Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 12/12/2007

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sit- zung ist eröffnet. Ich begrüße Sie zur letzten Sitzungswoche in diesem Jahr und rufe die Tagesordnungspunkte 1 a und 1 b auf: 1 a) Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin Unterzeichnung des Vertrages von Lissabon am 13. Dezember und zum Europäischen Rat am 14. Dezember 2007 b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Löning, Michael Link ({0}), Florian Toncar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten Rainder Steenblock, Jürgen Trittin, Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Gegen die Einsetzung eines „Rates der Weisen“ zur Zukunft der EU - Drucksache 16/7178 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Zu der Abgabe einer Regierungserklärung liegen ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung anderthalb Stunden vorgesehen. Gibt es dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat die Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel. ({1})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In diesem Jahr hat Deutschland durch die Wahrnehmung der EUPräsidentschaft in besonderer Weise Verantwortung für Europa getragen. Die Ausgangssituation vor zwölf Monaten war denkbar schwierig: Europa war weitgehend orientierungslos, Skepsis und Ratlosigkeit hatten sich breitgemacht, und die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger zu Europa war nur mit sehr viel gutem Willen erkennbar. In dieser Situation hat sich die Bundesregierung für die deutsche Ratspräsidentschaft ein klares Ziel gesetzt: Wir wollten eine Neuausrichtung und eine Neubegründung der Europäischen Union anstoßen. Heute können wir, glaube ich, feststellen: Genau das ist gelungen. ({0}) Wir waren gemeinsam nicht nur gut darin, uns Ziele zu setzen. Wir haben es gemeinsam auch geschafft, diese Ziele zu erreichen. Wenn ich „gemeinsam“ sage, dann schließe ich dieses Haus, Sie alle, ausdrücklich mit ein. Ich möchte diese Debatte als Gelegenheit nutzen, um Ihnen für Ihre große Unterstützung in diesem Jahr ein herzliches Dankeschön zu sagen. Wir haben viel erreicht: Die Europäische Union hat sich globaler Zukunftsthemen angenommen. Beispielhaft dafür ist die Energie- und Klimapolitik. Europa war, ist und bleibt Vorreiter beim Klimaschutz. Europa hat erkannt, dass es sich beim Schutz des Klimas und beim Zugang zu Energie um zwei zentrale Herausforderungen für die Menschheit handelt. Diese Erkenntnis bestimmt unsere Verhandlungsposition bei den gegenwärtig laufenden Klimaschutzberatungen auf Bali, an denen auch der Bundesumweltminister teilnimmt. Wir dürfen uns aber keinen Illusionen hingeben; denn die eigentliche Arbeit für den Klimaschutz beginnt erst nach der Konferenz auf Bali. Der Weg zu einem Abkommen im Anschluss an das Kioto-Abkommen unter dem Dach der Vereinten Nationen wird sehr steinig sein. Mehr denn je wird es dabei auf eine entschlossene Haltung Europas und all seiner Mitgliedstaaten ankommen. ({1}) In dem Jahr der deutschen EU-Ratspräsidentschaft haben wir allen Bürgerinnen und Bürgern Europas aber noch mehr gezeigt, zum Beispiel dass Entscheidungen, Redetext die auf europäischer Ebene getroffen werden, Auswirkungen auf das Alltagsleben haben, dass das Alltagsleben ganz konkret verbessert wird. Ich denke beispielsweise an die Senkung der Roaming-Gebühren. Wir haben aber auch das Bewusstsein für die Zusammengehörigkeit in Europa gestärkt. Ich denke dabei vor allem an die Feiern zum 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge. Dort haben wir gemeinsam gespürt, was es heißt, zu sagen: Wir Bürger Europas sind zu unserem Glück vereint. - Das ist kein einfach so dahingesagter Satz. Nein, auch nach 50 Jahren Frieden und Freiheit dürfen wir dieses Glück Europas zu keiner Stunde für selbstverständlich nehmen. ({2}) Stets aufs Neue müssen wir es schützen und dafür eintreten. Deshalb ist gar nicht hoch genug einzuschätzen, dass die Zustimmung der Bevölkerung in Deutschland zur Europäischen Union in diesem Jahr auf einem Zehnjahreshoch ist. Das müssen wir halten, stärken und festigen. Kurzum: In Europa ist wieder mehr Schwung und Leben gekommen. Das ist das Ergebnis unserer gemeinsamen Arbeit hier in Berlin und überall in Deutschland. Es ist aber wahrlich nicht nur das Ergebnis der Arbeit von uns Politikern. Nein, ohne die vielen Menschen, die sich ehrenamtlich für Europa starkgemacht haben, ginge vieles nicht. Deshalb möchte ich bei dieser Gelegenheit auch ihnen den ausdrücklichen Dank der Bundesregierung und - ich bin mir ganz sicher - auch Ihren Dank sagen. ({3}) Die größte Herausforderung für unsere Präsidentschaft war die Reform der Verträge der Europäischen Union. Ich habe vor einem Jahr an dieser Stelle gesagt: Es wäre ein historisches Versäumnis, wenn es uns nicht gelänge, den Reformprozess bis zur Europawahl 2009 zu einem guten Ende zu führen. - Die Folgen wären kaum auszudenken gewesen. Umgekehrt können wir heute sagen: Dass uns am Ende der Durchbruch zu einem Reformvertrag gelungen ist, ist für die Zukunft Europas von historischer Bedeutung. ({4}) Unsere Arbeit zur Erreichung dieses Ziels hat sich gelohnt. Wir haben es geschafft, für die Reform ein umfassendes und präzises Mandat zu vereinbaren; kaum jemand hat dies vor einem Jahr für möglich gehalten. Der Erfolg, zu dem wir morgen unsere Unterschriften leisten können, liegt auch in unserer engen Zusammenarbeit mit der portugiesischen Ratspräsidentschaft begründet, die dieses Mandat innerhalb weniger Monate in einen neuen Vertragstext überführt hat. Morgen werden der Bundesaußenminister und ich in Lissabon den neuen Vertrag unterschreiben. Ich neige jetzt wahrlich nicht zu übertriebener Euphorie. Aber ich glaube, wir können gemeinsam festhalten: Dieser Tag markiert einen historischen Erfolg für Europa, und er wird im Rückblick vielleicht einmal als eine entscheidende Wegmarke bei der Herstellung von mehr Handlungsfähigkeit in Europa angesehen werden. Nach seiner Ratifizierung wird der Vertrag von Lissabon die Reihe der Vertragsreformen von Maastricht über Amsterdam und Nizza abschließen. Anders als seine Vorgänger lässt dieser Vertrag keine Fragen offen. Er holt die bei der großen Erweiterung des Jahres 2004 nicht erfolgten Reformen der Organe der Europäischen Union nach. Er nimmt die in den letzten zwei Jahren laut gewordenen Bedenken und Sorgen der Bürgerinnen und Bürger auf. Er bündelt die unterschiedlichen Konzepte und Vorstellungen von der Europäischen Union, die es in den Mitgliedstaaten gibt. Damit schafft er die Grundlage für die neue Europäische Union im 21. Jahrhundert. Selbstverständlich: Mit der Unterzeichnung des Vertrages ist die Arbeit noch nicht endgültig abgeschlossen, auch in Deutschland nicht. Es folgt das Ratifizierungsverfahren im Bundesrat und in diesem Hause. Die Bundesregierung wird die dazu notwendigen Gesetzentwürfe in der nächsten Woche verabschieden. Ich wünsche mir, dass die parlamentarischen Verfahren in Deutschland bis Mitte Mai 2008 erfolgreich abgeschlossen werden können. Ich bin zuversichtlich, dass die Ratifizierung des Vertrages auch in den anderen Mitgliedstaaten erfolgen wird. So könnten wir unter Beweis stellen: Wir kommen voran, wenn wir einig sind. Europa gelingt eben nur gemeinsam. ({5}) Das dürfen wir niemals vergessen oder aus den Augen verlieren, so mühsam manche Diskussion auch sein mag. Gewinner sind beide, Europa genauso wie die Nationalstaaten. Lassen Sie mich das an fünf Beispielen verdeutlichen: Erstens. Die Europäische Union wird demokratischer. Zum einen wird das Europäische Parlament gestärkt, zum anderen erhalten die nationalen Parlamente mehr Mitspracherecht in europäischen Gesetzgebungsverfahren. Bundestag und Bundesrat werden in Zukunft frühzeitig und umfassend über anstehende Gesetzesinitiativen informiert. Lehnt eine Mehrheit der nationalen Parlamente einen EU-Vorschlag ab, dann müssen sich die Organe der Europäischen Union mit diesem Votum zwingend beschäftigen. Dies kann auch dazu führen, dass der Vorschlag fallen gelassen wird. Zum ersten Mal können also die nationalen Gesetzgeber zu einem sehr frühen Zeitpunkt unmittelbaren Einfluss auf die europäische Gesetzgebung nehmen. Das bedeutet natürlich auch, dass wir uns noch intensiver als früher mit europäischen Vorhaben beschäftigen werden. Auf diese Weise finden - davon bin ich überzeugt - europapolitische Themen eher Eingang in die öffentliche Diskussion, und so spielt sich Europapolitik nicht nur in Brüssel ab, sondern sie wird auch hier bei uns in Berlin greifbarer. Das heißt nichts anderes, als dass Europa näher an die Bürgerinnen und Bürger heranrückt. Ich denke, es ist eine gute Bewegung, die mit diesem Vertrag möglich wird. ({6}) Die nationalen Parlamente werden sicher auch intensiv von der Möglichkeit Gebrauch machen, zu überprüfen, ob die Europäische Union im jeweiligen Fall überhaupt tätig werden soll. Das heißt, es wird auch die Aufgabe dieses Hauses sein, darauf zu achten, dass es nicht zu einer schleichenden Ausweitung der EU-Tätigkeiten kommt, wo sie nicht erforderlich oder rechtlich gar nicht abgesichert ist. ({7}) Dies führt mich unmittelbar zu meinem zweiten Punkt. Der neue Vertrag unterscheidet deutlich die Zuständigkeiten der Europäischen Union von denen der Mitgliedstaaten. Diese Unterscheidung war immer ein deutsches Anliegen. Wir haben das seit langem vertreten. Ich halte das für ein wirklich wichtiges Ergebnis dieses neuen Vertrages. Der Vertrag macht außerdem klar: Zuständigkeiten der Europäischen Union können wieder an die Mitgliedstaaten zurückgegeben werden, wenn dies vernünftig erscheint. Das heißt also, Kompetenzzuteilung ist nicht mehr eine Einbahnstraße - von den Nationalstaaten nach Europa -, sondern auch der umgekehrte Weg ist möglich. Das ist etwas, was ich für sehr vernünftig halte. Wenn nämlich gestern etwas von der Union besser als von den Nationalstaaten geregelt werden konnte, dann heißt das noch lange nicht, dass das über 10, 20, 30 oder 40 Jahre weiter so bleiben muss. Auch kann es nicht sein, dass Kompetenzzuwächse immer nur in eine Richtung gehen. Ich glaube, das entspricht ganz besonders unserem, dem deutschen, Subsidiaritätsverständnis, und das macht vor allem das Handeln der Europäischen Union nachvollziehbarer. Das ist natürlich unverzichtbar, um die Verantwortlichkeiten wieder besser zum Ausdruck zu bringen. Die Bürger Europas haben - das ist zumindest meine Überzeugung einen Anspruch darauf, zu wissen, wer wofür warum verantwortlich ist. ({8}) Drittens. Ab 2014 gilt im Rat - darum haben wir lange gestritten - die sogenannte doppelte Mehrheit. Das heißt, bei Entscheidungen fällt neben der Zahl der Staaten auch die Zahl der Bürger eines Landes gleichberechtigt ins Gewicht. Dadurch wird die jeweilige Bevölkerungsgröße der Mitgliedstaaten angemessen berücksichtigt, und so wird das Einstimmigkeitsprinzip endlich auf das Notwendige eingeschränkt. Mehrheitsentscheidungen werden auf einer fairen Grundlage ausgeweitet. Kurzum: Die doppelte Mehrheit wird der Legitimierung der Entscheidungen sehr helfen. Allerdings sage ich auch voraus: Wenn Mehrheitsentscheidungen gefällt werden, wird sich Deutschland nicht immer zu 100 Prozent durchsetzen können. Auch das wird eine Erfahrung sein, die wir machen werden. Gut an der Mehrheitsentscheidung ist, dass wir nicht jeden mitnehmen müssen, wenn uns etwas wichtig ist; schlecht ist, dass wir manchmal das Gefühl haben werden, dass wir etwas nicht erreichen konnten. Viertens. Der neue Vertrag erleichtert die verstärkte Zusammenarbeit einer Gruppe von Mitgliedstaaten in bestimmten Politikbereichen. Damit ist eine Weiterentwicklung der Europäischen Union innerhalb des EUVertragsrahmens möglich. Dies gibt uns die notwendige Beweglichkeit in einer sehr groß gewordenen Union, einer Union von Mitgliedstaaten mit unterschiedlichen Stärken, Wünschen und Interessen. Eines ist mir allerdings sehr wichtig: Gruppenspezifische Kooperationen müssen immer im allgemeinen Einvernehmen erfolgen. Der Zugang zu einer engeren Zusammenarbeit einer Ländergruppe muss prinzipiell für alle offenbleiben; es darf kein Europa der geschlossenen Gesellschaften geben. Wenn wir dies beachten, wird dieses