- und Entwicklungsausgaben für den Transrapid entstehen:
Sie fördern die Humankapitalbildung und steigern
die Produktivität.
Dann geht es um die Spin-off-Effekte des Transrapid,
von denen andere Industrien profitieren können, also um
die innovative Befruchtung anderer Technologien. Weiterhin geht es um die Wirkungen auf die sektorale und
regionale Struktur der Wirtschaft usw.
Das heißt, die zentralen Bedeutungen des industriepolitischen Nutzens liegen nicht in dem speziellen Punkt,
den Sie in Ihrer Frage angesprochen haben.
Ihre letzte Nachfrage.
In Kosten-Nutzen-Berechnungen gehen ja sowohl die
Kosten als auch der Nutzen ein. Wenn die Kosten massiv
nach oben gehen, dann sinkt automatisch der NutzenKosten-Quotient und damit der volkswirtschaftliche
Nutzen.
Berücksichtigt die Bundesregierung die Tatsache - intern geht man inzwischen davon aus -, dass der Transrapid nicht zu einem Preis von 1,85 Milliarden Euro gebaut werden kann? Die Bauindustrie selbst spricht
davon, dass es sich um einen politischen Preis handelt,
um das Projekt leichter durchsetzen zu können. Es gibt
viele Gründe, warum der Bau des Transrapids teurer
werden kann. Die Rohstoffpreise sind massiv gestiegen;
die höhere Inflation muss eingerechnet werden. Werden
diese Punkte bei den Schätzungen berücksichtigt? Inzwischen soll der Bundesanteil für dieses Projekt bei
925 Millionen Euro liegen.
Herr Dr. Hofreiter, das letzte Mal haben Sie mich im
Juli 2007, also vor der Sommerpause, zu den 1,85 Milliarden Euro gefragt. Ich habe vorhin Ihre damalige
Frage und meine Antwort noch einmal nachgelesen. Sie
werden auch heute keine andere Antwort von mir bekommen. Das Gutachten über den industriepolitischen
Nutzen ist ein Teil der Entscheidungsfindung der Bundesregierung. Für den Fall, dass Sie diesbezüglich eine
Erinnerungshilfe brauchen, habe ich die Koalitionsvereinbarung von 2002 mitgebracht.
Sie wissen, dass wir inzwischen viel weiter sind. Das
Parlament hat sich mit den Beschlüssen des Haushaltsausschusses hinter dieses Projekt gestellt. Die relative
Angabe „bis zu 50 Prozent“ wurde mit 925 Millionen Euro konkretisiert. Der Bund hat mit Blick auf
den industriepolitischen Nutzen des Projektes seine
Hausaufgabe gemacht. Die Bayern machen ebenso ihre
Hausaufgaben. Jetzt warten wir einmal ab, ob das Projekt in die Realisierungsphase eintritt. Alles, was ich bis
jetzt in Bezug auf die mit der Industrie und auch mit der
Bauindustrie geschlossenen Verträge weiß, deutet darauf
hin, dass dieses Projekt machbar ist. Wir wissen, dass die
finanziellen Risiken nach den konkreten Absprachen
zwischen dem Bund und dem Freistaat Bayern auch von
Bayern mitgetragen werden müssen.
Danke, Herr Staatssekretär.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Zur Beantwortung der Fragen steht die Parlamentarische Staatssekretärin Astrid Klug zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 9 der Kollegin Anja Hajduk auf:
Wie bewertet die Bundesregierung die vom Hamburger
Senat angeführten Gründe, den Antrag, für das Küstengebiet
Wattenmeer in der Nordsee den UNESCO-Titel „Weltnaturerbe“ zu erhalten, nicht unterstützen zu wollen?
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Wenn Sie erlauben,
würde ich gerne die Fragen 9 und 10 gemeinsam beantworten, da sich beide auf den Rückzug des Hamburger
Senats aus dem Antrag auf Nominierung des Wattenmeers als UNESCO-Weltnaturerbe beziehen.
Natürlich. Dann rufe ich auch noch die Frage 10 der
Kollegin Anja Hajduk auf:
An welche Bedingungen knüpft der Hamburger Senat
seine Zustimmung zum Antrag zur Verleihung des UNESCOTitels „Weltnaturerbe“ für das Küstengebiet Wattenmeer in
der Nordsee, und wie werden diese von der Bundesregierung
bewertet?
Frau Kollegin Hajduk, ich beantworte Ihre Fragen
wie folgt:
Hamburg hat die Sorge, dass durch eine Ausweisung
des Wattenmeers als Weltnaturerbe die Anbindung des
Hamburger Hafens sowie Unterhaltung und Ausbau der
Fahrrinne der Elbe behindert werden können. Da das im
Antrag auf Ausweisung des Wattenmeers als Weltnaturerbe zugrunde liegende Gebiet innerhalb der Grenzen
der bestehenden Nationalparks liegt, wird das Fahrwasser der Elbe ausgespart. Die Bundesregierung sieht daher keine zusätzlichen rechtlichen Hürden für Unterhaltungs- oder Ausbaumaßnahmen an der Unter- und
Außenelbe, wenn das Wattenmeer den Status als Weltnaturerbe erhielte.
Sie haben die Möglichkeit zur ersten Nachfrage, bitte.
Frau Staatssekretärin, in einer an Deutlichkeit kaum
zu überbietenden Pressemitteilung hat der Umweltminister gestern zu der Entscheidung des Hamburger Senats
Stellung bezogen. Er hat damit argumentiert, dass es in
den Vorschriften zum Schutz des Nationalparks Wattenmeer eigentlich weiter gehende Bestimmungen als die
UNESCO-Vorgaben für das Weltnaturerbe gebe. Wenn
man diese Argumentation zu Ende denkt, könnte man zu
der Schlussfolgerung gelangen, dass die bereits jetzt bestehenden Vorschriften zum Schutz des Nationalparks
Wattenmeer eine weitere Elbvertiefung nicht decken
würden. Können Sie diese Möglichkeit der Auslegung
der Schutzvorschriften des Nationalparks Wattenmeer
nachvollziehen?
Ich habe eben ausgeführt, dass die Fahrrinne nicht
Teil des Nationalparks ist und sie von dem Nominierungsantrag ausdrücklich ausgenommen ist und dass auf
diese Situation im Nominierungsantrag hingewiesen
wird. Deshalb können wir den Ausstieg des Hamburger
Senats aus diesem gemeinsamen Projekt, auf das viele
Jahre grenzüberschreitend hingearbeitet wurde, nicht
nachvollziehen. Dies ist entweder ein Ausdruck fehlender Sachkenntnis, oder es handelt sich dabei um vorgeschobene Gründe und Motive; das haben wir gestern
noch einmal deutlich zum Ausdruck gebracht.
Durch die Nominierung und die - wie wir hoffen künftige Anerkennung des Wattenmeers als Weltnaturerbe ändert sich nichts an den naturschutzrechtlichen
Vorgaben für die Elbe und die dort geplanten Projekte.
Es gilt dort das nationale und das europäische Naturschutzrecht. Durch die Anerkennung als Weltnaturerbe
ändert sich nichts. Was heute möglich ist, wird in Zukunft auch bei einer Anerkennung möglich sein. Was
heute nicht möglich ist, wird in Zukunft auch dann nicht
möglich sein, wenn, was wir alle nicht hoffen, die Pläne
der Anerkennung als Weltnaturerbe durchkreuzt würden.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage. - Bitte.
Es wurde immer wieder argumentiert, dass eine gemeinsame Antragstellung sehr wichtig sei, um erfolgreich zu sein. Deswegen möchte ich Sie fragen, ob die
Bundesregierung der Ansicht ist, dass die ablehnende
Haltung des Hamburger Senats ein Scheitern des gesamten Antrags für das Wattenmeer wahrscheinlich macht.
Wir haben klare Vorgaben, was die Fristen der
UNESCO angeht. Deshalb ist es wichtig, dass wir zu den
vorgegebenen Fristen, nämlich zum 1. Februar, den Antrag einreichen. Niedersachsen und Schleswig-Holstein
haben angekündigt, diesen Antrag auch ohne Hamburg
weiterzuverfolgen. Das wird von uns ausdrücklich unterstützt.
Ihre dritte Nachfrage.
Da Sie zu der Wahrscheinlichkeit des Scheiterns des
Antrages nicht weiter Stellung genommen haben - Sie
können dies gegebenenfalls in Ihre nächste Antwort einflechten -, möchte ich anders nachfragen: In Hamburg
ist in Presseberichten darauf verwiesen worden, dass
eine Nominierung als Weltnaturerbe möglicherweise
auch noch später möglich sei. Teilt die Bundesregierung
diese Auffassung, und würde die Bundesregierung gegebenenfalls mit einem zeitlichen Vorlauf rechnen?
Wir teilen diese Auffassung nicht. Theoretisch wäre
das zwar möglich; aber alle Beteiligten waren sich von
Anfang an einig - das wurde auf einer Arbeitssitzung im
Dezember von allen Beteiligten ausdrücklich bestätigt -,
dass es, wenn wir diesen Antrag jetzt nicht stellen, mit
einem Scheitern des Antrages gleichzusetzen wäre, weil
die Verunsicherung im Hinblick auf das gesamte Projekt
zum Beispiel auch bei unseren Partnern in den Niederlanden so groß wäre, dass die Wahrscheinlichkeit, dass
wir dieses Projekt auch später zum Erfolg führen könnten, auf ein Minimum schrumpfen würde. Deshalb legen
wir Wert darauf, dass der Antrag jetzt weiterverfolgt
wird.
Noch eine weitere Nachfrage? - Bitte.
Letzte Nachfrage: Wenn das mit der Frist so ist, wie
es ist, teilen Sie dann meine Auffassung, dass die Entscheidung des Hamburger Senats die Anerkennung als
Weltnaturerbe zwar vielleicht nicht vollständig ausgeschlossen hat, aber zumindest unwahrscheinlicher gemacht hat?
Diese Auffassung teile ich. Der Rückzug des Hamburger Senats aus diesem Antrag schadet dem Projekt,
gefährdet das Projekt. Wir hoffen trotzdem, dass wir es
noch zu einem erfolgreichen Abschluss bringen können.
Aber dies ist dadurch nicht leichter geworden.
Zu einer Zusatzfrage hat der Kollege Rainder
Steenblock das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Staatssekretärin, in der Pressemitteilung, die Ihr Haus gestern verbreitet hat, steht ein Zitat des Umweltministers, das lautet:
Diese Entscheidung entbehrt jeglicher sachlichen
Grundlage. Damit entlarvt sich der selbsternannte
Umweltschützer Ole von Beust und brüskiert die
Bundeskanzlerin.
Dieses wird als wörtliches Zitat des Bundesumweltministers in dieser Pressemitteilung so dargestellt.
Meine Frage lautet jetzt: Ist das eine Privatmeinung
des Umweltministers? Ist das eine Stellungnahme des
fachlich zuständigen Ministers innerhalb der Bundesregierung zu der Bewertung, die die Bundeskanzlerin, die
der CDU angehört, gegenüber dem Bürgermeister, der
der CDU angehört, abgibt, oder ist es eine Stellungnahme der Bundesregierung, die zwischen dem Bundesumweltministerium und dem Bundeskanzleramt abgestimmt ist?
Dies ist die Bewertung des zuständigen Bundesumweltministers. Wir können die Motive und die Gründe,
die der Hamburger Senat für seinen Rückzug angegeben
hat, nicht nachvollziehen; ich habe eben erläutert, warum. Diese Entscheidung schadet dem Projekt. Es gab
vielfache Versuche sowohl des Bundesumweltministeriums als auch des Bundeskanzleramtes, Hamburg von
dieser Entscheidung abzuhalten. Dies ist am Ende leider
nicht gelungen.
Danke, Frau Staatssekretärin.
Wir kommen zur Frage 11 des Kollegen Rainder
Steenblock:
Auf welche Erkenntnisse stützen sich die Einschätzungen
von Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Sigmar Gabriel - Hamburg, November 2007 -, und
Staatssekretär Michael Müller - Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Dezember 2007 in
Neuenkirchen/Schleswig-Holstein, Hamburg, Januar 2008 -,
dass die geplante Elbvertiefung „überflüssig und unsinnig“ sei
und „ganz neu überdacht“ und „ganz neu bewertet“ werden
müsse, auch vor dem Hintergrund der Einwendung des Bundesamts für Naturschutz, das gravierende Bedenken geltend
macht?
Wegen des inhaltlichen Zusammenhangs würde ich
die Fragen 11 und 12 gerne gemeinsam beantworten.
Dann rufe ich die Frage 12 des Kollegen Rainder
Steenblock auf:
Welche Schritte wird Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Sigmar Gabriel, unternehmen,
um mit den Bedenken aus seinem Haus sowie den von Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Wolfgang
Tiefensee, geäußerten Bedenken Einfluss auf das weitere Verfahren zu nehmen?
Ich beantworte die Fragen wie folgt: Das Bundesamt
für Naturschutz hat im Planfeststellungsverfahren zu der
geplanten Elbvertiefung eine Stellungnahme abgegeben,
die sich auf die nicht vollständige Abarbeitung des besonderen naturschutzfachlichen Planungsauftrages bezieht, der mit Kabinettsbeschluss vom 15. September
2004 für die Fahrrinnenanpassung der Unter- und Außenelbe erteilt wurde. Die Abarbeitung des besonderen
naturschutzfachlichen Planungsauftrages erfolgt im Rahmen der Vorbereitung und Durchführung des Planfeststellungsverfahrens.
Die seitens des BfN, aber auch seitens der zuständigen Landesbehörden geäußerten naturschutzfachlichen
Bedenken werden derzeit vom Träger des Vorhabens bearbeitet. Durch das Planfeststellungsverfahren ist sichergestellt, dass die Belange des Gewässer- und Naturschutzes angemessen berücksichtigt werden. Sie werden
entsprechend der Kompetenzordnung des Grundgesetzes
von den zuständigen Landesbehörden wahrgenommen.
Eine Einflussnahme seitens des BMU oder des BMVBS
scheidet wegen der Unabhängigkeit der Planfeststellungsbehörde aus.
Danke, Frau Staatssekretärin. - Herr Steenblock, Sie
haben die Möglichkeit zu insgesamt vier Nachfragen.
Bitte.
Frau Staatssekretärin, es ist erstaunlich, dass Sie sich
in Ihrer Antwort auf die beiden Fragen nur auf einen
winzigen Teil bezogen haben und den Kern der Fragen
nicht berücksichtigt haben. Es geht um Äußerungen, die
Ihr Minister und Ihr Kollege Herr Müller bei Besuchen
in der Region gemacht haben. Die beiden haben wörtlich
gesagt: Das ist ein gefährliches Unternehmen. Diese Sache ist unverantwortlich. Es muss völlig neu geplant
werden. - Ich hätte schon gerne eine Antwort auf die
Frage, ob diese Äußerungen der Spitze des Umweltministeriums, die in den Lokalzeitungen und im Hamburger Abendblatt nachzulesen waren - wir haben dem Ministerium entsprechende Unterlagen gegeben -, völlig
aus der Luft gegriffen sind. Oder sind die Bedenken, die
Herr Müller und der Umweltminister geäußert haben, als
Stellungnahmen der jeweiligen Person zu verstehen?
Ich glaube, ich habe eben deutlich gemacht, dass das
Bundesumweltministerium in dem Verfahren keine aktive Rolle innehat. Sie haben ja auch gefragt, welchen
Einfluss wir geltend machen können. Wir können im
Verfahren keinen Einfluss geltend machen, weil die Landesbehörden Planfeststellungsbehörden sind. Sie sind
die vor Ort Zuständigen. Wir haben natürlich kritische
Fragen zu diesem Projekt: was den Naturschutz, den
Hochwasserschutz, die FFH-Verträglichkeitsprüfung
und Weiteres angeht. Diese Fragen stellen wir, und mit
diesen Fragen setzen wir uns auseinander. Eine abschließende Bewertung dieses Projekts können wir aber erst
vornehmen, wenn das Planfeststellungsverfahren beendet ist, wenn der naturschutzrechtliche Planungsauftrag
abgearbeitet ist. Da das noch nicht der Fall ist, gibt es
noch keine abschließende Bewertung, sondern nur kritische Fragen, die wir stellen.
Sie können eine zweite Nachfrage stellen.
Ja, gerne. - Ich glaube, dass Sie aus dieser Klemme
nicht herauskommen. Herr Müller hat öffentlich, auf
dem Deich vor Seestermühe, erklärt: Ich persönlich
lehne dieses Projekt ab. - Diese relativ klare Äußerung
hat er als seine persönliche Meinung dargestellt. Dann
hat er aber als Staatssekretär weitergesprochen und gesagt: Ich warne vor den Riesengefahren - diesen Begriff
hat er gebraucht - des Projekts. Er hat ferner gesagt: Ich
kann mir nicht vorstellen, dass zu dem gegebenen Zeitpunkt eine Entscheidung erfolgt. - Er hat auch noch vieles andere gesagt. Die Zeitungen bei uns in der Region
titelten dann: Elbvertiefung vor dem Aus. - Die Men14228
schen vor Ort wollen, glaube ich, dass dieses Problem
von der Bundesregierung gelöst wird.
