Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich zur voraussichtlich letzten Plenarsitzung vor der Weihnachtspause.
({0})
Das wird uns alle in eine hoffentlich noch friedlichere
Stimmung versetzen, als sie diese Veranstaltungen ohnehin meist auszeichnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 sowie Zusatzpunkt 8 auf:
30 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des ArbeitnehmerEntsendegesetzes
- Drucksache 16/6735 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({1})
- Drucksache 16/7512 Berichterstattung:
Abgeordneter Paul Lehrieder
ZP 8 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Rainer Brüderle, Martin Zeil, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Eine Chance für den Wettbewerb - Kein
Monopolschutz für die Deutsche Post AG
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin
Andreae, Brigitte Pothmer, Christine Scheel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Post braucht Wettbewerb - Wettbewerb
braucht faire Bedingungen
- Drucksachen 16/6432, 16/6631, 16/7510 Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Barthel
Ich weise darauf hin, dass zur Annahme des Gesetzentwurfs zur Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes, über den wir später namentlich abstimmen werden, nach Art. 87 Abs. 3 des Grundgesetzes die absolute
Mehrheit, also 307 Stimmen des Hauses, erforderlich ist.
({3})
- Im Augenblick noch nicht, Herr Kollege Brauksiepe,
wenn ich mir diesen Hinweis erlauben darf.
Außerdem liegen zu diesem Gesetzentwurf je ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP und der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Bundesminister für Arbeit und Soziales, Olaf Scholz.
({4})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir werden heute einen Beschluss fassen, der die Grundlage dafür schafft, dass der zwischen Tarifvertragsparteien vereinbarte Mindestlohn für den Postsektor Wirklichkeit
werden kann. Das ist eine gute Botschaft.
({0})
Es ist eine gute Botschaft für diejenigen, die gerade
jetzt zur Weihnachtszeit bei schlechtem Wetter die
Briefe überall in Deutschland zustellen, weil sie nun
wissen, dass sie eine sicherere Zukunft haben, als es
Redetext
ohne die Entscheidung, die wir heute treffen, der Fall gewesen wäre. Es ist eine gute Botschaft für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die heute Briefdienstleistungen erbringen. Sie wissen nämlich, sie werden am
1. Januar nächsten Jahres einen Anspruch auf höhere
Löhne haben.
Es ist auch eine gute Botschaft für diejenigen, die bei
der „alten“ Post arbeiten und sich seit langer Zeit Sorgen
machen, was eigentlich aus ihren Löhnen werden soll,
wenn Wettbewerber der Post dadurch Konkurrenz machen, dass sie geringere Löhne zahlen, als bei der Post
gezahlt werden.
Deshalb profitieren heute viele Menschen davon, dass
der Deutsche Bundestag ein Gesetz beschließt, das ihr
Leben verbessert.
({1})
Es wird gesagt, das Gesetz, das wir heute beschließen,
und der Tarifvertrag, den wir nach der Beratung für allgemeinverbindlich erklären können, würden Arbeitsplätze kosten. Ich halte das für professoralen Unsinn.
Aber aus meiner Sicht ist es sehr wohl notwendig, etwas
dazu zu sagen. Stimmt dieses Argument eigentlich? Es
spricht nichts dafür, dass es ein gutes Argument ist.
Denn in Zukunft werden wir im Bereich der Post Wettbewerb haben. Der Wettbewerb wird ab dem 1. Januar
des nächsten Jahres sogar zunehmen, weil mehr Wettbewerbsmöglichkeiten auf diesem Markt geschaffen werden, als sie bis heute möglich sind.
Aber es findet ein Wettbewerb statt um das beste Management, um die beste Dienstleistungsstruktur und um
die besten Leistungen für die Kunden, die die Dienste
der Unternehmen in Anspruch nehmen. Aber es findet
kein Wettbewerb um die Frage statt, wer den geringsten
Lohn zahlt. Ich glaube, das ist eine gute Botschaft.
({2})
Das Argument, dass der Mindestlohn im Postbereich
Arbeitsplätze kostet, ist auch deshalb falsch, weil dabei
von der Vorstellung ausgegangen wird, Briefe würden
nicht befördert werden, weil die Beschäftigten 2 Euro
mehr Stundenlohn bekommen. Diese Vorstellung kann
man in keiner Weise nachvollziehen. Es ist nämlich nicht
so, dass das Postvolumen zu- oder abnimmt, je nachdem,
ob Menschen, die diese Briefe zustellen, nur 7 Euro oder
9,80 Euro pro Stunde verdienen.
({3})
Aber genau das ist die Behauptung, die hinter den Argumenten steckt, die einige uns hier immer wieder vortragen. Gerade in dem Bereich, über den wir heute debattieren, kann man sich nicht verschwurbelt auf das
internationale Geschäft und auf die Globalisierung beziehen. Wer seiner Oma einen Brief schreiben will, hat
keinerlei Probleme mit der Globalisierung. Es ist kein
Problem, wenn für Briefzusteller ein Mindestlohn von
9,80 Euro gezahlt werden wird.
({4})
Darum stimmt das Argument nicht; das muss man ganz
eindeutig sagen. Was wir heute beschließen, kostet keine
Arbeitsplätze. Das Gegenteil ist wahrscheinlich richtig.
Es wird Arbeitsplätze schaffen, weil es ein zukunftsträchtiger Markt ist, auf den sich Menschen gerne orientieren und auf dem sie aktiv werden wollen.
({5})
- Herr Westerwelle, seien Sie doch nicht so aufgeregt.
Wir haben in der Koalition vereinbart, dass wir in der
nächsten Zeit zwei weitere Gesetze voranbringen werden. Über diese will ich kurz ein paar Worte verlieren.
Es wird eine Weiterentwicklung des ArbeitnehmerEntsendegesetzes geben. Sie wissen, dass es mit der Entscheidung von heute bereits drei Branchen gibt, die in
das Entsendegesetz aufgenommen worden sind: die Baubranche, die Gebäudereinigung und jetzt die Briefdienstleistungen.
({6})
Wir haben uns darauf verständigt, dass sich bis zum März
des nächsten Jahres Branchen melden können, in denen
Arbeitgeber und Gewerkschaften gemeinsam der Überzeugung sind, dass es notwendig ist, einen branchenbezogenen Mindestlohn zu vereinbaren. Diese Branchen
werden wir dann in das Entsendegesetz zusätzlich aufnehmen.
({7})
Es wird immer wieder gefragt, welche Branchen das
sind. Das können wir im Deutschen Bundestag nicht beantworten. Denn wir sind Anhänger der Tarifautonomie
({8})
und werden deshalb beobachten, welche Branchen sich
melden. Ich wundere mich schon, wie schwer Sie sich
von der FDP mit Arbeitgebern tun, die sich zu solchen
Tarifentscheidungen bekennen. Ich glaube, Sie unterschätzen die Unterstützung für die Sozialpartnerschaft
und für Tarifverträge in Unternehmerkreisen. Es gibt
viele Unternehmer, die das für eine gute Sache halten
und die gerne einen heftigen Wettbewerb untereinander
führen, aber nicht indem sie ihre Arbeitnehmer schlechter bezahlen als die anderen.
({9})
Wir werden außerdem ein Gesetz aus der AdenauerZeit in Richtung der heutigen Verhältnisse weiterentwickeln.
({10})
Das Mindestarbeitsbedingungengesetz, das seit 1952
existiert, soll so modern gemacht werden, dass in Branchen, in denen es keinerlei Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gibt und in denen sehr schlechte
Löhne gezahlt werden, dafür gesorgt werden kann, dass
sich solche Bedingungen nicht weiter ausbreiten können.
Ich halte das für notwendig. Ich will aber auch ganz
klar sagen: Es ist unser Wunsch, dass es im Regelfall
überhaupt keine Regelung gibt, weil sich im normalen
Tarifgeschehen alles von selbst regelt.
({11})
Unser Wunsch ist, dass wir, wenn das nicht funktioniert,
mithilfe des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes dafür sorgen, dass tarifliche Vereinbarungen überall gelten. Wir
brauchen aber zusätzlich die Möglichkeit, um dort, wo
schlimme soziale Missstände herrschen, einzugreifen
und anständige Löhne durchzusetzen. Ich glaube, das ist
unsere Aufgabe.
({12})
Ich glaube im Übrigen, dass wir mit dem, was wir
hier heute tun, einen kleinen Beitrag zur Beantwortung
einer Frage leisten, die uns viele Menschen derzeit stellen. Sie sagen: „Es gibt einen Aufschwung; das sieht
man.“ Das kann man zum Beispiel beim Nachbarn sehen, der früher arbeitslos war und jetzt einen Job hat.
„Ich persönlich merke von der positiven wirtschaftlichen
Entwicklung aber nichts.“ Weil ein großer Teil der Menschen das sagt, müssen wir eine Antwort auf die Frage
geben, was wir dazu beitragen können, damit sich auch
bei ihnen etwas positiv entwickelt. Eine Absicherung der
Löhne nach unten ist natürlich ein guter Beitrag dazu,
dass der Aufschwung auch tatsächlich bei allen Menschen in unserem Land ankommen kann.
({13})
Galileo Galilei hat es schwer gehabt, als er die Auffassung durchsetzen wollte, dass die Erde keine Scheibe
ist.
({14})
Wir haben es in Deutschland gegenwärtig schwer, die
Behauptung zu verbreiten, dass in fast allen mit uns vergleichbaren Ländern Mindestlöhne Realität sind.
({15})
Denen, die skeptisch sind, sage ich: Schauen Sie sich um
in der Welt, und Sie werden feststellen, dass es in fast allen Staaten, die mit uns vergleichbar sind, gesetzliche
Mindestlöhne gibt, und sie haben dort weder Aufschwung noch Wohlstand noch Vollbeschäftigung behindert. Das ist eine Mär, die uns hier erzählt wird.
({16})
Sogar in den Vereinigten Staaten von Amerika gibt es
Mindestlöhne. Amerikaweite Mindestlöhne, die der
Kongress beschließt und die er gerade vor kurzem wieder angehoben hat! Das ist ein Beispiel dafür, dass manches von dem, was hier über die Gefahren der Mindestlöhne erzählt wird, schlichtweg eine Erfindung ist, für
die man in keinem Land der Welt einen Beweis findet.
({17})
Wir haben in Europa ein sehr gutes Beispiel: Großbritannien. In Großbritannien wurden Ende der 90erJahre Mindestlöhne eingeführt; übrigens, nachdem dort
Reformen gemacht worden sind, die dem entsprechen,
was wir hier als Arbeitsvermittlungsreformen durchgeführt haben.
({18})
- „Hartz-Reformen“ sagen einige. Ich habe aber schon
immer „Arbeitsvermittlungsreformen“ gesagt. - Wir haben also ebenso wie Großbritannien Arbeitsvermittlungsreformen durchgeführt. Nach diesen Reformen
sind dort Mindestlöhne eingeführt worden. All die Fragen, über die wir hier zu diskutieren haben, kann man
mit Blick auf dieses Land beantworten. Das gilt zum
Beispiel für die Frage: Kostet das Arbeitsplätze? In
Großbritannien hat das keine Arbeitsplätze gekostet.
Dort herrscht Vollbeschäftigung. Man braucht sogar eine
Arbeitskräftezuwanderung, um alle im Land existierenden Arbeitsplätze besetzen zu können. Manche Leute,
die früher nach Deutschland gekommen sind, um hier
eine Saisonarbeit auszuführen, gehen jetzt übrigens nach
Großbritannien - wegen der Mindestlöhne. Das ist ein
Beleg dafür, dass man Wachstum mit solchen Mitteln sogar befördern kann.
({19})
Den vielen Zwischenrufern, die sagen, dass es da
zwar Mindestlöhne, aber keinen Kündigungsschutz
gibt, will ich noch etwas sagen: Ich bitte Sie, sich auch
diesbezüglich ein bisschen in der Welt umzuschauen.
({20})
Man sollte über die Globalisierung nicht nur reden und
sagen: Es soll da draußen eine Welt geben, und die ist
schwierig. - Globalisierung heißt auch, dass man sich in
der Welt umschaut. Wenn man das tut, stellt man fest,
dass die Behauptung, dass es anderswo keine Kündigungsschutzbestimmungen gibt, eines der meistverbreiteten Gerüchte in diesem Land ist. Viele Länder in Europa, die Kündigungsschutzregelungen haben, die härter
und strikter als in der Bundesrepublik Deutschland sind,
haben zugleich Mindestlohnregelungen. Deshalb ist auch
diese Behauptung kein Beweis, sondern nur ein weiteres
nicht überzeugendes Argument gegen das, was wir hier
heute tun.
({21})
Meine Damen und Herren, Politik ist dazu da, dass
sich das Leben der Menschen verbessert. Wir leisten
heute mit diesem Gesetz einen Beitrag dazu, dass das
Leben vieler Menschen ab dem 1. Januar nächsten Jah14104
res besser wird. Ich glaube, darauf können wir gemeinsam stolz sein.
Schönen Dank.
({22})
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Guido
Westerwelle, FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Minister, Ihnen geht es heute nicht um den
Schutz von Arbeitnehmern.
({0})
Ihnen geht es heute darum, einen Staatsmonopolisten
mit dem Namen Post zu schützen.
({1})
Das ist das Anliegen, das heute durch den Deutschen
Bundestag gebracht wird.
({2})
Wenn es Ihnen darum gehen würde, Politik für die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu machen, und
wenn es Ihnen darum gehen würde, die Gerechtigkeitslücke zu schließen, dann müssten Sie unserem Volk die
Nettofrage beantworten: Was nutzt den Arbeitnehmern
denn ein Bruttomindestlohn, der auf dem Papier steht,
wenn Sie als Regierung ihnen durch Steuer- und Abgabenerhöhungen immer weniger netto in der Tasche belassen? Das ist die soziale Frage, die beantwortet werden
muss.
({3})
Diese Bundesregierung beklagt eine Gerechtigkeitslücke, die sie selber geschaffen hat.
({4})
Sie haben dafür gesorgt, dass die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer weniger Geld in der Tasche haben als
im vorigen Jahr. Jetzt wundern Sie sich, dass die Mehrheit unseres Volkes sagt: Der Aufschwung geht an uns
vorbei.
({5})
Eine durchschnittliche vierköpfige Familie hat aufgrund Ihrer Steuer- und Abgabenerhöhungspolitik in
diesem Jahr 1 600 Euro weniger zur Verfügung als im
letzten Jahr. Da können Sie doch nicht zulasten der Wirtschaft mit Mindestlöhnen kommen! Sie müssen den
Handlungsspielraum des Staates endlich auf seine Kernaufgaben begrenzen. Greifen Sie den Bürgern weniger in
die Tasche.
({6})
Dann haben die Menschen mehr Netto vom Brutto. Das
ist sozial und im Sinne derjenigen, die arbeiten und den
Karren in Deutschland ziehen.
({7})
Herr Minister, weil Sie das Entsendegesetz angeführt
haben, möchte auch ich etwas dazu sagen. Das Entsendegesetz ist Mitte der 90er-Jahre verabschiedet worden,
({8})
um Deutschland bzw. deutsche Unternehmen in Anbetracht der EU-Osterweiterung vor ausländischer Billigstkonkurrenz und vor Dumpingangeboten zu schützen.
({9})
Mit diesem Gesetz verfolgte man also das Ziel, deutsche
Unternehmen zu schützen, und zwar vorzugsweise vor
osteuropäischer Dumpingkonkurrenz. Jetzt verwenden
Sie das Entsendegesetz, um einen deutschen Monopolisten vor deutscher Konkurrenz zu schützen, und das zulasten von Zehntausenden Arbeitsplätzen, die dadurch
über die Wupper gehen.
({10})
Das, was Sie hier beschließen, ist unsozial.
({11})
Meine Damen und Herren, es ist bemerkenswert, dass
ein sozialdemokratischer Arbeitsminister allen Ernstes
amerikanische Verhältnisse fordert, die Sie sonst wie der
Teufel das Weihwasser fürchten. Ich will übrigens, anders als Sie, keine amerikanischen Verhältnisse.
({12})
Deswegen möchte ich auch nicht, dass wir in Deutschland ein Entsendegesetz mit Mindestlöhnen à la Amerika
beschließen. Dort gibt es keine Tarifautonomie, dort gibt
es keine gut organisierten Interessenvertretungen auf Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite, und dort gibt es keinen Kündigungsschutz, wie wir ihn kennen. Sie sollten
einmal auf einem SPD-Parteitag sagen, dass Sie uns allen Ernstes empfehlen, in Deutschland für amerikanische Verhältnisse zu sorgen.
({13})
Mal sehen, ob Sie dort lebend herauskommen.
({14})
Im Übrigen möchte ich festhalten, dass es in keinem
Land der Welt einen Mindestlohn in Höhe von 9,80 Euro
gibt. Das, was Sie beschließen, ist der höchste Mindestlohn der Welt. Auch das muss, wenn es um die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes geht, gesagt werden.
Viele Abgeordnete aus den Reihen der Union argumentieren genauso, wie wir es tun; Ihre Begeisterung
steht Ihnen doch ins Gesicht geschrieben. Ich stelle fest,
dass Frau Wöhrl, die Parlamentarische Staatssekretärin
im Bundeswirtschaftsministerium, gesagt hat:
Was vereinbart wurde, ist ökonomisch falsch. Der
Mindestlohn führt zu Arbeitsplatzverlusten und
verhindert, dass mehr Geringqualifizierte eine Arbeit finden.
({15})
Sie ist eine kluge Parlamentarische Staatssekretärin.
Aber dass der Bundeswirtschaftsminister in dieser Debatte zulasten des Mittelstandes hier fehlt, ist nicht einmal durch ein Geburtstagsfest zu erklären.
({16})
Ich möchte zitieren, was der Ministerpräsident des
Landes Thüringen frisch am heutigen Tage dazu veröffentlicht.
({17})
Er sagt:
Es ist schön, wenn ein Mindestlohn gezahlt wird.
Wenn er aber zum Abbau von Arbeitsplätzen und
zur Stabilisierung eines Monopols führt, dann lehne
ich ihn ab.
Das sagte der Ministerpräsident am heutigen Tage.
Weil in der Debatte noch ein Vertreter der wirtschaftlich denkenden Unionsabgeordneten sprechen wird,
nämlich Herr Kollege Meyer, richte ich das Wort an ihn:
Wenn Sie selbst am heutigen Tage sagen, dieses Gesetz
sei - wörtlich - „ein bisschen dazu missbraucht“ worden, „die Wettbewerbssituation für die Zukunft im Interesse der Post zu beeinflussen“, dann können Sie, meine
Damen und Herren von der Union, heute nicht zustimmen.
({18})
Nun sprechen wir gelegentlich auch über das, was mit
einem angeblichen Niedriglohn und mit Billigstkonkurrenz gemacht wird. Wir wollen, an die Adresse der Sozialdemokraten gerichtet, eines festhalten: Sie sagen,
dass die privaten Wettbewerber schäbige Löhne anbieten.
({19})
- „Richtig“ rufen Sie von der SPD. - Ich möchte Ihnen
eines sagen: Sie als SPD sind selber indirekt an der
PIN AG beteiligt.
({20})
Ihnen gehört ein Teil des Unternehmens über ihre Vermögensbeteiligungen. Sie können doch nicht hier im
Deutschen Bundestag die Politik eines Unternehmens als
unsozial kritisieren, das Ihnen selbst zum Teil gehört.
Das, was Sie hier machen, ist eine unglaubwürdige Politik.
({21})
Kasse machen mit niedrigen Löhnen und hier darüber
klagen - das ist wirklich ein starkes Stück.
({22})
Schließlich wollen wir auch einmal darüber reden,
warum denn die Löhne bei den privaten Wettbewerbern
niedriger als die sind, die von dem Staatsmonopolisten
Post gezahlt werden. Das wissen viele unserer Bürgerinnen und Bürger nicht. Die Post zahlt keine Mehrwertsteuer in Höhe von 19 Prozent, während die Privaten die
volle Mehrwertsteuerlast zu tragen haben. Ein solcher
Kostenvorteil ist unfair. Dass Private dann versuchen,
anders zurechtzukommen, ist marktwirtschaftlich nachvollziehbar, wenn auch sozial falsch. Deswegen wäre es
Ihre Aufgabe, wenigstens an das Mehrwertsteuerprivileg
heranzugehen. Aber nicht einmal das trauen Sie sich
mittlerweile.
({23})
Sie - als Deutscher Bundestag - beschließen ein Gesetz und nutzen die gesetzgeberische Macht des Staates,
damit Anteile des Staates wertvoller werden. Dieser
Staat, der durch die Bundesregierung vertreten wird, hat
durch die Mindestlohnentscheidung allein durch das
Aktienpaket, das Deutschland an der Post hält, einen Gewinn von ungefähr 1,5 Milliarden Euro gemacht. Es ist
ein einmaliger Vorgang, dass der Gesetzgeber seine
Macht nutzt, damit der Staat unter Ausschaltung privater
Konkurrenz Kasse machen kann. Normal ist das nicht,
und auch mit Marktwirtschaft hat das nichts zu tun.
({24})
Deswegen appelliere ich an Sie: Das ist eine der folgenschwersten Entscheidungen gegen die soziale Marktwirtschaft,
({25})
weil sie nämlich die Tarifautonomie infrage stellt und
diese durch staatliche Lohnfestsetzung ersetzen will.
Dass das von Linken, von Sozialdemokraten und auch
von einem Teil der Grünen gewollt ist, ist nichts Neues.
Dass Sie von der Union das mitmachen, ist enttäuschend
bis empörend.
({26})
Wo sind denn Ihre Mittelständler? Wo sind denn Ihre
Leute, die die soziale Marktwirtschaft und Ludwig
Erhard noch ernst nehmen? Dass Sie, Herr Kollege
Brauksiepe, als Sozialdemokrat damit vielleicht nicht
einverstanden sind,
({27})
kann ich verstehen. Aber wo sind denn die Mittelständler der Union? Sie müssten jetzt einmal ihre Loyalität
zur Verfassung zeigen. Soziale Marktwirtschaft ist besser als bürokratische Staatswirtschaft. Diese Festsetzung
staatlicher Löhne ist der Weg in die Planwirtschaft. Dann
können wir auch gleich die Preise festsetzen. Das ist
DDR - nur ohne Mauer. Wir Freien Demokraten wollen
etwas anderes.
({28})
Der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben jetzt weite Ausflüge in viele politische Felder gehört, die zum Teil wenig mit dem zu tun haben, was
heute hier zur Debatte steht.
({0})
Ich will mit ein paar Hinweisen zu dem beginnen, was
Sie, Herr Kollege Westerwelle, gesagt haben. Sie müssten Ihr Büro einfach bitten, die Redetexte ein bisschen
zu aktualisieren.
({1})
Wahr ist, dass Sie vor vier Wochen in diesem Hause
dagegen gestimmt haben, dass der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung erneut - und zwar auf 3,3 Prozent gesenkt wird.
({2})
Wahr ist aber auch, Herr Kollege Westerwelle, dass dieses Haus das trotzdem so beschlossen hat. Wir haben Arbeitgeber und Arbeitnehmer in dieser Legislaturperiode
allein bei der Arbeitslosenversicherung um 25 Milliarden Euro pro Jahr entlastet. Das ist die Tendenz von
Brutto und Netto in Deutschland. Nehmen Sie das bitte
einmal zur Kenntnis, auch wenn Sie es vergeblich bekämpft haben.
({3})
Es mag ja sein, Herr Kollege Westerwelle, dass Sie
die für die Briefdienstleister vereinbarten Löhne für zu
hoch halten. Wir, die Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU, halten uns aus materiellen Fragen der Lohnfindung heraus.
({4})
Aber auch diesbezüglich sollten Sie die Realität zur
Kenntnis nehmen. Das Briefdienstleistergewerbe ist die
dritte Branche, die in das Entsendegesetz aufgenommen
wird. Sowohl in der Baubranche als auch bei den Gebäudereinigern haben wir in den verschiedenen Entgeltstufen, die es da gibt, in der Spitze Mindestlöhne im zweistelligen Bereich, also von über 10 Euro. Es ist schlicht
die Unwahrheit, wenn man behauptet, für die Briefzusteller würden die höchsten Mindestlöhne überhaupt vereinbart. Nehmen Sie in diesen Fragen bitte wenigstens
die Realität zur Kenntnis, Herr Kollege Westerwelle.
({5})
Ich komme nun zu dem, was hier heute tatsächlich zur
Abstimmung steht. Die Große Koalition hat sich im letzten Juni darauf verständigt, in diesem Land keinen flächendeckenden, einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn
einzuführen, sondern tariflichen Mindestlohnvereinbarungen dort zum Durchbruch zu verhelfen, wo es von
den Tarifpartnern gewünscht wird. Wir haben gesagt,
dass wir die Tarifpartner stärken wollen. Wir wollen sie
nicht ersetzen. Das ist der richtige Weg, der gemäß der
Vereinbarung von Meseberg von der Bundesregierung
für die Briefdienstleistungen eingeschlagen worden ist.
Wir sind inzwischen alle um ein paar Erfahrungen reicher. Wir haben inzwischen zwei neue Arbeitgeberverbände. Wir haben eine neue sogenannte Gewerkschaft,
die erste, die für niedrige Löhne kämpft.
({6})
Für uns als CDU/CSU bleibt es dabei: Wer für tarifliche
Mindestlöhne ist, muss ein Interesse daran haben - wir
haben dieses Interesse -, dass möglichst viele Beteiligte
einer Branche in eine freiwillige Verhandlungslösung
einbezogen werden.
Deswegen ist das Kriterium der 50-prozentigen Tarifbindung auch nicht willkürlich. Wir wissen, dass eine
Allgemeinverbindlichkeitserklärung in einer sozialen
Marktwirtschaft ein scharfes Schwert ist. Deswegen ist
es unserer Meinung nach notwendig, dass die Mehrheit
der Beteiligten einer Branche eine Vereinbarung
schließt; diese muss dann zur Not auch für die Minderheit gelten. Es darf nicht umgekehrt sein, sodass Minderheiten für Mehrheiten verhandeln.
({7})
Deswegen haben wir unserem Koalitionspartner
schon in der letzten Sitzung des Koalitionsausschusses
vorgeschlagen, einen Mindestlohn für Briefdienstleister
einzuführen, wenn der entsprechende Betrieb oder die
selbstständige Betriebsabteilung überwiegend gewerbsoder geschäftsmäßig Briefsendungen für Dritte befördert. Das war unser Vorschlag: ein Mindestlohn für
Briefdienstleister, für diejenigen, die überwiegend Briefdienstleistungen erbringen - für wen auch sonst, liebe
Kolleginnen und Kollegen?
Leider hat sich unser Koalitionspartner noch vor wenigen Wochen außerstande gesehen, diesen Weg mitzugehen. Es hat dann Äußerungen von unserem Koalitionspartner gegeben, man solle das Thema liegen
lassen.
({8})
Wir haben als CDU/CSU immer klar gesagt: Die Tür
steht offen. Denn natürlich sehen wir, dass es in diesem
Sektor ein Problem gibt, das gelöst werden muss. Wir
sind froh, dass die Tarifvertragsparteien uns inzwiDr. Ralf Brauksiepe
schen recht gegeben haben. Wir haben gesagt: Wir wollen einen Mindestlohn für diejenigen, die überwiegend
Briefdienstleistungen erbringen. Es ist gut, dass die Tarifvertragsparteien dem nun nachgekommen sind und einen neuen Tarifvertrag abgeschlossen haben, in dem sie
exakt das vereinbart haben, was wir für sinnvoll halten.
({9})
Das Struck’sche Gesetz gilt auch in dieser Frage:
Nicht nur die Tarifvertragsparteien haben sich bewegt,
auch unser Koalitionspartner hat das inzwischen akzeptiert. So wird dieses Gesetz heute in geänderter Fassung
beschlossen, nachdem klargemacht wurde: Wir machen
einen Mindestlohn für diejenigen, die überwiegend
Briefdienstleistungen erbringen.
Im Ergebnis können wir feststellen: Wir haben unsere
Forderungen durchgesetzt, wir haben Kurs gehalten, und
wir halten Wort. Deswegen ist es gut, wenn unter den
von uns formulierten vernünftigen Bedingungen der
Mindestlohn für Briefdienstleister jetzt kommt.
({10})
Ich will noch einmal deutlich sagen: Wir wollen
Wettbewerb in der Briefdienstleistungsbranche, und es
wird diesen Wettbewerb geben. Sie sprachen von
Ludwig Erhard, Herr Kollege Westerwelle. Deshalb will
ich Ihnen sagen: Dieses Land ist nach dem Zweiten
Weltkrieg nicht durch einen Wettbewerb um möglichst
niedrige Löhne wirtschaftlich stark geworden, dieses
Land ist durch Wettbewerb um die besten Ideen, um
Qualität, um Innovation stark geworden. Ludwig Erhard
hat gesagt: Wohlstand für alle! Das haben Sie einmal unterstützt. Wohlstand für alle ist etwas anderes als Tariflöhne oder Mindestlöhne unter 6 Euro. Wohlstand für
alle ist damit nicht zu machen. Wir stehen für Wohlstand
für alle und nicht für Billiglöhne, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
({11})
Natürlich schmerzen uns Ankündigungen, dass Arbeitsplätze verloren zu gehen drohen. Wir wissen allerdings, dass die Große Koalition keine Möglichkeit hatte,
solchen Drohungen durch Tun oder Unterlassen zu entgehen; denn die einen haben gedroht, 32 000 Mitarbeiter
zu entlassen, wenn wir nichts machen, und die anderen
haben mit Entlassungen gedroht für den Fall, dass wir
etwas machen. Deshalb sage ich klipp und klar - ich
denke, das kann ich für die ganze Große Koalition sagen -:
Wir lassen uns durch Drohungen nach dem Motto „Wer
droht mit mehr Entlassungen?“ nicht einschüchtern. Wir
haben uns auf Grundsätze verständigt, die vernünftig
sind. Weil diese Voraussetzungen erfüllt sind, kann es
nun einen tariflichen Mindestlohn für Briefdienstleister
geben.
({12})
Was lehren uns die letzten Monate? Zunächst einmal:
CDU und CSU halten sich an Vereinbarungen. Das heißt
auch: Es kommt nur das, was die Große Koalition vereinbart hat. Für die Zukunft heißt das im Übrigen: Wir,
CDU und CSU, versuchen weder, Branchen zu überreden, Anträge zur Aufnahme in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz zu stellen, noch, das nicht zu tun. Wir respektieren die Entscheidung der Tarifvertragsparteien,
ob sie wollen, dass ihre Branche in das ArbeitnehmerEntsendegesetz aufgenommen wird oder nicht.
Wir haben in der Koalition vereinbart, dass sich die
Branchen bis zum 31. März 2008 melden können. Dann
machen wir ein einziges Gesetz, nicht etwa eines je
Branche. Das heißt allerdings, dass Tricksereien in einzelnen Branchen das ganze Verfahren verzögern können.
Deswegen empfehle ich allen in den Branchen, gerade
den Arbeitgebern: Versuchen Sie nicht, einen Sport daraus zu machen, das Kriterium, dass 50 Prozent der in
der Branche Beschäftigten der Tarifbindung unterliegen
müssen, möglichst knapp zu erfüllen! Das kann ein Spiel
mit dem Feuer werden. Es muss darum gehen, möglichst
viele - möglichst alle - in solche Branchenvereinbarungen einzuschließen. Das ist das, was die CDU/CSU
in dieser Frage anstrebt.
({13})
Man mag in diesen Fragen unterschiedlicher Auffassung sein. Deshalb ist es wichtig, sich ein paar Fakten
zum Thema Mindestlohn in Erinnerung zu rufen. Zu diesen Fakten gehört: Es gab und gibt in Deutschland aus
guten Gründen keinen flächendeckenden gesetzlichen
Mindestlohn. Das hat keine Partei in der Vergangenheit
getan.
Es gibt das Arbeitnehmer-Entsendegesetz seit 1996,
um tariflichen Mindestlohnvereinbarungen in der
Bauwirtschaft den Weg zu bereiten. Es wurde also unter
einer Koalition von CDU/CSU und FDP eingeführt.
({14})
In der jetzigen Großen Koalition wurde eine Erweiterung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes um die Gebäudereiniger und die Briefdienstleister beschlossen.
Das ist das, was hinsichtlich der gesetzlichen und tariflichen Mindestlöhne in der Geschichte dieses Landes
gemacht worden ist. Das heißt: CDU, CSU, SPD und
FDP sind die Parteien für tarifliche Mindestlöhne in
Deutschland - diese und keine anderen, ob es Ihnen
passt oder nicht.
Wahr ist auch: Die Union war immer dabei. Alle tariflichen Absicherungen von Mindestlöhnen sind unter der
CDU-Kanzlerin und den CDU-Kanzlern eingeführt worden. Wahr ist auch: Sie von den Grünen waren nie dabei.
Sie haben viel geredet, getan haben Sie in diesem Bereich nichts. Nicht eine Branche haben Sie in sieben Jahren rot-grüner Regierung in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen, obwohl es das Gesetz schon gab.
Auf eine späte Erkenntnis können Sie sich also nicht berufen. Sie reden viel, getan haben Sie nichts. Als Sie an
der Regierung waren, ist die Arbeitslosigkeit gestiegen.
Eine Absicherung der Menschen im Lohnbereich nach
unten hat es bei Ihnen nicht gegeben. Das ist die Wahrheit.
({15})
Die FDP war auch schon einmal besser. Sie waren damals, als der tarifliche Mindestlohn erfunden wurde, dabei. Sie waren Miterfinder dieses tariflichen Mindestlohns.
({16})
Deswegen sagt Norbert Blüm bis heute zu mir, dass der
Heinrich Kolb damals im Wirtschaftministerium ein guter Mann war. Er hat mitgeholfen, dem tariflichen Mindestlohn den Weg zu bahnen.
({17})
Herr Westerwelle, ich habe auch das noch einmal nachgelesen: Sie sind genau rechtzeitig zur Verabschiedung
des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes 1996 in den Bundestag nachgerückt. Herzlich Willkommen also im Club
derer, die für tarifliche Mindestlöhne in diesem Land
streiten.
({18})
Herr Kollege Brauksiepe, darf der Kollege Kolb eine
Zwischenfrage stellen?
Selbstverständlich.
Einspruch, Herr Kollege Brauksiepe! Weil ich genau
wusste, dass das von Ihrer Seite kommen würde, habe
ich mir das noch einmal im Detail angeschaut.
Sie haben sich der Stimme enthalten; das ist wahr.
Wenn Sie sich das auch noch einmal anschauen, dann
werden Sie feststellen, dass das Arbeitnehmer-Entsendegesetz von damals mit dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz von heute allenfalls noch die Überschrift gemein
hat.
Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz in seiner ursprünglichen Fassung war auf September 1999 begrenzt. Das
heißt, das, was Liberale immer fordern, nämlich einen
Eingriff zeitlich zu begrenzen, war Gegenstand dieses
Arbeitnehmer-Entsendegesetzes in seiner ursprünglichen Fassung. Es war auf den Baubereich begrenzt und
an die Voraussetzung der Zustimmung des Tarifausschusses geknüpft. All das wurde von Rot-Grün in dem
Gesetz zu Korrekturen in der Sozialversicherung und zur
Sicherung der Arbeitnehmerrechte im Dezember 1998
beseitigt.
({0})
Deswegen ist dieses Gesetz heute ein vollkommen anderes als das damalige. Deshalb weise ich Ihren Vorwurf
mit Nachdruck zurück.
({1})
Stimmen Sie mir zu?
({2})
Herr Kollege Kolb, zunächst einmal bitte ich, zur
Kenntnis zu nehmen, dass die Große Koalition unabhängig von dem Wortlaut des aktuell geltenden Arbeitnehmer-Entsendegesetzes vereinbart hat, dass nur die Branchen ins Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen
werden, bei denen es beide Tarifparteien wollen
({0})
und bei denen es eine Tarifbindung von über 50 Prozent
gibt. Das ist nicht die Formulierung in dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz in der heutigen Fassung, sondern in
der Großen Koalition politisch vereinbart. Ich bitte, das
einmal zur Kenntnis zu nehmen.
({1})
Da ich diese Zwischenfrage erwartet habe, kann ich
Ihnen auch bestätigen,
({2})
dass Sie sich, nachdem Sie mit Norbert Blüm alle Vorarbeiten getroffen hatten, am Ende als einer von drei Fraktionskollegen an dieser Stelle enthalten haben. Das ist
wahr.
({3})
Das sei Ihnen nach den guten Vorarbeiten aber verziehen.
Ich will Sie aber einmal auf die Zielsetzung hinweisen, die damals im Gesetzentwurf der Bundesregierung
genannt worden ist. Es wurde gesagt: Es sollen gespaltene Arbeitsmärkte und die aus ihnen resultierenden sozialen Spannungen vermieden werden. - Das ist doch
ein gutes Ziel. Darum ging es damals, und darum geht es
beim Arbeitnehmer-Entsendegesetz auch heute.
({4})
Darum ist es richtig, dass wir das damals gemacht haben.
Sie waren damals viel besser, als Sie uns heute selbst
suggerieren wollen, lieber Herr Kollege Kolb.
({5})
Am Ende eines langen Prozesses können wir heute
den Mindestlohn für Briefdienstleister auf den Weg bringen. Es ist ein Erfolg der Großen Koalition, dass das unter diesen Bedingungen gelungen ist. Es war ein nicht
ganz einfacher Weg. Völlig klar ist, dass wir die EntDr. Ralf Brauksiepe
wicklung auf dem Arbeitsmarkt - in allen Branchen im
Übrigen - sorgfältig beobachten werden. Für uns ist völlig klar: Wir gehen zuversichtlich in die weitere Arbeitsmarktpolitik. Wir haben heute 1,3 Millionen Arbeitsplätze im sozialversicherungspflichtigen Bereich mehr
als zu Beginn der Amtszeit der Regierung Merkel. Wir
sehen der weiteren Entwicklung sehr zuversichtlich entgegen. Deswegen können wir heute dem Mindestlohn
für Briefdienstleister zustimmen.
Herzlichen Dank.
({6})
Oskar Lafontaine ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Meine Fraktion stimmt der Vorlage zur Einführung
eines Mindestlohns zu. Wir stimmen auch der eröffnenden Bemerkung des Bundesarbeitsministers zu, dass dieses Gesetz eine positive Nachricht für viele Menschen
ist, die davon betroffen sind. Insofern werden wir diesem
Gesetzentwurf zustimmen.
({0})
Wir sind auch der Auffassung, dass die bisher gegen
den Mindestlohn ins Feld geführten Argumente nicht
tragen. Das gilt insbesondere für die Argumente, die
Kollege Westerwelle von der FDP hier vorgetragen hat.
Ich möchte Ihnen, Herr Kollege Westerwelle, vorhalten,
dass Sie ein fundamentales Missverständnis von der
Funktionsweise der sozialen Markwirtschaft haben.
({1})
Dieses fundamentale Missverständnis besteht darin, dass
der Wettbewerb in einer sozialen Markwirtschaft auch
einen Wettbewerb um möglichst niedrige Löhne zulässt.
Genau das haben Sie hier vorgetragen. Dies hat mit der
Idee der sozialen Marktwirtschaft überhaupt nichts zu
tun. Auch insoweit kann ich die Ausführungen des Bundesarbeitsministers hier unterstützen.
An die Adresse der CDU/CSU möchte ich sagen, dass
in Ihren Reihen einst ein Bundestagsabgeordneter war,
Franz Böhm, der die Funktionsweise der sozialen Marktwirtschaft an dieser Stelle genau erläutert hat. Er wies
darauf hin, dass der Wettbewerb eine staatliche Veranstaltung ist
({2})
- das ist ein Zitat; wenn Sie über die Aussage eines der
Gründerväter der Freiburger Schule lachen, qualifiziert
Sie das nicht gerade ({3})
und dass diese staatliche Veranstaltung natürlich sicherstellen muss, dass es keinen Wettbewerb um niedrige
Löhne geben darf. Ihren Ausführungen liegt eine völlig
abenteuerliche Vorstellung zugrunde.
({4})
Sie haben hier nicht nur ein fundamentales Missverständnis von sozialer Marktwirtschaft offenbart, sondern
Sie liegen auch mit Ihrem Vorwurf völlig falsch, hier
ginge es darum, ein Abdriften in die Staatswirtschaft zu
verhindern. Was der Staat hier macht, ist genau das, was
in einer sozialen Marktwirtschaft seine Aufgabe ist: Er
legt die Rahmenbedingungen fest, zu denen der Wettbewerb organisiert werden soll. Er möchte darauf hinwirken, dass Wettbewerb um die besseren Produkte, um
die besseren Managementmethoden, um die besseren
Dienstleistungen, um die besseren Verfahren usw. entsteht, aber nicht um möglichst niedrige Löhne. Das müssen Sie endlich akzeptieren, sonst können wir in diesem
Hause nicht auf gleicher Grundlage über soziale Marktwirtschaft diskutieren.
({5})
Wenn Sie hier ein Abgleiten in die Staatswirtschaft
monieren, dann liegen Sie völlig falsch. Hier setzt der
Staat die notwendigen Rahmenbedingungen. Die Forderung, die Sie hier vortragen, wäre tatsächlich ein Abgleiten in die Staatswirtschaft, indem der Private ganz niedrige Löhne zahlt und der Staat den Rest drauflegen muss.
Das wäre doch ein Abgleiten in die Staatswirtschaft, die
im Grunde genommen von niemandem gerechtfertigt
werden kann.
({6})
Deswegen ist über Mindestlöhne eine ordnungspolitische Debatte zu führen. Wenn Sie die Freiburger Schule
nicht überzeugt, Herr Kollege Westerwelle, dann habe
ich für Sie ein Buch mitgebracht: Adam Smith, Der
Wohlstand der Nationen. Aus diesem Buch möchte ich
Ihnen einmal vorlesen:
Der Mensch ist darauf angewiesen, von seiner Arbeit zu leben, und sein Lohn muß mindestens so
hoch sein, daß er davon existieren kann. Meistens
muß er sogar noch höher sein, da es dem Arbeiter
sonst nicht möglich wäre, eine Familie zu gründen.
Wann endlich begreifen Sie, dass das, was wir hier
machen, im Grunde genommen die Grundlage jeder sozialen Marktwirtschaft ist?
({7})
Es geht jetzt nach der üblichen Ordnung: Zunächst
frage ich den Redner, ob er bereit ist, eine Zwischenfrage zuzulassen.
Selbstverständlich.
Er hat das bestätigt. Damit, Herr Kollege Westerwelle,
haben Sie Gelegenheit, eine Zwischenfrage zu stellen.
Herr Kollege Lafontaine, da Sie die Freiburger Schule
meiner Meinung nach sehr aus dem Zusammenhang gerissen zitiert haben, möchte ich einen anderen Ökonomen zitieren, der sagte:
Der Ruf nach Gleichheit der Löhne beruht daher
auf einem Irrtum, ist ein unerfüllbarer törichter
Wunsch. Er ist die Frucht jenes falschen und platten
Radikalismus, der die Voraussetzungen annimmt,
die Schlussfolgerungen aber umgehn möchte.
Dieser Ökonom ist Ihnen sicherlich besser bekannt:
Es war Karl Marx.
({0})
Herr Kollege Westerwelle, Sie haben schon bessere
Bemerkungen gemacht. Karl Marx hat selbstverständlich recht, und niemand hat heute gleiche Löhne für alle
gefordert.
({0})
Entschuldigen Sie, aber Sie liegen völlig daneben. Haben Sie die Logik völlig außer Kraft gesetzt? Es geht
nicht um gleiche Löhne für alle. Was Sie vorgetragen haben, ist absurd. Es geht nur darum - um mit Adam Smith
zu reden -, dass der Mensch auf einen Lohn angewiesen
ist, von dem er leben kann. Kein anständiger Mensch in
diesem Hause sollte für Löhne plädieren, die darunter
liegen.
({1})
Ich wundere mich - an dieser Stelle ist in der Tat ein
Zerwürfnis festzustellen -, dass Sie das offensichtlich
moralisch nicht erreicht. Adam Smith war nicht in erster
Linie Ökonom, sondern Moralphilosoph. Sie sollten
ernsthaft über das nachdenken, was er festgestellt hat.
Soziale Marktwirtschaft heißt nicht, die niedrigsten
Löhne zu bieten, und der Staat zahlt den Rest dazu. Was
Sie vortragen und als liberale Wirtschaftspolitik reklamieren, ist absurd.
({2})
Ich möchte darauf hinweisen, dass sich einige Kollegen meiner Fraktion der Stimme enthalten werden, weil
sie nach wie vor der Auffassung sind - das ist auch die
Auffassung der Gesamtfraktion -, das es heute nicht
mehr zulässig ist, bei solchen Dienstleistungen zwischen
Ost und West zu differenzieren. Das ist ungerecht.
({3})
Diese Zurücksetzung der Ostdeutschen ist nicht akzeptabel - wer auch immer das anstrebt -;
({4})
denn man kann keinen Produktivitätsrückstand als ökonomisch vertretbares Argument für diese Differenzierung anführen. Sie haben kein einziges vernünftiges
ökonomisches Argument dafür.
({5})
Es ist zwar richtig, dass im Osten noch niedrigere
Löhne gezahlt werden als im Westen, was die unteren
Tarifbereiche angeht,
({6})
aber ich muss Ihnen an dieser Stelle Heuchelei vorwerfen, Herr Kollege Brauksiepe. Sie haben als christlicher
Demokrat - oder Sozialdemokrat oder was immer Sie inzwischen sein wollen - an die FDP gewandt ausgeführt,
dass Sie der Auffassung sind, dass man in Deutschland
keinen Lohn unter 6 Euro zulassen sollte. Wenn Sie tatsächlich dieser Auffassung sind, dann sollten Sie endlich
aufhören, sich einem flächendeckenden gesetzlichen
Mindestlohn zu verweigern. Andernfalls heucheln Sie in
diesem Zusammenhang.
({7})
Sie stehen auch im Widerspruch zu den Lehren, auf
die Sie sich angeblich immer wieder berufen. Ich halte
Ihnen noch einmal vor, dass die christliche Soziallehre,
die angeblich Fundament Ihrer Politik ist, einen gerechten Lohn fordert. Dass ein gerechter Lohn so definiert
ist, dass man davon leben können muss, dürfte eigentlich
jedem unmittelbar einsichtig sein. Insofern ist die Haltung der CDU/CSU an dieser Stelle nicht nachvollziehbar. Sie steht im Widerspruch zu Ihrem Bekenntnis zum
christlichen Menschenbild. Das ist nicht nachvollziehbar.
({8})
Der Verweis auf die Tarifvertragsparteien ist pure
Heuchelei oder Zynismus. Gerade Sie verweisen an dieser Stelle auf die Tarifvertragsparteien, obwohl Sie wissen, dass die Tarifvertragsparteien in vielen Fällen gar
nichts mehr regeln können. Wenn Sie nur ein bisschen
redlich sind, dann müssen Sie auch darauf eine Antwort
haben, was geschieht, wenn die Tarifparteien nichts mehr
regeln können. Sie müssten dann zu dem Ergebnis kommen, dass der Staat oder die Gesamtgesellschaft gefordert
ist. Ihre Verweigerung des gesetzlichen Mindestlohns ist
in höchstem Maße unverantwortlich; denn Sie sind für
Ausbeuterlöhne verantwortlich, die in Deutschland immer noch gezahlt werden. Sie sollten sich für die Verweigerung einer solchen zwingenden sozialpolitischen Regelung schämen.
({9})
Sie sollten sich vielleicht einmal die Frage stellen
- das richte ich auch an Sie, Kollege Westerwelle -, wie
die Rente eines Menschen aussehen wird, der mit einem
Stundenlohn von 5 Euro nach Hause geht. Haben Sie
sich das jemals gefragt? Soll auch dann der Staat Geld
drauflegen? Dass man die Mindestlohndebatte von der
Rentenentwicklung abkoppelt, halte ich für einen Skandal. Es kann doch nicht wahr sein, dass VolksvertreterinOskar Lafontaine
nen und Volksvertreter diesen Zusammenhang nicht herstellen. Es ist unfassbar, was hier vorgetragen wurde.
({10})
Wenn wir bei der Lohnentwicklung zulassen, dass
Stundenlöhne von 3, 4 oder 5 Euro gezahlt werden, wie
wollen wir dann jemals sicherstellen, dass die Menschen
im Alter eine armutsfeste Rente beziehen? Insofern ist es
auch wegen der Rentenerwartung in Zukunft - und zwar
in einigen Jahrzehnten - dringend geboten, der schmutzigen Lohnkonkurrenz in Deutschland endlich durch einen flächendeckenden Mindestlohn einen Riegel vorzuschieben.
({11})
Es ist doch überhaupt kein Wunder, dass im Gegensatz
zu der anmaßenden Haltung vieler in diesem so genannten Hohen Hause
({12})
- schreien Sie ruhig; an dieser Stelle ist es auch die richtige Gruppe, die schreit - 62 Prozent der Bevölkerung
sagen: Es geht in Deutschland nicht mehr gerecht zu.
Wir haben keine soziale Marktwirtschaft mehr. - Diese
fast zwei Drittel der Bevölkerung analysieren die Verhältnisse in unserem Lande völlig richtig. Wenn nur
noch 24 Prozent sagen, wir haben eine soziale Marktwirtschaft, dann sollte das doch jedem Anlass zum
Nachdenken geben. Der gesetzliche Mindestlohn wäre
eine Maßnahme, um der Bevölkerung zu signalisieren,
dass wir dafür Sorge tragen wollen, dass es in diesem
Land wieder gerechter zugeht.
({13})
Der gesetzliche Mindestlohn alleine ist es jedoch
nicht. Sie haben, Herr Kollege Kauder, mit anderen zusammen dafür Sorge getragen, dass Deutschland der einzige große Industriestaat ist, in dem seit vielen Jahren
die Reallöhne nicht mehr steigen. Das ist eine politisch
organisierte Veranstaltung. Da ist nicht nur die Verweigerung des flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns. Da ist auch Hartz IV mit der Verpflichtung, jeden
Arbeitsplatz unabhängig von der Qualifikation und der
Lohnhöhe anzunehmen. Da ist auch die totale Öffnung
der Leiharbeit, die Sie alle organisiert haben. Damit sind
Sie verantwortlich dafür, dass immer mehr Menschen
zunächst entlassen werden, dann durch die Drehtür wieder hereinkommen und nur noch die Hälfte des Lohnes
bekommen. Da ist das grenzenlose Öffnen für befristete
Arbeitsverträge, was natürlich dazu führt, dass diejenigen, die davon betroffen sind, sich nicht mehr in ausreichender Form zur Wehr setzen können. Und da ist das
Ausufern der Tatsache, dass immer mehr Minilöhne und
Minijobs reguläre Arbeitsverhältnisse ersetzen. Eine
faire Lohnfindung ist aufgrund dieses gesetzlichen Rahmenwerkes in Deutschland seit vielen Jahren nicht mehr
möglich.
Wir sind der einzige Staat, in dem es seit vielen Jahren keine Reallohnzuwächse mehr gibt. Sie können darüber lachen, es ignorieren und die ökonomischen Folgen, die sich im Übrigen bald wieder bemerkbar machen
werden, übersehen. Laut OECD haben wir eine Rentenformel, die demjenigen, der im Monat 1 000 Euro brutto
bekommt, eine Rentenerwartung von 390 Euro in Aussicht stellt. Diese Entwicklungen sind politisch mitorganisiert worden. Sie zeigen, dass die Politik in den letzten
Jahren auf dem völlig falschen Weg war. Man kann sich
nicht hier immer zu der Formel „Wohlstand für alle“ bekennen, die immer zur Grundlage hatte, dass der Produktivitätszuwachs - so steht es im Buch des Säulenheiligen - den Konsumentinnen und Konsumenten voll
zugutekommt. Auch diese Regel ist seit vielen Jahren
verletzt worden. Schon seit vielen Jahren ist der Produktivitätszuwachs nicht mehr der Arbeitnehmerschaft in
Deutschland zugutegekommen.
Wir als Vertretung der Bevölkerung sollten zur
Kenntnis nehmen, dass zwei Drittel der Bevölkerung seit
langem der Auffassung sind, dass es in diesem Land
nicht mehr gerecht zugeht. Wir werden nach wie vor dafür eintreten, dass eine erste Maßnahme, um Gerechtigkeit wiederherzustellen, sein wird, in Deutschland einen
gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, unterhalb dessen
niemand beschäftigt werden darf, weil es menschenunwürdig ist, Leute unter dieser Einkommensgrenze zu beschäftigen.
({14})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun
die Kollegin Brigitte Pothmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Merkel hat gesagt, dass sie es falsch findet, dass Leute,
die auf der ganzen Linie versagt haben, hinterher mit
Geld überschüttet werden. Das finde ich auch falsch. Ich
halte es aber gleichfalls für falsch, dass Menschen, die
den ganzen Tag arbeiten, von diesem Einkommen nicht
leben können. Vieles deutet darauf hin, dass auch Frau
Merkel dieses inzwischen eingesehen hat. Leider ist
diese Erkenntnis aber bei großen Teilen der CDU/CSUFraktion immer noch nicht angekommen, denn sonst
wäre die Debatte um den Mindestlohn in den letzten Monaten anders verlaufen.
({0})
Ich möchte den Uneinsichtigen in der CDU/CSUFraktion und vor allen Dingen den Kolleginnen und Kollegen von der FDP sagen: Sie müssen darüber nachdenken, ob es nicht Konsequenzen für Ihr politisches Handeln haben sollte, wenn nur noch 15 Prozent der
Bevölkerung der Auffassung sind, dass es bei uns sozial
zugeht. Herr Westerwelle, wenn die soziale Marktwirtschaft, die Sie hier beschwören, nur noch von einem
kleinen Teil als sozial empfunden wird, dann wird das zu
einem Problem für die Politik, aber auch zu einem Problem im Hinblick auf die Substanz des demokratischen
Systems. Herr Westerwelle, Sie behaupten, uns gehe es
um gleichen Lohn für alle. Davon sind wir meilenweit
entfernt. Das sollte Ihnen angesichts der Debatte, die wir
in den letzten Wochen geführt haben, eigentlich klar
sein: Traumgehälter auf der einen Seite, Hungerlöhne
auf der anderen Seite. Die Kluft bei der Bezahlung unterschiedlicher Arbeit wird zunehmend größer. Sie können diese Kluft nicht allen Ernstes mit der Leistung
begründen, die jeweils erbracht wird. Die Einkommensunterschiede haben zunehmend weniger mit Leistungsgerechtigkeit zu tun, Herr Westerwelle. Nichtsdestotrotz
tun Sie so, als gehe es in der Mindestlohndebatte um
gleiche Löhne für alle. Welch ein Unsinn!
({1})
Es gehört leider zur Wahrheit, dass der Konjunkturaufschwung nichts zur Lohngerechtigkeit beigetragen
hat. Schlimmer noch: Gerade in den unteren Lohnbereichen sind die Einkommen noch weiter gesunken. Die
Zahl derjenigen, die trotz Vollzeitbeschäftigung ALG II
beantragen müssen, ist weiter angewachsen, Herr
Westerwelle. Nur noch 15 Prozent der Deutschen haben
das Gefühl, dass der Aufschwung bei ihnen tatsächlich
ankommt. Das ist ein historischer Tiefstand. Das muss
ein Alarmsignal für uns alle sein.
({2})
Frau Merkel hat uns in Meseberg Wohlstand für alle
versprochen. Wenn diese Zusicherung nur ansatzweise
umgesetzt werden soll, dann ist der Postmindestlohn ein
kleiner Baustein. Deshalb stimmen wir ihm zu. Aber es
muss weitergehen. Die Branchen, die sich auf einen
Mindestlohn verständigen, müssen unterstützt werden.
Ihnen dürfen keine Steine in den Weg gelegt werden,
Herr Brauksiepe. Es ist viel von Tarifautonomie die
Rede. Dazu will ich deutlich sagen: In den Branchen, in
denen Mindestlöhne am dringendsten notwendig sind,
ist die Tarifautonomie leider kein Garant mehr für sichere Löhne,
({3})
weil die Tarifstrukturen weitestgehend zerstört sind. Für
die dort Beschäftigten müssen wir dringend etwas tun.
Die Einrichtung einer Mindestlohnkommission nach
englischem Vorbild erscheint uns geboten.
({4})
Sonst wird es niemals Mindestlöhne in der fleischverarbeitenden Industrie, im Hotel- und Gaststättengewerbe
oder für Friseurinnen geben. Aber dort sind sie am allernötigsten, um Armutslöhne zu verhindern.
Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich bin nicht sehr optimistisch. Herr Brauksiepe, nach Ihrer Rede ist klar, dass
die wichtigste Botschaft, die die CDU/CSU in diesem
Zusammenhang sendet, lautet: Macht euch keine Hoffnung; der Postmindestlohn ist in keiner Weise eine Vorentscheidung zugunsten von Mindestlöhnen in anderen
Branchen. - Die Union ist in der Mindestlohnfrage tief
gespalten. Frau Merkel hat auf dem Parteitag in Hannover sich selbst und ihre Partei zum Mittelpunkt der
Welt erklärt. Aber die Frage, ob eine Mindestlohnpolitik
auch zur Politik gehört, die in der Mitte der Gesellschaft
und Ihrer Partei steht, haben Sie nicht beantwortet. Weil
Sie nichts entschieden haben, geht das Gezerre weiter,
und zwar zulasten derjenigen, die im Niedriglohnbereich
arbeiten und Unterstützung brauchen. Was daran christlich sein soll und was daran sozial sein soll, das müssen
Sie den Menschen einmal erklären.
({5})
Sie haben hier wieder gebetsmühlenartig - das kann
man wirklich sagen - vorgetragen, dass der Mindestlohn
ein ordnungspolitischer GAU sei, der Wettbewerb verhindere und Arbeitsplätze im großen Stil vernichte.
({6})
Herr Westerwelle, sind unsere europäischen Nachbarn
Ihrer Meinung nach eigentlich alle bescheuert? Sie haben schon vor Jahren Mindestlöhne eingeführt, und
- siehe da - sie sind doch nicht untergegangen. Im Gegenteil: Dort hat sich herausgestellt, dass die Einführung
von Mindestlöhnen zur Zunahme von Arbeitsplätzen
führen kann. Herr Lafontaine hat recht - das sage ich
ausdrücklich -: Nicht Mindestlöhne widersprechen der
sozialen Marktwirtschaft - durch sie wird ein Rahmen
geschaffen, in dem Wettbewerb stattfinden kann -, sondern Lohndumping und Hungerlöhne widersprechen der
sozialen Marktwirtschaft.
({7})
An die Adresse der Regierung will ich hier ausdrücklich sagen: Zu einem fairen Wettbewerbsrahmen gehört
natürlich, dass das Umsatzsteuerprivileg der Post fällt.
Ich hätte mir gewünscht, dass Herr Glos aufhört, sich gegen den Mindestlohn zu stemmen, und hier einen Vorschlag dazu vorlegt, wie in dem Bereich der Umsatzsteuer ein fairer Rahmen geschaffen werden kann.
({8})
Frau Kollegin Pothmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?
Ja, bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Kollegin
Pothmer, Sie haben eben dargestellt, dass andere europäische Staaten Lohndumping und Hungerlöhne durch
Mindestlöhne verhindern. In Bulgarien liegt der Mindestlohn bei 53 Cent pro Stunde.
({0})
In Lettland liegt der Mindestlohn bei 99 Cent pro
Stunde. Den höchsten europäischen Mindestlohn,
9,08 Euro, hat Luxemburg.
({1})
Sind Sie angesichts dessen tatsächlich der Ansicht, dass
dieses Beispiel ein guter Beleg dafür ist, dass Hungerlöhne und Lohndumping durch Mindestlöhne verhindert
werden können?
Herr Niebel, sind Sie der Auffassung, dass die Volkswirtschaften von Bulgarien, Rumänien und Litauen mit
unserer vergleichbar sind? Ist es nicht vielmehr so, dass
zum Beispiel die Volkswirtschaften von Großbritannien,
Schweden, Dänemark, Frankreich und Spanien unserer
Volkswirtschaft ähnlich sind?
({0})
Bei der Festlegung der Höhe von Mindestlöhnen werden
natürlich die jeweiligen Rahmenbedingungen berücksichtigt. - Herr Niebel, das war meine Antwort. Sie dürfen sich gerne wieder setzen.
({1})
Ich möchte insbesondere der FDP-Fraktion sagen: Ich
finde, Sie unterliegen einem schwerwiegenden Trugschluss. Wettbewerb ist kein Ziel an sich.
({2})
Wettbewerb ist ein Instrument zur Erreichung von Zielen. Mir wäre es lieb, wenn Sie sich für Ziele einsetzen
würden und nicht immer um das Instrument wie um ein
goldenes Kalb tanzen. Hören Sie auf, das anzubeten!
Kämpfen Sie für die Erreichung von Zielen! Wenn Sie
das tun, dann erreichen wir - vielleicht gemeinsam wieder mehr von dem, was die Menschen als Gerechtigkeit empfinden.