Arbeitsprinzip uns nach vorn bringen. Die ersten Diskussionen dazu werden wir in Bezug auf die Kooperation im Mittelmeerraum haben. Aber wenn wir dieses Prinzip nutzen, kann das viele Vorteile für die Arbeit innerhalb der Europäischen Union bringen. ({9}) Fünftens. Der Vertrag wird der Europäischen Union der 27 Mitgliedstaaten über institutionelle Neuerungen mehr Gesicht und eine klare Stimme verleihen. Denn zum einen wird es einen gewählten Präsidenten geben, der den Treffen der Staats- und Regierungschefs zweieinhalb Jahre lang vorsitzen wird. Das verleiht der Ratsarbeit automatisch mehr Kontinuität. Man denkt nicht mehr nur in Halbjahreszeiträumen, sondern durch die Amtszeit des Ratspräsidenten wird in längeren Zeiträumen gedacht werden. Zum anderen wird dem Rat der Außenminister ein Hoher Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik vorsitzen; er wird zugleich Vizepräsident der Kommission sein. Damit gibt es in der Außenund Sicherheitspolitik eine Verzahnung. Die Doppeltätigkeit fällt weg, was sehr vernünftig ist. Aber es gibt auch neue Konstellationen im Hinblick auf das Parlament. Ich verweise nur darauf, dass die Kommission vom Parlament bestätigt wird. Der Hohe Vertreter wird vom Rat bestimmt, ist Vizepräsident der Kommission, und damit muss indirekt auch das Parlament bezüglich des Hohen Vertreters konsultiert werden. Das heißt, die Statik innerhalb der europäischen Institutionen wird sich verändern. Das gilt auch für den Ratspräsidenten, der die Interessen der Mitgliedstaaten in besonderer Weise vertreten muss. Wir werden - das sage ich als Vertreterin eines Mitgliedstaats im Rat - darauf achten, dass er unsere Interessen vertritt und nicht zu viel gemeinsame Sache mit der Kommission macht. Auch das wird ein Erfahrungsweg sein, den wir uns anschauen werden. ({10}) Sollte der Vertrag - was wir ja wollen - zum 1. Januar 2009 in Kraft treten, dann müssen beide Ämter im nächsten Jahr mit geeigneten Persönlichkeiten besetzt werden. Beide Ämter werden Europa gerade im internationalen Rahmen mehr Gewicht geben. Meine Damen und Herren, es gibt viele weitere Gründe, warum der Vertrag von Lissabon ein historischer Schritt ist. Wir brauchen sie hier nicht alle im Einzelnen aufzuzählen. Denn mindestens ebenso wichtig ist es, sich bewusst zu machen, dass wir jetzt die Möglichkeiten ausschöpfen müssen, die in dem neuen Vertrag stecken. Noch wichtiger ist, dass Europa nun die Hände frei hat, um sich der zentralen Frage der Ausgestaltung seiner neuen Rolle in einer globalen Welt zuzuwenden. Denn wir leben als Kontinent ja nicht im luftleeren Raum. Die anderen Länder der Erde warten nicht auf uns, was ihre wirtschaftliche Entwicklung anbelangt. Wir müssen unsere Interessen bündeln und sie dann auch durchsetzen. Deshalb ist es sehr wichtig, dass der Europäische Rat übermorgen eine gemeinsame Erklärung aller Mitgliedstaaten zur Globalisierung verabschieden wird. Darin werden die wichtigsten Herausforderungen für Europa noch einmal genannt. Dazu gehört die Wettbewerbsfähigkeit und die Frage, wie wir sie erhalten können. Wir müssen es besser als bisher schaffen, gegen unfairen Wettbewerb von außen vorgehen zu können. Ich glaube, das ist nicht irgendeine Aufgabe. Diese Aufgabe hat auch damit zu tun, dass wir das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger Europas in das europäische Sozialstaatsmodell wirklich stärken können. ({11}) Denn wenn wir die Menschen nicht vor unfairem Wettbewerb schützen können, wenn wir unsere Interessen nicht durchsetzen können, dann wird auch die soziale Marktwirtschaft oder das Sozialstaatsmodell unter Druck geraten. Die Bürgerinnen und Bürger werden uns nach dem Ergebnis fragen und nicht nach den guten Absichten. Zur Rolle Europas in der Globalisierung gehört auch die Außen- und Sicherheitspolitik. Um unsere Sicherheitsinteressen gemeinsam effektiv vertreten zu können, brauchen wir zweierlei: den politischen Willen und die notwendigen Fähigkeiten und Mittel. Ein aktuelles Beispiel ist - darüber ist mit dem Außenminister in den Ausschüssen gerade diskutiert worden - die Frage des Status des Kosovo. Mit dieser Frage wird sich der Europäische Rat, nachdem die Außenminister das am Montag getan haben, übermorgen noch einmal beschäftigen. Leider, müssen wir sagen, sind die Verhandlungen zwischen Belgrad und den Kosovo-Albanern ohne Erfolg zu Ende gegangen. Aber es ist außerordentlich wichtig, diesen Verhandlungsprozess dazwischengeschaltet zu haben, wirklich alles versucht zu haben und vielleicht ein paar Kontakte etabliert zu haben. Ich möchte an dieser Stelle dem Verhandlungsführer für die Europäische Union, dem Deutschen Wolfgang Ischinger, danken. Er hat viel Fantasie und viel Kraft in diese Sache gelegt. ({12}) Jetzt kommt es darauf an, dass die Europäische Union geschlossen für eine friedliche und stabile Entwicklung der Region eintritt. Die Europäische Union muss und wird sich ihrer Verantwortung stellen. Es besteht für mich überhaupt kein Zweifel: Wollen wir Europäer unsere Interessen in der Welt vertreten, dann müssen wir unsere Fähigkeiten im Rahmen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik verstärken und auch besser koordinieren, wie wir an vielen Beispielen sehen. ({13}) Meine Damen und Herren, das, was wir in der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik machen, darf aber nicht in Konkurrenz zur NATO geschehen. Wir müssen es schaffen, die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik als Ergänzung, als Stärkung der atlantischen Sicherheitspartnerschaft zu verstehen, und dies beim Aufbau der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik berücksichtigen. ({14}) Ein großer Vorteil der Europäischen Union ist dabei, dass sie gleichermaßen über militärische wie über zivile Mittel verfügt. Wir müssen beides in die richtige Balance bringen. Dafür müssen wir unter anderem unsere Instrumente der zivilen Krisenprävention stärken. Wahrlich nicht nur, aber auch unter diesem Gesichtspunkt verdienen die Beziehungen Europas zu Afrika unser aller Aufmerksamkeit. Es kann gar nicht oft genug gesagt werden: Afrika ist ein Kontinent der Zukunft. Sie haben verfolgen können, wie Europäer und Afrikaner auf dem EU-Afrika-Gipfel am vergangenen Wochenende durchaus offene Worte gesprochen haben. Aber ich darf Ihnen sagen: Es war eine außerordentlich konstruktive Atmosphäre. Es gab keine Tabus, weder in Bezug auf die Einhaltung der Menschenrechte noch in Bezug auf das künftige Gesicht des neuen Afrika noch in Bezug auf den Abschluss notwendiger Handelsabkommen. Bei den Verhandlungen über die Handelsabkommen spielt sich das ab, was wir von allen Verhandlungen kennen: dass wenige Tage vor dem Ende bestimmter Fristen jede Seite noch einmal für ihre Interessen kämpft. Deshalb würde ich keinen Pessimismus aufkommen lassen. Jeder weiß, wir brauchen diese Handelsabkommen; das weiß die afrikanische Seite, und das weiß auch die europäische Seite. Insofern bin ich da sehr optimistisch. Ein wichtiges Ergebnis des Lissabonner Gipfels vom Wochenende ist, dass wir eine wirklich neue, strategische Partnerschaft eingehen. Was wir verabschiedet haben, ist ein Meilenstein für die Beziehungen unserer beiden Kontinente. Wir werden uns in drei Jahren wieder treffen. Jetzt müssen wir das, was wir abgemacht haben, konkret umsetzen. Am Beispiel der Entwicklungszusammenarbeit sehen wir: Europa kann in vielen Bereichen - auch durch Aufgabenteilung und Spezialisierung sehr viel an Wirksamkeit gewinnen. Das ist zum Wohle beider Kontinente. Ich habe das Gefühl, das muss uns gelingen. Ansonsten schaffen wir es nämlich nicht, die Millenniumsziele zu erreichen. Denn das, was erreicht werden muss, muss auch abrechenbar sein. Da kann nicht jeder der 27 Mitgliedstaaten der EU im Hinblick auf das Erreichen der Millenniumsziele irgendetwas in jedem der 54 afrikanischen Staaten machen, ohne dass wir einen Überblick haben, was bei wem wie passiert. ({15}) Der EU-Afrika-Gipfel hat noch einmal gezeigt, was Leitprinzip bzw. Grundsatz der Bundesregierung ist: Die deutsche Außenpolitik ist wertegebunden. Wirtschaftliche Interessen vertreten und für Demokratie und Menschenrechte eintreten, das sind für uns zwei Seiten ein und derselben Medaille unserer Außen- und Europapolitik. ({16}) Wir sind uns doch darüber im Klaren: Freiheit und Toleranz sowie Demokratie und Menschenrechte sind die Fundamente eines menschenwürdigen Zusammenlebens. Man kann diese Werte nicht relativieren. Es gibt sie nur ganz oder gar nicht. Durch sie wird der nötige Raum für die Entfaltung des Einzelnen und damit auch dafür geschaffen, soziales Gleichgewicht und wirtschaftlichen Erfolg zu ermöglichen. Es versteht sich daher von selbst, dass uns die Grundrechtecharta der Europäischen Union bei den Arbeiten am Reformvertrag besonders am Herzen lag. Ich freue mich, dass sie heute im Europäischen Parlament in Straßburg noch einmal feierlich proklamiert wird. In ihr sind die gemeinsamen Werte und grundlegenden Rechte niedergelegt, die der europäischen Geschichte - auch unter großen Opfern, wie wir alle wissen - abgerungen wurden. Diese Grundrechtecharta wird zusammen mit dem neuen Vertrag rechtskräftig. Durch sie werden die Organe der Europäischen Union wie auch die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung des Rechts der Union gebunden. Nur ein Europa, das sich zu seinen Werten bekennt, wird seinen Weg erfolgreich weitergehen können. ({17}) Für ein Europa in diesem Geist wird Deutschland auch in Zukunft seine besondere Verantwortung wahrnehmen. Meine Damen und Herren, gemeinsam mit unseren Partnern haben wir in diesem Jahr viel erreicht, und zwar nicht mehr und nicht weniger als die Neuausrichtung und Neubegründung der Europäischen Union - ganz so, wie wir es uns zu Beginn dieses Jahres vorgenommen hatten. Das ist ein Weg, auf dem es sich weiterzugehen lohnt, ein Weg, auf dem wir Politiker die Bürgerinnen und Bürger für jeden Schritt und jeden Fortschritt gewinnen wollen und auch gewinnen müssen - aus einem einzigen Grund: weil wir wissen, dass das erneuerte Europa unser aller Zukunft ist. Herzlichen Dank. ({18})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner erteile ich dem Kollegen Dr. Werner Hoyer von der FDP-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich eine Vorbemerkung machen. Mit großer Bestürzung und großem Entsetzen haben wir zur Kenntnis genommen, was gestern in Algier passiert ist: ein Anschlag, dem offenbar weit mehr als 50 Menschen zum Opfer gefallen sind. Wir verurteilen dieses feige Verbrechen natürlich. Nichts rechtfertigt diese Barbarei. Den Opfern gehört unser Mitgefühl, ({0}) sowohl den Algeriern, also Angehörigen dieses ohnehin seit Jahrzehnten vom Terror geschundenen Landes, dem ich mich besonders verbunden fühle, als auch den Angehörigen der Vereinten Nationen, die dort ihren Dienst für uns alle leisten. Dieses Verbrechen erinnert fatal an den Anschlag seinerzeit in Bagdad. Ich denke, wir müssen auch unsere Solidarität mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Organisation der Vereinten Nationen zum Ausdruck bringen. ({1}) Wir alle sind hier gefordert. Damit ist die Brücke zur europäischen Außen- und Sicherheitspolitik auch schon klar: Durch den Vertrag, der jetzt zustande gekommen ist, werden unsere Instrumente verbessert. Das begrüßen wir sehr. Ein bewegtes europapolitisches Jahr geht zu Ende, in dem Deutschland eine wichtige Rolle gespielt hat. Wir haben das bereits gewürdigt. Eine Phase geht zu Ende, die von Selbstzweifeln, Identitätssuche und Denkpausen - manchmal auch Pausen vom Denken und nicht nur Pausen zum Denken - gekennzeichnet war. Ein Tiefpunkt war das Scheitern des Verfassungsvertrags, der besser gewesen wäre als das, was wir jetzt haben. Es ist absurd, dass manche derjenigen, die den Verfassungsvertrag verhindert haben, jetzt weniger bekommen, als sie mit dem Verfassungsvertrag bekommen hätten. Ein weiterer Tiefpunkt war das Schachern im Juni dieses Jahres, das den Bürgerinnen und Bürgern nicht gerade mehr Lust auf Europa gemacht hat. Gut, dass dieses Gewürge vorbei ist. ({2}) Wir bekommen jetzt eine neue Rechtsgrundlage, auf der wir uns in den nächsten Jahren bewegen können und müssen. Auf dieser Grundlage müssen wir jetzt