Können Sie jetzt bitte die Frage formulieren, die vor
Ort besteht?
Sieht das Umweltministerium die Elbvertiefung tatsächlich vor dem Aus?
Ich glaube, ich habe eben deutlich gemacht, dass wir
eine Bewertung des Projektes erst dann vornehmen können, wenn der naturschutzfachliche Planungsauftrag, die
Umweltverträglichkeitsprüfung und die FFH-Verträglichkeitsprüfung abgeschlossen sind und die Ergebnisse
vorliegen. Dann können Sie von uns eine Bewertung des
Projektes erwarten. Ich weise noch einmal darauf hin,
dass das Bundesumweltministerium kritische Fragen zu
dem Projekt stellt, aber in dem Verfahren keine aktive
Rolle innehat.
Sie können eine weitere Frage stellen.
Das mache ich gerne. - Wie ist das Folgende mit Ihrer
Aussage vereinbar: Der Bundesminister für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung stellt sich in Cuxhaven vor
die Bürger und sagt: Aufgrund dessen, was ich heute in
der Diskussion gehört habe, muss die Elbvertiefung
noch einmal auf den Prüfstand. - Dann sagt Herr Gabriel
nördlich von Stade: Dieses Projekt ist eigentlich unverantwortlich. - Dann sagt Herr Müller im Kreis Pinneberg: Das ist ein Projekt, das ich persönlich ablehne;
außerdem sind die Risiken so groß, dass es unverantwortlich wäre, das zu machen. - Habe ich richtig verstanden, dass diese Äußerungen von relevanten Mitgliedern der Bundesregierung nicht bedeuten, dass die
Bundesregierung dieses Projekt bewertet? Können Sie
verstehen, dass das in der Wahrnehmung der Menschen
vor Ort ein Widerspruch ist und dass sie sich ein bisschen veralbert fühlen?
Nein, das ist kein Widerspruch. Denn zuständig für
das Planfeststellungsverfahren, das derzeit stattfindet,
sind die Planfeststellungsbehörden vor Ort in den Ländern. Die Bundesregierung stellt dazu Fragen, und natürlich steht das gesamte Projekt auf dem Prüfstand, nämlich im Planfeststellungsverfahren, in dessen Rahmen
die notwendigen Umweltverträglichkeitsprüfungen
durchgeführt werden müssen. Wenn diese stattgefunden
haben, können wir abschließend bewerten. Wir nehmen
uns aber durchaus das Recht, während des Verfahrens
kritische Fragen zu dem Projekt zu stellen.
Damit kommen wir zur vorerst letzten Nachfrage zu
diesem Thema.
Frau Staatssekretärin, das Bundesamt für Naturschutz
hat in seiner Stellungnahme darauf hingewiesen, dass
die eingereichten Planfeststellungsunterlagen nicht ausreichen, um zu einer abgesicherten naturschutzfachlichen Bewertung zu kommen. Es schreibt: Aufgrund dieser Unterlagen können die gesetzten Ziele in diesem
Verfahren nicht erreicht werden. - Hat das Bundesumweltministerium Versuche und Aktivitäten unternommen, um die Unterlagen für das Planfeststellungsverfahren auf das notwendige Niveau zu bringen, sodass das
Bundesamt für Naturschutz sagen kann, dass sie einen
Stand haben, auf dessen Grundlage man eine Entscheidung treffen kann?
Auch hier muss ich, damit kein Missverständnis entsteht, noch einmal deutlich machen, dass das Bundesamt
für Naturschutz im gesamten Planfeststellungsverfahren
keine aktive Rolle hat. Es gibt keine rechtliche Beteiligung des Bundesamtes für Naturschutz am Planfeststellungsverfahren. Das ist gesetzlich nicht vorgeschrieben.
Nichtsdestotrotz hat das Bundesamt für Naturschutz als
Fachbehörde des Naturschutzes eine Stellungnahme abgegeben und darauf hingewiesen, dass noch nicht alle
Fragen beantwortet sind und noch nicht alle notwendigen Umweltverträglichkeitsprüfungen stattgefunden haben. Wir erwarten - wir haben unseren Einfluss dahin
gehend geltend gemacht -, dass all diese Fragen im
Planfeststellungsverfahren beantwortet werden. Dafür
gibt es das Planfeststellungsverfahren. Wir werden uns,
wenn es stattgefunden hat, dazu äußern, auch ohne dass
wir eine aktive Rolle in dem Verfahren haben.
Danke, Frau Staatssekretärin.
Die Frage 13 des Kollegen Hans-Josef Fell wird
schriftlich beantwortet.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär
Andreas Storm zur Verfügung.
Die Fragen 14 und 15 der Kollegin Hirsch werden
schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 16 des Kollegen Uwe Barth auf:
Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung bezüglich des
Vorstoßes der rheinland-pfälzischen Regierung, der JohannesGutenberg-Universität Mainz und der Max-Planck-Gesellschaft, eine Graduiertenschule aus der Universität auszugliedern und sie als GmbH zu führen, welche zudem noch ein
Promotionsrecht besitzen soll ({0}),
und wird sie diesen Prozess unterstützen?
Frau Präsidentin, die Frage beantworte ich wie folgt:
Auf der letzten Sitzung des Senats der Max-Planck-Gesellschaft am 23. November 2007, an der auch ein Vertreter des Bundesministeriums für Bildung und Forschung teilgenommen hat, wurde über die beschriebene
Graduiertenschule diskutiert. Zu einer Abstimmung kam
es nicht. Die Bundesregierung unterstützt grundsätzlich
Initiativen, die einer weiteren Vernetzung und Verstärkung der Kooperation von außeruniversitären und universitären Forschungseinrichtungen sowie deren Sichtbarkeit auch im internationalen Bereich dienen.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielleicht können wir meine beiden Fragen zusammen behandeln?
Wenn der Herr Staatssekretär das macht.
Sehr gerne, Frau Präsidentin, zumal die zweite Frage
unmittelbar anschließt.
Dann rufe ich jetzt Frage 17 des Kollegen Barth auf:
Wie bewertet die Bundesregierung die mögliche Ausweitung des Promotionsrechtes auf außeruniversitäre Einrichtungen im Allgemeinen?
Ich antworte wie folgt: Das Promotionsrecht ist ein
konstituierender Bestandteil des Profils der Universitäten, das ihnen von den Ländern verliehen wird. Dieses
Recht sollte in der Entscheidungshoheit der Universitäten verbleiben.
Insgesamt ist es richtig und wichtig, bei der Ausbildung und Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses die besten Kräfte zu bündeln. Es ist daher zu begrüßen, wenn Universitäten und außeruniversitäre
Forschungseinrichtungen hier kooperieren und neue Formen der Zusammenarbeit erproben.
Danke, Herr Staatssekretär.
Sie haben jetzt die Möglichkeit zu insgesamt vier
Nachfragen. - Bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Ob ich vier Nachfragen brauche, werden wir sehen.
Zunächst meine erste Nachfrage: Herr Staatssekretär,
ich habe Sie so verstanden, dass die Bundesregierung
der Meinung ist, dass das Promotionsrecht bei den Universitäten verbleiben soll. Können Sie mir, da Sie mit
diesem Thema ja des Öfteren befasst sind, zufällig sagen, ob diese Meinung der Bundesregierung auch die
Meinung der Koalition ist?
Das ist die Auffassung der Bundesregierung, so wie
ich sie vorgetragen habe.
Okay, vielen Dank. Dann habe ich keine weiteren
Nachfragen.
Danke schön, Herr Staatssekretär.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Zur Beantwortung der Fragen steht
Staatsminister Gernot Erler zur Verfügung.
Die Fragen 18 und 19 der Kollegin Monika Knoche
werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 20 des Kollegen Dr. Diether Dehm
auf:
Sieht die Bundesregierung eine Verletzung grundlegender
Menschenrechte in der praktischen Aushebelung des Besuchsrechts der Gefangenen durch die Verweigerung der Vergabe von Visa durch die Regierung der Vereinigten Staaten an
die Ehefrauen der kubanischen Gefangenen R. G. und G. H.
und an andere Familienangehörige im gesamten Jahr 2007 seit
deren Inhaftierung vor zehn Jahren?
Bitte, Herr Staatsminister.
Herr Kollege Dr. Dehm, meine Antwort lautet: Die
Regelung des Reiseverkehrs zwischen Kuba und den
USA einschließlich der Erteilung bzw. Versagung von
Visa und Einreiseerlaubnissen ist eine bilaterale Angelegenheit dieser beiden Staaten. Die einseitige Verweigerung einer Einreise in die USA durch US-Behörden stellt
keinen Verstoß gegen die Menschenrechte dar.
Im Übrigen geht aus dem Bericht der Arbeitsgruppe
für willkürliche Verhaftungen des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen hervor, dass laut Angaben der US-Regierung mit Stand vom Mai 2005 bereits
60 US-Visa Familienangehörigen der Inhaftierten erteilt
wurden. Der Bericht besagt weiter, dass die Gründe für
die Ablehnung der Visaanträge der Ehefrauen nach Angaben der US-Regierung jeweils in der Person der Antragstellerinnen gelegen hätten.
Ihre erste Nachfrage, bitte.
Herr Staatsminister, ist Ihnen bekannt, dass mit der
Ratifizierung des Internationalen Pakts über bürgerliche
und politische Rechte seitens der Bundesrepublik die
Verpflichtung zur universellen Einhaltung der darin ge14230
setzten Normen besteht, dass der Besuch von Angehörigen von Gefangenen somit internationales Recht darstellt und dass die Verweigerung der Besuche von
Frauen und in einem Fall sogar des eigenen Kindes eine
unnötige Strafverschärfung darstellt, die im Gegensatz
zu den Standards der menschlichen Behandlung von Gefangenen und zur staatlichen Verpflichtung, das Familienleben zu schützen, steht?
Bitte, Herr Staatsminister.
Herr Kollege Dehm, wir sehen keinen Verstoß gegen
diese Vorschriften, wenn die Erteilung von Visa nur in
Einzelfällen versagt und nicht generell das Besuchsrecht
der Betroffenen infrage gestellt wird. Genau das ist hier
der Fall. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass von
der amerikanischen Seite geltend gemacht wird, dass die
Versagung von Visa in diesen Einzelfällen auf die Personen bezogen ist und nicht auf eine Gesamtverweigerung
der Besuchsrechte abzielt.
Sie haben die Möglichkeit zu einer zweiten Nachfrage. - Bitte.
Nein, danke.
Sie verzichten.
Dann rufe ich die Frage 21 des Kollegen Dr. Diether
Dehm auf:
Hat die Bundesregierung der Regierung der Vereinigten
Staaten ihre Besorgnis über die Umstände der Verhaftung, der
Verurteilung und der Haft der genannten kubanischen Gefangenen vermittelt, oder beabsichtigt sie dies?
Bitte, Herr Staatsminister.
Herr Kollege Dehm, meine Antwort lautet: Nein. Die
Bundesregierung hat keine eigenen Erkenntnisse zu den
genannten Fällen. Aufgrund der öffentlich zugänglichen
Informationen sieht die Bundesregierung keine Veranlassung, am rechtmäßigen Vorgehen der amerikanischen
Justizbehörden zu zweifeln.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage, bitte.
Herr Staatsminister, ist der Bundesregierung bekannt,
dass Amnesty International die US-Behörden mehrfach
aufgefordert hat, ihre Entscheidung, den zwei Ehefrauen
der kubanischen Staatsbürger, welche lange Haftstrafen
in den USA absitzen, die befristeten Visa, die sie benötigen, um ihre Ehemänner in den USA zu besuchen, zu
verweigern, sorgfältig zu überprüfen? Es gibt nämlich
keine vernünftigen, schlüssigen Gründe, die dagegen
sprechen. Adriana Pérez wurde seit der Verhaftung ihres
Ehemannes Gerardo Hernández 1998 nicht gestattet, ihn
zu besuchen, und Olga Salanueva und ihre 8-jährige
Tochter haben ihren Ehemann bzw. Vater René González
seit Beginn seines Verfahrens im Jahr 2000 nicht mehr
gesehen, weil die US-Regierung seit 2002 die Anträge
der Frauen auf Ausstellung befristeter Visa aus verschiedenen Gründen abgelehnt hat.
Bitte, Herr Staatsminister.
Herr Kollege Dehm, Sie sind noch einmal auf den
Punkt zurückgekommen, den wir eben schon besprochen
haben. Ich will noch einmal darauf hinweisen, dass der
Bericht dieser Arbeitsgruppe darauf hinweist, dass in
60 Fällen in Bezug auf diese fünf Gefangenen Besuchserlaubnisse erteilt worden sind und lediglich in Einzelfällen - Sie haben diese beiden Ehefrauen angesprochen aus ganz spezifischen Gründen dieses versagt wird. Wir
haben keine eigenen Erkenntnisse darüber, welches diese
Gründe sind. Aber wir können nicht feststellen, dass die
Versagung im Einzelfall rechtliche Vorschriften tangiert.
Sie haben die Möglichkeit zu einer weiteren Nachfrage. - Bitte.
Herr Staatssekretär, wir kennen uns ja lange von anderen Bemühungen her, aus der Friedensbewegung.
Können Sie sich vorstellen, dass Sie oder die Bundesregierung, wenn es sich nicht um Kuba handeln würde,
sich damit abfinden würden, wenn ein autoritärer Staat,
wie in diesem Falle die USA, derartig mit Gefangenen
umgeht?
Herr Kollege Dehm, ich glaube, dass die Bewertung,
die Sie vorgenommen haben, insofern nicht akzeptiert
werden kann, als es sich bei den Vereinigten Staaten
zweifellos um einen Rechtsstaat handelt. Das kann man
daran sehen, dass diese Verfahren schon durch mehrere
Instanzen gelaufen und auch noch nicht abgeschlossen
sind. Das heißt, es gibt keine Veranlassung, an den rechtlichen Möglichkeiten, die die Betroffenen haben, zu
zweifeln.
Wir kommen damit zur Frage 22 des Kollegen
Wolfgang Gehrcke:
Auf welche Weise wird sich die Bundesregierung gegenüber der Regierung der Vereinigten Staaten dafür einsetzen,
dass die Ehefrauen und andere Familienangehörige der als
„Miami Five“ bekannten kubanischen Gefangenen Visa zur
Einreise in die USA und damit Besuchsmöglichkeit erhalten?
Bitte, Herr Staatsminister.
Herr Kollege Gehrcke, meine Antwort lautet wie
folgt: Die Regelung des Reiseverkehrs zwischen Kuba
und den USA einschließlich der Erteilung bzw. Versagung von Visa und Einreiseerlaubnissen ist eine bilaterale Angelegenheit dieser beiden Staaten. Die Bundesregierung kann sich aus diesem Grund nicht für eine
Einreiseerlaubnis für die Ehefrauen und Familienangehörigen der Inhaftierten einsetzen. Sie kann lediglich
feststellen, dass die einseitige Verweigerung einer Einreise durch die US-Behörden keinen Verstoß gegen das
Völkerrecht darstellt.
Im Übrigen geht, wie bereits erläutert, aus dem Bericht der Arbeitsgruppe für willkürliche Verhaftungen
des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen
hervor, dass laut Angaben der US-Regierung mit Stand
vom Mai 2005 bereits 60 US-Visa Familienangehörigen
der Inhaftierten erteilt wurden. Die Gründe für die Ablehnung der Visaanträge lägen danach jeweils in der Person der Antragstellerinnen.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Herr Staatsminister, schon als ich die Frage gestellt
habe, war mir klar: Die Bundesregierung wird antworten, dass das eine bilaterale Angelegenheit zwischen
Kuba und den USA ist. Deswegen frage ich: Ist die Bundesregierung jenseits der rechtlichen Regelungen im
Sinne von Humanität bereit, diese Angelegenheit bei
Gesprächen mit den USA anzusprechen, nicht im Sinne
einer Forderung, sondern um auf eine humanitäre Lösung hinzuwirken, das heißt, außerhalb der offiziellen
Protokolle?
Herr Kollege Gehrcke, es ist, ehrlich gesagt, nicht
Aufgabe der Bundesregierung, sich in einem anderen
Staat bei der Erteilung von Einreisevisa einzumischen,
es sei denn, es geht um grundlegende Ziele und Prinzipien, die wir haben, zum Beispiel, wenn in einem Fall
die Todesstrafe droht oder wenn es um Folter geht; in einem solchen Fall mischen wir uns in die Gesetzgebung
oder administratives Verhalten anderer Staaten ein. Aber
das ist hier eindeutig nicht der Fall. Deswegen kann man
nicht erwarten, dass die Bundesregierung in solcher
Weise tätig wird.
Haben Sie eine zweite Nachfrage?
Ja.
Bitte.