({3})
Wenn das Postmonopol fällt, dann wird es - ich
glaube, das ist klar - einen harten Verdrängungswettbewerb geben, falls es keine Mindestlöhne gibt. Möglicherweise kann - das wird hier immer wieder gesagt die Pleite bei der PIN AG abgewendet werden; ich weiß
es nicht. Eines ist jedenfalls klar: Wenn es keine Mindestlöhne gäbe, wären die Arbeitsplätze bei der Post in
Gefahr. Ist es das, was Sie anstreben?
In der Anhörung ist eines ganz und gar deutlich geworden: dass ein großer Teil der Beschäftigten der neuen
Briefdienstleister so wenig verdient, dass sie ergänzend
Arbeitslosengeld II beantragen müssen. Das heißt letztlich doch nichts anderes, als dass die Allgemeinheit die
Gewinne der neuen Postanbieter subventioniert. Ich
weiß nicht, ob das Ihrer Vorstellung von sozialer Marktwirtschaft entspricht. Meiner Ansicht nach hat das damit
nichts, aber auch gar nichts zu tun.
({4})
Herr Westerwelle, Sie behaupten: Mindestlöhne, das
ist DDR pur ohne Mauer.
({5})
Das ist doch an Peinlichkeit wirklich nicht mehr zu
überbieten.
({6})
DDR pur - das war ein Unrechtsstaat. DDR pur - das
war der 17. Juni. Wollen Sie das wirklich miteinander
vergleichen, Herr Westerwelle?
({7})
Wenn Sie Aufmerksamkeit erheischen wollen, dann kennen Sie, glaube ich, wirklich gar keine Grenzen. Ich
wäre Ihnen zutiefst dankbar, wenn Sie endlich aufhören
würden, uns und die Öffentlichkeit mit dieser Maßlosigkeit aus Ihrem neoliberalen Sprüchealmanach zu belästigen.
({8})
Ganz kurz noch einmal zu dem, was bei Springer passiert. Wenn der Axel-Springer-Verlag als Mehrheitsaktionär der PIN Group auf der Grundlage von Hungerlöhnen investiert
({9})
und wenn dieses Engagement mit der Hoffnung, profitable Geschäfte zu machen, verbunden wird, dann ist das
falsch.
({10})
Noch viel schlimmer wäre es, wenn diese Hungerlöhne
mit dem ALG II aufgestockt werden würden. Von wem
wird denn diese Aufstockung bezahlt? Sie wird mit den
Steuergeldern derjenigen bezahlt, die zum Beispiel bei
der Post arbeiten. Diese Menschen subventionieren die
Löhne derjenigen, die hinterher ihre Arbeitsplätze in Gefahr bringen. Das ist doch absurd! Das können wir auf
gar keinen Fall zulassen.
({11})
Ganz offensichtlich hat der Springer-Verlag versucht,
in einen Markt einzusteigen, von dem er schlicht und ergreifend nichts versteht. Es ist Klassenkampf von oben,
wenn jetzt versucht wird, die Schuld dafür der Politik in
die Schuhe zu schieben. Da sollten wir den Rücken
gerade machen und sagen: Das ist ein Problem von
Springer. Dafür stehen wir hier nicht gerade. Das kann
man uns nicht in die Schuhe schieben. - Das darf nicht
funktionieren!
Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
({12})
Ich erteile das Wort der Kollegin Andrea Nahles,
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht,
({0})
wenn Sie in diesen Tagen Ihre Weihnachtskarten schreiben. Ich muss sagen: Bei mir fließt die Tinte wesentlich
freudiger,
({1})
wenn ich weiß, dass ab 1. Januar 2008 alle, die diese
Karten und Briefe austragen, für den harten Job, den sie
bei Wind und Wetter machen, auch einen guten Lohn, einen anständigen Mindestlohn bekommen.
({2})
Ich muss an diesem Morgen der Wahrheit die Ehre
geben. Die Wahrheit ist, dass es den Mindestlohn in der
Postdienstleistungsbranche in Deutschland nicht geben
würde, wenn die SPD in den letzten Wochen in der Großen Koalition nicht so beharrlich darum gerungen hätte.
({3})
Ich möchte mit einigen Legenden aufräumen, die
heute Morgen wieder verbreitet wurden. Erstens. Wir
seien hier Wettbewerbsbehinderer, habe ich gehört. Ich
muss sagen: Da war die FDP 1995 schon mal weiter,
Herr Westerwelle. Damals wurde die Post-Privatisierung
auch mit Ihrer Zustimmung betrieben, und es wurde eine
Sozialklausel eingeführt, die bei der Lizenzvergabe an
private Postdienstleister einen höheren Stunden- und
Mindestlohn vorgesehen hat als den, den wir heute hier
verabschieden werden. Das ist eben der Unterschied
zwischen Marktwirtschaft und sozialer Marktwirtschaft.
Ihre Vorgänger haben diesbezüglich noch eine Orientierung gehabt. Bedauerlicherweise ist diese bei der FDP
auf der Strecke geblieben.
({4})
Insoweit bitte ich Sie sehr darum, hier keine Legenden zu verbreiten. Der Wettbewerb wird ab 1. Januar
auch für Briefe unter 50 Gramm gelten und damit für die
gesamte Palette dessen, was an Postdienstleistungen angeboten wird. Es gibt mehr und nicht weniger Wettbewerb - das ist auch richtig und gut -; aber wir wollen
nicht, dass dieser Wettbewerb auf dem Rücken der Leute
ausgetragen wird. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns.
({5})
Zum Zweiten müssen wir Folgendes klarmachen: Um
was geht es denn, wenn bei PIN AG und TNT
60 Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geringfügig beschäftigt sind, bei der Post aber nur 4 Prozent?
Da das so ist, ist doch das Reden von der Arbeitslosigkeit, die durch die Einführung eines Mindestlohns
entstehen soll, in Wirklichkeit folgendermaßen zu verstehen: Diejenigen, die jetzt ordentlich bezahlte sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse haben, werden morgen durch Billigkonkurrenz, durch
Menschen mit geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen, ersetzt, und wir, der Staat, sollen dann das, was den
Betroffenen zum Leben fehlt, obendrauf packen. Das ist
nicht akzeptabel und ordnungspolitisch falsch. Deswegen müssen wir da einen Riegel vorschieben.
({6})
Ich will ganz ehrlich sagen: Wettbewerb ist zwar
große Klasse; aber hier findet Wettbewerb in einem Bereich statt, in dem wir über ein öffentliches Gut verhandeln. Ich möchte, dass es auch in Zukunft eine hohe
Qualität der Briefzustellung in der Eifel, woher ich
komme, in Berlin, aber auch auf Usedom gibt. Dies ist
für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten neben dem reinen marktwirtschaftlichen Prinzip, das einige feiern, ein Wettbewerbskriterium. Insofern vertreten wir die Position: Wir wollen, dass es in jedem Dorf von oben herab hieße das so typisch „im letzten Kaff“;
auch ich komme aus einem Dorf - eine hohe Qualität bei
den Postdienstleistern gibt und dass diejenigen Menschen, die diese Arbeit machen, einen guten Lohn dafür
bekommen.
({7})
Ich will darüber hinaus sagen, dass jetzt nicht Schluss
ist. Wer das vielleicht hofft, muss sich mit uns auseinandersetzen. Es gibt in diesem Lande weitere Branchen,
die bereits an uns herangetreten sind und gesagt haben:
Wir brauchen einen Mindestlohn. - Es sind interessanterweise die Arbeitgeber, die das sagen, heute wieder
Arbeitgeber der Entsorgungsbetriebe und des Wach- und
Sicherheitsgewerbes, aber auch aus dem Bereich der
Zeitarbeit. Das sind die nächsten Bereiche, um die wir
uns kümmern wollen.
Ich sage klipp und klar: Die Arbeitgeber haben es
vielfach verstanden, was einige von den Liberalen noch
nicht begriffen haben. Die Arbeitgeber haben nämlich
verstanden, dass dann, wenn man um Hungerlöhne konkurriert, am Ende niemand mehr wirklich Gewinn
macht. Die Arbeitgeber haben auch begriffen, dass das
Entsendegesetz sie in den nächsten Jahren vor zusätzlicher Konkurrenz aus europäischen Nachbarländern
schützt. Ein guter Mittelständler, der das nicht begreift,
schadet sich und seinen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Gott sei Dank gibt es aber viele, die dies längst
verstanden haben.
({8})
Lassen Sie mich hinzufügen: Ich komme aus Rheinland-Pfalz. In Rheinland-Pfalz gibt es seit 2000 - es geht
hier nicht um Ostdeutschland - keinen Tarifvertrag mehr
im Friseurhandwerk. Deswegen reicht es nicht, nur branchenbezogene Mindestlöhne zu vereinbaren. Wir brauchen auch da gesetzliche Regelungen.
({9})
Das werden wir mithilfe des Mindestarbeitsbedingungengesetzes durchsetzen. Dort, wo es keine Tarifverträge
mehr gibt, brauchen wir gesetzliche Mindestlöhne. Das
ist unsere Position, und die werden wir auch so vertreten.
({10})
In diesem Sinne wird die Frage des Mindestlohns
auch nach Weihnachten im Deutschen Bundestag wieder
auf der Tagesordnung sein. Die SPD wird auch da an der
Seite derjenigen sein, die eine gute Arbeit machen und
einen guten Lohn dafür verdienen.
Vielen Dank.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Heinrich Kolb für die
FDP-Fraktion,
({0})
der, wie er hoffentlich weiß, allerdings nur eine von einer Kurzintervention unwesentlich unterscheidbare Redezeit zur Verfügung hat.
({1})
Herr Präsident, drei Minuten sind eine lange Zeit; ich
will mir Mühe geben.
Eine Bemerkung vorab, Frau Kollegin Nahles. Sie
weisen hier mit Krokodilstränen darauf hin, dass das
Schreiben von Weihnachtskarten dieses Jahr großen
Spaß macht angesichts dessen, dass die Briefträger
nächstes Jahr einen anständigen Lohn erhalten. Ich
würde Ihnen empfehlen: Lassen Sie die Karten bis nach
dem 1. Januar liegen. Dann haben die Briefträger viel
mehr davon, als wenn sie jetzt vor Weihnachten noch
zum alten Lohn tätig werden müssen.
({0})
Eine zweite Bemerkung. Herr Minister Scholz, Sie
haben gesagt, die Einführung eines Mindestlohns auf
dem Postsektor sei eine gute Botschaft. Das mag so bei
den Mitarbeitern der Deutschen Post ankommen; aber
ich frage mich, wie das zum Beispiel für die Mitarbeiter
der PIN klingen muss, die sich in diesen Tagen ernsthaft
Sorgen um ihren Arbeitsplatz machen.
({1})
Für die ist es alles andere als ein frohes Weihnachtsfest,
das sie erleben werden. Es klingt in meinen und auch in
deren Ohren - da bin ich mir ziemlich sicher - zynisch,
was Sie hier gesagt haben.
({2})
Sie sagen, ein Mindestlohn koste nicht nur keine Arbeitsplätze, sondern schaffe sogar Arbeitsplätze. Wenn
Sie das zu Ende denken, Herr Minister Scholz, wenn
also höhere Löhne mehr Arbeitsplätze schaffen, dann
müssten ja noch höhere Löhne noch mehr Arbeitsplätze
schaffen. Das sind doch Auffassungen einer wirtschaftlichen Klippschule, die Sie hier vortragen. Es ist wirklich
erschreckend, dass ein Minister, der in dieser Bundesregierung Verantwortung trägt, hier so etwas sagt.
({3})
Entscheidend ist - darauf hat Guido Westerwelle hingewiesen -, was für die Arbeitnehmer am Ende dabei
herauskommt. Dem Kollegen Brauksiepe, der hier treuherzig davon sprach, man habe durch die Senkung der
Beiträge zur Arbeitslosenversicherung eine Entlastung
um 25 Milliarden Euro vorgenommen, entgegne ich: Alleine die Mehrwertsteuererhöhung hat die Menschen in
diesem Land mit 25 Milliarden Euro belastet.
({4})
Dazu kommt die Erhöhung der Beiträge zur Rentenversicherung, zur Krankenversicherung und zur Pflegeversicherung, um nur einmal diese drei Dinge zu nennen.
Im Endeffekt ergibt sich ein Negativimpuls für unsere
Volkswirtschaft von mehr als 10 Milliarden Euro. Das ist
die Wahrheit.
({5})
Frau Nahles, Herr Brauksiepe, ich muss Ihr Weltbild
etwas zurechtrücken: Ein Unternehmer, der Mindestlöhne fordert, tut dies in der Regel nicht aus altruistischen Motiven, also um anderen etwas Gutes zu tun,
sondern er fordert diese, weil er sich davon einen Vorteil
erhofft. Hier geht es konkret darum, dass diejenigen Unternehmer, die Mindestlöhne fordern, damit einen
Schutzzaun um ihre Branche herum ziehen wollen. Das
kann man doch nicht ernsthaft zulassen. Wie attackiert
man einen Monopolisten, wenn man einen Markt aufbrechen will? Sie organisieren den Wettbewerb getreu dem
Motto: Alle sollen 100 Meter laufen, aber einigen binden
wir eine Metallkugel ans Bein. Bei solch einer Vorgabe
kann doch am Ende kein fairer Wettbewerb entstehen.
({6})
Die Realität ist doch: 19 Prozent Mehrwertsteuervorteil, 3 Prozent Vorteil bei der Unfallversicherung und
dann noch Mindestlöhne. Sie wollen hier wahrlich ein
Wettbewerbsparadies für den Monopolisten aufrechterhalten. Wir tragen das nicht mit.
({7})
In den wenigen Sekunden, die mir verbleiben, möchte
ich kurz darauf eingehen, wie es weitergeht. Es besteht
wirklich Anlass zur Sorge, dass auch in den Branchen, in
denen Müllmänner und Zeitarbeiter tätig sind, Mindestlöhne festgesetzt werden und 9,80 Euro dabei nicht das
Ende der Fahnenstange sind, sondern ein Überbietungswettbewerb nach oben stattfinden wird. Ich wünschte
mir wirklich, Angela Merkel könnte nach Ludwig
Erhard rufen, wie es einst der Zauberlehrling in Goethes
gleichnamigem Gedicht getan hat:
Ach, da kommt der Meister!
Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister,
werd’ ich nun nicht los.
({8})
Genauso wird es Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Union, in den nächsten Monaten nachhängen,
dass Sie jetzt einmal umgefallen sind und nun Zug um
Zug bei weiteren Branchen über den Tisch gezogen werden.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort erhält nun der Kollege Paul Lehrieder für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Lieber Bundesarbeitsminister
Scholz, auch ich werde in den nächsten Tagen beobachten, ob bei uns der Briefträger freudestrahlend und pfeifend durch die Gegend läuft.
({0})
Möglicherweise ist es wirklich so. Vielleicht liegt das
aber an dem bevorstehenden Weihnachtsfest.
Ich bin überzeugt davon, dass der liebevolle Enkel,
den Sie, Herr Scholz, ins Spiel gebracht haben, den Brief
an die Oma nicht nur mit 45 oder 55 Cent, sondern,
wenn er sie ganz arg liebt, auch mit 1,50 Euro frankieren
würde, nur damit er seine Grüße übermitteln kann.
Meine Damen und Herren, wir haben es auf dem Arbeitsmarkt - das zeigt die heutige Diskussion - mit einem handfesten und tiefgreifenden Strukturwandel zu
tun, dem nicht mit nebenwirkungsfreien Wundermitteln
beizukommen ist. Was würde uns das deutlicher zeigen
als der schwierige Weg zur Aufnahme der Briefdienstleistungen in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz? Anlass
der Regelung war - darauf möchte ich noch einmal hinweisen -, dass das Briefmonopol in Deutschland für
Briefe bis zu 50 Gramm am 1. Januar 2008 ausläuft. In
den anderen europäischen Ländern wird das aber erst
sehr viel später der Fall sein. Das bedeutet, dass Firmen
aus Ländern, die ihr Briefmonopol erst später aufgeben,
auf unserem Markt agieren könnten, Firmen von uns
aber nicht auf deren Markt. Das wollen wir so nicht. Wir
wollen unsere Arbeitnehmer vor Billiglohnkonkurrenz
aus dem Ausland schützen. Wir wollen - das werden wir
auch mit der Aufnahme in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz erreichen - mehr Wettbewerb, der jedoch nicht
zulasten der Löhne gehen soll.
({1})
Für diesen Fall und ähnliche Fälle haben wir als
Große Koalition den Branchen, die über mindestens
50 Prozent Tarifbindung verfügen, angeboten, in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen zu werden.
Dazu müssen die Tarifpartner uns eine entsprechende Einigung vorlegen. Wenn sich eine Mehrheit auf eine bestimmte Regelung einigt, dann sind wir unter Abwägung
aller Gesichtspunkte bereit, sie für allgemeinverbindlich
zu erklären. Sie gilt dann auch für die Minderheit, die
dem Abschluss der entsprechenden Vereinbarung nicht
zugestimmt hat oder an ihr nicht beteiligt gewesen war.
Im Vorfeld der Aufnahme der Briefdienstleistungen in
das Entsendegesetz, die wir heute beschließen, ist manches nicht ganz so gelaufen, wie wir uns das gewünscht
hätten. Wir schulden es aber der Tarifautonomie, dass
wir auf der Basis dessen, was uns vorgelegt wurde, entscheiden. Wir müssen prüfen, ob die Bedingungen für
betriebliche Mindestlöhne auch tatsächlich erfüllt sind.
Dazu gehört zunächst das Kriterium, nach dem mindestens 50 Prozent der Beschäftigten von der Tarifregelung
abgedeckt sein müssen. Ich lege ausdrücklich Wert auf
die Feststellung, dass es hier um tariflich vereinbarte
Löhne und nicht um einen vom Bundesgesetzgeber festgelegten flächendeckenden Lohn geht.
({2})
Wir haben dazu in der letzten Zeit die unterschiedlichsten Zahlen von den unterschiedlichsten Interessenverbänden gehört. Unbeantwortet blieb zunächst die
Frage, wer überhaupt als Briefdienstleister infrage
kommt. Sind es nur die direkt Bediensteten der Post oder
auch die Beschäftigten in den Postagenturen, die vielleicht drei oder vier Briefe am Tag entgegennehmen?
Wie sieht es mit den Taxifahrern und den Kurierdiensten
aus? Wir von der Union haben beständig darauf gedrungen, diesen Sachverhalt eindeutig klarzustellen und erst
dann unsere Zustimmung zu geben. Das war der Grund
für die harten Verhandlungen mit unserem Koalitionspartner. Es ging uns nicht um Schnelligkeit, sondern vor
allem um Gründlichkeit.
Die Frage, wer letztendlich unter die Ausweitung des
Entsendegesetzes fallen wird, konnten wir nun zusammen mit unserem Koalitionspartner klären. Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz gilt ab dem 1. Januar 2008 für
Betriebe und selbstständige Betriebsabteilungen, die
überwiegend gewerbsmäßig und geschäftsmäßig Briefsendungen für Dritte befördern. So weit, so klar.
Kompliziert war der Weg zur Aufnahme der Briefdienstleister in das Entsendegesetz. Viel ist in den vergangenen Wochen darüber gestritten worden, ob hier
durch die Deutsche Post AG mithilfe des betrieblichen
Mindestlohns ein Verdrängungswettbewerb geführt
wird. Wir sollten es uns mit der Meinungsbildung jedoch
nicht zu einfach machen. Deshalb ist es nötig, hier noch
einige Aspekte zu betrachten.
Jeder will seine Post pünktlich, regelmäßig, vertraulich und - Frau Nahles, Sie haben es ausgeführt - flächendeckend zugestellt bekommen. Das gilt überall: von
der Eifel über Berlin und Usedom bis hin zum Landkreis
Würzburg.
({3})
- Danke schön. - Deshalb ist es wichtig, Wettbewerb in
diesen Bereichen über Kundenorientierung, Innovation,
Service und Qualität anzustreben. Wir erwarten auch in
Zukunft Versorgungssicherheit von der Post, die letztendlich mit Dumpinglöhnen nicht gewährleistet werden
kann. Das geht nur mit auskömmlichen Löhnen. Auch
das muss ausdrücklich hier klargestellt werden. Es muss
ein echter Wettbewerb sein, kein Verdrängungs-, aber
auch kein Unterbietungswettbewerb bei den Arbeitsbedingungen.
Wir müssen im Blick behalten, dass das Instrument
Arbeitnehmer-Entsendegesetz, das der sozialen Absicherung von Arbeitnehmern dienen soll, nicht von den Arbeitgebern missbraucht wird, um mittelständische und
kleine Konkurrenten auszuschalten. Das gilt insbesondere für Unternehmen, die in ihrem Bereich eine Monopolstellung haben.
Tatsache ist aber auch, dass sich bei den Wettbewerbern der Deutschen Post AG wie TNT und PIN die Tendenz in einigen Bereichen abzeichnet, zu einem hohen
Anteil geringfügige Beschäftigungsverhältnisse zu
schaffen. Deren Anteil liegt dort über 60 Prozent. Vielfach sind die Arbeitnehmer der neuen Briefdienstleister
auf ergänzende Sozialtransfers angewiesen, um ihren
Lebensunterhalt bestreiten zu können. Der vormalige
Arbeitsminister Müntefering hat ausgeführt: Es kann
nicht sein, dass ein Arbeitgeber aufgrund eines Unterbietungswettbewerbs niedrige Löhne zahlt und die Arbeitnehmer darauf verweist: Den Rest könnt ihr euch beim
Arbeitsminister, sei es Müntefering oder Scholz, holen. Das kann nicht der richtige Weg sein.
Der betriebliche Mindestlohn erhöht sicher teilweise
die Kosten einiger Konkurrenten des Noch-Monopolisten Deutsche Post. Allerdings haben diese auch keinen
Anspruch auf indirekte Subventionen. Um nichts anderes handelt es sich aber, wenn einige Briefträger neben
ihrem Lohn noch staatliche Unterstützung in Anspruch
nehmen müssen, um über die Runden zu kommen. Ein
Geschäftsmodell auf solchen Löhnen aufzubauen, ist gewagt.
({4})
Wer die Situation auf dem Postmarkt richtig bewerten
will, muss sich klarmachen, dass dort die Liberalisierung
ganz anders wirkt als auf dem Markt für Telekommunikation. Liebe Freunde von der FDP, lieber Herr Kolb,
Sie haben in dieser Woche im Ausschuss gesagt, wir
würden heute noch mit grauen Apparaten mit Wählscheiben telefonieren, wenn wir damals bei der Telekommunikation über die gleichen Instrumente wie bei
der Post diskutiert hätten. Diese Bereiche kann man aber
nur schlecht bzw. überhaupt nicht miteinander vergleichen.
({5})
Denn nach der Liberalisierung auf dem Telekommunikationsmarkt gab es viele technische Innovationen, niedrigere Preise und ein steigendes Angebot. Dagegen ist der
Postmarkt, jedenfalls beim Briefgeschäft mit Privatkunden, ein schrumpfender Markt. Immer mehr Menschen
schreiben E-Mails statt Briefe. In der Vorweihnachtszeit
gibt es eine Ausnahmesituation. In dieser Zeit nehmen
mehr Menschen den Stift in die Hand, und die Tinte
fließt flüssiger, wie Frau Nahles vorhin gesagt hat. Aber
über das Jahr gesehen ist es sicherlich so, d ass mehr
E-Mails geschrieben werden, als Briefe versandt werden. Das haben Sie selber gesagt, Frau Nahles.
Fällt das letzte Teilmonopol, nämlich das für Briefe
bis 50 Gramm, im Januar, wetteifern mehr Anbieter um
eine schrumpfende Nachfrage. Sollte sich das Geschäft
aus all diesen Gründen für die Springer AG nicht rechnen, so muss der Konzern diese Sparte in Gottes Namen
schließen. Niemand sollte das Unternehmen deshalb angreifen. Hier geht es allein um wirtschaftliches Risiko.
In diesem Fall den Schwarzen Peter an die Politik weiterzureichen, ist bequem, aber unangebracht. Nicht wir
haben das Problem geschaffen, sondern es ergibt sich
aus dem Tarifvertrag.
Die Politik wird sich mit dem vorliegenden Fall auch
nach Verabschiedung des Gesetzes eingehend auseinandersetzen müssen. Weitere Aufnahmen in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz müssen sehr detailliert, genau und
gründlich geprüft werden.
Der flächendeckende Mindestlohn ist ein zweischneidiges Schwert. Liegt er über dem bisherigen Lohn, gibt
es für die Betroffenen nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie werden mehr verdienen, oder sie werden ihren
Arbeitsplatz verlieren. Dieses Risiko müssen wir uns bewusst machen. Wir müssen daher eine Lösung finden,
die Unternehmen den höchsten Anreiz bietet, auch für
Geringqualifizierte Jobs anzubieten, die aber auch den
Arbeitslosen Anreize bietet, solche Jobs anzunehmen,
und die Mitnahmeeffekte minimiert.
Nach Abwägung des Für und Wider aller Argumente
hat sich eine Mehrheit in unserer Fraktion für die Aufnahme der Postdienstleister in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz ausgesprochen. Ich bitte Sie, heute diesem Gesetz zuzustimmen.
Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen eine
frohe Weihnachtszeit. Schreiben Sie viele Briefe. Schicken Sie sie meinetwegen schon im Dezember ab.
({6})
Das Porto in Höhe von 55 Cent kann sich sicher jeder
Abgeordnete leisten. Den Kollegen von der Linkspartei
wünsche ich eine schöne Jahresendfeier.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat nun die Kollegin Anette Kramme, SPDFraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Westerwelle, Sie haben vorhin das ach so
schwere Los der neuen Postkonkurrenz beklagt.
({0})
Schauen wir uns doch einmal genau an, was passiert ist.
Ich sage: Es ist eine falsche Strategie gefahren worden.
Man hat Verhandlungen erst arrogant abgelehnt; dann,
nachdem der Mindestlohntarifvertrag verabschiedet
worden ist, hat man gesagt: Na ja, dann machen wir halt
einen eigenen Arbeitgeberverband auf. - Man dachte,
dass Verdi ganz locker mal eben zustimmen würde.
Nachdem auch das nicht funktioniert hat, hat man versucht, eine eigene Gewerkschaft zu gründen. Professor
Thüsing musste in der Sachverständigenanhörung zugestehen, dass es nur 19 Gewerkschaftsmitglieder gibt.
Das Ganze kann man auch verspekuliert nennen.
({1})
Die PIN AG und der Springer-Verlag müssten uns eigentlich äußerst dankbar dafür sein, dass wir nun den
Mindestlohn für die Briefdienstleister verabschieden.
Wir liefern ihnen den scheinbar perfekten Vorwand für
den Stellenabbau. Schaut man sich den Sachverhalt näher an, wird man feststellen, dass bei der PIN AG bis
Ende September ein Minus von 47,8 Millionen Euro gemacht worden ist, und das ohne Mindestlohn. Am Jahresende werden die Verluste dort 55 Millionen Euro betragen, und auch das wieder ohne Mindestlohn.
({2})
Der Mindestlohn wird hergenommen als Sündenbock für
eigene Fehler.
({3})
Man kann zu folgender Wertung kommen: Missmanagement, Geldvernichtung und Inkompetenz der Führungsspitze.
Ich sage ganz klar: Wir akzeptieren keine Geschäftskonzepte, die darauf hinauslaufen, dass mit den Beschäftigten Sozialdumping betrieben wird. Ich sage auch
ganz klar: Wir akzeptieren keine Geschäftskonzepte, die
vorsehen, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
auf Dauer ergänzend Arbeitslosengeld II gezahlt werden
muss. Es ist doch pervers, wenn gefordert wird, dass der
Staat solch einen Wettbewerb auch noch subventioniert.
({4})
In Richtung der Union sage ich ganz klar: Es ist nicht
Aufgabe des Staates, Tarifverträge abzuändern und Tarifpartner zu erpressen.
Wir wissen, dass der Brief, der durch die schwarzen
Schafe der Branche nun nicht mehr zugestellt wird,
durch Unternehmen zugestellt wird, die den Mindestlohn zahlen. Das ist eine beruhigende Entwicklung.
Am 1. Januar 2008 wird das Postmonopol in Deutschland auslaufen. An sich war geplant, dass das Postmonopol zum 1. Januar 2009 auch in den anderen europäischen Ländern endet. Die anderen europäischen Länder
haben sich entschieden, das hinauszuzögern. Ich sage:
Wettbewerb ist gut. Er darf aber nicht auf dem Rücken
der Arbeitnehmer ausgetragen werden.
Es ist richtig, dass wir die Post- bzw. Briefdienstleister in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufnehmen. Wir
wissen, dass in dieser Branche die Löhne in Westdeutschland momentan um 40 Prozent und in Ostdeutschland um 50 Prozent unterhalb der Einstiegsgehälter bei der Deutschen Post liegen.
({5})
Wir wissen, dass dort in skandalöser Weise Minijobverhältnisse ausgenutzt werden.
({6})
Es ist unvorstellbar, wenn man sich die Zahlen vor Augen hält: 62,3 Prozent aller Jobs sind Minijobs, Teilzeitbeschäftigung ist nur begrenzt vorhanden, und eine normale Vollzeittätigkeit ist fast die Ausnahme.
Dank der Tarifvertragsparteien haben wir hinsichtlich
des Geltungsbereichs des Gesetzes eine Klarstellung erzielt. Das mussten wir zugunsten unseres Koalitionspartners machen, dessen Gesicht ein ganz klein wenig gewahrt werden musste.
({7})
Wie lautete die alte Formulierung? Ursprünglich war
verabredet, dass der Postmindestlohn für alle Unternehmen in dieser Branche gelten soll. Jetzt haben wir vereinbart: Er soll nur für die Betriebe und selbstständigen
Betriebsabteilungen gelten, die ganz überwiegend Briefdienstleistungen erbringen.
Das ist keine erhebliche Veränderung. Man muss sich
einmal vor Augen halten, was das bedeutet: Letztlich
kann kein Betrieb, der über eine vernünftige Arbeitsorganisation und über eine vernünftige Kostenkontrolle
verfügt, davon Abstand nehmen, eine betriebsorganisatorisch eigenständige Einheit zu gründen. Es ist allerAnette Kramme
dings so, dass Taxifahrer und Zeitungszusteller nicht erfasst sein werden; hier war Verdi wirklich sehr ehrgeizig.
Lassen Sie mich zum Schluss Peter Bofinger zitieren:
({8})
Deutschland braucht auf keinen Fall mehr Niedriglöhne, es ist im westeuropäischen Vergleich bereits ein ausgeprägtes Niedriglohnland.
In diesem Sinne wird die SPD handeln.
({9})
Zum Schluss wünsche ich Ihnen frohe Weihnachten
- hier hat der berühmte Abgeordnete Gerold Reichenbach
zur Feder gegriffen ({10})
und sage: Mindestlohn für alle Postdienstleister!
Herzlichen Dank.
({11})
Und das alles ohne Briefmarke.
Nun kommt der Kollege Laurenz Meyer für die CDU/
CSU-Fraktion zu Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist schon eine aufregende Debatte, die wir heute Morgen
erleben;
({0})
denn ausgerechnet Herr Lafontaine trat hier als AdamSmith-Ikone auf.
({1})
Herr Westerwelle, bei Ihnen muss ich leider Gottes beklagen, dass Sie mit Ihrer Darstellung immer hemmungslos übertreiben. Sie würden viel glaubwürdiger
wirken, wenn Sie das nicht tun würden.
({2})
Wenn man vom Untergang der sozialen Marktwirtschaft spricht, sich aber schon vom nächsten Redner vorhalten lassen muss, dass man das, was jetzt im Hinblick
auf die Post vereinbart ist, beim Bau mit beschlossen
hat, dann wird einem sofort der Boden unter den Füßen
weggezogen.
({3})
Das Postgesetz, das die Grundlage der heutigen Beschlussfassung ist, ist mit Ihrer Zustimmung verabschiedet worden.
({4})
Auf diese Problemlage will ich aber nicht weiter eingehen. Damit müssen Sie selber fertig werden.
({5})
Der Unterschied zwischen SPD und CDU/CSU, den
ich in dieser Diskussion feststelle, besteht darin, dass die
SPD - Frau Kramme hat das gerade in bemerkenswerter
Deutlichkeit gezeigt ({6})
tendenziell immer über die vorhandenen Arbeitsplätze
spricht - Sie beschäftigen sich selbst im Hinblick auf die
Monopolunternehmen immer mit der bestehenden Situation -, während wir stärker über die Schaffung neuer Arbeitsplätze und zukünftiger Beschäftigungsmöglichkeiten im Interesse der heute Arbeitslosen nachdenken.
Dieser Unterschied, den man sehen muss, ist allerdings
gewaltig.
({7})
Frau Kramme, nachdem ich gehört habe, was Sie
eben gesagt haben - leider Gottes klang das vorher
schon einmal an -, weise ich Sie darauf hin - denn auch
ich komme beruflich aus einer Branche, in der damals
eine Monopolsituation bestand -: Es ist nun einmal so,
dass in Bereichen, in denen es ein Monopol gibt, Zustände herrschen, die auf Kosten der Verbraucher und
der Steuerzahler gehen und die man, wenn man im
Wettbewerb steht, nicht dauerhaft beibehalten kann.
Das muss man wissen, und das haben alle, die für Wettbewerb im Postbereich waren, gewollt.
({8})
Lassen Sie mich sagen: Sie orientieren sich, was die bestehenden Arbeitsverhältnisse betrifft, zu stark an den
Gewerkschaftsstrukturen. Hier sind Sie strukturkonservativ. Das beklage ich zutiefst.
Herr Scholz, Ihnen will ich sagen: Sie haben nahtlos
den Übergang zu zukünftigen Diskussionen geschaffen.
Ich sage hier für unsere Fraktion klipp und klar: Es gibt
einen wesentlichen Unterschied zwischen dem heutigen
und möglichen zukünftigen Verfahren. Alle weiteren
Vorgänge werden geordnet nach dem Tarifvertragsgesetz
ablaufen oder gar nicht. Das ist ein gewaltiger Unterschied zu dem jetzigen Verfahren. Das ist überhaupt
keine Frage. Der Ausgangspunkt war, dass die Tarifpartner Deutsche Post AG und Verdi - das wurde jetzt verhindert; deswegen haben wir heute eine ganz andere Situation als noch vor wenigen Wochen - in einer
Monopolsituation einen Tarifvertrag abgeschlossen haben, der alle Zeitungszusteller und alle Paketboten, die
einmal einen Brief austragen, die Mitarbeiter im Einzelhandel in den Poststellen, Taxifahrer usw. umfasste.
Laurenz Meyer ({9})
Die Gestaltungsmöglichkeiten, die dieser Gesetzentwurf bietet, sind für Unternehmen, die im Wettbewerb
stehen und in der Anfangsphase eine geringere Produktivität haben, wesentlich andere als die, die aufgrund der
Regelungen bestanden, die wir zunächst auf dem Tisch
hatten. Es ist doch klar, dass jemand, der neu in den
Wettbewerb eintritt, eine wesentlich geringere Produktivität hat als die Post, deren Briefzusteller alle 30, 40
oder 50 Meter einen Brief abgeben, während die Zusteller der neuen Wettbewerber wegen des geringeren
Briefaufkommens möglicherweise 300 oder 400 Meter
laufen müssen, um einen Brief abzugeben. Paketdienstleister, die in ländlichen Regionen auch Briefe zustellen,
sind von diesem Tarifvertrag künftig nicht erfasst. Wenn
Zeitungszusteller Briefe mitnehmen, aber überwiegend
Zeitungen verteilen, sind auch diese nicht erfasst. Dasselbe gilt für Taxifahrer und Einzelhandelskräfte. Es
kommt darauf an, welche Tätigkeit überwiegt. Genau
darum ging es uns.
Es bleiben zwei ganz wesentliche Punkte, die zu regeln sind. Zum einen handelt es sich um die Mehrwertsteuer, die hier mehrfach angesprochen worden ist. Es
kann nicht sein, dass ein Unternehmen das Mehrwertsteuerprivileg hat, während die anderen in die Röhre
schauen. Wir werden dieses Problem gemeinsam zu regeln haben.
({10})
Das ist die Voraussetzung, unter der unsere Fraktion diesem Gesetzentwurf zustimmt. Zum anderen handelt es
sich - darauf bin ich selbst, offen gesagt, erst durch die
Diskussion gekommen - um die Unfallversicherung und
die Privilegien, die die Post gegenüber den Wettbewerbern hat. Wir werden regeln müssen, wie wir diesen
Kostenvorteil in Höhe von 3 Prozent korrigieren.
Ich habe mich - das gilt auch für verschiedene Kollegen meiner Fraktion und anderer Fraktionen - gefragt,
was man tun kann, um eine soziale Mindestabsicherung,
wie im Postgesetz vorgesehen, herzustellen und gleichzeitig die negativen Auswirkungen für die Verbraucher
und den Wettbewerb in Grenzen zu halten. Die Lösung
mag unvollkommen gelungen sein, aber ich glaube, dass
wir hier eine Ausgangssituation haben, die den Wettbewerbern einen Einstieg ermöglicht, wenn er auch möglicherweise zusätzliche Kreativität der Wettbewerber
erfordert. Die Diskussionen, die stattfinden, sind deswegen durchaus verständlich. Es bleiben sicher bei dem einen oder anderen Restbedenken. Ich glaube, wir werden
letztlich auf der Basis des Postgesetzes und der Diskussionen, die wir geführt haben, zustimmen können.
Herr Arbeitsminister, ich sage Ihnen für die Zukunft
klipp und klar: Sie müssen davon ausgehen, dass die
Diskussion mit unserer Fraktion über die Post wegen der
besonderen Voraussetzungen eine andere Diskussion
war als die, die wir über andere Branchen führen werden. Ich habe eben der SPD gesagt, dass wir aufpassen
müssen, dass wir nicht zu nahe an den bestehenden
Strukturen sind. Wir müssen auch gemeinsam aufpassen,
dass wir nicht in die Falle laufen, die ich zurzeit sehe.
Die Entsorgung und andere Bereiche sind angesprochen
worden. Wir müssen uns als Politiker gemeinsam dagegen wehren, dass große Arbeitgeber in den verschiedenen Branchen - meistens gegen kleinere und mittlere Arbeitgeber - das Entsendegesetz und die Möglichkeit,
Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären, was
der sozialen Absicherung von Arbeitnehmern dient, instrumentalisieren und nach dem Motto missbrauchen:
Wettbewerb ist gut, aber um Gottes willen nicht in meiner eigenen Branche. ({11})
Dagegen muss die Politik sich wehren.
({12})
Denn unsere Grundphilosophie, dass Tarifverträge die
entscheidende Größe bei der Lohnfindung sind, wird
ausgehebelt, wenn Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter auf gesetzlichem Wege die Möglichkeit erhalten,
Verträge zulasten Dritter zu schließen, sei es zulasten
kleiner und mittlerer Betriebe, sei es zulasten der Verbraucher.
Diesen Abwägungsprozess werden wir in den kommenden Verfahren in jedem einzelnen Fall vorzunehmen
haben. Wir werden beurteilen müssen, was bei dieser
Zielsetzung überwiegt. Geht es darum, soziale Absicherung für Arbeitnehmer und ihre Familien zu gewährleisten, oder geht es den Beteiligten darum, Verträge zulasten Dritter zu schließen? Den Weg, Verträge zulasten
Dritter zu schließen, wird die CDU/CSU-Fraktion nicht
mitgehen.
({13})
Wenn wir diese Philosophie beachten, werden wir etwas dazu beitragen können, dass sich die Menschen in
diesem Land sozial sicherer fühlen, und trotzdem die
Voraussetzung dafür schaffen, dass in Zukunft neue Arbeitsplätze in diesem Land entstehen können. Dafür treten wir ein.
({14})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen noch
nicht zur Abstimmung. Wir haben noch einen Redner,
und ich bitte Sie, ihm in Ruhe zuzuhören. Ich bitte auch
diejenigen weiter hinten, sich auf den hinreichend vorhandenen Plätzen niederzulassen.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erhält der Kollege Klaus Barthel von der SPD das Wort.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident! Ich werde versuchen,
die Zeit bis zur Abstimmung sinnvoll zu nutzen.
Ich glaube, heute ist nicht nur ein guter Tag für die
Briefträger und die Postbranche, sondern auch für die
Demokratie. Denn wir werden sehen, dass die Entscheidung, die wir heute treffen, nicht davon geprägt ist, wer
die größeren Anzeigen schalten kann, wer wen auf diesem Wege erpressen kann und wer in seinen Zeitungen
die größeren Buchstaben hat. Wir als Parlament entscheiden heute nach wirtschaftlicher Vernunft und im
Sinne der Interessen der Bevölkerung. Ich bin sehr froh,
dass auch unser Koalitionspartner diesem Druck widerstanden hat.
({0})
An dieser Stelle muss man einmal daran erinnern, was
uns außerhalb dieses Hauses seit Tagen beschäftigt. Ich
möchte zum Beispiel an den Pressekodex des Deutschen
Presserats erinnern, in dem es heißt, dass Verleger, Herausgeber und Journalisten eine besondere Verantwortung haben. Ich zitiere aus dem Kodex
Sie nehmen ihre publizistische Aufgabe fair, nach
bestem Wissen und Gewissen, unbeeinflusst von
persönlichen Interessen und sachfremden Beweggründen wahr.
In den Leitlinien eines großen Verlages heißt es:
Die Journalisten bei Axel Springer … nutzen ihre
Berichterstattung nicht, um sich oder anderen Vorteile zu verschaffen.
Die Ankündigungen von Entlassungen und die Kampagne gegen den Mindestlohn spielen auf übelste Weise
mit den Ängsten der Bevölkerung und mit den Schicksalen der Menschen, die in den Betrieben davon betroffen
sein werden.
({1})
Die Antimindestlohnkampagne und die Drohung mit
Entlassungen sind ein Verstoß gegen die Grundsätze des
Presserechts und gegen die eigenen Grundsätze von bestimmten Verlagen.
Die Ankündigungen von Entlassungen - das ist schon
gesagt worden - sind das Ergebnis eigenen Scheiterns,
weil manche den Postmarkt falsch eingeschätzt haben:
Sie glaubten dem Gerede über den Niedriglohnsektor
und einfache Tätigkeiten. Sie meinten, man könne einfach daherkommen, eine halbe Milliarde Euro auf den
Tisch legen, ein paar Niedriglohnbeschäftigte einstellen,
leichten Markteintritt erhalten und leichten Gewinn machen. Dann glaubte man auch noch, das Risiko auf die
Beschäftigten verlagern zu können, indem man behauptet, ein Arbeitnehmer sei weniger produktiv, wenn er
weiter laufen muss, um einen Brief zuzustellen. Was ist
das denn für ein Argument? Er muss mehr arbeiten, um
einen Brief zuzustellen - und dafür bekommt er weniger
Lohn, weil ihm vorgehalten wird, er sei weniger produktiv? Was für eine Vorstellung von moderner Volkswirtschaft liegt dem zugrunde?
({2})
Es ist DDR-Philosophie, zu sagen: Die wenige Arbeit,
die wir haben, verteilen wir, und dann bekommen alle
weniger.
Das Interessante dabei ist doch, dass trotz des Lohndumpings, das wir haben - 5 bis 6 Euro werden im
Durchschnitt gezahlt -, diese Verluste aufgelaufen sind
und dass man sich hoffnungslos in Widersprüche verwickelt hat. Ich darf zitieren:
Der Mindestlohn sei zwar ordnungspolitisch bedenklich und für die kleinen Wettbewerber durchaus gefährlich, weil sie keine Chance mehr haben.
Aber für die großen wie PIN und TNT könne eine
Beschränkung des Wettbewerbs trotz des Lohnkostennachteils Vorteile haben und die Marktchancen
verbessern. Deswegen würden bei PIN auch bei der
Einführung eines Mindestlohns keine Abschreibungen nötig.
So hieß es noch vor einem Monat aus dem Hause Springer.
Jetzt haben wir eine andere Situation, jetzt werden die
verpassten Chancen diskutiert. Da heißt es: Ach hätten
wir doch einen allgemeinen Mindestlohn von 7,50 Euro
beschlossen; das wäre billiger gewesen! Herr
Austermann sagt: Ach hätten wir doch das Briefmonopol
verlängert! Der PIN-Chef sagt: Ach hätten wir doch einen Stufenplan mit den Gewerkschaften vereinbart! - Ja:
Hätten wir, hätten wir! Dann wäre es vielleicht billiger
geworden. Aber das ist nicht getan worden.
Stattdessen haben die Wettbewerber der Post gegen
das Lizenzrecht verstoßen. Selbst die Bundeskanzlerin
hat ihnen vorgestern vorgehalten - ich zitiere -: Ohne
die Einführung einer Sozialklausel für die Beschäftigten
wäre das frühere Staatsunternehmen nicht privatisiert
worden. Der Mindestlohn sei eine Folge dieser Vereinbarung, sagte Merkel laut Welt vom 12. Dezember. Wie wahr, wie wahr! Keine Lizenz ohne branchenübliche Arbeitsbedingungen, Klammer auf: Postgesetz;
Klammer zu.
({3})
Es hat etwas Makaberes, wenn manche Wettbewerber
jetzt lautstark versuchen, dem Mindestlohn den Geruch
der Rechtswidrigkeit anzuheften. Da ist die Rede von
Schadenersatz, da ist die Rede vom Bundeskartellamt,
von der EU-Kommission, vom Bundesverfassungsgericht; das Einzige, was noch fehlt, ist die UN-Menschenrechtskonvention. Mit einem Rechtsstaat habe ein Mindestlohn nichts zu tun, wird gesagt.
Wir müssen feststellen, dass ein großer Teil der Wettbewerber, die jetzt schreien, gegen Recht und Gesetz
verstoßen hat,
({4})
und zwar indem sie Arbeitsbedingungen geboten haben,
die weit unter dem Branchenüblichen liegen. Wer das
nicht getan hat, braucht auch keine Angst vor dem Mindestlohn zu haben.
({5})
Noch etwas zum Thema Mehrwertsteuer. Wir haben
doch, wie wir jetzt wieder sehen, folgende Lage: Der
Wettbewerb in Europa ist unfair. Die Niederlande - die
selber einen Mindestlohn haben - haben jetzt angekündigt, wegen unseres Mindestlohns die Liberalisierung ihres Postsektors womöglich hinauszuschieben. Für die
Deutsche Post gilt die Universaldienstpflicht. Kein anderer Wettbewerber muss sich diesen Auflagen stellen.
Deswegen haben wir in Meseberg vereinbart, dass das
Mehrwertsteuerprivileg für Universaldienstleister bleibt.
Das ist natürlich eine Besserstellung im Wettbewerb.
Doch dafür können die Wettbewerber bei ihren Löhnen
mit dem Mindestlohn um etwa ein Drittel unter dem
bleiben, was bei der Deutschen Post AG üblich ist.
Herr Kollege Barthel, Sie achten bitte auf die Redezeit.
Sie haben die Chance, sich die Geschäftsfelder auszusuchen, ohne Universaldienstpflicht.
Ich muss mich deswegen schon sehr wundern, wie
hier über Wettbewerb diskutiert wird. Manche haben offensichtlich die Vorstellung, dass Wettbewerb nur durch
Lohn- und Sozialdumping geht. Das ist nicht unser Wettbewerbsverständnis; das müssen wir am Beispiel des
Postbereichs deutlich machen. Wir werden das auch in
anderen Bereichen, in denen es ähnliche Zustände gibt,
in denen ähnlicher Handlungsbedarf besteht, deutlich
machen.
In diesem Sinne bitte ich Sie um Zustimmung zu diesem Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des
Arbeitnehmer-Entsendegesetzes und um Ablehnung der
Anträge, insbesondere des Entschließungsantrags der
FDP, in dem gefordert wird, die Mehrwertsteuer auf alle
Postdienstleistungen auszudehnen. Das müssten letzten
Endes - dank FDP als Steuererhöhungspartei - die kleinen Einzelverbraucher bezahlen.
Das haben wir jetzt, glaube ich, alle verstanden, Herr
Kollege. Da Ihre Redezeit reichlich überschritten ist, ist
sie hiermit nun zu Ende.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Zweiten Ge-
setzes zur Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegeset-
zes. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7512,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Druck-
sache 16/6735 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? -
Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung ange-
nommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich weise darauf hin, dass mir
hierzu eine Reihe von Erklärungen zur Abstimmung
nach § 31 unserer Geschäftsordnung vorliegt - sowohl
von Kolleginnen und Kollegen der Fraktion der CDU/
CSU als auch aus der Fraktion Die Linke.1)
Nach Art. 87 Abs. 3 des Grundgesetzes ist für die Annahme des Gesetzentwurfs die absolute Mehrheit - das
sind 307 Stimmen - erforderlich. Hierzu ist namentliche
Abstimmung verlangt worden. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Das scheint überall der Fall zu sein. Dann eröffne ich hiermit die Abstimmung.
Hat irgendjemand seine Stimmkarte noch nicht abgegeben? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
mit der Auszählung zu beginnen. Das Abstimmungsergebnis werden wir, wie meistens, später vortragen.
Ich möchte die Abstimmungen fortsetzen und komme
zu den Entschließungsanträgen.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der FDPFraktion auf Drucksache 16/7555? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist
mit der Mehrheit der Stimmen der anderen Fraktionen
abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/7556? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Mit der Mehrheit aller
anderen Fraktionen abgelehnt.
Zusatzpunkt 8. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie
auf Drucksache 16/7510. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/6432
mit dem Titel „Eine Chance für den Wettbewerb - Kein
Monopolschutz für die Deutsche Post AG“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Damit ist die Beschlussempfehlung
mit den Stimmen der Koalition angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/6631 mit dem Titel „Post braucht
Wettbewerb - Wettbewerb braucht faire Bedingungen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung des Ausschusses mit großer Mehrheit angenommen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 31:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, Ulla
Lötzer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Regelung
der erwerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung ({0})
- Drucksache 16/4805 -
1) Anlagen 2 bis 6
Präsident Dr. Norbert Lammert
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({1})
- Drucksache 16/7513 Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Kramme
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Dazu besteht offenkundig Einvernehmen. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Wolfgang Grotthaus für die SPD-Fraktion.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach dem Mindestlohn steht nunmehr das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz auf der Tagesordnung. Beide
Themen haben aus unserer Sicht eines gemeinsam: Den
Auswüchsen am Arbeitsmarkt soll entgegengewirkt
werden. Dazu sind von den Fraktionen der Linken und
der Grünen Anträge formuliert worden, über die hier und
heute diskutiert wird. Lassen Sie mich zu diesen beiden
Anträgen eingangs eines sagen: Die Zielrichtung ist aus
meiner Sicht richtig,
({0})
aber, Kollege Schneider, der Ansatz ist zu kurz gesprungen und aus meiner Sicht mit der heißen Nadel gestrickt.
({1})
Ich sage dazu: Schade, denn dieses Thema verdient mehr
Aufmerksamkeit. Regelungsbedarf ist vorhanden, aber
nicht in der Weise, wie Sie, meine Damen und Herren
von der Opposition, es hier vorschlagen. Das bloße
Streichen von Ausnahmeregelungen im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz führt nicht zwingend zur konkreten
Umsetzung des Gleichbehandlungsansatzes, den wir als
Sozialdemokraten immer im Auge haben.
Um die Aufgeregtheit aus diesem Thema zu nehmen,
will ich Schritt für Schritt vorgehen. Es ist ja nicht so, als
erkenne die SPD die Probleme nicht. Zum Beispiel
kommt es vor, dass ganze Abteilungen eines Konzerns
outgesourct werden, diese Abteilungen sich dann außerhalb des Konzerns in Gänze ansiedeln, und dieselben
Menschen, die in diesen Abteilungen beschäftigt waren,
vom Konzern ausgeliehen werden und für die gleiche
Arbeit auf einmal nach einem anderen Tarifvertrag,
nämlich einem, der ein niedrigeres Gehalt vorsieht, bezahlt werden.
({2})
Das war wahrlich nicht der Sinn des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes. Deswegen sagen wir: Wenn das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz zum Zwecke von Lohndumping benutzt wird, dann haben wir darauf zu
reagieren.
({3})
Wie dem gegenzusteuern sein wird, muss mit der nötigen Sorgfalt geprüft werden. Dazu haben wir am
Montag dieser Woche eine Expertenanhörung im
Fachausschuss durchgeführt. Es gab ein Spektrum an
Vorschlägen für Verbesserungen, gerade auch von jenen
Experten, die aus der Praxis kommen; das war nicht erstaunlich. Die Vorschläge sind nunmehr von allen Fachpolitikern genau auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen.
Die Einschätzungen, ob dieses Gegensteuern über Tarifverträge oder über eine gesetzliche Regelung zu erreichen ist, gingen dabei durchaus weit auseinander.
Deswegen mein Hinweis an die beiden Antragsteller:
Ziehen Sie Ihre Anträge hier und heute zurück. Überprüfen Sie die Aussagen der Fachexperten.
({4})
Suchen Sie den ganzheitlichen Ansatz, und lassen Sie
uns dann gemeinsam einen Antrag formulieren, der den
Menschen in diesem Metier im Rahmen des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes insgesamt entgegenkommt.
Wir werden uns - dies sei an dieser Stelle schon gesagt von Ihren Anträgen nicht treiben lassen. Dazu ist uns die
Angelegenheit zu wichtig.
({5})
Ich komme zurück auf die Intention, die wir mit dem
Arbeitnehmerüberlassungsgesetz verfolgt haben. Wir
wollten mehr Beschäftigte in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse bringen. Dazu wollten wir eine
größere Flexibilität erreichen. Gewünscht war dabei,
Zeitarbeitnehmerinnen und Zeitarbeitnehmer über den
sogenannten Klebeeffekt in dauerhafte Arbeitsverhältnisse in den Betrieben zu bringen.
Dass sich nun herausstellt, dass dies nicht in dem erhofften Maße erfolgt, veranlasst uns jedoch nicht, das
Konzept der Arbeitnehmerüberlassung infrage zu stellen. Denn eines ist Fakt: Zeitarbeit hat durchaus Erfolge
vorzuweisen. Davor sollte man nicht die Augen verschließen.
({6})
Es darf aber auch nicht unerwähnt bleiben, dass es dabei zu Auswüchsen wie Lohndumping, Vernichtung von
regulären Arbeitsplätzen durch Umwandlung in Zeitarbeitsplätze und Aufteilung der Belegschaft durch unterschiedliche Bezahlung bei gleicher Arbeit kommt. Das
ist ebenfalls Fakt.
Aus diesem Grund steht auch unsererseits nicht die
Zeitarbeit als solche infrage; es geht nur darum, wie die
Auswüchse, die zulasten von Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern gehen, korrigiert werden können.
({7})
- Wir sind auf dem Weg, Kollegin Pothmer,
({8})
aber das, was Sie machen, ist zu kurz gesprungen. Der
Ansatz ist zwar richtig, aber es ist nur ein Punkt in dem
Wust vieler Notwendigkeiten, die wir in diesem Bereich
sehen.
({9})
Zeitarbeitskräfte werden in allen Wirtschaftszweigen
eingesetzt. Auffällig ist aber, dass dies besonders häufig
dort der Fall ist, wo die Löhne der Zeitarbeitsbranche
niedriger sind als die Tariflöhne in der Branche, in der
Zeitarbeitnehmer eingesetzt werden. Hier muss tatsächlich der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ gelten. Dabei ist aber die Umsetzung von gravierender Bedeutung.
({10})
Ich frage mich, nach welchem Tariflohn ein Zeitarbeitnehmer bezahlt wird, der eine Woche nach dem IGMetall-Tarifvertrag arbeitet, dann zwei Wochen nach
dem Verdi-Vertrag und dann wieder eine Woche nach
NGG-Vertrag.
({11})
Wir müssen uns damit beschäftigen, ob man ein arithmetisches Mittel zugrunde legen sollte, ob man den Zeitarbeitnehmertarifvertrag wählt und mit welchen finanziellen Belastungen der bürokratische Aufwand verbunden
ist, wenn tatsächlich jeder Tarifvertrag sinngemäß angewendet wird.
({12})
Eine weitere Frage ist, wie etwa ein Lkw-Fahrer zu
behandeln ist - das Beispiel wurde schon genannt -, der
in einem Betrieb anfängt und von seinem Arbeitgeber,
nämlich dem Entleiher, eine Probezeit vorgeschrieben
bekommt. Ein Lkw-Fahrer verlernt natürlich nicht von
heute auf morgen das Lkw-Fahren. Insofern stellt sich
die Frage, ob eine Probezeit notwendig ist. Ich verneine
diese Frage zunächst einmal. Es stellt sich aber auch die
Frage, wie damit umzugehen ist, wenn Probezeiten notwendig sind. Es ist unstrittig, dass dies in manchen Betrieben der Fall ist.
Wie kann man das unter Kontrolle bekommen? Es
kann nicht dem Arbeitgeber alleine überlassen werden,
die Probezeiten zu definieren und eine Frist festzulegen,
sodass ein Arbeitgeber drei Monate und ein anderer
sechs verlangt. Hier sind die Tarifvertragsparteien in den
Betrieben gefordert. Einige Betriebe haben das schon
vorgemacht. Sie haben ihre betrieblichen Tarifverträge
vorbildlich abgeschlossen. Diesen Aspekt werden wir zu
berücksichtigen haben. Dabei werden wir - das steht
fest - die Tarifvertragsparteien, die Betriebsräte aus den
Betrieben, die Leiharbeitnehmer aufnehmen, aber auch
die Arbeitgeber mit ins Boot holen müssen.
Unterm Strich bleibt festzuhalten, dass noch ein großer Regulierungsbedarf besteht. Wenn eine solche Vorgehensweise, wie ich sie gerade am Beispiel des LkwFahrers geschildert habe, nur dazu dient, Menschen nicht
qualifikationsgerecht einzustellen und ihnen entsprechende Löhne vorzuenthalten, dann sind wir als Gesetzgeber gefordert.
An diesem Beispiel sehen Sie schon, dass die Thematik komplexer ist, als es Ihre Anträge vermitteln. Aus
diesem Grund werden wir heute Ihre Anträge ablehnen.
Wir kündigen aber an,
({13})
dass wir zu gegebener Zeit im Plenum mit eigenen Überlegungen auf das Thema zurückkommen werden.
({14})
Dann wird sich ein Teil Ihrer Überlegungen natürlich in
unseren Anträgen wiederfinden, weil die Thematik zwischen uns allen unstrittig ist. Aber wir werden das natürlich weiter aufsplitten, wie ich es gerade dargestellt
habe.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Ich gebe Ihnen das Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines zweiten Gesetzes zur
Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes, Drucksachen 16/6735 und 16/7512, bekannt. Abgegebene
Stimmen: 552. Mit Ja haben 466, mit Nein 70 gestimmt.