Ergebnisse produzieren. Bei den Ergebnissen müssen wir uns langsam etwas anderes einfallen lassen, Frau Bundeskanzlerin, als immer wieder auf die Roaming-Gebühren zu verweisen, ({3}) nicht nur, weil beim Thema Europa neben der erforderlichen Technik auch ein bisschen mehr Feuer zu erkennen sein muss, sondern auch, weil wir jenseits wichtiger und auch politisch korrekter Themen wie des Klimaschutzes feststellen müssen, dass es um die Selbstbehauptung der Europäer in der Globalisierung geht. Dann muss man auch fragen, wie wir uns am besten aufstellen, um in der Globalisierung zu bestehen. Was ist mit der Vollendung des Binnenmarkts, die schon sehr lange auf sich warten lässt? Diese Themen kann man nicht ausblenden. ({4}) Aber wenn man sie ansprechen würde, dann würde sich herausstellen, dass wir beispielsweise recht unterschiedliche Vorstellungen haben, wie man das angeht. Die Diskrepanzen, die nicht zuletzt in den letzten Tagen zwischen Frankreich und Deutschland zum Tragen gekommen sind, haben gezeigt, dass wir noch einen langen Weg vor uns haben, um wieder zu gemeinsamen Positionen zu finden. Wer von außen auf dieses Europa blickt, der sieht dieses ungeheure Erfolgsprojekt von Frieden und Wohlstand auf diesem Kontinent, der so lange zerstritten war. Er sieht die beherzte Wiedervereinigung dieses so lange geteilten Kontinents, und er muss trotzdem Sorge haben um die Entwicklung des Gewichts, das Europa in der Hochgeschwindigkeitsglobalisierung in einer Welt mit mehr Polen als früher einbringt, in einer Welt, in der die wirtschaftliche und gesellschaftliche Dynamik bei vielen dieser neuen Pole erheblich stärker ausgeprägt ist als bei uns. Deshalb muss sich dieses Europa nicht zuletzt auch einem ökonomischen, bildungspolitischen und technologischen Fitnessprogramm unterwerfen. ({5}) Der Vertrag ist eine gute Grundlage. Aber ich denke, wenn wir die Bürgerinnen und Bürger, wie es immer so schön heißt, mitnehmen wollen, dann müssen wir ein bisschen mehr Begeisterung entfachen. Denn sonst werden wir im Kleinmut versinken. Wenn wir in der Globalisierung bestehen wollen, dann brauchen wir aber Mut zu mehr Europa - einem Europa, das unsere Interessen kraftvoll bündelt, das die Werte aufgeklärter, rechtstaatlicher Demokratien glaubwürdig vorlebt und vertritt und damit die Attraktivität unseres Lebensmodells fördert und das auf die Vielfalt seiner Völker, Regionen, Religionen und Kulturen rekurriert und dies als Stärkung und Bereicherung empfindet und folglich auch dafür sorgt, dass Entscheidungen am besten dezentral getroffen werden, wo immer dies möglich ist. Wir haben also noch nicht den großen Wurf geschafft. Aber vielleicht brauchen wir mehr Zeit und Geduld, um dahin zu kommen, und müssen doch wieder kleinere Schritte voreinander setzen. Mir ist bei diesem Vertrag wichtig, dass die doppelte Mehrheit keine technische Frage ist. Es ist eine Frage, in der der Doppelcharakter der Europäischen Union zum Ausdruck kommt, nämlich zum einen als Union von Völkern, die sich unabhängig von ihrer Größe und wirtschaftlichen Kraft auf Augenhöhe begegnen und ebenbürtig sind, und zum anderen als demokratische Gemeinschaft von Bürgerinnen und Bürgern, die jeweils für sich genommen das gleiche Gewicht einbringen, wenn es darum geht, Entscheidungen demokratisch zu legitimieren. Deswegen ist das ein Fortschritt, ohne den wir nicht gut hätten weiterleben können. ({6}) Denn der Vertrag von Nizza hatte hierfür eine sehr schlechte Grundlage geschaffen. ({7}) Ich kann jetzt auf viele Kritikpunkte nicht eingehen - mein Kollege Markus Löning wird sicherlich noch das eine oder andere, insbesondere zum Wettbewerb, ansprechen -, sondern will mich auf die Außenpolitik beschränken. Die Außenpolitik ist ein sehr wichtiger Faktor. In sehr kurzer Zeit folgt der erste Lackmustest, der zeigen wird, ob wir in der Lage sein werden, die Kosovo-Krise zu bewältigen. Ich wünsche Ihnen, Herr Minister und Frau Bundeskanzlerin, hierfür eine glückliche Hand. Wir haben eben im Ausschuss lange darüber diskutiert. Hoffen wir, dass es gelingt, die europäischen Partner einigermaßen zusammenzuhalten, damit sich nicht das Trauma des Versagens der Europäer auf dem Balkan wiederholt, das uns seit den 90er-Jahren begleitet. Wenn es uns einigermaßen gelingt, nach einer möglichen Unabhängigkeitserklärung auch unsere eigene Politik festzulegen, dann brauchen wir von der Bundesregierung eine klare Auskunft, wie - das muss rechtlich überprüfbar sein - die weitere Präsenz der Bundeswehr im Rahmen von KFOR auf dem Balkan - genauer gesagt: im Kosovo - geregelt werden soll. Denn immerhin - es wird ja immer gesagt, die UN-Resolution 1244 gebe das her - steht in dieser Resolution in Verbindung mit dem KFOR-Mandat und dem Mandat, das der Deutsche Bundestag erteilt hat, die Verpflichtung, die territoriale Integrität Serbiens zu wahren. ({8}) Das in Verbindung mit der Schlussakte von Helsinki bringt uns in eine ziemlich schwierige Situation. Das muss rechtlich sauber geklärt werden. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Die FDP plädiert für alles andere als den Rückzug aus dem Kosovo. Wir halten diese Mission für erforderlich, aber sie muss rechtlich sauber fundiert sein. ({9}) Meine Damen und Herren, ein letztes Wort zu den außenpolitischen Fragen: Was mich sehr beunruhigt, Frau Bundeskanzlerin, ist das Auseinanderdriften von Frankreich und Deutschland. Es gab wiederholt Situationen, bei denen am Ende auch durch Ihr beherztes Eintreten das Schlimmste verhindert worden ist. Die deutschfranzösische Zusammenarbeit darf natürlich nicht Direktorium oder Ähnliches sein, sondern muss als notwendige Voraussetzung für jeden Fortschritt in Europa verstanden werden. Diese deutsch-französische Zusammenarbeit muss mehr sein als das Verhindern von Schlimmerem. Sie muss eine gestaltende Politik sein. Sowohl bei der Mittelmeerunion als auch bei dem sogeDr. Werner Hoyer nannten Rat der Weisen ist Schlimmeres verhindert worden. Das allein kann jedoch nicht genug sein, wenn wir uns gemeinsam mit Frankreich wieder aktiv an der Gestaltung der europäischen Politik beteiligen wollen. Vielen Dank. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Dr. Angelica SchwallDüren von der SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Angelica Schwall-Düren (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002795, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Nach der Krise der Europäischen Union haben wir in der Tat ein erfolgreiches Jahr in der EU hinter uns gebracht, und das sowohl in inhaltlicher Hinsicht als auch im Hinblick auf die Reform der rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union. Das ist zunächst einmal der Erfolg der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Ich möchte Ihnen, Frau Bundeskanzlerin und Herr Außenminister, noch einmal für die Arbeit, die Sie in diesem Jahr geleistet haben, danken. ({0}) Ich möchte Ihnen aber auch dafür danken, dass Sie die Voraussetzungen dafür geschaffen haben, dass die portugiesische EU-Ratspräsidentschaft diesen Erfolg fortsetzen konnte. 95 Prozent des Inhaltes, der Substanz des Verfassungsvertrages konnten in den Reformvertrag übernommen werden. Für mich ist das Wesentliche, dass wir mit diesem Vertrag mehr Demokratie in der Europäischen Union haben, weil das Europäische Parlament gestärkt ist, weil die Bürgerrechte zum Beispiel durch ein europäisches Bürgerbegehren gestärkt sind, ({1}) aber auch weil die nationalen Parlamente mehr Rechte bekommen haben, in europäischen Fragen mitzuwirken und damit die Legitimation der handelnden Regierungen im Europäischen Rat zu stärken. Wir haben mehr Bürgerrechte. Das ist für mich ganz entscheidend. Ich freue mich sehr, dass vor ungefähr zwei Stunden in Straßburg die Grundrechtecharta proklamiert wurde. Es ist natürlich traurig, dass zwei Länder ausscheren werden, dass Großbritannien ein Opt-out erkärt hat und Polen dem aus innenpolitischen Gründen folgt. Ich will aber gleichzeitig sagen, dass ich sehr glücklich bin, dass sich Polen nun sehr klar bereitgefunden hat, den Reformvertrag zu unterschreiben. ({2}) Mit dem neuen Grundlagenvertrag haben wir mehr Effizienz zu erwarten, zum Beispiel durch eine verkleinerte Kommission und durch verbesserte Entscheidungsfindungen über die qualifizierte, doppelte Mehrheit. Nun gilt es allerdings, die Ratifizierung über die Bühne zu bringen. Ich sage die Unterstützung der SPD-Fraktion zu, damit wir im Deutschen Bundestag rasch zu einer Ratifizierung kommen. Wir möchten gerne mit Ihnen allen und der Regierung dafür werben, dass auch in den übrigen Mitgliedstaaten die Ratifizierung rasch über die Bühne gebracht wird. ({3}) Wir werden - genauso wie bei der Ratifizierung des Verfassungsvertrages - ein Begleitgesetz einbringen. Das haben wir schon einmal erfolgreich durchgesetzt. Nun gibt es manche, die nach dem Prinzip „Nach der Reform ist vor der Reform“ vorgehen und bereits darüber diskutieren, was man als Nächstes tun soll. So hat der französische Staatspräsident die Einsetzung eines Rates der Weisen vorgeschlagen. Ich bin sehr froh, dass es unter anderem der deutschen Regierung gelungen ist, dieses Gremium auf eine Reflexionsgruppe zu minimieren; denn ich glaube, dass es zuerst darum gehen muss, die Reform umzusetzen, Erfahrungen zu sammeln und dann die notwendigen Debatten in den europäischen Gremien und den nationalen Parlamenten, aber auch mit der Öffentlichkeit zu führen. Es ist klar: Die Europäische Union ist ein lernendes System und wird sicherlich auch in Zukunft Veränderungen unterliegen. Die Bürger und Bürgerinnen sowie wir, ihre Vertreter in den Parlamenten, haben über die Zukunft der Europäischen Union, unsere gemeinsamen Werte und unsere gemeinsame europäische Identität zu diskutieren. Ich appelliere an die Regierung - das ist wichtig -: Wir brauchen jetzt eine intensive und klare Kommunikation mit der Bürgerschaft. Denn der Reformvertrag hat einen Mangel: Er ist nicht gut lesbar, auch wenn uns manche glauben machen wollen, dass wir nun einen vereinfachten Vertrag bekommen. Wir müssen ihn nun lesbar und verständlich machen, damit die Bürger und Bürgerinnen tatsächlich den Wert erkennen können, der mit diesem neuen Grundlagenvertrag geschaffen wird. Des Weiteren geht es darum, die neuen Strukturen zu nutzen. Ich will das an ein paar Beispielen deutlich machen. Ich bin sicher, dass uns der neue europäische Außenminister, auch wenn er nicht so heißen darf, helfen wird, unsere Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik fortzuentwickeln. ({4}) Selbstverständlich ist er keine Garantie. Es wird nicht unbedingt nötig sein, die gemeinsame außen- und sicherheitspolitische Strategie völlig zu verändern, wohl aber, sie an Gegebenheiten anzupassen, die notwendigen Debatten zu führen und auf einen gemeinsamen Punkt zu bringen, auch bedingt durch die neuen Strukturen. Die Herausforderungen sind offensichtlich. Wir haben heute noch über den Kosovo zu sprechen. Darauf wird mein Kollege Gert Weisskirchen sicherlich ausführlich eingehen. Die Bundeskanzlerin hat über den EU-Afrika-Gipfel und die großen Herausforderungen berichtet, die wir in der Zusammenarbeit zwischen EU und Afrika zu bestehen haben. Eine weitere Herausfor13804 derung ist die EU-Russland-Strategie. Ich bin überzeugt, dass wir als Deutsche hier nach wie vor eine aktive Rolle spielen müssen, um die Prozesse voranzubringen. Herr Hoyer, ich glaube, dass wir durchaus die Chancen der deutsch-französischen Zusammenarbeit nutzen können, nicht exklusiv, aber durch das gemeinsame Anstoßen von Prozessen und Einflussnahme. Deswegen bin ich froh, dass es der Kanzlerin gelungen ist, die Idee einer Mittelmeerunion in eine Form zu bringen, die es erlaubt, dass wir die Zusammenarbeit zwischen allen EUMitgliedstaaten und der Mittelmeerregion, vergleichbar mit der Zusammenarbeit mit den osteuropäischen Staaten, so voranbringen, dass sich dort die demokratischen Strukturen weiterentwickeln sowie die wirtschaftliche und die soziale Entwicklung und vor allen Dingen ein friedliches Zusammenleben gefördert werden. ({5}) Ich glaube, man sollte heute, einen Tag nachdem der neue polnische Ministerpräsident in Berlin gewesen ist, auch ein Wort zu den deutsch-polnischen