Wie mir sind auch Ihnen sicherlich eine ganze Reihe
von Fällen aus der Vergangenheit bekannt, in denen die
Bundesregierung - zumindest in Gesprächen - bei anderen Staaten im Sinne der Humanität für die Freilassung
oder für Hafterleichterungen von Gefangenen interveniert hat. Wir könnten eine ganze Liste anführen. Wäre
es nicht möglich - ich frage das, um der Bundesregierung diesen Weg zu eröffnen -, dieses Problem einmal
anzusprechen und zu fragen, ob es nicht auch zur Verbesserung der Zusammenarbeit der USA mit Kuba sinnvoll ist, dieses Problem anders zu lösen, als es bislang
gelöst worden ist?
Herr Kollege Gehrcke, Sie haben natürlich recht, dass
es solche Fälle gibt. Die Verfasstheit bzw. die Rechtsstaatlichkeit der entsprechenden Staaten, in denen wir
diese Einzelfälle ansprechen, ist aber eine andere.
Ich muss noch einmal darauf verweisen, dass das Verfahren noch nicht abgeschlossen ist. Wir erwarten in der
nächsten Zeit einen solchen Abschluss. Es ist nicht üblich und auch nicht zu erwarten, dass die Bundesregierung in solchen Einzelfällen entsprechend vorgeht.
Im Übrigen verweise ich darauf - das wissen Sie,
Herr Kollege Gehrcke -, dass es im zivilgesellschaftlichen Bereich ganz andere Möglichkeiten gibt, so etwas
zu tun. Das steht jedem offen. Wie Sie wissen, gibt es
weltweit mehrere Hundert Initiativen, die sich mit den
„Miami Five“ beschäftigen.
Damit kommen wir zur Frage 23 des Kollegen
Wolfgang Gehrcke:
Hat die Bundesregierung sich bezüglich des Falls der fünf
kubanischen Gefangenen mit der kubanischen Botschaft in
Verbindung gesetzt, oder beabsichtigt sie dies?
Sie haben das Wort, Herr Staatsminister.
Herr Kollege Gehrcke, Sie werden meine Antwort
wahrscheinlich schon erwarten. Sie lautet: Nein. Wie ich
bereits erläutert habe, sieht die Bundesregierung in dem
vorliegenden Fall keine Grundlage für ein Tätigwerden.
Möchten Sie eine Nachfrage stellen? - Bitte.
Herr Staatsminister, Sie haben in Ihren Antworten auf
die Fragen meines Kollegen Dehm und auch auf meine
Fragen mehrfach gesagt, dass der Bundesregierung keine
eigenen Erkenntnisse vorliegen. Wäre es, wenn das der
Fall ist, nicht sinnvoll, sich von der kubanischen Botschaft einmal über die kubanische Seite in dieser Angelegenheit gründlich informieren zu lassen?
Herr Kollege Gehrcke, diese Antwort bezog sich auf
die an uns gerichtete Frage, wie die Ergebnisse dieser
Arbeitsgruppe bewertet werden. Es ist schwierig, das Ergebnis eines solchen Panels zu bewerten, wenn man
keine eigenen Erkenntnisse hat. Diese Auskunft bezog
sich auf nichts anderes.
Haben Sie eine zweite Nachfrage?
Darf ich Ihre Antwort, dass es nicht Angelegenheit
der Bundesregierung, sondern Angelegenheit der Zivilgesellschaft ist - Sie haben auch darauf aufmerksam gemacht, dass es weltweit sehr viele solcher Komitees gibt;
ich gehöre einem solchen an -, so bewerten, dass die
Bundesregierung das Engagement der Zivilgesellschaft
zur Freilassung dieser Gefangenen begrüßt oder zumindest als vernünftig beurteilt?
Herr Staatsminister.
Die Bundesregierung begrüßt und unterstützt grundsätzlich alle Aktivitäten der Zivilgesellschaft, mit denen
humanitäre Ziele verfolgt werden, und das wird auch so
bleiben.
Danke, Herr Staatsminister.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie. Die
Fragen beantwortet der Parlamentarische Staatssekretär
Peter Hintze.
Ich rufe die Frage 24 des Kollegen Hans-Kurt Hill
auf:
Aus welchen Gründen unterstützt die Bundesregierung
über die Deutsche Energie-Agentur, dena, die Werbekampagne „Bleib mir treu“ der vier großen Energiekonzerne Eon,
RWE, Vattenfall Europe und EnBW, bei der Stromkunden davon abgehalten werden sollen, zu einem anderen Anbieter zu
wechseln, obwohl sowohl der Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Horst Seehofer, als
auch der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Sigmar Gabriel, öffentlich zum Wechsel des
Stromanbieters aufrufen und sowohl diese Minister als auch
der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Michael
Glos, die Preispolitik der genannten Energieversorger öffentlich mehrfach kritisiert haben?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Danke, Frau Präsidentin. - Sehr geehrter Herr Kollege
Hill, Ihrer Frage liegt offensichtlich ein Missverständnis
zugrunde, da die angesprochene Informationskampagne
ausschließlich der Steigerung der Energieeffizienz dient.
Die Initiative Energie-Effizienz ist eine breit angelegte
Informations- und Motivationskampagne, mit der man
sich zum Ziel gesetzt hat, die Energieeffizienz auf der
Verbraucherseite zu verbessern. Ein kleines Element dieser Kampagne sind sogenannte Free Cards mit verschiedenen Slogans zur Effizienzproblematik. Mit einem dieser verschiedenen Slogans auf den Free Cards - „Bleib
mir treu“ -, die sowohl als elektronische Karten aus dem
Netz heruntergeladen werden können als auch als gedruckte Postkarten in Gaststätten ausliegen, wird, wie auf
der Postkarte erläutert, für Energiesparlampen und deren
zehnmal längere Lebensdauer gegenüber herkömmlichen
Glühlampen geworben.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Herr Staatssekretär, Sie geben mir sicherlich recht,
dass gerade in einer Situation, in der ein Oligopol den
Strommarkt beherrscht und auch Ihr Haus - wie das
Bundesumweltministerium - dafür wirbt, insbesondere
dann, wenn man mit dem Energieanbieter nicht zufrieden ist, den Anbieter zu wechseln, eine Karte mit der
Aufschrift „Bleib mir treu!“ etwas ganz anderes suggeriert. Ich denke, dass man in diesem Fall eine solche
Botschaft nicht unterstützen sollte. Deswegen frage ich
Sie: Wurde geprüft, ob die Aktion dazu führt, dass man
treu bleibt? Wurde dazu eine Nachfrage gestellt?
Herr Kollege Hill, der gesamte Text der Karte lautet
- ich zitiere mit der Genehmigung der Präsidentin -:
Entscheiden Sie sich beim nächsten Mal für was
Längerfristiges! Moderne Energiesparlampen halten mindestens 10-mal so lange wie herkömmliche
Glühlampen. Und das spart Strom und Geld. Die
Stromsparmeisterschaften 2007 in Studentenwohnheimen haben gezeigt: Energieeffizienz lohnt sich.
Die Teilnehmer reduzierten ihren Stromverbrauch
um bis zu 24 Prozent. Weitere Informationen bei
www.stromeffizienz.de.
Die Botschaft dieses Kärtleins, das nur ein Element
berücksichtigt - es gibt viele andere Karten mit Sprüchen, die auf ein anderes Effizienzverhalten abzielen -,
ist, glaube ich, eindeutig. Inwieweit die Verteilung dieser
Karte zu einem realen Einsparverhalten bei jungen Leuten geführt hat, kann ich Ihnen nicht sagen.
Sie haben die Möglichkeit zu einer zweiten Nachfrage, bitte.
Die dena, die diese Karten verteilt, gehört zu
50 Prozent dem deutschen Staat. Ein Blick auf die Karte
zeigt, dass die dena und die vier Oligopolteilnehmer
EnBW, Vattenfall, RWE und Eon gleichrangig aufgeführt sind. Außerdem steht auf der Karte: „Bleib mir
treu!“ Bei mir entsteht der Eindruck, dass hier suggeriert
werden soll: Bleib bitte bei deinem Stromerzeuger!
Sehr geehrter Herr Kollege, kein Mensch ist vor Fehleindrücken gefeit. Aber da ich die Karte mitgenommen
habe - ich habe vermutet, dass Sie näher darauf eingehen -, kann ich Ihnen zeigen, dass das Symbol der Deutschen Energie-Agentur „dena“ groß abgebildet ist. Auf
der Seite, auf der der Slogan genannt wird - auf jeder
Karte steht ein anderer Slogan -, findet sich kein Hinweis auf irgendein anderes Unternehmen. Auf der Rückseite der Karte findet sich in einer Größe, die bei gutem
Augenlicht mühsam zu lesen ist und ansonsten einer
Lupe bedarf, ein Hinweis darauf, dass große Unternehmen die Aktion Energie-Effizienz mittragen. Als die
Deutsche Energie-Agentur, dena, im Jahr 2000 gegründet wurde, ging es nämlich auch darum, zusätzliche Mittel zu mobilisieren.
Der Hinweis auf die Glühlampen und der Text, den
ich zitiert habe, sind, glaube ich, so eindeutig, dass es
sich um ein höchst individuelles Missverständnis handelt, das ich zwar nicht ausschließen kann, wie Ihre
Frage beweist, das aber sicherlich vom Adressatenkreis
insgesamt nicht geteilt wird.
Die Kollegin Bärbel Höhn hat eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, könnten Sie bei der dena nachfragen, wie der Spruch „Bleib mir treu!“ zur Energieeffizienz beitragen soll? Energieeffizienz spricht doch eher
Leute an, die bisher noch keine Energiesparlampen verwendet haben. Wer Energiesparlampen nutzt, weiß, dass
man damit Geld sparen kann. Deshalb macht der Spruch
„Bleib mir treu!“ wenig Sinn; denn die Leute sind bereits
überzeugt. Müsste es nicht eher heißen „Nimm mich!“
„Greif zu!“ oder Ähnliches? Der Slogan „Bleib mir
treu!“ bei der Energieeffizienz ist im Zusammenhang
mit den großen Energiekonzernen, die die Aktion bezahlen, ein seltsamer Spruch. Sollte die Bundesregierung
nicht die Frage stellen, ob die Gelder an die dena für solche Aufklärungskampagnen gut angelegt sind?
Frau Kollegin, ich bin Ihnen dankbar für Ihren praktischen Vorschlag, eine Karte mit der Aufschrift „Nimm
mich!“ zu verwenden. Diese Karte ist, wie viele andere
Sprüche, bereits im Einsatz. Hier geht es um Kühlschränke der Stromsparklasse A++. Wie Sie uns in Ihrer
Frage netterweise indirekt zugestanden haben, handelt es
sich um Sprüche von Jugendlichen aus dem zwischenmenschlichen Zusammenleben, die etwas elegant daherkommen. Auch der von Ihnen spontan gefundene Spruch
wurde von Werbetextern aufgegriffen, genauso wie eine
Reihe anderer Sprüche. Ich will sie hier nicht alle vortragen. Wie Sie sehen, Frau Kollegin, ist Ihre Anregung
von der dena kongenial aufgegriffen worden.
Es steht mir nicht zu, die Inhalte von Fragen und Antworten zu bewerten. Aber ich finde, der Herr Staatssekretär hat sich auf das Veranschaulichen des Gegenstandes der Fragestunde sehr gut vorbereitet.
({0})
Die Frage 25 des Kollegen Hans-Josef Fell wird
schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 26 der Kollegin Bärbel Höhn auf:
Entspricht die auf der Klausurtagung der CSU-Landesgruppe vom 9. Januar 2008 beschlossene Forderung, die Energieversorger müssten ihre Kunden einmal im Jahr schriftlich
über ihre Einkaufs-, Vertriebs- und Investitionskosten sowie
die Gewinnmargen schriftlich informieren, der Haltung der
Bundesregierung, und, wenn ja, welche konkreten Maßnahmen plant die Bundesregierung, um diese Forderung durchzusetzen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Verehrte Frau Kollegin Höhn, ich muss Ihnen sagen,
dass der Prozess der Meinungsbildung innerhalb der
Bundesregierung zu der am 9. Januar 2008 von der
CSU-Landesgruppe beschlossenen Forderung noch nicht
abgeschlossen ist.
Ihre erste Nachfrage, bitte.
Die rot-grüne Bundesregierung hatte den Vorschlag
gemacht, wonach die Unternehmen ihre Gewinne entsprechend den jeweiligen Sparten - wie viel haben sie
im Strom- und im Gasbereich verdient? - gegenüber den
Verbrauchern transparent machen müssen. So sollte den
Verbrauchern mehr Klarheit darüber verschafft werden,
ob Preiserhöhungen gerechtfertigt sind. Dieser Vorschlag ist damals im Bundesrat gescheitert. Plant die
Bundesregierung, die ja den vier großen Energiekonzernen auf die Füße treten will, um mehr Wettbewerb und
eine stärkere Überprüfung der Kostensteigerungen zu erreichen, einen neuen Anlauf, um die Spartengewinne
transparent zu machen?
Frau Kollegin, die Bundesregierung setzt sich gerade
bei den Strompreisen für mehr Transparenz gegenüber
den Verbrauchern ein. Es findet deshalb morgen im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie ein Gespräch statt, an dem sowohl Vertreter der Industrie, also
der Stromversorger, wie Vertreter der Stromverbraucher
teilnehmen, um darüber zu beraten, wie mehr Transparenz - auch für die Verbraucher - hergestellt werden
kann. Einzelne Elemente sind noch nicht festgelegt worden.
Ihre zweite Nachfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, nachdem ich bei der Nachfrage
zur dena-Effizienzkampagne bewiesen habe, dass ich in
der Lage bin, auch spontan gute Ideen zu entwickeln,
und Ihnen jetzt gerade einen sehr guten Vorschlag gemacht habe, wie man im Hinblick auf die vier großen
Energiekonzerne stärker eingreifen kann - die Vorschläge der CSU-Landesgruppe auf ihrer Klausurtagung
fand ich in dieser Hinsicht spannend; dort wurde auch
auf die Verquickung der vier großen Energiekonzerne
bei den Stadtwerken hingewiesen -, richte ich die Frage
an Sie: Können Sie bestätigen, dass die drei Vorschläge,
über die wir diskutieren, morgen auch Gegenstand der
Runde mit den Vertretern der vier Unternehmen sein
werden?
Ich kann Ihnen nicht zusagen, dass alle Vorschläge,
die die CSU-Landesgruppe auf ihrer Klausurtagung gemacht hat, Gegenstand des morgigen Gesprächs sein
werden, wohl aber, dass diese Vorschläge von der Bundesregierung mit Interesse und im Hinblick auf eine
mögliche Umsetzung geprüft werden. Für uns sind die
Vorschläge der CSU-Landesgruppe wichtig und prüfenswert.
Wir sind damit am Ende des Geschäftsbereichs des
Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie. Ich
danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit.
Die Frage 27 der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch wird
schriftlich beantwortet.
Die Fragen 28 und 29 der Kollegin Birgitt Bender
werden gemäß Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde ebenfalls schriftlich beantwortet. Das heißt, das
Thema der Fragen steht in einem anderen Zusammenhang auf der Tagesordnung in dieser Sitzungswoche.
Wir sind damit am Ende der Fragestunde.
Ich unterbreche die Sitzung des Bundestages bis zum
Beginn der Aktuellen Stunde um 15.35 Uhr.
({0})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Haltung der Bundesregierung zur Bekämpfung der Jugendkriminalität hinsichtlich Prävention, Straffälligenhilfe und Ausstattung der
Jugendgerichte
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort
Renate Künast.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei diesem Thema muss man eines feststellen: Ja, wir haben ein
Problem.
({0})
- Warten Sie einmal ab; Sie müssen jetzt nicht gleich in
Aufregung verfallen.
Ja, wir haben ein Problem; aber wir haben nicht das
Problem, das die CDU/CSU-Fraktion oder dieser Roland
Koch, Ministerpräsident von Hessen, aus diesem Problem macht, meine Damen und Herren. Das ist es nicht.
({1})
Wir erleben gerade wieder, wie schon 1999, den Versuch, auf dem Rücken von Ausländerinnen und Ausländern und auch von Opfern von Gewaltdelikten Politik zu
machen und vom rechten Rand Wählerstimmen abzuziehen. Das ist nicht die Lösung des Problems.
({2})
Wir müssen vielmehr beim Thema Jugendkriminalität
endlich handeln, statt die Jugendlichen einfach sitzen zu
lassen.
({3})
Ich muss an dieser Stelle sagen: Nachdem wir über
Weihnachten viel Kritik an der Bundeskanzlerin gelesen
haben, nämlich dass sie ständig nur moderiert und abwartet, war ich jetzt entgeistert, dass sie ihre ewige
Moderiererei und Abwarterei an genau der falschen
Stelle aufgegeben hat. Es war ein Fehler, Roland Koch
zu folgen, weil er das Land spaltet, weil er hetzt und weil
er keine einzige Straftat verhindert.
({4})
Das war genau die falsche Stelle.