Stimmenthaltungen: 16. Zur Annahme des Gesetzentwurfes ist gemäß Art. 87 Abs. 3 des Grundgesetzes die
absolute Mehrheit - das sind 307 Ja-Stimmen - erforderlich. Der Gesetzentwurf hat die erforderliche Mehrheit
erreicht.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 552;
davon
ja: 466
nein: 70
enthalten: 16
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Albach
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Clemens Binninger
Renate Blank
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({1})
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Cajus Caesar
Leo Dautzenberg
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Maria Eichhorn
Dr. Stephan Eisel
Anke Eymer ({2})
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Enak Ferlemann
Hartwig Fischer ({3})
Dirk Fischer ({4})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({5})
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Ralf Göbel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Ursula Heinen
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Bernd Heynemann
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Dr. Peter Jahr
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Dr. Franz Josef Jung
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({6})
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Kristina Köhler ({7})
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers
({8})
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Stephan Mayer ({9})
Dr. Michael Meister
Laurenz Meyer ({10})
Philipp Mißfelder
Dr. Gerd Müller
Hildegard Müller
Carsten Müller
({11})
Stefan Müller ({12})
Bernward Müller ({13})
Bernd Neumann ({14})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Katherina Reiche ({15})
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Anita Schäfer ({16})
Hartmut Schauerte
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({17})
Andreas Schmidt ({18})
Ingo Schmitt ({19})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Kurt Segner
Marion Seib
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Thomas Strobl ({20})
Michael Stübgen
Hans Peter Thul
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß ({21})
Gerald Weiß ({22})
Annette Widmann-Mauz
Willy Wimmer ({23})
Elisabeth WinkelmeierBecker
Willi Zylajew
SPD
Dr. Lale Akgün
Gerd Andres
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr ({24})
Doris Barnett
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Petra Bierwirth
Lothar Binding ({25})
Volker Blumentritt
Kurt Bodewig
Clemens Bollen
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({26})
Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Karl Diller
Martin Dörmann
Dr. Carl-Christian Dressel
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Annette Faße
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({27})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
({28})
Nina Hauer
Hubertus Heil
Dr. Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Petra Hinz ({29})
Gerd Höfer
Iris Hoffmann ({30})
Frank Hofmann ({31})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Johannes Jung ({32})
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Ulrich Kelber
Christian Kleiminger
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Walter Kolbow
Karin Kortmann
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Jürgen Kucharczyk
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange ({33})
Waltraud Lehn
Helga Lopez
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Caren Marks
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Petra Merkel ({34})
Ulrike Merten
Dr. Matthias Miersch
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller ({35})
Michael Müller ({36})
Gesine Multhaupt
Dr. Rolf Mützenich
Thomas Oppermann
Heinz Paula
Johannes Pflug
Christoph Pries
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Steffen Reiche ({37})
Maik Reichel
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel RiemannHanewinckel
Walter Riester
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({38})
Michael Roth ({39})
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
({40})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({41})
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Marianne Schieder
Otto Schily
Dr. Frank Schmidt
Ulla Schmidt ({42})
Silvia Schmidt ({43})
Renate Schmidt ({44})
Heinz Schmitt ({45})
Carsten Schneider ({46})
Kastner
Ottmar Schreiner
Reinhard Schultz
({47})
Swen Schulz ({48})
Ewald Schurer
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Dieter Steinecke
Andreas Steppuhn
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Dr. Rainer Tabillion
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Jörn Thießen
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
({49})
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Engelbert Wistuba
Dr. Wolfgang Wodarg
Waltraud Wolff
({50})
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
DIE LINKE
Hüseyin-Kenan Aydin
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Dr. Lothar Bisky
Heidrun Bluhm
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Heike Hänsel
Lutz Heilmann
Hans-Kurt Hill
Inge Höger
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Dr. Hakki Keskin
Katja Kipping
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Kornelia Möller
Kersten Naumann
Wolfgang Nešković
Dr. Norman Paech
Bodo Ramelow
Paul Schäfer ({51})
({52})
Frank Spieth
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({53})
Volker Beck ({54})
Cornelia Behm
Grietje Bettin
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Priska Hinz ({55})
Dr. Anton Hofreiter
Thilo Hoppe
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Fritz Kuhn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({56})
Monika Lazar
Anna Lührmann
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({57})
Winfried Nachtwei
Claudia Roth ({58})
Krista Sager
Christine Scheel
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Fraktionslose Abgeordnete
Henry Nitzsche
Gert Winkelmeier
Nein
CDU/CSU
Norbert Barthle
Hubert Deittert
Marie-Luise Dött
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Eberhard Gienger
Jürgen Herrmann
Jens Koeppen
Johann-Henrich
Krummacher
Dr. Klaus W. Lippold
Friedrich Merz
Dr. h. c. Hans Michelbach
Franz Obermeier
Albert Rupprecht ({59})
Peter Rzepka
Jens Spahn
Andrea Astrid Voßhoff
Klaus-Peter Willsch
FDP
Jens Ackermann
Dr. Karl Addicks
Christian Ahrendt
Daniel Bahr ({60})
Uwe Barth
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({61})
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Miriam Gruß
Joachim Günther ({62})
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Hellmut Königshaus
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Frank Schäffler
Dr. Konrad Schily
Marina Schuster
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Christoph Waitz
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({63})
Martin Zeil
Enthaltung
CDU/CSU
Michael Grosse-Brömer
Ernst Hinsken
Susanne Jaffke
Andreas G. Lämmel
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
DIE LINKE
Roland Claus
Dr. Dagmar Enkelmann
Diana Golze
Cornelia Hirsch
Dr. Barbara Höll
Jan Korte
Katrin Kunert
Elke Reinke
Dr. Petra Sitte
Dr. Kirsten Tackmann
Der nächste Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Dr. Heinrich Kolb, FDP-Fraktion.
({64})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich fürchte, es ist kein Zufall, dass nach der Mindestlohndebatte heute Morgen jetzt die Zeitarbeit in den Fokus unserer Beratungen kommt. Denn es gibt einige in
diesem Hause, die sehr wohl ideologisch an das Thema
Zeitarbeit herangehen und diese in den Betrieben weitestgehend unmöglich machen möchten.
({0})
- Nein, Herr Kollege Schneider. - Auch Zeitarbeit, also
Arbeit, die im Rahmen des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes geleistet wird, ist gute Arbeit. Für das entleihende Unternehmen ist diese Art der Beschäftigung in
der Regel auch nicht billiger, wenn man die Gesamtkosten betrachtet, sondern - verglichen mit den Kosten eigener Mitarbeiter - oft sogar teurer. Aber Zeitarbeit
schafft Flexibilität, die es zum Beispiel braucht, um
Auftragsspitzen zu bewältigen, Flexibilität, mit der Unternehmen auf einen beginnenden Aufschwung reagieren können, von dem sie noch nicht wissen, ob er dauerhaft tragfähig sein wird. Das hat man doch gerade im
aktuellen Konjunkturzyklus sehr schön beobachten
können. Zu Beginn des Aufschwungs waren 75 Prozent
der neu geschaffenen Stellen im Bereich der Zeitarbeit.
Jetzt, in der reiferen Phase des Aufschwungs, sind es gerade einmal noch 25 Prozent. Der Klebeeffekt, von dem
hier schon die Rede war, hat dazu geführt, dass viele, die
vormals Leiharbeiter gewesen sind, jetzt eine Festanstellung beim entleihenden Unternehmer gefunden haben.
Das heißt, die Brücke in den ersten Arbeitsmarkt
wirkt. Wir sollten sie nicht unpassierbar machen.
({1})
Ende 2007 sind etwa 680 000 Mitarbeiter in der gewerblichen Zeitarbeit beschäftigt. Dies ist eine deutliche
Zunahme gegenüber der jüngeren Vergangenheit. Das ist
für mich keine Schreckens-, sondern eine Erfolgsmeldung. Ich finde die zunehmende Polemisierung in der
Debatte über die Zeitarbeit überhaupt nicht angebracht,
({2})
und zwar auch deswegen, weil sich viele Argumente, die
gegen die Leiharbeit vorgebracht werden, bei näherer
Betrachtung oft recht schnell widerlegen lassen.
Eines der Vorurteile lautet, dass dadurch reguläre Arbeitsplätze im Betrieb verdrängt würden. Dieses Argument hat gerade auch Kollege Grotthaus aufgegriffen.
Herr Kollege Grotthaus, das ist falsch. Eine IAB-Studie
- die FDP ist nicht immer unkritisch, wenn es um IABStudien geht - vom Herbst letzten Jahres hat belegt, dass
Leiharbeitsjobs in der Regel nur kurze Phasen im Erwerbsleben eines Arbeitnehmers darstellen. Das widerspricht klar der immer wieder vorgetragenen Befürchtung, dass Leiharbeiter reguläres Personal verdrängen.
({3})
Nach der IAB-Studie waren gerade einmal 13 Prozent
der Leiharbeiter ein Jahr oder länger ununterbrochen
beim gleichen Entleiher tätig. Das, Herr Kollege
Dreibus, spricht doch für sich.
({4})
Des Weiteren haben Untersuchungen gezeigt, dass
durch die Arbeitnehmerüberlassung nicht wenige Arbeitnehmer einen Arbeitsplatz erreichen konnten, den sie
unter anderen Umständen nicht bekommen hätten. Eine
aktuelle Studie des IWG vom November dieses Jahres
kommt zu dem Ergebnis, dass viele gering qualifizierte
Arbeitslose ohne Zeitarbeit wahrscheinlich überhaupt
keine Chance mehr auf einen Job hätten. Nach einer Studie des Marktforschungsinstitutes Lünendonk kamen
zwei Drittel der Zeitarbeitnehmer aus der Arbeitslosigkeit. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit
- Frank Weise im Ausschuss in dieser Woche - erfolgt
jede vierte Vermittlung eines Arbeitslosen in die Arbeitnehmerüberlassung. Das macht doch deutlich: Ein Verbot der Arbeitnehmerüberlassung würde sich gerade für
gering qualifizierte Arbeitslose negativ bemerkbar machen. Das wollen wir nicht.
({5})
Ein „equal pay - equal treatment“, Herr Kollege
Dreibus, ist aus unserer Sicht wegen der Fülle unterschiedlicher Tarifverträge nicht handhabbar.
({6})
Mehr als 64 000 existieren davon in Deutschland.
({7})
Nun sind aber, wie der Sachverständige Mumme in der
Anhörung am letzten Montag ausführte, von den
760 000 Erlaubnisinhabern, die überwiegend Zeitarbeit
betreiben, 63 Prozent Betriebe mit weniger als
50 Mitarbeitern. Daher stellt sich für mich die Frage, wie
gerade diese mittelständischen Verleiher bei
64 000 Tarifverträgen mit einem obligatorischen „equal
pay - equal treatment“ und dem damit verbundenen bürokratischen und administrativen Aufwand klarkommen
sollen.
({8})
Herr Kollege Dreibus, Sie sind doch manchmal durchaus
vernünftig, aber hat jemand bei Ihnen einmal darüber
nachgedacht, was „equal pay - equal treatment“ für
diese kleinen Betriebe bedeutet? Nichts anderes als das
Aus! Auch das wollen wir nicht.
({9})
In Ihrem Gesetzentwurf heißt es:
Praktische Erfahrungen in Unternehmen verschiedener Branchen … belegen, dass der Tarifvorbehalt
von den Arbeitgebern zum Lohndumping missbraucht wird.
Herr Dreibus, hier werden alle Arbeitgeber unter Generalverdacht gestellt. Das ist nicht akzeptabel.
({10})
Niemand wird leugnen können, dass es auch in dieser
Branche schwarze Schafe gibt. Aber diese generelle Vorverurteilung zeigt, durch welche ideologische Brille der
Autor bei der Formulierung dieses Gesetzentwurfs geblickt hat.
Zum Schluss ein Zitat aus dem Jahresgutachten des
Sachverständigenrates:
Bedenklich wäre es ferner, wenn Forderungen Gehör fänden, die Flexibilisierung bei der Leiharbeit
wieder auf breiter Front zurückzudrehen. Denn
diese Form der dauerhaften sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung eröffnet in Ermangelung
namentlich einer Lockerung beim Kündigungsschutz wichtige Flexibilitätsspielräume und verzeichnete daher insbesondere in der Anfangsphase
des Aufschwungs deutliche Zuwächse.
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gitta Connemann,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren von der Linken, Ihre
Vorlagen sind immer für eine Überraschung gut bzw.
schlecht. Heute sehen Sie mich nicht nur verblüfft, sondern auch einigermaßen ratlos; denn Sie legen den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der erwerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung
vor. Ich bin selbst Arbeitsrechtlerin, aber dieses Gesetz
kenne ich nicht. Auch ein Blick in die offizielle Sammlung der Arbeitsgesetze machte mich nicht schlauer.
Dort findet sich aber - das war wohl von Ihnen gemeint - das Gesetz zur Regelung der gewerbsmäßigen
Arbeitnehmerüberlassung abgedruckt. Ein einfacher
Schreibfehler? Nein, denn die falsche Formulierung
zieht sich konsequent durch einen immerhin vierseitigen
Gesetzentwurf. Ich glaube, dass diese Nachlässigkeit
einmal mehr die mangelnde Ernsthaftigkeit Ihrer Arbeit
zeigt. Schnelligkeit statt Gründlichkeit, das hat schon
Methode; denn Sie produzieren wirklich Vorlagen im
Stundentakt. Damit vergeuden Sie Ressourcen. Damit
meine ich nicht die Zeit der Kolleginnen und Kollegen in
diesem Haus. Vielmehr denke ich mit Schrecken an die
Bäume, die für Ihre Papierflut abgeholzt werden mussten.
({0})
Meine Damen und Herren von der Linken, Sie fügen
dem deutschen Wald mehr Schaden zu, als es der saure
Regen jemals vermochte.
({1})
Das Schlimmste ist aber: Diese Nachlässigkeit zeigt
einmal mehr, dass es Ihnen an Respekt vor denjenigen
mangelt, zu deren Anwälten Sie sich stets ausrufen,
nämlich den Arbeitnehmern und Arbeitslosen. Diese
Bürgerinnen und Bürger können von uns allen Sorgfalt
und Sachlichkeit verlangen. Mit Ihrem Gesetzentwurf
werden Sie beidem nicht gerecht, insbesondere der
Sachlichkeit nicht. Ideologie pur: die Welt als SchwarzWeiß-Gemälde, Arbeitgeber als Ausbeuter.
Jetzt nehmen Sie die Zeitarbeitsbranche ins Visier.
Nach Ihrem Gesetzentwurf sollen die Ausnahmen, die
das Gesetz zum sogenannten Gleichbehandlungsgrundsatz enthält, gestrichen werden. Sie haben dafür
zwei Begründungen. Als erste Begründung führen Sie
an, dass die gültige gesetzliche Regelung Lohndumping
begünstige. Einen Nachweis für diese Behauptung liefern Sie wie immer nicht. Vielmehr beziehen Sie sich auf
Berichte von DGB-Gewerkschaften und Betriebsräten,
die Sie aber nicht vorlegen. Auch in der Anhörung am
Montag wurden laut Protokoll keine konkreten Zahlen
genannt. Das wäre auch schwierig; denn zum Beispiel
haben die DGB-Gewerkschaften, auf die Sie sich beziehen, für den Bereich der Zeitarbeit Tarifverträge abgeschlossen, die vom Grundsatz „equal pay - equal treatment“ abweichen und Mindestentgelte von 7,15 Euro im
Westen und 6,22 Euro im Osten festlegen. Auch das gehört zur Wahrheit.
Das Bundesarbeitsgericht hat bereits jetzt einen
Schutz vor Lohndumping geschaffen, auch im Hinblick
auf Tarifverträge: Nach der ständigen Rechtsprechung
des BAG sind tarifvertragliche Lohnvereinbarungen sittenwidrig, wenn der Tariflohn unter Berücksichtigung
aller Umstände des räumlichen, fachlichen und persönlichen Geltungsbereichs des Tarifvertrages sowie der im
Geltungsbereich des Tarifvertrages verrichteten Tätigkeiten einen Hungerlohn darstellt. Tarifverträge, die einen Hungerlohn regeln, sind also unwirksam. Auch das
ist schon heute Rechtswirklichkeit. Zur Vermeidung von
Lohndumping ist also die von Ihnen beantragte Streichung der Ausnahmetatbestände im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz nicht notwendig.
({2})
Sie begründen Ihren Antrag weiter damit, dass
Stammbeschäftigte in den Entleihfirmen durch Leiharbeitnehmer verdrängt werden. Das ist ein sehr gängiges
Argument. Auch für diese Behauptung fehlt einmal
mehr jeder Nachweis. Der ist auch nicht möglich; denn
die Statistik besagt etwas anderes - der Kollege Kolb hat
bereits darauf hingewiesen -: Die Verweildauer eines
Leiharbeitnehmers in einem Kundenunternehmen ist nur
kurz und liegt bei durchschnittlich zwei bis drei Monaten. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
der Bundesagentur, auf das Sie, meine Kolleginnen und
Kollegen von der Linken, sich beziehen - nur eben nicht
vollständig; die unangenehmen Wahrheiten lassen Sie
aus - kommt deshalb zu dem Ergebnis - ich zitiere -:
Für die häufig formulierte Begründung, dass Entleiher systematisch reguläre Arbeitskräfte durch Leiharbeiter ersetzen, liefern die Auswertungen keine
empirische Evidenz. Die Zeitarbeitsbranche ist vielmehr durch einen hohen Turnover geprägt. Langfristige Einsätze - und nur sie sind geeignet, reguläres Personal zu ersetzen - gibt es nur selten.
({3})
Nehmen Sie dies bitte zur Kenntnis!
Ich bin mit dem Kollegen Grotthaus einig, dass es unter den Zeitarbeitsfirmen sicherlich auch schwarze
Schafe gibt. Unbestritten: Wir sehen gewisse Verwerfungen - unter anderem im Verlagsbereich -, über die wir
werden reden müssen. Aber es gibt auch schlechte und
gute Abgeordnete, auch in diesem Haus.
Die Initiative, die Sie gegen die Zeitarbeitsbranche in
Gänze starten, hat keinen einzigen sachlichen Grund.
Das gilt auf jeden Fall für die beiden von Ihnen angeführten Begründungen; denn es lässt sich ohne Weiteres
erkennen, dass sie falsch sind. So stellt übrigens auch die
Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zum Grünbuch
Arbeitsrecht fest - ich zitiere -,
dass ein angemessener Schutz der Beschäftigten im
Leiharbeitsverhältnis gewährleistet ist und dass somit derzeit ein Regelungsbedarf hinsichtlich des sozialen Schutzes von Leiharbeitnehmern weder auf
europäischer noch auf nationaler Ebene besteht.
({4})
Es geht Ihnen, meine Damen und Herren von der Linken, also einmal mehr nicht um den Schutz von Arbeitslosen und Arbeitnehmern. Sie spielen einmal mehr nur
mit Worten. Auf den ersten Blick suggeriert die Forderung nach Gleichbehandlung von Zeitarbeitnehmern
bessere Bezahlung und mehr Gerechtigkeit. Aber gesetzt
den Fall, Ihre Forderungen würden tatsächlich umgesetzt, würden sie genau das Gegenteil bewirken. Zeitarbeitnehmer sind in allen Wirtschaftszweigen tätig. In einigen dieser Wirtschaftszweige sind aber Entlohnungen
vorgesehen, die deutlich geringer sind, als in den Tarifverträgen für Zeitarbeitnehmer vereinbart ist. Mehr als
90 Prozent der Zeitarbeitnehmer sind tarifvertraglich beschäftigt. Ein Beispiel dafür ist das Hotel- und Gaststättengewerbe in Mecklenburg-Vorpommern. Hier sieht die
Entlohnung 5,13 Euro vor. Das ist weniger, als die für
die Zeitarbeitnehmer vereinbarten Tarife festlegen.
Würde hier der Gleichbehandlungsgrundsatz umgesetzt,
müssten die Zeitarbeitskräfte erhebliche Einkommensverluste hinnehmen.
Ein weiteres Problem ergäbe sich dadurch: Derzeit ist
sichergestellt, dass Zeitarbeitnehmer in den verleihfreien
Zeiten dieselben Löhne und Entgelte erhalten wie in den
Einsatzzeiten. Würde diese Tariföffnungsklausel gestrichen, fiele diese Regelung ersatzlos weg. Arbeitgeber
und Arbeitnehmer müssten dann individuelle Regelungen schaffen. Ob die Arbeitnehmer dadurch immer bessergestellt würden, sei dahingestellt. Ich halte eine tarifvertragliche Regelung hier für weitaus sinnvoller.
({5})
Eines bitte ich im Übrigen zu bedenken: Die Zeitarbeitsbranche ist mittelständisch geprägt. Dem bürokratischen Aufwand, der mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz verbunden wäre, wäre keines dieser Unternehmen
gewachsen. Es müsste schließlich für jeden Mitarbeiter
vor jedem Einsatz im Einzelnen geklärt werden, wie die
jeweiligen Arbeitsbedingungen sind. Das betrifft nicht
nur die Lohnhöhe, sondern auch Urlaubstage, Urlaubsund Weihnachtsgeld,
({6})
Sozialleistungen, Anspruch auf Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen usw.
Kleine und mittelständische Unternehmen wären
durch einen solchen Personalaufwand immens belastet.
({7})
Es gäbe eine Marktbereinigung, und zwar zulasten des
Arbeitsmarktes,
({8})
zulasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, zugunsten der Arbeitslosigkeit.
Das heißt, Ihre Initiative gegen Zeitarbeit in dieser
pauschalen und wieder einmal ideologischen Form ist
nichts anderes als eine Initiative gegen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und für Arbeitslosigkeit.
({9})
Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Werner Dreibus,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich will nur eine Bemerkung zu Frau Connemann machen:
Es ist - zumindest für mich - relativ schwer nachvollziehbar, wie man, gerade als Frau und als Mitglied einer
sich auf christliche Fundamente gründenden Partei, einen Grundsatz aus Prinzip und aus sogenannten bürokratischen Gründen infrage stellen kann, einen Grundsatz,
der am Ende des 19. Jahrhunderts aus der christlichen
Soziallehre entstanden ist, einen Grundsatz, der sich im
20. Jahrhundert nicht nur in Deutschland, sondern auch
in Europa weitgehend durchgesetzt hat, nämlich den
Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, der
übrigens auch ein Ergebnis der Frauenbewegung ist. Wie
man ihn infrage stellen kann, ist mir wirklich unerklärlich.
({0})
Wie bei den Themen „Mindestlohn“ und „Managergehälter“ geht es auch beim Thema der Leiharbeit im
Kern immer um die Frage: Wie gerecht soll unsere Gesellschaft sein?
({1})
Wie beim Mindestlohn und bei den Managergehältern
müssen wir auch beim Thema Leiharbeit eine Gerechtigkeitslücke konstatieren.
Es ist eben so - das kann man auch mit noch so beschwörerischen Reden nicht aus der Welt schaffen -:
Viele - nicht alle - Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter
erhalten für die gleiche Arbeit bis zu 50 Prozent weniger
als die Kollegin oder der Kollege, die oder der nebenan
die gleiche Arbeit macht. Wer sich ab und zu einmal in
einem Betrieb Arbeitsplätze ansieht und mit den Menschen redet, der findet für diese These von mir vielfältige Belege.
({2})
Ich bitte Sie, zumindest ab und zu in die Praxis zu
schauen.
„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ ist heute, im
21. Jahrhundert, für Hunderttausende nur noch ein
Wunsch. Wir wollen, dass die Verwirklichung des Sozialstaatsgebots auch in diesem Bereich von uns Politikern wieder ernst genommen wird.
({3})
Wir von der Linken haben im Oktober unter dem Titel
„Gute Arbeit - Gutes Leben“ ein Manifest vorgelegt.
Wir haben eine Rahmeninitiative dazu in den Bundestag
eingebracht. Uns geht es nicht nur darum, generell mehr
Arbeitsplätze zu schaffen - das wollen wir alle -, sondern auch darum, die Qualität von Arbeit in den Mittelpunkt unserer Tätigkeit zu rücken.
({4})
Wir haben im Bereich der Leiharbeit vor allen Dingen
ein Problem bei der Qualität von Arbeit. Millionen Menschen jobben in zwei oder drei Jobs, weil, vor allem in
der Zeitarbeit, ein Verdienst allein nicht ausreicht, um
davon zu leben.
Neueinstellungen werden häufig nur noch über Leiharbeit vorgenommen. Beispiel: Im BMW-Werk in
Leipzig sind, wie wir alle wissen, mehr als ein Drittel
der Beschäftigen Leiharbeitskräfte. Die decken keine
Auftragsspitzen ab - das ist überhaupt kein Thema
mehr -; die erledigen die ganz normal anfallende, die reguläre Arbeit bei BMW in Leipzig. Man kann sogar sagen: Das Geschäftsmodell von BMW in Leipzig basiert
darauf, dass es dauerhaft Leiharbeitsplätze und eben
keine Stammarbeitsplätze gibt.
({5})
Das ist nur ein Beispiel von vielen.
Immer mehr Unternehmen verlagern Beschäftigte in
eigene Verleihfirmen und verleihen diese Beschäftigten
anschließend an sich selbst zurück. Das ist eine brutale
Ausnutzung einer Gesetzeslücke. Die müssen wir schließen.
({6})
So geschieht es in der kommunalen Seniorenbetreuung in Mülheim in Nordrhein-Westfalen. So geschieht es
bei der Nordwest-Zeitung in Oldenburg, der Region, aus
der Frau Connemann kommt. Da wurden Redakteurinnen und Redakteure entlassen, und anschließend wurden
dieselben Redakteurinnen und Redakteure als Leiharbeitskräfte am gleichen Arbeitsplatz weiterbeschäftigt,
nur zu 30 Prozent weniger Entgelt. Das ist Missbrauch.
Diesem Missbrauch müssen wir einen Riegel vorschieben.
({7})
Neben den Leiharbeiterinnen und Leiharbeitern leidet
auch die Qualität der übrigen Arbeitsplätze. Tarifstandards geraten unter Druck, Beschäftigte trauen sich immer weniger, ihre Rechte einzufordern, usw. Es ist unerlässlich, die Leiharbeit wieder auf ihre Funktion als
zeitlich begrenzte zusätzliche Beschäftigungsform zurückzuführen, mit der Arbeitsspitzen und Personalausfälle kompensiert werden können. Unternehmen, die das
wollen, werden auch den gleichen Lohn für gleiche Arbeit zahlen.
Wir können nicht hinnehmen, dass die Tariföffnungsklausel all diese Umgehungs- und Dumpingmöglichkeiten schafft. Wir können auch nicht hinnehmen, dass
dubiose Organisationen, die sich sinnvollerweise auch
noch „christliche Gewerkschaften“ nennen - ich sage bewusst: dubiose Organisationen -, im Bereich der Leiharbeit Tarifverträge abschließen, die einen Stundenlohn
von 4 bis 5 Euro vorsehen. Damit wurde und wird der
Gleichbehandlungsgrundsatz sozusagen prinzipiell ausgehebelt. Wir fordern deshalb die Streichung dieser Öffnungsklausel, um damit dem Prinzip „Gleicher Lohn für
gleiche Arbeit“ wieder Geltung zu verschaffen.
({8})
Ich möchte ein paar Missverständnisse, ein paar sogenannte Scheinargumente, die auch die Vorredner angeführt haben, kurz benennen:
Erstens zur Behauptung, Leiharbeit stelle vor allem
eine Chance für Geringqualifizierte dar und höhere
Löhne würden diese Chancen zunichtemachen.
({9})
Untersuchungen des Instituts der Bundesagentur für Arbeit zeigen, dass geringqualifizierte Arbeitslose mittels
Leiharbeit nicht leichter dauerhaft - die Betonung liegt
auf „dauerhaft“ - in Arbeit kommen; entsprechende
Zahlen sind schon genannt worden. Das IAB selbst
spricht von einem Anteil von etwa 15 Prozent, der dauerhaft in Arbeit kommt. Vielleicht sind es auch 20 Prozent. Das bedeutet, von fünf Menschen sind nach Beendigung der Leiharbeit vier wieder arbeitslos. Es ist also
überhaupt kein Argument, dass daraus dauerhaft Arbeitsplätze entstehen.
Zweitens wird gerne von den Befürwortern der Leiharbeit auf den hohen Anteil an neu geschaffenen Beschäftigungsverhältnissen hingewiesen. Jeder, der schon
einmal ein Unternehmen von innen gesehen hat, weiß,
dass es eine ziemlich naive Vorstellung ist, dass Arbeitsplätze sozusagen von sich aus entstehen. Sie entstehen
natürlich nur, wenn die Auftragslage besser geworden ist
und mehr Arbeit benötigt wird. Wenn statt regulären Arbeitsplätzen aber nur Leiharbeit angeboten wird, dann ist
dies den schlechten Löhnen für Leiharbeit geschuldet.
Wenn es die Möglichkeit der Zahlung solcher schlechten
Löhne nicht gäbe, sondern die Tariflöhne für alle Gültigkeit hätten, würden Unternehmen selbstverständlich wie
sonst auch wieder mehr reguläre, unbefristete Arbeitsplätze schaffen. Wir alle hätten ein Problem weniger.
({10})
Drittens wird die ungleiche Bezahlung von Leiharbeitskräften und regulär Beschäftigten gerne mit der angeblich geringeren Produktivität von Leihbeschäftigten
gerechtfertigt - auch das ist hier gesagt worden -, weil
sie nur für kurze Zeit im Entleihbetrieb tätig seien und
nicht wie Festangestellten über das notwendige betriebliche Wissen verfügten. Tatsache ist: Leiharbeitskräfte
werden überwiegend für einfache Tätigkeiten herangezogen, die keine besondere Einarbeitungszeit erfordern.
Der Lkw-Fahrer oder die Frau, die im Supermarkt Regale einräumt, arbeiten nach ein paar Stunden genauso
gut wie ihre festangestellten Kolleginnen und Kollegen.
Viertens zur Behauptung, wenn man Leiharbeitskräfte
schon gleich bezahle, so reiche es aus, dies beispielsweise
erst nach sechs Wochen oder nach drei bzw. sechs Monaten ihres Einsatzes zu tun: Hierzu muss man wissen
- auch laut IAB -: Rund 60 Prozent der Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter sind kürzer als drei Monate in einem
Entleihunternehmen eingesetzt. Bei 15 Prozent - diese
Zahl wurde schon genannt - dauert der Einsatz sogar weniger als eine Woche. Das bedeutet, jede Regelung, die
eine längere Wartefrist - Wochen, Monate - bis zu einer
gleichen Bezahlung vorsieht, würde vollkommen ins
Leere laufen und für die überwiegende Zahl der Leiharbeitskräfte überhaupt keine Wirkung entfalten. Bereits
heute werden übrigens in Tarifverträgen Einarbeitungsfristen geregelt. Man braucht also nur in den Tarifvertrag
der jeweiligen Branche zu schauen, und schon findet man
für dieses Problem schon heute Lösungen. Wir brauchen
da keine neuen.
({11})
Die Bundesregierung selbst hat bereits in verschiedenen Berichten die miserable Qualität der Bedingungen
der Leiharbeit dokumentiert. Nur, es liegt uns kein Vorschlag vor - auch nicht von der SPD -,
({12})
wie wir diesem erkannten Problem nun endlich entgegentreten können. Im Gegenteil: Der neue SPD-Arbeitsminister hat noch vor zwei Wochen auf EU-Ebene die
Verabschiedung einer Richtlinie zur Leiharbeit blockiert. Darin sollte als ein erster Schritt zumindest eine
Frist von sechs Wochen vorgesehen werden, bis ein gleicher Lohn gezahlt wird. Das ist blockiert worden. Das
heißt, es tut sich nichts, auch wenn gestern der Parteivorsitzende der SPD darüber redete, dass man nun eine EURegelung für eine gleiche Bezahlung bei Leiharbeit
braucht. Sie müssen sich schon entscheiden, ob Sie das
eine oder das andere wollen.
({13})
Es ist gut, wenn jetzt auch die Fraktionen der SPD
und der Grünen die Ausbreitung schlechter Arbeit beklagen. Besser wäre es allerdings, wenn Sie auch den Mut
fänden, die politischen Fehler der Agenda 2010 zu berichtigen. Heute haben Sie bei dieser Debatte ein weiteres Mal die Gelegenheit dazu.
Vielen Dank.
({14})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Brigitte Pothmer,
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Im Protokoll steht jetzt, glaube ich: Lebhafter Applaus bei den Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben
jetzt gerade in der Debatte über den Mindestlohn das Gezerre, das es in der Großen Koalition in dieser Frage
gibt, mitbekommen. Schon liegt der nächste Zankapfel
auf dem Tisch. Über die Zeitarbeit wird es - darauf deutet alles hin - auch Gezänk in der Großen Koalition geben. Auch hier liegen die Vorstellungen der SPD und die
Vorstellungen der Union meilenweit auseinander. Es ist
schon absehbar, dass es um die Einführung eines Mindestlohns in der Zeitarbeitsbranche eine ebenso unappetitliche Auseinandersetzung geben wird wie um die
Einführung des Post-Mindestlohns. Nicht nur Frau
Connemann jetzt, sondern auch Herr Meyer vorhin in
der Mindestlohndebatte haben dafür ein beredtes Zeugnis abgelegt. Insoweit ist alles wie gehabt: Der Wirtschaftsminister warnt; der SPD-Fraktionsvorsitzende
kündigt neue Mindestlohnregelungen für die Zeitarbeitsbranche an.
({1})
Ich würde sagen: Wo Große Koalition draufsteht, ist großes Gezänk drin. Das können wir heute gleich zweimal
erleben.
({2})
Es ist so, dass jetzt, knapp fünf Jahre, nachdem das reformierte Arbeitnehmerüberlassungsgesetz in Kraft getreten ist, diese Beschäftigungsform tatsächlich kräftig
zugenommen hat. Es gibt ungefähr 700 000 Menschen,
die in diesem Bereich tätig sind. Es handelt sich also
wirklich nicht um Peanuts. Es ist auch vorhersehbar,
dass die Zahl der Beschäftigten in dieser Branche noch
zunehmen wird.
Durch die Flexibilisierung ist die Zeitarbeit insbesondere für die Arbeitgeber attraktiver geworden. Dass
die Arbeitgeber das toll finden, ist für Sie, Frau
Connemann, offensichtlich Grund genug, das auch toll
zu finden.
({3})
Ich aber finde das nicht okay, und zwar deswegen nicht,
weil für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der
Zeitarbeitsbranche nun wahrlich nicht alles in Ordnung
ist, ganz im Gegenteil. Es stimmt zwar - das haben wir
als Grüne auch immer gesagt -, dass Zeitarbeit für ehemalige Arbeitslose tatsächlich eine Brücke in den ersten
Arbeitsmarkt sein kann. Das finden wir gut. Wir wollen
auch, dass das so bleibt. Wir dürfen aber nicht verkennen, dass das nur die eine Seite der Medaille ist. Ehe Sie,
Herr Kolb, hier über ideologische Scheuklappen reden,
sollten Sie erst einmal Ihre Brille genauer untersuchen.
({4})
Die ist nämlich völlig ideologisch gefärbt.
({5})
Zunehmend wird Zeitarbeit dazu genutzt, um Löhne
zu drücken, um Stammbelegschaften zu ersetzen und um
Arbeitsbedingungen zu verschlechtern. Das finden wir
schlecht. Deswegen wollen und müssen wir in diesem
Bereich auch etwas ändern.
({6})
Frau Connemann, Sie können wirklich in vielen Statistiken nachlesen, was ich Ihnen jetzt vortrage:
({7})
Fast 10 Prozent derjenigen, die trotz Vollzeitbeschäftigung zusätzlich Arbeitslosengeld II beantragen müssen,
arbeiten in der Zeitarbeit. Diese machen eine große
Gruppe in der Zahl der Aufstocker aus. Es gibt Lohnabstände von 30 bis 50 Prozent, in einigen Branchen bis zu
60 Prozent, zu den Beschäftigten in der Stammbelegschaft.
({8})
Das kann nicht so bleiben. Das müssen wir ändern. Es
gibt leider erheblichen Missbrauch.
({9})
- Frau Connemann, es handelt sich nicht um Einzelfälle.
Weil es sich nicht um Einzelfälle handelt, sind auch Sie
gefordert, hier etwas zu tun.
Zeitarbeit wird genutzt, um Löhne ganz systematisch
abzusenken. Stammbelegschaften werden in großem
Umfang durch Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer ersetzt. Tochtergesellschaften werden in erheblichem Umfang nur zu dem Zweck gegründet, um die
gleichen Beschäftigten als Leiharbeitnehmerinnen und
Leiharbeitnehmer zurückzuholen.
Das Beispiel von der Zeitungsredaktion ist hier schon
genannt worden. Dies ist ein skandalöser Zustand und
wahrlich kein Einzelfall. Herr Dreibus hat schon darauf
hingewiesen, dass auch die öffentlichen Arbeitgeber so
handeln. Zum Beispiel findet so etwas auch im Krankenhausbereich statt.
Frau Kollegin, die Frau Kollegin Connemann würde
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Sie möchte mir sicher sagen, dass ich recht habe.
Bitte, Frau Connemann.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Kollegin
Pothmer, Sie haben mich mit dem Hinweis direkt angesprochen, dass 10 Prozent der Leiharbeiter aufstocken
müssen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir die konkrete Quelle für diese Zahl nennen würden; denn auch
ich habe in meiner Rede konkrete Quellen genannt. Es
reicht mir schon eine einzige Quelle. Bitte sagen Sie
jetzt nicht, diese Zahl stehe in vielen Statistiken. Ich
würde nämlich gerne in der konkreten Quelle nachlesen.
Das IAB, Frau Connemann.
({0})
Dies ist ein anerkanntes Institut, das relativ viel in diesem Bereich untersucht hat. Ich lasse Ihnen das gerne
zukommen, Frau Connemann. Diese Hausaufgabe will
ich gerne erledigen.
({1})
Ich finde, wir können diese Entwicklung nicht ignorieren. Herr Grotthaus, wir können sie auch nicht aussitzen. Denn es gibt tatsächlich einen dringenden Handlungsbedarf. Wir brauchen in Deutschland in diesem
Bereich Regelungen, mit denen der Missbrauch von
Leiharbeit verhindert werden kann. Gleichzeitig darf
die Brücke zum ersten Arbeitsmarkt nicht zerstört werden. Herr Dreibus, ich glaube, da unterscheiden sich die
von uns jeweils vorgelegten Konzepte.
Der Vorschlag, den wir vorgelegt haben, hat zum Inhalt, dass das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“
gilt und dass die vorhandenen Ausnahmen auch Ausnahmen bleiben, es also auf einzelne Fälle beschränkt bleibt
und nicht flächendeckend angewandt wird. Wir wollen
verhindern, dass Stammbelegschaften durch Zeitarbeitnehmer ersetzt werden.
({2})
Auch das findet in großem Umfang statt. Auf diese Bereiche sollten wir uns konzentrieren.
Unsere Vorschläge, Herr Grotthaus, haben in der
Sachverständigenanhörung eine breite Unterstützung erfahren, interessanterweise aus dem Arbeitgeber- und aus
dem Arbeitnehmerlager. Denn wir haben mit diesen Vorschlägen berücksichtigt, dass es kein Übermaß an bürokratischem Aufwand geben darf, den Sie vorhin als Problem dargestellt haben. Wenn Sie für dieses Problem
wirklich eine Lösung suchen und wirklich etwas tun
wollen, dann schließen Sie sich unserem Vorschlag an.
Ich weiß, dass Sie, Herr Grotthaus, ganz heimlich mit
uns einer Meinung sind.
({3})
Die SPD-Fraktion insgesamt ist mit uns ganz und gar einer Meinung. Für die Betroffenen in der Leiharbeit ist es
schade, dass sich Ihre Unterstützung in der Sache nicht
im Abstimmungsverhalten niederschlägt.
({4})
Aus dem Konzept, das wir vorgelegt haben, ergibt
sich, dass wir einen Mindestlohn auch für die Zeitarbeitsbranche brauchen.
({5})
Denn für die ersten drei Monate müssen wir sicherstellen, dass es eine soziale Absicherung gibt. Deswegen
brauchen wir für die Zeitarbeitsbranche sehr schnell die
Einführung von Mindestlöhnen.
({6})
Wir müssen die ominösen Haustarifverträge wegbekommen. Denn sie stellen keinerlei Absicherung dar.
Wir müssen das, was zwischen dem DGB und den verantwortlichen Zeitarbeitsfirmen vereinbart worden ist,
für allgemeinverbindlich erklären.
Wir wissen, dass die verantwortungsbewussten Arbeitgeber in der Zeitarbeitsbranche das dringend wollen.
({7})
Wer so tut, als müsse das gegen die Arbeitgeber durchgesetzt werden, der irrt.
({8})
Herr Kolb, ich würde gerne einmal wissen, mit welchen
Arbeitgebern Sie Kontakt haben. Ich kenne insbesondere
im Gebäudereinigerhandwerk sehr viele Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, die sagen: Gott sei Dank haben wir
das jetzt; jetzt kann uns die Konkurrenz endlich nicht
mehr dazu zwingen, unsere Beschäftigten, die eine gute
Arbeit leisten, schlecht zu bezahlen. Diese Arbeitgebe14134
rinnen und Arbeitgeber sind froh und dankbar, dass sie
diesen Rahmen haben, weil sie mit ihren Beschäftigten
fair umgehen wollen.
Verantwortungsvolle Arbeitgeber in der Zeitarbeitsbranche wollen also Mindestlöhne. Verantwortungsvolle Politikerinnen und Politiker sollten ihnen dabei
nicht im Wege stehen, sondern sie unterstützen. Wir jedenfalls begreifen das als unseren Auftrag. Ich wünsche
mir, dass die Große Koalition das Gleiche tut.
Ich danke Ihnen.
({9})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Anette Kramme,
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zeitungen bezeichnen Leiharbeit ganz unterschiedlich. In der einen, die mir unter die Finger gekommen ist, steht: „Leiharbeit - moderne Sklaverei, die
floriert“. In der anderen Zeitung steht: „Billig und willig“; gemeint ist damit natürlich genau das gleiche Phänomen.
Leiharbeit hat tatsächlich zwei Gesichter. Sie hat ein
Sonnengesicht: Das ist eine Branche, die boomt. Innerhalb weniger Jahre hat sich die Zahl der Zeitarbeitsplätze
verdoppelt.
({0})
- Darüber kann man streiten. Herr Kolb, wenn Sie sich
die Statistiken genau anschauen, werden Sie feststellen,
dass die Linie seit 1993 im Prinzip ungebrochen ist.
({1})
Davon abgesehen: Wir haben nichts gegen Zeitarbeit als
solche.
({2})
Es geht um die Schattenseiten. - Kommen wir aber zunächst auf die positiven Seiten der Leiharbeit zurück:
Leiharbeit ermöglicht in Spitzenauslastungs- und Vertretungssituationen eine einfache Personaleinstellung. In
einem gewissen Umfang gibt es den sogenannten Klebeeffekt, allerdings darf er nicht überschätzt werden.
({3})
Es ist aber so, dass einige dieser Arbeitnehmer nach einer Tätigkeit im Leihbetrieb einen festen Job erhalten.
Wir wissen, dass 60 Prozent der aktuell tätigen Zeitarbeitnehmer unmittelbar vorher nicht beschäftigt waren.
({4})
Die Zeitarbeit hat also gewisse arbeitsmarktpolitische
Effekte, die man nicht verkennen kann.
Zeitarbeit hat aber auch ganz viele dunkle Seiten, ein
Schattengesicht.
({5})
Das kann man an verschiedenen Punkten festmachen.
Wir beobachten ganz intensiv, dass es zu einer Ersetzung von Stammarbeitern durch Leiharbeitnehmer
kommt. Das kann man an der Tatsache festmachen, dass
es Betriebe gibt, deren Belegschaft zu 50 Prozent aus
Leiharbeitern besteht. In der Sachverständigenanhörung
hat der Sachverständige Felix Weitenhagen für das Berliner Siemens-Schaltwerk erklärt, dass die Leiharbeiterquote in den produzierenden Abteilungen bis zu
40 Prozent betrage.
Wir beobachten ein besonders perverses Phänomen,
das Outsourcing heißt. An uns sind Journalistenverbände
herangetreten, die davon berichtet haben, dass Tochterunternehmen gegründet werden, die Journalisten einstellen, die vorher mit befristeten Verträgen bei den eigentlichen Verlagen angestellt waren. Nun sind sie als
Leiharbeiter tätig.
({6})
Wir wissen, dass das insbesondere auch für den Bereich
der Kliniken gilt.
Wenn man sich diese beiden Aspekte zusammen anschaut, weiß man, dass die Unternehmen, die entleihen,
nur eine Zielsetzung haben, nämlich, die regulären Tarifverträge, die Tarifverträge für die Stammarbeitskräfte,
zu umgehen. Dahinter steht nichts anderes als die Absicht, Lohndumping zu betreiben und die Arbeitnehmer
auszunutzen.
Wie sieht Lohndumping aus? Wir wissen, dass es
Lohnabstände von 30, 40 und 50 Prozent gibt. Manchmal ist es sogar noch mehr.
Die Tariflöhne beginnen bei 4,81 Euro; das ist natürlich nicht viel, und davon kann man nicht leben. Wir
wissen, dass es beim Arbeitslosengeld II zu Missbrauch
kommt; jeder achte Zeitarbeitnehmer bezieht Arbeitslosengeld II. Ich habe bereits vorhin gesagt: Es kann nicht
sein, dass sich der Staat an der Subventionierung von
Unternehmen beteiligt, die nichts anderes als Lohn- und
Sozialdumping im Sinn haben.
({7})
Hier kommt es zu einer ungeheuren Fluktuation - das
muss man sich einmal vor Augen halten -: 50 Prozent
der Leiharbeitnehmer sind nach drei Monaten wieder
draußen.
({8})
Aufseiten der Betriebsräte ist eine Interessenvertretung
fast nicht existent. Auch die starken Betriebsräte bei den
Entleihern haben fast keine Handlungsmöglichkeiten.
({9})
Wir befinden uns also in einer Situation, in der die Betreuung durch Gewerkschaften nur eingeschränkt funktionieren kann.
Das hat einfache Ursachen: Die Gewerkschaften in
der Bundesrepublik sind einseitig auf jeweils einige wenige Branchen ausgerichtet. Leiharbeit funktioniert aber
branchenübergreifend. Aus dieser Ausgangslage, die
mehr als schwierig ist, ergibt sich, dass es einen Regelungsbedarf und darüber hinaus einen Regelungszwang
gibt.
Heute liegen uns zwei Anträge vor. Zumindest faktisch
sind es zwei Anträge. Einen Antrag haben die Linken eingebracht. Die Grünen haben formal einen Änderungsantrag gestellt, der aber im Prinzip eine vollständige Änderung zum Inhalt hat.
({10})
Wenn man sich diese Anträge genau anschaut, stellt man
fest, dass sie zu kurz greifen.
({11})
An manchen Stellen sind auch intensivere Überlegungen
erforderlich.
Ich sage Ihnen: Die SPD hat zu diesem Thema einen
exzellenten Parteitagsbeschluss gefasst.
({12})
Er sieht wie folgt aus: Wir wollen zunächst eine Ausdehnung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf die
Leiharbeitsbranche.
({13})
Dadurch decken wir zwei Phasen ab: die Phase, in der
nicht verliehen wird, also die verleihfreien Zeiten, und
die sogenannte Einarbeitungsphase.
({14})
Die Voraussetzungen dafür sind gegeben: Der Mindestlohntarifvertrag ist vereinbart. Die 50-Prozent-Klausel ist nach unserer Einschätzung erfüllt. Im Übrigen ist
das eine rein politische Vorgabe; das möchte ich jetzt gegenüber der Union klarstellen. Bei dieser Gelegenheit
möchte ich auch daran erinnern, dass die Aufnahme in
das Gesetz nicht nur ein Wunsch der Arbeitnehmerseite,
sondern ein beidseitiger Wunsch ist: Arbeitnehmer und
Arbeitgeber wollen das.
Wir dürfen in dieser Branche aber beim Arbeitnehmer-Entsendegesetz nicht stehen bleiben. Es muss der
Grundsatz gelten: Gleiche Bezahlung und gleiche Behandlung nach einer Einarbeitungsphase.
({15})
Dieser Grundsatz findet sich überall wieder. Das ist ein
allgemeines Prinzip des Arbeitsrechts. Genau das wollen
wir.
Wir wissen, dass wir den Verdrängungswettbewerb,
der stattfindet, nur unterbinden können, indem wir das
finanzielle Interesse am Sozialdumping einschränken
bzw. indem wir dem Sozialdumping den Boden entziehen.
({16})
Alle anderen Regelungen würden dazu führen, dass unsere Schutzvorschriften auf irgendeine Art und Weise
unterlaufen werden; denn die Unternehmen sind clever,
und das ist auch legitim. Wir als Gesetzgeber müssen
hier vorausschauend handeln.
Ich möchte ganz klar darauf hinweisen - das sei zusätzlich angemerkt -, dass auch die Betriebsräte in der
Verantwortung stehen. Ich möchte, dass es erzwingbare
Betriebsvereinbarungen gibt: einerseits über den Umfang der Leiharbeit, andererseits zur Festlegung der Zeitdauer der Überlassung.
({17})
- Meine Damen und Herren von der FDP, mir ist klar,
dass Ihnen bei diesem Thema graue Haare wachsen.
({18})
Das macht aber nichts.
({19})
Graue Haare haben ihren eigenen Charme.
({20})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir akzeptieren nicht, dass Leiharbeit ein Normalarbeitsverhältnis
ist, und wir akzeptieren nicht, dass Leiharbeit als reguläre Beschäftigung angesehen wird, solange sich Leiharbeit nach wie vor überwiegend in der Schmuddelecke
befindet. Wir werden uns in dieser Angelegenheit weiter
engagieren.
Herzlichen Dank.
({21})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Jörg Rohde, FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Kramme, ich muss Ihnen direkt antworten.
Sie reden davon, dass graue Haare wachsen. Schauen Sie
mich an! Nach zwei Jahren Schwarz-Rot sehe ich so aus.
Das ist hart.
({0})
Ich möchte erst einmal auf die Vorredner eingehen.
Herr Grotthaus, Sie haben gesagt, eine sorgfältige Prüfung sollte bei den Änderungen erfolgen. Das finde ich
sehr gut. Man sollte nicht überstürzt handeln. Ich möchte
aus Sicht der Liberalen hinzufügen: Prüfen Sie bedächtig, prüfen Sie langsam, lassen Sie sich ruhig Zeit! Zu
dem Thema Probezeit für Lkw-Fahrer möchte ich sagen:
Vielleicht geht es dem Arbeitgeber in diesem Beispiel
weniger um die Fahrpraxis des neuen Arbeitnehmers als
um andere Eigenschaften wie Zuverlässigkeit und
Pünktlichkeit.
({1})
Es gibt also gute Gründe für eine Probezeit, Herr Kollege Grotthaus. Darüber müssen wir uns entsprechend
austauschen.
Frau Connemann, Gratulation zu Ihrer Rede. Wir haben heute offenbar viele gemeinsame Ansichten. Bei der
sorgfältigen Prüfung der nächsten Schritte sollten wir
Ihre Beispiele unbedingt einmal durchgehen. Für die
aufgeworfenen Fragen werden Antworten gefunden werden müssen. Als Liberale werden wir darüber wachen,
wie die Union später abstimmt, wenn der Koalitionspartner SPD bei diesem Thema die Daumenschrauben anzieht. Wir bauen auf Ihre Standfestigkeit, meine Kolleginnen und Kollegen von der Union.
({2})
Herr Dreibus, Frau Kramme, warum sind denn die
Arbeitnehmer so kurz bei einer Zeitarbeitsfirma beschäftigt?
({3})
In vielen Fällen gibt es diesen Klebeeffekt. Die heutige
Initiative der Linken geht wieder in die völlig falsche
Richtung.
Frau Pothmer, Sie hatten eben eine Zahl genannt:
10 Prozent Aufstocker. Wir kennen die Quelle nicht so
genau, aber auch wir werden zum Jahreswechsel beim
IAB nachlesen. Worin besteht denn Ihre Alternative?
Soll der Staat diese Arbeitnehmer zu 100 Prozent finanzieren? Sollen die arbeitslos bleiben?
({4})
Das ist doch die Alternative, wenn das Geld, das man für
den Job erhält, nicht reicht.
({5})
Nun konkret zum Vorschlag der Linken. Ich kann die
Enttäuschung so mancher Zeitarbeiterinnen und Zeitarbeiter über unterschiedliche Löhne für ähnliche Tätigkeiten nachvollziehen. Auch ich übersehe nicht, dass die
Löhne in einigen Bereichen der Zeitarbeit sehr niedrig
sind. Aber, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der
Linken, ich sehe auch, dass immer noch rund 3,4 Millionen Menschen im Land überhaupt keine Arbeit haben.
Die Kraft des Aufschwungs reicht leider noch nicht aus,
um auch diese Menschen jetzt in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Deshalb halte ich ausnahmslos jede Maßnahme für falsch, die Arbeit verteuert und Neueinstellungen verhindert.
({6})
- Sie haben Löhne, muss ich zunächst einmal entgegnen,
Herr Dreibus. - Aber statt jetzt konsequent die Schaffung von Arbeitsplätzen zu erleichtern, diskutieren wir
dieser Tage nicht nur über Mindestlöhne, sondern auch
über Maxilöhne. Meine sehr geehrten Freunde der Überregulierung, beides ist Unsinn. Liegt ein Mindestlohn
über dem Marktwert einer Arbeit, zerstört er Jobs, liegt
er darunter, ist er logischerweise wirkungslos.
({7})
Das sagen wir gebetsmühlenartig. Sie hören das von vielen unserer Kollegen. Wenn die Löhne für alle steigen
sollen, müssen wir vielmehr die Nachfrage nach Arbeitskräften anheizen. Dafür gibt es viele Möglichkeiten. Wir
müssen eine Entbürokratisierung durchsetzen und den
Arbeitsmarkt deregulieren, wir müssen Subventionen
abbauen, wir müssen die Lohnnebenkosten reduzieren,
wir müssen in Bildung und Forschung investieren, und
wir müssen ein einfaches und gerechtes Steuersystem installieren. Aber von diesen Forderungen wollen leider
die meisten Fraktionen in diesem Haus außer der FDP
nichts wissen.
({8})
Im Gegenteil: Statt die Zeitarbeitsbranche zu unterstützen, weil sie einen maßgeblichen Anteil am Rückgang der Arbeitslosigkeit in Deutschland hat, legen Sie
ihr Steine in den Weg. Systematisch sollen innovative
Konzepte plattgemacht werden. Erst wurden die privaten
Postdienste ihrer Marktfähigkeit beraubt, jetzt soll die
Zeitarbeit daran glauben; denn nichts anderes würde passieren, wenn Ihre Vorschläge, werte Linke, umgesetzt
werden würden. Sie sehen überhaupt nicht die Chance,
die für viele Langzeitarbeitslose und Geringqualifizierte
in der Zeitarbeit liegt.
({9})
Sie beklagen den Klebeeffekt von 15 bis 30 Prozent als
zu niedrig, anstatt anzuerkennen, dass auf diese Weise
viele Zehntausend Menschen jährlich wieder einen festen Job finden und die übrigen Zeitarbeiter immerhin vorübergehend in Arbeit waren.
({10})
Das ist allemal besser, als gar keine Arbeit zu haben.
({11})
Meine Damen und Herren von der Linken, ich
komme zum Hauptproblem Ihrer Politik: Mit Ihren unrealistischen und marktfernen Forderungen tun Sie weder den Arbeitslosen noch den Beschäftigten einen Gefallen.
({12})
Im Gegenteil, Sie vertiefen die Kluft zwischen Arbeitnehmern und Arbeitslosen und spalten die Gesellschaft.
Sie wollen die Latte für die Schaffung neuer Jobs immer
höher legen und machen bestehende Jobs unprofitabel.
Damit fallen sie weg, und wir haben mehr Arbeitslose.
({13})
Das ist nicht sozial, nicht solidarisch und schafft Armut.
Darüber sollten Sie einmal in Ruhe nachdenken.
Hören Sie endlich damit auf, die Zeitarbeit pauschal
zu dämonisieren! Es ist wirklich nicht so, dass alle Zeitarbeitnehmerinnen und Zeitarbeitnehmer die Zeitarbeit
nur aus schierer Not heraus gewählt haben. Als Informatiker kann ich berichten, dass es beispielsweise in der ITBranche Arbeitnehmer gibt, die es ablehnen, einen festen Arbeitsplatz in dem Start-up-Unternehmen anzunehmen, in dem sie als Zeitarbeiter eingesetzt sind. Für insgesamt 10 Prozent der Arbeitnehmer gilt, dass sie lieber
Zeitarbeiter sind als fest beschäftigt in einem Unternehmen.
({14})
Herr Kollege Rohde.
Das ist mein letzter Satz, Frau Präsidentin. - Diesen
Jobmotor wollen Sie aus ideologischen Gründen abwürgen. Lassen Sie das!
({0})
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Paul Lehrieder,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Freunde der Fraktion der
Talkshowsozialisten, liebe Freunde der Linkspartei!
({0})
Herr Dreibus, ich wehre mich gegen die Grundhaltung Ihres Gesetzentwurfs, die Zeitarbeit pauschal zu
verteufeln.
({1})
- Manchen muss man es ein paar Mal sagen, damit sie es
verstehen. - Zeitarbeit hilft vielen Unternehmen, im globalen Wettbewerb flexibel reagieren zu können; darauf
wurde bereits von einigen Rednern hingewiesen. Durch
Zeitarbeitsverhältnisse werden Beschäftigungspotenziale nutzbar gemacht, die ansonsten ungenutzt bleiben
würden.
Gerade in Zeiten von Engpässen und unsicheren Auftragslagen hat die Zeitarbeit bereits vielen Unternehmen
geholfen. Mit Zeitarbeit können die Unternehmen
schnell und flexibel auf Arbeitsausfall, Krankheit, aber
auch Mutterschutz reagieren. Gerade kleine und mittlere
Betriebe können sich so schnell auf Auftragsspitzen einstellen und schwankende Produktionszyklen abfedern.
Gleichzeitig ist Zeitarbeit für viele Beschäftigte zum
Sprungbrett in den ersten Arbeitsmarkt geworden. Jährlich werden etwa 30 Prozent aller Zeitarbeiter - das entspricht etwa 200 000 Beschäftigten - in ein festes Arbeitsverhältnis übernommen, davon sind etwa 15 Prozent
Langzeitarbeitslose gewesen.
Das Zeitarbeitsverhältnis ist ein reguläres Arbeitsverhältnis in einer inzwischen vollständig anerkannten, eigenständigen Branche. Es ist die Branche, in der Tarifverträge fast flächendeckend angewandt werden. Die
Deckung liegt bei 98 Prozent.
Ja, es gibt zum Teil Lohnabstände zwischen Stammarbeitern und Zeitarbeitnehmern. Aber das ist nur in
ganz bestimmten Fällen, ganz bestimmten Branchen und
überhaupt nicht flächendeckend der Fall. Gerade diesbezüglich wollte der Gesetzgeber mit dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz Regeln setzen.
Natürlich kann die Inanspruchnahme fremden Personals zahlreiche Probleme mit sich bringen. Um
Missbräuche zu vermeiden, hat der Gesetzgeber die gewerbsmäßige Arbeitnehmerüberlassung im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz geregelt. Dieses Gesetz wurde
zum 1. Januar 2004 umfassend reformiert. Zahlreiche
Beschränkungen der Leiharbeit sind entfallen, unter anderem die Beschränkung der Überlassungsdauer auf
24 Monate und das Verbot der wiederholten Einstellung
eines Leiharbeiters nach vorangegangener Kündigung
durch den Verleiher. Das Prinzip des „equal pay“ ist im
Arbeitnehmerüberlassungsgesetz vom 1. Januar 2004
weitestgehend verankert.
Im Gegenzug müssen die Arbeitsbedingungen von
Leiharbeitnehmern denen der Stammbelegschaft immer
dann entsprechen, wenn nicht tarifvertraglich eine andere
Regelung getroffen wurde. Gewerbsmäßige Arbeitnehmerüberlassung darf dann nicht genehmigt werden, wenn
der Verleiher nicht die erforderliche Zuverlässigkeit besitzt, insbesondere weil er die Vorschriften des Sozialversicherungsrechts, des Lohnsteuerrechts, des Arbeitsschutzrechts oder die arbeitsvertraglichen Pflichten nicht
einhält.
Seit dem 1. Januar 2004 darf die Arbeitnehmerüberlassung auch dann nicht genehmigt werden, wenn der
Grundsatz der Gleichbehandlung von Leiharbeitnehmern
und Stammarbeitern des Entleihers nicht eingehalten
wird. Um diesen Gleichbehandlungsgrundsatz erfüllen zu
können, müssen die Zeitarbeitsfirmen die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten beim Entleiher in Erfahrung
bringen. Dazu wird ihnen in § 12 des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes ein Auskunftsanspruch gegenüber dem
Entleiherunternehmen zuerkannt.
Diese Verpflichtung besteht jedoch dann nicht, wenn
die Voraussetzungen einer der beiden im Gesetz genannten Ausnahmen vom Schlechterstellungsverbot vorliegen. Liebe Kollegen von der Linkspartei, beide Ausnahmen hatten und haben ihre Berechtigung. Auch die
Begründung Ihres Gesetzentwurfs kann diese nicht
ernsthaft infrage stellen.
Zunächst zur Sechswochenfrist. Es ist vorgesehen,
dass Verleiher und Leiharbeitnehmer - das betrifft zuvor
arbeitslose Arbeitnehmer - sich einmalig darauf einigen
können, dass der Leiharbeitnehmer für insgesamt sechs
Wochen der Überlassung lediglich ein Nettoarbeitsentgelt mindestens in Höhe des zuletzt bezogenen Arbeitslosengeldes erhält. Damit soll dem Verleihunternehmen
ein Anreiz gegeben werden, Arbeitslose überhaupt einzustellen. Zugleich soll die Bereitschaft der Arbeitgeber
erhöht werden, ein Arbeitsverhältnis mit einem vormals
Arbeitslosen zu versuchen.
Wenn Sie gleichen Lohn vom ersten Tag an fordern,
müssen Sie aber bedenken, dass es sich hier um eine Arbeitsförderungsmaßnahme handelt.
({2})
Ein großer Teil derjenigen, die hier vermittelt werden,
sind Hilfskräfte und Geringqualifizierte. Wenn Ihr Gesetzentwurf Gesetz würde, hätten Geringqualifizierte
und Langzeitarbeitslose künftig nicht mehr die Chance,
über Arbeitnehmerüberlassung einen festen Job zu bekommen. Sie würden kaum mehr in Leiharbeit, in Zeitarbeit vermittelt werden. Alle außer den Hochqualifizierten und Facharbeitskräften fielen aus dem Markt
heraus.
Equal Pay wirkt sich besonders auf die Kalkulation
der vielen kleinen und mittleren Betriebe in Deutschland
aus. Von den 760 000 Betrieben, die überwiegend Zeitarbeit betreiben, beschäftigen 63 Prozent weniger als
50 Mitarbeiter; sie sind sogenannte Kleinunternehmer.
Viele von ihnen würden durch gleichen Lohn vom ersten
Tag an gefährdet. Außerdem würde Equal Pay die Verwaltungskosten in die Höhe schrauben; meine Kollegin
hat bereits darauf hingewiesen. Denn in jedem Fall einer
Arbeitnehmerüberlassung müsste ermittelt werden,
inwieweit Leiharbeitnehmer und Stammbeschäftigte
vergleichbar sind. Zudem müssten die vereinbarten Arbeitsbedingungen im Entleiherbetrieb und im Verleiherunternehmen verglichen werden. Damit würde an sich
jeder einzelne Arbeitnehmerüberlassungsvorgang überwachungspflichtig. Man muss sich den Verwaltungsaufwand dafür einmal vorstellen.