Beziehungen verlieren. Dank der neuen polnischen Regierung sind die Chancen, dass sich die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern positiv entwickeln, gut. Darüber bin ich sehr froh. Ministerpräsident Donald Tusk hat es folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: Die anstehenden Fragen, auch Interessenunterschiede können in einer sachlichen und freundlichen Atmosphäre behandelt werden. Wir können viele Fragen im europäischen Kontext miteinander klären, ob das Energiefragen sind - Polen ist um seine Energiesicherheit besonders besorgt - oder ob es um eine gemeinsame Kompetenz im Hinblick auf die Nachbarn im Osten, die Zusammenarbeit der Europäischen Union mit ihnen und deren europäische Perspektive geht. ({6}) Wir haben eine Reihe von wichtigen Themen anzupacken. Wir können damit natürlich nicht warten, bis der neue Grundlagenvertrag umgesetzt ist. Diese Themen werden schon bei diesem Gipfel auf der Tagesordnung stehen. Frau Bundeskanzlerin hat hier das Thema Klimaschutz genannt. Ich möchte noch einmal betonen, welch großer Erfolg die Festlegung der Ziele CO2Reduktion, Effizienzsteigerung und Aufwachsen der erneuerbaren Energien gewesen ist. Jetzt kommen allerdings die „Mühen der Ebene“. Jetzt geht es darum, das Erreichen dieser Ziele anzustreben und unter den europäischen Staaten ein BurdenSharing, eine Verteilung der Lasten, zu verabreden. Dies ist auch eine Chance für Innovationen, die wir ergreifen sollten, um die europäische Wissensgesellschaft voranzubringen. Lassen Sie mich zum Abschluss eines sagen - ich bin froh, dass auch die Bundeskanzlerin das angesprochen hat -: Europa muss in der Zukunft noch mehr Gewicht auf die soziale Dimension legen. ({7}) Wir wissen sehr genau, dass das Nein zum Reformvertrag auch damit zu tun hatte, dass die Menschen verängstigt waren. ({8}) Zum Beispiel in Großbritannien sagen Gewerkschaften ihrer Regierung interessanterweise: Ihr müsst die Ratifizierung ablehnen, weil die sozialen Grundrechte wegen des Opt-out nicht verankert sind. Das weist darauf hin, dass wir hier gemeinsam für ein Europa der Vollbeschäftigung und des sozialen Zusammenhalts kämpfen müssen. Dazu gehört, dass in den einzelnen Mitgliedstaaten etwas vorangebracht wird; Stichwort Mindestlöhne. ({9}) Wir müssen aber auch für gemeinsame soziale Standards kämpfen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor all diesen Aufgaben steht nun die neue slowenische Präsidentschaft. Das ist eine große Herausforderung für ein kleines Land. Außerdem möchte Slowenien dafür sorgen, dass dadurch, dass die Schengen-Grenzen nun verändert werden - das ist ein wunderbarer Vorgang -, keine neuen Mauern entstehen. Ich wünsche der zukünftigen Präsidentschaft von dieser Stelle alles Gute. Ich bin sicher, dass wir gemeinsam mithelfen, unser Europa zukunftsfähig, nachhaltig und sozial voranzubringen. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Monika Knoche von der Fraktion Die Linke. ({0})

Monika Knoche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002701, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Welch noble politische Aufgabe hätte es sein können, meine sehr geehrten Herren und Damen, die Zukunft der Europäischen Union mit der Bevölkerung in den Mitgliedstaaten zu beraten und zu beschließen! ({0}) Volksabstimmungen durchzuführen, das hätte das Interesse gefördert, das hätte die europäische Integration und Identität gestärkt. ({1}) Aber nein, eine breite demokratische Beteiligung, eine Kenntnis der Inhalte des Reformwerks sind erkennbar nicht gewünscht. Noch nicht einmal eine lesbare Version des Textes liegt vor. Sollen die Menschen nicht Bescheid wissen? Ist man da schon ein bisschen von der Volksnähe abgekommen? Wie dem auch sei, die sogenannte Reflexionsphase hätte genutzt werden müssen, mit der Bevölkerung die Zukunft der EU zu gestalten. Dann hätten Sie in der ReMonika Knoche gierung für die Regierungskonferenz auch erfahren, wie stark der Wunsch ist, ein soziales, ein gerechtes, ein ökologisches und ein friedensstiftendes Europa zu bekommen. ({2}) Was jetzt zum Ratifizieren vorliegt, ist ein alter Brief in neuem Umschlag, wie Giscard d’Estaing es formuliert. Die gesamte Entstehung des Vertrages erfüllt den Anspruch auf Demokratie, Transparenz und Partizipation nicht. Wir halten sie schlicht für undemokratisch. ({3}) Deshalb wollen wir Linken heute Information über Vertragsinhalte geben. Man muss den Willen der deutschen Bevölkerung nicht fürchten. Sie ist proeuropäisch und nicht nationalistisch. Es gibt breite Unterstützung dafür, dass die wirtschaftsstarke EU ihre Kraft dafür einsetzt, die globalen und innereuropäischen Probleme friedlich, solidarisch und gerecht zu lösen. Das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer ökologischen Energiewende ist nirgendwo so groß wie in Europa. Aber was wird festgeschrieben? Die institutionelle Förderung der Atomenergie! Das ist ein Irrweg. ({4}) In Europa haben Menschen erfolgreich soziale Rechte erkämpft. Das gehört zur europäischen Kultur und Tradition. Aber was bekommen sie? Noch nicht einmal die Zusicherung der Sozialstaatlichkeit! Das versprochene Sozialprotokoll existiert nicht. ({5}) Was sind die europäischen Werte und Standards wert, wenn man Großbritannien erlaubt, die Grundrechtecharta nicht verbindlich anzunehmen? Wir sagen: Die Auswirkungen der neoliberalen EUWirtschafts- und Sozialpolitik stehen dem Freiheits- und Gleichheitsideal, das in der europäischen Geschichte verankert ist, entgegen. ({6}) Wenn wir Linke die neoliberale Wirtschaftsordnung für die EU ablehnen, dann tun wir das auch deshalb, weil wir für Demokratie, für Teilhabe und für Gestaltungsmacht des Gesellschaftlichen eintreten. Es zeugt von einem kulturellen Selbstverständnis, wenn man verhindern will, dass Markt und Wettbewerb in immer weitere Bereiche des Daseins vordringen. ({7}) Deshalb sagen wir: Es ist Zeit für eine Reregulierung in Europa. ({8}) Mit großer Sorge haben wir gelesen, was die EU künftig an Sicherheits- und Verteidigungspolitik definiert. 1999 ist eine operativ eigenständige Verteidigungspolitik eingeleitet worden. Jetzt soll der Spielraum des Militärischen sogar noch erweitert werden. Es ist für uns völlig inakzeptabel, dass im Vertrag eine Aufrüstungsverpflichtung festgeschrieben wird. ({9}) Es ist für uns völlig indiskutabel, dass mit der Verteidigungsagentur eine institutionalisierte Lobby der Rüstungsindustrie festgeschrieben wird. ({10}) Wir fragen die Regierung: Was bedeutet es, wenn die sogenannte maßgebliche Rolle der EU im Sicherheitsund Verteidigungsbereich zur Vitalität des erneuerten Atlantischen Bündnisses beitragen soll? Was haben wir Europäer und Europäerinnen zu erwarten, wenn die Zusicherung militärischer Mittel für Einsätze außerhalb der EU zum integralen Bestandteil europäischer Außenpolitik erklärt wird? Beachtlich ist: Militäreinsätze der Union sollen in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen erfolgen. Das klingt gut. Aber sind wir auch sicher, dass sie mit UN-Mandat erfolgen werden? Bedeutet das, dass eine europäische Armee ab 2014, wenn das Mehrheitsprinzip gilt, ohne UN-Mandant in Einsätze gehen kann? Eine Stand-by-Interventionstruppe hat sie ohnehin schon. Wird es überdies zu einem militärischen Kerneuropa kommen, in dem sich einzelne Mitgliedstaaten zu der sogenannten verstärkten militärischen Kooperation zusammenfinden, was der Vertrag zukünftig erlaubt? Meine sehr geehrten Herren und Damen, einen solchen Vertrag können wir nicht begrüßen. ({11}) Er leitet eine europäische Fehlentwicklung ein. Deshalb sage ich für die deutsche Linke und für die europäische Linke: Wer eine zivile, friedliche, soziale und gerechte Europäische Union will, muss diesen Vertrag ablehnen. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Fraktionsvorsitzende der CDU/ CSU, Volker Kauder. ({0})

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr verehrte Kollegen! Der morgige Tag in Lissabon wird zu einem großen Tag für Europa. Wir hatten eine Phase der Stagnation in Europa. Nichts ging mehr voran. Auch die Menschen haben gespürt, dass ein bisschen die Kraft aus der Entwicklung genommen worden war. Deshalb haben wir heute allen Grund, der portugiesischen EU-Ratspräsidentschaft herzlich zu gratulieren, dass sie es in wenigen Monaten geschafft hat, dass wir morgen den Vertrag in Lissabon unterschreiben können. ({0}) Dass dies möglich geworden ist, ist aber auch ein Ergebnis der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Dafür sagen wir unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel herzlichen Dank. Ohne ihre konsequente Vorarbeit wäre das, was morgen in Lissabon geschehen wird, nicht möglich geworden. ({1}) Lissabon zeigt, dass es in Europa eine neue Dynamik gibt und dass die Verwirklichung der europäischen Vision gerade meiner Generation noch nicht vollendet ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg begannen wir, unsere Vision zu verwirklichen, indem wir uns darum bemühten, dass die Schlagbäume fallen und ein Europa ohne Grenzen entsteht. Wir haben nämlich gewusst: Ein Europa ohne Grenzen wird ein Europa sein, das Frieden schafft. Ich kann nur immer wieder sagen: Wir haben allen Grund, darüber zu reden. Selbst wenn man im europäischen Einigungsprozess nichts anderes hinbekommen hätte als nur das, was wir bisher erreicht haben, nämlich Frieden in Europa, wäre auch dies schon ein großartiges Ergebnis. ({2}) Vor wenigen Wochen standen viele von uns auf den Friedhöfen in ihrer Heimat. Wer dort stand, weiß, was es bedeutet, dass wir nicht mehr wie früher alle 30 bis 40 Jahre das niedergerissen haben, was Generationen davor aufgebaut haben. Am Totensonntag bzw. am Volkstrauertag ist deutlich geworden: Europa, das ist ein großartiges Ergebnis für Frieden und Freiheit in unserer Welt. ({3}) Nun aber, so hat es die Bundeskanzlerin heute gesagt, wird Europa demokratischer. Das ist richtig. Es wird neue Regeln geben, die es auch dem Deutschen Bundestag ermöglichen, frühzeitiger auf Entwicklungen in der EU einzugehen. Wir haben uns darauf eingestellt: Der Deutsche Bundestag hat in Brüssel ein Büro eingerichtet. Die Fraktionen sind in Brüssel präsent. Dass wir frühzeitiger tätig werden können, hat für unsere Arbeit im Deutschen Bundestag ganz konkrete Konsequenzen: Wir werden mehr als bisher - das wird natürlich den Vorsitzenden des Europaausschusses freuen - auch hier im Plenum über europäische Themen reden müssen. Wir werden deutlich machen müssen, mit welchen Vorhaben wir als Parlament einverstanden sind und bei welchen wir als Parlament Veränderungen erwarten. Europa wird also für uns im Deutschen Bundestag konkreter erfahrbar. Wir werden natürlich auch darauf achten müssen, dass sich Europa nicht Kompetenzen nimmt, die es gar nicht hat. Es wird entscheidend sein, Frau Bundeskanzlerin, dass Europa nicht nur auf dem Papier demokratischer wird, sondern dass es auch in der Praxis demokratischer wird. ({4}) Die Bereiche, in denen Europa keine Kompetenzen hat, sollte es komplett den Nationalstaaten überlassen. Dazu will ich ein ganz konkretes Beispiel nennen: Europa hat keine Kompetenzen beim Bodenschutz. Trotzdem versucht Europa, sich des Themas zu bemächtigen. Ich sage Ihnen: Den Schutz unserer Heimat bekommen wir alleine hin. Darum braucht sich die EU nicht zu kümmern. ({5}) Deswegen erwarten wir, dass Europa sich nicht da Kompetenzen anmaßt, wo es keine hat. Wir werden dafür ganz massiv eintreten. An diesen konkreten Beispielen wird deutlich werden, wie stark wir Europa wirklich demokratisiert haben. Richtig ist auch, dass das Europäische Parlament neue Rechte bekommt. Daher wird die Zusammenarbeit des Deutschen Bundestages mit dem Europäischen Parlament intensiver werden müssen. Wir werden aber dem Europäischen Parlament gegenüber deutlich machen müssen, an welchen Stellen wir eigene Positionen haben, und es bitten, sich dafür einzusetzen. In diesem Jahr wird erneut deutlich, wie stark unsere Visionen „Europa ohne Grenzen“ und „Europa des Friedens“ wirken. Denn am 21. Dezember werden in Europa weitere Schlagbäume fallen. Die Schengen-Zone wird vergrößert. Man kann nun die Länder im Osten, im Westen, im Norden und im Süden Europas besuchen, ohne dass man einen