Schauen wir uns einmal an, wie Roland Koch die Bevölkerung in Hessen „schützt“. Unter der Ägide des
Roland Koch haben wir in Hessen einen überproportional hohen Anstieg von Jugendkriminalität, nämlich seit
1999 um 35 Prozent; deutschlandweit betrug der Anstieg
nur 13 Prozent. Das ist das Resultat der Politik eines
Roland Koch. Was die Erledigungszahlen und das
Tempo der Erledigung von Verfahren wegen Jugendkriminalität betrifft, trägt Hessen seit Roland Koch die rote
Schlusslaterne. Sie können das hier doch nicht ernsthaft
als Erfolg verkaufen und sagen, so werde man dieses
Land sicherer machen. Sie sollten einmal in sich gehen
und überlegen, ob es richtig ist, diese Kampagne auf
dem Rücken der Opfer durchzuführen.
({5})
Es ist mittlerweile so, dass die eine Seite dieses Hauses die Gewerkschaft der Polizei, sämtliche Richter, die
Jugendgerichtshilfe, Bewährungshelfer und Familienhelfer auf ihrer Seite hat, weil alle sagen: Unter Koch
gibt es höchstens eine „Operation düstere Zukunft“, weil
zum Beispiel die Arrestanstalten geschlossen worden
sind. In Hessen werden mittlerweile verurteilte Jugendliche nach Hause geschickt. Es gibt Fälle, in denen noch
nicht einmal nach einem Jahr der verhängte Arrest bei
Jugendlichen vollstreckt worden ist und dieser erlassen
wird, weil die Frist abgelaufen ist. Meine Damen und
Herren, Sie sollten nachts nicht schlafen können aus
Sorge darum, wo Sie tragfähige Konzepte finden. Ich
sage Ihnen: Diese Konzepte gibt es. Sie müssten nur lernen, damit keinen Wahlkampf zu machen. Sie sollten
endlich einmal auf Tausende von Fachleuten hören.
({6})
Wir sind mittlerweile so weit - die Verantwortung dafür müssen auch Sie sich zurechnen lassen -, dass wir
eine richtige Islamophobie haben. Wir sehen, wie Herr
Schirrmacher im Feuilleton der FAZ den Kulturkampf
ausruft und so tut, als sei es der zentrale Kern der Religion des Islam, gegen Deutsche zu sein.
({7})
Stoppen Sie das! Wir dürfen nicht zulassen, dass das,
was wir an Integration angefangen haben, was auch die
Verbände angefangen haben, an dieser Stelle zu Hetze
und zur Spaltung dieser Gesellschaft führt; denn das
würde sich eines Tages für uns alle und für das ganze
Volk rächen, weil die Kriminalität dann weiter ansteigt.
({8})
Soll ich Ihnen einmal sagen, was er gestern schrieb?
({9})
Zum Beispiel:
Zur Klarheit … gehört auch, dass man ausspricht,
dass die Mischung aus Jugendkriminalität und muslimischem Fundamentalismus potentiell das ist,
was heute den tödlichen Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts am nächsten kommt.
({10})
Das mit Nationalsozialismus und Stalinismus gleichzustellen, wird sich bitter rächen! Kommen Sie zurück zur
Sache.
({11})
Wahr ist: Es gibt Fälle wie die, die auch Roland Koch
funktionalisiert hat, zum Beispiel den in Hamburg. Aber
wie hießen denn die drei Täter, die diesen alten Herrn
lebensgefährlich zusammengeschlagen haben? Kevin,
Kevin und Sascha! Dies sind keine Namen, die einen
islamischen Hintergrund vermuten lassen. Kommen Sie
also zurück zur Sache!
Diese Jugendgewalt ist die Gewalt einer Jugend aus
der Mitte dieser Gesellschaft. Sie ist unter den hiesigen
Bedingungen aufgewachsen, ein guter Teil in bildungsfernen Schichten, bei den finanziell Schwachen. Sie lebt
in einer Gesellschaft, in der Videospiele mit viel Gewalt
und Privatfernsehen mit noch mehr Gewalt Alltag sind,
und sie hat oft Eltern, die keine guten Vorbilder sind. Ich
gebe zu: Besonders bei den Migrantinnen und Migranten
fehlt da einiges.
Was heißt das? Das heißt, dass wir an dieser Stelle
lernen müssen: Wir intervenieren zu spät, wir handeln zu
spät. Wir müssen lernen, dass die Jugendgerichtshilfe,
die Jugendgerichte und die Familienhilfen das nötige
Personal haben müssen. Früh anfangen ist hier die Antwort.
({12})
Ich sage Ihnen eines ganz klar: Früh anfangen gilt
nicht nur dafür, dass man genug Personal im Repressionsbereich hat, sondern auch für den Präventionsbereich, und zwar vom Kleinkind an, wenn es um das
Deutschlernen geht. Früh handeln heißt auch - das sage
ich den Migrantenverbänden -, dass diese Verbände sich
durch Roland Koch nicht irremachen lassen, sondern bei
dem Ansatz bleiben, die Kinder tatsächlich zu fördern
und Druck für Bildung und für das Erlernen von Sprache
zu machen, damit diese Kinder hier in diesem Land mit
uns allen zusammenleben wollen, und zwar ohne die Begehung von Straftaten.
({13})
Frau Künast, kommen Sie bitte zum Schluss.
Mein letzter Satz. - Von der heutigen Debatte sollte
ein Signal ausgehen: dass wir wirklich ernsthaft gegen
Jugendgewalt und -kriminalität arbeiten wollen, dass wir
Opfer vermeiden wollen und dass es schäbig ist, mit diesem Thema Wahlkampf zu machen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Bosbach von der
CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst
zwei ganz kurze Bemerkungen zu Ihnen, Frau Künast.
Erstens. Stichwort „Druck machen beim Erlernen der
deutschen Sprache“: So etwas galt noch vor fünf Jahren
als „Zwangsgermanisierung“ und „latenter Rassismus“.
({0})
- Doch, doch, doch! Als wir schon vor Jahren gesagt haben: „Das Erlernen der deutschen Sprache in Wort und
Schrift ist der Schlüssel zu Integration“, da galt das noch
als latenter Rassismus.
({1})
Zweitens. Wir machen keine Politik auf dem Rücken
von Opfern. Wir wollen dafür sorgen, dass es in
Deutschland weniger Opfer gibt. Das ist ein fundamentaler Unterschied.
({2})
Trotzdem danke schön für diese Aktuelle Stunde, die
wir den Grünen verdanken. Sie gibt Anlass zu folgenden
Klarstellungen.
Erstens. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass in
Deutschland in den letzten Jahren ein Politiker derart
massiv kritisiert und persönlich diffamiert wurde wie der
hessische Ministerpräsident Roland Koch,
({3})
nicht etwa deshalb, weil er etwas Falsches gesagt hat,
sondern weil er Dinge anspricht, die in den Augen der
politischen Linken politisch nicht korrekt sind. Das ist
das Vergehen von Roland Koch.
({4})
Er spricht offen und sachlich das Thema Jugendgewalt
an.
({5})
Er spricht offen und sachlich an, dass wir einen überdurchschnittlich hohen Anteil von ausländischen Tätern
haben, was Sie, Frau Künast, in Ihrer Rede dankenswerterweise gar nicht bestritten haben, und dass politischer
Handlungsbedarf besteht.
({6})
Zweitens. Eine vernünftige Politik beginnt mit der
Betrachtung der Wirklichkeit. Ich finde es gut, dass auch
Sie sagen: Wir haben ein Problem. - Nur kommen wir zu
unterschiedlichen politischen Schlussfolgerungen.
Sehen wir uns einmal die Entwicklung an!
({7})
Das ist die Kriminalitätsentwicklung seit 1993 insgesamt. Beim Anteil der jungen Erwachsenen an den Tätern gibt es einen erheblichen Anstieg: plus 80 Prozent.
Der Anstieg bei den Jugendlichen: 35 Prozent. Der Anstieg bei den Heranwachsenden: 48 Prozent. - Vor dieser
Lebenswirklichkeit kann man natürlich die Augen verschließen.
({8})
Aber eine solche Politik können wir uns im Interesse des
Landes nicht erlauben.
Jetzt sehen Sie sich einmal die Entwicklung bei den
Gewaltdelikten an!
({9})
Gefährliche und schwere Körperverletzung, Gewaltkriminalität im Durchschnitt und vorsätzliche Körperverletzung: Anstieg von 180 000 auf 370 000 Delikte in nur
14 Jahren. - Das darf man nicht nur thematisieren; das
muss man thematisieren. In Wahlkämpfen spricht jedenfalls die Union über das, was für die Zukunft des Landes
wichtig ist, und über die Probleme, die den Menschen
auf den Nägeln brennen; die innere Sicherheit gehört
dazu.
({10})
Dritter Punkt. Wir brauchen uns nicht über die Dinge
zu streiten, die völlig unstreitig sind.
({11})
Die beste Politik gegen Kriminalität ist Prävention.
({12})
Erziehung zu Gewaltlosigkeit und Toleranz sind für die
Prävention ganz wichtig - ebenso wie die Vermittlung
von Werten, das Erziehen von Kindern im besten Sinne
des Wortes. Aber wir müssen auch über diejenigen reden, die Intensivtäter sind, die als junge Menschen 50,
70, 100 Straftaten begangen haben und bei denen auch
das 98. Erziehungsgespräch keine Wirkung zeigt. Wir
müssen über diejenigen sprechen, die zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden sind und, wenn sie aus dem
Gerichtssaal kommen, die Frage ihrer Kumpel: „Was
hast du bekommen?“ mit „Nichts“ beantworten. Über
die müssen wir reden! Es gibt leider und nicht bestreitbar
Fälle, in denen auch jede Menge sozialtherapeutische
Mühe nicht genügt;
({13})
die Betreffenden muss man leider hinter Schloss und
Riegel bringen, und zwar deshalb, damit sie anderen
Menschen nicht schweren Schaden zufügen können. Das
ist der Punkt.
({14})
Vierter Punkt. Darf man in Wahlkämpfen darüber reden? Die politische Linke ist empört.
({15})
Nun schauen wir uns doch einmal an, was der große
Staatsmann Schröder, der heutige Vertreter von Gasprom, zu diesem Thema gesagt hat! Gerhard Schröder
vor zehn Jahren zum Thema Jugendkriminalität - er ist
in diesem Haus ja wohl noch zitierfähig -:
({16})
Verbrechensbekämpfung kann man nicht Sozialarbeitern überlassen. Wir haben lange über die Ursachen von Kriminalität diskutiert und zu wenig über
deren Bekämpfung.
({17})
Gerhard Schröder zur Ausländerkriminalität:
Wir dürfen nicht mehr so zaghaft sein bei ertappten
ausländischen Straftätern. Wer unser Gastrecht
missbraucht, für den gibt es nur eins: raus, und zwar
schnell!
Raus, und zwar schnell!
({18})
Jetzt will ich Ihnen einmal Folgendes sagen: Wenn
Gerhard Schröder so plump über Jugendkriminalität
spricht, dann meinen Sie, das sei ein wichtiger Beitrag
zur inneren Sicherheit. Wenn Roland Koch sich differenziert äußert,
({19})
sagen Sie, das sei plumper Populismus.
({20})
Gerhard Schröder sagt, jeder Ausländer, der eine Straftat
begeht, müsse raus. Wenn Roland Koch sagt: „Wir müssen die zu hohen Hürden für die Abschiebung ausländischer Straftäter senken“, dann meinen Sie, das sei Rassismus. Genau so geht es nicht! Sie diktieren uns nicht,
worüber wir in Wahlkämpfen sprechen.
({21})
Schlussbemerkung. Die Linke sagt: Wir wissen besser als die Union, wie man Kriminalität bekämpft.
({22})
Frage: Warum tun Sie es dann nicht?
({23})
Warum verweigern Sie Ihren Landeskindern standhaft
den Nachweis der politischen Kompetenz? Die sichersten Bundesländer sind - in dieser Reihenfolge -: Bayern,
Baden-Württemberg,
({24})
Thüringen, Hessen,
({25})
allesamt unionsregiert.
({26})
Herr Kollege Bosbach, kommen Sie bitte zum
Schluss.
Warum sind Sie in heller Aufregung? Erstens, weil
Sie genau wissen, dass die Menschen wissen, dass die
innere Sicherheit bei der Union in guten Händen ist, und
zweitens, weil Sie die große Sorge haben, dass Sie mit
Ihren Themen nicht ankommen, weil die Menschen wissen, was wichtig ist, und dass sie sich am 27. Januar
auch entsprechend entscheiden werden.
({0})
Das ist Ihre Sorge.
({1})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Mechthild Dyckmans
von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das Thema „Jugendkriminalität und Jugendgewalt“
bestimmt seit mehreren Wochen die Medien und die öffentliche Diskussion. Sachliche Diskussionen sind leider
Vergangenheit. Populistische Forderungen, platte Wahlkampfparolen und gegenseitige Beleidigungen innerhalb
der Berliner Koalition bestimmen die Tagesordnung. Mit
verantwortungsvoller Politik hat das nichts mehr zu tun.
({0})
Dabei verdient das Thema „Jugendkriminalität und
Jugendgewalt“ eine Debatte, die mit großem Ernst und
Sachverstand geführt wird.
({1})
Es ist erfreulich, dass die Zahl der Delikte im Bereich
Jugendkriminalität gefallen ist und stetig abnimmt.
({2})
Beunruhigend dagegen ist, dass gerade die Zahl der Gewaltdelikte zunimmt.
Für die FDP ist völlig klar: Jede Form von Kriminalität muss entschieden bekämpft werden. Eine Verharmlosung von Kriminalität und eine Bagatellisierung von
Straftaten darf es nicht geben. Jeder Straftäter in
Deutschland muss wissen, dass sein kriminelles Verhalten nicht ohne Folgen bleiben wird. - Aber unsere Gerichte haben bereits heute ein ausreichendes und breites
Instrumentarium an Rechtsfolgen zur Verfügung, um
kriminelles Verhalten jugendlicher Täter zu sanktionieren.
({3})
Wir haben kein Problem mit dem geltenden Recht. Wir
haben vielmehr ein Problem mit der Umsetzung des geltenden Rechts.
({4})
Gerade vor dem Hintergrund der diesbezüglichen Bilanz
in Hessen ist es unehrlich, wenn der hessische Ministerpräsident Roland Koch öffentlich neue Maßnahmen zur
Bekämpfung der Jugendkriminalität bis hin zum Kindergefängnis fordert.
({5})
Dankenswerterweise hat die Kanzlerin wenigstens dieser
Forderung eine klare Absage erteilt.
Wie sieht denn die Bilanz in Hessen aus? In Hessen
fehlen 1 000 Stellen bei der Polizei.
({6})
Hessen liegt bundesweit bei der Dauer von Jugendstrafsachenverfahren an letzter Stelle,
({7})
und in Hessen gibt es keine Einrichtung für strafunmündige Intensivtäter. Wen wundert es da noch, dass in Hessen die Zahl der Gewaltstraftaten, die von jugendlichen
Tätern begangen wurden, überproportional zugenommen hat? Es ist unverantwortlich, wenn man einerseits
schärfere Sanktionen fordert, aber andererseits im eigenen Land nicht die geeigneten Voraussetzungen dafür
schafft, dass diese Sanktionen durchgesetzt werden können.
({8})
Meine Damen und Herren, Kriminologen sind sich einig, dass sich jugendliche Gewalttäter von härteren Strafen kaum abschrecken lassen. Abschreckend wirkt allein
die Gewissheit, nach vollendeter Tat von der Polizei geschnappt zu werden, von den Gerichten schnell verurteilt
zu werden und die Strafe ableisten zu müssen.
({9})
Das Verhalten von jugendlichen Kriminellen wird sich
nicht ändern, solange sie davon ausgehen können, dass
sie nicht geschnappt werden und damit nicht verurteilt
werden, dass sie sich also der Strafe entziehen können.
Was brauchen wir also? Das Vollzugsdefizit muss abgebaut werden, Stellenstreichungen müssen zurückgenommen werden, und die Justiz muss so ausgestattet werden,
dass insbesondere Jugendstrafverfahren zügig abgeschlossen werden können.
Ich sage aber auch noch eines ganz klar: Wir brauchen auch Einrichtungen, in denen strafunmündige intensivkriminelle Kinder untergebracht werden können.
({10})
- Jawohl! - Wir alle wissen, dass es Kinder gibt, die sich
der Erziehungsgewalt ihrer Eltern längst entzogen haben
bzw. deren Eltern ihrer Erziehungsaufgabe nicht nachkommen. Hier zeigen auch die klassischen Instrumente
der Jugendhilfe keine Wirkung.
({11})
Es muss als allerletztes Mittel die Möglichkeit bestehen,
diese Kinder in geschlossene Heime einzuweisen.
({12})
Hier müssen erzieherische Förderung, Bildung und therapeutische Maßnahmen im Vordergrund stehen, um auf
Auffälligkeiten und Defizite dieser Kinder im Einzelfall
reagieren zu können. Kinder aus Hessen, auf die diese
Voraussetzungen zutreffen, müssen derzeit in anderen
Bundesländer untergebracht werden. Das kann so nicht
bleiben.