Vom ersten Tag an Equal Pay anzuwenden, ist in vielen
Fällen schlicht unpraktikabel. Wie soll, bitte schön, jemand bezahlt werden, Herr Dreibus, der im ersten Monat
an Firma A, im zweiten Monat an Firma B und anschließend noch an Firma C entliehen wird, wenn die Firmen
unter Umständen ganz unterschiedliche Lohnstrukturen
haben? Im ungünstigsten Fall müssten Leiharbeitnehmer
dann Lohneinbußen hinnehmen. Darüber hinaus wüssten
sie nicht mehr, wie es im konkreten Fall um ihre Rechte
als Arbeitnehmer bestellt ist. Frau Kollegin Connemann
hat schon auf diese Punkte hingewiesen. Sie hat ferner
darauf hingewiesen, dass der verliehene Arbeitnehmer
auch in der arbeitsfreien bzw. in der verleihfreien Zeit einen Lohnanspruch gegenüber dem Leiharbeitsunternehmen hat.
Herr Kollege Dreibus, wenn Sie sich von diesem Podium anschicken, uns von der CDU/CSU Vorhaltungen
über das christliche Verständnis vom Arbeitsrecht zu
machen, dann ist das mehr als gewagt.
({3})
Über christliche Arbeitsmoral diskutiere ich aus verständlichen Gründen lieber mit meiner KAB als mit den
Freunden von unserer Linkspartei.
Hinzu kommt bei Equal Pay, dass sich die Arbeitsgerichte auf mehr Arbeit einstellen müssten, weil sich dann
viele Arbeitnehmer falsch bezahlt fühlen.
Nun zum Tarifvorbehalt. Nach dem Tarifvorbehalt
kann ein Tarifvertrag vom Gleichbehandlungsgrundsatz
abweichende Regelungen zulassen. Im Geltungsbereich
eines solchen Tarifvertrages können auch nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Anwendung
tarifvertraglicher Regelungen individualrechtlich vereinbaren.
Sehr geehrte Kollegen von der Linkspartei, Ihre pauschale Unterstellung, dass die Tariföffnungsklausel im
Arbeitnehmerüberlassungsgesetz von den Arbeitgebern
zu Lohndumping missbraucht wird, entbehrt jeder
Grundlage.
({4})
Entsprechend schwammig ist in Ihrem Gesetzentwurf
die Rede von „praktischen Erfahrungen“, ohne dass konkrete Zahlen oder Fakten benannt werden. Mit Blick auf
die Tarifabschlüsse der drei großen Verbände der ZeitarPaul Lehrieder
beit wird schnell klar, dass diese Unterstellung nicht
haltbar ist. Wenn nämlich Ungelernte und Geringqualifizierte im Westen an die 7 Euro Stundenlohn, im Osten
um die 6 Euro pro Stunde erhalten, kann das wohl kaum
als Lohndumping bezeichnet werden, insbesondere dann
nicht, wenn man berücksichtigt, dass in einigen Branchen Leute mit abgeschlossener Berufsausbildung laut
Tarifvertrag zwischen 4 und 5 Euro bekommen. Meine
Kollegin hat vorhin schon darauf hingewiesen, dass,
wenn Equal Pay gilt, zum Beispiel im Hotel- und Gaststättenbereich den Leiharbeitnehmern der Lohn sogar
gekürzt werden müsste. Das werden Sie doch nicht
ernsthaft wollen.
Der Tarifvorbehalt soll Fehlentwicklungen vorbeugen. So wurde gegen das Diskriminierungsverbot bei der
Leiharbeit immer wieder vorgebracht, dass ein positiver
Beschäftigungseffekt nicht zu erwarten sei. Durch eine
Pflicht zur Gleichbehandlung würde sich die Leiharbeit
derart verteuern, dass sie für Entleiher und Verleihunternehmen wirtschaftlich nicht mehr rentabel wäre. Die
Möglichkeit, die Personalkosten zu reduzieren, ist jedoch zentraler Beweggrund, Leiharbeitnehmer im eigenen Betrieb zu beschäftigen. Diesen Bedenken sind wir
mit der am 1. April 2004 eingeführten Neuregelung des
Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes begegnet. Seitdem
können abweichende Tarifverträge abgeschlossen werden. Ich sehe deshalb keine Veranlassung, das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz im von der Linkspartei gewünschten Sinne zu ändern.
Ich wünsche von dieser Stelle aus den Kolleginnen
und Kollegen abermals ein frohes Weihnachtsfest aus
dem sonnigen Mainfranken.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich gebe der Kollegin Katja Mast, SPD-Fraktion, das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Leiharbeit ist kein Teufelszeug, Leiharbeit ist nicht
von Rauschgoldengeln. Gute Arbeit wird auch nicht von
Engeln oder Teufeln gemacht, sondern von uns auf dem
Boden der Tatsachen.
({0})
Rund 600 000 Menschen arbeiten in Leiharbeit - Tendenz steigend. Das sind meist voll sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. 2003 waren rund 43 Prozent der
Zugänge in die Leiharbeit zuvor arbeitslos. Als wir das
Arbeitnehmerüberlassungsgesetz verabschiedet haben,
war genau das unser Ziel: Klebeeffekte für Arbeitslose
und das Auffangen von Auftragsspitzen in den Unternehmen. Wenn man so will, ist das das Engelsgesicht der
Leiharbeit.
Doch wo Licht ist, ist auch Schatten. Der Klebeeffekt
existiert zwar, aber 10 bis 15 Prozent sind einfach noch
zu wenig, um von einem effizienten arbeitsmarktpolitischen Instrument sprechen zu können. Im Übrigen gilt
für die Leiharbeit das Gleiche wie für den Arbeitsmarkt
im Allgemeinen: Bildung ist die beste Arbeitslosenversicherung. Der Klebeeffekt hilft den qualifizierten Leiharbeitern, den anderen kaum.
({1})
Leiharbeit hat aber auch Teufelsgesichter:
({2})
Lohnstrukturen, die nicht zum Leben reichen, und der
Abbau von Arbeitsplätzen der Stammbelegschaft. Die
Mitbestimmung der Betriebsräte wird geschwächt. Es
besteht die Gefahr einer Spaltung der Belegschaft in Beschäftigte erster und zweiter Klasse. Trotz des Übergangs von Arbeitslosigkeit in Leiharbeit stimmt eben
auch, dass 2003 rund 34 Prozent der Neuzugänge in die
Arbeitslosigkeit aus der Leiharbeit gekommen sind. Außerdem schließen Zeitarbeitsunternehmen mit NichtDGB-Gewerkschaften Haustarifverträge ab,
({3})
durch die Dumpinglöhne ermöglicht werden, obwohl es
einen Mindestlohntarifvertrag des Deutschen Gewerkschaftsbundes mit dem Interessenverband Deutscher
Zeitarbeitsunternehmen und dem Bundesverband Zeitarbeit gibt, die rund 60 Prozent der Zeitarbeitnehmer organisieren. Wenn man so will, sind das die Teufelsgesichter der Leiharbeit.
Die Zahl der Presseberichte, in denen von Löhnen in
der Leiharbeit die Rede ist, die unter 6 Euro liegen,
nimmt zu. Der Tagesspiegel und die Financial Times
Deutschland berichten, dass jeder achte Zeitarbeitnehmer bei Vollzeitarbeit nebenher auf Arbeitslosengeld II
angewiesen ist. Wohlgemerkt: Das sind die Steuermittel,
die die Arbeiter bezahlen, die von den billigeren Leiharbeitnehmern aus dem Job gedrängt werden.
({4})
Da ist der Wurm drin, und wir müssen handeln.
Es gibt in Unternehmen Leiharbeitsquoten von 30
oder gar 40 Prozent, und zwar dauerhaft. Es fällt schwer,
zu glauben, dass es sich da um Auftragsspitzen handelt.
({5})
Doch auch hier gilt: Wo Schatten ist, muss auch Licht
sein. Am Montag wurden in unserer Expertenanhörung
neben den Schatten der Zeitarbeit auch die positiven Seiten erwähnt. Der Betriebsrat von Audi, Ingolstadt, hat
uns die Betriebsvereinbarung im Werk zur Zeitarbeit
vorgestellt. Ziel war es, eine Obergrenze von 5 Prozent
für den Einsatz von Leiharbeit festzuschreiben, um die
Lohnspirale nach unten zu verhindern. Der Grundsatz
„gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ ist bei Audi, Ingolstadt, nahezu umgesetzt. Das Beispiel Audi ist Vorbild
für andere Betriebe. Soziale Balance im Betrieb und
Flexibilität sind kein Widerspruch. Das ist ein weiteres
Engelsgesicht der Zeitarbeit und der gelebten Mitbestimmung in Deutschland.
Heute beraten wir den Antrag der Fraktion, die sich
gerade Die Linke nennt. Was ist denn die Kernbotschaft
des Antrags? Die Teufelsgesichter der Zeitarbeit verschwinden, wenn wir den Grundsatz „gleiche Arbeit und
gleicher Lohn“ für Zeitarbeiter vom ersten Tag an umsetzen.
({6})
Das wäre eine simple Pauschallösung für das vielschichtige Phänomen der Leiharbeit und greift aus meiner
Sicht zu kurz; denn wir brauchen mehr, gerade dann,
wenn wir akzeptieren, dass es Licht und Schatten in der
Zeitarbeit gibt.
Wir brauchen Antworten auf folgende Fragen: Wie
erreichen wir gleiche Vertragsbedingungen für Leiharbeitnehmer? Wie erreichen wir bessere Mitbestimmungsrechte für Leiharbeitnehmer? Wie verhindern wir,
dass Stammbelegschaften durch Zeitarbeitnehmer ausgetauscht werden? Wie definieren wir gleichen Lohn für
gleiche Arbeit? Wie schaffen wir es, dass in Nichtentleihzeiten ein angemessener Lohn gezahlt wird? Wie
schaffen wir es, dass unsere Regelungen nicht durch ausländische Firmen unterlaufen werden? Wie können wir
die maximale Verleihzeit im Betrieb begrenzen? Wie erreichen wir es, dass Leiharbeitnehmer nicht nur für einen
Auftrag angeheuert werden? All diese Fragen und die
dazu notwendigen Antworten bedürfen der Sorgfalt und
einer gesetzgeberischen Gesamtstrategie.
Wir Sozialdemokraten wollen, dass die Lösungen in
den Betrieben gefunden werden. Erst wenn wir sehen,
dass das nicht geht, wollen wir eingreifen. Dabei ziehen
wir mit den Gewerkschaften an einem Strang. Bestes
Beispiel hierfür ist die erst jüngst von der SPD-Bundestagslandesgruppe Baden-Württemberg gemeinsam mit
der IG Metall Baden-Württemberg gestartete Initiative
zur Verbesserung der Leiharbeit. Kern ist die Forderung
nach Mindestlöhnen für die Leiharbeitsbranche.
({7})
Nachdem wir in dieser Legislaturperiode für Gebäudereiniger und Briefdienstleister Mindestlöhne durchgesetzt haben, muss der Mindestlohntarifvertrag nun für
die gesamte Leiharbeitsbranche gelten.
({8})
Ich hoffe, die Zeitarbeitsbranche stellt beim Bundesminister für Arbeit und Soziales einen entsprechenden Antrag auf Aufnahme in das Entsendegesetz.
Schritt für Schritt werden wir die Union in die Pflicht
nehmen
({9})
und Branche für Branche für einen anständigen Lohn in
unserem Land kämpfen. Denn gute Arbeit heißt für uns
Sozialdemokraten: Arbeit, die fair entlohnt ist.
({10})
Doch wir bleiben da nicht stehen. Gute Arbeit ist auch
Arbeit, die Qualifikation erhält und ausbaut, die nicht
krank macht, die Anerkennung bietet, die die volle Teilhabe an den sozialen Sicherungssystemen ermöglicht,
die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglicht
und die demokratische Teilhabe garantiert.
Recht hatte Willy Brandt damals wie heute: Kleine
Schritte sind mehr als große Worte. Die SPD-Bundestagsfraktion will das in der Zeitarbeit steckende Potenzial nutzen und die soziale Absicherung verbessern. Wir
kämpfen für gerechte und sichere Arbeitsbedingungen.
Ich bleibe dabei: Leiharbeit ist nicht Teufelszeug,
Leiharbeit ist nicht von Rauschgoldengeln. Gute Arbeit
wird auch nicht von Engeln oder Teufeln gemacht, sondern von uns auf dem Boden der Tatsachen.
({11})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Wolfgang Meckelburg, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich will zunächst im Zusammenhang mit der Zwischenfrage von Frau Connemann etwas ausräumen. Frau
Pothmer, Sie brauchen uns diese IAB-Studie nicht zu geben; wir haben sie. Sie haben aus der Studie zu den Aufstockern zitiert. Allerdings haben Sie falsch zitiert. Dort
steht, dass rund 10 Prozent der vollzeitbeschäftigten
Aufstocker weniger als 800 Euro verdienen. Das hat mit
Zeitarbeit gar nichts zu tun. Wir können uns im Ausschuss gern weiter darüber unterhalten.
({0})
Jetzt zu Ihnen, verehrte Kollegin Katja Mast. Ich kann
mir, nachdem Sie deutlich am Schluss Ihrer Rede gesagt
haben, dass Sie uns Schritt für Schritt treiben wollen,
jetzt nicht verkneifen, Ihnen zu sagen: Es gibt einen Unterschied zwischen SPD-Parteitagsbeschlüssen und Koalitionsbeschlüssen. Einen Koalitionsbeschluss gibt es
noch nicht.
({1})
- Ja, ich fühle mich in die Pflicht genommen, aber ich
orientiere mich auch ein bisschen an den Zahlen;
({2})
denn vieles, was hier gesagt wird, ist mit Zahlen nicht zu
belegen.
({3})
Die Zeitarbeit kommt aus einer Schmuddelecke. In
den 60er-Jahren war Leiharbeit verpönt. Die Linke will
mit ihrem Antrag die Zeitarbeit offensichtlich wieder in
diese Schmuddelecke bringen. Wir als Union wollen das
nicht. Zeitarbeit ist inzwischen Wirtschaftsmotor geworden. Deswegen werden wir Ihren Gesetzentwurf ablehnen.
({4})
Über lange Zeit stand im Vordergrund, wie man den
Zeitarbeitsmarkt regulieren kann. Das ging über die letzten 30 Jahre so. Es dauerte einige Zeit, bis sich die Zeitarbeit zum Wirtschaftsmotor entwickelte. Seit Ende der
90er-Jahre, also in den letzten zehn Jahren, hat sich die
Zahl der Zeitarbeitnehmer in Deutschland mehr als verdoppelt. Dies zeigt, dass es etwas mit Regulierung - zu
viel oder zu wenig - zu tun.
Ich stimme dem zu, was Laurenz Meyer heute Morgen hier gesagt hat, nämlich dass es einen Unterschied
zwischen den beiden Koalitionsparteien gibt. Wir als
Union sind immer daran interessiert, Menschen in Arbeit
zu bringen und Brücken zu bauen. Zeitarbeit gehört
dazu. Bei Ihnen steht immer die Frage im Vordergrund,
wie man möglichst gerecht vorgehen kann. Dabei berücksichtigen Sie vielleicht nicht immer, ob das zum
Verlust von Arbeitsplätzen führen könnte. Ich finde, wir
sind immer auf einem guten Weg, wenn es uns gemeinsam gelingt, einen Kompromiss zu finden.
({5})
Der Stellenwert der Zeitarbeit für den Arbeitsmarkt
ist eindeutig. Ein Zeitarbeitsverhältnis ist ein reguläres
Arbeitsverhältnis in einer inzwischen vollständig anerkannten, eigenständigen Branche. Das war die Entwicklung der letzten vierzig Jahre. Für die Beschäftigen
in der Zeitarbeitsbranche gelten - wie für andere Beschäftigte auch - alle arbeitsrechtlichen Bestimmungen,
inklusive Kündigungsschutz und Befristung. Ich will
nicht verhehlen, dass es Probleme gibt, aber ich glaube
nicht, dass sie in dem Maße verallgemeinert werden dürfen, wie das zum Teil heute Morgen der Fall war.
({6})
Das alles sind Punkte, die uns am vergangenen
Montag in der Anhörung zum Antrag der Linken von
Experten vorgetragen wurden. Wir als Union stimmen
mit den Experten überein: Zeitarbeit ist eine wichtige
Wachstumsbranche. Ich will die Zahlen nicht wiederholen; sie sind vorhin genannt worden. Gerade im letzten Jahr hat die Zeitarbeit deutlich zugenommen.
Die Zeitarbeit ist ein Wachstumsmotor. Im vergangenen Jahr ging der gesamte Beschäftigungsaufbau zu
einem Viertel auf die Zeitarbeit zurück. Für die Beschäftigten ist Zeitarbeit eine Brücke zum ersten Arbeitsmarkt. Zwei Drittel der Zeitarbeitnehmer waren zuvor
arbeitslos; 15 Prozent waren sogar langzeitarbeitslos.
Man geht davon aus, dass ungefähr ein Drittel aller Zeitarbeitnehmer über die Zeitarbeit eine Möglichkeit erhält,
entweder im entleihenden Unternehmen oder in einem
anderen Unternehmen Beschäftigung zu finden. Diese
Daten zeigen, dass Zeitarbeit ein Motor unserer Wirtschaft ist.
({7})
Zum Argument, Zeitarbeit gehöre in die Schmuddelecke, will ich ein paar Zahlen nennen. Nur ein Drittel
aller Arbeitnehmer bei Personaldienstleistern sind sogenannte Helfer. Die Facharbeiterquote liegt bei 63 Prozent; 7 Prozent sind Akademiker. Das zeigt, dass Zeitarbeit längst aus der Schmuddelecke herausgefunden
hat. Deshalb rede ich auch nicht von Leiharbeit, sondern
von Zeitarbeit als eigenständiger Branche.
Die Zeitarbeit ist ein wichtiges Flexibilitätsinstrument für die Wirtschaft. Sie bietet neben der Befristung
die Möglichkeit, Arbeitskräfte nach Auftragslage einzusetzen. Das erklärt möglicherweise den Boom. Wenn wir
insgesamt die Möglichkeit hätten, Änderungen am System vorzunehmen, dann müsste man die Zeitarbeit überdenken. Das erfordert aber möglicherweise Maßnahmen,
die wir in dieser Großen Koalition nicht durchsetzen
können.
Was die Vorstellungen der Linken angeht, habe ich
kein Verständnis für die Easy-Gysi-Vorschläge, die Sie
einbringen, auch wenn Sie aus dem Westen kommen. Sie
machen es sich zu einfach. Sie versprechen allen alles
und stellen stets die Gerechtigkeit in den Vordergrund.
Das kann man machen, solange man es nicht umsetzen
muss. Sie laufen ja nicht Gefahr, mehrheitsfähig zu werden. Deswegen können Sie das Blaue vom Himmel versprechen.
({8})
- Sie wissen genau, worüber ich rede, Frau Enkelmann.
Dort, wo es real versucht wurde, ist es gescheitert. Auch
die neuen Namensgebungen Ihrer Partei werden nichts
daran ändern, dass Ihre Politik fehlgeleitet ist.
({9})
- Sie müssen sich das Woche für Woche anhören. Ob
SED, PDS oder Linke - am Ende kommt immer DDR
heraus. Wir jedenfalls wollen das nicht.
({10})
Das liegt daran, dass Ihnen jegliches Grundverständnis für Wirtschaft, Arbeit und Finanzen fehlt. Sie haben
nie diejenigen im Blick, die all das bezahlen müssen,
was Sie in sozialpolitischer Hinsicht versprechen. Sie
haben nicht begriffen, dass die Menge des Geldes weder
im Staat noch in der Wirtschaft vermehrbar ist.
Die Themen Soziales und Wirtschaft sind bei uns im
Begriff der sozialen Marktwirtschaft verankert. Sozial
wird groß geschrieben, aber es ist mit der Marktwirtschaft gekoppelt. Worüber sich SPD und CDU/CSU
möglicherweise verständigen müssen, ist die Akzentsetzung, ob gerade der soziale Aspekt wichtiger ist, ob der
Markt stärker berücksichtigt werden muss und ob Änderungen in der Marktwirtschaft vielleicht sogar sozialer
sind. Das ist die Spannbreite. Aber Sie als PDS haben
von sozialer Marktwirtschaft überhaupt keine Ahnung.
({11})
- „Mecklenburg“ würde ich noch akzeptieren, aber „Meckerberg“ nicht. Vielleicht habe ich jetzt etwas gut; dann
nenne ich Sie tapferes Schneiderlein. Machen Sie weiter
so!
Sie haben mit sozialer Marktwirtschaft nichts im
Sinn. Sie ist in Ihrem Programm nicht zu finden. Sie
wollen etwas anderes. Sie sind Partei des populistischen
Sozialismus. Darin kommt der Markt nicht vor; deswegen können Sie nicht sozial sein. Sie wollen sozialistisch
und populistisch sein. Machen Sie so weiter! Sie rennen
aber ins Leere.
Zum Abschluss möchte ich etwas zu den drei hier
aufgestellten Behauptungen sagen. Die erste Behauptung lautet: Zeitarbeit ist schlechte Arbeit. Hier stellt
sich die Frage, ob es nicht besser ist, lieber Zeitarbeit als
gar keine Arbeit zu haben. Ich beziehe mich auf
Dr. Lembke aus der Anhörung, der gesagt hat: Was ist
sozialer? Arbeit gegen Entgelt, selbst wenn es nicht existenzsichernd ist, oder lieber Geld ohne Arbeit?
({12})
- „Hungerlöhne für alle“, das ist Unsinn;
({13})
das will niemand in diesem Parlament. - Mir ist Arbeit
gegen Entgelt lieber, auch wenn wir es etwas aufstocken
müssen. Hauptsache, jemand ist erst einmal im Arbeitsmarkt.
Das zweite Argument lautet: Zeitarbeit führt zu
Lohndumping. Bisher gibt es dafür keinen Beweis. Es
gibt ja sogar den Fall, dass in bestimmten Branchen, in
denen die Tarife höher sind, die Löhne gesenkt werden
müssten, wenn Zeitarbeitnehmer beschäftigt werden und
Ihre Forderung nach Equal Pay umgesetzt werden soll.
Das wollen Sie sicher nicht. Das ist also sehr kompliziert.
Das dritte Argument lautet: Zeitarbeit verdrängt normale, gute Arbeit. Ich zitiere hier aus dem IAB-Kurzbericht:
Leiharbeiterjobs stellen in der Regel nur kurze Phasen im Erwerbsverlauf der Beschäftigten dar.
Mehr möchte ich dazu nicht sagen, da meine Redezeit
abgelaufen ist.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Zeitarbeit ist Arbeitsmarkt- und Wirtschaftsmotor. Zeitarbeit ist prinzipiell nicht infrage zu stellen. Sozialpolitische Forderungen, die diesen Arbeitsmarkt kaputtmachen, sind nicht
akzeptabel. Deswegen werden wir den Gesetzentwurf
der Linken ablehnen. Wir wollen Zeitarbeit als eigenständige Branche erhalten und sie weiterhin als Wachstumsmotor einsetzen.
Schönen Dank.
({14})
Herr Kollege Schneider, Sie wissen, dass wir in diesem Parlament sehr darauf achten, von persönlichen Beleidigungen abzusehen. Ich finde, dass das kreative Verändern des Namens eine Art persönliche Beleidigung
von Herrn Meckelburg ist.
({0})
- Herr Kollege Schneider, bitte lassen Sie mich ausreden. Ich bitte Sie, sich zu überlegen, ob Sie sich bei dem
Kollegen entschuldigen. Im Übrigen können Sie den Namen in unserem wunderbaren Kürschner nachlesen.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entwurf ei-
nes Gesetzes der Fraktion Die Linke zur Änderung des
Gesetzes zur Regelung der erwerbsmäßigen Arbeitneh-
merüberlassung. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/7513, den Gesetzentwurf der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 16/4805 abzulehnen. Ich bitte die-
jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun-
gen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen,
CDU/CSU, FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Die
Linke abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäfts-
ordnung die weitere Beratung.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a und 32 b so-
wie die Zusatzpunkte 9 und 10 auf:
32 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines
Siebten Gesetzes zur Änderung des Dritten
Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze
- Drucksache 16/7460 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Volker Schneider ({4}), Klaus Ernst,
Dr. Lothar Bisky, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Rentenabschläge für Langzeiterwerbslose verhindern
- Drucksachen 16/6933, 16/7200 Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Stöckel
ZP 9 Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Schneider ({5}), Klaus Ernst, Dr. Martina
Bunge, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch ({6})
- Drucksache 16/7459 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({7})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann, Dr. Karl
Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Arbeit statt Frühverrentung fördern
- Drucksache 16/7003 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({8})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke zur Verhinderung von Rentenabschlägen werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Klaus Brandner.
({9})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Arbeitsmarkt entwickelt sich
weiterhin positiv. Im November gab es 3,38 Millionen
Arbeitslose. Seit 1992 waren in einem November nicht
mehr so wenige Menschen arbeitslos. Davon profitieren
alle, die Jungen und die Älteren.
({0})
Die Zahl der jungen Arbeitslosen ist um 19,1 Prozent
und die der älteren um 17,4 Prozent niedriger als vor einem Jahr.
Diese Entwicklung ist nicht mehr nur Folge der guten
Konjunktur, sondern sie ist auch Resultat struktureller
Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt. Wir dürfen mit
Fug und Recht sagen, dass das auch das Ergebnis einer
guten Politik ist, einer Politik, die Wachstum und Beschäftigung fördert, die ein gerechtes System des „Förderns und Forderns“ organisiert, die weniger auf Frühverrentung setzt und mehr auf Unterstützung, die für
diejenigen, die sonst kaum Aussichten auf einen Arbeitsplatz haben, Arbeitsgelegenheiten und Arbeitsplätze
schafft, und die darauf setzt, dass gerade Ältere besser
vermittelt werden, die bisher weniger Chancen hatten.
Weil dem so ist, können wir den Gerechtigkeitsvorstellungen der Menschen entsprechen und einen längeren
Bezug des Arbeitslosengeldes I für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ermöglichen.
({1})
Wie ist die Lage der Älteren? Richtig ist: Viele Firmen haben erkannt, dass es für sie von Vorteil ist, ältere
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu beschäftigen
und auf ihre Erfahrung zu setzen. 1998 zum Beispiel waren weniger als 38 Prozent der 55- bis 64-Jährigen erwerbstätig. Heute sind es 52 Prozent. Hier tut sich also
etwas, auch dank gezielter Förderung und bestimmter
Maßnahmen, die wir politisch ergriffen haben. Richtig
ist aber auch: Trotz dieser guten Zahl bestehen bei der
beruflichen Wiedereingliederung Älterer weiterhin Probleme. Mit dem Siebten Gesetz zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze, das
als Entwurf vorliegt, sollen deshalb die soziale Sicherung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und
ihre Integration in den Arbeitsmarkt weiter verbessert
werden.
Erstens verlängern wir die Dauer des Anspruchs auf
das Arbeitslosengeld in drei Stufen. Dabei werden die
Vorversicherungszeiten in den letzten fünf Jahren und
das Lebensalter berücksichtigt. 50-Jährige erhalten künftig bis zu 15 Monate, 55-Jährige bis zu 18 Monate und
58-Jährige bis zu 24 Monate Arbeitslosengeld. Die Verlängerung gilt für alle, die nach Inkrafttreten des Gesetzes arbeitslos werden und Anspruch auf Arbeitslosengeld haben, und für diejenigen, die bereits arbeitslos sind
und auch nach Inkrafttreten des Gesetzes Anspruch auf
Arbeitslosengeld haben.
Zweitens verbessern wir die Wiedereingliederung
mit Eingliederungsgutscheinen und Eingliederungszuschüssen. Um ältere Arbeitslose bei ihrer Suche nach
Arbeit gezielt zu unterstützen, haben wir dem längeren
Anspruch auf Arbeitslosengeld einen Eingliederungsgutschein vorgeschaltet. Damit verpflichtet sich die Agentur
für Arbeit, bei Einstellung eines älteren Menschen einen
Lohnkostenzuschuss an den Arbeitgeber zu zahlen. Der
Eingliederungsgutschein ist während der ersten zwölf
Monate der Arbeitslosigkeit eine Ermessensleistung. Die
Arbeitsvermittlerinnen und Arbeitsvermittler entscheiden in diesem Zeitraum, ob und in welcher Höhe der
Gutschein ausgegeben wird. Der Lohnkostenzuschuss
liegt zwischen 30 und 50 Prozent. Die Förderdauer beträgt zwölf Monate.
Wenn in den ersten zwölf Monaten der Arbeitslosigkeit trotz aller verabredeten Bemühungen die Integration
in den Arbeitsmarkt nicht gelingt, erhalten ältere Arbeitslose einen Rechtsanspruch auf den Gutschein. Um
die Anreize für die Arbeitgeber noch einmal zu erhöhen,
beträgt die Förderhöhe dann ausnahmslos 50 Prozent.
Unabhängig von der Höhe des Zuschusses kann eine
Förderung jedoch nur dann erfolgen, wenn das Beschäftigungsverhältnis für mindestens zwölf Monate abgeschlossen wird. Damit wird gewährleistet, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer neue Ansprüche in der
Arbeitslosenversicherung erwerben. Neu am Eingliederungsgutschein ist vor allem, dass er direkt an die Arbeitslosen ausgegeben wird. Dadurch wird die Eigeninitiative bei der Suche nach einem Arbeitsplatz
unterstützt. Das erleichtert hoffentlich vielen Arbeitgebern, sich für einen älteren Arbeitslosen zu entscheiden.
Drittens beinhaltet der Gesetzentwurf eine Nachfolgeregelung zur sogenannten 58er-Regelung. Dabei gilt
der Grundsatz: Auch ältere Menschen sind unverzüglich
in Arbeit oder eine Arbeitsgelegenheit zu vermitteln. Die
Beschäftigung hat also Vorrang.
Der zweite Grundsatz lautet - auch ihn will ich ansprechen -: Das Arbeitslosengeld II wird nur dann gezahlt, wenn die Hilfebedürftigen keine anderen vorrangigen Leistungen in Anspruch nehmen können. Wäre die
alte 58er-Regelung ersatzlos ausgelaufen, wäre jeder ältere Arbeitslose, der Anspruch auf eine Altersrente mit
Abschlägen hat, darauf verwiesen worden.
({2})
- Frau Schewe-Gerigk, auch wenn meine frühere Funktion zwischenzeitlich auf meine Kollegin Nahles übergegangen ist - sie übt sie erfolgreich aus -, werden Sie sich
daran erinnern, dass die Sozialdemokratische Partei dieses Thema sehr früh aufgegriffen hat.
({3})
Wir sind froh darüber, dass wir mit unserem Koalitionspartner zu einer vernünftigen Regelung gekommen sind.
Ich sage hier ganz deutlich: Um den unterschiedlichen
Altersgrenzen auch beim Eintritt in die Rente gerecht zu
werden, wird ein einheitliches Renteneintrittsalter vorgegeben: Man kann eine Altersrente mit Abschlägen frühestens nach dem 63. Lebensjahr in Anspruch nehmen.
Darüber hinaus soll eine besondere Härtefallregelung
vereinbart werden. Durch Rechtsverordnung wird geregelt, in welchen besonderen Fällen man auch nach dem
63. Lebensjahr nicht verpflichtet ist, eine Abschlagsrente
in Anspruch zu nehmen. Dabei geht es zum Beispiel um
die Fälle, in denen der Betroffene in Kürze eine abschlagsfreie Rente in Anspruch nehmen kann oder in denen eine Arbeitsmöglichkeit unmittelbar bevorsteht.
Ich bin den Koalitionsfraktionen dankbar, dass sie in
diesen beiden wichtigen und schwierigen Fragen gemeinsame Lösungen gefunden haben. Das Arbeitsministerium hat sich unter Hochdruck und mit der gebotenen
Sorgfalt darangemacht, die politischen Vereinbarungen
der Fraktionen in dem Entwurf einer Formulierungshilfe
umzusetzen. Ziel der Bundesregierung war es, das Gesetzgebungsverfahren noch in diesem Jahr abzuschließen, damit die Neuregelungen zum 1. Januar 2008 in
Kraft treten können. Zu diesem Zweck ist - Sie wissen
es - sogar die Kabinettssitzung in dieser Woche auf den
Dienstag vorverlegt worden.
({4})
Dass der vorgesehene Zeitplan nun nicht eingehalten
werden soll, hat uns sehr überrascht. Ich will das hier
deutlich anmerken.
({5})
Wichtig bleibt aber, dass die gesetzliche Neuregelung so
schnell wie möglich umgesetzt wird. Für 30 000 bis
40 000 Ältere läuft der Arbeitslosengeldanspruch nach
bisherigem Recht nach dem 31. Dezember dieses Jahres
aus. Dadurch, dass das Gesetz später in Kraft tritt, droht
ihnen eine „Hängepartie“ mit komplizierten Übergangsregelungen und nachträglichen Korrekturen. Ich sage
hier ganz deutlich: Wir wollen das so weit wie möglich
vermeiden, und wir arbeiten derzeit an entsprechenden
Lösungen.
Für Ihre Unterstützung im Interesse der Betroffenen
möchte ich mich schon an dieser Stelle ganz herzlich bedanken. Ich hoffe, dass damit, Frau Schewe-Gerigk, klar
ist: Zwangsverrentung ist mit dieser Bundesregierung
nicht zu machen. Sie hat die Initiativen der Koalitionsfraktionen sehr früh aufgegriffen und so eine vernünftige
Lösung gefunden.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dirk Niebel, FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Staatssekretär Brandner, das war
Ihre Jungfernrede als Staatssekretär. Bei der Erwiderung
auf Jungfernreden muss man lieb sein. Deswegen werde
ich mich im Wesentlichen auf den Arbeitsminister konzentrieren.
({0})
Aber ich kann mir die kleine Anmerkung nicht verkneifen, dass Sie sozusagen die fleischgewordene 58er-Regelung sind.
({1})
Insofern wünsche ich Ihnen viel Erfolg in Ihrem neuen
Amt.
Auch die FDP-Bundestagsfraktion wird dafür sorgen,
dass es keine Zwangsverrentung gibt. Die Details dazu
wird Ihnen mein Kollege Kolb in seiner Rede vortragen.
Ich werde mich auf den zweiten Bereich dieses Gesetzentwurfs, auf die Verlängerung des Arbeitslosengeld-IBezuges, konzentrieren.
Heute ist ein bemerkenswerter Tag; es ist sozusagen
Domino-Day: Der erste Dominostein war die Einführung
des Mindestlohns in einer Branche. Vorgesehen ist jetzt
ein zweiter Dominostein: die Rücknahme wesentlicher
Bereiche der sogenannten Hartz-Reformen. Der Herr
Bundesarbeitsminister hat in seiner Rede vorhin enorme
Schwierigkeiten gehabt, den Namen des Schröder-Freundes Hartz in den Mund zu nehmen. Auch wenn man das
angesichts der verschiedenen Freunde des abgewählten
Gasmanns aus Hannover zwar verstehen kann, sollte
man nicht übersehen, dass es darum ging, eines zu verschleiern: dass es hier um die Umkehrung einer erfolgreichen Politik geht.
({2})
Als der Genosse Scholz als Generalsekretär der Sozialdemokratischen Partei noch um die Lufthoheit über
den Kinderbetten gekämpft hat, hat er dem Stern am
7. August 2003 ein Interview gegeben. Damals antwortete er auf die Frage, ob es gerecht sei, die Arbeitslosengeld-I-Bezugsdauer zu verkürzen - ich zitiere -:
Die Arbeitslosenversicherung ist eine Versicherung
und kein Sparguthaben. Sie schützt vor dem Risiko
der Arbeitslosigkeit. Es gibt viele, die ihr Leben
lang einzahlen und nie eine Leistung bekommen,
weil sie immer Arbeit haben.
({3})
Am 24. November 2006, als der Genosse Arbeitsminister schon Erster Parlamentarischer Geschäftsführer
der SPD-Bundestagsfraktion war, hat der Herr Bundespräsident ein klares Nein zur Verlängerung des Arbeitslosengeldbezuges verkündet. Bei dem darauffolgenden
politischen Disput entgegnete der Kollege Olaf Scholz
damals:
Wo der Bundespräsident recht hat, hat er recht.
Jetzt ist es doch so, dass an dieser Stelle wieder einmal Symbolpolitik betrieben wird.
({4})
Der Vorgänger des wertgeschätzten Kollegen Brandner
hat im Deutschen Bundestag in der Aktuellen Stunde am
10. Oktober 2007 deutlich gemacht, dass die durchschnittliche Arbeitslosengeldbezugsdauer überhaupt keine
Notwendigkeit ergibt, die Bezugsdauer zu verlängern.
Laut Staatssekretär a. D. Andres beziehen 50- bis
55-Jährige durchschnittlich sechs Monate Arbeitslosengeld I, 55- bis 60-Jährige durchschnittlich sieben Monate
und 60- bis 65-Jährige durchschnittlich elf Monate. Was
heißt das in der Conclusio? In der Conclusio bedeutet
das, dass Symbolpolitik betrieben wird, indem den Menschen suggeriert wird, man würde ihnen das Leben ein
Stück weit besser gestalten.
({5})
Im Ergebnis wird aber auf der anderen Seite dafür gesorgt, dass die Chancen älterer Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer auf einen Arbeitsplatz zeitlich wieder
deutlich nach hinten geschoben werden.
({6})
Denn die höhere Beschäftigungsquote von Erwerbslosen
in höherem Lebensalter ist nach allen Äußerungen der
Wirtschaftsinstitute darauf zurückzuführen, dass die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes verkürzt worden ist.
Weil über die Dauer der Arbeitslosigkeit die Leistung,
die sich am letzten Nettoeinkommen bemessen hat, nicht
mehr erzielt werden kann, ist es wirtschaftlich nur folgerichtig, die Leistungsbezugsdauer möglichst bis zum
Ende auszuschöpfen; mit dem Ergebnis, dass dann die
Chance auf einen Arbeitsplatz, der idealerweise mindestens so gut ist wie der verlorene Arbeitsplatz, noch geringer geworden ist. Deswegen führt diese Politik im Ergebnis dazu, dass die Chancen von älteren Menschen,
einen Arbeitsplatz zu bekommen, geringer werden.
Wenn Sie Spielräume sehen - das Ganze kostet jede
Menge Geld, und zwar das Geld anderer Leute und nicht
das des Genossen Arbeitsminister -, wenn Sie also die
Chance sehen, Spielräume finanzieller Art zu generieren, dann sorgen Sie doch dafür, dass Arbeit noch billiger wird. Die Spielräume bei der Arbeitslosenversicherung sind so, dass locker ein Beitragssatz von 3 Prozent
hinzubekommen ist. Das ermäßigt die Kosten für Betriebe, wenn sie jemanden einstellen, und das erhöht die
Möglichkeiten und Spielräume der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer, zu konsumieren, weil mehr Netto
vom Brutto übrigbleibt. Darum muss es gehen: Mehr
Netto vom Brutto für die Menschen in diesem Land, damit sie am Aufschwung in Deutschland teilhaben können!
Vielen herzlichen Dank.
({7})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Ralf Brauksiepe,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir setzen mit dem siebten SGB-III-Änderungsgesetz
zur Verlängerung des Bezugs von Arbeitslosengeld I einen richtigen Weg in der Sozialpolitik fort, einen Weg,
der auf die stärkere Würdigung der Beitrags- und damit
Lebensleistung von Menschen setzt.
Im Frühjahr dieses Jahres habe ich im Zusammenhang mit der Rente mit 67 die Regelung „Wer 45 Beitragsjahre hat, kann weiter abschlagsfrei in Rente gehen“
mit der Honorierung einer großen Beitrags- und Lebensleistung begründet. Als ich dabei gesagt habe, auch bei
der Arbeitslosenversicherung mache das Sinn, stieß das
bei unserem Koalitionspartner noch auf Skepsis.
({0})
Jetzt haben wir auch für diesen Sozialversicherungszweig gemeinsam hinbekommen - das ist gut -, dass
sich Lebens- und Beitragsleistung bei den Ansprüchen
stärker auswirkt.
({1})
Über 50-Jährige haben, jedenfalls dann, wenn die notwendigen Vorversicherungszeiten erfüllt sind - darauf
hat der Staatssekretär zu Recht hingewiesen -, in Zukunft
15 Monate und über 58-Jährige 24 Monate Anspruch auf
das Arbeitslosengeld I. Indem es uns gelungen ist, eine
Vereinbarung zu treffen, nach der dies ohne zusätzliche
Belastung für die BA finanziert werden kann, war es uns
auch möglich, gleichwohl, wie wir es uns vorgenommen
haben, die Senkung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung auf 3,3 Prozent zu Beginn des nächsten
Jahres sicherzustellen.
Wir wissen sehr genau: Wir werden in allererster Linie nicht an der Länge des Bezugs von Arbeitslosengeld
gemessen, sondern am Abbau der Arbeitslosigkeit und
an der Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze, was uns in
der Großen Koalition sehr gut gelungen ist.
({2})
Man sollte aber nicht so tun, als bräche gewissermaßen der Sozialstaat zusammen, wenn Menschen, die
Jahrzehnte Beitrag gezahlt haben, ein paar Monate länger Arbeitslosengeld erhalten. Ich kenne die Arbeitslosen nicht, von denen bei der FDP immer die Rede ist, die
sich während der Arbeitslosigkeit erst einmal in der
Hängematte ausruhen und dann kurz vor Toresschluss
anfangen, nach Arbeit zu suchen. Das hat mit den Menschen in diesem Land nichts zu tun.
({3})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kolb?
({0})
Gern.
Ich bedanke mich, Herr Kollege Brauksiepe. - Ich
habe in Erinnerung, dass die CDU in Leipzig eine Art
Doppelbeschluss gefasst hat. Nachdem Sie hier verkündet haben, dass die Verlängerung des Bezugs von
Arbeitslosengeld I abgehakt ist, möchte ich fragen, wann
wir mit der Erfüllung des zweiten Teils des Leipziger
Parteitags rechnen dürfen. Denn damals wurde doch,
wenn ich mich recht erinnere, die Notwendigkeit gesehen, auch Veränderungen beim Kündigungsschutz voranzutreiben. Wie ist der aktuelle Stand der Dinge, Herr
Kollege Brauksiepe?
Zunächst darf ich Sie darauf hinweisen, Herr Kollege
Kolb: Dieser Parteitag war in Dresden; der Leipziger
liegt schon länger zurück.
({0})
Das war also der Dresdener Parteitag. Wir haben dort
viele kluge Beschlüsse gefasst. Wir sind dafür, dass all
das, was wir beschlossen haben, auch umgesetzt wird.
Wir machen das alles Stück für Stück. Wofür wir jetzt
politische Mehrheiten haben, das setzen wir um.
({1})
Den Rest machen wir dann, wenn wir dafür ebenfalls
Mehrheiten haben. Darum setzen wir jetzt die Verlängerung des Bezugs von Arbeitslosengeld I um, wofür wir
seit 13 Monaten werben. So sieht die Situation aus, Herr
Kollege Kolb.
({2})
Ich danke für die Gelegenheit, das darstellen zu können.
Uns geht es darum, dass die Menschen nicht in Passivität verbleiben, sondern aktiviert werden; darauf hat
Klaus Brandner zu Recht hingewiesen. Deswegen wird
mit dem längeren Bezug von Arbeitslosengeld I die Einführung eines Eingliederungsgutscheins verbunden, um
die Menschen wieder besser in Arbeit zu bringen. Die
Aktivierung der Menschen steht für uns im Vordergrund.
Das gilt gerade für Ältere, die es in vielen Bereichen
nach wie vor schwerer haben, in Arbeit zu kommen. Wir
geben niemanden auf - nicht denjenigen in Arbeitslosengeld-I-Bezug und auch nicht denjenigen in Arbeitslosgengeld-II-Bezug.
Deshalb führen wir mit diesem Gesetz einen Abs. 2 a
in § 3 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch ein, der da
lautet:
Erwerbsfähige Hilfebedürftige, die das 58. Lebensjahr vollendet haben, sind unverzüglich in Arbeit
oder in eine Arbeitsgelegenheit zu vermitteln.
Das hängt mit der sogenannten 58er-Nachfolgeregelung
zusammen.
Herr Kollege, darf ich Sie unterbrechen? Kollegin
Pothmer hätte dazu eine Zwischenfrage.
Gerne, Frau Pothmer.
Herr Brauksiepe, vielleicht können Sie uns noch einmal erklären, wie die Einführung des neuen Eingliederungsgutscheines für Ältere zu Ihrem Ziel passt - das
haben Sie uns schon lange versprochen -, den Instrumentenkasten zu verkleinern, insbesondere vor dem
Hintergrund, dass dieser Instrumentenkasten bereits einige Eingliederungsmaßnahmen enthält?
Sie haben recht, Frau Kollegin Pothmer, dass es schon
an verschiedenen Stellen Eingliederungsleistungen gibt.
Genauso ist wahr, dass wir die arbeitsmarktpolitischen
Instrumente schon in den letzten zwei Jahren gestrafft
haben. Wir haben beispielsweise Ihr Lieblingskind, die
Ich-AG, abgeschafft; dieses Angebot gibt es nicht mehr
für Neufälle.
({0})
Ähnlich haben wir auch an anderen Stellen gehandelt.
Seien Sie ganz sicher: Wir werden in den nächsten
Monaten eine Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente vorlegen,
({1})
die trotz dieses Eingliederungsgutscheines, zu dessen
Einführung wir uns bekennen, zu einer erheblichen Reduzierung der Zahl der arbeitsmarktpolitischen Instrumente führen wird, aber nicht zu einer Reduzierung der
für die aktive Arbeitsmarktpolitik eingesetzten finanziellen Mittel; das will ich klar sagen. Demnächst wird es
dazu eine entsprechende Vorlage der Koalition geben.
Frau Kollegin Pothmer, seien Sie unbesorgt; wir führen
gute Eingliederungsmaßnahmen durch und reduzieren
die Zahl der arbeitsmarktpolitischen Instrumente.
({2})
Ich will zur 58er-Nachfolgeregelung deutlich sagen:
Panikmache in dieser Frage war immer falsch. Wer sich
ernsthaft mit dieser Sache beschäftigt, weiß, dass die
Rentenansprüche der Menschen in aller Regel deutlich
höher sind als das, worauf sie Anspruch haben, wenn sie
Arbeitslosengeld II bekommen. Deswegen ist damit zu
rechnen, dass die allermeisten Menschen die entsprechenden Ansprüche, wenn sie sie erworben haben, auch
freiwillig realisieren.
Gleichwohl macht es keinen Sinn, hier einen Streit
um des Kaisers Bart zu führen. Zur Vermeidung von
Härtefällen haben wir eine am Nachrangigkeitsprinzip
gemessene großzügige Regelung vereinbart: Niemand
darf vor dem 63. Geburtstag auf einen bestehenden Rentenanspruch verwiesen werden.
Ich betone in diesem Zusammenhang: Das ist ein zusätzliches Recht. Alle bisherigen Schutzrechte für
Frauen, früher in Rente zu gehen, bleiben selbstverständlich genauso erhalten wie der Vertrauensschutz für diejenigen, die die 58er-Regelung schon in Anspruch genommen haben.
({3})
Von daher wird selbstverständlich auch in Zukunft niemand gegen seinen Willen auf einen Rentenanspruch
verwiesen.
Ich glaube, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir
hier in der Sache ein überzeugendes Paket an Maßnahmen vorgelegt haben. Eigentlich hätte man es dabei bewenden lassen können. Ich bedaure, dass es nun zu einer
öffentlichen Debatte, die jetzt auch hier geführt wurde,
um die Frage des Inkrafttretens dieser Regelung gekommen ist. Ich will deutlich sagen - mein Freund Klaus
Brandner weiß das aus langjähriger parlamentarischer
Arbeit -: Es ist gut, dass die Kabinettssitzung vorgezogen worden ist; denn andernfalls hätte diese erste Lesung
erst in fünf Wochen, also Mitte Januar, stattfinden können. Das machte also schon Sinn.
Die CDU/CSU-Fraktion ist selbstverständlich auch
dafür, dass begünstigende Regelungen so schnell wie
möglich in Kraft gesetzt werden.
({4})
Genau das haben die Koalitionsspitzen übrigens vereinbart. Ich darf einmal zitieren: „Ein entsprechendes Gesetz wird schnellstmöglich in Kraft treten.“ Nicht mehr
und nicht weniger haben wir vereinbart. Wir haben keinen konkreten Termin vereinbart. Natürlich muss in die
Abwägung einbezogen werden, dass ein Gesetzgebungsverfahren in geordneten Bahnen verlaufen und über jeden Zweifel erhaben sein muss. Die Große Koalition mit
ihrer großen Mehrheit darf sich den Staat mit Verfahren,
die diese Grundsätze nicht beachten, nicht zur Beute machen.
({5})
Selbstverständlich ist ein rückwirkendes Inkrafttreten
möglich. Die Ursachen dafür, dass wir nicht eher dran
sind, liebe Kolleginnen und Kollegen, liegen woanders.
Wir haben auf unserem Parteitag in Dresden vor
13 Monaten den Beschluss zur Verlängerung des Bezugs
von Arbeitslosengeld I gefasst. Im November des Jahres
2006 hat es darüber auch eine Debatte im rheinland-pfälzischen Landtag gegeben. Ich darf einmal zitieren, was
Ministerpräsident Beck dort gesagt hat. Er sagte:
Jetzt komme ich zu dem zweiten Punkt …: Arbeitslosengeld I. - Das Ganze geht zurück auf einen Vorschlag, den Herr Kollege Rüttgers gemacht hat.
- Wo Herr Beck recht hat, hat er recht. Ich kann das als
Mitglied der CDU Nordrhein-Westfalen bestätigen.
Er äußert sich dann nicht kritisch zur Finanzierung
- darum ging es nicht -, sondern er sagte, es gehe um
eine sehr grundsätzliche Frage, und fuhr fort:
Jetzt geht es schon darum, ob wir diesen Kurs korrigieren oder nicht … Ich sage Ihnen, wer die Schleusentore dort aufmacht, der bekommt sie nicht mehr
zu.
Das sagte er im Hinblick auf unseren Vorschlag, die
Dauer des Arbeitslosengeld-I-Bezuges zu verlängern.
An die Adresse der CDU gewandt führte er weiter aus:
Solange Sie solche Versuche unternehmen,
- nämlich den Bezug von Arbeitslosengeld I zu verlängern wird das nicht ohne meinen Widerspruch bleiben.
Das sage ich Ihnen.
Wohl wahr! Elf Monate hat Herr Beck hartnäckig Widerstand geleistet, bis er zu besseren Erkenntnissen gekommen ist. Dann hat die SPD auf ihrem Parteitag auch eine
Verlängerung des Bezugs von Arbeitslosengeld I beschlossen. Danach ging es ganz schnell.
Ich will deutlich sagen: Wir wollen die Menschen so
schnell wie möglich begünstigen. Elf Monate hat Herr
Beck gebraucht. Das ist traurig, aber kein Grund für eine
Sondersitzung des Deutschen Bundestages.
Herr Kollege!
Wir stehen für gute inhaltliche Beschlüsse in einem
vernünftigen und geordneten Verfahren, liebe Kolleginnen und Kollegen!
({0})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Gregor Gysi,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie haben gerade von einem geordneten Verfahren gesprochen.
({0})
Was Sie hier anrichten, ist ein Tohuwabohu, das wir selten erlebt haben.
({1})
Es ist auch mir völlig unverständlich, was Sie da anrichten. Nehmen wir einmal die beiden genannten Beispiele.
Sie wollen irgendwann im Februar 2008 die Verlängerung des Bezugs von Arbeitslosengeld I für eine bestimmte Gruppe ab 1. Januar 2008 beschließen, sagen
aber den betroffenen Leuten, sie sollten jetzt erst einmal
ALG II beantragen, mit all den Demütigungen, die damit
verbunden sind. Wenn dann Tausende Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter der Bundesagentur ihre diesbezügliche
Arbeit geleistet haben, tritt das Gesetz in Kraft und sie
können die ganzen Papiere wieder wegwerfen; denn die
Antragsteller bekommen weiterhin ALG I. Das ist doch
nicht nachvollziehbar.
({2})
Es gibt doch Grenzen dessen, was an Scharlatanerie organisiert werden darf.
Jetzt komme ich zur Frage der Zwangsverrentung.
Hier wird es ja noch abenteuerlicher. Sie sagen jetzt bestimmten Leuten, nämlich denen, die 60, 61 oder
62 Jahre alt sind, sie müssten erst einmal eine Frühverrentung mit Abschlägen beantragen. Klar, das ist geltendes Recht.
({3})
- Passen Sie auf, ich komme gleich dazu, um welche
Leute es sich handelt. - Wie gesagt, diese Leute müssen
die Zwangsverrentung beantragen. Erst sechs Wochen
später tritt das Gesetz in Kraft, das eine Zwangsverrentung nicht mehr vorsieht. Dann haben aber die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesagentur sowie die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Rentenversicherung die entsprechenden Anträge schon bearbeitet. Das
ist nicht hinnehmbar. Das ist Tohuwabohu, was Sie hier
organisieren.
({4})
Nun sagt der zuständige Bundesminister, er wolle mal
sehen, dass er das Gesetz halbwegs außer Kraft setzen
kann und dass ihm vielleicht irgendeine Regelung einfällt, mit der man die Doppelarbeit verhindern kann.
Hätte die Union zugestimmt, hätten wir das heute verbindlich entscheiden können. Das ganze Tohuwabohu ist
völlig unnötig.
({5})
Ein weiterer Punkt. Wie wollen Sie denn als Bundesminister ein Gesetz außer Kraft setzen? Das Grundgesetz
sieht das nicht vor; das muss ich Ihnen ganz klar sagen.
Es gäbe eine Möglichkeit, liebe Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten: Wenn Sie unserem Antrag auf
Verlängerung zumindest der 58er-Regelung zustimmen
würden - darüber stimmen wir ja namentlich ab -, dann
wäre der Wille des Gesetzgebers, diese Regelung erst
gar nicht in Kraft zu setzen, um sie dann später wieder
außer Kraft zu setzen, deutlich geworden. Das wäre die
Lösung.
({6})
Wir werden sehen, wie Sie sich dazu verhalten.
Ich komme jetzt kurz zur Verlängerung des Bezugs
von Arbeitslosengeld I. Ich möchte daran erinnern, was
die SPD auf ihrem Parteitag beschlossen hat: Das Arbeitslosengeld I sollten 45- bis 49-Jährige statt 12 Monate 15 Monate, 50-Jährige und Ältere statt 12 Monate
24 Monate bekommen. Auch bei den über 55-Jährigen
sollte die Bezugsdauer von 18 auf 24 Monate gesteigert
werden.
Schauen wir uns einmal an, was herausgekommen ist.
Ihr wunderbarer Kompromiss sieht Folgendes vor: Für
45- bis 49-Jährige gibt es gar keine Verlängerung, für
50- bis 54-Jährige wird um drei Monate von 12 auf
15 Monate verlängert. Für 55- bis 57-Jährige gibt es
ebenfalls keine Verlängerung. Erst für 58-Jährige und
Ältere verlängert sich die Bezugsdauer von 18 auf
24 Monate. Das ist nicht nichts; das ist wahr. Aber es ist
sehr viel weniger als das, was Sie beschlossen haben.
({7})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Meckelburg?
Ja, klar.
Angesichts Ihrer Aussage, die einzige Möglichkeit
des Parlaments, gegenüber dem Minister deutlich zu machen, dass wir die Verlängerung des Bezugs von
Arbeitslosengeld I und der 58er-Regelung haben wollen,
sei dadurch gegeben, dass wir Ihrem Antrag heute zustimmen, möchte ich Sie fragen: Können Sie einmal zur
Kenntnis nehmen, dass wir mit dem Gesetzentwurf, der
vor zwei Wochen hier verabschiedet worden ist, bereits
beschlossen haben, dass wir beides wollen? Das Signal
gibt es also schon längst, und Ihr Antrag ist daher völlig
überflüssig.
Es geht nicht um ein Signal, lieber Herr Kollege,
({0})
sondern um einen Parlamentsbeschluss, der Ihnen rechtliche Möglichkeiten gibt.
({1})
Das schafft Ihr Gesetz, auf das Sie hingewiesen haben,
nicht.
({2})
Ich will gar nicht auf die Bedingungen eingehen, weil
mir meine Redezeit davonläuft.
({3})
- Zu drei Punkten will ich Ihnen schon etwas sagen. Sie verlangen für die Verlängerung des Bezugs von
Arbeitslosengeld I, dass die über 55-Jährigen drei Jahre
vorher versichert sein müssen. Die über 58-Jährigen
müssen vier Jahre vorher versichert sein. Dann kommen
Sie mit Ihrem Gutschein und erhöhen den Arbeitszwang.
Das ist ganz eindeutig. Das heißt, auf der einen Seite geben Sie den Menschen etwas, und auf der anderen Seite
versuchen Sie, ihnen etwas zu nehmen.
({4})
Immerhin ist es eine Verlängerung des Bezugs von
Arbeitslosengeld I.
Herr Staatssekretär, Sie behaupten in Ihrer Rede tatsächlich, dass Sie die Zwangsverrentung abschaffen. Da
sagen Sie eindeutig die Unwahrheit.
({5})
Denn Sie schaffen die Zwangsverrentung nicht ab. Das
stimmt einfach nicht. Vom Tohuwabohu habe ich bereits
gesprochen. Was ändert sich? Sie sagen: Die 60-, die
61- und die 62-Jährigen sollen nicht mehr zwangsverrentet werden. Dazu muss man wissen, dass auch bisher
nicht alle 60-, 61- und 62-Jährigen, die arbeitslos sind,
frühverrentet werden sollten, sondern nur Frauen und
Schwerbehinderte. Denn nur sie sind berechtigt, eine
Frühverrentung zu beantragen. Wer sie nicht beantragen
darf, fällt ja nicht unter diese Regelung. Es ist völlig in
Ordnung, dass sie für diese Personengruppe die Zwangsverrentung wegfallen lassen wollen. Auch die Union hat
nämlich erkannt, dass vor dem Bundesverfassungsgericht niemals durchgesetzt werden kann, dass Frauen
zwangsverrentet werden, aber die meisten Männer nicht.
Das ist heute einfach nicht mehr möglich.
({6})
Das haben Sie ja akzeptiert.
Aber für die 63- und 64-Jährigen haben Sie nach wie
vor die Zwangsverrentung vorgesehen. Das wird die Betroffenen hart treffen, weil sie mit Renteneinbußen verbunden ist. Ich verstehe auch nicht, wie Sie sagen können, diese Menschen hätten davon mehr. Es hängt immer
davon ab, wie lange jemand lebt. Das Problem ist Folgendes: Es besteht jetzt eine Wahlmöglichkeit. Ein Betroffener kann beim ALG II bleiben, oder er kann eine
Frühverrentung beantragen. Er hat einen Anspruch erworben, und Sie lassen ihn entscheiden, wie er damit
umgeht. Diese Regelung heben Sie für die 63- und
64-Jährigen auf.
Wir sollten uns hier nichts vormachen: Da Sie das
Renteneintrittsalter auf das 67. Lebensjahr verschieben,
wird der Zeitpunkt kommen, zu dem nach Ihrem Gesetz
auch 65- und 66-Jährige eine Frühverrentung beantragen
müssen. Das betrifft diejenigen, für die das höhere Renteneintrittsalter gilt.
Was bedeutet das? Ich will Ihnen das sagen; denn wir
sollten uns hier nichts vormachen - das müssen Sie wissen, wenn Sie das entscheiden -: Wenn ein Durchschnittsrentner, der mit 65 Jahren Anspruch auf eine
Rente in Höhe von 1 050 Euro hätte, mit 63 Jahren zur
Frühverrentung gezwungen wird, bedeutet das eine Kürzung der Rente um 7,2 Prozent. Das sind 72 Euro im
Monat und 864 Euro im Jahr.
({7})
Gehen wir einmal weiter und schauen, wie es bei einem Renteneintrittsalter von 67 Jahren aussieht. Dann
wird es um einen Abzug in Höhe von 14,4 Prozent gehen, was monatlich 144 Euro und jährlich 1 728 Euro
entspricht. Da können Sie sich nicht hier hinstellen und
sagen: Er fährt damit besser. Nein, er fährt damit
schlechter. Er sollte aber wenigstens die Entscheidungshoheit behalten.
({8})
Folgendes kommt noch hinzu - ich bitte Sie, über Ihre
Regelung vor dem Hintergrund des Grundgesetzes noch
einmal nachzudenken -: Wer darf denn mit 63 bzw.