Ausweis vorzeigen muss. Dies ist eine erfreuliche Entwicklung. Angesichts der Tatsache, dass der Schengen-Raum größer wird und dass die Außengrenzen der Union nun in anderen Staaten liegen, ist es umso wichtiger, dass wir nicht nur in Europa, sondern auch in unserem eigenen Land die Sicherheitsinteressen ernst nehmen. Die Terrorismusbekämpfung findet nicht nur an den Grenzen der Schengen-Staaten statt, sondern sie findet auch im eigenen Land statt. Deshalb müssen wir bei den Gesetzesvorhaben, die vor uns liegen, endlich zu Ergebnissen in der Großen Koalition kommen. ({6}) Wir erwarten - das ist richtig -, dass in Europa der Bürokratieabbau vorankommt. Wir haben diesbezüglich manche Sorgen. Trotzdem glaube ich, dass wir auf einem richtigen Weg sind. Alle diejenigen, die immer wieder berechtigterweise Kritik an dem üben, was in Europa teilweise passiert - auch die Sozialdemokraten und wir tun das -, müssen natürlich zugeben, dass es in der Großen Koalition nicht immer so einfach ist, wie es sein könnte. ({7}) Der Weg in Richtung Bürokratieabbau ist aber richtig. Wir haben konkrete Maßnahmen vereinbart, die nun umgesetzt werden müssen. Auch das gehört dazu: Wenn Europa demokratischer werden soll, dann muss es unbürokratischer werden, als es heute ist. ({8}) Neben den kleinen Themen, die wir bearbeiten müssen, sollte Europa auch auf die großen Herausforderungen schauen. Wenn Europa wieder näher an den Menschen sein will - wie die Bundeskanzlerin zu Recht gefordert hat - dann können die Menschen von diesem Europa Antworten auf für sie wichtige Fragen erwarten. Für mich beinhaltet die Vision eines geeinten Europas nicht nur, dass die Nationalstaaten zusammenarbeiten, sondern auch, dass Europa eine starke Position in der Welt einnimmt. Die Voraussetzung dafür ist aber, dass Europa stark und in sich gefestigt ist. Nach der Unterzeichnung des Vertrages - Frau Bundeskanzlerin, ich sage Ihnen zu, wir werden ihn so schnell wie möglich ratifizieren; ich halte den Sommer nächsten Jahres für durchaus wahrscheinlich - muss die innere Einheit Europas gefestigt werden. Wir haben Länder aufgenommen - das war richtig -, die noch große Anstrengungen unternehmen müssen. Ich denke dabei an Bulgarien und Rumänien. Ich finde es gut, dass Europa eine große Anziehungskraft hat und dass alle in die Europäische Union wollen. Aber ich sage auch klipp und klar: Nicht der subjektiv verständliche Wunsch, nach Europa zu kommen, kann der Maßstab sein. Der Maßstab muss vielmehr sein, ob die Voraussetzung gegeben ist, die Integrationsaufgabe zu meistern. ({9}) Die Nachbarschaftspolitik in Europa muss stärker ausgebaut werden. Denn den berechtigten Wunsch nach engeren Beziehungen zu Europa haben viele Länder, die nicht alle Vollmitglied werden können. Daher kommt der Nachbarschaftspolitik eine große Bedeutung zu.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Kauder, erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. Ich möchte zudem deutlich sagen: Es gehört natürlich auch zur inneren Festigung Europas, dass die Staatschefs eng zusammenarbeiten. Daher muss zunächst einmal die Zusammenarbeit in Europa gestärkt und sollten nicht so sehr ständig neue bilaterale Möglichkeiten gesucht werden. Ich sage ebenfalls ganz klar: Die deutsch-französische Zusammenarbeit ist der Motor Europas. Aber auch der Präsident Frankreichs muss wissen, dass wir zusammenarbeiten müssen. Deswegen sage ich klar und deutlich: Von den Entwicklungen, die sich da abzeichnen, beispielsweise in Richtung auf eine Mittelmeerunion, halte ich relativ wenig. Das hat mit dem, was wir unter Europäischer Union verstehen, wenig zu tun. ({0}) Wenn wir darüber reden, dass wir morgen den Vertrag unterschreiben und es für uns neue Herausforderungen gibt, so will ich einige Punkte nennen, über die wir in der nächsten Zeit reden müssen. Erstens geht es um die Position Europas in der Globalisierung. Wir müssen zeigen, dass Europa unsere Interessen in der Globalisierung vertritt. Die Menschen spüren alle ganz genau, dass die Nationalstaaten allein nicht mehr in der Lage sind, ihre Position im Prozess der Globalisierung zu vertreten. Also muss es Europa tun. Zweitens. Wir alle wissen ganz genau, dass die Energiefrage für uns von großer Bedeutung und für die Volkswirtschaft entscheidend ist. In diesem Zusammenhang müssen wir meiner Meinung nach ernsthaft darüber nachdenken, wie in Europa mehr Wettbewerb am Energiemarkt organisiert werden kann - das schaffen wir in den Nationalstaaten nicht mehr -; aber es muss auch eine intensivere Zusammenarbeit geben, um Energiesicherheit herzustellen. Es darf nicht sein, dass jeder versucht, seine Interessen am weltweiten Energiemarkt durchzusetzen. Hierbei wird sich zeigen, ob Europa stark genug ist, um gemeinsame Interessen bei der lebensnotwendigen Frage der Energieversorgung zu vertreten. ({1}) Heute fand, wie die Bundeskanzlerin angesprochen hat, auch die Proklamation der Grundrechte im Straßburger Parlament statt. Grundrechte wirken nach innen, innerhalb Europas; aber sie wirken natürlich auch nach außen. Glaubwürdigkeit hängt davon ab, dass man die Grundwerte und Grundpositionen, die in Europa vertreten werden, auch zum Maßstab des Handelns nach außen macht. ({2}) Deswegen hat die Bundeskanzlerin völlig recht: Menschenrechte als das Ergebnis europäischer Entwicklung können natürlich nicht allein in Europa gelten. Menschenrechte sind für uns universal, und sie sind unteilbar. Deswegen geht es nicht, dass man mit Leuten einfach so spricht, ohne darauf hinzuweisen, welche Menschenrechtsverletzungen sie begangen haben. Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass man mit Gaddafi spricht; aber so zu tun, als ob er ein lupenreiner Demokrat wäre, entspricht nicht meiner Auffassung. ({3}) Genau an diesem Beispiel will ich zeigen: Wir müssen zu mehr Gemeinsamkeit kommen; dies fordern wir. Wir sind überzeugte Europäer. Für überzeugte Europäer ist aber auch klar, dass sie zwar ihre Interessen vertreten, aber sie für gemeinsame Interessen Europas auch zurückstellen, und Menschenrechtsinteressen sind europäische Interessen. Sie müssen gemeinsam wahrgenommen werden. ({4}) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, Europa hat eine neue Spannung bekommen, Europa ist wieder interessant geworden, weil sich etwas bewegt. Das ist das Entscheidende. Aber noch etwas gehört dazu, etwas, wobei Europa gerade noch die Kurve bekommen hat und woran die Bundesregierung und die Bundeskanzlerin ganz entscheidend mitgewirkt haben. Ich hätte mir nur eine etwas andere Kommunikation vorgestellt. Europa braucht, um in den Herzen der Menschen noch tiefer verankert zu werden, auch Emotionen. Sie entstehen durch gemeinsame Projekte, an denen man sich freuen kann, dass etwas passiert. Ein solches gemeinsames Projekt, an dem Emotionen deutlich werden - auch für die junge Generation -, ist Galileo, das wir jetzt auf den Weg bringen. ({5}) Ich wünsche mir noch mehr solche konkreten Projekte, auf die die Menschen in Europa stolz sein können. Wir haben heute ein Navigationssystem, das von den Vereinigten Staaten gemacht worden ist, und es funktioniert auch. Das ist doch okay. Aber ich kann Ihnen sagen: Ich freue mich auf den Tag, an dem wir Europäer sagen können: Wir haben mit großem technischen Sachverstand etwas geschaffen, das noch besser ist als das, was die Amerikaner geliefert haben. Ich möchte den Wettbewerb Europas mit anderen großen Nationen und Kontinenten der Welt im Bereich von Wissenschaft und Forschung, weil man sich an ihm begeistern kann. Ich bin ein überzeugter Europäer. Europa hat eine neue Kraft gewonnen. Dafür sind wir außerordentlich dankbar. Wir begleiten Sie, Frau Bundeskanzlerin, mit allen Kräften auf diesem Weg und sagen Ihnen zu - das kann ich auch für die SPD sagen -: ({6}) Der Vertrag von Lissabon wird im nächsten Jahr im Deutschen Bundestag ratifiziert. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Ilja Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege Kauder, ich wollte Ihnen eigentlich eine Zwischenfrage stellen, als Sie über die rasche Ratifizierung des Vertrages von Lissabon sprachen, der ja erst morgen unterschrieben werden soll. Ich wundere mich schon, dass Sie später in Ihrer Rede die Menschenrechte sehr hoch gehalten haben. Denn das Menschenrechtsabkommen der UNO über die Rechte behinderter Menschen ist noch nicht vom Bundestag ratifiziert worden. Ein entsprechender Gesetzentwurf ist noch nicht einmal eingebracht worden. Warum dauert dies angesichts dessen, dass Sie die Menschenrechte so hoch halten, so lange? Vor diesem Hintergrund kann ich nicht verstehen, dass Sie den Reformvertrag der EU so sehr durchpeitschen und es gar nicht schnell genug gehen kann. Bitte erklären Sie mir und vor allen Dingen den betroffenen Menschen dies. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kauder? - Keine Erwiderung. ({0}) Dann hat das Wort der Kollege Jürgen Trittin von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Zeitalter der Globalisierung nimmt die Kraft der Nationalstaaten ab, ihre Probleme im Interesse ihrer Bevölkerung zu lösen. Gleichzeitig nehmen natürlich die sozialen, ökonomischen und ökologischen Folgekosten entsprechend zu. Die Antwort darauf sind Organisationen wie die Europäische Union. Keines der Probleme, die hier angesprochen worden sind, keines der globalen Probleme dieser Welt, aber auch keines der nationalen Probleme werden sich allein nationalstaatlich lösen lassen. Darauf ist die Europäische Union die Antwort. ({0}) Deswegen ist es wichtig, dass der Reformvertrag der EU in Kraft gesetzt wird. Dies ist eine wichtige Antwort auf die Globalisierung. Diese Antwort auf die Globalisierung muss demokratisch sein. Sie muss eine an Grundrechten, an Menschenrechten orientierte Antwort sein. Zum ersten Mal wird mit diesem Vertrag die Grundrechtecharta rechtsverbindlich. Vergleichen Sie diese Grundrechtecharta einmal mit den Art. 1 bis 20 des Grundgesetzes. Sie werden feststellen: Diese Grundrechtecharta beinhaltet nicht nur klassische Freiheitsrechte, sondern stellt auch soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte an die Seite dieser Freiheitsrechte. Deswegen ist dies eine sehr zeitgemäße Grundrechtecharta. Diese Grundrechtecharta widerlegt das Geschwätz von einer neoliberalen Ordnung in Europa. ({1}) Dieser Vertrag beinhaltet Zielsetzungen, auf die sich politisches Handeln orientieren soll: auf eine soziale Marktwirtschaft, auf Vollbeschäftigung, auf sozialen Fortschritt, auf Umweltschutz, auf eine Verbesserung der Umweltqualität. Ich sage ausdrücklich: Ich halte diesen Zielkatalog, der in diesem Reformvertrag festgeschrieben ist, wirklich für einen Erfolg. Ich halte ihn insbesondere für einen Fortschritt gegenüber dem jetzigen Zustand Europas. Deswegen werden wir Grüne diesem Vertrag zustimmen. ({2}) Er stärkt demokratische Rechte, er stärkt das Europäische Parlament, er stärkt den Bundestag. Wir hoffen, dass der Bundestag diese Rechte künftig mit dem notwendigen Selbstbewusstsein - und nicht gehindert durch Herrn Kauder - in Anspruch nimmt. ({3}) Es kommt aber auch darauf an, wie wir alle diese neue Handlungsfähigkeit nutzen. Es ist richtig, sich um die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsraums Europa Sorgen zu machen. Aber diese Herausforderungen werden wir nur als europäische Herausforderungen bewältigen können. Das heißt, Wettbewerbsfähigkeit ist etwas anderes, als gelegentlich ein AKW an einen Autokraten oder ein paar Airbusse an China zu verkaufen. ({4}) Liebe Frau Bundeskanzlerin, lieber Herr Kauder, ich stimme Ihnen ja zu, wenn Sie sagen, dass Menschenrechte und wirtschaftliche Entwicklung - ich glaube, das war Ihre Formulierung - die beiden Seiten einer Medaille sind. Wenn man weiß, dass wirtschaftlicher Erfolg nur da dauerhaft ist, wo rechtsstaatliche und demokratische Verhältnisse herrschen, dann muss man mit Ländern wie China oder Russland offen sprechen; das ist richtig. Man muss aber konsequent sein. ({5}) Und es ist nicht konsequent - lieber Kollege Fischer, Sie werden dem, was ich jetzt sage, zustimmen -, gegenüber dem König Abdullah von Saudi-Arabien zu schweigen. ({6}) An dieser Stelle möchte ich eine Bemerkung zu den unterschiedlichen Organen der Europäischen Union machen. Hier wird immer betont, dass Europa insbesondere in Sachen Klima- und Umweltschutz eine Vorreiterrolle eingenommen hat. Frau Merkel, wir beide wissen, dass das stimmt; das kann man nicht bestreiten. Wir beide wissen aber auch, dass Europa diese Rolle nur deswegen hat einnehmen können, weil die Europäische Kommission sehr stark war und selbstbewusst aufgetreten ist. Sie hat diesen Fortschritt in der europäischen Umweltgesetzgebung erst möglich gemacht, und zwar, indem sie sich vielfach gegen die kurzfristigen und national bornierten Interessen einzelner Staaten - ich beziehe hier Deutschland durchaus mit ein - durchgesetzt hat. ({7}) Wichtig ist, dass wir ein Mehr an europäischer Außenpolitik bekommen werden. Wie notwendig das ist, sieht man am Beispiel des Kosovo. Natürlich war es kein freundlicher Akt, als