({13})
Meine Damen und Herren, besonders wichtig ist für
uns der Aspekt der Prävention. Wir haben es schon gehört: Kein Kind kommt kriminell auf die Welt. Es muss
daher frühzeitig angesetzt werden, um Kinder auf den
richtigen Weg zu bringen. Das Strafrecht kann weder gesellschaftliche noch soziale Defizite ausgleichen. Prävention und Repression sind zwei Seiten einer Medaille.
Unsere wichtigste Aufgabe ist es, die Ursachen der Kinder- und Jugendkriminalität frühzeitig zu erkennen und
ihnen entgegenzuwirken.
({14})
Meine Damen und Herren, das alles zeigt, dass wir
bereits heute nach dem geltenden Recht handeln können
und handeln müssen. Wir brauchen keine neuen Gesetze.
Es ist Zeit, dass wir miteinander statt übereinander reMechthild Dyckmans
den, um geeignete Wege zum Abbau von Jugendgewalt
und Jugendkriminalität zu finden.
Lassen Sie mich zum Schluss noch eines sagen, weil
wir hier sehr viele jugendliche Zuschauer haben: Der
weit überwiegende Teil unserer Jugendlichen lebt friedlich miteinander.
({15})
Sie engagieren sich in Verbänden und Vereinen, bei „Jugend forscht“ und „Jugend musiziert“, in Umweltorganisationen, bei der Jugendfeuerwehr, beim Roten Kreuz
und beim THW. Sie gehen ordentlich zur Schule und absolvieren ordentlich eine Lehre. Diese Jugendlichen sind
unsere Zukunft. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen,
dass sie eine gute und gewaltfreie Zukunft haben.
Danke schön.
({16})
Das Wort hat jetzt der Kollege Joachim Stünker von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Regelungen im Jugendstrafrecht zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen in einem Wahlkampf zu
machen, ist nach meiner Überzeugung wider jede politische Vernunft.
({0})
Es ist gegen jede politische Vernunft, weil die Probleme,
die gelöst werden müssen, um im Jugendstrafrecht zu
differenzierten Lösungen zu kommen, sehr sensibel sind
und sich nicht dafür eignen, populistisch-demagogisch
ausgetragen zu werden. Die Menschen im Land haben
einen Anspruch darauf, dass wir Lösungen finden und
nicht solche Debatten führen, wie wir sie heute Nachmittag hier begonnen haben.
({1})
Ich darf Ihnen dazu sagen, dass alle Forderungen, die
jetzt gestellt worden sind, nicht neu sind. Diese Forderungen haben über Jahrzehnte den Deutschen Bundestag
immer wieder beschäftigt, und aus guten Gründen haben
Bundestag und Bundesrat, in welcher Konstellation auch
immer, über Jahrzehnte diese Forderungen jeweils abgelehnt, weil man nach fachlicher Beratung immer zu dem
Ergebnis gekommen ist: Die geforderten Regelungen
bringen uns nicht weiter und helfen uns nicht weiter.
Ich war bis zu meiner Wahl in den Deutschen Bundestag über zweieinhalb Jahrzehnte als Richter tätig, davon
neun Jahre als Jugendrichter und Vorsitzender eines Jugendschöffengerichts. Lassen Sie mich drei Beispiele
nennen, um das Problem zu verdeutlichen.
Erstes Beispiel: Zwei 19-Jährige stehen vor dem Jugendschöffengericht. Sie hatten beide keinen Bock mehr
auf die Schule. Die Eltern lebten jeweils getrennt. Ihnen
reichte das alles. Die Eltern hatten viel Geld. Die Jugendlichen kamen auf die Idee: Wir nehmen Papas großen 7er BMW, fahren damit nach Arabien, verkaufen
dort den BMW und kriegen viel Kohle dafür, und mit der
Kohle machen wir eine Kneipe in der Karibik auf.
({2})
Das ist kein Zitat aus der Bild-Zeitung, sondern das ist in
den 80er-Jahren tatsächlich so geschehen, meine Damen
und Herren.
Aber wie kamen die beiden an den Schlüssel? Papa
wollte den Schlüssel nicht freiwillig herausgeben. Also
haben sie den Vater, als er nach Hause kam, gefesselt
und in den Heizungsraum gesperrt. Und weil er dann immer noch nicht sagen wollte, wo der Schlüssel war, haben sie ihm ein Messer vorgehalten. Erst dann hat der
Vater gesagt: Da liegt der Schlüssel; nehmt ihn euch.
Meine Damen und Herren, das waren Heranwachsende, 19 Jahre alt. Der Tatvorwurf lautete: schwere räuberische Erpressung mit Waffen, die wie Raub behandelt
wird. Darauf steht eine Freiheitsstrafe von mindestens
fünf Jahren.
Das Jugendschöffengericht hat gesagt: Wir müssen
die geistige und sittliche Entwicklung dieser jungen
Leute berücksichtigen. Sie stehen noch nicht einem Erwachsenen gleich, und das Delikt als solches ist auch
wirklich ein jugendtypisches Delikt.
({3})
Denn sie kamen mit ihrem BMW bis in die Kasseler
Berge, und dort landete der BMW am nächsten Brückenpfeiler.
Nächstes Beispiel, Herr Kollege Bosbach, damit Sie
sich wieder beruhigen können.
({4})
- Ja, ein richtiges Beispiel. - In den 80er-Jahren kamen
die Doc Martens auf. Das waren die Schuhe, die vorne
Stahlkappen hatten, Herr Kollege Bosbach. Mit diesen
Schuhen hat ein nichtvorbestrafter 17-Jähriger auf der
Straße zwei junge Schülerinnen und Schüler massiv zusammengetreten. Die erste Verhandlung vor dem Jugendgericht ergab zwei Jahre Jugendstrafe ohne Bewährung. Er ist aus der Verhandlung heraus verhaftet und
nach Hameln-Tündern in Niedersachsen gebracht worden.
Drittes Beispiel. Ich war im Wahlkreis unterwegs, als
ein Mann auf mich zukam, Mitte 30, südländisch aussehend, würden einige sagen. Er sagte zu mir: „Du hast
mich mal gerettet.“ Ich sagte: „Was? Ich habe dich mal
gerettet?“ „Ja, als ich 18 war, war ich bei dir vorm Jugendgericht. Ich hatte schwere Diebstähle begangen, und
du hast damals zu mir gesagt: Entweder du machst jetzt
eine Lehre, eine Ausbildung, oder du gehst in den
Knast. - Dann habt ihr mir eine Lehrstelle zugewiesen,
und ich habe die Lehre gemacht.“ Dann ist der Mann in
seine Wohnung hochgerannt und hat seinen Facharbeiterbrief geholt, den er bei Mercedes in Bremen erworben
hatte.
Herr Kollege Bosbach, was ich damit sagen will und
was Sie offensichtlich nicht verstanden haben,
({5})
ist, dass es darum geht, dass es nach Prüfung der Persönlichkeit Möglichkeiten gibt, differenziert zu handeln.
({6})
Diese Möglichkeiten haben wir nach geltendem Recht.
Wenn man so aufgeregt reagiert wie Sie, Herr Kollege
Bosbach, dann sieht man vor lauter Bäumen den Wald
nicht mehr und kommt zu solchen Vorschlägen, wie Sie
sie uns hier vorgelegt haben.
({7})
Das Problem, das Sie in diesen Wahlkampf hineingetragen haben, ist ausschließlich ein Vollzugsproblem der
Länder. Liebe Kolleginnen und Kollegen und alle, die
wir in der Rechtspolitik tätig sind, wir haben in den letzten Jahren wiederholt beklagt - und zwar alle; jeder, der
sagt, das stimmt nicht, möge dabei in den Spiegel sehen;
ich mache dabei auch keine Farbenlehre -, dass die Länder in den zurückliegenden Jahren an der Justiz gespart
haben, dass sie die Justiz teilweise kaputtsaniert haben,
dass sie zu weitgehend an der Polizei gespart haben,
({8})
dass sie an Präventionsmaßnahmen gespart haben. Genau diese Maßnahmen fehlen im Ergebnis mit Blick auf
bestimmte jugendliche Straftäter.
Deshalb die Aufforderung: Löst das Problem in den
Landtagen; schickt es nicht nach Berlin mit der Behauptung, wir müssten das Jugendrecht ändern!
({9})
Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich von der
Fraktion Die Linke,
({0})
dem ich gleichzeitig zu seinem heutigen Geburtstag
herzlich gratuliere.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Debatte über die Verschärfung des Jugendstrafrechts ist nicht neu; das ist schon gesagt worden. Immer wenn irgendwelche Straftaten gehäuft auftreten, kocht die Volksseele, und es kommt zu einer
politischen Debatte, die im Ergebnis zu nichts führt, weil
festgestellt wird, dass alle Argumente, die in dieser Debatte angeführt werden, nichts taugen.
Genau so ist es jetzt wieder. Anlass zu dieser Debatte
sind weniger die Taten als die bevorstehenden Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen. Es geht darum,
Wahlkampfstimmen vom rechten Rand zu fischen, und
nicht darum, Lösungsstrategien zu finden oder bei der
Lösung der Probleme richtig anzusetzen.
Die Lösung der Probleme besteht nicht in höheren
Strafen, im sogenannten Warnschussarrest oder in Erziehungscamps, wie es jetzt gefordert wird. Die Amerikaner sind von den Erziehungscamps abgekommen. Nun
heißt es auf der einen Seite, dass wir so etwas gar nicht
wollen. Auf der anderen Seite sagt aber kein Mensch,
wie diese Erziehungscamps aussehen sollen. Herr
Stünker hat gerade schon gesagt, Vollzug ist Ländersache. Das heißt, jedes Bundesland kann seinen Jugendstrafvollzug so ausgestalten, dass der erzieherische Erfolg, wie er eigentlich auch vom JGG gefordert wird, am
Ende des Vollzugs erreicht ist. Das bleibt doch jedem
Bundesland selbst überlassen; da muss man keine Sondercamps fordern.
({0})
Zum Warnschussarrest in Kombination mit Jugendstrafe. Für all diejenigen, die von Jugendrecht vielleicht
keine Ahnung haben - damit wende ich mich auch an
die Zuschauer hier im Saal -: Es gibt Erziehungsmaßnahmen, Zuchtmittel und Jugendstrafe. Das kann miteinander kombiniert werden. Man kann sämtliche Maßnahmen kombinieren, vom Tellerwaschen über das
Rasenmähen zu Hause, die Hilfe für den Opa, das Verbot
des Zutritts zu bestimmten Kneipen und das Verbot des
Kontakts zu bestimmten Leuten bis hin zum Arrest.
Dann kommt die Jugendstrafe, die nur verhängt werden
kann, wenn alle anderen Maßnahmen tatsächlich nicht
ausreichen. Nun soll die Jugendstrafe mit einer Maßnahme, die eigentlich nicht mehr ausreicht, kombiniert
werden.
({1})
Das ist überhaupt nicht nachzuvollziehen.
Im Übrigen sind Arrest- und Jugendstrafen die Maßnahmen mit den höchsten Rückfallquoten, nämlich
60 bis 70 Prozent. Darüber brauchen wir nicht zu reden.
Jetzt sollen zwei schlechte Maßnahmen kombiniert werJörn Wunderlich
den, damit etwas Gutes dabei herauskommt. Was für ein
Quatsch! Dass das immer wieder aufs Tapet kommt, regt
mich auf.
({2})
Für erfolgreiche Maßnahmen wie Täter-Opfer-Ausgleich, Trainingskurse für soziales Verhalten und AntiAggressions-Kurse fehlen die Mittel. Ich weiß aus eigener Praxis, worüber ich rede. Ich war zwölf Jahre
Jugendrichter, Jugendschöffenrichter und Vollstreckungsleiter einer JVA für Jugendliche.
({3})
Man muss zunächst bei einem freien Träger, beispielsweise bei der AWO, anrufen und fragen, wann für einen
jugendlichen Täter ein Platz in einem Trainingskurs frei
ist. Wenn es heißt „In acht Monaten!“, dann braucht eine
solche Erziehungsmaßnahme erst gar nicht verhängt zu
werden.
Wenn die Jugendrichter aber nicht entsprechende
Maßnahmen verhängen können, weil die Mittel und die
Möglichkeiten fehlen - Herr Bosbach, es ist schade, dass
Sie darüber lachen; das ist eigentlich zum Weinen -,
({4})
dann nützt eine Verschärfung des Strafrechts nichts. So
ein Blödsinn!
({5})
Es hilft auch nichts, das allgemeine Strafrecht grundsätzlich auf Heranwachsende anzuwenden.
({6})
- Nein.
({7})
Es handelt sich um eine Einzelfallprüfung, Herr
Bosbach. Lesen Sie einmal nach!
({8})
- Nein.
({9})
Es ist eine Einzelfallprüfung. Wenn Reifedefizite vorhanden sind, dann ist das Jugendrecht anzuwenden,
({10})
also nicht grundsätzlich. Es handelt sich weder um einen
Grundsatz in der einen noch um einen Grundsatz in der
anderen Richtung.
Wichtiger als Strafe ist Prävention. Opferschutz heißt
doch nicht, dass die Täter bei ihren Straftaten gefilmt
werden. Opferschutz heißt vielmehr, Taten zu verhindern. Deshalb muss an dieser Stelle präventiv angesetzt
werden, und zwar viel früher als erst mit dem 14. Lebensjahr, wenn die Strafmündigkeit erlangt wird. Schule,
Ausbildung, Beruf und Elternhaus: Da muss angesetzt
werden. In diesen Bereichen werden die Mittel aber
ständig gestrichen.
Mit ihren Äußerungen über die Gewalttätigkeit von
Jugendlichen mit Migrationshintergrund lenkt die CDU
von der sozialen Frage ab und macht sie zu einer nationalen Frage. Wenn Herr Koch sagt, wir hätten zu viele
kriminelle ausländische Jugendliche, dann kann man nur
fragen: Wie viele hätten Sie denn gerne?
({11})
Das soziale Umfeld ist entscheidend, Herr Bosbach. Das
Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen hat
in einer Studie festgestellt,
({12})
dass bei gleichem sozialem Umfeld etwa 12 Prozent der
Realschüler in der 9. Klasse, egal ob deutsch oder türkisch, gewalttätig sind. Bei den Wiederholungs- und
Mehrfachtätern toppen die deutschen Realschüler sogar
noch die türkischen. Das Verhältnis beträgt da 1,9 zu
1,7 Prozent.
Man kann doch nicht, wie das Herr Koch in Hessen
tut, über Jahre hinweg im präventiven Bereich und im
Bereich der Justiz und der Polizei Stellen und Mittel kürzen und dann allen Ernstes jammern, dass nichts mehr
funktioniert.
({13})
Koch hat in Hessen auf ganzer Linie versagt. Er hat vom
Jugendrecht keine Ahnung und versucht nun, die Schuld
seiner verfehlten Politik den Migranten zuzuschieben.
Man unterstellt nicht nur, dass sie Arbeitsplätze wegnehmen und Sozialleistungen zu Unrecht beziehen. Nein,
jetzt sind sie auch noch ein Problem für die innere Sicherheit. Ich glaube, ich spinne.
({14})
- Ja, die CDU glaubt diese Unterstellungen.
Ich kann nur hoffen, dass von Hessen das Signal ausgeht, dass man mit solchen extremistischen Parolen, wie
sie von Koch losgelassen werden, keine Wählerstimmen
gewinnen kann.
Danke schön.
({15})
Das Wort hat jetzt der Staatsminister des Bundeslandes Hessen, Volker Hoff.
Volker Hoff, Staatsminister ({0}):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Abgeordnete Künast, ich möchte zunächst
feststellen, dass wir nicht ein Problem, sondern zwei
Probleme haben. Wir haben zum einen das Problem,
dass es Jugendliche gibt, die schwere Gewalttaten begehen. Wir haben zum anderen das Problem, dass es zumindest auf der linken Seite dieses Hauses - das ist auch
heute erkennbar - keine Bereitschaft gibt, sich mit diesem Thema sachlich auseinanderzusetzen.
({1})
- Frau Abgeordnete Künast, ich habe mich bemüht, Ihnen zuzuhören. Um den Zuschauerinnen und Zuschauern ein gutes Beispiel zu geben, wäre es gut, wenn wir
versuchen würden, uns in dieser Debatte gegenseitig zuzuhören.
({2})
Ich erinnere an die Sendung „Hart aber fair“, die manche von Ihnen gesehen haben werden. Die Bundesjustizministerin antwortete auf die Frage, was sie denn einer
alten Dame raten würde, die sich in der U-Bahn bedrängt
fühlt: Ich empfehle dieser Dame, in einen anderen Waggon zu gehen. Meine sehr verehrten Damen und Herren,
dies ist die Kapitulation des Rechtsstaates.
({3})
Die zweite Möglichkeit, Herr Kollege Reichenbach,
ist, das zu tun, was der Vorsitzende der SPD-Fraktion gemacht hat, indem er mit verbalen Gewaltattacken auf
den hessischen Ministerpräsidenten versucht hat,
({4})
dieses Thema zu besetzen. Vielleicht merken Sie gar
nicht, wie Sie sich in dieser Debatte verhalten. Fest steht,
dass Sie nichts zur Sache sagen. Frau Kollegin Künast,
Sie haben in Ihrer Rede keinen Beitrag zur Lösung des
Problems geleistet.