64 Jahren etc. eine Frühverrentung beantragen? Wen
trifft das denn? Nur diejenigen, die 35 Jahre oder länger
rentenversichert waren. Das heißt, wenn jemand nur
33 Jahre, 30 Jahre oder weniger rentenversichert war,
dann darf er keine Frühverrentung beantragen, dann unterliegt er nicht der Zwangsverrentung. Wenn er aber
35 Jahre oder länger gearbeitet hat, dann wird er zu einer
Frühverrentung gezwungen, die zu einer Kürzung seiner
Rente führt. Das ist doch beim besten Willen nicht hinnehmbar.
({9})
Es ist grundgesetzwidrig - das muss ich schon sagen -,
dass Sie die Leute zur Frühverrentung zwingen und ihnen den erworbenen Rentenanspruch kürzen. Sie zwingen die Leute zur Frühverrentung und kürzen ihnen den
Rentenanspruch, den sie erworben haben. Und dann gibt
es noch die Erhöhung des Renteneintrittsalters. Es ist
erst recht grundgesetzwidrig, dass Sie nur einen Teil der
Leute zwingen, und zwar diejenigen, die mehr gearbeitet
haben. Diejenigen, die weniger gearbeitet haben, zwingen sie nicht. Lassen Sie die Zwangsverrentung einfach
bleiben! Sie ist grundgesetzwidrig, ungerecht und völlig
falsch!
({10})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Irmingard ScheweGerigk, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn in einer Familie unterschiedliche Vorstellungen
über Weihnachten und die Geschenke bestehen, entsteht
häufig ein Streit. Genau so ist es in der Großen Koalition. Die SPD wollte rechtzeitig zum Fest mit ganz besonderen Geschenken glänzen. Sie wollte zum Jahresbeginn den Arbeitslosengeld-I-Bezug für Ältere verlängern
und der Zwangsverrentung die Spitze nehmen. Jetzt hat
sie das Problem, dass der andere Teil der Familie, die
CDU/CSU, einen Teil der Geschenke überflüssig findet.
So wurden Weihnachtsgeschenke versprochen, die zum
Fest noch gar nicht vorhanden sind. Dazu kann ich nur
sagen: Das ist eine schöne Bescherung.
({0})
Die Verlierer dieses Hickhacks sind die vielen älteren
Arbeitslosen, die zu Beginn des nächsten Jahres herabgestuft werden und Arbeitslosengeld II beziehen. Mit etwas Glück beziehen sie später wieder das deutlich höhere Arbeitslosengeld I. Wie zu Jahresbeginn mit der
drohenden Zwangsverrentung umgegangen wird, darüber kann im Moment nur spekuliert werden. Eines ist
aber klar: Die Betroffenen sind verunsichert, und die in
den Jobcentern Beschäftigten werden sich eher mit den
Rückabwicklungen als mit der Arbeitsvermittlung beschäftigen. Das ist ein starkes Stück.
({1})
Ursache dieses Desasters ist die Unfähigkeit der Großen Koalition, sich rechtzeitig zu einigen. Dabei hätte sie
viel Zeit gehabt. Herr Brandner, wir haben uns vorhin
schon kurz darüber ausgetauscht und festgestellt, dass es
die Grünen waren, die schon im Mai dieses Jahres darauf
hingewiesen haben, dass es ungerecht ist, dass Langzeitarbeitslose ab dem nächsten Jahr gegen ihren Willen mit
lebenslangen Abschlägen in Rente geschickt werden.
Das muss gesagt werden.
({2})
Noch im Oktober haben Sie unseren Antrag abgelehnt. Damals hätten Sie noch genügend Zeit für ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren gehabt, Herr Brauksiepe.
Stattdessen haben Sie auf dem Rücken der Betroffenen
munter weiter gestritten.
Die heutige Entscheidung, die Zwangsverrentung erst
ab dem 63. Lebensjahr umzusetzen, ist zwar ein Teilerfolg, den die Oppositionsfraktionen gemeinsam mit den
Sozialverbänden und den Gewerkschaften durch öffentlichen Druck erreicht haben. Unterm Strich ist diese Lösung aber ein fauler Kompromiss;
({3})
hier muss ich Herrn Gysi zustimmen.
({4})
- Das ist richtig; sehr gut.
Das ursprüngliche Ansinnen, Langzeitarbeitslose zum
frühestmöglichen Zeitpunkt vorzeitig in die Rente zu
zwingen, wurde nur ein wenig abgemildert. Denn dieser
Schritt hätte Frauen und Menschen mit Behinderung besonders hart getroffen. Sie hätten bereits mit 60 Jahren
vorzeitig in Rente gehen müssen, und das mit Abschlägen in Höhe von 18 Prozent. Da die Schutzfunktion dadurch in ihr Gegenteil verkehrt worden wäre, hätten
diese beiden Gruppen mit Erfolg gegen diese eklatante
Form der Diskriminierung klagen können. Da kann ich
Ihnen nur sagen: Das AGG lässt grüßen.
({5})
Wir Grüne lehnen eine Zwangsverrentung auch ab
dem 63. Lebensjahr ab.
({6})
- Es handelt sich weiterhin um eine Zwangsverrentung,
Herr Kollege Brauksiepe.
({7})
- Schreien Sie nicht so laut.
({8})
Jetzt betragen die Abschläge zwar „nur“ 7,2 Prozent.
Wer dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht und ihm zur
Verfügung stehen will, darf aber nicht gezwungen werden, vorzeitig in Rente zu gehen.
({9})
Die gesetzliche Rentenversicherung ist im Übrigen nicht
da, um die Probleme des Arbeitsmarktes auszubaden.
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie wollen erwerbsfähige Hilfebedürftige ab dem 58. Lebensjahr unverzüglich in Arbeit oder in eine Arbeitsgelegenheit vermitteln.
({10})
Ich finde es klasse, dass Sie das machen wollen. Natürlich begrüßen auch wir es, wenn ältere Langzeitarbeitslose schnell in Arbeit vermittelt werden; das sollte eine
Selbstverständlichkeit sein. Die Vermittlung in 1-EuroJobs läuft aber auf einen Missbrauch dieses Instruments
hinaus, das eigentlich zur Eingliederung gedacht ist. Das
besonders Perfide: Mit diesem Gesetz wollen Sie auch
noch die Statistik bereinigen.
({11})
Der Presse habe ich entnommen, dass es die Kanzlerin höchstpersönlich war, die dafür sorgen wollte, dass
ältere Arbeitsuchende, wenn es keine Vermittlungserfolge gibt, schnell aus der Arbeitslosenstatistik verschwinden. Ihr geht es offensichtlich vor allem darum,
die ungelösten Probleme auf dem Arbeitsmarkt zu verschleiern, damit sie nicht mehr sichtbar sind. Die Bundeskanzlerin hat dabei wahrscheinlich die langen Phasen
der bevorstehenden Wahlkämpfe im Sinn. Sie will weiterhin als Kanzlerin der Erfolge gefeiert werden. Da ist
es natürlich nützlich, die Misserfolge unter den roten
Teppich zu kehren, auf dem sie so gerne wandelt.
({12})
Ich komme zum zweiten Punkt des Gesetzentwurfs:
der Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I für Ältere. Das hört sich zunächst sehr sozial an,
ist es aber nicht. Die Rückkehr in den ersten Arbeitsmarkt wird dadurch weiter verschleppt.
({13})
Es werden neue Anreize für eine Frühverrentungspolitik
gesetzt. Ich sage Ihnen: Wenn der wirtschaftliche Aufschwung nachlässt, werden die älteren Beschäftigten die
Ersten sein, die entlassen werden.
({14})
Der damalige Minister Müntefering hat in der letzten
Plenardebatte gelobt, dass gerade die Älteren von der
guten Konjunktur profitiert haben. Die Beschäftigungsquote Älterer konnte von 39 auf 52 Prozent erhöht werden; Herr Staatssekretär Brandner hat vorhin darauf hingewiesen. Mit den Regelungen, die Sie jetzt treffen,
gefährden Sie diese positive Entwicklung.
({15})
Sie kehren zur Politik der 90er-Jahre zurück. Sie setzen
auf das Alimentieren statt auf das Qualifizieren. Sie
überweisen lieber länger, statt die Menschen zu befähigen und sie zu vermitteln.
Woher nehmen die Koalitionäre das Geld, mit dem
länger ALG I gezahlt werden soll? Natürlich aus dem
Topf der Arbeitsförderung. Es handelt sich um 800 Millionen Euro. Dieses Geld wäre sehr viel besser angelegt,
wenn man es zur Qualifizierung und Förderung gerade
von Geringqualifizierten und Langzeitarbeitslosen verwenden würde. Ich kann Ihnen nur sagen: Gut gemeint
ist nicht gut.
({16})
Die Bundeskanzlerin nimmt es offensichtlich nicht
ernst, dass die Mehrheit der Bevölkerung unzufrieden
ist, weil der Aufschwung an ihr vorbeigeht. Die Gewinner des Aufschwungs sind der Fiskus und die Vermögenden. Einige wenige erhalten Geschenke, die von der
Mehrheit bezahlt werden müssen. Die Kanzlerin baut
wohl darauf, dass die meisten bis zur nächsten Wahl vergessen haben werden, wie sehr die Regierung ihnen in
die Tasche gegriffen hat. Für uns Grüne hat die Bekämpfung der Armut höchste Priorität. Deshalb akzeptieren
wir die Zwangsverrentung mit 63 Jahren nicht.
({17})
Strukturelle Probleme am Arbeitsmarkt müssen sichtbar
bleiben, damit sie beseitigt werden können. Die können
Sie nicht einfach verstecken.
({18})
Wir Grüne fordern Sie auf: Kehren Sie nicht zur Frühverrentungstradition zurück! Bündeln Sie die finanziellen Mittel für Qualifizierung und Vermittlung und belassen Sie den älteren Langzeitarbeitslosen ein höheres
Schonvermögen! Das ist das Gebot der Stunde.
Vielen Dank.
({19})
Nächster Redner ist nun der Kollege Gregor Amann
für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Dr. Gysi, Sie haben einen sympathischen
Vornamen, aber trotzdem ging Ihre Rede, wie so oft,
haarscharf an den Fakten vorbei. Ich will im Folgenden
auf das Thema Zwangsverrentung eingehen. Es ist gut,
dass sich die Koalition jetzt auf eine Lösung geeinigt
hat. Das Problem ist bekannt. Durch Auslaufen der 58erRegelung sind ab Januar 2008 Zehntausende von älteren
Langzeitarbeitslosen von Zwangsverrentung bedroht.
Unser Sozialgesetzbuch besagt, dass ein Empfänger von
Arbeitslosengeld II vor dem Bezug des Arbeitslosengeldes jedes andere ihm mögliche Einkommen vorrangig in
Anspruch nehmen muss, das heißt im konkreten Fall den
Bezug der Rente und dann, da vorzeitig, mit Abschlägen.
Das Nachrangigkeitsprinzips des Sozialgesetzbuchs
hat grundsätzlich seine Berechtigung; denn Solidarität
hat immer zwei Seiten.
({0})
Die SPD will es auch nicht infrage stellen. Aber wir halten es für ungerecht und unsozial, dass Menschen, die
mit Ende 50, Anfang 60 das Pech haben, arbeitslos zu
werden und keine neue Arbeit zu finden, gezwungen
werden, vorzeitig in Rente zu gehen und dann Abschläge
von bis zu 18 Prozent hinnehmen müssen, die für ihren
gesamten Lebensabend gelten; denn die Inanspruchnahme einer vorzeitigen Rente unter Hinnahme von
finanziellen Einbußen war immer als ein freiwilliges Angebot gedacht.
({1})
Deshalb gilt derzeit die sogenannte 58er-Regelung, welche die Betroffenen bisher vor einer solchen Zwangsverrentung schützt. Aber die 58er-Regelung läuft zum Ende
dieses Jahres aus, sodass ein dringender Handlungsbedarf besteht. Ich freue mich darüber, dass wir uns mit
dem Koalitionspartner endlich darauf einigen konnten,
eine sinnvolle Anschlussregelung zu schaffen. Das ist
eine gute Nachricht für alle Betroffenen, und diese ermöglicht ihnen, Weihnachten etwas unbeschwerter zu
feiern.
({2})
Bevor ich auf Details der neuen Regelung eingehe,
will ich an dieser Stelle aber auch darauf hinweisen, dass
die Schaffung von Arbeitsplätzen und das Anheben der
Erwerbstätigenquote gerade auch älterer Arbeitnehmer
natürlich die Maßnahme ist, von der die Betroffenen am
meisten profitieren, da sie sich so ihr eigenes Einkommen und entsprechende Rentenansprüche erwerben können. Zum Glück ist die Regierung auch hier sehr erfolgreich. Seit anderthalb Jahren sinkt die Zahl der
Arbeitslosen, im vergangnen Monat sank sie auf den
niedrigsten Novemberstand seit 15 Jahren. Gerade ältere
Arbeitnehmer profitieren davon. Staatssekretär Brandner
hat die Zahlen bereits genannt. Wir sind hier also auf einem guten Weg.
Aber für die, die davon noch nicht profitieren, gilt ab
dem 1. Januar 2008 die folgende Regelung: Die Arbeitsagenturen werden verpflichtet, den Betroffenen innerhalb von zwölf Monaten ein Arbeitsangebot zu machen;
denn wir sind fest davon überzeugt, dass Menschen um
die 60 keineswegs zum alten Eisen gehören und eine
Chance auf dem Arbeitsmarkt verdient haben.
({3})
Darüber hinaus stehen ihnen sämtliche Integrationsangebote der Arbeitsagenturen zur Verfügung. Bei mangelndem Vermittlungserfolg muss ihr Fallmanager alle sechs
Monate prüfen, ob nicht doch ein Förder- oder ein Arbeitsgebot gemacht werden kann. Keiner wird abgeschrieben. Sollte kein Arbeitsangebot möglich sein, dann
gelten sie, soweit sie das wünschen, als nicht mehr arbeitsuchend. Das heißt, sie müssen sich bei Ortsabwesenheit nicht mehr bei der Arbeitsagentur abmelden etc.
Erst ab dem 63. Lebensjahr können zukünftig Empfänger von Arbeitslosengeld II auf die Vorrangigkeit ihrer
Rentenansprüche verwiesen werden. Was die Rentenabschläge angeht, ist das also eine deutliche Verbesserung
gegenüber der Zwangsverrentung ab 60, die diese Betroffenen hinnehmen müssten, wenn wir nach Auslaufen
der 58er-Regelung nichts unternommen hätten.
Dabei ist der Verweis auf einen vorgezogenen Rentenbezug mit 63 Jahren dann nicht möglich, wenn eine
besondere Härte vorliegt. Das gilt beispielsweise für
Menschen, die als sogenannte Aufstocker zu ihrem Arbeitseinkommen ergänzend ALG II bekommen. Weitere
Härtefälle werden durch eine Verordnung festgelegt.
Wir haben also eine gute Regelung gefunden, die ab
dem 1. Januar 2008 gelten soll. Ärgerlich ist nur, dass
wir es nicht schaffen, diese Regelung auch vor dem
1. Januar zu verabschieden. Ich hätte mich sehr gefreut,
wenn unser Koalitionspartner etwas mehr Flexibilität gezeigt hätte.
({4})
Das Regierungskabinett hat seine Sitzung extra von
Mittwoch auf Dienstag verlegt. Wir Sozialdemokraten
wären im Interesse der Betroffenen auch zu einer Sondersitzung in der nächsten Woche bereit gewesen.
Stattdessen muss nun einigen Zehntausend Betroffenen - genau wie bei der Verlängerung der Bezugsdauer
des Arbeitslosengeldes I - nach Beschluss dieses Gesetzes im nächsten Jahr rückwirkend zu ihrem Recht verholfen werden. Welch ein bürokratischer Aufwand, den
man hätte vermeiden können!
Ich habe der Zeitung entnommen, dass Edmund
Stoiber zukünftig in Brüssel für den Bürokratieabbau zuständig ist. Vielleicht sollte er erst einmal die CDU/
CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag beraten.
({5})
Die zentrale gute Nachricht des heutigen Tages ist
und bleibt aber: Die Große Koalition hat eine sinnvolle
Anschlussregelung für die auslaufende 58er-Regelung
gefunden und bewahrt so viele Tausend ältere Arbeitslose vor der Zwangsverrentung im nächsten Jahr.
({6})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Heinrich Kolb für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die FDP begrüßt das Auslaufen der 58er-Regelung, aber
sie lehnt eine damit einhergehende Zwangsverrentung
entschieden ab.
({0})
Das Problem der Zwangsverrentung kam wirklich
nicht überraschend. Vielmehr gibt es seit dem Sommer
eine Debatte in der Öffentlichkeit über die Notwendigkeit, eine Lösung dafür zu finden. Nur die Koalition hat
diese Debatte offensichtlich aus ihren Beratungen ausgeblendet. Wenn man heute beobachtet, wie die Koalitionsfraktionen miteinander umgehen, erinnert das ein
bisschen an das Gebaren der Kesselflicker, die nicht
eben zärtlich miteinander verkehren.
({1})
Heute beginnt nun das Gesetzgebungsverfahren zur
Abwendung einer Zwangsverrentung. Dazu muss ich an
die Adresse der Großen Koalition gerichtet sagen: Es ist
schlicht und ergreifend zu spät. Bei den Betroffenen
wurden große Unsicherheit und Ängste ausgelöst, was
vermeidbar gewesen wäre.
Immerhin haben Sie jetzt nach langem Zögern erkannt, dass eine Lösung erforderlich ist. Aber, Herr
Kollege Amann, das, was Sie vorlegen, ist keine gute
Lösung. Das will ich sehr deutlich sagen. Denn Ihr Gesetzentwurf läuft im Kern darauf hinaus, dass nicht mehr
ab dem 60., sondern erst ab dem vollendeten 63. Lebensjahr eine Zwangsverrentung erfolgen soll. Vor allem
Frauen und Menschen mit Behinderungen werden damit
zwar nicht mehr so krass benachteiligt, wie das bisher
der Fall war. Aber auch bei der Zwangsverrentung ab
dem vollendeten 63. Lebensjahr bleibt es für Frauen, Behinderte und langjährig Versicherte dabei, dass sich das,
was eigentlich als Privileg gedacht war, im Falle einer
Langzeitarbeitslosigkeit gegen die eigentlich Privilegierten wendet.
Noch vor kurzem hat Kollege Schiewerling hier gesagt, das müssten wir so machen, weil der Grundsatz der
Nachrangigkeit es so gebiete. Dabei leuchtet mir eines
nicht ein: Wenn man bei der Nachrangigkeit jetzt ein
bisschen nachgeben kann und die Grenze von 60 auf
63 Jahre verschiebt, warum sind Sie dann nicht konsequent und verschieben die Grenze auf das 65. Lebensjahr? Dann wäre der Anspruch auf Grundsicherung im
Alter sozusagen als Schnittstelle gegeben.
({2})
Uns stört, dass mit Ihrem Entwurf weiterhin arbeitsmarktpolitisch unerwünschte Wirkungen verbunden
sind. Für manche in der Koalition war es offensichtlich
wirklich wichtig, dass die Arbeitslosenstatistik um die
älteren Langzeitarbeitslosen bereinigt wird. Wir haben
den Verdacht, dass dann folgt: Aus den Augen, aus dem
Sinn. Das kann man in den Dienststellen der Bundesagentur für Arbeit nachvollziehen. Wenn die Betroffenen
nicht mehr in der Statistik auftauchen, bemüht man sich
natürlich nicht mehr so intensiv um sie.
Gerade das wollen wir nicht. Wir wollen, dass auch
Ältere - auch über 58-Jährige - noch eine echte Chance
am Arbeitsmarkt haben. Das geht nur, wenn sie weiterhin aktiv vermittelt und gefördert werden. Genau das
wollen Sie offensichtlich nicht.
({3})
Die Linke hat, wie man feststellen muss, wenn man
sich die Historie anschaut, ziemlich herumgeeiert: Erst
haben Sie den Antrag gestellt, die 58er-Regelung zu verlängern, Herr Gysi. Dann haben Sie einen Vorschlag vorgelegt, der sich mehr oder weniger in Problembeschreibung und einem Appell an die Koalition erschöpft hat.
Heute sind Sie wieder etwas konkreter; doch auch das ist
aus unserer Sicht nicht ausreichend. Mit Ihrem Vorschlag, Herr Kollege Gysi, lassen Sie den Menschen nur
die Wahl zwischen einer Frühverrentung mit engen Zuverdienstgrenzen und dem Bezug von Arbeitslosengeld
mit hoher Anrechnung des Zuverdienstes. Auch das
führt im Ergebnis dazu, dass ältere Arbeitnehmer vom
Arbeitsmarkt ferngehalten werden. Wir werden Ihrer
Vorlage daher nicht zustimmen, obwohl wir eine
Zwangsverrentung genauso wie Sie verhindern wollen.
({4})
Die FDP-Fraktion hat schon Anfang November mit
dem Antrag „Arbeit statt Frühverrentung fördern“,
Bundestagsdrucksache 16/7003, dargelegt, wie wir uns
die Lösung vorstellen, nämlich mit einem flexiblen Renteneintritt bei Wegfall aller Zuverdienstgrenzen. Es soll
keinen Zwang geben, in die Rente zu gehen, auch nicht
für Arbeitsuchende. Vielmehr sollen auch Arbeitsuchende im höheren Alter bei der Arbeitsuche unterstützt
werden. Das ist ein moderner Vorschlag. Ich empfehle,
unsere Vorschläge zu lesen und ihnen zuzustimmen; Sie
werden ja gleich die Möglichkeit dazu haben. Auf jeden
Fall muss das Problem der Zwangsverrentung gelöst
werden; daran kann kein Zweifel bestehen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Nächster Redner ist nun der Kollege Stefan Müller für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bundesagentur für Arbeit hat im Oktober eine ermutigende Untersuchung vorgestellt. Bei dieser Untersuchung ging es um die Chancen, die Menschen ab 50 auf
dem Arbeitsmarkt haben. Das Ergebnis, zu dem man im
Rahmen dieser Untersuchung gekommen ist, ist erfreulich und ermutigend: Zwei Drittel des Beschäftigungsaufwuchses, den wir in den letzten Jahren zu verzeichnen hatten, sind auf ehemalige Arbeitslose, also neue
Arbeitnehmer ab 50 zurückzuführen.
({0})
- Ich möchte das auch deswegen erwähnen, Herr Kollege Schneider, weil wir gemeinsam dem entgegentreten
müssen, dass der Eindruck entsteht, Menschen ab 50 hätten in unserer Arbeitswelt keine Chance mehr. Wir müssen klar und deutlich sagen: Das Gegenteil ist richtig.
Natürlich haben Menschen ab 50 eine Chance auf dem
Arbeitsmarkt, sie werden gebraucht. Deswegen müssen
wir allen Arbeitsuchenden ab 50 Mut machen, sich auf
infrage kommende Stellen zu bewerben.
({1})
Sie müssen sich weiter um Arbeit bemühen, sie dürfen
nicht glauben, zu alt zu sein.
Die Wirtschaft kann auf erfahrene Arbeitnehmer nicht
verzichten. Es ist doch fragwürdig, wenn einerseits der
Fachkräftemangel in unserem Land beklagt wird, aber
gleichzeitig der Eindruck erweckt wird, dass Menschen
über 50 zum alten Eisen gehörten, nicht mehr gebraucht
würden. Deswegen ist an vorderster Stelle die Wirtschaft
gefragt, sind die Unternehmen gefragt, Arbeitslosen über
50 eine Chance zu geben.
({2})
Die Große Koalition hat mit der Initiative „50 plus“
einen Beitrag dazu geleistet, dass Ältere, dass erfahrene
Arbeitnehmer wieder eine Chance am Arbeitsmarkt haben, auch dadurch, dass sie besser vermittelt werden. Es
muss für uns gelten, dass niemand in Deutschland, der
Arbeit sucht, aber das gesetzliche Renteneintrittsalter
noch nicht erreicht hat, „zu alt“ für den Arbeitsmarkt ist.
Deswegen ist es wichtig, an dieser Stelle herauszustellen, dass es nicht isoliert um die Verlängerung der
ALG-I-Bezugsdauer geht. Es geht um viel mehr. Deswegen gibt es neben der Verlängerung der ALG-I-Bezugsdauer einen Eingliederungsgutschein, der gekoppelt ist
an ein konkretes Arbeitsangebot, mit dem Auftrag, sich
um die Einlösung des Gutscheins selbst zu bemühen.
Ein Weiteres. Es geht bei der Verlängerung der
ALG-I-Bezugsdauer nicht darum, dass Ältere zu Hause
bleiben sollten, dass sie sich von sich aus nicht mehr um
Arbeit bemühen sollten. Es geht auch nicht darum, die
Überschüsse der Bundesagentur leichtfertig zu verteilen;
dieser Vorwurf ist uns ja gemacht worden. Es geht bei
der Verlängerung der Dauer des Bezugs von
Arbeitslosengeld I schlicht und ergreifend um Leistungsgerechtigkeit.
({3})
Es ist nicht erklärbar, warum jemand, der 20 Monate
lang Beiträge zur Arbeitslosenversicherung entrichtet
hat, jemandem gleichgestellt wird, der 20 Jahre in die
Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat. Deswegen sage
ich: Es geht hier um Leistungsgerechtigkeit, damit langjährige Beitragszahler den anderen nicht gleichgestellt
werden.
({4})
Das betrifft natürlich vor allem Arbeitslose über
50 Jahre, die vor ihrer Arbeitslosigkeit vielfach lange
Jahre gearbeitet und Beiträge gezahlt haben. Genau diesem Umstand tragen wir mit dem heute vorliegenden
Gesetzentwurf Rechnung. Es ist deswegen auch gerechtfertigt, dass wir diese Maßnahme vornehmen.
Ich will dazu auch sagen, dass wir das nicht einfach
nur auf Kosten der Beitragzahler finanzieren. Ich will
nur daran erinnern: Zum gleichen Zeitpunkt, an dem die
Verlängerung der ALG-I-Bezugsdauer rückwirkend zum
1. Januar 2008 in Kraft tritt, werden auch die Beiträge
zur Arbeitslosenversicherung ein weiteres Mal abgesenkt, sodass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
in diesem Lande noch einmal entlastet werden. Auch das
ist ein großer Erfolg und muss im Zusammenhang gesehen werden.
({5})
Ich sage noch einmal: Es geht um Leistungsgerechtigkeit und um die Frage, wie wir Lebensleistungen entsprechend honorieren können. Deswegen ist diese Verlängerung der ALG-I-Bezugsdauer eben kein Almosen,
sondern es geht hier um unsere soziale Verantwortung
denen gegenüber, die lange Jahre Beiträge in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben.
Deshalb gibt es einen Prüfauftrag. Ich finde, die einzig richtige Bemessungsgrundlage dafür, wer künftig
längere Bezugszeiten in Anspruch nehmen kann, ist
nicht das Alter, sondern muss die Dauer sein, über die
Beiträge eingezahlt wurden. Wir werden prüfen, ob die
Bundesagentur für Arbeit in der Lage ist, Beitragskonten
einzuführen, um genau dem Rechnung zu tragen, sodass
die Zahl der Beitragsjahre als künftige Bemessungsgrundlage herangezogen werden kann.
Die Kollegen von der FDP machen hier ja ständig
ordnungspolitische Bedenken geltend.
({6})
- Man kann ja dieser Auffassung sein, ich teile sie aber
nicht. Selbst dann, wenn es ordnungspolitisch bedenklich wäre: Ich halte es für sozialpolitisch gerechtfertigt.
Genau deswegen werden wir das im Januar auch beschließen.
({7})
Das Ziel ist ja nicht einfach nur, die Menschen länger
in der Arbeitslosigkeit zu belassen, sondern das Ziel ist,
Stefan Müller ({8})
dass möglichst viele auch möglichst schnell wieder in
Beschäftigung kommen. Dazu sind alle Anstrengungen
erforderlich. Die Erwartung an die Bundesagentur für
Arbeit ist selbstverständlich, dass sie sich trotz verlängerter ALG-I-Bezugsdauer ab dem ersten Tage auch darum bemüht, dass ein neuer Arbeitsloser tatsächlich
schnell wieder eine Beschäftigung erhält.
Ich begrüße deshalb das, was das Vorstandmitglied
der Bundesagentur für Arbeit Heinrich Alt heute in der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung gesagt hat:
Egal, wie lange ein Leistungsanspruch besteht: Wir
haben vom ersten Tag an einen klaren Vermittlungsauftrag, und dem gehen wir nach.
Er hat recht und wird dort auch unsere Unterstützung haben.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, abschließend noch
ein Wort zu dem Verfahren. Ich muss mich schon wundern, dass von den Oppositionsfraktionen jetzt beklagt
wird, wir hätten das alles noch in diesem Jahr durchziehen und in dieser Woche beschließen müssen.
({10})
Was für einen Tanz hätten Sie alle hier veranstaltet,
wenn wir das in einem Schnellverfahren innerhalb von
einer Woche gemacht hätten? Das sollten Sie sich einmal
überlegen. Es ist unredlich, wie Sie sich hier in diesem
Zusammenhang aufführen.
({11})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika KrügerLeißner für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich denke, wir können uns freuen, dass wir heute die
erste Lesung eines Gesetzentwurfes haben, für den Kurt
Beck mit seinem Antrag „Reformen für ein soziales
Deutschland“ auf unserem Parteitag den Grundstein gelegt hat. Ich sage das ganz bewusst, weil ich der Legendenbildung von Herrn Brauksiepe ein wenig entgegentreten will. Zum Glück ist der Vorschlag von Herrn
Rüttgers nicht die Grundlage für unseren Antrag.
({0})
Ich danke ganz besonders Franz Müntefering und
Peter Struck, aber auch Olaf Scholz, die dieses Vorhaben, das ja eigentlich erst vor sieben Wochen beschlossen wurde, hier so schnell umgesetzt haben.
Ja, wir sind uns in der Sache einig geworden. Das
finde ich auch gut so. Leider gilt das nicht für das Verfahren. Das ist sehr schlecht. Dazu sage ich später aber
noch etwas mehr.
Zunächst die guten Nachrichten: Erstens. Ältere Menschen werden künftig länger Arbeitslosengeld I beziehen. Zweitens. Niemand wird dadurch schlechter gestellt
werden - schon gar nicht die Jüngeren. Herr Brauksiepe,
das war uns ganz besonders wichtig.
({1})
Wir haben gemeinsam einen konstruktiven Kompromiss gefunden und eine längere Bezugsdauer verabredet:
15 Monate für die über 50-Jährigen, 18 Monate für die
über 55-Jährigen und 24 Monate für die über 58-Jährigen.
Ich finde, dass es eine gute Lösung ist, auch weil wir
sie mit zusätzlichen Anstrengungen bei der Aktivierung
älterer Arbeitnehmer gekoppelt haben. Es wird den Eingliederungsgutschein geben, der entweder an ein konkretes Arbeitsangebot oder an einen Auftrag, diesen bei
Dritten einzulösen, gebunden ist. Dazu kommen die Programme, die wir für Ältere haben. Diese werden wir
fortsetzen: die Initiative „50 plus“, die Jobperspektive
und den Kommunal-Kombi. Sie werden helfen, das Ziel
zu erreichen, ältere Menschen wieder in Arbeit zu bringen und nicht bloß länger Sozialleistungen zu zahlen.
Für mich haben diese Entscheidungen zwei wichtige
Gründe.
Erstens schauen wir gemeinsam auf Reformjahre zurück, die die Weichen gestellt haben, die Arbeitslosigkeit
in Deutschland abzubauen, und die letztendlich den wirtschaftlichen Aufschwung ermöglicht haben. Der Sachverständigenrat schreibt in seinem aktuellen Gutachten:
Die Politik hat mit zum Teil sehr weitreichenden
Reformen auf den Feldern der Besteuerung, des Arbeitsmarkts und der Sozialen Sicherung zum wirtschaftlichen Comeback Deutschlands beitragen, …
Das geht auf die Reformagenda 2010 zurück.
({2})
Wir sind vom einst kranken Mann Europas zu einem
starken Mann Europas geworden. Das können wir an
den Arbeitsmarktzahlen, die sich wesentlich verbessert
haben und auf die wir stolz sein können, sehr deutlich
ablesen. Wir haben seit 15 Jahren den niedrigsten Stand
der Arbeitslosigkeit; gegenüber 2005 sind es 1,15 Millionen Arbeitslose weniger.
({3})
Auch die Beschäftigungsquote der Älteren hat sich wesentlich verbessert: von 37,7 Prozent in 1998 auf heute
52 Prozent. Das ist uns aber nicht genug. Wir wollen,
dass mehr Menschen in Arbeit kommen, dass sich auch
für Ältere mehr Chancen eröffnen und weniger in die
Frühverrentung gehen.
({4})
Zum zweiten Grund, warum diese Entscheidung so
wichtig ist. Einige Entwicklungen waren für uns nicht
ganz überschaubar. Wir haben erkannt, dass wir sie verändern müssen. Darüber sind wir uns einig geworden, so
zum Beispiel bei der Regelung für ältere Arbeitnehmer.
Wir haben gesehen, dass es trotz aller wirtschaftlichen
Erfolge immer noch für einen über 50-Jährigen sehr
schwer ist, innerhalb eines Jahres einen Arbeitsplatz zu
finden. Auch unsere Erwartungen, dass Ältere durch
Weiterbildung und Qualifizierung länger im Unternehmen bleiben können, haben sich noch nicht erfüllt.
({5})
Für diese Menschen, die nach einem schon langen Arbeitsleben weiß Gott nicht in der Hängematte liegen
wollen, brauchen wir mehr Gerechtigkeit und mehr soziale Sicherheit. Wir brauchen längere und verlässliche
Übergänge. Schließlich sind die Hartz-Reformen „keine
in Stein gemeißelten Gesetzestafeln“, wie eine große
Berliner Tageszeitung ganz richtig schrieb. Rasante gesellschaftliche Entwicklungen zwingen Politiker, Dinge
immer wieder neu zu durchdenken und zu prüfen, ob die
gewünschten Entwicklungseffekte eingetreten sind;
wenn sie nicht eingetreten sind, müssen Veränderungen
herbeigeführt werden.
So wie wir denken 80 Prozent der Menschen in
Deutschland. Die Verlängerung der Bezugsdauer des
Arbeitslosengeldes I ist ein klares politisches Signal.
Leider gelingt uns diese Klarheit bei der Umsetzung
nicht. Wenn es nach uns gegangen wäre, hätten wir das
Vorhaben schon in dieser Woche abschließen können.
Wir wären auch zu einer Sondersitzung bereit gewesen.
Leider hat die Union da nicht mitgezogen. Wir sind für
dieses Kuddelmuddel also nicht verantwortlich.
Ich begrüße außerordentlich, dass unser Arbeitsminister Olaf Scholz nun alle Anstrengungen unternimmt, um
hierbei zu einer praktikablen Handhabung zu kommen.
Lieber Olaf, es muss uns gelingen, dass am 1. Januar
kein Chaos ausbricht.
Wir werden im Januar weiter beraten. Unser Ziel ist,
dass das Gesetz rückwirkend zum 1. Januar in Kraft treten kann. Ich hoffe, dass wir gemeinsam den 30 000 bis
40 000 betroffenen Bürgern die Gewissheit geben können, dass wir uns Anfang des nächsten Jahres dafür einsetzen werden. Ich denke, dann können wir ruhigen Gewissens in die Weihnachtspause gehen.
Danke.
({6})
Ich bitte noch um ein bisschen Aufmerksamkeit für
den letzten Redner in dieser Debatte, den Kollegen
Gerald Weiß von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will in dieser Vorbrandung
der namentlichen Abstimmung ein kurzes Resümee versuchen und stelle für die Union fest: Die Große Koalition korrigiert, was korrekturbedürftig ist - das haben
die CDU/CSU seit Jahr und Tag und die SPD seit ihrem
Hamburger Parteitag vor einigen Wochen gefordert, und
es ist von 82 Prozent der deutschen Bevölkerung
gewollt, weil sie es für gerechter halten -: Die Arbeitnehmer, die viele Jahrzehnte lang gearbeitet und Sozialversicherungsbeiträge gezahlt haben, werden beim Arbeitslosengeld besser gestellt als solche, die nur wenige
Wochen gearbeitet haben.
({0})
Das ist gerechter bzw. - der Kollege Müller hat recht leistungsgerechter als bisher. Wesentlich Ungleiches
muss ungleich behandelt werden. Gleichbehandlung
wäre hier ungerecht. Je länger die Beitragszahlung, desto
länger der Leistungsempfang: Dies empfinden die Menschen als leistungsgerecht. Dem tragen wir heute Rechnung.
({1})
Die Arbeitslosenversicherung ist zwar in erster Linie,
aber nicht nur eine Risikoversicherung. Wenn sie eine
reine Risikoversicherung wäre, dann müsste sie Leistungen ab dem ersten Beitragstag gewähren. Das ist aus
wohlerwogenen Gründen nicht der Fall. Wenn bei längerer Beitragszahlung und höherem Lebensalter länger
Leistungen gewährt werden, dann trägt das dem Umstand Rechnung, dass ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - auch wenn sich die Lage am Arbeitsmarkt
erfreulich gebessert hat, die Volkswirtschaft floriert und
wir mitten im Aufschwung sind - in aller Regel länger
nach einer neuen Stelle suchen müssen, wenn sie ihre
Stelle verloren haben. Insoweit ist das auch in diesem
Sinne gerecht. Wir wirken damit der Unsicherheit und
der Angst entgegen. Beides ist Gift für den volkswirtschaftlichen Aufschwung.
Wir investieren in die Sicherheit und den Aufschwung, wenn wir an diesem strategischen Freitag die
Entscheidungen auf den beiden Feldern so treffen, wie
wir es in der Koalition vereinbart haben.
({2})
Frau Schewe-Gerigk, wir kehren nicht zu der Übersteuerung und den Fehlanreizen zurück. Die alte Frühverrentungspraxis ist und bleibt passé.
({3})
Sie als Fachfrau wissen das besser, Frau Schewe-Gerigk.
Sie ist schon deshalb passé, weil wir das Renteneintrittsalter bei Arbeitslosen stufenweise auf das 63. Lebensjahr
anheben. Damit ist ein wesentlicher Frühverrentungsanreiz passé und damit auch die alte Praxis.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Volker Schneider?
({0})
Ich höre deutlich, dass dies nicht gewünscht wird.
Dann fahre ich lieber fort.
Gerald Weiß ({0})
({1})
Eine höhere Erwerbsbeteiligung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist und bleibt - die Kolleginnen und Kollegen der Koalition haben es bereits ausgeführt - das zentrale Ziel. Auf diesem Weg sind wir als
Koalition schon ein ganzes Stück vorangekommen.
({2})
Auch der zweite Teil des Entscheidungspaketes, nämlich der Kompromiss bei der sogenannten 58er-Regelung, hat, finde ich, zu einer guten Lösung geführt. Natürlich war es eine Gratwanderung. Es geht ja um eine
Entscheidung in einem magischen Fünfeck: Solidarität,
Subsidiarität, Nachrangigkeit der Bedürftigkeitsleistung
ALG II, Vertrauensschutz, Eigenverantwortung. Ich meine,
dass wir mit der Entscheidung, erst ab dem 63. Lebensjahr - das ist ja der Kern der Entscheidung - auf die Vorrangigkeit der Rentenansprüche zu verweisen, eine weiterführende Entscheidung in der Mitte des Problems
getroffen haben.
({3})
Dies wird auch dem Vertrauensschutz gerecht. Auch hier
ist das zentrale Anliegen und das vorrangige Ziel die
Eingliederung der Lebensälteren. Das ist überhaupt das
Vorrangigste vor allen subsidiären Leistungen, die wir
anbieten können: die Hilfe beim Brückenbau für die Vermittlung in Arbeit. Diese Hilfe muss auch die Lebensälteren erreichen.
({4})
In diesem Sinne ist dieser strategische Freitag der Sozialpolitik ein glücklicher Tag. Ich finde, wir haben gute
Entscheidungen vorbereitet und getroffen.
Vielen Dank.
({5})
Bevor wir zu den Abstimmungen kommen, erteile ich
das Wort zu einer Kurzintervention dem Kollegen
Schneider.
({0})
Da müssen Sie jetzt durch; denn schließlich sollten
Sie die Beschlüsse, die Sie fassen, wenigstens korrekt
darstellen. Eine Zwischenfrage durfte ich ja nicht stellen.
Sie haben zum Schluss gesagt, dass Ihre abgewandelte
58er-Regelung ein Beitrag zur Integration sei. Das verschlägt mir schier die Sprache. Ich möchte Ihnen einmal
vorlesen, was Sie hier beschlossen haben, nur damit das
klar ist:
Erwerbsfähige Hilfebedürftige, die nach Vollendung des 58. Lebensjahres mindestens für die
Dauer von zwölf Monaten Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende bezogen haben, ohne
dass ihnen eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung angeboten worden ist, gelten nach Ablauf dieses Zeitraums für die Dauer des jeweiligen
Leistungsbezugs nicht als arbeitslos.
Das ist wirklich der Gipfel dessen, was man beschließen kann; denn Sie nehmen den Leuten die positiven
Seiten, die sie vorher von der 58er-Regelung gehabt haben, erklären sie aber trotzdem als nicht arbeitslos, damit
Sie sie wenigstens aus der Statistik heraushaben. Das ist
Ihre Form der Integrationsbemühungen.
({0})
Herr Kollege Weiß, bitte.
Herr Schneider, ich habe die hoffentlich begründete
Hoffnung, dass auch Sie es noch verstehen. Das vorrangige Ziel der Koalition ist die Integration der Lebensälteren in Arbeit. Dem muss jede Initiative und jede Anstrengung gelten. Wenn das nicht gelingt, dann helfen
wir mit Transferleistungen. Wenn ein Versicherungsanspruch mit vertretbaren Abschlägen ab dem 63. Lebensjahr besteht, dann verweisen wir darauf, den Lebensunterhalt eigenverantwortlich zu bestreiten. Ich halte das
für einen vernünftigen Kompromiss in einem Mix der
Sozialpolitik und in großer Verantwortung für die Menschen. Ich hoffe, Sie verstehen es noch.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Im Rahmen des Tagesordnungspunktes 32 a sowie der
Zusatzpunkte 9 und 10 wird interfraktionell Überweisung
der Vorlagen auf den Drucksachen 16/7460, 16/7459 und
16/7003 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Druck-
sache 16/7003 zu Zusatzpunkt 10 soll jedoch nicht an
den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung überwiesen werden. Sind Sie damit einver-
standen? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisun-
gen so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Tagesord-
nungspunkt 32 b und damit zur Abstimmung über die
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und
Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Rentenabschläge für Langzeiterwerbslose verhin-
dern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 16/7200, den Antrag der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 16/6933 abzulehnen. Die
Fraktion Die Linke verlangt namentliche Abstimmung.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, ihre
Plätze einzunehmen. Sind die Plätze an den Urnen be-
setzt? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann eröffne ich die
Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? - Es sieht so aus, als
hätten alle ihre Stimme abgegeben. Dann schließe ich
die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen spä-
ter bekannt gegeben.
Wir setzen die Beratungen über die weiteren Tages-
ordnungspunkte fort.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 c sowie
den Zusatzpunkt 11 auf:
33 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung ({0})
- Drucksachen 16/7439, 16/7486 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Elisabeth Scharfenberg, Nicole Maisch, Birgitt
Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Finanzielle Nachhaltigkeit und Stärkung der
Verbraucher - Für eine konsequent nutzerorientierte Pflegeversicherung
- Drucksache 16/7136 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für eine humane und solidarische Pflegeabsicherung
- Drucksache 16/7472 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({3})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz
Lanfermann, Daniel Bahr ({4}), Dr. Konrad
Schily, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Für eine zukunftsfest und generationengerecht
finanzierte, die Selbstbestimmung stärkende,
transparente und unbürokratische Pflege
- Drucksache 16/7491 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({5})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren.
Ich bitte, die Gespräche, die geführt werden, außerhalb des Saales fortzusetzen, damit wir den Ausführungen der Redner folgen können. - Ich bedanke mich.
Ich erteile Frau Bundesministerin Ulla Schmidt als
erster Rednerin das Wort für die Bundesregierung.
({6})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Pflege braucht Vertrauen, gute Leistung, gute Qualität,
Verstehen und Zuwendung. Menschen auf der Suche
nach Betreuung und Pflege für ihre Angehörigen benötigen vielfältige Unterstützung. Das Gesetz zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung, welches
die Bundesregierung Ihnen heute vorlegt, bietet viele zusätzliche Hilfen und einen leichteren Zugang. Besonders
wichtig ist mir, dass die häusliche Pflege durch mehr
Pflegegeld und höhere ambulante Sachleistungen gestärkt wird, damit mehr pflegebedürftige Menschen ihren Wunsch erfüllen können, daheim - in ihrer vertrauten Umgebung, wo sie am liebsten sind - von
Angehörigen gepflegt zu werden.
Wir sorgen mit diesem Gesetz für dringend notwendige Verbesserungen für demenziell Erkrankte, geistig
Behinderte und psychisch Kranke. Sie sollen zukünftig
bis zu 2 400 Euro an Zuschüssen erhalten. Das gilt auch
für Menschen, die noch nicht pflegebedürftig sind, aber
ein zusätzliches Maß an Betreuung benötigen.
({0})
Wir sorgen für mehr Transparenz bei der Qualität der
Pflege. Künftig müssen alle Prüfberichte in allgemein
verständlicher Form veröffentlicht werden. Die Menschen müssen sich darüber informieren können, wo gute
und sehr gute Heime und ambulante Dienste zu finden
sind und wo es weniger gute Heime und ambulante
Dienste gibt, die man am besten meidet. Schon allein das
wird helfen, die immer noch verbreiteten Missstände in
der stationären, aber auch in der ambulanten Pflege zu
verringern. Ich glaube, dass Öffentlichkeit und Transparenz das beste Mittel sind, um wirklich in einen Wettbewerb um gute Qualität einsteigen zu können. Die Menschen müssen das Wahlrecht haben; sie sollen aufgrund
guter Kriterien selber entscheiden.
({1})
Nach diesem Gesetzentwurf haben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer den Anspruch, für sechs Monate
aus ihrem Beruf auszusteigen, um einen Angehörigen
selbst zu pflegen oder um seine Pflege zu organisieren.
Die Rückkehr zu ihrem Arbeitsplatz bleibt garantiert,
ebenso die volle soziale Absicherung in dieser Zeit.
Wir alle wissen, dass Pflegefälle manchmal unerwartet und akut auftreten können. Menschen benötigen dann
sehr kurzfristig einen Freiraum, um sich beraten zu lassen, das Notwendige zu organisieren oder sich zu informieren: Kann ich zu Hause pflegen oder muss ich eine
stationäre Pflege in Anspruch nehmen? Unser Gesetzentwurf sieht vor, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beim Eintreten eines Pflegefalls in einer besonderen Notsituation für zehn Tage von der Arbeit
freigestellt werden können, damit sie die notwendige
Zeit haben, zu organisieren.
({2})
Ich würde mich freuen, wenn wir mit der Sorge von
Menschen um ihre pflegebedürftigen Angehörigen genauso umgingen, wie wir es mit der Sorge von Eltern um
ihre erkrankten Kinder tun: Die Eltern erkrankter Kinder
haben den Anspruch, zehn Tage lang Krankengeld zu
beziehen.
({3})
Leider gibt es für eine Gleichbehandlung dieser beiden
Notsituationen derzeit noch keine Mehrheit; aber der
erste Schritt ist getan.
Viele Angehörige beklagen, dass weniger die eigentliche Pflege als vielmehr die Vorbereitung und die Organisation rund um die Pflege die größten Belastungen darstellen. Angehörige laufen von Pontius zu Pilatus. Sie
gehen wie mit einem Laufzettel in der Hand von Amt zu
Amt, zu vielen Einrichtungen und zum Arzt, um Pflege
zu organisieren. Was liegt da eigentlich näher, als einen
zentralen Ansprechpartner zu schaffen?
({4})
Dafür hat die Bundesregierung in ihrem Konzept Pflegestützpunkte mit Pflegeberatern vorgesehen, die nicht nur
beraten, sondern das gesamte Leistungsgeschehen für
die Pflegebedürftigen koordinieren und über die Leistungen der Kranken- und Pflegeversicherung entscheiden
können. Dadurch wird mehr Hilfe organisiert. Dies ist
ein Angebot, auf das ein Rechtsanspruch besteht. Ein
Pflegebedürftiger und seine Angehörigen können es in
Anspruch nehmen. Wer das nicht will, muss es nicht. Es
gibt hier keinen Zwang.
({5})
Die Pflegestützpunkte sollen quartiersnah sein, und
sie sollen als Marke für die gesamte Pflege etabliert werden. An einem Ort zusammengefasst soll angeboten
werden: Beratung und Entscheidung bezüglich Pflegefragen, Leistungen der Altenhilfe, der Behindertenhilfe
und der Grundsicherung, Einbindung des Ehrenamts und
Informationen über alle Angebote rund um die Pflege.
So etwas gibt es schon heute. In Berlin bestehen geriatrische Koordinationsstellen, in Rheinland-Pfalz gibt
es Beratungs- und Koordinierungsstellen, in BadenWürttemberg Informations-, Anlauf- und Vermittlungsstellen. Ob jemand wohnortnah ein Angebot hat, darf
aber nicht davon abhängen, wo er wohnt. Wenn wir die
Pflege weiterentwickeln, muss unsere Aufgabe sein, dafür zu sorgen: Egal wo jemand wohnt, er muss wohnortnah, im Quartier, eine solche Anlaufstelle haben. Den
Menschen, die Pflege organisieren, müssen wir die Arbeit erleichtern; die Pflege an sich ist schwer genug.
({6})
Ich bin sehr froh darüber, dass alle diese guten Ansätze auch vom Bundesrat so gesehen werden. Diese Ansätze zu Anlaufstellen im Quartier, zu Pflegestützpunkten weiterzuentwickeln und dafür zu sorgen, dass
Leistungen unter einem Dach und aus einer Hand angeboten werden, ist ein wichtiger Schritt voran.
Ich bin sicher, dass wir mit der Einbeziehung der
Kommunen hier endlich etwas schaffen, was das Leben
derer, die pflegen, erleichtert. Wir werden dafür sorgen,
dass alle an einem Strang ziehen, dass Vorhandenes genutzt wird und dass Doppelstrukturen vermieden werden.
({7})
Erstmals in der Geschichte der Pflegeversicherung
werden die Leistungen in drei Schritten angehoben. Ab
2015 werden die Leistungen in regelmäßigen Abständen
an die Preisentwicklung angepasst, um eine Entwertung
der Beträge zu vermeiden.
({8})
Aber ich sage hier ganz deutlich: Mehr noch als bisher
brauchen wir eine breite gesellschaftliche Debatte darüber, was uns die Pflege eigentlich wert ist. Notwendig
ist ein Konsens darüber, wie wir sie organisieren und finanzieren.
Für das, was wir jetzt auf den Weg bringen, werden
wir - darüber sind wir uns einig - den Beitragssatz zur
Pflegeversicherung um 0,25 Prozentpunkte anheben.
Wir wissen, dass dies nur bis 2014/15 ausreicht und dass
wir in der nächsten Legislaturperiode erneut über die
Frage der langfristigen Finanzierung diskutieren müssen. Jetzt ist es wichtig, das vorliegende Gesetz auf den
Weg zu bringen. Wir brauchen die Strukturveränderungen.
Ich will an dieser Stelle abschließend sagen: Wir sollten vorsichtig sein. Es gibt keinen Anlass, den Katastrophenprognosen mancher interessengeleiteter Professoren
zu glauben,
({9})
die immer wieder neue Zahlen - auch absurde Zahlen in die Welt setzen.
({10})
In ihrem jüngsten Gutachten rechnen die Wirtschaftsweisen auf der Basis unserer heutigen Reform für das
Jahr 2050 mit einem Beitragssatz von 2,5 bis 3,2 Prozent. Ehe hier nun einige voreilig kritisieren, frage ich:
Wäre das in einer Gesellschaft mit immer mehr Hochbetagten, in der viele Menschen über 80 Jahre alt sind, zu
viel und unerschwinglich? - Wir haben Zeit und Ruhe,
zu debattieren.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Bevor ich nun dem nächsten Redner das Wort gebe,
komme ich zurück zum Tagesordnungspunkt 32 b und
gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Rentenabschläge für Langzeiterwerbslose verhindern“ bekannt: Abgegebene Stimmen 521. Mit Ja haben gestimmt 428, mit Nein haben
gestimmt 93, Enthaltungen keine. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 521;
davon
ja: 428
nein: 93
enthalten: 0
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Albach
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Clemens Binninger
Renate Blank
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({1})
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Cajus Caesar
Leo Dautzenberg
Alexander Dobrindt
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Dr. Stephan Eisel
Anke Eymer ({2})
Ilse Falk
Enak Ferlemann
Hartwig Fischer ({3})
Dirk Fischer ({4})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({5})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Jürgen Gehb
Eberhard Gienger
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Gerda Hasselfeldt
Ursula Heinen
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Dr. Peter Jahr
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Dr. Franz Josef Jung
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({6})
Eckart von Klaeden
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Jens Koeppen
Kristina Köhler ({7})
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Stephan Mayer ({8})
Dr. Michael Meister
Laurenz Meyer ({9})
Philipp Mißfelder
Dr. Gerd Müller
Hildegard Müller
Carsten Müller
({10})
Stefan Müller ({11})
Bernward Müller ({12})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Katherina Reiche ({13})
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Johannes Röring
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht ({14})
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({15})
Hartmut Schauerte
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({16})
Andreas Schmidt ({17})
Ingo Schmitt ({18})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Kurt Segner
Marion Seib
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Thomas Strobl ({19})
Michael Stübgen
Hans Peter Thul
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß ({20})
Gerald Weiß ({21})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Annette Widmann-Mauz
Elisabeth WinkelmeierBecker
Willi Zylajew
SPD
Dr. Lale Akgün
Gerd Andres
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Rainer Arnold
Ernst Bahr ({22})
Doris Barnett
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Petra Bierwirth
Lothar Binding ({23})
Volker Blumentritt
Kurt Bodewig
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({24})
Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Karl Diller
Martin Dörmann
Dr. Carl-Christian Dressel
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Petra Ernstberger
Annette Faße
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({25})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
({26})
Nina Hauer
Hubertus Heil
Dr. Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Petra Hinz ({27})
Gerd Höfer
Iris Hoffmann ({28})
Frank Hofmann ({29})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Johannes Jung ({30})
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Ulrich Kelber
Christian Kleiminger
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Walter Kolbow
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Jürgen Kucharczyk
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange ({31})
Dr. Karl Lauterbach
Waltraud Lehn
Helga Lopez
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Caren Marks
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Petra Merkel ({32})
Ulrike Merten
Dr. Matthias Miersch
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller ({33})
Michael Müller ({34})
Gesine Multhaupt
Dr. Rolf Mützenich
Thomas Oppermann
Heinz Paula
Johannes Pflug
Christoph Pries
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Steffen Reiche ({35})
Maik Reichel
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel RiemannHanewinckel
Walter Riester
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({36})
Michael Roth ({37})
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
({38})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({39})
Dr. Hermann Scheer
Marianne Schieder
Otto Schily
Dr. Frank Schmidt
Ulla Schmidt ({40})
Silvia Schmidt ({41})
Renate Schmidt ({42})
Heinz Schmitt ({43})
Carsten Schneider ({44})
Ottmar Schreiner
Reinhard Schultz
({45})
Swen Schulz ({46})
Ewald Schurer
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Dieter Steinecke
Andreas Steppuhn
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Joachim Stünker
Dr. Rainer Tabillion
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Jörn Thießen
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
({47})
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Dr. Dieter Wiefelspütz
Engelbert Wistuba
Dr. Wolfgang Wodarg
Waltraud Wolff
({48})
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Dr. Karl Addicks
Christian Ahrendt
Daniel Bahr ({49})
Uwe Barth
Angelika Brunkhorst
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({50})
Joachim Günther ({51})
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Hellmut Königshaus
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Frank Schäffler
Dr. Konrad Schily
Marina Schuster
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Rainer Stinner
Christoph Waitz
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({52})
Martin Zeil
Nein
DIE LINKE
Hüseyin-Kenan Aydin
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Diana Golze
Heike Hänsel
Lutz Heilmann
Hans-Kurt Hill
Cornelia Hirsch
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Dr. Hakki Keskin
Katja Kipping
Jan Korte
Katrin Kunert
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Kornelia Möller
Kersten Naumann
Wolfgang Nešković
Dr. Norman Paech
Bodo Ramelow
Elke Reinke
Paul Schäfer ({53})
({54})
Dr. Herbert Schui
Dr. Petra Sitte
Frank Spieth
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({55})
Volker Beck ({56})
Cornelia Behm
Grietje Bettin
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Priska Hinz ({57})
Dr. Anton Hofreiter
Thilo Hoppe
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Fritz Kuhn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({58})
Monika Lazar
Anna Lührmann
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({59})
Winfried Nachtwei
Omid Nouripour
Claudia Roth ({60})
Krista Sager
Christine Scheel
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Wolfgang Wieland
Fraktionslose Abgeordnete
Henry Nitzsche
Gert Winkelmeier
Nun können wir die Debatte fortsetzen. Als nächstem
Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Heinz
Lanfermann für die FDP-Fraktion.
({61})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Vor
über zwei Jahren haben Union und SPD in ihrem Koalitionsvertrag versprochen, die gesetzliche Pflegeversicherung zu reformieren. Genauer gesagt wollten Sie
schon vor anderthalb Jahren einen Entwurf vorlegen.
Vor allen Dingen haben Sie aber auch eine Finanzreform versprochen, in der aufgrund der demografischen
Entwicklung unter anderem das Umlageverfahren zumindest um kapitalgedeckte Elemente ergänzt werden
sollte. Dieses Versprechen wird nicht eingehalten. Mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf wird es keine zukunftsfeste Finanzierung geben, und damit ist SchwarzRot in der wichtigen Finanzierungsfrage gescheitert.
({0})
Die Ministerin hat, wie Sie gerade gehört haben, wieder einmal alle Fakten ignoriert. Alle Zahlen liegen auf
dem Tisch. Wir wissen, wie viele Menschen es gibt, wie
sehr die Zahl der Pflegebedürftigen steigen und die Zahl
der Beitragszahler sinken wird. Wir können das alles genau berechnen.
({1})
Dies gilt nicht nur für Professoren. Es gibt eigentlich
niemanden, der anders rechnet - außer Frau Schmidt und
die SPD in ihrem Gefolge.
({2})
Sie ignorieren die demografische Entwicklung; aber gegen Fakten kann man auf Dauer keine Politik machen.
({3})
Die sogenannte Große Koalition wird in der Pflegedebatte ganz klein, möchte am liebsten gar nicht darüber
sprechen, verschiebt die Debatte von morgens auf mittags, auf einen Zeitpunkt, zu dem viele von uns schon
zurückfahren, und verkürzt die Debattenzeit von 90 auf
45 Minuten, sodass man nicht auf alle Themen eingehen
kann.
({4})
- Genau, das ist der breite Dialog.
Die Regierung legt einen Entwurf vor. Die Vertreter
der CDU/CSU streiten ab, dass das ein Koalitionsentwurf ist, weil sie als Fraktion nichts damit zu tun haben.
Die Ministerin widerspricht dem eigenen Kabinettsbeschluss und fordert - so heute Morgen in einem Rundfunkinterview - die Bezahlung der geplanten zehn Urlaubstage. Die Bezahlung soll - damit das klar ist - zur
Hälfte durch die Kassen und zur Hälfte nach bewährtem
Modell durch den Arbeitgeber und damit durch den Mittelstand erfolgen.
Nun komme ich auf das Herzstück Ihrer Reform, Frau
Ministerin, zu sprechen. Mit warmen und gefühlvollen
Worten erklären Sie, dass man nicht mehr von Pontius zu
Pilatus laufen muss, sondern nur zu einem jener über
4 000 Stellen, die Sie etwas martialisch als Stützpunkte
bezeichnen. Diese über 4 000 Pflegestützpunkte werden
Kosten von mindestens über 800 Millionen Euro verursachen, von denen Sie aber nur 10 Prozent zur Verfügung
stellen wollen. Den Rest dürfen dann andere bezahlen.
Dieser Gesetzentwurf ist, wie man feststellt, wenn man
ihn sich anschaut, wirklich ein Lehrstück an schlechter,
eigentlich unzumutbarer Gesetzgebungsarbeit.
({5})
- Ja, wenn man hineinschaut, stellt man fest, dass er eine
leere Tüte ist.
Es werden keinerlei konkrete Maßnahmen und keine
konkreten Zuständigkeiten beschrieben. Es steht nichts
darüber im Gesetzentwurf, von wem diese Berater, von
denen es in diesen Stützpunkten nur so wimmelt, Weisungen bekommen, welche Befugnisse es gibt und wer
welche Aufgabenbereiche hat. Es steht darin auch nichts
darüber, wie Sie die Koordinierung mit den Landesstellen und den kommunalen Stellen, über die Sie ja nicht
verfügen können, verwirklichen wollen.
({6})
Diese werden nur aufgefordert, irgendwelche Verträge
zu unterschreiben, von denen man noch gar nicht weiß,
was darin stehen soll.