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Egal was die Kosovaren machen, wir erkennen sie an. Mit diesem Satz ist aber auch die Herausforderung beschrieben, der wir uns stellen müssen. Die Herausforderung lautet ganz einfach: Wir können nicht zulassen, dass Europa in Washington oder Moskau geordnet und sortiert wird. Europa muss seine Ordnung selbst organisieren. Das ist die Herausforderung, der wir uns im Kosovo stellen müssen. Wir müssen Europa an dieser Stelle zusammenhalten und in Europa zu einer koordinierten Vorgehensweise kommen. Das wird die Bewährungsprobe der neuen, gemeinsamen europäischen Außenpolitik sein. ({0}) Ich möchte eine letzte Bemerkung machen. Beinhaltet der Vertrag so etwas wie ein Aufrüstungsgebot? Ich finde, Sie sollten mit diesem Unsinn aufhören. ({1}) Das, was im Vertrag steht, ist völlig eindeutig. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die europäische Verteidigungspolitik sind an die Charta der Vereinten Nationen gebunden. Im Vertrag ist die Gleichberechtigung von zivilen und militärischen Fähigkeiten ausdrücklich festgehalten. Das ist der richtige, der neue europäische Ansatz der Außenpolitik. Es geht nicht um die Militarisierung der europäischen Außenpolitik. Auch aus diesem Grund sind wir dafür. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Michael Roth von der SPDFraktion. ({0})

Michael Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn morgen die Staats- und Regierungschefs und die Außenminister den Vertrag unterschreiben, ist das zweifellos ein guter Tag für Europa, aber auch ein guter Tag für unser Land. Wir haben in den vergangenen Jahren sehr viel Zeit verloren. Wir haben uns zu lange mit uns selbst beschäftigt. Die Kanzlerin hat es eben schon gesagt: Die Welt wartet nicht auf Europa. Jetzt haben wir endlich die Chance, uns nicht mehr nur mit institutionellen Fragen zu beschäftigen. Wir können uns endlich darum kümmern, dass die Welt mit Europa, mit einem demokratisch verfassten Europa, mit einem sozial geprägten Europa besser wird. Ich befürchte jedoch, dass der Reformprozess noch nicht in Gänze abgeschlossen ist. Wenn sich diese Welt dramatisch verändert, wird sich auch die Europäische Union immer wieder verändern müssen. Was wir jetzt brauchen, ist kein neuer institutioneller Anlauf. Vielmehr müssen wir den Menschen Zeit geben, sich mit dem Gesicht und den Inhalten des neuen Michael Roth ({0}) Europas anzufreunden. Sie müssen sich in Europa sicher fühlen und Vertrauen zu diesem Europa fassen. ({1}) Wir haben einen langen Weg zurückgelegt, der meines Erachtens 1999 begonnen hat; dieser Weg war mit starken Parlamenten verbunden. Wir haben 1999, auch damals unter deutscher Ratspräsidentschaft, die Initiative für einen Konvent gestartet, der eine Grundrechtecharta erarbeitet hat. Aufbauend auf den großen Erfolgen des ersten Konvents haben wir einen weiteren Konvent ins Leben gerufen, der das Verfassungsprojekt initiiert und vorläufig zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht hat, bis zwei Mitgliedstaaten in Referenden Nein gesagt haben. Ein starkes Europa kann aus unserer Sicht nur mit starken Parlamenten gelingen. Deshalb ist es wichtig, dass wir als Parlament den Vertrag von Lissabon aktiv begleiten und dazu beitragen, dass er erfolgreich in die politische Praxis umgesetzt wird. ({2}) Ich sehe für uns zwei Rollen: Zum einen - diese Rolle ist im Deutschen Bundestag traditionell stark verankert verstehen wir uns als Partner des Europäischen Parlaments. Dies vor allem in den Politikbereichen, die vergemeinschaftet sind und in denen es klare Zuständigkeiten der Europäischen Union gibt. Zum anderen werden wir uns innerstaatlich in noch stärkerem Maße an der Gestaltung der Europapolitik zu beteiligen haben. So richtig es ist, dass der Vertrag von Lissabon im Bereich der Subsidiaritätskontrolle neue Rechte für die nationalen Parlamente vorsieht, verspreche ich mir davon allein nicht allzu viel, weil die Verfahren kompliziert sind. Die Achtwochenfrist ist kurz. Ich glaube nicht, dass man den politischen Erfolg Europas nur an der Subsidiarität wird messen können. Viele Fragen, über die wir hier gestritten und um deren Klärung wir gerungen haben, waren im Hinblick auf die Subsidiarität klar geregelt. Dennoch haben sie eine erhebliche politische Dimension und unmittelbare Konsequenzen für die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes, zum Beispiel in den Bereichen Soziales, Ökologie und Arbeitsmarkt. Deswegen ist es genauso wichtig, dass wir die Bundesregierung, die nun einmal Deutschland im Rat vertritt, in allen Politikbereichen frühzeitig, umfassend und sehr kritisch begleiten. Das wird die entscheidende Aufgabe des Deutschen Bundestages sein. Hier verspreche ich mir von der Vereinbarung zwischen Bundestag und Bundesregierung eine ganze Menge. Wir müssen sie aber noch mehr mit Leben füllen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Wir fordern starke Parlamente ein, vor allem als Selbstverpflichtung. Und gerade deshalb können wir mit der Einsetzung eines Rates der Weisen bzw. einer Reflexionsgruppe nicht zufrieden sein. Denn die Diskussionen der vergangenen Jahre haben doch gezeigt, dass wir die Debatten über Europas Zukunft in die Parlamente hineintragen müssen. Wir müssen hier darüber streiten, in welche Richtung Europa gehen soll. Wir brauchen nicht mehr Arbeitskreise von Expertinnen und Experten, sondern wir müssen hier über den richtigen Weg streiten. Wir brauchen das Interesse der Abgeordneten und nicht allein das Interesse der Elder Statesmen bzw. Elder Stateswomen; das reicht nicht aus. Die Einrichtung einer Reflexionsgruppe - wenn wir denn meinen, ihr allein die Debatte über die Zukunft Europas übertragen zu können schwächt die Parlamente. ({4}) Das Gesicht der Europäischen Union hat sich in den vergangenen Jahren dramatisch verändert. Wir spüren, dass viele neue Mitgliedstaaten mit dieser Europäischen Union noch fremdeln. Möglicherweise hat das etwas mit den Beitrittsverhandlungen zu tun, die maßgeblich die Kommission zu verantworten hat. Möglicherweise werden sie zu technisch geführt. Die Diskussion darüber, worum es bei dem vereinten Europa eigentlich geht und warum es zukunftsweisend ist, die Politik in der Europäischen Union gemeinsam zu gestalten, ist in vielen neuen Mitgliedstaaten offensichtlich ausgeblieben. Wir sollten dafür sorgen, dass diese zentralen Fragen stärker in die Beitrittsverhandlungen integriert werden, damit diese Fremdheit so schnell wie irgend möglich überwunden werden kann. Denn ich glaube, wir brauchen in der Europäischen Union mehr Gemeinsinn, nicht nur das Pochen auf nationale Interessen. ({5}) Vor dem Hintergrund der bitteren Erfahrung der gescheiterten Referenden in den Niederlanden und in Frankreich wissen wir: Das Ratifizierungsverfahren ist kein Selbstläufer. Deshalb müssen wir deutlich machen: Bei dem Ratifizierungsprozess und bei dem Vertrag von Lissabon geht es in erster Linie um ein gemeinsames europäisches Projekt, nicht um nationale Interessen. Es ist gut, dass aus den Reihen der Assemblée Nationale und des Bundestages die Initiative hervorging, das Ratifizierungsverfahren in den EU-Mitgliedstaaten möglichst eng aufeinander abzustimmen. Damit wird deutlich, dass es nicht allein um französische, deutsche oder slowenische Interessen geht. Wir alle profitieren unmittelbar davon, wenn es in allen 27 Mitgliedstaaten ein sorgfältiges, aber dennoch rasches Ratifizierungsverfahren gibt. Der Vertrag hat zweifellos Stärken und Schwächen. Über die Schwächen haben wir hier schon gesprochen. Die Symbole sind nicht mehr Teil des Vertrages. Ich begrüße ausdrücklich, dass sich die Bundesregierung der Initiative angeschlossen hat, ein klares Bekenntnis zu den europäischen Symbolen abzugeben. Das Gezerre um die Grundrechtecharta - darauf ist gerade schon hingewiesen worden - war mehr als peinlich. Wie kann es sein, dass ein Mitgliedsland wie Großbritannien seinen eigenen Bürgerinnen und Bürgern dieMichael Roth ({6}) sen Grundrechtsschutz verwehrt? Bei der Charta geht es in erster Linie nicht um die Bindung nationaler Institutionen, sondern darum, die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union in allen Mitgliedstaaten vor etwaiger Willkür der EU-Organe zu schützen. Es ist ein Armutszeugnis, wenn auf der einen Seite eine politische Kraft in einem Land den Reformvertrag kritisiert, weil er eine Grundrechtecharta enthalten soll, und auf der anderen Seite die Gewerkschaften desselben Landes kritisieren, dass die darin enthaltene Grundrechtecharta für die Bürgerinnen und Bürger des eigenen Landes nicht gelten soll. Hier müssen wir nachbessern. Wir müssen Polen und Großbritannien einladen, sich eher früher als später aktiv an der Umsetzung der Grundrechtecharta zu beteiligen. Die Länder sollten darin eine Chance sehen, mit manchen Vorurteilen und Klischees gegenüber Europa aufzuräumen und das Band des Vertrauens zwischen Bürgerinnen und Bürgern einerseits und europäischen Institutionen andererseits stärker zu knüpfen. ({7}) Es ist teilweise kritisiert worden, dass sich die EUKommission in den vergangenen Jahren zu stark auf die Diskussion um Projekte konzentriert hat. In Brüssel hieß es immer so schön: Europa mit Projekten voranbringen. Wir haben gesagt: Projekte können nur dann gelingen, wenn auch der Reformvertrag gelingt. Jetzt besteht aus meiner Sicht schon die Notwendigkeit, deutlich zu machen, dass - wie es im Slogan unserer Ratspräsidentschaft so schön hieß - Europa gemeinsam gelingt. Die Zukunft der Europäischen Union entscheidet sich nicht allein über den Reformvertrag. Es geht auch um folgende Fragen: Können wir die Beziehungen zu Afrika auf ein stabiles Fundament stellen? Schaffen wir es, unseren europäischen Nachbarn, die der Europäischen Union entweder nicht angehören wollen oder noch nicht angehören können, ein attraktives Kooperationsangebot zu unterbreiten? Erreichen wir eine stabile Lösung der Kosovo-Krise? Schaffen wir eine europäische Einwanderungs- und Asylpolitik ohne nationalen Schaum vor dem Mund? Schaffen wir hier einen Ausgleich zwischen der Verantwortung der Mitgliedstaaten und der Verantwortung der Europäischen Union? Wenn ich mir die innenpolitische Diskussion vergegenwärtige, habe ich so meine Zweifel. Und: Verschaffen wir in unserem Land der Arbeitnehmerfreizügigkeit stärkere Geltung, nicht erst ab 2011, sondern möglicherweise schon ab 2009? All das sind Fragen, die uns hier in den nächsten Wochen und Monaten intensiv beschäftigen werden. Ich danke der Kanzlerin, dass sie klare Worte zum europäischen Personal gefunden hat. So wichtig der Vertrag auch ist: Orientierung, Profil und Qualität werden auch von europäischen Persönlichkeiten gegeben. Wir erwarten, dass bei der Besetzung der Ämter des Ratsvorsitzenden, des Hohen Repräsentanten für Außen- und Sicherheitspolitik, des Kommissionspräsidenten und des Präsidenten des Europäischen Parlaments - hier dürfte es das geringste Problem sein - Persönlichkeiten gewählt werden, die sich dem europäischen Gemeinsinn verpflichtet fühlen und nicht nur einigen Mitgliedstaaten. Darum geht es bei der Besetzung des europäischen Spitzenpersonals. Diese Fragen stehen 2009 an. Auch diesbezüglich müssen wir ein klares Wort sprechen, wenn die Zeit dafür gekommen ist. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Roth, kommen Sie bitte zum Schluss.