({5})
Man kann es auch so wie der Abgeordnete Stünker
machen, der hier, wie ich finde, ein sehr schönes Beispiel gebracht hat, das sich sicherlich zur Verfilmung für
irgendeine Soap im Privatfernsehen eignen würde.
({6})
Verehrter Herr Abgeordneter, dies hat aber leider mit der
Realität, die wir jeden Tag erleben, nicht das Geringste
zu tun.
({7})
Damit wir vielleicht einmal sehen, über was wir reden, möchte ich den stellvertretenden Polizeichef aus der
Stadt Offenbach zitieren.
({8})
Der stellvertretende Polizeichef aus der Stadt Offenbach
hat vor kurzem in einem Interview zu Protokoll gegeben:
In der Stadt Offenbach gibt es 16 sogenannte Mehrfachintensivtäter.
({9})
Von diesen 16 Mehrfachintensivtätern haben 15 einen
Migrationshintergrund.
({10})
Spitzenreiter ist ein 17-jähriger Afghane, der 32 Straftaten auf dem Kerbholz hat, darunter 16-mal Raub, 15-mal
Körperverletzung und etliche Eigentumsdelikte. Meine
sehr verehrten Damen und Herren, Herr Kollege
Stünker, das sind die Beispiele, über die wir hier reden und nicht die malerischen Beispiele, die Sie aus Ihrer
Berufspraxis feilbieten.
({11})
Herr Minister, darf ich Sie einen Moment unterbrechen? - Ich bitte die Abgeordneten der Fraktion der Linken, diese Masken abzunehmen, und Frau Enkelmann,
dafür zu sorgen, dass das sofort geschieht.
({0})
Anderenfalls bitte ich die Saaldiener, dafür zu sorgen,
dass die Abgeordneten den Saal verlassen.
({1})
Herr Minister, fahren Sie bitte fort.
({2})
Volker Hoff, Staatsminister ({3}):
Vielen Dank, Herr Präsident. - Angesichts der schweren Straftaten, über die wir hier reden, ist dies ein bedenkliches Beispiel dafür, wie gering die Bereitschaft
auf der linken Seite ist, sich mit den konkreten Problemen auseinanderzusetzen.
({4})
Staatsminister Volker Hoff ({5})
Sie sind doch nur deshalb so aufgeregt, weil Sie heute
erkennen, dass Sie im Grunde vor dem Scherbenhaufen
Ihrer Multikulti-Kuschelpädagogik der letzten Jahre stehen.
({6})
Das ist doch der eigentliche Grund dafür, dass Sie sich
an dieser Stelle so gerieren, wie Sie sich gerieren.
Weil ständig die „schlechte Statistik“ des Landes Hessen zitiert wird,
({7})
erlaube ich mir - vielleicht hören Sie zumindest an dieser Stelle zu; ich weiß, die vertiefte Sachkenntnis verhindert eine fröhliche Diskussion;
({8})
aber nachdem Sie hier so viele Unwahrheiten in den
Raum geworfen haben, würde ich Ihnen empfehlen, dass
Sie wenigstens zuhören -, Ihnen mitzuteilen, wie die tatsächliche Bilanz in Hessen aussieht:
({9})
Erstens. Der Anteil jugendlicher Gewalttäter in Hessen liegt deutlich unter dem Bundesdurchschnitt.
({10})
- Da können Sie ruhig lachen; aber das ist die Statistik.
Zweitens. Im Jahr 2006 war Hessen neben Mecklenburg-Vorpommern das einzige Land, das einen Rückgang der Zahl der Körperverletzungsdelikte zu verzeichnen hatte.
({11})
Drittens. In keinem anderen Land in Deutschland,
verehrte Frau Kollegin Künast, ist die Aufklärungsquote
so rasant gestiegen wie in Hessen. Als wir 1999 die Landesregierung übernommen haben, lag die Aufklärungsquote bei 45 Prozent. Sie liegt heute bei über 55 Prozent.
({12})
Ich hoffe, dass wir noch in diesen Tagen die Aufklärungsquote im Jahr 2007 veröffentlichen können, die
ebenfalls gestiegen ist.
({13})
Entgegen allen Ihren Meldungen hat das Land Hessen
heute mehr Staatsanwälte als im Jahr 1999.
({14})
Wir haben in Hessen, gemessen pro 100 000 Einwohner,
mehr Richter als jedes andere Flächenland in der Bundesrepublik Deutschland. Die hessische Polizei ist im
bundesweiten Vergleich die bestausgestattete, bestbezahlte und bestausgebildete. Fragen Sie einmal Ihren
Kollegen Reichenbach, der früher Abgeordneter im Hessischen Landtag war, in welchem Zustand die hessische
Polizei im Jahr 1999 war. Allein der Fuhrpark bestand zu
50 Prozent aus Fahrzeugen, die nicht mehr fahrfähig waren.
({15})
Wir haben in diesem Zeitraum 23 Millionen Euro in die
Ausstattung der Polizei investiert. Heute sind - auch an
dieser Zahl können Sie sich nicht vorbeidrücken 1 131 Polizeibeamte mehr auf der Straße als 1999.
({16})
Hessen war das erste Land - Frau Kollegin Künast,
Sie haben das vorhin bestritten -, das nach 1999 sogenannte Deutschvorlaufkurse für Kinder mit Migrationshintergrund eingeführt hat. Ich schicke Ihnen gerne das
Protokoll der Debatte, die im Hessischen Landtag darüber geführt wurde. Der Kollege Reichenbach war damals auch noch dabei. Die charmanteste Umschreibung
war der Vorwurf, wir würden Zwangsgermanisierung betreiben. Und heute stellen Sie es so dar, als wären Sie die
Erfinder dieser Maßnahmen gewesen. Sie haben das damals mit allen Mitteln abgelehnt.
({17})
Jetzt liegen die ersten Ergebnisse vor: Seit 1999 ist
der Anteil der Hauptschulabgänger ohne Schulabschluss
in Hessen von 22,3 Prozent auf 14,4 Prozent gesunken.
14,4 Prozent sind zwar immer noch viel zu viel, aber das
ist fast die Hälfte dessen, was die Bilanz der rot-grünen
Regierung im Jahr 1999 ausgewiesen hat.
({18})
Weil hier immer davon gesprochen wird, dass überall abgebaut wird, will ich darauf verweisen, dass wir die Mittel für freiwillige Leistungen des Landes im Bereich Prävention und Integration allein in den letzten fünf Jahren
von 31,5 auf 82,3 Millionen Euro erhöht und damit weit
mehr als verdoppelt haben.
({19})
Die Zahl der Straßenüberfälle ist um 25 Prozent und die
Zahl der Wohnungseinbrüche um 46 Prozent zurückgegangen. Ich könnte diese Liste endlos fortführen.
({20})
Wir brauchen aber auch eine Änderung des Strafrahmens.
({21})
Das Land Hessen hat in den Jahren 2002, 2003, 2004
und 2005 gemeinsam mit anderen Ländern im Bundesrat
entsprechende Vorschläge eingebracht. Meine Damen
und Herren, um Sie zu beruhigen, sage ich:
({22})
Staatsminister Volker Hoff ({23})
Wir werden in den nächsten Wochen gemeinsam mit
dem Freistaat Bayern erneut im Bundesrat aktiv, und wir
werden die linke Seite dieses Hauses zwingen, die notwendigen gesetzlichen Veränderungen herbeizuführen,
damit wir dem Problem gewalttätiger Jugendlicher entgegentreten können.
({24})
Eine letzte Bemerkung: Wir reden hier über ein Problem, das nicht nur ältere Menschen betrifft. Fragen Sie
einmal die Schülerinnen und Schüler, die hier oben auf
der Tribüne sitzen. Sie suchen bestimmte Diskotheken
und Gaststätten nicht mehr auf, in den Schulen werden
ihnen die Handys abgenommen, und sie sind nicht bereit, ihren Eltern zu sagen, dass die Handys geklaut wurden, weil sie genau wissen, dass sie, zwei Tage nachdem
ihr Vater zur Schulleitung gegangen ist, von Jugendlichen vermöbelt werden.
({25})
Es ist an der Zeit, dass wir dagegen vorgehen. Wir werden Sie über den Bundesrat zwingen, Flagge zu bekennen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({26})
Das Wort hat jetzt der Kollege Kai Gehring von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Hoff, Sie haben eingangs gesagt, man soll hart an
der Realität argumentieren. Das, was Sie gerade erzählt
haben, war nicht hart an der Realität, nicht entlang den
Fakten; denn die Zahlen, die Sie hier vorgetragen haben,
sind größtenteils falsch. Das ist nicht das, was in Hessen
gemacht worden ist.
({0})
Es ist wichtig, bei einer solchen Debatte sachlich und bei
der Wahrheit zu bleiben.
Sie haben gesagt, es gebe einen dramatischen Anstieg
bei der Jugendkriminalität und -gewalt. Das stimmt
nicht, auch wenn Sie uns das immer wieder weismachen
wollen. Die Zahlen sind regierungsamtlich. Schauen Sie
sich den Zweiten Periodischen Sicherheitsbericht, den
Bericht der Bund-Länder-AG vom November 2007 oder
die Resolution von tausend Expertinnen und Experten,
von Juristen, Kriminalisten und Wissenschaftlern, an.
Das sind die richtigen Daten und Fakten, die Sie ernst
nehmen sollten.
Wenn wir uns die politische Bilanz einerseits und die
Parolen, die Herr Koch verzapft, andererseits anschauen,
stellen wir fest, dass da ein eklatanter Widerspruch besteht. Wo ist die Jugendkriminalität in den letzten Jahren
am stärksten gestiegen? In Hessen, unter Koch.
({1})
In welchem Bundesland dauern Jugendstrafverfahren am
längsten? In Hessen.
({2})
Wo sind die Mittel für Präventions- und Resozialisierungsmaßnahmen besonders stark gekürzt worden? Richtig: Auch in Hessen.
({3})
Wer im Bereich Prävention bei der Polizei - in Ihrer Regierungszeit tausend Stellen weniger -, bei Justiz und
Jugendhilfe mit dem Rotstift gewütet hat - das war Ihr
Sparprogramm -, dann aber nach schärferen Gesetzen
ruft, verhält sich scheinheilig und ist zutiefst unglaubwürdig.
({4})
Wir nehmen das Problem Jugendkriminalität und Jugendgewalt sehr ernst.
({5})
Aber mit Angstkampagnen à la Koch lassen sich solche
Phänomene nicht wirksam bekämpfen und erst recht
nicht mit dumpfen Parolen gegen Jugendliche mit Migrationshintergrund.
({6})
Das, was Herr Koch hier veranstaltet, ist Rechtspopulismus pur. Da ist er - nach 1999 - leider Wiederholungstäter.
({7})
Um mit einem anderen Missverständnis aufzuräumen: Das Jugendstrafrecht ist nicht soft. Es ist hart,
wirkt und erzieht. Das Instrumentarium ist nicht eng,
sondern sehr breit. Es muss schnell und konsequent ausgeschöpft werden. Wir müssen früher ansetzen und
schneller reagieren. Diese Lehre müssen wir aus den
Zahlen, die uns vorliegen, ziehen. Früher heißt: Prävention für alle von Anfang an und frühzeitig intervenieren.
Schneller reagieren heißt, dass junge Gewalttäter und
straffällige Jugendliche zügig mit den Folgen ihrer Taten
konfrontiert werden, zum Beispiel durch mehr Täter-Opfer-Ausgleich oder auch vor Gericht.
Hieran wird das Hauptproblem des Jugendstrafrechts
deutlich. Es sind die fehlenden Kapazitäten und die geringe finanzielle Ausstattung. In vielen Ländern ist in
den vergangenen Jahren gespart worden. Wir haben zu
wenig Jugendrichter; Sozialarbeiter und Polizisten fehKai Gehring
len. In der Jugendgerichtshilfe fehlen Infrastruktur und
Personal.
({8})
Es ist ein Problem, wenn Richter mancherorts keine Antigewalttrainings anordnen können, weil sie dort nicht
angeboten werden. Das ist ein Skandal. Gerade in Hessen ist das so. Auch für Opfer muss mehr getan werden.
Das sind Probleme in der Praxis. Ihre Verschärfungspläne, also der Koch-Katalog, nach dem Motto „repressiv statt präventiv“ sind dabei sicherlich völlig unbrauchbar.
({9})
Ich möchte mit einem weiteren Missverständnis aufräumen: Jugendgewalt und -kriminalität sind kein Ausländerproblem. Nicht die Hautfarbe oder die ethnische
Herkunft sind entscheidend, sondern die Chancen- und
Perspektivlosigkeit. Wir wissen doch: je weniger Bildungschancen, desto höher die Gewaltrisiken. Deshalb
müssen wir Gewaltursachen rigoros bekämpfen. Wir
wollen, dass es endlich eine konsequente und durchgängige Präventionspolitik gibt und dass sie im Bund, in den
Ländern, vor Ort und im Stadtteil verfolgt wird.
Das heißt für uns, dass Eltern ihre Kinder gut erziehen
und dass sie bei Erziehungsdefiziten unterstützt werden,
notfalls auch mit Druck. Das heißt hinsichtlich des
Schutzes vor Vernachlässigung aber auch, dass die
Union die Stärkung der Kinderrechte in der Verfassung
nicht länger blockieren darf. Das ist ein ganz wichtiger
Punkt.
({10})
Wir brauchen mehr Frühwarnsysteme und Frühprävention in den Kitas. Wir brauchen bessere Bildungschancen. Das bedeutet: Niemanden zurücklassen,
individuell fördern und auf Ganztagsschulen setzen. Ich
weiß, dass die Union damit ein Riesenproblem hatte.
Das bedeutet auch: Schule als gewaltfreier Ort, Lehrerfortbildung, Schulpsychologen, Sozialarbeiter, mehr
Schülerbeteiligung, zum Beispiel durch Streitschlichterprogramme und durch Konfliktlotsen, aufsuchende Jugendhilfe, Jugendsozialarbeit, eine bessere Kooperation
zwischen Jugendhilfe, Behörden, Polizei und Justiz. All
das machen Sie nicht, weil es viel Geld kostet. Aber das
sind die wirklich wirksamen Mittel bei der Bekämpfung
und bei der Prävention von Jugendgewalt und -kriminalität.
({11})
Einen Punkt will ich Ihnen noch sagen: Wir brauchen
eine Kultur der Waffenfreiheit. Ich würde mir von der
Union einen Vorschlag zur Verschärfung des Waffenrechtes wünschen. Wir sollten dies machen, da die Verwendung von Hieb- und Stichwaffen zunimmt.
({12})
Das wäre doch ein sinnvoller Verschärfungsvorschlag
der Union. Aber Sie haben offensichtlich Angst vor der
Waffenlobby.
({13})
Das alles könnten Sie machen. Dazu höre ich von der
Union und von Nochministerpräsident Koch zu wenig.
Stattdessen höre ich völlig abstruse Vorschläge à la Kinderstrafrecht. Wer diese Präventionspunkte nicht
anpackt, wird in ein paar Jahren mehr Jugendgewalt und
-kriminalität beklagen müssen. Kommen Sie daher endlich zur Vernunft. Hören Sie auf, Fakten zu dramatisieren und
Herr Gehring, kommen Sie bitte zum Schluss.
- Ursachen zu ignorieren. Hören Sie auf die Fachwelt. Beenden Sie Ihre rechtspopulistische und schäbige
Kampagne in Hessen und bundesweit!
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Lambrecht
von der SPD-Fraktion.
({0})
Sie wird jetzt ein bisschen Licht in die Sache bringen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin
schon seit zehn Jahren Mitglied des Bundestages. Als
die aufgewärmte bzw. „aufgekochte“ Kampagne des
Nochministerpräsidenten von Hessen vor ein paar Wochen aufkam, habe ich mir gedacht: Das sind schon wieder Vorschläge, die wir bereits zigmal abgelehnt haben.
({1})
- Noch freuen Sie sich. Ich glaube aber, gleich freuen
Sie sich nicht mehr.
Das letzte Mal wurden diese Vorschläge von der Bundeskanzlerin und einstimmig vom gesamten Bundeskabinett im März 2006 abgelehnt.
({2})
Im März 2006 hat die Bundesregierung - nachzulesen in
einer Drucksache, die ich Ihnen gerne zur Verfügung
stelle - zu genau diesen Vorschlägen, die jetzt wieder auf
dem Tisch liegen,
({3})
in einer Stellungnahme geschrieben, dass sie sie für
nicht unterstützungsfähig hält, weil die meisten Fachverbände und Fachleute sie für nicht geeignet, sondern eher
für kontraproduktiv halten. Diese Stellungnahme trägt
die Unterschriften von Angela Merkel für das gesamte
Bundeskabinett.
({4})
Die Fachleute, die sich mit der Praxis auskennen
- auch die Fachleute in Hessen -, stehen weiterhin zu
dieser Einschätzung, nur die Bundeskanzlerin leider
nicht mehr. Auf einmal hat sie eine andere Einstellung
und lässt sich von Roland Koch in diesem Wahlkampf
vor den Karren spannen. So etwas darf nicht sein.