Bei der Vorbereitung dieses Gesetzentwurfes - Sie
hatten ja über zwei Jahre Zeit; von den Jahren davor, in
denen Sie nichts getan haben, einmal ganz abgesehen;
Sie sind ja schon lange genug im Amt, um lange nichts
getan zu haben - haben Sie zum Beispiel überhaupt nicht
mit den Landkreisen gesprochen. Wir alle, die wir uns in
der Pflegepolitik betätigen, waren doch dabei, als die
Vertreter der Landkreise gesagt haben: Mit uns hat man
nicht gesprochen. - Sie bekommen ja nicht einmal Antworten auf ihre Briefe, wenn sie ihre Mitarbeit anbieten.
Hinterher sollen sie aber alle etwas unterschreiben, damit Sie Pflegestützpunkte aufbauen können. Sie stellen
diese als Eldorado der Pflege dar. In Wirklichkeit sind
die über 4 000 Pflegestützpunkte nichts anderes als eine
Ansammlung von Basislagern in einem Gebirge von Bürokratie, das Sie jetzt neu aufbauen.
({7})
Ich bin dem Kollegen Zöller, der gleich sprechen
wird, sehr dankbar. Heute ist in der Lausitzer Rundschau
ein sehr schönes Interview mit ihm zu lesen, worin er
sagt, dass die Union die Einrichtung von Pflegestützpunkten ablehnt. Dies begründet er folgendermaßen:
Im Sozialgesetzbuch
- hören Sie zu, Frau Schmidt ({8})
ist schon jetzt geregelt, dass die Pflegekassen eine
Beratungspflicht haben. Das geschieht auch. Wenn
neben dieser Pflegeberatung auch noch Pflegestützpunkte existieren, dann entstehen Doppelstrukturen und eine enorme Bürokratie.
Auch wir wollen, dass das Geld besser an die Pflegebetten kommt, als dass es in der Bürokratie versickert.
({9})
Die Ministerin behauptet, vorhandene Strukturen
würden aufgenommen, integriert, vernetzt usw. Sie haben gerade noch gesagt, dass es so etwas geben soll. Ich
habe Sie im Oktober angeschrieben und gefragt: Was
gibt es in den Ländern? Was gibt es in den Gemeinden?
Was gibt es, was man vernetzen und aufbauen könnte?
Was gibt es, was man ergänzen könnte? Antwort von
Frau Caspers-Merk: Wir sind noch in der Findung. Das
wissen wir alles noch nicht. - Dann habe ich den Gesetzentwurf abgewartet und noch einmal an die Ministerin
geschrieben und wieder diese vier konkreten Fragen gestellt - das werde ich jedem hier zur Verfügung stellen -:
Ich erhielt eine zweiseitige nichtssagende Antwort, nur
Larifari. Auf die Fragen wurde überhaupt nicht eingegangen. Das heißt, die Ministerin, die offiziell nichts
weiß, will nun vernetzen und verknüpfen, was sie nicht
kennt. Viel Vergnügen, Frau Ministerin!
({10})
So geht man im Übrigen nicht mit dem Parlament um.
So lasse ich Ihnen das auch nicht durchgehen.
Dieser Gesetzentwurf ist im Hinblick auf die Pflegestützpunkte nichts anderes als ein teurer Schuss ins
Blaue. Ich sage Ihnen auch, was Sie damit vorhaben:
Derjenige, der sich einordnet, der die Verträge unterschreibt, deren Bedingungen Sie bestimmen, wird in
eine Struktur eingegliedert, die von oben nach unten verläuft, vom Gesundheitsministerium zu den Pflegekassen.
Das trägt Staatsdirigismus und Staatspflege in die Gemeinden hinein.
({11})
Das wird dazu führen, dass an den Orten, wo die Träger
sich nicht fügen, wo sie nicht unterschreiben, wo sie
nicht mitmachen, sondern auf ihre eigenen bewährten
Beratungsangebote setzen, Doppelstrukturen unter Verwendung des Geldes aufgebaut werden, das Sie den
Menschen jetzt aus der Tasche ziehen wollen. Nach und
nach werden Sie so die anderen vom Markt drängen.
({12})
Wer 2 000 Euro im Monat verdient, soll ja jedes Jahr
60 Euro mehr in die Pflegeversicherung zahlen, damit
Frau Schmidt ihre Staatspflege weiter ausbauen kann.
Es gibt sicherlich sinnvolle Verbesserungen, gegen
die wir nichts einzuwenden haben. Aber Sie betreiben
eine Politik, bei der sämtliche Zahlen und die demografische Entwicklung ignoriert werden und bei der nur Wert
darauf gelegt wird, staatliche Strukturen weiter durchzusetzen und andere zu verdrängen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Zöller für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn zurzeit über Pflege gesprochen wird, dann wird
vorwiegend über Missstände, Organisationsdefizite und
Kosten diskutiert. So wird die Diskussion aber zu kurzsichtig geführt. Es geht nämlich um mehr: In der Wertschätzung des Alters und in der Frage, wie wir mit den
älteren Menschen umgehen, kommen nämlich unsere
kulturellen Prinzipien zum Ausdruck. Es geht also darum: Wollen wir eine humane Pflege, oder wollen wir
eine Pflege vom Fließband? Deshalb müssen wir in der
Gesellschaft und ganz besonders in diesem Hause einen
Konsens über folgende Fragen herstellen: Wie wollen
wir künftig pflegen? Wie wollen wir künftig selbst einmal gepflegt werden? Wie kann man Verbesserungen erreichen? Wie kommen wir zu einer nachhaltigen Finanzierung?
Meine sehr geehrten Damen und Herren, eine Entwicklung macht mir große Sorgen. Man hört immer wieder, dass pflegebedürftigen Menschen aus Mangel an
Pflegekräften oder aus Mangel an Zeit Magensonden
verabreicht werden, anstatt pflegebedürftigen Menschen
in dem Tempo zu Essen und zu Trinken zu geben, in dem
sie kauen und schlucken können. Im Übrigen: Wer einmal eine Magensonde erhalten hat, wird nie wieder etwas schmecken können. Was für eine Qualität hat das
Leben dann noch? Ähnliche Defizite gibt es beim Waschen, beim Anziehen oder beim Toilettengang. Wenn
Windeln und Dauerkatheter von den Versicherungen unter dem Begriff „pflegeerleichternde Maßnahmen“ abgerechnet werden, sind wir alle aufgefordert, tätig zu werden. Ich halte das, was ich beschrieben habe, nicht für
eine humane Pflege, sondern für menschenunwürdig.
({0})
Deshalb habe ich die Frage gestellt: Wie wollen wir pflegen?
Viele Berichte zur Pflegequalität haben gezeigt, dass
wir dringend mehr motiviertes und qualifiziertes Personal für die Pflege vor Ort brauchen. Diese Menschen, die
einen sehr anspruchsvollen und schwierigen Dienst an
den Pflegebedürftigen leisten, sollten auch wissen, dass
wir ihre Arbeit schätzen. Pflegeheime, die qualitativ gute
Pflege leisten, werden sich nicht vor Prüfungen fürchten.
Prüfungen sind notwendig, um schlechte Pflege festzustellen und Defizite abzustellen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir dürfen
nicht alle Pflegenden in einen Topf werfen und mit überzogenen Vorschriften und bürokratischen Auflagen gängeln. Hier müssen wir den richtigen Weg für effiziente
und dauerhaft wirksame Qualitätskontrollen finden. Es
geht also nicht um ein Mehr an Kontrollen und Vorschriften, sondern es geht um die richtige Anwendung.
Denn Qualitätssicherung und Qualitätsprüfungen dürfen
kein Selbstzweck werden.
Wir müssen also an folgenden Punkten ansetzen, um
diese Zustände zu verbessern: Wir müssen die Pflegeleistungen verbessern und an die Kostenentwicklung anpassen.
({1})
Das tun wir mit diesem Gesetzentwurf.
({2})
Für Demente werden Leistungen wesentlich verbessert.
({3})
Diese sollten allerdings nicht nur im ambulanten, sondern auch im stationären Bereich ermöglicht werden.
({4})
Wir müssen die Pflege spürbar entbürokratisieren. Pflegedienste müssen sich wieder auf ihre eigentliche Aufgabe, die Versorgung Pflegebedürftiger, konzentrieren
können. Dann wird auch der Pflegeberuf wieder attraktiver werden.
Wir müssen weiterhin die Qualitätsprüfungen im Hinblick auf Praktikabilität, bürokratischen Aufwand und
Effizienz überarbeiten. Wir brauchen unangemeldete
Prüfungen. Der Schwerpunkt der Prüfungen muss auf
den Zustand der Patienten und weniger auf die Vollständigkeit der Dokumentation gerichtet werden.
({5})
Letztlich halten wir auch sehr viel davon - in diesem
Punkt sind wir uns einig -, dass die Prüfergebnisse veröffentlicht werden müssen.
({6})
Wir wollen des Weiteren - soweit dies möglich ist -,
dass jeder in seinem von ihm gewünschten Umfeld gepflegt und betreut werden kann. Die überwiegende
Mehrheit der pflegebedürftigen Menschen will so lange
wie möglich zu Hause oder zumindest ambulant und
nicht in Pflegeheimen versorgt werden. Parallel dazu
nimmt die Tragfähigkeit familiärer Bindungen und Unterstützungen leider ab. Vor diesem Hintergrund werden
mit diesem Gesetzentwurf die Möglichkeiten neuer
Wohnformen wie zum Beispiel Wohngemeinschaften für
Ältere oder betreutes Wohnen und die ambulante wohnortnahe Versorgung gefördert. Die Pflegebedürftigen
sollen die dort erbrachten Leistungen wesentlich flexibler als bisher in Anspruch nehmen können.
Es ist klar, dass diese beschlossenen Verbesserungen
nicht zum Nulltarif zu haben sind. Aber die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen haben Anspruch auf
gesellschaftliche Solidarität. Die Reform der Pflegeversicherung ist im Hinblick auf die vereinbarten Leistungsverbesserungen ein wichtiger Durchbruch im Interesse
von Millionen von Betroffenen. Aber um das System zukunftsfähig zu machen und mehr Generationengerechtigkeit zu verankern, bleibt die Einführung einer Kapitaldeckung als Aufgabe bestehen.
({7})
Da nicht alles finanzierbar ist, sind wir auch auf mehr
ehrenamtliches Engagement angewiesen.
Wir werden in diesem Gesetzgebungsverfahren an der
einen oder anderen Stelle noch nachjustieren müssen.
Ich habe bereits Pflegequalität und Entbürokratisierung
angesprochen. Hinzu kommt das Thema PflegestützWolfgang Zöller
punkte. Wir sind uns darin einig, dass es wohnortnah
kompetente Anlaufstellen geben soll.
({8})
Wir müssen uns aber fragen, ob wir zusätzliches Geld
für Organisation oder für Pflege ausgeben. Wir sind der
Auffassung: Das Geld muss für die Pflege ausgegeben
werden. Diese Stützpunkte sollten Anwalt der Patienten
und nicht nur der verlängerte Arm der Pflegekassen sein.
({9})
Ein weiterer Punkt erscheint uns sehr wichtig. Wir
müssen die sogenannte aufsuchende Beratung fördern.
Denn viele haben nicht die Möglichkeit, Beratungsstellen aufzusuchen. Wir dürfen durch neue Strukturen, die
parallel zu bereits existierenden entstehen, nicht zu übertriebenen Kostenforderungen kommen, die nur zu mehr
Bürokratie, aber nicht zu mehr Leistungen für die Betroffenen führen.
Eine Gefahr sehe ich bei der im Gesetzentwurf vorgesehenen Regelung, dass qualifiziertes Personal dort abgezogen wird, wo wir es eigentlich brauchen, nämlich
am Pflegebett. Die Entwicklung darf doch nicht dahin
gehen, dass irgendwann einmal mehr Personen für Organisation und Aufsicht als für die eigentliche Pflege zuständig sind. Es ist unsere Aufgabe, darauf zu achten.
Die vorhandenen, knappen Mittel der Pflegeversicherung müssen für Leistungen, die den Pflegebedürftigen
zugutekommen, ausgegeben werden. Hier brauchen wir
jeden Euro. Wir können deshalb keine Leistungsausweitungen befürworten, die nicht den Pflegebedürftigen zugutekommen und mit einem unkalkulierbaren Kostenrisiko verbunden sind.
({10})
Lassen Sie mich zusammenfassen: Die Grundausrichtung des Reformprojektes ist richtig. Die genannten Beispiele zeigen aber auch, dass in einzelnen Fragen noch
Diskussionsbedarf besteht. Ich bin felsenfest davon
überzeugt und zuversichtlich, dass wir dabei gemeinsam
zu guten Ergebnissen für die pflegebedürftigen Menschen und deren Angehörige kommen werden.
Ich danke Ihnen.
({11})
Für die Fraktion Die Linke hat nun das Wort der Kollege Dr. Ilja Seifert.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren auf den Tribünen! Lieber Herr Zöller, wenn ich Sie hier so reden höre, wünsche ich mir fast einen CSU-Minister, der wenigstens die
christliche Soziallehre beherzigt, der Werte zugrunde
legt, wenn er Politik macht. Dann gäbe es nicht so ein
Reförmchen, bei dem man die Substanz mit der Lupe suchen muss. Herr Zöller, Sie haben zu Recht die Frage gestellt, ob wir eine humane Pflege oder eine Pflege vom
Fließband wollen. Ich habe den Eindruck, dass das, was
Sie hier verändern, an der Fließbandpflege nichts ändert.
({0})
Herr Lanfermann, Sie haben recht: Obwohl diese Debatte die breite Öffentlichkeit betrifft, haben wir nur wenig Zeit, um über die Entwicklung im Bereich der Pflege
zu beraten. Nach zwölf, fast 13 Jahren können wir Bilanz ziehen. Dann können wir fragen, welche Änderung
die Bundesregierung anbietet. Vielleicht sollten wir auch
noch einmal darüber reden, was die Linke als Alternative anzubieten hat.
Zur Bilanz: Erstens. Wir haben es mit einer Teilkaskoversicherung zu tun. Allein das Wort „Teilkaskoversicherung“ ist ein Schlag ins Gesicht derjenigen, um die es
geht. Wir sind nämlich keine Autos, sondern Menschen.
Der Begriff allein zeigt, was Sie wollen. Sie wollen den
Leuten nicht wirklich helfen, sondern die Staatskasse ein
bisschen entlasten. Zweitens. Die Unterversorgung ist
hinreichend bekannt. Die Berichte liegen auf dem Tisch.
Wir brauchen nicht lange darüber zu reden. Die Angehörigen sind total überlastet und überfordert. Ich finde, Sie
tun nichts, was wirklich für Abhilfe sorgt.
Ich greife einmal das Beispiel Demenz auf: Sie wollen die demenzkranken Menschen in die Pflegeversicherung einbeziehen; man wusste von Anfang an, dass das
nötig ist. Wollen Sie den Menschen ernsthaft einreden,
dass sie für 6,57 Euro pro Tag sinnvolle Betreuungsangebote einkaufen können? Wenn Angehörige einen
dementen Menschen für drei Stunden in der Woche in
eine teilstationäre Einrichtung geben, damit sie ein bisschen entlastet werden, dann haben sie anschließend viel
damit zu tun, diesen Menschen aus seiner Verwirrtheit
wieder herauszuholen. Das Problem ist, dass das nicht
regelmäßig ist, dass nicht das geboten wird, was der demente Mann oder die demente Frau braucht. Eine regelmäßige Begleitung und Betreuung ist notwendig. Diese
Regelung wird nicht helfen.
Über die besondere Situation in Ostdeutschland kann
ich leider gar nicht lange reden. Nur so viel: Es wird immer wieder gesagt, dass man für den Pflegefall zusätzlich privat vorsorgen muss. Wovon soll man denn vorsorgen, wenn man nichts hat? Kommt man dann auf die
Idee, für den Pflegefall vorzusorgen, der, wenn man
Glück hat, nicht eintritt? So viel zur Situation.
Was bietet die Bundesregierung an? Sie bietet eine
Reform an. Hinterher, nachdem die Reform beschlossen
worden ist, will sie sich überlegen, wofür die Reform eigentlich ist. Denn die Kommission, die einen neuen Pflegebegriff erarbeiten soll, soll ihre Ergebnisse erst Ende
nächsten Jahres vorlegen. Wenn sie dann etwas vorgelegt hat, fangen Sie an, die Vorschläge zu zerpflücken.
Was soll das?
Wenn man wirklich eine Pflegereform durchführen
will, dann muss man sagen: Es geht darum, den Menschen, die Anleitung, Pflege oder ständige Hilfe benötigen, im Rahmen dessen, was sie sich wünschen, Teilhabe zu ermöglichen. Davon ist bei Ihnen aber nicht die
Rede. Satt, sauber, trocken - das ist das höchste der Gefühle. Das kann es ja wohl nicht sein.
({1})
- Was ich weiß, ist, dass bedauerlicherweise nicht einmal das erreicht wurde.
Sie sagen, dass Sie die Leistungen dynamisieren. Was
machen Sie in Wirklichkeit? Sie erhöhen den Beitragssatz zur gesetzlichen Pflegeversicherung um
0,25 Prozentpunkte. Das Geld, das durch die Leistungsdynamisierung eingenommen wird, fließt in die Pflegestützpunkte - wenn es denn überhaupt irgendwo ankommt.
Denken wir also einmal über die Pflegestützpunkte
nach; denn sie sind der größte Bereich, um den es geht.
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass ich
bei diesem Thema ein Déjà-vu habe. Die gleichen Heilsversprechungen habe ich nämlich auch gehört, als beschlossen wurde, im Rahmen des SGB IX gemeinsame
Servicestellen einzurichten.
({2})
Sehen Sie sich die Situation bei den gemeinsamen Servicestellen doch einmal an! Ich gehe jede Wette ein:
Wenn Sie sie heute schließen würden, würde ein halbes
Jahr lang kein Mensch merken, dass sie geschlossen
worden sind - nicht einmal die Leute, die dort arbeiten.
Das ist so, weil sie niemand braucht. Da auch die Pflegestützpunkte niemand braucht, wird sie niemand aufsuchen, werden sie nichts nützen.
Welche Alternativen gibt es? Ich sage Ihnen: Lassen
Sie uns zuerst überlegen, was Pflege zu bedeuten hat.
Pflege hat nicht nur etwas mit Begleitung und Assistenz
zu tun. Das Ziel der Pflege besteht vielmehr darin, Menschen, die allein nicht zurechtkommen, die Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben oder zumindest am Familienleben zu ermöglichen. Es geht also um die Ermöglichung
von Teilhabe.
Dafür brauchen wir unter anderem die geschlechtergleiche Pflege, wenn sie gewünscht wird,
({3})
und eine solidarische Finanzierung. Wir brauchen also
die Bürgerinnen- und Bürgerversicherung. Was denn
sonst? Lasst uns doch aufhören, die Idee zu verfolgen,
dass jeder seinen eigenen Kapitalstock anspart! Lasst
uns das Prinzip „ambulant vor stationär“ verwirklichen!
Wenn wir das tun, dürfen wir aber nicht immer wieder in
Pflegeheime investieren. Lasst uns die Angehörigen tatsächlich entlasten, indem wir denjenigen, die die Pflegeleistung erbringen, so viel Geld in die Hand geben, dass
sie ordentlich verdienen. So kommen wir voran.
Führen Sie aber bitte nicht zunächst irgendein Reförmchen durch, das zumindest in seinem Titel das Wort
„Reform“ trägt, und überlegen erst dann, was Sie eigentlich machen. Sie müssen zuerst sagen: Wir wollen eine
humane Pflege. Herr Zöller, in diesem Punkt bin ich zu
100 Prozent Ihrer Auffassung. Obwohl Sie von den Werten der christlichen Soziallehre und nicht von meiner
aufgeklärten Perspektive ausgehen, kommen wir beide
zum gleichen Schluss: Wir müssen den Menschen Teilhabe ermöglichen. In diesem Punkt sind wir einer Meinung.
Vielen Dank.
({4})
Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Elisabeth
Scharfenberg für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Nun findet sie also statt: die
erste Lesung des Entwurfs eines Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes. Sie dauert nicht einmal eine Stunde. Ursprünglich war vorgesehen, die heutige Debatte in der
Kernzeit, also zwischen 9 und 11 Uhr, zu führen. Jetzt
finden wir uns im Nachmittagsprogramm des letzten Sitzungstages vor Weihnachten wieder.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, liebe Frau Ministerin, ist Ihnen das nicht abgrundtief peinlich? Denn ganz offensichtlich zählen die
Sorgen und Bedürfnisse Pflegebedürftiger und ihrer Angehörigen nicht zu den wirklich großen Themen für
diese Bundesregierung und diese Koalition.
({0})
In den letzten Wochen haben Sie uns in Höchstform
Ihre pflegepolitische Handlungsunfähigkeit demonstriert.
Was wir erleben, ist Zoff: Zoff um die Finanzierung,
Zoff um den Pflegeurlaub, Zoff um die Pflegezeit
({1})
und Zoff um die Pflegestützpunkte und die Pflegebegleiter. Wir hatten reichlich den Eindruck, dass sich hier Opposition und Regierung auseinandersetzen. Nur zu Ihrer
Erinnerung: Sie bilden eine gemeinsame Koalition.
({2})
Ich höre nichts darüber, dass Sie sich nun doch um ein
dringend notwendiges Konzept für eine nachhaltige Finanzierung kümmern. Ich höre auch nichts darüber, dass
Sie gemeinsam daran arbeiten, die an sich vernünftige
Idee der Pflegestützpunkte und Pflegeberater wirklich
im Sinne der Betroffenen umzusetzen und auszugestalten. Sie wissen ganz genau, dass Sie dafür sorgen müssen, dass die Pflegestützpunkte und -berater neutral und
unabhängig sind;
({3})
denn sind sie das nicht, produzieren Sie damit nichts anderes als ein Kontroll- und Kostensparmodell. Sogar die
Vorschläge der Länder wären eine deutliche Verbesserung gegenüber Ihren Konzepten. Von der UnionsfrakElisabeth Scharfenberg
tion dieses Hauses hingegen vernehme ich nur destruktive Statements.
({4})
Sie wollen die Pflegestützpunkte überhaupt nicht. Sie
machen sich für dieses wirklich komplett unsinnige
Konzept der Beratungsschecks stark. Damit schaffen Sie
nicht etwa Orientierung, nein,
({5})
Sie bewirken exakt das Gegenteil, nämlich Desorientierung auf einem ausufernden und unüberschaubaren Beratungsmarkt. Das soll dann den Betroffenen nützen?
Das stelle ich wirklich infrage.
({6})
Auch die Pflegezeit ist Ihnen ein Dorn im Auge. Sie
wollen keinen Ärger mit den Arbeitgeberverbänden.
Deshalb wird die Pflegezeit möglichst unattraktiv ausgestaltet,
({7})
ohne jede Form der Lohnersatzleistung, mit einer Beschränkung der Betriebsgröße auf mindestens 15 Mitarbeiter und schön begrenzt auf den engsten Verwandtenkreis.
({8})
Keine Sorge, diese Pflegezeit wird kein Mensch in Anspruch nehmen, weil sie keiner nehmen kann. Das alles
verpacken Sie auch noch als Unterstützung für pflegende
Angehörige. Davon kann wohl überhaupt nicht die Rede
sein. Pflegende Angehörige brauchen Unterstützung und
Entlastung im Alltag. Sie tragen die Konflikte - Stichwort „ambulant vor stationär“ - auf dem Rücken der Angehörigen aus. Herr Zöller, bei allem Respekt, aber Ihre
Darstellung der Betroffenheit nimmt Ihnen wirklich keiner mehr ab.
({9})
Zu guter Letzt klagen Sie, es sei nicht bezahlbar, was
Frau Ministerin Schmidt alles vorhat. Liebe Kolleginnen
und Kollegen der Union, wenn Sie nicht mutig genug
sind, für eine nachhaltige Finanzreform zu sorgen, dann
müssen Sie sich wirklich an die eigene Nase fassen.
({10})
Setzen Sie Ihren Koalitionsvertrag und die darin gesteckten Ziele, auch bezüglich der Finanzierung, um!
({11})
Ich glaube, Ihnen ist entgangen, dass es sich bei der
Zielgruppe der Pflegereform um Menschen handelt, um
pflegebedürftige Menschen und deren Angehörige. Übrigens, Herr Zöller, wir reden hier nicht nur von alten
Menschen, nein, wir reden auch von pflegebedürftigen
Kindern, wir reden von behinderten Menschen, von psychisch kranken Menschen, von Menschen, die etwa nach
einem Unfall, auch in jungen Jahren, pflegebedürftig
wurden oder auch werden können. Das heißt, wir reden
eigentlich von uns allen. Es geht nämlich bei alledem,
was heute debattiert wird, um das konkrete Leben und
um das Schicksal von Menschen, die Hilfe, Unterstützung, aber vor allem mehr Selbstbestimmung und
Würde brauchen.
({12})
Sie haben noch ein paar Wochen Zeit bis zur Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs. Setzen Sie jetzt endlich Ihre ideologische Brille ab! Dieses Pflege-Weiterentwicklungsgesetz ist für alle Menschen im Land zu
wichtig, um zwischen Wahlkampfslogans zerrieben zu
werden;
({13})
denn alles, was im Frühjahr beschlossen wird, wird über
Jahre hinweg nicht mehr zu ändern sein. Sie haben eine
enorme Verantwortung. Dieser Verantwortung sollten
Sie sich wirklich langsam bewusst werden.
({14})
Ich wünsche Ihnen besinnliche Weihnachtstage,
({15})
aber kommen Sie auch bei der Pflegereform zur Besinnung!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({16})
Nun hat die Kollegin Elke Ferner für die Fraktion der
SPD das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Ich glaube, die von der Bundesregierung vorgelegte
Pflegereform ist ein Riesenschritt zur Verbesserung der
Situation der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen.
({0})
Herr Seifert, wir wissen, dass insbesondere Ihre Fraktion keine Mühe hat, immer noch mehr, noch weitergehende Maßnahmen und noch höhere Mittel zu fordern,
aber wir müssen uns ein Stück weit an dem orientieren,
was derzeit finanzierbar ist. Auch wir hätten an vielen
Stellen gerne die Leistungen noch verbessert, aber wir
sind realistisch genug, zu sehen, was finanzierbar und
was nicht finanzierbar ist.
({1})
Der zweite Punkt, den Sie, Herr Seifert, angesprochen
haben, betrifft die Änderung des Pflegebegriffs. Ja, wir
wollen den Pflegebegriff ändern, weg von der Verrichtungsbezogenheit. Das braucht leider noch etwas mehr
Zeit. Aber das wird dann in einem zweiten Schritt gesetzlich verankert werden können. Wir halten es nicht
für verantwortbar, mit den Maßnahmen, die wir jetzt auf
den Weg bringen, ebenfalls bis dahin zu warten.
({2})
Wenn Sie anderer Meinung sind, können Sie das den
Menschen, die mehr Hilfebedarf haben, ja gern erklären.
Wir möchten das, was wir jetzt tun können, auch wirklich angehen und auf den Weg bringen.
Es ist heute auch über paar Punkte zu reden, bei denen
es innerhalb der Koalition Dissens gibt. Es geht beispielsweise um die Pflegestützpunkte. Die Pflegestützpunkte werden gebraucht, Herr Lanfermann. Wer schon
einmal einen Pflegefall zu organisieren hatte, weiß, wie
die heutige Situation vor Ort ist. Es gibt Länder - wie
zum Beispiel Rheinland-Pfalz oder Baden-Württemberg -,
in denen es Koordinierungsstellen und einheitliche Anlaufstellen gibt.
({3})
Die Menschen wissen, dass sie zu diesen Stellen gehen
und sich umfassend beraten lassen können.
Es fehlen aber auch in den genannten Bundesländern
noch Stellen, die beispielsweise über die Leistungen zu
entscheiden haben. Wir wollen nicht etwas Neues parallel zu den existierenden Einrichtungen schaffen. Vielmehr wollen wir die vorhandenen Angebote um die Beratungsangebote der Sozialversicherungsträger ergänzen
und das Ganze wohnortnah - nicht irgendwo fernab,
zum Beispiel in der Kreisstadt - unter einem Dach anbieten. Dazu brauchen wir Stützpunkte in der Form, wie
wir sie organisieren wollen.
Herr Lanfermann, ich wundere mich, dass ausgerechnet die FDP fordert, im SGB XI bis ins kleinste Detail
festzuschreiben, wie das alles aussehen soll, wer welche
Verantwortung trägt, wer wem Weisungen zu erteilen hat
usw. Was ist denn mit der Vielfalt, die es vor Ort gibt? Diese wollen wir erhalten.
Wir wollen versuchen, die Beratungsangebote so zu
bündeln, dass der Angehörige oder auch der Pflegebedürftige zu den Anlaufstellen gehen und sich umfassend
beraten lassen kann. Wolfgang Zöller, ich sage noch einmal ganz ausdrücklich, dass das nicht ausschließt, dass
auch einmal ein Pflegeberater oder eine Pflegeberaterin
zu den Menschen nach Hause gehen kann, wenn eine
Beratung nur so möglich ist.
Wir brauchen die Institution der Pflegestützpunkte,
die im Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgesehen
ist. Hinter diesem Entwurf stehen auch Ministerinnen
und Minister der CDU und CSU. Offensichtlich ist das
in Teilen der Unionsfraktion aber noch nicht angekommen.
({4})
Jetzt möchte ich auf die Pflegegutscheine eingehen.
({5})
- Entschuldigung, ob ich das Beratungsscheck oder Pflegegutschein nenne, ist eigentlich egal. Aber was schlagen Sie da eigentlich inhaltlich vor? Heute gibt es eine
kostenlose Beratung durch die Sozialversicherungsträger, die Grundsicherungsträger, die Wohlfahrtsverbände
und auch durch die Leistungsanbieter. Diese preisen Sie
jetzt in Ihre Beratungsgutscheine ein.
({6})
Was ist denn, wenn die vier Stunden Beratung abgelaufen sind? Muss ich dann für die nächste Beratung bezahlen?
({7})
Was ist, wenn ich verschiedene Stellen anlaufen muss?
Verbrauche ich dann jeweils ein Stückchen von dem
Gutschein? Wir sind genauso wie Horst Seehofer, aber
auch der Sozialverband Deutschland und andere der
Auffassung, dass die Pflegegutscheine grober Unfug
sind.
({8})
Ich prophezeie Ihnen, dass sie nicht ins Gesetz kommen
werden.
({9})
- Herr Lanfermann, Sie können gerne eine Zwischenfrage stellen statt dazwischenzuschreien. Die Redezeit
ermöglicht es im Moment leider nicht, auf Ihre Zwischenrufe einzugehen.
({10})
Als Nächstes möchte ich auf die Freistellung bei einem Pflegefall eingehen. Im Namen meiner Fraktion begrüße ich es sehr, dass wir der Forderung nach der Möglichkeit einer Freistellung für bis zu sechs Monate, die
Sozialverbände und Gewerkschaften schon vor längerem
aufgestellt haben, nachkommen und das Recht zur raschen Rückkehr an den Arbeitsplatz gewährleistet ist für
den Fall, dass der Angehörige verstirbt, bevor die Zeit
der Freistellung abgelaufen ist.
Wir hätten uns gewünscht, dass das allen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer möglich ist und sich nicht
in erster Linie an der Betriebsgröße, sondern am Bedarf
der Angehörigen von Pflegebedürftigen orientiert. Wir
werden weiterhin an unserer Forderung festhalten, dass
es für kurzfristige Freistellungen eine Bezahlung nach
dem Vorbild der Regeln geben soll, die wir bei der Erkrankung von Kindern schon heute haben, also die Zahlung von Krankengeld für bis zu zehn Tage.
({11})
Die Mehrheit der Bevölkerung will das.
({12})
Man hört hier Argumente wie: Das kann der Sozialdienst
im Krankenhaus erledigen. Oder: Man kann Jahresurlaub einsetzen. Oder: Man kann ja unbezahlten Urlaub
nehmen. Deswegen sage ich: Viele Menschen können
sich unbezahlten Urlaub schlicht nicht leisten. Manche
haben am Jahresende keinen Jahresurlaub mehr übrig.
({13})
Im Übrigen: Wer Angehörige pflegt, setzt häufig Jahresurlaub für die Pflege seiner Angehörigen ein. Da gibt es
also keinen Nachholbedarf.
Das Wichtigste ist, glaube ich, dass die Menschen in
Ruhe die Pflege ihrer Angehörigen organisieren können.
Das ist nichts, was man mal eben am Telefon in der Mittagspause, nebenbei, organisieren kann, oder etwa nach
Feierabend, wenn kein Mensch mehr erreichbar ist, mit
dem man so etwas abklären kann. Wir brauchen gut vorbereitete Entscheidungen. Vor allen Dingen brauchen die
Menschen die Zeit, sich zu informieren, um das zu ihren
Angehörigen passende Pflegearrangement zu finden.
({14})
Zur Qualität in der Pflege gäbe es sicherlich noch einiges zu sagen. Das Gleiche gilt für die Finanzierung.
Ich will dazu nur einen Satz sagen: Wir haben es leider
nicht geschafft, den Risikoausgleich, der im Koalitionsvertrag vereinbart worden ist, in das Gesetz aufzunehmen, weil sich die Union davon leider verabschiedet hat.
Jetzt geht es um die Frage: Wie geht es weiter, wie
werden wir den demografischen Herausforderungen gerecht? Das geht weit über die aktuelle Diskussion über
die Pflegeversicherung hinaus. Das geht auch weit über
die Ebene des Bundestages hinaus, das muss auf allen
politischen Ebenen diskutiert werden, weil auch an anderen Stellen noch viel zu tun ist.
Vielen Dank.
({15})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Willi Zylajew für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese
Pflegeversicherungsreform ist der derzeit mögliche
Schritt. Wir entwickeln eine gute Versicherung, die sich
bewährt hat, weiter. Bislang waren die Leistungen allerdings an den Bedarf der Grundpflege und häuslichen
Versorgung geknüpft. Dies war hilfreich, und hier erhöhen wir auch die Leistungen, wir dynamisieren sie sogar
verlässlich; das muss man bei aller Kritik im Detail akzeptieren, Herr Kollege Dr. Seifert.
Unter dem Blickwinkel einer ganzheitlichen Betrachtung der Ansprüche der Bewohnerinnen und Bewohner
in Heimen wollen wir nun mehr tun, auch Leistungen
gewähren für Betreuung, Begleitung und Beaufsichtigung. Dies wird vielen Menschen helfen. Es kommt
auch der von weiten Teilen der Bevölkerung letztlich erwartete Hilfebereich für Menschen mit eingeschränkter
Alltagskompetenz; das betrifft die sogenannte „Pflegestufe 0“. An dieser Stelle der Klassifizierung der Hilfestufen gab es sicherlich einen Mangel, den wir hiermit
ausräumen. Die Betreuungssituation Dementer wird besser.
Wir sollten uns dabei nicht allein auf den ambulanten
Bereich konzentrieren,
({0})
sondern das auf den stationären Bereich ausdehnen.
({1})
Wir haben alle am vergangenen Montag beim MauserForum in der NRW-Landesvertretung gehört, dass der
Sozialverband Deutschland, die Diakonie, die Caritas
und der DPWV auch Leistungen für den stationären Bereich erwarten. Wir müssen die Chance eröffnen, Ambulante im stationären Bereich besser zu betreuen, zu
beaufsichtigen. Darüber sollten wir noch einmal nachdenken. Wir hoffen, dass wir hier in der Koalition zu Ergebnissen kommen.
({2})
- Dafür sind wir dankbar.
Herr Lanfermann, wir sollten die Ergebnisse der Anhörungen abwarten, sollten sehen, was im Land vorhanden ist, und dann überlegen, wie wir die Beratung vielleicht anders finanzieren. Ich denke, wir haben hier die
Chance, bestehende Strukturen zu erhalten bzw. sie auszubauen und den Menschen ein Stück weit die Freiheit
zu geben, zu wählen, von wem sie sich beraten lassen.
Frau Ministerin Schmidt, Sie kennen natürlich AachenStadt. Aber schauen Sie einmal in die Eifel und nach
Aachen-Land! Dann sehen Sie, wie dort die Pflegestützpunkte erreichbar wären: Für 20 000 Einwohner haben
wir einen Pflegestützpunkt.
Wir als Union werden alles daransetzen, mehr aufsuchende Hilfe zu erreichen. Kollegin Ferner, Sie haben so
schön gesagt - das können Sie noch einmal im Protokoll
nachlesen -:
Die Menschen wissen, dass sie zu diesen Stellen gehen und sich umfassend beraten lassen können.
Ich glaube, Sie verkennen die Situation der Menschen
etwas.
({3})
Viele können nicht dahin gehen oder fahren, sondern wir
sollten sehr viel stärker zusehen, dass diese Beratung zu
Hause erfolgt, sodass die Menschen die Chance haben,
sich unter mehreren Beratern denjenigen herauszusuchen, den sie für richtig halten.
({4})
Das steht im Übrigen heute schon in § 7 Sozialgesetzbuch XI, wonach Aufklärung und Beratung Pflichtaufgaben der Kassen sind. Ich wundere mich, dass wir
diesen Kassen aus den vereinnahmten Pflegeversicherungsbeiträgen nun noch einmal 290 Millionen Euro
mehr geben sollen - für eine Aufgabe, die sie bisher
schon zu erledigen hatten, aber nicht erledigt haben.
({5})
Bedenken wir doch - darüber müssen wir sprechen -:
Die Kasse hat das Geld und gibt die Bescheide heraus.
Sie hat den MDK und bekommt über die Fallmanager im
Endeffekt dann noch die Macht, zu entscheiden, was mit
jeder und jedem Einzelnen passiert. Ich denke, das muss
man kritisch hinterfragen. Das ist nicht richtig und nicht
sinnvoll.
({6})
Der Kollege Zöller hat es angesprochen: Bei den bevorstehenden Beratungen geht es doch um die Frage,
wie viel dieser 2,5 Milliarden Euro letztendlich für neue
Beratungsstrukturen verwendet wird und wie viel unmittelbar beim Pflegebedürftigen ankommt. Wir als Union
werden uns in diesen weiteren Beratungen dafür stark
machen, dass möglichst jeder Euro und jeder Cent direkt
bei dem pflegebedürftigen Menschen und nicht auf irgendwelchen Verwaltungsetagen ankommt, auf denen
sie für die Menschen nur wenig hilfreich sind.
({7})
Ich bedanke mich sehr für die Aufmerksamkeit.
({8})
Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/7439, 16/7486, 16/7136, 16/7472
und 16/7491 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 34 sowie den
Zusatzpunkt 12 auf:
34 Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgitt
Bender, Elisabeth Scharfenberg, Dr. Harald Terpe,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Präventionsgesetz auf den Weg bringen - Primärprävention umfassend stärken
- Drucksache 16/7284 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Gesundheitsförderung und Prävention als gesamtgesellschaftliche Aufgaben stärken - Gesellschaftliche Teilhabe für alle ermöglichen
- Drucksache 16/7471 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann werden
wir so verfahren.
Ich eröffne nun die Aussprache und erteile als erster
Rednerin der Kollegin Birgitt Bender von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir
bleiben bei der Gesundheitspolitik. Es sieht auf den ersten Blick so aus, als käme in die Prävention richtig
Bewegung hinein. Wenn man sich dann aber den Referentenentwurf aus dem Bundesgesundheitsministerium
anschaut, dann kann man nur frei nach Loriot fragen: Ja,
wo laufen Sie denn, ja, wo laufen Sie denn hin, mein
Gott?
Kaum ist die Gesundheitsministerin mit diesem Projekt Präventionsgesetz gestartet, wird sie von der Union
ausgebremst und galoppiert zurück. Man kann auch sagen: Sie muss sich seitwärts in die Büsche schlagen.
Wenn man sich das ansieht, erkennt man: Die Präventionsgesetzverhinderungsstrategie, auf die Sie so stolz
sind, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der
Union, zeigt erste Erfolge. Der Gesetzentwurf ist ein
Flickenteppich, der in kein Zimmer passt.
Von unkoordinierten Früherkennungsuntersuchungen
bis hin zu Wanderaktivitäten kann so ziemlich alles unter
dem Label „Prävention“ verbucht werden. Da frage ich
doch, wo eigentlich die politische Zielsetzung geblieben
ist. Wandern auf Kosten der Sozialversicherungsträger,
Kantinenessen zulasten der gesetzlichen Krankenkassen - das ist absurd.
({0})
Die Union sagt, sie sei bemüht, keine überflüssigen
Doppelstrukturen aufzubauen. Die ursprünglich vorgesehene Präventionsstiftung ist passé. Was haben wir stattdessen? Einen abgespeckten Präventionsrat, der GesundBirgitt Bender
heitsziele verabschieden darf, die es auf Bundesebene
ohnehin schon gibt. Eine effiziente Gestaltung des Gesundheitswesens sieht anders aus.
({1})
Die Gesundheitsministerin will den Bundesländern
Landespräventionsräte spendieren. Sie sollen über die
Vergabe der Finanzmittel entscheiden. Das freut zweifellos die Bundesländer.
({2})
Die Unionsfraktion ist aber immer noch nicht zufrieden.
Sie pfeift die Unionsländer zurück, bringt sie auf Linie
und arbeitet stringent an einer konzertierten Verweigerungshaltung.
Was sehen wir im Gesetz? Aufklärungskampagnen
sollen gefördert werden. Die dem Bundesgesundheitsministerium unterstellte Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung wird jedoch in dem Gesetz in keiner
Weise berücksichtigt.
({3})
Dabei ist es gerade die BZgA, die über langjährige Erfahrungen im Umgang mit Präventionskampagnen verfügt. Erinnert sei nur an die bekannte Kampagne „Gib
Aids keine Chance“, die als besonders gelungenes Beispiel einer Präventionskampagne gilt.
({4})
So muss man sagen: Die Vorschläge, die hier auf dem
Tisch liegen, riechen eher nach symbolischer Präventionspolitik. Ich finde - wir haben in der Debatte gerade
eben ein Beispiel dafür gesehen -, dass gesundheitspolitische Luftnummern von der Großen Koalition bereits
ausreichend produziert wurden.
Es ist der Regierung - trotz großspuriger Ankündigung - auch nicht gelungen, die Arbeitslosenversicherung einzubinden. Dabei ist längst klar: Arbeitslose haben einen besonderen Bedarf an Präventionsangeboten.
({5})
Die private Krankenversicherung, Frau Kollegin
Widmann-Mauz, hat sich mit einer Sonderabgabe freigekauft. Auch das kennen wir schon. Der gesundheitspolitische Ablasshandel boomt - jetzt erstmals im Kontext
der Prävention.
Die von der Bundesregierung in Aussicht gestellten
Mittel in Höhe von 350 Millionen Euro sind nicht ausreichend. Bevor Sie etwas dazwischenrufen: Ich weiß,
dass wir zu rot-grünen Zeiten sogar noch etwas weniger
eingeplant hatten, aber Sie sind heute in einer anderen
Finanzsituation. Ich finde, dass man heute sehr wohl darüber reden kann und muss, dass auch Steuermittel für
die Prävention genutzt werden müssen. Man sollte dann
höher einsteigen.
({6})
Vor allem sollte man vorsehen, dass diese Mittel allmählich ansteigen.
Ich nenne einmal einen Vergleich. Im Gesundheitswesen werden pro Jahr circa 250 Milliarden Euro verausgabt. Die Bundesregierung rühmt sich, 0,14 Prozent aller
Ausgaben für die Gesundheit in die Prävention zu investieren. Wie gesagt, Steuermittel sind nicht einmal vorgesehen.
Deswegen kann ich nur sagen, dass wir Grüne Ihnen
das als Aufgabe geben. Wir brauchen ein Präventionsgesetz, das seinen Namen verdient. Dazu gehört ein
bundesweites Entscheidungsgremium, das tatsächlich
Finanzverantwortung hat. Das muss keine Stiftung sein,
aber es muss jemanden geben, der steuert und lenkt. Wir
brauchen realistische Investitionen. 500 Millionen Euro
- ein Drittel davon Steuermittel - wären ein guter Ausgangspunkt. Wir brauchen echte Präventionskampagnen,
in die Bund, Länder und Kommunen eingebunden werden und die mit konkreten Maßnahmen vernetzt werden.
Ein Wettbewerb um mehr Zweckmäßigkeit, Qualität und
Wirksamkeit in der Prävention ist notwendig.
Wir brauchen keine halbherzigen Aktionspläne und
Kampagnen. Deswegen sollten Sie sich an den Vorarbeiten aus der letzten Legislaturperiode orientieren. Dieser
Gesetzentwurf folgt leider dem altbekannten gesundheitspolitischen Motto dieser Koalition: Viel Lärm um
fast nichts. So laufen Sie jedenfalls nicht in die richtige
Präventionsrichtung.
({7})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun das Wort der
Kollege Hermann-Josef Scharf.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Gesundheit hat in unserer Gesellschaft einen hohen Wert. Im
Bewusstsein vieler Menschen ist sie eines der kostbarsten Güter. Dennoch hat der Präventionsgedanke, die Vermeidung von Krankheiten durch eine gesunde Lebensweise, nicht die Bedeutung, die er verdient. Die Zahl der
chronisch erkrankten Menschen nimmt zu. Jeder vierte
Bürger hat Herz-Kreislauf-Probleme, Millionen Bürger
klagen über Rückenschmerzen.
Besonders beunruhigend ist, dass viele Kinder und
Jugendliche bereits heute Alterskrankheiten wie Herzschwäche und Diabetes haben, weil sie sich falsch ernähren oder kaum noch bewegen. Es ist festzustellen,
dass sich selbstbewusste, informierte und eigenverantwortliche Bürger in Fragen der Gesundheit eher passiv
verhalten.
Gleichwohl gibt es bereits heute im Bereich der Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention und der Gesundheitsförderung zahlreiche Angebote und Aktivitäten, die
von der Bevölkerung gut angenommen werden. Ich kann
hier nur stellvertretend einige Beispiele nennen. Das Bonusheft für den regelmäßigen Zahnarztbesuch fördert die
Früherkennung und hilft im wahrsten Sinne, Geld zu
sparen.
({0})
Auch die Gruppenprophylaxe für Kinder und Jugendliche in Kindergärten und Schulen ist in allen Bundesländern fest etabliert. Die Impfbereitschaft ist bei uns
vergleichsweise hoch. Seit der Gesundheitsreform haben
nun auch alle gesetzlich Versicherten einen Anspruch
auf die von der Ständigen Impfkommission empfohlenen
Leistungen. Bei unseren jüngsten Bundesbürgern stellen
wir leider einen erheblichen Nachholbedarf fest. Hier
müssen wir wieder stärker den Schutz vor einer lebensbedrohlichen Krankheit gegenüber möglichen Nebenwirkungen kommunizieren.
Ebenso besteht wieder intensiver Aufklärungsbedarf
bei der Aidsprävention. Das gefährliche Virus hat seinen
Schrecken verloren, und wir verzeichnen einen erneuten
Anstieg der Zahl von Neuinfizierten. In diesem Bereich
müssen wir alle wieder mehr tun.
Die betriebliche Gesundheitsförderung ist ein gutes
Beispiel dafür, wie wir Menschen durch präventive
Maßnahmen in ihrem täglichen Lebensumfeld erreichen.
Die zum Teil sehr gute Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und verschiedenen Sozialversicherungsträgern wollen wir als CDU/CSU-Fraktion im Gegensatz
zu dem vorgelegten Referentenentwurf nicht zerschlagen, sondern stärken und weiterentwickeln.
({1})
Wir möchten dieses erfolgreiche Modell auch auf andere außerbetriebliche Settingbereiche wie Kindergärten, Schulen und Pflegeheime ausdehnen. Das soll dann
ähnlich den Vorgaben zur betrieblichen Gesundheitsförderung im SGB V geregelt werden.
Neben diesen Settingmaßnahmen bieten immer mehr
Krankenkassen ihren Versicherten individuelle Ernährungs- und Bewegungsprojekte an und werben für mehr
Gesundheitsbewusstsein. Trotz dieser positiven Entwicklung sehen wir als CDU/CSU-Fraktion die Notwendigkeit, der Prävention einen höheren Stellenwert zu geben. Mit einem Präventionsgesetz möchte meine
Fraktion auf bestehende Präventionsstrukturen aufbauen, diese stärken und besser vernetzen.
({2})
Dazu brauchen wir bundeseinheitliche Präventionsziele, an denen sich die vielfältigen Präventionsmaßnahmen orientieren sollen. Gleichzeitig benötigen wir für
präventive Maßnahmen Qualitätsstandards, eine Qualitätssicherung und deren Evaluierung.
Die Verantwortlichen von Bund, Ländern und Kommunen, die Sozialversicherungsträger, aber auch die
Ärzte und andere Akteure im präventiven Bereich sollen
sich in einem Forum - wir schlagen vor, es „Nationaler
Rat für Prävention“ zu nennen - auf bundeseinheitliche
Ziele und Qualitätsrichtlinien verständigen.
Auf Landesebene wie auch auf kommunaler Ebene
wird die Umsetzung der Ziele mit den zuständigen Akteuren koordiniert werden. Auch hier gibt es bereits
Strukturen wie die Landesarbeitsgemeinschaften, die
diese Aufgabe erfüllen können. In regelmäßigen Abständen wird der Bundesregierung und dem Bundesrat ein
Bericht über die Umsetzung der aufgestellten Ziele vorgelegt.
Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen von Bündnis 90/Die Grünen, auch Ihr Antrag, der dem vorgelegten Referentenentwurf aus dem Bundesministerium für
Gesundheit sehr ähnelt, sieht eine zentrale Geldsammelstelle vor, aus der dann vorbestimmte Maßnahmen finanziert werden sollen. Dies lehnen wir strikt ab.
({3})
Es ist nämlich ein Trugschluss, zu glauben, präventives
Verhalten von Menschen über zentralistisch verordnete
Maßnahmen zu entwickeln.
({4})
Ganz im Gegenteil: Wir brauchen die von mir schon
skizzierten individuellen und vielfältigen Ansätze und
Maßnahmen unterschiedlichster Akteure, um die Menschen auch in ihren sehr vielfältigen und unterschiedlichen Lebenssituationen zu erreichen. Wenn wir es ernst
damit meinen, Prävention als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu begreifen, dann können wir das nicht
nur den Sozialversicherungsträgern überlassen.
({5})
Ich erinnere mich, dass wir vor gut einem Jahr einen
Antrag für mehr Sport und Bewegung in Deutschland
debattiert haben. Vor nicht allzu langer Zeit war die zunehmende Fehlernährung bei Kindern und Jugendlichen
ein Thema in diesem Hohen Hause. Ich meine, da gibt es
noch viel Handlungsbedarf, was beispielsweise den
Sportunterricht an den Schulen oder das Bildungsdefizit
bei Ernährungsfragen von Kindern und Jugendlichen betrifft. Auch beim öffentlichen Gesundheitsdienst gibt es
meines Erachtens in Sachen Prävention noch viel ungenutztes Potenzial.
({6})
Bei den Früherkennungsuntersuchungen für Kinder
ist in den letzten Monaten vieles in Bewegung gekommen. In meinem Heimatland, dem Saarland, haben wir
beispielsweise ein Projekt gestartet, bei dem die Hebammen junge Mütter bei Bedarf und Wunsch auch über die
vorgesehene Zeit von acht Wochen nach der Geburt bis
zu zwei Jahren weiter betreuen können.
({7})
Wir stellen fest, dass dieses Angebot sehr gut angenommen wird, wahrscheinlich weil die Hebamme für viele
Mütter eine besondere Bezugsperson darstellt.
Meine Damen und Herren, Prävention ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die eine verstärkte Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Kommunen erfordert, alle gesellschaftlichen Bereiche betrifft, aber
auch jeden Bürger selbst fordert.
({8})
Deshalb setzen wir uns als CDU/CSU-Fraktion für ein
Präventionsgesetz ein, das auf vorhandene Strukturen
aufbaut, auf umständliche und bürokratische Fondskonstrukte verzichtet und mit dazu beiträgt, in Deutschland
eine breite Präventionskultur zu entwickeln.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({9})
Der nächste Redner ist der Kollege Detlef Parr für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unser
Gesundheitssystem muss ganz schön instabil sein. Nach
Auffassung der Bundesregierung braucht es jetzt ein
viertes Standbein, eine vierte Säule - die Prävention -,
damit der Gabentisch nicht länger wackelt, ein Gabentisch, der aus fremden Taschen finanziert werden soll.
Das ist eine Weihnachtsüberraschung zulasten Dritter, an
der sich jetzt auch noch die Grünen und die Linken beteiligen wollen. Wie spendabel! Mit dem Geld anderer
Leute, nämlich dem Geld der Beitragszahler, lassen sich
gut Wohltaten verteilen.
Man höre und staune: Im Rahmen eines Präventionsgesetzes sollen, so die Grünen, in der Startphase jährlich
500 Millionen Euro - mit einer Steigerungsrate von
10 Prozent in den Folgejahren - verausgabt werden. Die
Linken setzen natürlich noch einen drauf; die haben ja
die Maschine zum Gelddrucken. Zusätzlich zum Start
aus dem Bundeshaushalt sollen in den nächsten vier Jahren jeweils 1 Milliarde Euro an einen Fonds überwiesen
werden, damit anschließend das Geld des Beitragszahlers wieder verteilt werden kann - schön bürokratisch
mit den damit verbundenen Zusatzkosten, als ob wir in
einem Präventionsnotstandsgebiet leben würden.
({0})
In Deutschland herrscht kein Präventionsnotstand.
Zahlreiche Angebote zu unterschiedlichsten Bereichen
der Primär- und Sekundärprävention sowie der Gesundheitsförderung existieren seit geraumer Zeit:
({1})
Die Aufklärungskampagnen, Frau Bender, seitens der
BZgA haben Sie erwähnt. Impfaktionen laufen. Die
zahnmedizinische Kollektiv-, Gruppen- und Individualprophylaxe hat dazu geführt, dass die Zahngesundheit in
unserer Bevölkerung so gut ist wie noch nie.
({2})
Es gibt Bonusmodelle, Vorsorgeuntersuchungen durch
die Krankenkassen sowie Projekte der betrieblichen Gesundheitsförderung. Immer mehr Unternehmen entdecken
deren Bedeutung für das Klima im Unternehmen
- Stichwort: emotionale Gesundheitsförderung - und die
Leistungsfähigkeit der Belegschaften. Weiterhin gibt es
Unterstützung von Selbsthilfegruppen mit finanziellen
Mitteln der gesetzlichen Krankenversicherung, Ernährungsberatung, Bewegungs- und Ernährungsprogramme
in Schulen und Kindergärten sowie kommunale Integrationsprogramme für Migrantinnen und Migranten, und
das alles ohne gesetzliche Zwangsmaßnahmen.
({3})
Die Mitgliederversammlung des Deutschen Olympischen Sportbundes, DOSB, vom vergangenen Wochenende stand unter dem Motto „Sport bewegt“. Millionen
Ehrenamtliche in unseren Vereinen sind auf diesem Weg.
Millionen spielen bereits mit. Wir brauchen keine gesetzliche Volksbeglückung von Staats wegen.
({4})
Prävention, verstanden als aktive Gesundheitsvorsorge,
ist primär eine individuelle Herausforderung. Jeder Einzelne ist dafür verantwortlich, durch eine gesundheitsbewusste Lebensweise der Entstehung von Gesundheitsrisiken vorzubeugen, qualitätsgesicherte Angebote
sachgerecht zu nutzen und bei bereits vorhandenen
Krankheiten durch ein verantwortungsbewusstes Verhalten dazu beizutragen, dass eine Besserung erreicht oder
eine Verschlimmerung vermieden werden kann. Jeder
Einzelne von uns hat zudem eine Vorbildfunktion für unsere Kinder.
Es ist allerdings eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die Bedeutung von Prävention und Gesundheitsförderung zu verdeutlichen.
({5})
Wir müssen zielgerichteter die Menschen, die von sich
aus, ohne Hilfe, nicht zu einem gesundheitsbewussten
Leben in der Lage sind, unterstützen.
({6})
Frau Bender, die Finanzierung darf deshalb nicht alleine
auf die Kranken- bzw. die Sozialversicherung zentriert
werden. Bereits vorhandene Einrichtungen auf den Ebenen des Bundes, der Länder, der Kommunen sowie der
Sozialversicherung und der Heilberufe müssen jeweils
für sich und ihren Verantwortungsbereich ihre Aufgaben
ohne staatliche Eingriffe weiterhin wahrnehmen und
weiterentwickeln dürfen. Sie allein bleiben für die einzelnen Präventionsbereiche zuständig und für die Finanzierung verantwortlich. Bewährte Kooperationen zum
Beispiel zwischen Sportverbänden, Vereinen und Krankenkassen müssen uneingeschränkt weitergeführt werden. Sie dürfen nicht neuen, übergeordneten Steuerungen zum Opfer fallen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch Folgendes herausstellen: Das Arzt-Patienten-Verhältnis ist von besonderem Vertrauen geprägt und spielt bei künftigen Überlegungen eine wichtige Rolle. Die hier vorhandenen
Kompetenzen und Möglichkeiten müssen wir optimal
nutzen und zielgerichtet ausbauen, weil Verhaltensänderungen unser Ziel sind, weil ein breites öffentliches Bewusstsein entstehen muss, dass Sport und Bewegung sowie eine angemessene Ernährung in Einklang stehen
müssen und wie selbstverständlich zu unserem Alltag
gehören sollten. Voraussetzung ist ein Ausbau der „sprechenden“ Medizin. Diese müssen wir dann aber auch
entsprechend honorieren.
Statt eine Euro-Umverteilungsmaschinerie in Gang zu
setzen, lassen sie uns die vorhandenen Ressourcen, die
begrenzt sind, bei allen Beteiligten auf die Verhinderung
von vermeidbaren, besonders belastenden und teuren
Krankheiten, auf Kinder und Jugendliche sowie auf sozial benachteiligte Gruppen konzentrieren. Unsere Gesellschaft muss - Frau Bender, darüber müssten wir uns
eigentlich einig sein - mehr von der Hilfe zur Selbsthilfe
als von staatlich verordneten Programmen leben. Alle
Staatsgläubigen in diesem Hause sollten sich an die
Worte erinnern: Wenn du eine helfende Hand suchst, du
findest sie zunächst am Ende deines eigenen Armes.
Danke fürs Zuhören.
({7})
Für die SPD-Fraktion hat nun das Wort der Kollege
Peter Friedrich.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Parr, Ihre Rede war zweigeteilt. Sie haben
zuerst erklärt, welche Maßnahmen im Hinblick auf Koordinierung, Zielbindung und Vereinheitlichung unnötig
sind. Dann haben Sie auf die Defizite und die Stellen
aufmerksam gemacht, an denen dringend gegengesteuert
werden müsste. Das alles passt nicht zusammen. Sie haben die Gruppenprophylaxe gelobt. Dem stimme ich
ausdrücklich zu. Dahinter steht aber eine Struktur, die
weitestgehend dem entspricht, was nun zur Debatte
steht.
({0})
Gelder sollen konzentriert werden. In der Prävention soll
einheitlich und gemeinsam gehandelt werden.
({1})
Nicht jeder darf machen, was er will. Vielmehr geht es
um Zusammenarbeit und Kooperation. In diesem Bereich gibt es auch steuernde Elemente. Ganz so freiwillig
ist es wohlgemerkt nicht; denn auch hier gibt es entsprechende gesetzliche Regelungen. Wenn Sie also die Gruppenprophylaxe loben, müssten Sie eigentlich mit den zur
Diskussion stehenden Vorschlägen sehr zufrieden sein
und sie unterstützen.
Die einen sagen: Ich weiß gar nicht, was ihr habt. Es
läuft doch alles wunderbar. Es gibt unendlich viele Präventionsbemühungen und großes ehrenamtliches Engagement vor Ort. Mehr bedarf es nicht. - Es ist richtig,
dass es das gibt. Wir sind stolz darauf und denjenigen
dankbar, die sich in diesem Bereich ehrenamtlich engagieren. Sie leisten einen großen Beitrag zur Gesunderhaltung der deutschen Bevölkerung.
Kollege Friedrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Dr. Schily?
In Anbetracht der Tagesordnung und der Tatsache,
dass der Kollege Gysi später noch sprechen wird, verzichte ich im Hinblick auf die anstehende Heimreise der
Kolleginnen und Kollegen darauf. Es ist wohl nicht das
letzte Mal, dass wir über dieses Thema diskutieren.
({0})
- Ich bin stets darum bemüht, Herr Parr. Aber Sie müssen sich auch verständlich ausdrücken.
Auf der anderen Seite hilft es nichts, alles zu loben
und zu sagen: Weil es so gut läuft, bedarf es keiner Koordinierung der Zielvorgaben. - Ich glaube, beides
bringt nichts.
Prävention ist aus Sicht der SPD die zentrale Zukunftsaufgabe des deutschen Gesundheitswesens, wenn
wir der Anforderung, nachhaltige Politik zu betreiben,
gerecht werden wollen. Ich glaube, dass die immer wieder aufbrandende Diskussion darüber, ob man ein kapitalgedecktes oder ein umlagefinanziertes System bevorzugt, letzten Endes den Blick auf die zentralen
Herausforderungen an die Zukunftsfähigkeit des deutschen Gesundheitswesens verstellt.