({5})
Da kann man nur froh sein, dass sie ihn wenigstens dann
in die Schranken gewiesen hat, als er solch absurde Vorschläge gemacht hat wie den, das Jugendstrafrecht auch
auf Kinder anzuwenden. Was wäre denn als Nächstes gekommen? Der Drogentest im Kindergarten, oder was?
({6})
Das wäre doch die Konsequenz gewesen.
({7})
Ich will ganz deutlich sagen: Sowohl auf Bundes-, als
auch auf Landesebene in Hessen steht die SPD für eine
konsequente Kriminalitätsbekämpfung und für einen
konsequenten Strafvollzug. Schauen wir uns die Situation in Hessen einmal an. Herr Hoff, angesichts der Bilanz, die Sie vorgelegt haben, konnte ich mir nur die Augen reiben.
({8})
Man hatte den Eindruck, Hessen sei das sicherste aller
Bundesländer. Wenn in Hessen alles so wunderbar ist,
dann frage ich mich aber: Warum die ganze Aufregung?
({9})
Sie tragen in Hessen seit neun Jahren die Verantwortung.
({10})
Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich war etwas verwundert,
dass jemand, der die Verantwortung für Polizei, innere
Sicherheit und Justiz trägt, eine solch katastrophale Bilanz vorlegt. Noch nicht einmal wir, die Opposition, hätten uns das getraut. Dafür kann ich Ihnen nur herzlich
danken.
Sie haben in Hessen 1 200 Polizeistellen gestrichen.
Was nützt es, dass der Strafrahmen auf 15 Jahre erhöht
wird, wenn keine Polizisten da sind, die die entsprechenden Straftaten verfolgen können?
({11})
Was soll das?
Sie haben bei der Staatsanwaltschaft Stellen gestrichen. Sie sollten sich einmal die Erklärungen von Staatsanwälten und Richtern anschauen und zur Kenntnis nehmen, was sie zu Ihrer Politik und zu der Bilanz, die Sie
gezogen haben, sagen. Viele von ihnen sind ja mittlerweile auf den Barrikaden, und das will bei deutschen
Staatsanwälten und Richtern wirklich etwas heißen.
({12})
Da Sie Stellen bei Staatsanwaltschaft und Gerichten
gestrichen haben, frage ich Sie: Was nützt es mir, dass
die Höchststrafe für Jugendliche 15 Jahre beträgt, wenn
die Urteile nicht schnell genug gesprochen werden? In
Hessen gibt es nur noch eine einzige Arrestanstalt, in der
der Jugendarrest vollzogen werden kann. Man muss aber
fünf bis sechs Monate warten, bis man dort einrücken
darf, wenn es tatsächlich einmal zu einer Verurteilung
gekommen ist. Was hat das denn noch für einen erzieherischen Effekt, wenn jemand warten muss, bis er seinen
Arrest antreten darf? Da kann man sich doch nur die Augen reiben.
({13})
Herr Bosbach, jetzt möchte ich einen anderen Punkt
ansprechen. Da Sie vorhin angemahnt haben, dass wir
die Lebenswirklichkeit zur Kenntnis nehmen müssen,
und da Sie die Situation der Menschen so schön beschrieben haben, will ich Ihnen erzählen, was in meiner
Heimatstadt geschehen ist. In meiner Heimatstadt Viernheim, einer Stadt mit über 30 000 Einwohnern, hat die
Hessische Landesregierung vor wenigen Monaten die
Polizeistation geschlossen. Das glaubt man kaum. Die
Menschen, die dort leben, werden jetzt von der Polizeistation einer Stadt, die ungefähr 17 Kilometer entfernt
liegt, mit betreut. Wenn also jemand in der Stadt Viernheim überfallen und die Polizei gerufen wird, dann muss
man unter Umständen 30 Minuten warten, bis die Polizei
eintrifft.
({14})
Ich hoffe, der Täter hat Verständnis und wartet so lange,
dass er verfolgt werden kann.
({15})
Das ist das, was die Menschen in ihrem Alltag erleben.
Die Menschen haben tatsächlich Angst. Für sie ist die innere Sicherheit tatsächlich ein Thema, weil sie wissen,
dass sie nicht entsprechend geschützt sind. Das ist Ihre
Bilanz; darauf können Sie zurückschauen.
Sie haben nach Lösungsmöglichkeiten gefragt. Wer
will, dass Präventionsmaßnahmen in Hessen wieder
möglich sind, nachdem Sie die Gelder für die Erziehungsberatung gestrichen haben, nachdem Sie die Gelder für die Suchtberatung gestrichen haben, nachdem Sie
all das gestrichen haben, dem gebe ich gleich einen Ratschlag. Wer will, dass wieder Polizisten eingestellt werden, die die entsprechende Strafverfolgung möglich machen, dem gebe ich gleich einen Ratschlag. Wer will,
dass wieder Staatsanwälte und Richter eingestellt werden, damit der Strafvollzug entsprechend laufen kann,
dem gebe ich gleich einen Ratschlag. Er lautet: Am
27. Januar SPD und Andrea Ypsilanti wählen!
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Der Mitherausgeber der FAZ, Herr Schirrmacher,
titelte gestern:
Die Debatte über ausländische Jugendkriminalität
muss geführt werden - jetzt.
Dazu muss er in Deutschland niemanden mehr überreden; in ganz Deutschland gibt es derzeit nur ein Thema:
die wachsende Jugendkriminalität, insbesondere unter
ausländischen Jugendlichen, insbesondere in den deutschen Großstädten.
Ich habe mir Gedanken gemacht, wie diese Debatte,
die ja übertragen wird, und zwar nicht nur die Redner,
sondern auch, wie Sie, die vereinigte Linke hier, bei bestimmten Anlässen zusammen klatschen
({0})
- auch jetzt wieder Ihr Geplärre, Frau Künast -, auf die
Menschen wirken mag,
({1})
die im Fernsehen immer wieder die unglaubliche Brutalität haben sehen können, mit der in der Münchener
U-Bahn vor wenigen Tagen ein 76-jähriger Mann zusammengeschlagen, zusammengetreten worden ist.
({2})
Wie reagiert der Deutsche Bundestag, wie nimmt er
sich des Themas an, wie geht er damit um?
({3})
Bemüht er sich um Lösungen, oder führt er dieses unsägliche Theater, das wir hier in diesem Bereich erleben
können, weiter auf?
({4})
Meine Damen und Herren, es ist wirklich beschämend,
({5})
wenn aus dieser Debatte ein Thema des Wahlkämpfers
Koch in Hessen gemacht wird,
({6})
wenn so getan wird, als ob es Roland Koch gelungen
wäre, dass ganz Deutschland über dieses Thema redet.
Das ist übrigens auch parteipolitisch in hohem Maße unklug, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie. Ich weiß nicht, wer Sie da berät. Dieses Thema ist
ein Thema, das die Menschen in ganz Deutschland bewegt,
({7})
weil sie sehen: Da ist etwas tabuisiert worden, über viele
Jahre, und jetzt wird darüber geredet, muss darüber geredet werden.
Meine Damen und Herren, ich habe das Thema vor
etwa zehn Jahren, als ich noch im Münchener Rathaus
war, angesprochen.
({8})
Die Reden könnte ich unverändert wieder halten; es ist
nur graduell schlimmer geworden.
({9})
Wir haben hier ein gewaltiges Problem, ein Großstadtproblem, und wir müssen Lösungen finden,
({10})
dürfen das nicht mehr totschweigen und mit irgendwelchen getürkten Statistiken
({11})
zerreden, beschönigen, euphemistisch beiseiteschieben.
Wir werden uns auf dem Gebiet der Prävention, aber natürlich auch - da können Sie schreien, wie Sie wollen auf dem Gebiet der Repression bemühen müssen und
überdenken müssen, ob unsere Lösungsansätze tauglich
sind, ob sie tatangemessen sind, ob sie täterangemessen
sind. Wir werden Einzelfallentscheidungen zu treffen
haben. Wir werden keine Patentrezepte finden, wir werden für jeden Täter und jede Tat die passende Lösung erarbeiten müssen.
({12})
Da kann ein rasch nach der Tat verhängter Arrest
({13})
für den einen Täter sinnvoll sein, für den anderen wiederum nicht.
({14})
Das ist also kein Patentrezept.
Es kann dann sinnvoll sein, dass bei einem ausländischen Serientäter, der schwer kriminell ist und alle Straftaten, die man sich nur denken kann, 20- und 30-fach begangen hat, die schärfste denkbare Strafe verhängt wird,
nämlich eben nicht Haft, sondern Ausweisung und Abschiebung.
({15})
Diese Möglichkeit der Ausweisung und Abschiebung
müssen wir uns in unserem Rechtssystem als Ultima Ratio und nicht als Patentrezept glaubwürdig vorbehalten.
({16})
Derzeit haben wir keine glaubwürdige Möglichkeit,
weil wir wissen, dass ein Täter vergewaltigen, Raub begehen, mit Rauschgift handeln und andere zusammenschlagen kann - und das alles in Serie - und dafür bestimmt nicht das Strafmaß erhält, das man brauchen
würde, um eine Regelausweisung verhängen zu können,
nämlich drei Jahre ohne Bewährung.
({17})
Das heißt, die Menschen spüren, dass mit unseren Gesetzen etwas nicht stimmt. Deswegen werden wir die Gesetze nachbessern.
({18})
Wie es der Minister aus Hessen gesagt hat: Wir werden dies alles nach den Wahlen in aller Ruhe besprechen.
Vom Land Hessen, vom Land Bayern und vom Land Baden-Württemberg gibt es schon Vorschläge.
Frau Lambrecht, Sie haben eine unsäglich plumpe
Art, Frau Merkel in Anspruch zu nehmen.
({19})
Wir werden all das auf den Tisch bringen und wieder
vorlegen, was Ihre Justizministerin Zypries abgelehnt
hat. Sie wissen doch ganz genau: Wenn in einer Koalition ein Minister Nein sagt, dann muss die Regierungschefin auch Nein sagen, ob sie will oder nicht. Nicht
Frau Merkel, sondern Frau Zypries hat das abgelehnt.
Das weiß doch jeder.
({20})
Sie hätten ganz gerne ein Redeverbot verhängt. Die
Zeiten der Tabuisierung, die Sie jahrelang hier aufrechterhalten konnten, sind vorbei, Frau Künast. Da können
Sie plärren, wie Sie wollen. Wir werden über das Thema
reden und Lösungen dafür anbieten. Diese Lösungen
werden wir vorstellen. Sie können dann dagegen sein, so
lange Sie wollen. Auf Sie wird es nicht ankommen.
({21})
Ich baue sehr darauf, dass sich die andere große
Volkspartei, die SPD, an ihre Wähler erinnert, die beim
Thema der inneren Sicherheit in unseren Großstädten
genau so denken wie unsere Wähler. Sie brauchen Sicherheit.
Für die Menschen in unseren Großstädten, für die
Menschen in unseren U-Bahnen und für die Menschen,
die morgens zur Arbeit fahren, werden Sie Lösungen anbieten müssen.
({22})
Herr Kollege Uhl, denken Sie bitte an die Redezeit.
Sie werden mit uns zusammen daran arbeiten müssen.
Dazu werden wir Sie einladen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Jürgen Kucharczyk von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Uhl, das, was Sie hier
geliefert haben, war schon ein starkes Stück.
({0})
Zum Fingerzeig, den Sie hier angebracht haben: Denken
Sie daran, dass mindestens drei Finger immer auf Sie zurück zeigen.
({1})
Die gewalttätigen Übergriffe von Jugendlichen auf
Bürgerinnen und Bürger in unserem Land machen uns
alle sehr betroffen. Sie sind leider keine Einzelfälle. Deshalb dürfen wir die Augen nicht davor verschließen. Wir
müssen genau hinsehen und schauen, wo die Ursachen
liegen. Analysen und keine Schnellschüsse aus der
Hüfte, weil gerade Wahlkampfzeiten sind, sind hier angesagt.
({2})
Oftmals erfahren Kinder und Jugendliche zu Hause,
dass Konflikte nur mit Gewalt gelöst werden. Die Heranwachsenden sind dadurch massiv in ihrer Entwicklung gefährdet und benötigen frühzeitig unterstützende
erzieherische Hilfen. Deshalb ist es wichtig, dass Sozialpädagogen und Jugendhilfe früh eingesetzt werden.
Durch § 27 ff. SGB VIII werden uns hierfür die rechtlichen Grundlagen gegeben. Bei konsequenter Umsetzung
ist dies ein Handwerksinstrument, welches einer schwierigen Resozialisierung vorzuziehen ist. Darauf ist hier
letztendlich einzugehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen es nicht
zulassen, dass Kinder und Jugendliche in unserem Land
- egal ob deutscher oder ausländischer Herkunft - ohne
Bildung und somit ohne Perspektive, ohne reelle Chance
auf einen Schulabschluss, ohne eine vernünftige Ausbildung und damit ohne eine gesicherte Zukunft aufwachsen. Kinder können ihre vielfältigen Potenziale nur dann
optimal ausbauen und ihre Kreativität entfalten, wenn
sie früh und individuell gefördert werden. Was in den
ersten Lebensjahren an Grundsteinlegung versäumt
wird, ist später nur noch kostenintensiv auszugleichen.
({3})
Neben Investitionen in Bildung und Ausbildung sind
Netzwerke aus Jugendhilfe, Schule, Sport und weiteren
Institutionen vor Ort der richtige Ansatz. Sie schaffen
die vielfältigen Perspektiven für Kinder und junge Menschen. Zustände wie Aggressivität, Respektlosigkeit und
Ignoranz und die ständige Gewaltbereitschaft von Jugendlichen münden in die brutalen Taten, wie in den
letzten Wochen zu sehen war.
Ich sage aber deutlich: Ein einfaches Mehr an Polizei
oder Wegsperren von Jugendlichen ist keine Lösung, die
uns zufriedenstellen darf.
({4})
Der Ruf nach sogenannten Boot-Camps, wie es sie in
den USA gibt, und die entwürdigende Idee der Schnupperknäste sind menschenunwürdig und der falsche Ansatz. Die Persönlichkeit eines jungen Menschen zu brechen halte ich für den falschen, ja sogar für einen
gefährlichen Weg.
({5})
Wir sind uns darin einig, dass man keine Toleranz gegenüber Tätern zeigen darf. Um im Sinne der Kinder
und Jugendlichen zu handeln und für eine Gesellschaft
ohne Gewalt einzutreten, brauchen wir keine Verschärfung des Jugendstrafrechts. Um die vorhandenen Missstände zu beheben, sind wir auf die Hilfe und Mitarbeit
von öffentlichen und freien Trägern angewiesen. Die
Vernetzung von Polizei, Justiz und Jugendhilfe muss
dort, wo sie rechtlich möglich ist, genutzt und intensiviert werden.
An dieser Stelle möchte ich ein erfolgreiches Beispiel
aus meiner Heimatstadt Remscheid anführen. Dort
wurde vor einigen Jahren das Projekt der Ordnungspartnerschaft installiert. Es hat als gutes Beispiel für eine
funktionierende Zusammenarbeit von Polizei, Justiz, Jugendämtern und weiteren Institutionen Schule gemacht.
Ziel der Maßnahme ist der kurze Weg der Information
zwischen den Institutionen.
Als Nächstes folgten die „Diversionstage“. Jugendliche müssen bei geringfügigen Delikten sofort nach der
Tat bei der Polizei vorstellig werden, um eine direkte
Bestrafung möglich zu machen. Bei schweren Delikten
kommt es innerhalb weniger Wochen zu Jugendgerichtsverhandlungen. Ein straffer Zeitablauf zwischen Tat und
Verurteilung ist für die Mehrzahl der Jugendlichen ein
einschneidendes und nachhaltiges Erlebnis. Bei der
überwiegenden Zahl der Jugendlichen, die zum ersten
Mal beim Austesten ihrer Grenzen aufgefallen sind, ist
das gerichtliche Verfahren allein heilsam genug.
Ein weiterer Baustein bei Bewährungsstrafen als begleitende Maßnahme ist das Antiaggressionstraining.
Das Projekt „Gelbe Karte“, wie die Ordnungspartnerschaft heute heißt, weist - ergänzt um das Projekt
„Staatsanwalt vor Ort“ - große Erfolge auf. Die Rückfallquote liegt bei jugendlichen Straftätern seit Jahren
bei rund 10 Prozent. Erfolgreich ist auch ein weiteres
ehrgeiziges Projekt, in dem ehrenamtliche Betreuer verurteilte jugendliche Wiederholungstäter begleiten. Sie
sollen sicherstellen, dass die Jugendlichen schulischen
und beruflichen Halt und Hilfe finden.
Wie Sie sehen, wird dabei deutlich auf Prävention gesetzt, um möglichst früh einzugreifen. Das muss die Lösung sein und nicht das, was wir zurzeit in der Diskussion in Hessen erleben. Wir sollten letztendlich
insbesondere den Opfern von Gewalttätern beistehen.