Wenn wir jedem Menschen dauerhaft den Zugang zu
hochwertiger Medizin auf dem neuesten Wissensstand
bieten wollen, dann müssen wir - gerade in einer älter
werdenden Gesellschaft - dafür sorgen, dass immer
mehr Menschen möglichst lange gesund sind, damit immer weniger Menschen diesen Zugang in Anspruch nehmen müssen. Prävention bedeutet, Krankheit zu vermeiden, Krankheitsschwere zu verringern, Krankheitsdauer
zu verkürzen. Besonders wichtig ist: Prävention bedeutet
für den Menschen, der präventiv tätig ist, also für seinen
Körper, für seine Gesundheit etwas tut, auch einen Zugewinn an Lebensqualität.
Wir haben in der Großen Koalition in der Tat noch einen sehr großen Diskussionsbedarf. Das haben Sie an
den Redebeiträgen schon gemerkt. Ich dachte eigentlich,
wir sprechen über die vorliegenden Anträge. Frau
Bender hat sich lieber an dem Referentenentwurf abgearbeitet. Lassen Sie mich Folgendes sagen: Ich finde
schon, dass die Fantasie, die man für die vorliegenden
Anträge aufgebracht hat, sich im Wesentlichen in dem
erschöpft, was in der letzten Legislatur auf den Weg gebracht worden ist. Das Einzige, was dem hinzugefügt
wird, ist, dass Sie wollen, dass mehr Geld ausgegeben
wird. Bündnis 90/Die Grünen möchte, dass 500 Millionen Euro ausgegeben werden. Die Linke verlangt - als
Ausdruck der nach unten offenen Richterskala der Seriosität -,
({1})
dass sogar 1 Milliarde Euro mehr zur Verfügung gestellt
wird; dieses Geld soll an einen Fonds überwiesen werden. Eines finde ich toll: Was den Sprachgebrauch angeht, gleichen Sie sich der Gesundheitsreform an: Sie
selber fordern die Einrichtung von Fonds. Das ist ein bemerkenswerter Lernfortschritt aufseiten der Linken.
Wir müssen uns mit der Frage beschäftigen - da gebe
ich dem Kollegen Scharf recht -, wie wir dafür sorgen
können, dass auf den schon vorhandenen Anstrengungen
aufgebaut wird und dass wir tatsächlich zu einem einheitlichen Vorgehen finden. Es gibt eine große Zahl an
Präventionsanstrengungen. Das Problem ist nur - wir
müssen doch ehrlich miteinander umgehen -: Wir erreichen heute im Wesentlichen diejenigen, die ohnehin ein
hohes Gesundheitsbewusstsein haben, die ohnehin eine
hohe Affinität zu Prävention haben.
({2})
Momentan wird Prävention seitens der Krankenkassen
sehr stark dafür eingesetzt, Menschen, die ohnehin aktiv
sind, ein Zuckerle anzubieten. Von Prävention profitieren eben nicht diejenigen, die sie am meisten brauchen.
Dass sich das ändert, das müssen wir erreichen.
({3})
Ich füge ganz bewusst hinzu: Mit Blick auf einige
Auswüchse müssen wir Präventionsleistungen davon befreien, ein Nischendasein zu führen und Marketinginstrumente der Krankenkassen zu sein. Es kann nicht sein,
dass man denjenigen, die ohnehin aktiv sind - sozusagen
den Besten der Besten, den freiwillig Versicherten -,
noch eine Dampferfahrt anbietet, während für diejenigen, die Prävention am dringendsten brauchen - seien es
sozial Schwache, seien es Menschen mit einem Migrationshintergrund, seien es Arbeitslose etc. -, nichts gemacht wird.
({4})
Diesen Zustand müssen wir beenden.
({5})
Deswegen wollen wir auf der nationalen Ebene eindeutige Präventionsziele formulieren, mit denen wir uns
genau mit diesen Fragen auseinandersetzen können: Wie
können wir erreichen, dass weniger Kinder aus Familien
mit einem niedrigeren sozialen Status an Adipositas erkranken? Wie können wir Rauchentwöhnung fördern?
Wie können wir Arbeitslosen Setting-Ansätze anbieten?
Das alles wird über die nationalen Präventionsziele geleistet werden müssen. Was wir brauchen, ist die Bündelung von Mitteln, die vor Ort eingesetzt werden, damit
wir tatsächlich allen Leistungen anbieten können und
nicht nur derjenigen Klientel, die für die jeweiligen Träger interessant ist.
Schauen wir uns einmal an, welche Expertenberichte
uns vorliegen, in denen besondere Anforderungen behandelt werden! Gestern Mittag wurde hier im Deutschen Bundestag über Kindeswohlgefährdungen debattiert. Im ganzen Haus besteht Konsens darüber, dass ein
Kind das Recht hat, gesund aufzuwachsen. Das heißt
aber nicht nur, es vor Missbrauch, Gewalt oder Verwahrlosung zu schützen, sondern auch, dafür zu sorgen, dass
jedes Kind in diesem Land gleiche Gesundheitschancen
hat.
({6})
In der KiGGS-Studie wird ein eindeutiger Zusammenhang zwischen sozialem Status, Bildungsstatus und
Gesundheit hergestellt. Als Menschen mit sozialer Verantwortung dürfen wir alle doch nicht zulassen, dass die
Lotterie der Natur, also die Familie, in die man hineingeboren wird, über Lebenserwartung und gesundheitliche
Zukunftschancen entscheidet. Wir brauchen ein Präventionsgesetz, damit diese soziale Schere nicht weiter auseinander geht.
Ein anderes Handlungsfeld. Wir haben in dieser Woche im Ausschuss das Gutachten des Sachverständigenrats behandelt. Schauen Sie doch einmal nach, was darin
zum Thema Arbeitslose und dazu, was dort geschehen
muss, steht! Sie werden erkennen: Es funktioniert nur
über Setting-Maßnahmen. Nur über solche Maßnahmen
schafft man es, die komplette Lebenswelt abzubilden,
psychische wie somatische Erkrankungen gemeinsam,
das heißt über eine große Bandbreite, anzugehen.
Einer der Punkte, die wir noch diskutieren, auch in
der Großen Koalition, auch zwischen SPD-Fraktion und
Ministerium, ist: Wie bekommen wir alle Träger, auch
die Bundesagentur für Arbeit, mit hinein? Wir als SPDFraktion werden auf keinen Fall zulassen, dass jeder Träger weiterhin einfach vor sich hin wurstelt.
({7})
Wir wollen einheitliche Präventionsziele in einer definierten Qualität, die die Krankenkassen, gesetzliche wie
private, die Rentenversicherung, die Arbeitsagentur und
die Unfallversicherung gemeinschaftlich und abgestimmt zu Präventionsleistungen bringen. Wer SettingMaßnahmen will, muss auch gemeinschaftliche Veranlagung von Mitteln wollen. Anders ist das nicht zu haben.
({8})
Wir werden aber auch abwägen müssen: Wie viel
können wir über das Gesetz schon vorstrukturieren? Wie
schaffen wir es, vor Ort noch so viel Bewegungsfreiheit
zu erhalten, dass die jeweiligen Träger tatsächlich arbeiten können?
({9})
Deswegen wollen wir, dass auf Landesebene entschieden und gesteuert werden kann, wobei Bund, Länder und
Kommunen beteiligt werden und eben nicht, wie in den
Anträgen jetzt vorgesehen ist, alles von der Bundesebene einheitlich nach unten angeordnet wird, am besten
noch die jeweilige Zahlung.
({10})
Mit dem Referentenentwurf haben wir, glaube ich,
eine gute Diskussionsgrundlage. Wir als SPD wollen
noch eine ganze Reihe von Punkten hineinbringen. Wir
werden nicht darum herumkommen, zu sagen: Wir wollen tatsächlich auch Mittel zusammenbringen.
In diesem Sinne freue ich mich auf die Debatte im
nächsten Jahr. Ich wünsche Ihnen allen eine schöne
Weihnacht. Achten Sie am Festtagstisch ein bisschen auf
Ihre Gesundheit!
({11})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Martina Bunge für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Alle Jahre wieder kommt nicht nur Weihnachten, sondern auch eine Debatte über das Präventionsgesetz.
Aber mal im Ernst: Der größte Weihnachtswunsch der
Deutschen ist in diesem Jahr Gesundheit und Wohlbefinden. Das ergab eine Umfrage, pikanterweise der Nordwestdeutschen Klassenlotterie. Dieser Wunsch ist aber
nicht mit Geld zu erfüllen. Die Bundesregierung hätte
dies allerdings tun können, und zwar - endlich - mit der
offiziellen Vorlage des Präventionsgesetzes. Stattdessen
gibt es auch hierüber Streit zwischen den Koalitionsfraktionen. So sahen sich die Oppositionsfraktionen zu eigenen Anträgen genötigt. Auch die Linke hat in dieser Woche ihre Vorstellungen auf den Tisch des Hauses gelegt.
Ich denke, dass das schon eine groteske Situation ist
- wir haben es eben wieder gemerkt -: Über alle Parteiund Fraktionsgrenzen hinweg, überall im Land, in allen
Debatten sind wir uns über die Erfordernisse einig, aber
es passiert nichts - seit Jahren. Warum? Ich denke, an
dieser Stelle bündeln sich alle Umstände, die einem vernünftigen präventiven Gesundheitssystem in der Bundesrepublik im Wege stehen.
Erstens. Im Wege steht meines Erachtens - das ist
auch ein Grund - ein Lobbyismus, der zu teure Arzneimittel vor Gesundheitsförderung und Prävention sowie
vor alternative Methoden stellt.
Zweitens. Es wird gesagt - das haben wir gerade von
der FDP gehört, dass wir eine weitverzweigte Sozialgesetzgebung haben, die Prävention einschließt; wir
bräuchten also nichts zu tun.
Drittens ist ein Politikstil zu nennen - daher wieder
der Streit -, der die Parteiräson vor die Fachlichkeit
stellt. Das Ergebnis: Wir haben wieder Stillstand.
Ich vermute - das ist nicht erst seit heute so -, dass
die Koalition nicht in der Lage ist, ein Präventionsgesetz
zustande zu bringen, auch wenn es jetzt einen unabgestimmten Referentenentwurf gibt.
Fortschrittliche Gesundheitspolitikerinnen, -politiker
und -akteure sowie viele andere wissen, was nötig ist:
Gesundheitsförderung ein Leben lang. An dieser Stelle
brauchen wir wirklich einen Quantensprung. Deshalb
schlagen wir vor, zu Beginn 1 Milliarde Euro aus dem
Haushalt für einen Fonds zur Verfügung zu stellen. Ein
Fonds ist nicht a priori schlecht, Herr Friedrich; das sagen auch wir. Die Frage ist vielmehr, wie er ausgestaltet
wird. Das ist der Knackpunkt.
Gesundheit ist - das wissen wir alle - die grundlegende Voraussetzung für die Teilhabe eines jeden, einer
jeden. Die Förderung der Gesundheit hat damit de facto
Verfassungsrang. Es ist ein Gebot der Menschlichkeit,
hier etwas zu tun. Aber die Politik versagt.
Eine Binsenweisheit ist inzwischen, dass die soziale
Lage den entscheidendsten Einfluss auf die Gesundheit
hat. Wer arm ist, ist häufiger krank, stirbt früher. Die
Einflüsse des Arbeitsmarktes, der Einkommensverteilung, der Bildungspolitik sind zugestandenermaßen so
groß, dass Prävention allenfalls Gegenakzente setzen
kann. Aber dann beschließen wir doch bitte schön zumindest dieses Präventionsgesetz, auch wenn darüber
hinaus eine veränderte, gesundheitsfördernde Gesamtpolitik gefragt wäre.
({0})
Aber auf die Realisierung einer solchen Politik haben
wir bei diesen Konstellationen letztlich keine Hoffnung.
Wir hören Berichte von zu dicken, bewegungsfaulen
und ungelenken Kindern. Wir wissen um die ernährungsbedingten Ursachen der Volkskrankheiten, die sich
immer mehr ausbreiten. Die WHO sieht die seelische
Gesundheit in Gefahr und prophezeit, dass psychische
Erkrankungen in Zukunft den größten Anteil haben werden. Das alles schreit doch nach flächendeckender und
dauerhafter Gesundheitsförderung und Prävention. Sie
muss endlich eine feste Säule im Gesundheitssystem
werden. Ich denke, statt Aktionismus gilt hier, endlich
etwas zu tun. Ein Appell an die Eigenverantwortung
reicht nicht. Das geht nur über ein entsprechendes Gesetz.
Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen schöne Weihnachten.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/7284 und 16/7471 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 35 a und 35 b auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Menschenrechte in der ASEAN-Staatengemeinschaft stärken
- Drucksache 16/7490 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0})
Auswärtiger Ausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({1}), Marieluise Beck ({2}),
Dr. Uschi Eid, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Menschenrechte der Uiguren schützen
- Drucksache 16/7411 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ich bitte diejenigen, die aus unerfindlichen Gründen
nicht mehr an dieser Debatte teilhaben wollen, trotz alledem die notwendige Ruhe herzustellen, damit die Kolleginnen und Kollegen, die an dieser Debatte teilnehmen,
verstanden werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Christel Riemann-Hanewinckel für die SPD-Fraktion.
({4})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der 10. Dezember ist der Tag der Menschenrechte. Vor 59 Jahren wurde die Allgemeine Erklärung
der Menschenrechte von den Vereinten Nationen verabschiedet. Fast 60 Jahre nach dieser Erklärung ist es weltweit um die Menschenrechte trotzdem noch immer nicht
gut bestellt.
Die Koalition bringt heute einen Antrag ein, der sich
mit der Situation in Südostasien beschäftigt. Vor gut drei
Wochen - Sie erinnern sich vielleicht - hat die Öffentlichkeit dorthin geschaut und sehr gespannt die Entwicklungen während des letzten ASEAN-Gipfels beobachtet.
Der Verband südostasiatischer Nationen ist vor 40 Jahren während des Kalten Krieges als Bollwerk gegen den
Kommunismus in dieser Region gegründet worden.
Aber in dieser Rolle hat ASEAN längst ausgedient.
ASEAN hat sich verändert und - so sagen es die Staaten
selber - will sich weiterentwickeln.
Die EU ist den ASEAN-Staaten in vielem ein Vorbild.
Ihren Integrationsgrad allerdings strebt ASEAN nicht
an. Das ist auch sehr schwierig; denn die kulturellen,
wirtschaftlichen und politischen Unterschiede der Mitgliedstaaten sind viel zu groß. Länder mit einer relativ
etablierten Demokratie wie die Philippinen wehren sich
heftig dagegen, Souveränität mit einem Militärregime
wie Birma zu teilen und damit in die Nähe solcher diktatorischen Regierungen gerückt zu werden.
Das wohlhabende Malaysia hat nur wenig Interesse,
die Entwicklungskluft zu den wesentlich ärmeren Ländern wie Kambodscha oder Laos durch Umverteilung zu
verringern.
Die ASEAN-Staatengemeinschaft hat auf ihrem letzten Gipfel in Singapur im November 2007 eine Charta
unterzeichnet. Die großen Erwartungen, die in diese
Charta gesetzt wurden, haben sich bisher nicht erfüllt.
Die Charta verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Stärkung
von Demokratie, zu Rechtstaatlichkeit und guter Regierungsführung sowie zur Achtung der Menschenrechte.
Das bedeutet ja gleichzeitig, die Menschenrechte zu
schützen und zu fördern. Schließlich werden in der
Charta verfassungswidrige Regierungswechsel abgelehnt. Das ist ein an sich eindrucksvoller Katalog. Im
gleichen Atemzug aber, wie diese Verpflichtungen beschlossen wurden, wurden sie durch zahlreiche Prinzipien und Verfahrensregeln neutralisiert.
Dazu gehört einmal, dass aus Sicht der ASEAN-Staaten das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates unantastbar ist.
Die Charta sieht dann die Einrichtung einer Menschenrechtskommission vor; welche Befugnisse sie aber
erhalten wird, das bleibt abzuwarten. Denn die Charta
enthält zum Beispiel keine Mechanismen, mit denen gegen Staaten Sanktionen verhängt, sie suspendiert oder
ausgeschlossen werden können, wenn sie gegen die
Charta verstoßen.
Außerdem bleibt es beim Konsensprinzip. Das heißt:
Zehn Staaten, die unterschiedlicher nicht sein könnten,
müssen ihre Entscheidungen einstimmig treffen.
Zu welcher für uns in Deutschland und Europa inakzeptablen Situation das führen kann, hat dann auch
Birma sehr eindrücklich während des Gipfels in Singapur gezeigt. Sie erinnern sich vielleicht: Der UN-Gesandte Gambari sollte über seine jüngsten Vermittlungsergebnisse unterrichten, aber er wurde auf Drängen
Birmas wieder ausgeladen. Die Art und Weise, wie es
der Militärjunta Birmas gelungen ist, ASEAN als durchsetzungsschwach hinzustellen, macht deutlich, dass
diese Charta, die sich zwar gut liest, für die Menschenrechte wenig bewirken wird.
Ob die Charta jemals rechtsgültig werden wird, bleibt
offen, denn für die Ratifizierung gibt es keinerlei Fristen.
Die Philippinen haben große Bedenken geäußert, eine
Ratifizierung vorzunehmen, solange das Militärregime
in Birma keinerlei Bemühungen unternimmt, demokratische Strukturen einzuführen.
Der ASEAN-Staatenverbund steht vor der Herausforderung, die eingebüßte Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. Wenn sie sich wirklich darum bemühen wollen,
dann sollten Deutschland und auch Europa Unterstützung anbieten. Die Staaten in Südostasien, die sich in der
Charta zur Achtung der Menschenrechte verpflichtet haben, werden nur glaubwürdig, wenn sie den beiden
grundlegenden Menschenrechtspakten - dem Zivilpakt
und dem Sozialpakt - beitreten, wenn sie die Todesstrafe
abschaffen, wenn sie rechtsstaatliche Systeme aufbauen,
wenn sie Kinder vor Gewalt und Zwangsarbeit schützen
und nicht zulassen, dass Kindersoldaten rekrutiert werden,
({0})
wenn sie den Frauen zu ihren Rechten verhelfen, indem
sie das Palermo-Protokoll und das Zusatzprotokoll zu
CEDAW unterzeichnen und ratifizieren, wenn sie religiöse und ethnische Minderheiten respektieren und
schützen und wenn sie konsequent gegen Machtmissbrauch und Korruption vorgehen.
Meine Damen und Herren, wir können und müssen
den EU/ASEAN-Dialog nutzen. Dadurch können wir die
Verwirklichung der Menschenrechte in den ASEANStaaten voranbringen.
Ich danke an dieser Stelle den politischen Stiftungen
und Organisationen, die durch ihre Arbeit vor Ort die
Zivilgesellschaft stärken.
({1})
Für das Wachstum jeder Demokratie ist die Zivilgesellschaft als Basis unentbehrlich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss
möchte ich auf die Konsequenzen unserer Birma-Debatte vom 10. Oktober 2007 und unseres damals gemeinsam beschlossenen Antrages hinweisen. Unsere Forderung hatte zur Folge, dass sich die Entscheidungspraxis
im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge geändert
hat
({2})
und Flüchtlinge aus Birma inzwischen nicht mehr ausgewiesen werden.
({3})
Dieser Erfolg des Deutschen Bundestages macht deutlich, dass es sinnvoll und notwendig ist, auch bei scheinbar kleinen Dingen immer wieder sehr genau hinzusehen
und gemeinsam entsprechende Entscheidungen zu treffen.
Ich bin gespannt auf die Debatte im Ausschuss über
unseren Antrag. Vielleicht gelingt es uns - ich habe da
große Hoffnung -, alle davon zu überzeugen, diesem
Antrag zuzustimmen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat der Kollege Florian Toncar für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Menschenrechtsdebatte nach dem Tag der
Menschenrechte ist traditionell eine Aussprache über die
Menschenrechtspolitik im Allgemeinen. So will ich das
auch heute halten. Ich kann Ihnen zusagen, dass wir die
beiden vorliegenden Anträge im Ausschuss mit Wohlwollen mitberaten werden. Darin finden wir viele
Punkte, die wir teilen.
Ich glaube, dass es bitter nötig ist, dass nach dem
Streit der letzten Wochen und Monate über die Menschenrechtspolitik, der über die Parteitage und Medien
ausgetragen worden ist, sich auch der Bundestag einmal
mit der Thematik und dem Streitgegenstand beschäftigt.
Denn es ist kein alltäglicher Vorgang für die Menschenrechtspolitiker, wenn die Kanzlerin und der Vizekanzler
in dieser Frage, vor allen Dingen was die Methoden angeht, nicht einer Meinung sind.
Was hat sich getan? Anders als die rot-grüne Regierung legt die Bundeskanzlerin derzeit in der Außenpolitik ein starkes Gewicht auf die Menschenrechte. Da hat
sie die Unterstützung der FDP.
({0})
Die rot-grüne Bundesregierung wollte China mit Waffen
beliefern. Frau Merkel empfängt den Dalai Lama.
Gerhard Schröder hofierte den russischen Autokraten
Putin. Frau Merkel hält da eine angemessene Distanz
und trifft sich auch mit Regimekritikern.
({1})
Diese deutlichen Zeichen bedeuten schon eine ganze
Menge.
Der Bundesaußenminister kritisiert nun diesen neuen
Stil als Schaufensterpolitik. Er klagt über den Boykott
des Rechtsstaatsdialogs durch die Chinesen. Dazu muss
man sagen: Wenn es so ist, dass für die Chinesen der
Rechtsstaatsdialog eine einseitige Sache ist - quasi ein
Geschenk, ein Zugeständnis an Deutschland -, dann
zeigt dies, dass wir den Sinn und den Zweck dieses Dialoges noch nicht ausreichend vermittelt haben. Wenn die
Chinesen nicht der Meinung sind, dass ihr eigener Staat
von diesem Dialog massiv profitiert, dann sind wir mit
diesem Dialog noch nicht so weit, wie wir es uns eigentlich erhofft haben.
({2})
Der Außenminister sagt, manchmal sei stille Diplomatie gefragt. Damit spricht er etwas Richtiges aus.
Aber im Grunde genommen ist es auch etwas sehr Triviales. Denn natürlich muss man manchmal still vorgehen, wenn man ein gutes Ergebnis erreichen will. Aber
auch stille Diplomatie muss sich an ihren Zielen und Erfolgen messen lassen. Genau das möchte ich, was die
Menschenrechtspolitik des Außenministers angeht, an
dieser Stelle tun.
Man kann das an Äußerlichkeiten festmachen: an der
Präsenz des Ministers in Menschenrechtsdebatten oder in
Ausschüssen. Man kann das auch an einem Managementfehler im Auswärtigen Amt festmachen. Als das Arbeitsprogramm der deutschen EU-Ratspräsidentschaft
erstellt wurde, mussten wir alle relativ entsetzt feststellen, dass das Thema Menschenrechtspolitik zunächst
weggelassen worden ist. Erst zu einem späteren - aber
viel zu späten - Zeitpunkt kam es hinzu. Das alles sind
zwar nur Förmlichkeiten. Aber sie verdeutlichen schon
die Wertschätzung, die dieses Thema erfährt.
Kommen wir nun zum Inhaltlichen. Ausgerechnet
während der deutschen Ratspräsidentschaft wurden
Sanktionen gegen Usbekistan gelockert. Dieser Ausschuss hat sich mit einer Delegation genau angeschaut,
was in diesem Land vor sich geht. Ich glaube, dass es
hinsichtlich der Menschenrechtssituation in Usbekistan
keinerlei Verbesserungen gibt, die es rechtfertigen würden, diese Sanktionen gegen Usbekistan zu lockern. Das
ist aber zweimal in diesem Jahr passiert, beide Male mit
deutscher Unterstützung und einmal sogar während der
deutschen Präsidentschaft. Ich kann keinen Grund erkennen, dass das richtig war.
({3})
Wir haben erleben müssen, dass gegen den fraktionsübergreifenden Willen des Bundestages eine EG-Grundrechteagentur eingesetzt wurde, anstatt den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der nun wahrlich
jeden Cent und mehr personelle und sachliche Ressourcen brauchen könnte, entsprechend auszustatten. Auch
das war nicht nur eine Entscheidung gegen den Willen
des Parlaments, sondern auch gegen die Interessen der
Menschenrechtspolitik gerichtet. Der Europaausschuss
hat es so zum Ausdruck gebracht, Herr Kollege Strässer.
({4})
Vor allem aber fehlt eine Strategie, um einer zentralen
Herausforderung unserer Zeit zu begegnen, nämlich der
neuen gefühlten Machtlosigkeit angesichts bestimmter
ökonomischer Strukturen. Wir sind von Gas- und Öllieferungen aus Russland und manchen zentralasiatischen
Staaten so abhängig, dass wir uns kaum mehr trauen, jedenfalls auf offizieller Ebene, gegenüber Russland und
Zentralasien angemessene Worte zur desolaten Entwicklung in den Bereichen Menschenrechte und Demokratie
zu finden. Altkanzler Gerhard Schröder hat gesagt, dass
diese Abhängigkeit etwas Gutes habe. Wenn man das
hört, fragt man sich wirklich, in welcher Welt er lebt.
Wie kann man eine Woche nach den Wahlen in Russland
sagen, dass es für Europa gut ist, in dieser Abhängigkeit
zu stecken? Ich kann dafür überhaupt keinen nachvollziehbaren Grund erkennen. Das ist vielmehr ein Stück
weit peinlich für die deutsche Außenpolitik, wenn sich
der Altkanzler so äußert.
Natürlich muss Europa wesentlich geschlossener auftreten. Alle Länder haben ihren Beitrag dazu zu leisten,
Deutschland zum Beispiel, was das Thema Gaspipeline
angeht. Dadurch, dass man die Gaspipeline unter der
Ostsee verlaufen lässt, bietet man Russland die Möglichkeit, Gas an bestimmte Länder zu liefern und andere auszuschließen, den Gaspreis in bestimmten Ländern nach
oben zu treiben, um Druck auszuüben, bzw. in anderen
Ländern, die sich wohlgefällig verhalten, zu senken. Ich
glaube, dass wir mit diesem Problem nicht fertig werden,
wenn auf europäischer Ebene weiterhin jedes Land den
eigenen, kurzfristigen Vorteil sucht und wir nicht darauf
achten, dass die langfristigen Interessen der Gemeinschaft gewahrt werden. Für dieses Problem müssen wir
eine Lösung finden. Es wäre Aufgabe des Außenministers, daran zu arbeiten.
({5})
China, das in vielen Teilen der Welt, insbesondere in
Afrika, aktiv ist, stellt eine Herausforderung dar, weil es
all unsere Ansätze in Sachen Menschenrechte und Good
Governance völlig unterläuft. China engagiert sich in
vielen Ländern. Angesichts dessen ist es vergleichsweise
wirkungslos, wenn wir die Einhaltung von Menschenrechten zur Bedingung für unser Engagement machen.
Wir müssen uns um dieses Problem kümmern und China
klarmachen, dass es als größtes Land der Welt, als ein
wirtschaftlich mittlerweile sehr mächtiges Land, eine
Verantwortung für das hat, was im Rest der Welt, auf anderen Erdteilen vor sich geht. Wir müssen China klarmachen, dass es seine eigenen Interessen nicht verfolgen
darf, ohne auf die Verhältnisse in dem entsprechenden
Land zu achten.
Bill Clinton hat unlängst gesagt: Wir müssen die Welt
so gestalten, dass unsere Werte auch dann noch gültig
sind, wenn es Länder gibt, die einflussreicher sind als
wir.
({6})
Das hat ein Amerikaner gesagt, Ex-Präsident des mächtigsten Landes der Welt. Ich glaube, dass er damit die
zentrale Herausforderung, der sich Amerikaner und Europäer stellen müssen, beschrieben hat, und zwar nicht
nur in Sachen Menschenrechte, sondern bezogen auf
eine wertegebundene Politik insgesamt. Ich würde mir
wünschen, dass dieser werteorientierte Ansatz in der gesamten Bundesregierung Wertschätzung erhält.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Erika Steinbach für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich freue mich sehr, dass die Freien Demokraten und die
Opposition insgesamt die Menschenrechtspolitik der
Bundeskanzlerin begrüßt. Das ist ein gutes Zeichen. Ich
sehe das ganz genauso.
({0})
Für Menschenrechtsorganisationen und uns Parlamentarier ist der Internationale Tag der Menschenrechte,
den wir in dieser Woche begangen haben, Anlass, um
über den Tellerrand hinauszuschauen und hinsichtlich
des Standes der Menschenrechte Bilanz zu ziehen. Selten - wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben: eigentlich nie - gibt es dabei Anlass für besonders viel Freude.
Auch wenn in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und allen darauf folgenden Konventionen
hehre Ziele formuliert wurden und viele Staaten das unterschrieben haben, muss man leider konstatieren, dass
Dutzende von Staaten all das ignorieren und die Würde
und die Rechte der Menschen bis heute mit Füßen treten,
was dramatisch ist. Man muss das so deutlich sagen.
Der Schutz von Minderheiten gehört zu den großen
Herausforderungen, wenn es um die weltweite Durchsetzung der Menschenrechte geht. Ich bin davon überzeugt,
dass sich am Umgang eines Landes mit seinen Minderheiten die Qualität der Demokratie zeigt.
({1})
Wie weit viele Minderheiten in der Realität von ihrem
Rechtsanspruch auf Würde entfernt sind, mögen drei
Beispiele illustrieren: die Christen im Irak, die Tibeter
und die Uiguren in China.
Der Krieg im Irak hat in den vergangenen Jahren zur
größten Flüchtlingsbewegung im Nahen Osten seit 1948
geführt. 4,5 Millionen Iraker sind auf der Flucht oder
sind schon vertrieben worden. Von dem aufflammenden
Extremismus ist insbesondere die Minderheit der irakischen Christen betroffen. Das sind die Chaldäer, die
syrisch-orthodoxen Christen, die Assyrer, die Armenier
sowie die griechisch- und die syrisch-unierten Christen.
Mord, Zwangskonversion, Vergewaltigung und Vertreibung gehören dort zum Alltag. Nach Schätzungen christlicher Organisationen hat sich die Zahl der Christen im
Irak seit Beginn des Krieges halbiert.
({2})
Aber nicht nur im Nahen Osten, sondern auch in
China und in den ASEAN-Staaten kommt es immer wieder zu deutlichen Repressionen und Übergriffen gegenüber religiösen und vor allem ethnischen Minderheiten.
Relativ bekannt - nicht zuletzt durch das Treffen der
Bundeskanzlerin mit dem Dalai Lama - ist das Schicksal
der Tibeter. In Deutschland nahezu unbekannt ist dagegen das Schicksal der Uiguren, einer muslimischen Minderheit in der chinesischen Provinz Xinjiang. Ähnlich
wie in Tibet geht die chinesische Zentralregierung auch
in Xinjiang gegen alle Autonomiebestrebungen der
Menschen mit großer Härte vor. Ähnlich wie in Tibet
wird auch hier versucht, die kulturelle Identität der
Uiguren durch die systematische Ansiedlung von HanChinesen strikt zu untergraben.
War im Jahre 1949 nur einer von 15 Bewohnern der
Provinz Xinjiang ein Han-Chinese, so hat sich dieses
Verhältnis bis heute auf eins zu drei reduziert. Infolge
dieser Besiedlungspolitik wurde der Ruf der Uiguren
nach mehr Autonomie lauter; das kann man sehr gut
nachvollziehen. Das Vorgehen gegen diese Volksgruppe
wird von China als Kampf gegen den Terrorismus deklariert, um es zu schönen. Dabei befürwortet nur eine winzig kleine Gruppe der Uiguren die Gewalt als legitimes
Mittel gegen das chinesische Unterdrückungsregime.
Auffällig ist auch, dass die Zahl der zum Tode Verurteilten unter den Uiguren deutlich höher ist als im
Durchschnitt Chinas. Massenverhaftungen sind für diese
Volksgruppe kein seltenes Phänomen. Bei einer solchen
Massenverhaftung wurden im letzten Jahr auf einen
Schlag 16 000 Uiguren verhaftet. Auch die Vorsitzende
des Uigurischen Weltkongresses, Rebiya Kadeer, die bereits mehrfach für den Friedensnobelpreis nominiert
worden ist, hat eine mehrjährige Haftstrafe hinter sich.
Über all das können wir im Ausschuss noch intensiv
diskutieren. - Abschließend eine Bemerkung zu Ihnen,
Herr Kollege Beck: Der Antrag, den die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vorgelegt hat, enthält den Prüfauftrag,
ob die 13 als ungefährlich eingestuften Uiguren, die sich
auf Guantánamo befinden, von Deutschland aufgenommen werden können. Ich bin allerdings der Meinung,
dass das Land, das diese schuldlosen Männer eingesperrt
hat, nämlich die Vereinigten Staaten von Amerika, jetzt
in der Verpflichtung steht, diese in China offensichtlich
gefährdeten Personen bei sich aufzunehmen. Deutschland ist dafür nicht die richtige Adresse.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat der Kollege Michael Leutert für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Kanzlerin wird für ihre Menschenrechtspolitik immer wieder sehr gelobt. Kurz vor dem diesjährigen Tag
der Menschenrechte hat sich nun auch der andere Menschenrechtsexperte der CDU zu Wort gemeldet: Innenminister Schäuble. Ich darf ihn zitieren:
Diejenigen, die sagen, Guantánamo ist nicht die
richtige Lösung, müssen bereit sein, darüber nachzudenken, was die bessere Lösung ist.
Guantánamo ist für den Innenminister also erst einmal
alternativlos. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU, ich muss sagen: Solange Ihr Innenminister
solche Sprüche macht und solange Sie nicht in der Lage
sind, den Innenminister auf die Grundlage des Rechtsstaates zurückzuholen, brauchen Sie einen Antrag wie
den, den Sie heute einbringen, gar nicht erst vorzulegen.
({0})
Die Koalitionsfraktionen haben heute einen Antrag
zur Situation der Menschenrechte in den ASEAN-Staaten vorgelegt; über diesen Antrag werden wir demnächst
noch diskutieren. Dabei handelt es sich im Prinzip um
einen mehr oder weniger detaillierten Bericht über die
Situation der Menschenrechte in den einzelnen ASEANStaaten. Was passiert hier? Sie versuchen, dafür zu sorgen, dass der Bundestag diesen Staaten wieder einmal
mit erhobenem Zeigefinger mitteilt, was sie alles zu tun
haben. An der Stelle, an der Sie etwas tun könnten, tun
Sie aber wieder einmal nichts.
Ich nenne Ihnen nur einmal als Beispiel die Zahl der
Abschiebungen, die in diese Länder im Jahr 2006 stattgefunden haben: Indonesien 3 Abschiebungen, Laos 1,
Malaysia 24, Philippinen 41, Singapur 3, Thailand 32
und Vietnam 938. Das sind die Abschiebungen, die aus
Deutschland in die Staaten erfolgt sind, die Sie dafür
geißeln, dass sie die Menschenrechte so dramatisch verletzen. Die Menschenrechtslage ist dort natürlich dramatisch, aber wir sollten, wenn dem so ist, bei uns anfangen. Reden Sie mit Ihrem Innenminister, damit für diese
Länder ein Abschiebestopp durchgesetzt werden kann.
Das wäre eine Maßnahme, die im Sinne der Menschenrechte wäre.
({1})
Stichwort Glaubwürdigkeit. Es ist richtig, dass wir
insbesondere auch China dafür kritisieren, dass dort ein
Überwachungssystem, insbesondere was die Internetund Telefonüberwachung betrifft, installiert wird, was
eindeutig gegen Menschen- und Bürgerrechte verstößt.
Solange wir aber Gesetze wie das Telekommunikationsüberwachungsgesetz beschließen,
({2})
nehmen wir uns die moralische Grundlage, um diese
Länder zu kritisieren. Wir machen uns mit dieser Politik
unglaubwürdig.
({3})
- Mein Freund ist Chávez nicht. - So eine unglaubwürdige Politik kann meine Fraktion einfach nicht mittragen.
({4})
Wir müssen uns einmal prinzipiell darüber unterhalten - zumindest ich habe das Gefühl, dass wir in den
letzten zwei Jahren aneinander vorbeigeredet haben -,
was wir unter Menschenrechtspolitik verstehen. Verstehen wir darunter, die Welt zu betrachten und den Zeigefinger zu erheben, oder verstehen wir darunter, dass wir
in den Bereichen etwas tun, in denen wir etwas tun können? Der Tag der Menschenrechte wäre Anlass genug,
Selbstkritik zu üben. Es gibt im Übrigen in der Menschenrechtserklärung auch den Art. 23. Ich habe ihn
schon einmal zitiert, ich tue es gerne wieder. Er behandelt das Recht auf Arbeit. In Abs. 2 steht in diesem Artikel klar und deutlich:
Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichen
Lohn für gleiche Arbeit.
Heute wurde der Postmindestlohn beschlossen. Dieser
Beschluss verstößt eindeutig gegen den zitierten Artikel,
weil nämlich ostdeutsche Mitarbeiter der Post in Zukunft
2 Euro an Mindestlohn weniger bekommen werden als
westdeutsche. Es ist für uns völlig unklar, warum diese
Differenzierung erfolgt.
({5})
18 Jahre nach der Wende haben Sie es noch nicht geschafft, dafür zu sorgen, dass in Ost und West gleiche
Löhne gezahlt werden.
Nun einige Worte zum Antrag der Grünen. Viele
Dinge, die darin stehen, sind richtig. Aber auch in diesem Antrag - das habe ich schon einmal gesagt - werden
die USA als Kronzeuge für die Menschenrechte herangezogen. Solange die USA, die das Lager in
Guantánamo betreiben, als Kronzeuge für Menschenrechte herangezogen werden, so lange können wir diesen
Antrag nicht unterstützen. Dadurch wird der Antrag entwertet. Das ist unglaublich und unerträglich, es tut mir
leid.
Der nächste Punkt: Wenn China oder Russland dafür
kritisiert werden, dass sie im sogenannten Kampf gegen
den Terrorismus ethnische Minderheiten unterdrücken,
dann ist diese Kritik richtig. Natürlich liegt die Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen bei dem Staat,
der die Menschenrechtsverletzungen begeht. Aber letztendlich hat doch der Westen die Ideologie zur Legitimation dieser Unterdrückung geliefert. Die Einschränkung
der Bürger- und Menschenrechte in Guantánamo wird
mit dem Kampf gegen den Terrorismus legitimiert. Der
Bruch des Völkerrechts beim Überfall auf den Irak
wurde ebenfalls mit dem Kampf gegen den Terrorismus
legitimiert. Deshalb brauchen wir uns nicht zu wundern,
wenn China und Russland die Einladung, die wir damit
ausgesprochen haben, annehmen und ihre Maßnahmen
mit dieser Ideologie legitimieren.
Zuletzt noch ein Wort an die Fraktion der Grünen. Sie
sprechen im Zusammenhang mit den Uiguren von Abschiebestopp. Das ist richtig, und das wird von meiner
Fraktion unterstützt. Aber meine Frage ist: Warum gab
es diesen Abschiebestopp nicht unter Rot-Grün? Warum
haben Sie ihn nicht durchgesetzt, als Sie es konnten? Ich
denke, das ist ein Antrag zur Vergangenheitsbewältigung
der Grünen. Deshalb gehört er nicht in den Bundestag,
sondern in die Parteigremien der Grünen. Dort muss die
Vergangenheitsbewältigung stattfinden.
Danke.
({6})
Das Wort hat der Kollege Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nur einen Satz kurz zu dem vorherigen Redner, weil ich eigentlich zu dem Tag der Menschenrechte und den Anträgen sprechen will. Wer bei jeder Menschenrechtsdebatte
am Ende bei Hartz IV und beim Mindestlohn landet,
({0})
dem muss ich sagen: Wer Sozialpolitik, über die wir
durchaus reden sollen, mit Regimen in Zusammenhang
bringt, die Menschen systematisch foltern und umbringen, weil es Terrorregime sind, der hat die Menschenrechtsfrage bis heute nicht verstanden.
({1})
Wie weit es bei dem Thema Menschenrechte mit Ihrem
Engagement in dieser Wahlperiode her ist, sieht man an
der Fülle der Anträge, die aus der Feder Ihrer Fraktion
zu diesem Thema stammen. Ehrlich gesagt: Mir ist keiner erinnerlich.
Jetzt aber zur Sache; denn die Menschenrechtsdiskussion ist meiner Meinung nach zu wichtig, als dass man
sie auf diese Weise für die innenpolitische Debatte instrumentalisieren darf.
({2})
Man muss eine konsistente Menschenrechtspolitik betreiben. Ich werde Ihnen jetzt zeigen, dass das auch die
Essenz dessen ist, was wir mit unseren Anträgen vorschlagen. Dieses Hohe Haus hat Guantánamo und die
Todesstrafe in den USA mehrmals interfraktionell in
Form von Entschließungsanträgen gerügt.
({3})
Deshalb sollte man nicht so tun, als würden wir nur nach
China, Russland oder in bestimmte Regionen schauen.
Wir haben uns im Hinblick auf Konsistenz und Glaubwürdigkeit keinen Vorwurf zu machen.
Nun komme ich zu den Anträgen. Wir haben uns vorgenommen, anlässlich des Tages der Menschenrechte
das Thema der Uiguren auf die Tagesordnung zu setzen,
weil es ein vergessenes Thema der Menschenrechtspolitik ist. Das Volk der Uiguren leidet genauso wie die
Tibeter, hat aber nicht die gleiche Popularität, weil die
Figur des Dalai Lama, die den Tibetern eine Stimme in
der Weltgemeinschaft verleiht, bei den Uiguren keine
Entsprechung hat. Ich möchte auch daran erinnern, dass
die Tibetfrage nicht schon immer populär war und auch
nicht von der Kanzlerin populär gemacht wurde. Vielmehr hat Petra Kelly in der ersten grünen Bundestagsfraktion von 1983 bis 1987 dieses Problem im Parlament
thematisiert,
({4})
was dazu geführt hat, dass der Bundestag es seitdem mit
fraktionsübergreifendem Engagement beobachtet und
die Tibeter unterstützt.
In der autonomen uigurischen Region Xinjiang werden die Menschen religiös verfolgt und kulturell unterdrückt. Es wird versucht, die Menschen aus dieser Region zu vertreiben. Han-Chinesen werden in der Region
künstlich angesiedelt, um das Volk der Uiguren letztendlich zu chinesifizieren und seine kulturelle Identität aufzulösen. Die Menschen werden als Terroristen diffamiert, weil sie Muslime sind.
Die mutige Rebiya Kadeer ist jetzt weltweit die
Stimme dieser Menschen. Sie war einmal Mitglied des
Volkskongresses. Obwohl sie Millionärin war, hat sie
sich der Rechte ihres Volkes angenommen und musste
dafür ins Gefängnis. Mich hat heute ein Ruf der uigurischen Exilorganisationen erreicht. Auf diesem Wege
habe ich erfahren, unter welchen Bedingungen ihre
Söhne in China in Haft sitzen, seitdem sie Vorsitzende
des Uigurischen Weltkongresses ist. Einem ihrer Söhne
geht es dramatisch schlecht. Rebiya Kadeer appelliert an
die Chinesen, ihn an ein Krankenhaus zu überstellen. Ihr
Sohn Ablikim Abdureyim ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Er konnte seinen Vater bei dessen letztem Besuch gar nicht mehr erkennen. Er ist ein junger Mann,
sieht aber aus wie ein Greis. Ich möchte im Namen des
Deutschen Bundestags mit Ihrer aller Unterstützung sagen: Die Chinesen müssen diesen Mann freilassen bzw.
einem Krankenhaus überstellen, um sein Leben zu retten. Ich denke, das findet die Unterstützung des ganzen
Hauses.
({5})
Bei der Politik bezüglich der Uiguren kann man es
sich aber auch nicht so einfach machen, wie Frau
Steinbach es gerade gemacht hat. Wenn die Amerikaner
Volker Beck ({6})
Gefangene haben, von denen sie wissen, dass sie keine
Terroristen sind, aber aus der Provinz Xinjiang - und damit aus China - kommen, können sie sie nicht dahin zurückschicken. Gleichzeitig sind die Amerikaner nicht
bereit, sie aufzunehmen. Sie sind damit nur deshalb noch
Gefangene, weil sich kein Land dieser Welt findet, das
sie aufnehmen will. Meiner Meinung nach sollten wir
eine gemeinsame deutsche und europäische Initiative
starten, um dieses Unrecht zu beenden.
({7})
Ansonsten ist unser Nein zu Guantánamo fadenscheinig.
Deshalb wünsche ich mir, dass unser Antrag auch in diesem Punkt Zustimmung findet.
Ich will noch kurz zu meinem zweiten Punkt und
dann zur Methode der Menschenrechtspolitik kommen.
Der ASEAN-Antrag ist, glaube ich, etwas euphorischer
als die treffende Rede von Christel Hanewinckel. Ich
glaube, es ist ein Fortschritt, dass die Menschenrechte in
der Charta genannt sind. Aber solange es keinen entsprechenden Beschwerdemechanismus, keinen Gerichtshof
gibt, an den sich die Bürger der ASEAN-Staaten wenden
können, so lange ist das nur ein wertloses Stück Papier.
Im Umgang mit Birma hat man das ja gesehen. Man hat
den UN-Sonderbeauftragten nicht eingeladen. Stattdessen hat man anders agiert.
Zum Schluss noch ein allgemeines Wort zur Menschenrechtspolitik: Ich glaube, dass das Hickhack
zwischen Bundeskanzleramt und Auswärtigem Amt den
Druck von den Unrechtsregimen nimmt und gleichzeitig
das außenpolitische Gewicht der Bundesrepublik
Deutschland verspielt. Mir fehlt jedes Verständnis dafür,
dass man sich bei solchen Initiativen nicht abstimmt.
Es ist richtig, dass die Kanzlerin die Menschenrechtsfrage anspricht. Ich habe allerdings manchmal das Gefühl, dass das konzeptionell nicht zu Ende gedacht ist,
dass es nicht daraufhin kalkuliert ist, wie wir den Druck
auf die Regime maximieren können, dass eher auf einen
innenpolitischen Achtungserfolg abgezielt wird als auf
die Verbesserung der Menschenrechtslage.
Kollege Beck, es ist gut, dass wir jetzt leidenschaftlich werden, aber wir müssen trotzdem auf die Zeit achten.
Ein letzter Satz, Frau Präsidentin. - Warum hat die
Kanzlerin das beim EU-Afrika-Gipfel nicht so angesprochen, dass man den Druck der südafrikanischen Staatengemeinschaft auf Simbabwe unterstützt? Warum hat die
Kanzlerin, die in ihrer Kanzlerschaft gerade einmal zwei
Tage in Afrika geweilt hat, das mit einem solchen Paukenschlag angesprochen, sodass sich die afrikanischen
Staatsführer gezwungen sahen, sich mit dem Verbrecherregime von Mugabe zu solidarisieren?
({0})
Kollege Beck, so geht es nicht.
Das war ein Fehler, und diesen Fehler muss man trotz
der Kürze der Redezeit der Opposition beim Namen nennen dürfen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
({0})
Ich dachte eigentlich, Sie wollten mich heute damit
überraschen, dass Sie die Redezeit einmal einhalten.
Aber Sie haben ja nachher noch die Chance dazu.
Das Wort hat der Kollege Christoph Strässer für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dass am Montag der 59. Jahrestag der Verabschiedung
der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte war, ist
Anlass, einmal über die Situation nachzudenken, in der
das alles vonstattengegangen ist. Die Welt lag in Trümmern, unerträgliche Regime hatten die Menschen terrorisiert. Aufgrund dieser Erfahrungen haben sich insgesamt
48 Staaten in Paris bereiterklärt, diese Erklärung - eine
Erklärung für eine bessere Welt - zu unterzeichnen. Ich
darf einmal aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zitieren. Schon in der Präambel geht es um
Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden und um den Glauben
an die Würde und den Wert der menschlichen Person.
Aufgrund der Erfahrungen glaube ich, dass das ein Ziel
ist, das wir auch heute unter der Ägide der Vereinten Nationen, massiv unterstützen müssen.
({0})
192 Staaten haben die Allgemeine Erklärung der
Menschenrechte durch ihren Beitritt zu den Vereinten
Nationen akzeptiert. Ich möchte jetzt, ohne mit dem Finger auf jemanden zu zeigen, über die Frage nachdenken:
Wie würden eigentlich die Mütter und Väter der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte das sehen, was
heute in der Welt vor sich geht?
Ich möchte nur zwei Bereiche ansprechen. Der erste
Bereich betrifft das, was in Europa vor sich geht. Herr
Kollege Toncar, ich glaube, Sie haben in den letzten Diskussionen etwas nicht mitbekommen. Gerade unter der
Ägide dieser Bundesregierung, dieses Außenministers
sind die Mittel für den Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte deutlich gestiegen.
({1})
All das, was wir als Parlament gefordert haben, ist umgesetzt worden. Wir haben sogar jenseits der Verpflichtungen, die wir haben, draufgesattelt. Hier zu sagen, das
alles sei ein Misserfolg dieser Bundesregierung, ist verkehrt. Sie sollten den Leuten von dieser Stelle aus auch
kurz vor Weihnachten keine Märchen erzählen.
({2})
Am 12. Dezember dieses Jahres ist die Grundrechtecharta der Europäischen Union proklamiert worden. Das, was da in den letzten Wochen und Monaten
ausgehandelt worden ist, ist ebenfalls das Verdienst dieser Bundesregierung, und zwar der gesamten Bundesregierung. Ich glaube, es ist ein deutlicher Fortschritt für
die Menschenrechte in ganz Europa, dass sich 25 Länder
dieses Kontinents dazu verpflichtet haben, die Menschenrechte zu achten und sie auch einklagbar zu machen. Auch dies sollte man anlässlich des Jahrestages
der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte einmal sagen. Wir sind hier auf einem
guten Weg in Europa.
({3})
Ich möchte auch Stellung nehmen zu der Debatte über
die Art und Weise der Menschenrechtspolitik. Die Kernfrage, die sich stellt, ist aus meiner Sicht: Wem nutzt die
Menschenrechtspolitik einer Bundesregierung? Wenn
wir diese Frage beantworten, müssen wir uns natürlich
auch anschauen, mit welchen Instrumenten wir Menschenrechtspolitik betreiben. Genau an dieser Stelle gibt
es offensichtlich einen Dissens. Diesen Dissens muss
man austragen. Ich würde mir natürlich auch wünschen
- ich sage das einmal in Richtung Regierungsbank -,
dass der Bundesaußenminister nicht drei Tage lang in
Unkenntnis darüber bleibt, dass die Bundeskanzlerin den
Dalai Lama empfängt. Das ist sicherlich kein gutes Beispiel für Kooperation in dieser Bundesregierung. Das
muss man verbessern; dafür würde ich dringend werben.
Wenn hier die symbolische Politik, in der es darum geht,
nach außen Zeichen zu setzen, ausgespielt wird gegen
das, was Sie stille Diplomatie genannt haben, dann zerstört das aus meiner Sicht jede Glaubwürdigkeit der
Menschenrechtspolitik.
({4})
- Ich weiß wohl, Herr Kollege Fischer. Ich könnte auch
den Vorgänger von Herrn Schröder anführen. Aber das
bringt uns nicht weiter. Diese Polemik nutzt weder der
Menschenrechtspolitik noch den Menschen, für die wir
sie betreiben.
({5})
- Was schadet denn eigentlich?
({6})
Wir befinden uns hier jetzt nicht im Dialog, es sei
denn, Sie lassen Zwischenfragen zu.
Es hat ja keinen Sinn. - Die Polemik der Opposition
in dieser Frage ist nachvollziehbar, aber sie führt uns
nicht weiter.
Was schadet im Moment eigentlich, und was nutzt?
Das ist doch die Frage, vor der wir jetzt stehen. Es geht
doch nicht darum, was vor vielen Jahren gewesen ist.
Für mich steht die Antwort auf die Frage im Zentrum,
was die konkrete Form der Menschenrechtspolitik bewirkt. Ich will drei Dinge benennen.
Wer eine symbolträchtige Menschenrechtspolitik betreibt, der muss sich über die Folgen im Klaren sein. Er
muss auch an die Konsequenzen denken. Herr Toncar,
hier teile ich Ihre Meinung überhaupt nicht, nämlich
dass das, was in stiller Diplomatie vollzogen worden ist,
die Etablierung von Menschenrechtsdialogen - insbesondere mit der Volksrepublik China -, wirkungslos gewesen ist.
({0})
Das exakte Gegenteil ist der Fall. Ich kann Ihnen sagen:
Die Veränderungen in der chinesischen Politik nach innen und nach außen sind auf das zurückzuführen, was
dort in neun Jahren geschehen ist.
Ich kann das deshalb sagen, weil ich dreimal an diesen Menschenrechtsdialogen beteiligt war, die im Übrigen - im Gegensatz zu dem, was hier vor einigen Wochen passiert ist - in Peking öffentlich gemacht worden
sind. Das alles können Sie nachlesen. Sie können sich
auch die Veränderungen anschauen. Das ist noch nicht
gut genug, aber ich sage Ihnen: Ohne diese Menschenrechtsdialoge, ohne diese stille Diplomatie wären wir
und wäre auch die chinesische Regierung heute nicht auf
diesem Weg, der richtig ist, der aber weiter fortgesetzt
werden muss. Darauf zu verzichten - er ist abgebrochen
bzw. beendet -, kann keine erfolgreiche Menschenrechtspolitik sein. Ich glaube, hier müssen wir etwas anderes machen.
({1})
Lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Toncar
zu?
Ja, gerne.
Bitte.
Herr Kollege Strässer, ich möchte es kurz machen,
aber ich kann das so nicht stehenlassen. Sind Sie bereit,
zur Kenntnis zu nehmen, dass ich in meiner Rede sinngemäß gesagt habe: Wenn die chinesische Seite diesen
Dialog als ein Zugeständnis an uns versteht und nicht als
etwas, wovon ihr Staat selbst profitiert, dann ist das weniger, als wir uns bisher davon erhofft haben. Sind Sie
bereit, mir zuzugestehen, dass ich das so gesagt habe und
dass ich nicht gesagt habe, dass dieser Menschenrechtsdialog völlig wirkungslos gewesen ist?
({0})
Es mag sein, dass Sie das gesagt haben. Das Problem
ist nur, dass das falsch ist, weil Dialoge nie auf Einseitigkeit beruhen. Wir haben ein Interesse daran, dass sich in
China etwas verändert. Das erreichen wir mit diesen
Dialogen. Die Chinesen hatten bislang ein Interesse daran - ich hoffe, dass das wiederkommt -, diesen Dialog
fortzuführen, weil sie - jedenfalls zum Teil - erkannt haben, dass sie mit ihrer bisherigen Politik auch im eigenen
Lande nicht zurande kommen. - Das ist die Antwort auf
Ihre Frage.
Lassen Sie mich nun zum Schluss kommen. Ich
möchte gern noch etwas zu den Konsequenzen einer
symbolischen Menschenrechtspolitik sagen, weil man
mit diesen Symbolen auch Standards setzt. Ich sage das
einmal ganz deutlich: Wenn dieses Thema gegenüber
dem Dalai Lama so offen angesprochen worden ist, dann
ist das okay. Vor wenigen Wochen war hier aber der König von Saudi-Arabien vier Tage lang zu Gast. Wenn
man es wirklich ernst damit meint, dann darf man sich
nicht nur auf China und Russland konzentrieren, sondern
dann muss das auch gegenüber Ländern wie Saudi-Arabien angesprochen werden. Dort ist die Menschenrechtssituation so unglaublich schwierig, dass ich hier ein genauso klares Wort erwartet hätte.
({0})
Herr Kollege Toncar, noch einmal zu Ihrem Bild: Sie
haben einen Zeitungsartikel beschrieben, in dem von
leeren Schaufenstern und leeren Räumen die Rede ist.
Sie haben völlig recht: Beides würde nicht passen. Das
Schlimmste für die betroffenen Menschen wäre aber,
wenn wir ihnen etwas vormachten, indem wir das
Schaufenster mit schönen Geschenken vollstellen und
die Tür geschlossen halten. Ich glaube, das kann nicht
sein. Deshalb sage ich: Es wäre ein Weihnachtsgeschenk
an die Menschen, für die wir uns alle gemeinsam einsetzen, wenn wir gemeinsam beides aufmachen würden,
nämlich sowohl die Schaufenster als auch die Tür zu den
vorhandenen Geschenken.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat der Kollege Holger Haibach für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist heute
sehr viel darüber gesprochen worden, was sich rund um
den Tag der Menschenrechte in dieser Woche und allgemein bezüglich der Menschenrechte im letzten Jahr ereignet hat. Sehr viel Negatives wurde erwähnt; das ist
richtig so.
Ich will auf zwei positive Ereignisse hinweisen, die in
den letzten beiden Tagen stattgefunden haben; das dritte,
die Proklamation der Grundrechtecharta, hat Kollege
Strässer schon genannt. Sie haben sich in einem Land ereignet, das in Deutschland in den letzten Jahren nicht
immer nur als Vorzeigestaat in Sachen Menschenrechte
dargestellt wurde und über das es vielleicht mehr Diskussionen gab, als notwendig waren. Es geht um die
USA. In den USA hat mit New Jersey zum ersten Mal
seit 40 Jahren ein Staat beschlossen, die Todesstrafe abzuschaffen. Ich finde, das ist ein gutes und wichtiges
Zeichen.
({0})
- Es kann ja sein, Herr Kollege Leutert, das Ihnen das
nicht passt, aber es ist nun einmal so.
({1})
Wenn der amerikanische Senat seine Zusage zum
Haushalt der CIA daran knüpft, dass die hoch umstrittene Foltermethode Waterboarding abgeschafft werden
muss, dann ist auch das ein wichtiges Zeichen. Dafür
müssen auch wir auf jeden Fall kämpfen.
({2})
Ich will ganz deutlich sagen, dass wir uns angesichts
des Tages der Menschenrechte in dieser Woche über die
Gesamtsituation unterhalten müssen. Es ist wichtig, auch
auf Positives hinzuweisen. Ich glaube, dass das dazu beiträgt, einmal deutlich zu machen, dass nicht alle unsere
täglichen Bemühungen völlig sinnlos sind.
Ich will auf einiges eingehen, was in dieser Debatte
gesagt worden ist. Kollege Toncar, zum Gerichtshof:
Auf die Verbesserung der Situation hat Kollege Strässer
schon hingewiesen. Es war diese Bundesregierung, die
sich im Wesentlichen im Ministerkomitee dafür eingesetzt hat. Alle, die beteiligt waren, wissen, dass es keine
leichte Aufgabe war, alle anderen Mitgliedstaaten dazu
zu bewegen. Es nutzt ja nichts, wenn nur wir Ja sagen.
Am Schluss müssen alle 47 Mitgliedstaaten Ja sagen.
Das ist erreicht worden. Dafür kann man der Bundesregierung dankbar sein.
({3})
Herr Kollege Leutert, es ist ja inzwischen ein altes
Spiel, das Sie treiben - Kollege Beck hat darauf hingewiesen -: Sie nennen immer wieder die gleichen Themen und versuchen, Deutschland in eine Reihe mit
Russland, China und anderen Ländern zu stellen, in denen die menschenrechtliche Situation hochproblematisch ist. Man kann darüber diskutieren, ob der Mindestlohn zu hoch oder zu niedrig ist,
({4})
- doch, man kann darüber diskutieren -, ob dieser Mindestlohn in einem Teil des Landes niedriger sein muss
oder ob er in beiden Teilen des Landes gleich sein muss.
Man kann auch darüber diskutieren, ob ein Gesetz zur
Onlinedurchsuchung sinnvoll ist. Aber wissen Sie, was
Deutschland von allen anderen Ländern unterscheidet,
die Sie in diesem Zusammenhang immer nennen? Es
gibt hier eine Gerichtsbarkeit. Hier kann sich jeder bis
zum Bundesverfassungsgericht durchklagen und fragen:
Entspricht das unserem Grundgesetz oder nicht? Das ist
der Unterschied. Ich finde, das müssten Sie in dieser Debatte endlich einmal anerkennen.
({5})
Wenn Sie schon Herrn Schäuble zitieren, dann darf
ich Sie recht herzlich bitten, ihn auch vollständig zu zitieren. Sie haben einen einzigen Satz aus einem langen
Interview vorgelesen, in dem er deutlich gemacht hat,
dass er Guantánamo nicht für die optimale Lösung hält.
Wenn er sagt, dass wir uns überlegen müssen, wie wir
weiterhin mit Völkerrecht und Kriegsrecht umgehen,
dann gibt er nur eine internationale Diskussion - übrigens auch unter Völkerrechtlern - wieder. Wir alle sind
uns darüber einig, dass Guantánamo geschlossen gehört.
Aber nichtsdestoweniger stellt sich die Frage, was mit
den Gefangenen passiert, die dort sind - das ist eine
wichtige Frage -, ob sie einem rechtsstaatlichen Verfahren zugeführt werden oder nicht. Diese Frage hat Herr
Schäuble nicht in Zweifel gezogen. Ich finde es ehrenrührig, dass Sie ihn in diese Ecke stellen.
({6})
- Ich habe dieses Interview gelesen. Deswegen erlaube
ich mir, deutlich zu sagen, dass ich der Meinung bin,
dass Sie es - um nichts anderes zu sagen - zumindest
sehr verkürzt wiedergegeben haben.
Ich komme auf die Methoden deutscher Außenpolitik
zurück. Der Kollege Beck hat festgestellt, dass alles
ganz furchtbar sei, und es als schlechtes Zeichen für die
Welt bezeichnet, wenn in zwei verschiedenen Häusern
- respektive im Kanzleramt und im Außenministerium in einigen Fragen unterschiedliche Meinungen vertreten
werden. Es ist in der Tat besser, wenn etwas vorher abgesprochen wird und wenn wir letztlich zu einer gemeinsamen Meinung kommen, Herr Kollege Beck. Wir sollten
aber nicht so tun, als hätte es das noch nie gegeben. Wie
war das denn mit Herrn Fischer und Herrn Schröder,
wenn es um China ging?
({7})
Es ist doch nicht das erste Mal, dass es eine solche Auseinandersetzung gegeben hat. Daran ist die deutsche
Menschrechtspolitik ganz bestimmt nicht gescheitert.
Auch das muss ich Ihnen in aller Deutlichkeit sagen.
({8})
- Es ging eben nicht um eine Entscheidung, Herr Kollege Beck. Ich kann Ihnen auch gerne eine Frage beantworten, die Sie mir nicht gestellt haben. Es geht nicht
um eine Entscheidung, sondern um die Frage nach dem
richtigen Weg. Insofern hat der Kollege Strässer recht
- auch wenn ich in meiner Analyse zu einem anderen
Schluss komme -: Die Frage, was den Menschenrechten
nutzt, ist nicht nur erlaubt, sondern muss gestellt werden.
Man muss bei den Überlegungen das Ziel im Blick haben. Man kann zwar unterschiedlicher Meinung sein, zu
welcher Lösung man kommt, aber ich glaube, dass man
letztlich beides brauchen wird: auf der einen Seite die
klaren Symbole, auf der anderen Seite aber auch die
Diplomatie.
Bei den ganzen Dialogen und bei aller Diplomatie
muss man eines berücksichtigen: Dialoge dürfen keine
Feigenblattveranstaltung und kein Ersatz für klare öffentliche Äußerungen sein. Die stille Diplomatie darf
auch nicht zu Leisetreterei verkommen. Das ist manchmal meine Sorge. Wir müssen sehr aufpassen, dass wir
die richtigen Akzente an der richtigen Stelle setzen.
({9})
Ich glaube, dass wir mit dem vorliegenden Antrag der
Koalition zum Thema ASEAN, den die Kollegin
Riemann-Hanewinckel, wie ich finde, hinreichend und
umfänglich beschrieben hat, einen wichtigen Beitrag zu
dieser Debatte leisten. Der Antrag ist in einer Zeit verfasst worden, als noch nicht klar war, wie sich die Charta
entwickeln würde. Insofern wäre ich heute vielleicht etwas vorsichtiger in meinem Urteil als damals.
Aber nichtsdestoweniger muss man auch die positiven Punkte sehen. Es gibt tatsächlich zum ersten Mal die
Idee, eine Menschenrechtskommission auf asiatischem
Boden einzurichten. Das hat es nie zuvor gegeben. Es
gibt tatsächlich eine Verpflichtung. Ich weiß, dass die
Politik der Nichteinmischung dagegensteht. Dagegen
steht auch, dass der UN-Sondergesandte für Birma,
Gambari, nicht eingeladen worden ist. Das alles sehe ich
auch. Ich finde aber, dass man das Positive und Negative
an dieser Stelle gegeneinander abwägen muss. Ich finde
es wichtig, dass wir das auch in aller Deutlichkeit machen.
Wir werden die beiden Anträge im Menschenrechtsausschuss beraten, und ich glaube, dass wir in beiden
Fällen zu vernünftigen Lösungen kommen können.
({10})
- Es gibt - damit komme ich zu meinem Schlusswort,
Herr Kollege - einen wunderbaren Artikel über die
ASEAN-Charta von Sebastian Bersick und Felix Heiduk
in SWP-Aktuell, der Zeitschrift der Stiftung Wissenschaft und Politik. Darin schreiben sie - ich zitiere -:
Mit der Unterzeichnung der Charta bezeugen die
ASEAN-Mitglieder ihren politischen Willen, den
Weg der Vergemeinschaftung geschlossen fortzusetzen. Aber erst wenn sie die Charta ratifiziert und
implementiert haben, wird sich zeigen, ob sich die
ASEAN tatsächlich „nach Art der Krebse [bewegt],
die den Rückwärtsgang seitlich ausscherend vortäuschen, doch ziemlich schnell vorankommen“ - wie
es in Günter Grass’ Novelle „Im Krebsgang“ heißt.
Ich hoffe, das gilt für die gesamte Menschenrechtspolitik. In diesem Sinne wünsche ich uns allen frohe Weihnachten und ein frohes neues Jahr.
Danke sehr.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/7490 und 16/7411 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 36 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Mücke, Jens Ackermann, Joachim Günther
({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Gewährleistung der einheitlichen Betreuung
von Arbeitslosen nach einer Kreisgebietsreform
- Drucksache 16/6642 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Innenausschuss
Wir nehmen alle Reden dieser Debatte zu Protokoll.
Das betrifft die Beiträge der Kollegin Maria Michalk für
die Unionsfraktion, der Kollegin Gabriele Lösekrug-
Möller für die SPD-Fraktion, des Kollegen Jan Mücke
für die FDP-Fraktion, der Kollegin Katrin Kunert für die
Fraktion Die Linke und der Kollegin Brigitte Pothmer
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/6642 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
1) Anlage 7
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 37 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gesine Lötzsch, Karin Binder, Dr. Lothar
Bisky, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Angleichung des aktuellen Rentenwerts ({2})
an den aktuellen Rentenwert
- Drucksache 16/6734 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke.
({4})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das ist nicht ganz atypisch, dass ich erstens alleine zu
diesem Thema rede und dass wir zweitens dieses Thema
so spät und dann behandeln, wenn der Plenarsaal kaum
besetzt ist.
({0})
- Das liegt gar nicht an uns.
({1})
Das ist ein völliger Irrtum. Wir würden gerne viel mehr
Tagesordnungspunkte in Spitzenzeiten beraten; die bekommen wir aber nicht.
({2})
Die Frage, um die es hier geht, ist und bleibt wichtig,
auch wenn Sie sie für unwichtig halten sollten.
({3})
Es geht um den Renteneckwert Ost im Verhältnis zum
allgemeinen Renteneckwert. Ich sage Ihnen, warum uns
dieses Thema so wichtig ist. Es muss doch diesbezüglich
eine Entwicklung geben. Eine Entwicklung erfordert,
dass man sich Gedanken macht, wie eine Angleichung
erfolgen kann.
Der Rentenwert West liegt derzeit bei 26,27 Euro.
Der Rentenwert Ost liegt bei 23,09 Euro, also 3,18 Euro
niedriger. Die Frage ist doch, wann gleichen wir das an,
oder haben Sie gar nicht vor, das anzugleichen? Genau
damit beschäftigt sich unser Antrag.
Der Eckrentner im Westen bezieht eine Durchschnittsrente von 1 182 Euro, und der Eckrentner im Osten bekommt lediglich eine Durchschnittsrente von
1 039 Euro. Nun stellt sich doch die Frage, ob wir hier
beschließen, wann und in welchen Schritten wir die Differenz von 12 Prozent - das macht pro Monat 143 Euro
und im Jahr über 1 700 Euro aus - ausgleichen oder ob
wir dauerhaft darauf verzichten. Das ist die Frage, um
die es geht.
({4})
Hierzu steht gelegentlich etwas in den Zeitungen, womit ich mich gerne auseinandersetzen möchte. Es gibt
eine Zeitung, die schreibt gerne Folgendes: Ein Rentnerehepaar Ost hat im Durchschnitt mehr als ein Rentnerehepaar West. - Das Ungerechte daran ist, dass unterschlagen wird, dass im Osten über 90 Prozent der Frauen
beruflich aktiv waren. Im Westen gab es nie eine solch
hohe Zahl; diese schwankte immer um die 50 Prozent.
Das heißt, im Osten waren meistens beide Ehepartner
länger als 40 Jahre tätig, und in den alten Bundesländern
in der Regel nur der Mann. Vor diesem Hintergrund haben natürlich die beiden Ehepartner im Osten zusammen
mehr Rente als die beiden Ehepartner im Westen. Aber
das ist nicht die Frage. Es geht doch um Folgendes: Eine
Verkäuferin war 40 Jahre lang Verkäuferin im Osten,
und eine andere Verkäuferin war 40 Jahre lang Verkäuferin im Westen. Wenn das so ist, dann frage ich: Haben
sie einen Anspruch auf eine gleich hohe Rente oder
nicht? Bis heute haben sie keinen Anspruch auf die
gleich hohe Rente.
({5})
Bei diesem Thema werden immer drei Faktoren übersehen, auf die ich nur ganz kurz hinweisen möchte. Das
ist, wenn Sie so wollen, ein Lob an die Bundesrepublik.
Erstens. In der Bundesrepublik gab es Betriebsrenten.
So etwas gab es in der DDR nicht. Deshalb ist die gesetzliche Rente meistens nicht das einzige, was die Leute
im Westen beziehen.
({6})
Zweitens. In der Bundesrepublik gab es zu nicht geringen Teilen Vermögensbildung über Lebensversicherungen etc., was bei vielen Rentnerinnen und Rentnern
noch hinzukommt. Auch so etwas gab es in der DDR
nicht.
Drittens. Der Durchschnitt der gesetzlichen Rente berechnet sich im Osten völlig anders als im Westen - dieser Unterschied wird immer wieder vergessen -,
({7})
und zwar aus folgendem Grunde: Es gab ja keine Beamten, und deshalb gibt es keine Pensionen. Als Beispiel
nenne ich den berühmten Professor Prokop, Gerichtsmediziner an der Charité, der bis zum Bundesverfassungsgericht geklagt und eine ziemlich hohe Rente zugebilligt bekommen hat. Diese muss die gesetzliche
Rentenversicherung zahlen. Ein Professor Prokop in
Kiel oder München würde immer eine Pension beziehen.
({8})
Das heißt, diese Rente ginge gar nicht in den Durchschnitt der gesetzlichen Rente ein. Das muss man wissen
und den Leuten sagen. Deshalb darf man die Durchschnitte nicht gegenüberstellen. Aus diesem Grunde haben wir unseren Antrag eingebracht.
Auch wenn nur wenige im Plenarsaal anwesend sind,
hoffe ich, dass Sie sich vor der zweiten Lesung mit dem
Antrag auseinandersetzen werden. Wir sollten dann einen Beschluss fassen, so schnell wie möglich die Renteneckwerte Ost und West anzugleichen.
({9})
Niemand soll deshalb benachteiligt sein, weil er aus
dem Osten oder aus dem Westen kommt. Gleichstellung
ist ein Ziel unseres Grundgesetzes. Dafür müssen wir
uns einsetzen. Ich möchte diese Angleichung noch erleben. Wir haben gesagt: so schnell wie möglich. In spätestens fünf Jahren muss die Angleichung da sein. Nun
geben Sie sich einen Ruck und beschließen das auch!
Danke.
({10})
Wir sind vor ein kleines Problem gestellt worden,
weil im Rahmen dieser Debatte eine Absprache nicht
eingehalten wurde. Deshalb muss ich, bevor ich der Kollegin Schewe-Gerigk das Wort erteile, die Unionsfraktion fragen, ob die Kollegin Maria Michalk jetzt reden
möchte.
({0})
- Dann ist das so.
Die Kollegin Maria Michalk hat jetzt das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist ein übliches Spiel der Linksfraktion, sich
vor Feiertagen in unserem Land Themen herauszupicken, die die Gefühle der Menschen bewegen. Herr
Gysi, wir hatten eine Vereinbarung. Das, was Sie hier
veranstaltet haben, ist unparlamentarisch.
({0})
Ich will in aller Kürze sagen: Sie haben niemals an
den Sitzungen unseres Fachausschusses teilgenommen,
in denen wir darüber systematisch diskutieren.
({1})
Ihrem Populismus möchte ich nur mit dem Hinweis begegnen: Selbst die Gewerkschaften vereinbaren in den
Tarifverhandlungen Unterschiede zwischen den Löhnen
im Osten und denen im Westen.
({2})
Begründet wird das mit der Arbeitsplatzsicherung.
Die Systematik, die wir alle einvernehmlich beim
Renten-Überleitungsgesetz gewählt haben, um in der
Systematik der bundesdeutschen Rentenregelungen zu
bleiben, bewirkt, dass unsere Rentner immer dann profitieren, wenn sich die wirtschaftliche Entwicklung in unserem Land verbessert und die Menschen mehr Lohn bekommen. Folgten wir Ihrem Stufenmodell, das nichts
anderes als eine pauschale Abkehr von dieser Systematik
darstellt, würden wir die Arbeitnehmer bestrafen, die
früh aufstehen und abends spät nach Hause kommen;
denn diese würden aus dieser Systematik herausgenommen.
({3})
Deshalb ist es ungerecht und unsolidarisch, diejenigen,
die Steuern zahlen und letztlich die Beiträge erarbeiten,
die wir für die aktive Rentnergeneration einsetzen, gegen die aktiven Rentner auszuspielen.
Wir wissen, dass die jetzige Rentnergeneration hier
und da durchaus Einschnitte hinnehmen muss, weil sich
die Einkommenssituation insgesamt nicht so schnell verbessert hat, wie wir uns alle das gewünscht haben. Aber
wer meint, eine Zukunftsprognose für die nächsten zehn
Jahre abgeben zu können, muss ein Hellseher sein. Das
sind wir nicht. Deshalb bleiben wir bei unserer Rentensystematik. Da wir wissen, dass die jetzige Rentnergeneration von einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung
profitiert, tun wir alles, um die Rahmenbedingungen für
mehr Arbeitsplätze zu verbessern.
Ich danke Ihnen und wünsche schöne Weihnachten.
({4})
Wir nehmen den Beitrag des Kollegen Dr. Heinrich
Kolb für die FDP-Fraktion zu Protokoll.1)
({0})
Dann hat Frau Schewe-Gerigk für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Ich kann das Ganze vielleicht erklären. Wir hatten ein
anderes Verfahren gewählt. Wir hatten uns darauf ver-
ständigt, dass alle Reden zu diesem Tagesordnungspunkt
zu Protokoll gegeben werden. Herr Gysi, Sie haben aber
darauf bestanden, hier zu reden. Wenn Sie allerdings die
Kolleginnen und Kollegen, die hier sind, beschimpfen
1) Anlage 8
und sagen, wir seien daran schuld, dass über Ihren Antrag zu diesem späten Zeitpunkt diskutiert werde,
({0})
dann muss ich Ihnen sagen, dass Ihre Fraktion Ihre Rede
zu diesem Zeitpunkt auf die Tagesordnung gesetzt hat,
nicht die anderen.
({1})
Um Ihnen dieses Spiel nicht durchgehen zu lassen,
werde ich meine Rede jetzt halten. Ich werde sie kürzen,
damit wir das alles hinbekommen.
Wir, die Grünen, sehen ebenfalls einen erheblichen
Nachbesserungsbedarf in der Rentenpolitik zur Vermeidung von Armut im Alter. Anlass unserer Einschätzung
sind die Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt, die wir
seit Beginn der 90er-Jahre erleben. Sie wirken sich natürlich besonders dramatisch in den ostdeutschen Bundesländern aus. Eine Anpassung der Rentenpolitik an die
veränderten Erwerbsverläufe und Familienformen ist
absolut überfällig. Die vorhandene Grundsicherung im
Alter, auf die stets verwiesen wird, ist für uns keine Lösung; denn wer seine Arbeitskraft ein Leben lang zur
Verfügung gestellt hat, muss ein Einkommen oberhalb
der Bedürftigkeit erzielen können.
({2})
Die lustlose Beantwortung unserer Frage zu den Armutsrisiken im Alter verdeutlicht, dass auch das Ministerium
sich mit diesem Thema nicht wirklich auseinandersetzen
möchte. Dort herrscht das Prinzip „Augen zu und durch“
vor.
Wir beraten heute Ihren Antrag „Angleichung des aktuellen Rentenwerts ({3}) an den aktuellen Rentenwert“.
Sie fordern in diesem Antrag eine doppelte Angleichung, Herr Gysi. Was das bedeutet, möchte ich diesem
Hohen Hause einmal deutlich machen: Sie wollen eine
Höherbewertung der Einkommen in Ostdeutschland beibehalten; spätestens 2012 soll es in Ost und West einen
einheitlichen Rentenwert geben. Die Bundesregierung
geht in ihren Rentenberichten davon aus, dass erst im
Jahre 2030 eine Angleichung der Rentenwerte möglich
ist. Auch wir finden diese Situation problematisch; denn
17 Jahre nach Vollendung der deutschen Einheit sind unterschiedliche Rentenwerte nicht mehr vermittelbar.
({4})
- Jetzt hört es gleich auf mit den Gemeinsamkeiten.
Im Unterschied zur Linksfraktion wollen wir Grünen
bei der doppelten Hochwertung nicht mit der Gießkanne
vorgehen. Die Linke will ohne Berücksichtigung des
Einkommensniveaus eine doppelte Begünstigung in den
neuen Ländern erreichen. Damit wird das zukünftige
Rentenniveau in den neuen Ländern vollständig losgelöst vom Einkommen und der Entwicklung der Produktivität.
Durch die Umsetzung dieses Vorschlags würden - das
ist noch wichtiger - neue Formen von Ungerechtigkeit
erzeugt, Herr Gysi: Beispielsweise würde der ehemalige
Mitarbeiter der Stasi, der bereits beruflich begünstigt
wurde und der auch noch eine Zusatzrente bekommt,
wenn ihm keine Menschenrechtsverletzung nachgewiesen werden konnte, ein besonders sattes Alterseinkommen erhalten.
({5})
Ich glaube, das würden auch weniger begünstigte Rentner und Rentnerinnen aus den neuen Ländern überhaupt
nicht verstehen.
({6})
Das ist nicht gerecht.
Ich weiß auch nicht, wie man das begründen kann.
Ich wüsste zum Beispiel nicht, wie ich einer Verkäuferin
aus Recklinghausen vermitteln sollte, dass jemand mit
einem mittleren oder hohen Einkommen in Dresden derart aus Steuermitteln begünstigt werden soll, während
sie nur eine Minirente erhält, die sie mit ihrem kleinen
Einkommen selbst erarbeitet hat.
Vorausgesetzt die Zahlen aus dem Verdi-Konzept zur
Anpassung des Rentenwerts sind richtig, werden zur
Umsetzung Ihres Vorschlags in der letzten Stufe 6 Milliarden Euro jährlich benötigt. Das heißt, bereits im
Jahre 2012 und in den Folgejahren sollen 6 Milliarden
Euro Steuermittel zur Begünstigung, auch von hohen
Renten, in die neuen Länder fließen, und zwar unabhängig von der Einkommensgrenze. Käme eine zukünftige
Bundesregierung auf die Idee, die doppelte Hochwertung aus Mitteln der Rentenversicherung zu finanzieren,
würde das bedeuten: Die Versicherten finanzieren ein
zweites Mal die Folgekosten der deutschen Einheit. Solchen Vorschlägen können wir nicht zustimmen.
({7})
Wir Grünen wollen - jetzt kommt unser Vorschlag eine absehbare Anpassung der Rentenwerte Ost und
West; da sind wir ganz bei Ihnen. Wir wollen aber eine
gezielte Hochwertung von kleinen Einkommen, unabhängig von der geografischen Lage des Wohnorts.
({8})
Niedrige Einkommen dürfen nicht zu Armutsrenten führen. Dazu wollen wir die Entgelte aus Steuermitteln bis
zu 80 Prozent eines Durchschnittswerts hochwerten. Die
Begrenzung auf 80 Prozent soll eine Schlechterstellung
von Versicherten verhindern, die ausschließlich eigene
Beiträge entrichtet haben.
Frau Schewe-Gerigk, Sie müssen Ihre Vorschläge auf
die weiteren Beratungen verschieben.
Ich danke Ihnen, Frau Präsidentin. - Ich bin fertig mit
meinen Vorschlägen.
Ich glaube, es ist deutlich geworden, dass bei kleinen
Beiträgen Hochwertungen möglich sind, dass man aber
die Rente von Personen, die 3 000 Euro verdienen, über
eine Hochwertung nicht noch zusätzlich aufwerten
muss.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Franz Thönnes.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich sage nichts zum Verfahren. Das Thema dieser Debatte ist ernst genug. Daher sollte man mit ihm in einer
solchen Situation nicht in der Art und Weise umgehen,
wie es hier jetzt passiert ist.
({0})
Die Umsetzung dessen, was in der freundlich klingenden Überschrift des Antrags der Fraktion Die Linke gefordert wird, hätte langfristig unerfreuliche Folgewirkungen, gerade für die Menschen in den neuen Ländern.
({1})
Man kann für den Gleichstellungswunsch der Rentnerinnen und Rentner in den neuen Ländern an der einen oder
anderen Stelle Verständnis haben; aber die Forderung
nach einer Angleichung weist in die völlig falsche Richtung. Die Gründe nenne ich Ihnen gerne.
Zunächst will ich Ihnen aber sagen - ich glaube, das
muss man auch -, was heute ist. Es gilt, zu sagen, wie
das Ganze entstanden ist und was die Grundsätze unseres solidarischen Rentenversicherungssystems sind.
Dabei ist festzuhalten: Bei dem Versuch, Lösungen zu
finden, die über den bisherigen Angleichungsmechanismus hinausgehen, darf es nicht zu Verwerfungen im System kommen, besonders nicht zu Verwerfungen, die die
solidarische Funktion des Rentenversicherungssystems
infrage stellen.
({2})
Denn wir wollen auch in Zukunft in diesem Land ein
tragfähiges solidarisches Rentenfinanzierungssystem haben, ein System, das im Übrigen für die deutsche Einheit
unermesslich viel geleistet hat.
({3})
Ich möchte dazu Folgendes ansprechen:
Erstens. Wie war das denn im Jahre 1990? Am
30. Juni betrug die verfügbare Eckrente in den alten LänParl. Staatssekretär Franz Thönnes
dern 1 615,99 DM, das heißt die Altersrente eines Versicherten mit einem durchschnittlichen Bruttoarbeitsentgelt nach 45 anrechnungsfähigen Versicherungsjahren.
Der vergleichbare Ostwert lag je nach Zugangsjahr zur
Rente in der damaligen DDR bei 470 bis 602 Mark, also
im Verhältnis 29,1 bis 37,3 Prozent.
Wie im Westen sollte sich die künftige weitere Angleichung an der Entwicklung der Löhne und Gehälter
orientieren. Um aber an dieser Stelle eine zügigere Angleichung zu erzielen, wurde politisch entschieden, dass
die Anpassung zweimal im Jahr erfolgen sollte und dass
sie sich im Voraus und nicht rückwirkend - so war das in
den alten Ländern - an der erwarteten Lohnentwicklung
orientieren sollte.
Diese Entscheidung führte im Kern dazu, dass innerhalb von fünfeinhalb Jahren der Abstand zwischen Ostund Westwert, den ich eben genannt habe, gesunken ist.
Der Verhältniswert zu West stieg von 29,1 bis 37,3 Prozent auf 82,2 Prozent zum 1. Januar 1996. Damit wird
die Annäherung deutlich, die in dieser Zeit erfolgt ist eine hervorragende Leistung innerdeutscher Solidarität;
das möchte ich ganz klar sagen.
({4})
Ab 1996 erfolgte dann, wie im Westen, eine jährliche
Anpassung, orientiert an den jeweiligen Lohn- und Gehaltsentwicklungen des Vorjahres. Dies hat bis heute zu
einer weiteren Steigerung auf 88,1 Prozent geführt.
Zweitens. Der Grundsatz der weiteren Entwicklung
ist also: Im Osten folgen die Renten wie im Westen der
Entwicklung der Löhne und Gehälter.
Gewollt wird aber nun, dass der Rentenwert Ost unabhängig von der Lohnentwicklung an den Rentenwert
West angeglichen wird. Die Angleichung soll zum 1. Juli
2008 beginnen und bereits 2012 abgeschlossen sein.
Trotz des dafür nötigen Angleichungszuschlages soll die
Hochwertung der in den neuen Ländern erzielten Arbeitsverdienste auf das jeweils vergleichbare Westniveau
erhalten bleiben.
Wer jetzt schnell den Rentenwert Ost anhebt, der
spielt nicht nur mit Milliardenbeträgen, sondern trifft
außerdem die künftigen Rentnergenerationen in Ostdeutschland negativ.
({5})
Die Renten sind in Ostdeutschland schon heute höher als
im Westen, nicht in jedem Einzelfall - das ist wahr -,
aber im Schnitt, weil wir die langjährigen ungebrochenen Erwerbsbiografien aller so berücksichtigt haben, als
hätten sie dafür entsprechende Beiträge gezahlt.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Lötzsch?
Nein.
Die heutige Systematik in der gesetzlichen Rentenversicherung ist gut für die ostdeutschen Beschäftigten,
die heute Beiträge zahlen. Sie werden zweifach begünstigt, wenn die Lohnentwicklung entsprechend ist.
Erstens. Sie erwerben die Rentenentgeltpunkte günstiger. Ein Beispiel: Das rentenrechtliche Durchschnittsentgelt betrug im Jahr 2006 in den alten Ländern
29 500 Euro und in den neuen Ländern 25 000 Euro. Ein
Versicherter aus Hannover hat im Jahr 2006 mit einem
Jahresverdienst von 29 500 Euro brutto also einen Entgeltpunkt erworben. Dagegen erreicht im Jahr 2006 ein
Beschäftigter in Magdeburg mit einem Jahresverdienst
von nur 25 000 Euro ebenfalls einen Entgeltpunkt Ost.
Er wird mit dem Hochwertungsfaktor so gestellt, als ob
er die 29 500 Euro verdient hätte.
Zweitens. Wenn sich die Rentenwerte durch eine entsprechende Lohnentwicklung angeglichen haben, dann
zählen die in den Jahren zuvor günstiger erworbenen
Rentenpunkte sogar voll. Wer also heute im Osten Rentenansprüche erwirbt, der hat Aussicht auf nicht nur
88 Prozent des Rentenwerts, sondern auf den vollen
Rentenwert, wenn er später in Rente geht.
Herr Staatssekretär, es besteht der Wunsch nach einer
weiteren Zwischenfrage. Die Kollegin Bunge möchte
Sie etwas fragen.
Nein. Ich habe meine Antwort darauf bereits gegeben.
Wir sind hier, was das parlamentarische Verfahren angeht, anders eingestiegen als abgesprochen. Deswegen
werde ich jetzt weiter ausführen, ohne Zwischenfragen
zuzulassen.
({0})
Diese Systematik ist mit Bedacht so gewählt worden.
Wer daran jetzt Veränderungen vornimmt, der stellt die
künftigen Rentnerinnen und Rentner im Osten schlechter. Wäre der Rentenwert jetzt einheitlich, dann müsste
auch im Osten das versicherte Entgelt bei der Rentenberechnung ohne den Hochwertungsfaktor am höheren
Durchschnittsverdienst West gemessen werden. Die
Aufrechterhaltung der Hochwertung der Arbeitsverdienste trotz einer Angleichung der Rentenwerte wäre
ein systematischer Bruch. Die Lohn- und Beitragsbezogenheit der Renten in den neuen Ländern wäre aufgegeben. Damit wäre ein Grundprinzip der Rentenversicherung verletzt.
Drittens. Die Angleichung des aktuellen Rentenwerts
Ost an den Westwert bedeutet eine Abkehr von Grundentscheidungen der beiden Staatsverträge zur Herstellung der deutschen Einheit und eine Abkehr von den
Grundentscheidungen der Rentenüberleitung. Mit guten
Gründen ist hier ein Mechanismus festgelegt worden,
der die Angleichung an die tatsächliche Entwicklung der
Löhne und Einkommen der Beschäftigten koppelt. Deswegen ist diese Lohnentwicklung die entscheidende
Stellschraube.
Es geht um die wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland. Gibt es Arbeit? Gibt es steigende Löhne?
Haben wir handlungsfähige Tarifpartner auf beiden Seiten, Mitglieder in den Gewerkschaften, Mitglieder in den
Arbeitgeberverbänden, und haben wir Mindestlöhne
statt Dumpinglöhne? Denn Dumpinglöhne in der Erwerbsphase heute bedeuten niedrige Renten morgen.
Das sind die wichtigen Fragen - auch für die Altersvorsorge; darum geht es.
Es gibt ein weiteres Element, das nicht unterschlagen
werden darf. Wir wissen, dass es bei den Löhnen eine
Schere gibt, die teilweise erheblich auseinanderklafft,
sogar stärker als bei den Renten. 18 Prozent beträgt die
Differenz zwischen Ost- und Westdeutschland bei den
Löhnen. Die Rentnerinnen und Rentner sind daher im
Vergleich zu den Arbeitnehmern in den neuen Ländern
bereits bessergestellt.
Viertens. Mit dem Rentenversicherungsnachhaltigkeitsgesetz ist entschieden worden, dass sich die Schere
im Kern nur noch schließen kann; sie kann nicht mehr
weiter aufgehen. Sie wissen ganz genau, dass wir deswegen, weil wir nicht wollen, dass sie weiter auseinandergeht, gesagt haben: Die Renten im Osten müssen mindestens so sehr steigen wie die im Westen. Das heißt,
selbst wenn es im Osten niedrigere Tarifabschlüsse gibt,
ist der Angleichungsprozess in Bezug auf die Renten so
zu vollziehen, wie er im Westen stattgefunden hat.
Auf die bei einer sofortigen Angleichung entstehenden Mehrausgaben von 6 Milliarden Euro hat die Kollegin Schewe-Gerigk hingewiesen. Hierbei muss man natürlich überlegen, woher dieses Geld kommen soll. Ich
glaube, unter solidarischen Gesichtspunkten ist dies
nicht mit einer vernünftigen Systematik in Übereinstimmung zu bringen. Über dieses Thema sollte noch intensiver diskutiert werden. Aber wenn es wirtschaftlich aufwärtsgeht - es geht darum, dies zu organisieren -, dann
haben auch die Rentnerinnen und Rentner im Osten etwas davon. Dies ist besser, als an den Berechnungen herumzuschrauben und ungedeckte Wechsel auf die Zukunft auszustellen.
({1})
Wir brauchen gut bezahlte Jobs in Ostdeutschland;
das ist die Hauptaufgabe. Die Bundesregierung und die
gesamte Koalition arbeiten daran. Das tun wir seit Jahren im Rahmen des Solidarpaktes und des Aufbaus Ost.
Hierbei geht es um Investitionen in Bildung und Forschung. Es gibt ein Programm Kommunalkombi, das gut
100 000 Menschen Beschäftigungsperspektiven geben
soll. Ich empfehle, sich sehr intensiv mit den inneren
Wirkungen der Rentenformel und den Schutzbestimmungen, die wir geschaffen haben, auseinanderzusetzen.
Das bringt - vielleicht auch bei der Fraktion Die Linke etwas mehr Klarheit als solche Saisonanträge, wie sie
heute wieder gestellt worden sind.
({2})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin
Dr. Martina Bunge.
Eigentlich wollte ich den Staatssekretär etwas fragen.
Da das nicht möglich ist, muss ich das jetzt in eine Feststellung kleiden. Da das Vorhaben, die Einkommen in
Ost und West in fünf Jahren, wie 1991 geschätzt wurde,
anzugleichen, nicht in Erfüllung ging, kann man beim
historischen Akt der deutschen Einheit nach einer Sonderlösung suchen.
({0})
Darauf bezieht sich auch die Forderung nach einer Angleichung der Renten. Eine Sonderlösung, die in fünf
Jahren abgearbeitet werden soll, also bis 2012, wird
nicht das ganze System durcheinanderbringen.
Um noch auf einen Aspekt hinzuweisen: Man kann ja
auch rentensystematisch entkoppeln: wie die Renten gesteigert und wie die Entgeltpunkte für die jetzt Erwerbstätigen berechnet werden. Wenn man das entkoppelt, hat
man keinem geschadet und endlich eine Ost-West-Angleichung hergestellt.
({1})
Herr Staatssekretär, möchten Sie erwidern? - Das ist
nicht der Fall.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/6734 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 38 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Volker Beck ({0}), Irmingard Schewe-Gerigk,
Marieluise Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Europäisches Jahr der Chancengleichheit für
alle
- Drucksachen 16/4933, 16/6314 Es liegen zwei Entschließungsanträge der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Vizepräsidentin Petra Pau
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Jahr
der Chancengleichheit 2007 geht in den nächsten Tagen
zu Ende. Wenn man bilanziert, was die Bundesregierung
daraus gemacht hat, kommt man zu dem Schluss: Es
handelt sich um ein Jahr der vertanen Chancen.
Sie haben die Themen „Chancengleichheit“ und
„Vielfalt der Menschen in Unternehmen und Gesellschaft“ letztendlich nur mit spitzen Fingern angefasst.
Zur Eröffnung des Jahres fand, weil wir die EU-Ratspräsidentschaft innehatten, ein Eröffnungskongress mit
Frau von der Leyen und Frau Böhmer sowie einem
Minister aus Portugal, das ja nach uns die EU-Ratspräsidentschaft übernommen hat, bei uns statt. Ende dieses
Jahres gab es eine Abschlusskonferenz in Lissabon. Da
war die portugiesische Ratspräsidentschaft in Person des
Ministerpräsidenten und eines Ministers vertreten, die
Bundesregierung dagegen gerade einmal auf Mitarbeiterinnen- bzw. Mitarbeiterebene.
Wie sehr Sie sich mit diesem Thema beschäftigen,
wird auch daran deutlich, dass es bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, die aufgrund der entsprechenden europäischen Richtlinie eingerichtet wurde
- deren Umsetzung sollte ja durch das Jahr der Chancengleichheit begleitet werden -, über ein Jahr gedauert hat,
bis überhaupt ein Webauftritt eingerichtet wurde und Informationen über das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz zugänglich gemacht wurden.
Das zeigt, Antidiskriminierung und Gleichbehandlung haben für diese Regierung keinen Wert. Das wird
letztendlich auch am Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz deutlich. Deswegen haben wir hierzu auch einen
Entschließungsantrag vorgelegt. Als wir über die Verabschiedung dieses Gesetz beraten haben - das hat der
CDU/CSU ja arg wehgetan -, haben wir Ihnen gesagt,
dass Ihnen alle Veränderungen, die Sie am ursprünglichen rot-grünen Entwurf vornehmen, europarechtlich
auf die Füße fallen werden. Genau so ist es gekommen.
({0})
Mit Schreiben vom 23. Oktober 2007 hat uns die EUKommission gefragt, was wir uns bei bestimmten Sachen gedacht haben. Diese Anfrage bezog sich dabei nur
auf eine der vier Richtlinien, nämlich die AntirassismusRichtlinie. Die Umsetzung der anderen drei Richtlinien
wird überhaupt erst noch geprüft.
So fragte man danach, warum es Ausnahmen vom
Prinzip der Gleichbehandlung beim Wohnraum gibt und
wo dafür die Basis in der Richtlinie sei. Hier droht eine
Verurteilung, weil nach Ansicht der Kommission diese
Ausnahmeregelung nicht den Vorgaben der Richtlinie
entspricht.
Es wird gefragt, warum denn die ursprünglich im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz vorgesehenen Regelungen zum Kündigungsschutz herausgenommen wurden,
obwohl ansonsten das gesamte Arbeitsrecht einbezogen
wird. Hier stellt die Kommission fest, dass Deutschland
nicht sicherstellt, dass die Entlassungsbedingungen entsprechend der europäischen Richtlinie ausgestaltet werden.
Es wird auch danach gefragt, warum die Verbände
- das war uns immer ganz besonders wichtig - in Prozessen eine geringe Rolle spielen sollen und es kein Verbandsklagerecht gibt. Dabei wissen wir doch genau, dass
Menschen, die häufig von Diskriminierung betroffen
sind, überproportional innerhalb der Benachteiligten zu
Gruppen gehören, die entweder einen schlechteren Zugang zu Bildung hatten oder wenig Geld haben, und deshalb eine hohe Scheu haben, das Prozesskostenrisiko auf
sich zu nehmen. Aber gerade diesen Menschen müssen
doch in einem Antidiskriminierungsgesetz oder, wie Sie
es nennen, Gleichbehandlungsgesetz Möglichkeiten eröffnet werden, um sich wirksam gegen Diskriminierung
wehren zu können.
({1})
Mit unserem Entschließungsantrag wollen wir Ihnen
auf die Sprünge helfen. Wir bitten deshalb den in dieser
Sache federführenden Rechtsausschuss, eine Anhörung
hierzu durchzuführen, damit wir unsere europarechtlichen Hausaufgaben erledigen und einer Verurteilung in
einem Vertragsverletzungsverfahren entgehen.
Es könnte ja alles so schön sein, wenn manche Sachen, die Sie in die Hand nehmen, auch ernsthaft betrieben würden. In einem Text unserer Bundesregierung
heißt es:
Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen Wertschätzung erfahren - unabhängig von Geschlecht,
Rasse, Nationalität, ethnischer Herkunft, Religion
oder Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexueller Orientierung und Identität.
Das sollte die Grundlage sein. Sie haben als einzige
Initiative in diesem Jahr die Charta der Vielfalt verabschiedet. Die einzige Fraktion dieses Hohen Hauses, die
als Arbeitgeber dieser Charta beigetreten ist, ist die Bundestagsfraktion der Grünen. Wir schlagen dem Hohen
Haus nun vor, dass der Deutsche Bundestag als öffentliche Institution diese Charta ebenfalls unterzeichnet und
sich damit das zu eigen macht, was die Bundesregierung
immer fordert. Ich hoffe, dass der Antrag eine Mehrheit
findet. Er ist auf jeden Fall eine Nagelprobe für die
Ernsthaftigkeit Ihrer Bemühungen. Dieser sehr kleine
Schritt reicht bei weitem nicht aus. Aber wenigstens diesen Schritt sollten wir gemeinsam gehen.
Ich hoffe, dass wir im neuen Jahr, wenn das Jahr der
Chancengleichheit verstrichen ist, darüber reden können,
was die Voraussetzungen für Chancengleichheit sind.
Gerade wer nicht so viel Gesetzgebung in diesem Bereich haben will, muss sich um die gesellschaftspolitische Flankierung kümmern, sonst wird der Ruf nach
dem Gesetzgeber immer lauter. Auch wir finden: Die
beste Lösung ist, dass wir für ein diskriminierungsfreies
Klima in der Gesellschaft sorgen. Dann wären mehr Gesetze nicht notwendig.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Eva Möllring für die
Unionsfraktion.
({0})
Nur wenn jeder Einzelne seine Chance bekommt,
können wir unser Wirtschaftspotenzial voll ausschöpfen.
Das hat Vladimir Spidla gesagt, der als Sägewerksarbeiter, Kulissenschieber, Arbeitsamtsdirektor und Ministerpräsident gearbeitet hat.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Diese Debatte ist der Schlusspunkt des Jahres
2007 im Deutschen Bundestag, was die Chancengleichheit angeht. Das hat seinen Grund; denn das Jahr der
Chancengleichheit geht zu Ende. Wir stellen fest, dass
die Chancengleichheit in Deutschland wirklich durchgehend zu einem Thema geworden ist, Herr Beck. Integration, Antidiskriminierung und Gleichstellung sind aus
der politischen Diskussion des Jahres 2007 nicht wegzudenken.
({0})
Die Antidiskriminierungsstelle hat mit großer Dynamik
ihre Arbeit aufgenommen. Informieren Sie sich, reden
Sie mit Frau Dr. Köppen, und Sie werden feststellen, wie
viele Anträge sie bearbeitet.
Gleich im Januar 2007 fand in Berlin als Auftaktveranstaltung der erste Gleichstellungsgipfel mit 600 ausgewählten Teilnehmerinnen und Teilnehmern statt. Im
März folgte die Leipziger Konferenz zur Chancengleichheit älterer Arbeitnehmer und im Mai das Treffen
der Gleichstellungs- und Familienministerinnen bzw.
-minister in Bad Pyrmont.
({1})
- Herr Beck, ich habe festgestellt, dass Sie weder etwas
über die Gleichstellung von Frauen noch über die
Gleichstellung von älteren Menschen gesagt haben; das
hat mich sehr bekümmert. Denn es ist ein sehr zentraler
Punkt in diesem Themenfeld.
Gerade die Chancengleichheit von Frauen und Männern in der Erwerbs- und Familienarbeit sowie die Diskussion in Deutschland über sich wandelnde Rollenbilder, über Mütter und Väter in Führungspositionen und
über die Förderung von Frauen und Kindern mit Migrationshintergrund hat die Schlagzeilen und Titelblätter erobert. Wer dadurch nicht sensibilisiert wurde, liebe beide
Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, der muss schon
ein dickes Fell haben.
({2})
Kollegin Möllring, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Wunderlich?
Nein, danke. Wir wollen doch irgendwann Weihnachten feiern.
({0})
Ich danke an dieser Stelle ausdrücklich der Frauenministerin von der Leyen, dass sie die deutsche EUTeampräsidentschaft genutzt hat, um die Chancen- und
Entgeltgleichheit von Frauen und Männern im Erwerbsleben und die Erweiterung der Rollenbilder in der
Roadmap der EU-Kommission zu verankern. Wir können stolz darauf sein, dass diese Initiative aus Deutschland gekommen ist und nun von Portugal und Slowenien
weitergeführt wird.
Es hat danach zahlreiche Konferenzen und Kampagnen gegeben, in denen Herkunft, Behinderungen, Religion, Geschlecht und sexuelle Identität als Ursache für
mangelnde Chancengleichheit angesprochen wurden.
Der augenscheinlichste Erfolg dieser breiten Debatte
- ich glaube, auch das haben Sie nicht erwähnt, Herr
Beck - ist der Nationale Integrationsplan,
({1})
der nicht nur eine Bestandsaufnahme, sondern auch eine
Fülle von Maßnahmen und Lösungsstrategien enthält.
Das Bewusstsein für Integration hat wirklich auf allen
politischen Ebenen Fuß gefasst.
({2})
Schlüsselfaktoren für eine erfolgreiche Integration
sind Sprache und Bildung. Deshalb wollen wir die deutsche Sprache von Anfang an fördern. Es wird sich niemand in Deutschland zurechtfinden, der nicht die deutsche Sprache kann. Ich habe einmal als junges Mädchen
erlebt, wie ich in Spanien vergeblich versucht habe, einen Bus zum Anhalten zu bringen. Daher ist mir sehr bewusst, wie wichtig es ist, dass man sich in der Sprache
des jeweiligen Landes verständigen kann. Denn man hat
nicht immer jemanden neben sich stehen, der einem
hilft.
({3})
- Es ist gut, dass Sie nicht das Gegenteil behaupten. Das
ist der erste Schritt zur Besserung.
Im Jahr der Chancengleichheit kam bei uns ein neuer
Denkansatz auf:
({4})
Diversity als Chance für Wirtschaft und Mitarbeiter. Vor
einem Jahr haben vier Unternehmen die DiversityCharta unterzeichnet. Seitdem haben sich 207 Betriebe
und öffentliche Einrichtungen angeschlossen.
({5})
Wir sind dankbar, dass die Kanzlerin die Schirmherrschaft für diese Initiative übernommen hat. Wir können
uns alle dafür einsetzen, dass sich möglichst viele weitere Betriebe anschließen.
({6})
- Herr Beck, ich betrachte Ihre Erfolgsliste gerne im
nächsten Jahr zu Weihnachten. Sie können sie mir ja
dann vorlegen.
({7})
Als Familien- und Frauenpolitikerin liegt mir die
Gleichstellung von Frauen und Männern besonders am
Herzen. Ich begrüße es deshalb, dass allein das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
2,7 Millionen Euro investiert hat, um Gleichstellungsanliegen von Frauen und Männern anlässlich des Jahres der
Chancengleichheit zu verwirklichen. Das ist ein wichtiger Schritt. Trotzdem haben wir den Durchbruch noch
lange nicht erreicht. Frauen verdienen im Durchschnitt
immer noch 22 Prozent weniger als Männer.
({8})
- Guter Einwand, danke. - Hinsichtlich der Lohnunterschiede liegen wir weltweit gesehen weiter nur auf dem
71. Platz von 128 Nationen, also in der unteren Hälfte.
Deshalb sind weiterhin zahlreiche Maßnahmen notwendig, um altmodische Rollenbilder zu überwinden und
Frauen gleiche Chancen im Berufsleben einzuräumen.
({9})
Die Arbeit von Frauen muss gerecht bewertet werden.
Tarifstrukturen müssen transparent sein und öffentlich
gemacht werden. Frauen und Männer müssen die
Chance haben, Gehälter und andere Geldzahlungen zu
kennen und eine angemessene Bezahlung zu fordern.
Das hat ein Expertengespräch ergeben, das wir in dieser
Woche mit Frauen aus verschiedenen Branchen und Verbänden geführt haben.
Der Ausbau der Kinderbetreuung wird für viele
Mütter und Väter ein Schlüssel zur dauerhaften Berufstätigkeit sein. Nun sind die Unternehmen gefordert, familienfreundliche Arbeitszeiten und systematische Weiterbildungsangebote anzubieten. Die Politik muss sich in
den nächsten Jahren verstärkt darum kümmern, den
Müttern und Vätern diese Angebote finanziell zu ermöglichen. Wir leben nicht mehr in einer Zeit, in der eine
Erstausbildung langfristig eine erfolgreiche Berufstätigkeit gesichert hat. Es wird von essenzieller Bedeutung
sein, dass gerade Mütter und Väter die Familienzeit als
Freiraum begreifen, um berufliche Chancen durch Fortbildung zu steigern. Nach dem Elterngeld und dem Ausbau der Kinderbetreuung ist das aus meiner Sicht der
nächste konsequente Schritt einer modernen Frauen- und
Familienpolitik.
Herr Winkler, ich freue mich, dass Sie mir in allen
Punkten zustimmen. Vielleicht treten Sie demnächst ja
bei uns ein.
({10})
Das Jahr der Chancengleichheit endet nicht mit dem
letzten Kalendertag, sondern ist ein Startschuss für viele
neue Projekte und für eine positive Entwicklung. Ich
wünsche Ihnen und uns noch viele Jahre der Chancengleichheit.
Danke schön.
({11})
Das Wort hat der Kollege Jörg Rohde für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Europäische Jahr der Chancengleichheit neigt sich
dem Ende zu. Daher ist es durchaus angemessen, dass
wir uns in der letzten Sitzungswoche dieses Jahres mit
diesem Thema befassen und eine Bilanz ziehen.
Das Europäische Jahr der Chancengleichheit sollte
den Europäerinnen und Europäern bewusst machen, dass
sie ein Recht auf Gleichbehandlung haben. Es ging um
die Förderung der Chancengleichheit in verschiedenen
Bereichen, von der Arbeit bis zur Gesundheitsversorgung. Es ging darum, zu zeigen, wie Diversität die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten im wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Bereich stärkt.
Schwerpunkte sollten sein: Rechte, gesellschaftliche
Präsenz, Anerkennung und Respekt.
In der Antwort auf die Große Anfrage der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen finden sich Hinweise auf zahlreiche Projekte aus den unterschiedlichsten Bereichen,
die zum Teil alle Diskriminierungsmerkmale umfassen,
sich zum Teil aber auch auf einige der in Art. 13 EGV
genannten Merkmale beschränken. Auch wenn mit diesen Projekten Signale gesetzt werden konnten, gibt es
nach wie vor Bereiche, in denen es weiterhin erforderlich ist, auf Gleichstellung hinzuwirken.
Dies gilt etwa für den Bereich der Arbeitswelt. Laut
einer Studie der OECD ist die Differenz zwischen den
Gehältern von Frauen und Männern in unserem Land
größer als in fast allen anderen Industriestaaten. Lediglich Japan und Korea liegen in dieser unrühmlichen Statistik noch vor der Bundesrepublik Deutschland.
Ein Beispiel: Ein Rechtsanwaltsgehilfe erhält im
Westen nach Angaben einer sehr weitverbreiteten Zeitung 2 819 Euro. Das Einkommen einer Frau, die diesen
Beruf im Westen ausübt, liegt bei nur 2 352 Euro. Lebt
sie im Osten, schmilzt es gar auf 1 797 Euro. Hier besteht also weiterhin Handlungsbedarf.
({0})
Der Frauenanteil unter den Führungskräften in der
deutschen Wirtschaft ist mit 12 Prozent noch immer
gering. Selbst in den Bereichen, in denen das Bundesgleichstellungsgesetz gilt, etwa in der Bundesverwaltung, sind Frauen vor allem in Beschäftigungsverhältnissen mit geringerem Einkommen und schlechteren
Karrieremöglichkeiten häufiger zu finden.
({1})
Auch das Angebot, einer Teilzeitbeschäftigung nachzugehen, wird hauptsächlich von Frauen wahrgenommen.
Es ist zu konstatieren: Gesetze alleine helfen nicht.
({2})
Damit komme ich zu den Entschließungsanträgen.
Der Abbau von Diskriminierung lässt sich nicht per Gesetz verordnen. Das ist eine gesellschaftliche Aufgabe.
Was wir brauchen, ist eine Veränderung des Bewusstseins. Wir müssen eine Kultur des Miteinanders entwickeln, in der Diskriminierung und Vorurteile geächtet
und Vielfalt und Unterschiedlichkeit nicht nur akzeptiert
und toleriert, sondern auch als Bereicherung empfunden
werden.
({3})
Freiheit zu garantieren heißt, die Rechte von Minderheiten zu schützen.
({4})
Was die Situation der Frauen angeht, bedeutet dies,
dass der Fahrplan der Europäischen Kommission für die
Gleichstellung von Frauen und Männern 2006 bis 2010
zügig umgesetzt werden muss und dass das GenderMainstreaming überwacht und gestärkt werden muss.
Dies bedeutet aber auch, dass vor allem in den Unternehmen, Behörden und Einrichtungen Personen speziell mit
Blick auf Diversity geschult werden müssen. Ich möchte
in diesem Zusammenhang nur darauf hinweisen, dass im
Jahr 2007 bereits fast jedes zweite DAX-Unternehmen
über eine oder mehrere hauptamtliche Beauftragte für
Diversity verfügte.
In einem Entschließungsantrag der Grünen wird der
Bundestagspräsident gebeten, für die Unterzeichnung
der sogenannten Charta der Vielfalt Sorge zu tragen. Der
Deutsche Bundestag tritt als Verfassungsorgan schon
jetzt für den Abbau von Diskriminierungen und Intoleranz ein. Gleiche Rechte und gleiche Chancen für alle
Bürger, und das unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft, ihrem Geschlecht, ihrer Religion oder Weltanschauung, ihrer Behinderung, ihres Alters oder ihrer sexuellen Identität, müssen garantiert werden. Diesem Ziel
fühlt sich der Bundestag seit jeher verpflichtet. Daran
hätten Sie uns nicht erinnern müssen, Herr Beck.
({5})
Es ist bedauerlich, dass die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen - dies auch vor dem Hintergrund des Kongresses
„Diversity als Chance“, der am 5. Dezember dieses Jahres mit Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel, Staatsministerin Prof. Dr. Maria Böhmer sowie Ján Figel für die
Europäische Kommission in Berlin stattgefunden hat in ihrem Entschließungsantrag keine konkreteren Forderungen formulierte und auch in der Begründung in erster
Linie auf den Wortlaut der Charta für Vielfalt verwies.
({6})
Zum Schluss möchte ich als Sprecher für Menschen
mit Behinderungen noch einige Bemerkungen zur Chancengleichheit Behinderter machen. Das trägerübergreifende persönliche Budget wird am 1. Januar 2008 nach
einer mehrjährigen Erprobungsphase zum Rechtsanspruch. Es könnte ein hervorragendes Mittel zur Schaffung von Chancengleichheit sein. Denn es ermöglicht
behinderten Menschen, selbst zu entscheiden, von wem,
wann, wie und in welcher Umgebung sie betreut, gepflegt und gefördert werden. Dieses Budget ist nichts anderes als die Chance zur Selbstbestimmung. Umso bedauerlicher ist es aber, dass die Bundesregierung keine
Schritte unternommen hat, um einige Konstruktionsfehler des Budgets noch vor dem 1. Januar 2008 zu korrigieren. Hier hätte ich mir mehr gewünscht, und ich bin
mir sicher, dass darüber fraktionsübergreifend Einigkeit
besteht.
Als letzter Redner der FDP-Fraktion in diesem Jahr
wünsche ich Ihnen auch im Namen all meiner liberalen
Kollegen eine erholsame und besinnliche Weihnachtszeit. Wir freuen uns auf die Diskussionen mit Ihnen im
kommenden Jahr. Alles Gute!
({7})
Den Beitrag der Kollegin Renate Gradistanac für die
SPD-Fraktion nehmen wir zu Protokoll.1)
1) Anlage 9
Vizepräsidentin Petra Pau
Das Wort hat der Kollege Dr. Ilja Seifert für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren Besucherinnen und Besucher!
Das Europäische Jahr der Chancengleichheit ist ein Jahr
der verpassten Chance. Kollege Beck, ich kann Ihnen da
bedauerlicherweise nur zustimmen. Welche Chancen
hatten wir denn? Gerade hatten wir eine Diskussion über
die Rentnerinnen und Rentner. Was ist dabei herausgekommen? Die Ostdeutschen haben keine Chance, dass
ihre Renten angeglichen werden. Toll zum Thema Chancengleichheit.
Oder reden wir über Menschen mit Behinderungen.
Herr Rohde hat es gerade gesagt: Das Persönliche Budget ist ein wunderbares Wort. Erfunden haben wir es, die
Menschen mit Behinderungen, vor vielen Jahren in unserer Bewegung. Was machen Sie daraus? Ein Sparprogramm. Wie es um die Chance bestellt ist, Herr Rohde,
dass damit jemand selbstbestimmt sein Leben so gestalten kann, wie er möchte, sehen wir an folgendem Fall:
Gestern oder vorgestern wurde einem behinderten Menschen in Hamburg verboten, in eine eigene Wohnung zu
ziehen. Er muss im Heim bleiben, weil das angeblich ein
paar Euro billiger ist. Was hat das mit Selbstbestimmung
zu tun? Was nützt ihm das Persönliche Budget? Er empfindet dieses Weihnachtsgeschenk als „lebenslänglich“,
lebenslänglich eingesperrt im Heim. So wird verfahren,
anstatt dafür zu sorgen, dass zumindest diejenigen, die es
wollen, aus diesen Einrichtungen herauskommen und ihr
eigenes Leben mit Hilfe von Assistentinnen und Assistenten führen können.
Kollege Seifert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Rohde?
Aber gern, wenn es um diese Zeit noch erlaubt ist.
Diese Minute nehmen wir uns, Herr Kollege Seifert.
Sie hatten gerade den Fall in Hamburg angesprochen.
Wenn ich das richtig sehe - wir beide sind behindertenpolitische Sprecher -, dann müsste doch dann, wenn der
Rechtsanspruch ab dem 1. Januar, also in wenigen Tagen, existiert, ein Behinderter selber entscheiden können, dass er seine eigene Wohnung bezieht; denn das ist
ein Rechtsanspruch. Es handelt sich doch anscheinend
nur um wenige Tage.
Lieber Herr Rohde, Sie sollten sich vielleicht einmal
mit dem Persönlichen Budget auseinandersetzen. Es
handelt sich bedauerlicherweise nicht um einen neuen
Anspruch, sondern nur um eine neue Art und Weise, wie
man sich das Geld auszahlen lassen kann. Wenn es so
wäre, dass man so viel Geld bekommt, wie man braucht,
dann würde das Persönliche Budget diesem Menschen
wirklich helfen. Dann könnte dieser Mensch ab dem
1. Januar sagen: Ich möchte aus dem Heim ausziehen,
ich möchte meine eigene Wohnung und meine Assistentin bzw. meinen Assistenten bezahlen. - Er bekommt
aber das Geld nicht. Das Recht nützt ihm nichts, wenn er
die Mittel nicht in die Hand bekommt. Dieser Mensch ist
bedauerlicherweise laut Gerichtsbeschluss momentan im
Heim eingesperrt. Es sieht nicht so aus, als ob er dort herauskäme, jedenfalls nicht mit den jetzigen Mitteln.
Wenn wir als behindertenpolitische Sprecherinnen und
Sprecher gemeinsam auf die Bundesregierung so einwirken würden, dass der Bedarf an Hilfeleistung gedeckt
wird, dann wären wir weiter und hätten etwas erreicht.
({0})
Kommen wir zurück zum Thema. Wenn wir Chancengleichheit herstellen wollen, so müssen wir verschiedene
Merkmale beachten. Wenn Ihre so gelobte, allerliebste
Familienministerin bei der Eröffnungsveranstaltung im
Haus des Lehrers, in der Kongresshalle, in ihrer ellenlangen Rede das Wort „Menschen mit Behinderung“ nicht
einmal sagt, nicht einmal denkt, dann weiß ich, was sie
von den Merkmalen und von Chancengleichheit hält. Ich
habe die Rede gehört. Die behinderten Menschen kommen in ihrem Denken gar nicht vor.
({1})
Komischerweise kommt das auch im richtigen Leben
nicht vor.
({2})
Wir müssen uns jede Chance mühsam erkämpfen. Sie
geben uns keine Möglichkeit, uns tatsächlich auf die Regierung zu stützen.
Kollege Seifert, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, dieses Mal vom Kollegen Volker Beck?
Ich bin überrascht, aber selbstverständlich, Herr
Beck.
Können Sie, da auch Sie, wie Sie eben geschildert haben, bei dem Kongress anwesend waren und zu Recht
bemerken, dass der Begriff in der Rede fehlte, bestätigen, dass es offensichtlich bei der Konzeptionierung der
ganzen Veranstaltung daran fehlte, an die Bedürfnisse
von Behinderten zu denken, insbesondere angesichts der
Tatsache, dass die Peinlichkeit der Veranstaltung darin
bestand, dass behinderte Teilnehmer, die eigentlich auf
das Podium sollten, nicht dorthin kamen, weil keiner daran gedacht hat, dass ein Rollstuhlfahrer eine Rampe
braucht, um menschenwürdig auf das Podium kommen
Volker Beck ({0})
zu können? Wie haben Sie als behinderter Mensch es gefunden, dass das Jahr der Chancengleichheit so beginnt?
Herr Beck, ich muss sagen: Ich habe mich geschämt.
Selbst wenn ich dort als jemand bin, der sich zu denen
zählt, um die es geht, bin ich als Abgeordneter auch ein
wenig Repräsentant dieses Staates. Ich habe mich für
diesen Staat geschämt, dass er nicht einmal in der Lage
ist, eine Veranstaltung zu organisieren, in der Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer wenigstens auf die
Bühne können, wenn sie schon als Rednerinnen und
Redner eingeteilt sind.
({0})
Anschließend habe ich mir erlaubt, ein wenig mit dem
Kommissar Spidla zu reden, da wir uns ein wenig kennen. Er hat selber gesagt, dass es ihm ziemlich unangenehm ist, so etwas erleben zu müssen. Ich glaube, da ist
die EU-Kommission schon etwas weiter als unsere allerliebste Ministerin.
({1})
Erlauben Sie mir, da ich der letzte Redner in diesem
Jahr bin, zum Abschied noch etwas Versöhnliches zu sagen.
({2})
Ich erlaube mir, diese Debatte mit einem kleinen Gedicht
zu beenden:
BE-SONDER-LICHES
Jede/r ist etwas Besonderes. Besonders ich.
Oder:
Jede/r ist etwas Besonderes. Besonders du.
Und:
Jede/r isst etwas Besonderes.
Jede/r braucht Besonderes.
Jede/r möchte Besonderes.
Jede/r träumt Besonderes.
Also:
Es ist nichts Besonderes,
etwas Besonderes zu sein.
Darum:
Sonder-Regelungen für alle!
Und:
Sonder-Regelungen für jede/n!
Danke schön.
({3})
- Richtige Liberale wissen, dass sozial richtig ist!
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Überweisung der Entschließungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Der Entschließungsantrag auf Drucksache 16/7536 soll zur federführenden Beratung an den Rechtsausschuss und zur
Mitberatung an den Ausschuss für Arbeit und Soziales,
an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie an den Ausschuss für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe überwiesen werden. Der Entschließungsantrag auf Drucksache 16/7537 soll zur federführenden Beratung an den Ältestenrat und zur Mitberatung
an den Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die
nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 16. Januar 2008, 13 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen,
aber auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der
Verwaltung, der Fraktionen, der Mitglieder des Bundestages und natürlich auch den Gästen des Hauses besinnliche Feiertage, die notwendige Muße, um Kraft zu tanken, und die eine oder andere gute Idee für das Jahr
2008. Heute war viel von Zeitnot die Rede. Es gibt aber
Hoffnung: Im Jahr 2008 haben wir einen Tag mehr. Ich
wünsche Ihnen alles Gute.
Die Sitzung ist geschlossen.