Hier hilft keine noch so harte Bestrafung des Täters. Den
Opfern würde es nur helfen, wenn die Tat nie passiert
wäre.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Daniela Raab von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Unbestreitbar ist, dass neun von zehn Minderjährigen während ihrer Kindheit und Jugend strafrechtlich
nicht auffallen. Richtig ist aber auch - auch wenn Sie
versuchen, die Statistiken, die Ihnen nicht passen, schönzureden -, dass seit den 90er-Jahren die Kriminalitätsrate unter Jugendlichen und Heranwachsenden stetig ansteigt. Dieses Problem lässt sich nicht wegreden.
Nachweisbar ist auch die steigende Gewaltbereitschaft
unter Jugendlichen. Das ist ebenfalls statistisch nachweisbar.
Die Ursachen sind unterschiedlich - das wurde bereits angesprochen -: Sie reichen vom Werteverfall über
familiäre Probleme bis hin zur Gewaltverherrlichung in
den Medien. Auch das ist richtig. An dieser Stelle setzt
in der Tat Prävention an, über die wir weiter sprechen
müssen. Wir müssen sie noch verbessern und auch besser finanzieren. Nichts ist so gut, dass man es nicht noch
besser machen könnte. Allerdings spreche ich aus bayerischer Sicht relativ locker darüber; denn Bayern ist in
dieser Hinsicht Vorbild.
({0})
- Wir reden hier über Hessen, weil Sie Wahlkampf machen wollen. Aber ich rede über Bayern, weil Bayern
vorbildlich ist.
Ich zitiere Ihren sozialdemokratischen Kollegen
Christian Pfeiffer, der immer so tut, als wäre er ein neutraler Experte, der aber erkennbar rote Wolle trägt. Er hat
laut der heutigen Ausgabe der Abendzeitung gesagt:
„Bayern steht ganz toll da. Ich muss meinen großen
Respekt aussprechen. Das Land hat die tüchtigste Polizei, und es führt am schnellsten die Verfahren durch.“
Damit sind wir mitten im Thema. Wo endet Prävention,
und wo ist Repression notwendig? Ihre Kuschelpädagogik hilft bei Intensivtätern nicht.
({1})
- Liebe Frau Lambrecht, regen Sie sich doch nicht
künstlich auf. Es ist lächerlich, was Sie hier veranstalten.
Wir können darüber relativ ruhig reden, weil wir die
richtigen Konzepte haben.
Baden-Württemberg hat bereits 2003 einen exzellenten Gesetzesantrag in den Bundesrat eingebracht.
({2})
Dieser wurde aber mehrfach abgelehnt, auch im Kabinett - nicht weil Frau Merkel anderer Überzeugung ist,
sondern weil Ihre Minister dagegen waren. Wenn der
Koalitionspartner Nein sagt, müssen wir mitgehen, ob es
uns passt oder nicht. Das ist schade.
({3})
- Je lauter Sie schreien, desto falscher wird es. Aber das
scheint Sie nicht zu interessieren.
Unsere Gesetze reichen an manchen Stellen aus. An
manchen Stellen werden sie schlecht angewandt.
({4})
Laut § 105 JGG ist das Erwachsenenstrafrecht - das Lesen des Gesetzes erleichtert die Kenntnis der Materie bei Heranwachsenden von 18 bis 21 als Ausnahme anzuwenden. Unsere Richter sind leider zum Automatismus
übergegangen, permanent Reifeverzögerung festzustellen. Es gibt offensichtlich nur 18- bis 21-jährige reifeverzögerte Straftäter, bei denen das Jugendstrafrecht angewendet wird.
({5})
Ganz offensichtlich brauchen wir hier eine gesetzgeberische Klarstellung; denn wer wählen kann, wer Kanzler
werden kann und wer Auto fährt, muss sich wie ein Erwachsener verantworten, wenn er einem Rentner den
Schädel einschlägt. So viel steht fest.
({6})
Es gibt nach wie vor gesetzgeberischen Handlungsbedarf. Wir werden sicherlich - ich freue mich, dass der
Bundesrat noch einmal die Initiative ergreift - über Verbesserungen nachdenken müssen. Unsere Unterstützung
haben Sie. Wir werden hier mit bayerischer Erfahrung
glänzen können.
({7})
- Haben Sie keine? Ich dachte, dass wir über Hessen reden. Der Vorfall war jedenfalls in Bayern. Er wird konsequent verfolgt. Aber solche Vorfälle gibt es bundesweit; darüber brauchen wir nicht zu reden. Wir haben in
Bayern auf jeden Fall die schnellsten Verfahren, die
höchste Aufklärungsquote und die beste Polizei.
({8})
Lassen Sie mich noch etwas Wichtiges feststellen: In
der Münchener U-Bahn haben die Täter ihr hilfloses Opfer - Herr Präsident, ich darf zitieren - als „Scheißdeutscher“ bezeichnet. Wir lehnen Fremdenfeindlichkeit ab.
Gleiches gilt aber auch für Rassismus von hier lebenden
Ausländern gegenüber ihrem Gastland und seinen Mitbürgern.
({9})
Wir haben viel über die Täter gesprochen. In Zukunft
sollten wir aber mehr über Opferschutz sprechen. Das
geht insbesondere an Ihre Adresse.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat der Kollege Gerold Reichenbach von
der SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In der Debatte muss Ihnen, verehrte Kollegen von der Koalition,
das Wasser bis zum Hals stehen, wenn Sie zu solchen
Tricks greifen. Herr Uhl, die Stellungnahme ist von der
Bundeskanzlerin unterzeichnet. Dabei haben Sie gemeinsam mit uns noch vor kurzer Zeit - zu Recht - genau das abgelehnt, was Sie jetzt fordern.
({0})
Ich nenne ein Zweites: Es gibt den Sicherheitsbericht
der Bundesregierung, erstellt von der Bundesjustizministerin und von dem Bundesinnenminister, der übrigens
zurzeit auffällig zu Ihren Forderungen schweigt. Dort
steht:
Entgegen einer weit verbreiteten Allgemeinmeinung erscheint nach dem gegenwärtigen Stand der
kriminologischen Forschung die Abschreckungswirkung von Strafen eher gering für den Bereich
der leichten und mittelschweren Kriminalität. Jedenfalls gilt grundsätzlich, dass Höhe und Schwere
der Strafe keine messbare Bedeutung haben. Lediglich das messbare Entdeckungsrisiko ist relevant.
({1})
Beschlossen im Kabinett und mitgetragen von Ihnen.
Schauen wir uns einmal die Realität an! Genau derselbe Sicherheitsbericht formuliert an anderer Stelle:
Durch die Anwendung bestehender rechtlicher
Möglichkeiten ist mehr zu erwarten als durch gesetzgeberische Aktivitäten.
({2})
In ihm ist ferner formuliert:
Diese Verbesserungsmöglichkeiten fallen vorwiegend in die Zuständigkeit der Länder.
({3})
Herr Hoff, dann schauen wir uns doch einmal die Realität in den Ländern an. Es ist ja schon peinlich, wenn
Sie hier nach neun Jahren Verantwortung der CDU in
Hessen für die Sicherheitspolitik mit Rot-Grün kommen.
({4})
Diejenigen, die heute als jugendliche Straftäter auffällig
werden, waren im Kindergarten, als Koch Ministerpräsident in Hessen wurde.
({5})
Schauen wir uns die Realität an, was die Gesetze betrifft! Sie kommen damit, die Abschiebungsmöglichkeiten verbessern zu wollen. Wir haben sie verbessert.
Unter Rot-Grün sind bereits die Abschiebungsmöglichkeiten verbessert worden; 2004 haben wir sie im Rahmen des Zuwanderungskompromisses verbessert und
2007 gemeinsam bei dem neuen Gesetz. Was nützt es
denn, wenn ich die Möglichkeit für ein schnelleres Abschieben verbessere, in Hessen aber bei jugendlichen
Straftätern oder Heranwachsenden im Durchschnitt acht
Monate warten muss, bevor ich überhaupt ein Urteil bekomme? Da nützt es überhaupt nichts, zu verlangen,
schneller abschieben zu können.
({6})
Natürlich ist richtig - weil man mit Statistiken sehr
viel anfangen kann, gehen wir einmal in die Praxis -,
dass Prävention und Strafe dann am wirksamsten sind,
wenn die Strafe der Tat auf dem Fuß folgt. Bei mir im
Wahlkreis in Rüsselsheim gab es das sogenannte Rüsselsheimer Modell, das 20 Jahre erfolgreich war. Da
werden jugendliche Straftäter sofort in Abstimmung mit
der Staatsanwaltschaft auf der Grundlage eines vorher
festgelegten Katalogs dem Amtsrichter zugeführt, der
sofort die entsprechende erzieherische Maßnahme verhängt, sodass sie spätestens zwei, drei Wochen nach der
Tat ihre Strafe verbüßen. Meldung aus der Lokalzeitung
in der letzten Woche: endgültig eingestellt, und zwar unter der Verantwortung des Ministerpräsidenten Koch in
Hessen. So sieht die Realität aus; das ist das, was das
Problem erzeugt.
({7})
In meinem Wahlkreis gab es das sogenannte FliednerHaus, das über 20 Jahre lang erfolgreich in der Rehabilitation wirkte. Hessen liegt bei der Rückfallquote mit
80 Prozent über dem Durchschnitt, das Fliedner-Haus
hatte - akzeptiert im Umfeld und integriert ins Umfeld eine Rückfallquote von unter 50 Prozent. Im Jahre 2004
wurde es gegen den Widerstand aller Parteien vor Ort
eingestellt. Verantwortlich: die hessische Landesregierung unter Roland Koch.
Letzte Woche, passend zu Ihrer Kampagne, hieß es in
meinem Wahlkreis, die Ausbildungseinrichtung für die
Polizei wird geschlossen.
({8})
Verantwortlich dafür: die hessische Landesregierung unter Roland Koch.
({9})
Ich sage Ihnen: Nicht die Sprüche helfen den Bürgern,
sondern die realen Maßnahmen.
({10})
Hier kommt mir Herr Koch wie ein Schüler vor, der
in der Schule hundsmiserabel ist, weil er seine Hausaufgaben nicht macht, aber drei Tage vor dem Versetzungstermin laut nach mehr Hausaufgaben schreit. Das ist
nicht die Sicherheitspolitik von Sozialdemokraten. Wir
machen Hausaufgaben und nicht Sprüche.
Vielen Dank.
({11})
Als letzter Redner in der Aktuellen Stunde hat das
Wort der Kollege Dr. Jürgen Gehb von der CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hatte
mich zunächst gefreut, dass nach vielen Jahren über die
Themen Strafrecht, Jugendgewalt und Jugendkriminalität zu einer so prominenten Zeit in diesem Hohen Hause
debattiert wird. Inzwischen bedauere ich fast, dass das
Fernsehen hat miterleben dürfen, welche Debattenkultur
insbesondere auf der einen Seite dieses Hauses herrscht.
Man kann kaum einen Satz ausreden, ohne dass man niedergebrüllt wird.
({0})
Auch ist bezeichnend, dass die Grünen den Oberbürgermeister meiner Heimatstadt Kassel in einem offenen
Brief aufgefordert haben, den Ministerpräsidenten
Roland Koch entgegen jahrzehntelanger Praxis von dem
Neujahrsempfang auszuladen.
Weil ich gerade bei Debattenkultur bin: Ich würde in
einer Kernkraftdebatte nicht einmal Frau Roth unterstellen, dass sie sich von Herzen gewünscht hat, dass in
Tschernobyl der Gau passiert ist, oder dass sie sich
wünschte, dass ein solcher Gau in Biblis passieren
würde. Das würde ich keinem anderen Politiker unterstellen. Aber eine vergleichbare Unterstellung ist hier
gemacht worden.
({1})
- Es ging nicht um Tschernobyl. Ich habe extra ein anderes Beispiel gebracht, Frau Lambrecht. Das müssten sogar Sie verstehen.
({2})
Wie tief das Niveau gesunken ist, sieht man daran,
dass der Kulturchef der Zeit sogar das Opfer zum Täter
gemacht hat. Wie tief wollen wir bei diesem Thema eigentlich noch sinken?
({3})
Nachdem ich über Stil und Form der Debatte geredet
habe, will ich in den wenigen Minuten, die mir verbleiben, noch einige Bemerkungen zu Prävention und Repression machen. Sie tun hier gerade so, als würden wir
das gesamte Jugendstrafrecht in Bausch und Bogen wegen Untauglichkeit ablehnen. Weit gefehlt. Welchen
kleinen Teil haben wir denn hier in den Fokus genommen? Wir haben eben von der Kollegin Dyckmans gehört - auch mit Rücksicht auf die jungen Zuhörerinnen
und Zuhörer und Zuschauerinnen und Zuschauer -, dass
der überwiegende Teil der jungen Generation straffrei
groß wird, dass diese Jugendlichen vielleicht einmal einen Ladendiebstahl begehen.
Dann höre ich von Ihnen, Herr Stünker, dass die Tat
von zwei 19-Jährigen, die ihren Vater fesseln und ihm
ein Messer an den Hals setzen, ein jugendtypisches
Delikt sein soll. Ich habe die Gesetzesmaterialien zu
§ 105 JGG gelesen. Darin steht, dass die typischen Verfehlungen der Altersgruppe der Heranwachsenden - übrigens nur aus einer Zeit heraus zu verstehen, in der die
Volljährigkeit bei 21 Jahren lag - der Kohlenklau und
das Frisieren von Mopeds waren, aber nicht das Zusammenschlagen von Rentnern, das Vergewaltigen von
Frauen und sogar Tötungsdelikte.
({4})
Hier wird dauernd von der Fachwelt gesprochen.
Welche Fachwelt? Sind das die Pfeiffers, sind das die
Sonnens, ist das die alternative Richtervereinigung?
({5})
Allen anderen, die etwas sagen, wird wie dem Oberstaatsanwalt Reusch der Mund verboten. Gott sei Dank
haben Sie Ihrem SPD-Bezirksbürgermeister aus BerlinNeukölln nicht den Mund verbieten können.
({6})
Der hat ganz trocken gesagt: Ein 20-Jähriger mit
40 Vorstrafen ist nicht wie ein Pubertierender zu behandeln. Das ist ein Erwachsener. - 18-Jährige würden es
sich auf allen Rechtsgebieten verbitten, wie Jugendliche
behandelt zu werden. Sie wollen wählen, sie wollen geDr. Jürgen Gehb
wählt werden, sie wollen Auto fahren, und sie wollen alles machen, was auch Erwachsene machen können. Nur
bei dem einfachsten Rechtsgebiet und der Frage, ob man
jemanden töten darf oder nicht, soll der 19-Jährige wie
der 14-Jährige Ladendieb behandelt werden. Das machen wir nicht mit.
({7})
Dieses Thema ist doch nicht nur ein landesspezifisches bzw. ein hessisches Thema. Wir hätten die Videobilder, deren Aufnahme lange insbesondere von den
Grünen bekämpft worden ist, überhaupt nicht, wenn wir
Ihrer Sicherheitsphilosophie gefolgt wären.
({8})
Die Straftaten sind nun einmal in der Wahlkampfzeit geschehen. Nicht nur, dass Roland Koch sich nicht klammheimlich über die Straftaten gefreut hat, er hat sie auch
nicht bestellt. Der Justizsenator von Bremen hat gesagt,
im Grunde genommen sei er eigentlich schon wie ein
Täter. Wir wollen auch nicht, dass irgendwann gesagt
wird: Die Videoaufnahmen waren so undeutlich; wahrscheinlich waren es Roland Koch und Volker Bouffier,
die diese Tat begangen haben.
({9})
Es ist kurios, was Sie hier unterstellen!
({10})
Nur weil diese Phänomene in die Wahlkampfzeit gefallen sind, darf man sie doch nicht ausblenden. Wir sagen nicht: Darüber ist zu diskutieren, weil es in der
Wahlkampfzeit stattgefunden hat. Man muss es aber
auch thematisieren können, obwohl Wahlkampfzeit ist.
({11})
Ich höre, dieses Thema sei doch viel zu ernst, als dass
man es im Wahlkampf thematisieren könne. Wollen wir
uns denn über das Viehseuchengesetz oder über den Karneval unterhalten?
({12})
Wo und wann, wenn nicht im Wahlkampf, sollen ernste
Themen mit gesellschaftsrechtlichen Kernfunktionen
denn thematisiert werden? Das ist nicht Populismus, das
ist Demokratie. Diese Begriffe werden in diesem Hohen
Hause offensichtlich immer und immer wieder verwechselt.
({13})
Wir alle haben uns vorgenommen, weiterzuarbeiten.
Wir wollen alle Zitate ein bisschen vergessen. Ich kann
Ihnen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, versprechen: Wir werden der Aufforderung, jemanden „… zu können“, nicht folgen. Wir werden uns
bemühen, mit Ihnen sachlich weiterzuarbeiten, aber
ohne dabei Körperkontakt über Zunge und Gesäß herzustellen.
({14})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
({0})
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 17. Januar 2008,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.