Michael Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich danke der portugiesischen Präsidentschaft - auch namens meiner Fraktion - für die hervorragende Arbeit. Ein gutes europäisches Jahr liegt hinter uns. Ich bin mir sicher, die slowenischen Partner werden auf diesem guten Jahr aufbauen können und dazu beitragen, dass wir alle eine gute europäische Zukunft haben. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Markus Löning von der FDP-Fraktion. ({0})

Markus Löning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003583, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Lassen Sie mich zunächst für das Protokoll festhalten, dass die Bundesregierung vor dem Eintritt in die Verhandlungen über diesen Reformvertrag nicht das Einvernehmen mit diesem Haus gesucht hat, wie es das Grundgesetz und die gemeinsame Vereinbarung zwischen Bundesregierung und Bundestag vorgesehen und vorgeschrieben hätten. Ich habe es öfter gesagt und wiederhole es jetzt angesichts der Tatsache, dass Sie, Herr Kauder, hier gerade wieder Demokratie und die Stärkung der Parlamente eingefordert haben: Die Chance dazu hätten Sie gehabt. Wir hätten der Bundesregierung von vornherein ein entsprechendes Mandat mitgeben können. Es entspricht dem politischen Willen der beiden großen Fraktionen in diesem Haus, dass dies nicht geschehen ist. Was nützen uns die Reden über Demokratie und eine stärkere Beteiligung der Parlamente? - Nichts! Wir brauchen den politischen Willen, das tatsächlich einzufordern. Dazu fordere ich Sie hier nachdrücklich auf! ({0}) Dasselbe gilt für den Rat der Weisen. Der Rat der Weisen ist für jeden Parlamentarier Europas ein Schlag ins Gesicht. Wir sind die gewählten Vertreter der Völker Europas. Wir - die Abgeordneten im Bundestag, die Kollegen im Europäischen Parlament sowie die Kollegen in den Landtagen und den anderen nationalen und regionalen Parlamenten - sind diejenigen, denen es zusteht, eine öffentliche Debatte über die Zukunft Europas zu führen. Wir brauchen keinen Geheimzirkel, der irgendwo hinter verschlossenen Türen redet. Wir brauchen eine öffentliche und nachvollziehbare Debatte. ({1}) Ich hätte mir von der Bundesregierung klarere Worte an die französischen Partner gewünscht. Wenn sie sich dann wenigstens in der Türkeifrage nachvollziehbar bewegt hätten! Aber das haben sie auch nicht getan. Ich frage mich, welchen Mehrwert diese Absprache, die es da gegeben hat, für Europa dargestellt haben soll. Lassen Sie mich ein paar Worte zu Wettbewerb und Globalisierung sagen. Frau Bundeskanzlerin, als ich Sie vorhin reden hörte, dachte ich, Sie wollen sich um den Vorsitz der Sozialdemokratischen Partei bewerben. ({2}) Das Thema Wettbewerb wird darauf reduziert, wie wir Europa vor unfairem Wettbewerb schützen können. Sicherlich ist das ein richtiges und wichtiges Thema. Aber es ist doch nur ein kleiner Aspekt des Bereichs „Wettbewerbsfähigkeit und Wettbewerb“. Ich kann mich daran erinnern, dass die CDU früher einmal eine Partei gewesen ist, die sich für Marktwirtschaft, Wettbewerb und Wettbewerbsfähigkeit eingesetzt hat. Das würde ich mir wünschen, und das brauchen wir auch in der Europäischen Union. Es ist die Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaften und unseres Binnenmarkts, die die wahre soziale Dimension Europas darstellt. Sie schafft Arbeitsplätze hier vor Ort, sie bewirkt die soziale Absicherung unserer Bürgerinnen und Bürger, und sie zeigt unseren Bürgerinnen und Bürgern eine Perspektive für Europa auf. Wir brauchen mehr marktwirtschaftlichen Mut und mehr Binnenmarkt in der Europäischen Union und nicht nur diese Abwehrschlachten, so richtig diese im Hinblick auf Länder wie China sein mögen. Diesbezüglich wünsche ich mir eine deutlich veränderte Politik. ({3}) Herr Kauder, insbesondere von Ihnen wurden die Themen Kompetenzen und Subsidiarität angesprochen. Wir sind der Meinung, dass der Vertrag diesbezüglich einige neue Rechte bietet. Aber ich hätte mir Beispiele gewünscht. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie die Bereiche nennen, die wir wieder in nationale Verantwortung zurückholen wollen. Auf europäischer Ebene wird vieles geregelt, das vor vielen Jahren richtigerweise dort angesiedelt wurde, zum Beispiel die Landwirtschaftspolitik. Aber ist es heute noch richtig, dass die Landwirtschaftspolitik ausschließlich auf europäischer Ebene geregelt wird? Wäre es nicht vernünftiger, auf die Dauer wieder zu einer nationalen Kofinanzierung und zu den Regeln des Binnenmarktes zu kommen? Da fehlt mir insbesondere aufseiten der CDU der politische Mut, das anzusprechen. Zum Schluss möchte ich Ihnen, Herr Steinmeier, gerne noch sagen: Sie haben während der deutschen EURatspräsidentschaft große Anstrengungen unternommen; das erkennen wir an. Aber danach war die Luft raus. ({4}) Das Verhältnis zu Frankreich wurde angesprochen. Mindestens genauso wichtig - das möchte ich hier anmahnen ist für uns das Verhältnis zu Polen. Ich hätte mir gewünscht, dass auch von Ihnen die Initiative gekommen wäre, sich mit den Balten, den Finnen, den Schweden, den Russen und den Polen zusammenzusetzen und noch einmal über die Ostseepipeline zu sprechen. Seit gestern gibt es einen ersten Ansatz mit Polen; das begrüße ich sehr. Ich finde, dieser Ansatz muss auf die übrigen Nachbarn ausgeweitet werden; denn wir haben in der Frage der Ostseepipeline ein großes Problem mit unseren Nachbarn, das die gutnachbarschaftlichen Beziehungen stört. Dieses Problem müssen wir unbedingt lösen. Ich hoffe, dass die Chance genutzt wird, jetzt, da in Polen eine neue Regierung im Amt ist, die Beziehungen auf eine neue Basis zu stellen. Es ist bitter notwendig, dass wir hier deutliche Fortschritte machen. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Thomas Silberhorn von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der Unterzeichnung des Vertrages von Lissabon am Wochenende werden wir sagen können, dass 2007 ein erfolgreiches Jahr für die Europäische Union gewesen ist. Mit der Reform der Institutionen und der Instrumente werden wir uns nach Jahren EU-interner Debatten endlich wieder den Aufgaben zuwenden können, die die Europäische Union als globaler Akteur wahrzunehmen hat. Die deutsche Ratspräsidentschaft hat entscheidende Vorarbeiten dazu geleistet, dass die portugiesische Ratspräsidentschaft in wenigen Wochen das Mandat der Regierungskonferenz in einen konkreten Vertragstext umsetzen konnte. Dafür darf ich der Bundesregierung und namentlich der Kanzlerin Dank zollen. Ich möchte allerdings, zumal ich ein überzeugter Europäer bin, zwei Punkte kritisch anmerken, weil dieses Verfahren meines Erachtens an zwei Punkten verbesserungsbedürftig ist. Der erste Punkt: Das Mandat der Regierungskonferenz war sehr eng, sodass es keinen Verhandlungsspielraum gab. Das ist verständlich vor dem Hintergrund, dass mit dem Entwurf des Verfassungsvertrages schon alles auf dem Tisch lag. Ich meine aber, dass bei künftigen Vertragsänderungen die nationalen Parlamente bereits in die Vorbereitung der Verhandlungspositionen, aber auch in die Verhandlungen der Regierungskonferenz intensiver einbezogen werden müsThomas Silberhorn sen. Ich freue mich, dass in dem Reformvertrag dazu eine Lösung angedacht ist mit dem Konvent, der künftig bei Vertragsänderungen eingerichtet werden soll und dem auch Vertreter der nationalen Parlamente angehören sollen. Damit ist sichergestellt: Die Weiterentwicklung der Europäischen Union ist nicht etwa eine technische Aufgabe für Beamte; sie bedarf vielmehr der intensiven parlamentarischen Begleitung. ({0}) Der zweite Punkt, den ich kritisch anmerken möchte, ist das Feilschen um nationale Sonderregelungen, mit dem wir Gefahr laufen, die Glaubwürdigkeit des Reformprozesses zu untergraben. Ich habe Verständnis für Ausnahmeregelungen, die sachlich begründet sind, beispielsweise wenn sie dazu beitragen, dass am Ende der Vertrag als Ganzes in einem Land zustimmungsfähig wird. Ich habe aber wenig Verständnis für nationale Egoismen, die zulasten der europäischen Integration gehen. Das betrifft beispielsweise das Verschieben der doppelten Mehrheit bei Ratsentscheidungen auf 2014, ({1}) aber auch den zusätzlichen Sitz im Europäischen Parlament für Italien. Romano Prodi hat als Kommissionspräsident noch im September 2003 zu solchem Vorgehen gesagt: Die Mitgliedstaaten neigen dazu, durch Kuhhandel Kompromisse zu sichern, die auf Kosten der Glaubwürdigkeit und Stabilität des Systems gehen können. ({2}) Wo er recht hat, hat er recht. Ich meine, es ist jetzt an der Zeit, dass alle ihre gemeinsame Verantwortung für das Ganze wahrnehmen. ({3}) Wir haben dazu Gelegenheit in dem Ratifikationsprozess, der bis zur Europawahl 2009 abgeschlossen sein soll. Eine Reihe von Mitgliedstaaten hat schon gut darauf hingearbeitet. Ich darf erwähnen, dass der französische Präsident Sarkozy den Mut hatte, schon in seinem Wahlkampf anzukündigen, dass Frankreich auf ein Referendum verzichten will. Andernfalls wären wir in diesem Ratifikationsprozess heute möglicherweise nicht so weit, wie wir es sind. Mit dem Zustimmungsgesetz werden wir als Bundestag ein Begleitgesetz verabschieden, mit dem wir die neuen Verfahren bei der Subsidiaritätsrüge und der Subsidiaritätsklage gemäß des Vertrages konkretisieren und eine Reihe weiterer Beteiligungsrechte des Bundestages verankern wollen. Ich begrüße, dass nun auch die Bundesländer mit einem einstimmigen Beschluss der Europaministerkonferenz der deutschen Länder angekündigt haben, mit der Bundesregierung Verhandlungen über eine Novellierung der Bund-Länder-Vereinbarung aufnehmen zu wollen; denn dieses Anliegen hat ganz offenkundig die Zusammenarbeitsvereinbarung zum Vorbild, die wir im Bundestag mit der Bundesregierung geschlossen haben. Ich glaube, dass alles, was die parlamentarische Begleitung und Mitverantwortung stärkt, insgesamt begrüßenswert ist, weil dadurch auch die Akzeptanz der europäischen Politik gefördert wird. ({4}) Meine Damen und Herren, wir müssen diesen Reformvertrag nun mit Leben füllen. Deswegen muss die Präzisierung der Kompetenzordnung, müssen die Klarstellungen beim Subsidiaritätsprinzip zu Konsequenzen führen. Wenn in diesem Vertrag klargestellt wird, dass durch die Ziele der EU keine Kompetenzen begründet werden, dann genügt es eben nicht, wenn sich die Mitgliedstaaten und die Kommission einig sind, eine Sache auf europäischer Ebene voranzutreiben, sondern dann muss auch die Vorfrage beantwortet werden, ob die europäische Ebene überhaupt tätig werden darf, weil dadurch nicht nur der Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten als Ganzes, sondern - präzise gesagt - auch der Handlungsspielraum der nationalen Parlamente entscheidend berührt wird. Oder: Wenn in dem Vertrag klargestellt wird, dass die EU nicht ausdrücklich übertragene Zuständigkeiten auch nicht wahrnimmt, sondern sie bei den Mitgliedstaaten verbleiben, dass die EU nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig werden darf, die ihr übertragen werden, dann bedeutet das ganz konkret, dass dynamische Kompetenzerweiterungen, wie wir sie in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes über viele Jahre hinweg erlebt haben, künftig nicht mehr möglich sein werden. Auch der Europäische Gerichtshof muss den Handlungsspielraum der nationalen Parlamente künftig stärker achten, als das bisher der Fall gewesen ist. ({5}) Ich bin der Auffassung, dass die Achtung der Kompetenzordnung und des Subsidiaritätsprinzips in der Haushaltspolitik auch ganz praktisch ihren Niederschlag findet. Die Europäische Union - darauf müssen wir im Zusammenspiel mit unseren Kollegen im Europäischen Parlament achten - darf Personal und Finanzmittel nur dafür einsetzen, wofür ihr tatsächlich Aufgaben übertragen worden sind. Die Europäische Union muss sich nun auf das Wesentliche konzentrieren. Sie darf kein Spielplatz für nationale Egoismen oder EU-interne Egoismen sein, sondern sie muss in einer globalisierten Welt wettbewerbsfähig werden. Sie muss eine Europäische Union der gemeinsamen Werte sein, wenn sie als globaler Akteur auftritt. Insoweit hoffe ich, dass die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik tatsächlich gemeinsam wird. Wir haben beim EU-Afrika-Gipfel erlebt, dass dies möglich ist. Die klaren Worte der Kanzlerin sind im Kreis der Europäischen Union auf Unterstützung gestoßen. Ich hoffe und wünsche mir, dass uns das auch hinsichtlich des Kosovo gelingt. Wenn wir es schaffen, dass wir in der Außenpolitik geschlossen und entschlossen auftreten, dann, so denke ich, gehen wir in der Europäischen Union in eine gute Zukunft. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Dr. Diether Dehm von der Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Vertrag mag in manchen Einzelheiten Verbesserungen gegenüber der Rechtslage nach Nizza bringen; das bestreiten wir nicht, aber das sagt auch wenig. Durch den Vertrag wird aber die Tendenz zu weltweiten Militärinterventionen für Energie und Rohstoffe fremder Völker verstärkt. Lieber Herr Kollege Trittin, als ich gehört habe, wie Sie die Rüstungsagentur schöngeredet haben, fand ich das als jemand, der Sie schon länger kennt, etwas irritierend. ({0}) In der EU-Verfassung wird formuliert: Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern. Lieber Herr Kollege Trittin, wenn Sie darin den Willen zur Abrüstung und zum Frieden sehen, dann kann ich nur sagen: Mancher ist als maoistischer Tiger gestartet und bei der Kanzlerin als Bettvorleger gelandet. ({1}) Ein Teil der Mitgliedstaaten hat schon heute Truppen im Irak. Die Bundeswehr steht mit deutschen Soldaten in Afghanistan. Im Kosovo wird nach der von Ihnen unterstützten, völkerrechtswidrigen und einseitigen Unabhängigkeitserklärung ein verstärktes militärisches Engagement die Folge sein. Ein größerer militärischer Einsatz der EU in Afrika zeichnet sich ab. - Als wir uns in der Schule für Europa begeistert haben - unser Direktor und unsere Schülervertretung, der der Kollege Axel Schäfer und ich gemeinsam angehört haben, waren sehr europabegeistert -, gab es wirklich den Traum von einem Europa des Friedens. Jetzt ist Europa hochgerüstet mit Truppen in anderen Ländern. Ich sage Ihnen voraus: Morgen wird ein schwarzer Tag für Frieden und Abrüstung in Europa. ({2}) Mit der Binnenmarktkonzeption, dem Prinzip der wechselseitigen Anerkennung und dem Herkunftslandprinzip zum Beispiel bei der arbeitnehmer- und mittelstandsfeindlichen Dienstleistungsrichtlinie ist die Arbeitslosigkeit in der EU gestiegen. Die Löhne und Gehälter haben erst relativ, in Deutschland dann aber auch absolut abgenommen, und Armut breitet sich aus. Betroffen sind vor allem Kinder. Der Vertrag bindet die Europäische Union zwar an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und die Organe bei der Ausübung übertragener hoheitlicher Gewalt an diese Prinzipien. Die Sozialstaatlichkeit fehlt aber vollständig. Das ist ein Verstoß gegen Art. 20 und Art. 79 des Grundgesetzes. Darauf wird gegebenenfalls verfassungsrechtlich zurückzukommen sein. ({3}) Wegen der sozialstaatswidrigen Ausübung des Wettbewerbsrechts durch die EU - des unverfälschten Wettwerbs, der jetzt nur noch eine Fußnote, aber dennoch Bestandteil des Vertrages ist - geht von ihr ein unheilvoller Zwang zur Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge aus. Die Leistungen werden schlechter, die Entgelte höher. Ohne die Linke wäre kein Ende des Privatisierungswahns abzusehen. ({4}) Ein besonders skurriles Beispiel ist der Versuch von EU-Kommission und Europäischem Gerichtshof ({5}) - hören Sie zu! -, den niedersächsischen Landkreisen Harburg, Rotenburg/Wümme, Soltau-Fallingbostel und Stade ({6}) die Zusammenarbeit im Bereich der Müllverbrennung zu verbieten und sie zur Ausschreibung und damit zur Vergabe an Privatunternehmen zu zwingen. Was will die EU-Bürokratie denn noch alles an Daseinsvorsorge kaputtregeln? In wessen Interesse und auf wessen Kosten soll das geschehen? ({7}) Das Volkswagenwerk in Wolfsburg wurde vom Hitler-Regime aus geraubten Geldern der Gewerkschaften aufgebaut. ({8}) Deshalb sollten die Anteile bestimmten Beschränkungen von Kapitalwillkür unterliegen, als 1960 die Privatisierung erfolgte. Jahrzehntelang wurde das nicht beanstandet. Jetzt aber erklärte der EuGH Vorschriften des VWGesetzes für unvereinbar mit dem EG-Vertrag. Diese Anmaßung wurde weder von der Bundesregierung noch von der niedersächsischen Landesregierung zurückgewiesen. Auch von den Grünen und der SPD war dazu nichts zu hören. ({9}) Im Vertrag von Lissabon sind die Rechte des Europäischen Parlaments zwar in Teilbereichen ausgeweitet worden, die entscheidenden Demokratiedefizite wurden aber nicht behoben. Auch zukünftig kann die EU-Kommission vom Parlament nicht wirklich gewählt und abgewählt werden. Das Europäische Parlament soll weiter kein Recht zur Gesetzesinitiative haben, sondern vollDr. Diether Dehm ständig vom Tätigwerden der Kommission abhängen. Dem neuen europäischen Außenminister wird als Teil sowohl der Kommission als auch des Rats ein doppelter Hut aufgesetzt, und damit unterliegt er keiner parlamentarischen Kontrolle. Der neue Präsident des Europäischen Rats wird inmitten der wuchernden Ratsbürokratie ebenfalls weithin unkontrolliert vom Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten agieren. Wie sollen sich Bürgerinnen und Bürger mit einem derart intransparenten, überbürokratisierten und undemokratischen Europa identifizieren? Die Bürgerinnen und Bürger bzw. die Völker der Mitgliedstaaten der EU sind Wesen, die den Regierenden eher lästig sind. Da haben sich die Völker in Frankreich und den Niederlanden doch tatsächlich erlaubt, gegen den Verfassungsvertrag zu stimmen, und sofort wird ihnen eine Volksabstimmung vorenthalten, obwohl die Inhalte - wie Sie selbst sagen - identisch sind. Morgen wird eine der größten Niederlagen der europäischen Integration seit der Gründung der EWG stattfinden; denn Sie organisieren die EU wie eine Verschwörung hinter dem Rücken der Völker. ({10}) Welches Land und welche Politikerinnen und Politiker werden nicht von der Bundeskanzlerin wegen mangelnder Demokratie gerügt! Als Beispiel nenne ich den Staatspräsidenten von Venezuela, Hugo Chávez. ({11}) Er hat aber eine Volksabstimmung durchgeführt und erklärt, dass er sich an das Ergebnis der Volksabstimmung, das mit 49 zu 51 Prozent knapp gegen ihn ausgefallen ist, halten wird. Wer braucht hier von wem Nachhilfe in Sachen Demokratie? Er hat eine Volksabstimmung gemacht, Sie verweigern sie. ({12}) - Was soll die Aufregung? - Es wäre für Sie ganz einfach, Ihrem eigenen Demokratieanspruch gerecht zu werden. Wir haben einen Antrag auf Ergänzung des Grundgesetzes eingebracht, mit dem Volksabstimmungen über Änderungen der EU-Verträge ermöglicht werden. Stimmen Sie dem doch einfach zu! ({13}) Umso glaubwürdiger wären Sie, wenn Sie von anderen Demokratie einfordern. Dann werden wir sehen, wie das deutsche Volk, wie die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land von dem Vertrag denken, wie sie abstimmen. Wir halten an der Integration Europas fest, die nicht gegen unser Grundgesetz, sondern nur sozial, friedlich und demokratisch gelingen kann - und nur mit den Bürgern und nicht hinter ihrem Rücken. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Rainder Steenblock vom Bündnis 90/Die Grünen.

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Mitglied dieses Hohen Hauses, das keine Probleme hat, sich zu seiner linken Geschichte zu bekennen und sich noch immer als links empfindet, ist es etwas schwierig, hier einige Ausführungen lebend zu überstehen. ({0}) Ich möchte nur einen Satz zur Ehrenrettung der europäischen Linken sagen: Die Kommunistische Partei Italiens hat in der letzten Woche im italienischen Parlament beschlossen, den Reformvertrag der Europäischen Union zu ratifizieren. ({1}) Das macht deutlich, dass es in Europa Linke gibt, die ein Interesse daran haben, die Lebensverhältnisse der Menschen, die soziale Situation der Menschen nach einer Analyse der Wirklichkeit zu verbessern. Mit denen arbeiten wir gerne und sicherlich auch produktiv zusammen. ({2}) Die Bundeskanzlerin und der Außenminister sind ja bereits für ihren Einsatz, den sie in dem Prozess, den Reformvertrag zu einem Erfolg zu führen, geleistet haben, gelobt worden. Lassen Sie mich aber an dieser Stelle noch einmal sehr deutlich machen: Der Reformvertrag ist nicht von der deutschen Bundesregierung erfunden worden. Er ist - daran sollte man heute erinnern, auch im Selbstbewusstsein als Parlamentarier ({3}) vom Europäischen Konvent ausgearbeitet worden, in dem die Parlamente der Mitgliedstaaten der EU die Mehrheit hatten. Es ist der Vertrag unserer Parlamente. ({4}) Wir haben über die Erklärung zur Zusammenarbeit, die ein großer Erfolg war, geredet und wissen, dass - darüber werden wir morgen entscheiden - noch eine Reihe von Fragen zu klären sind. Wir als Parlamentarier müssen uns das Recht nehmen, europäische Politik auch von diesem Hohen Hause aus zu gestalten. Dies muss manch13816 mal so erfolgen, dass man der Bundesregierung durch dieses Parlament konkret vorgibt, was sie auf europäischer Ebene verhandeln soll. Das hat etwas mit Transparenz zu tun und damit, Menschen bei diesem Integrations- und Friedensprojekt mitzunehmen. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, über die deutschfranzösische Freundschaft wurde bereits gesprochen. Sie war ein Anker der europäischen Integration. Mich treiben die gleichen Sorgen um, auf die Herr Hoyer zu Beginn der Debatte hingewiesen hat. Wenn ich mir das deutsch-französische Verhältnis heute genau anschaue, dann fallen mir folgende Stichworte ein: Der vorgeschlagene Rat der Weisen bedeutet nichts anderes als eine Entdemokratisierung der Entscheidungsverfahren. Die vorgeschlagene Mittelmeerunion ist nichts anderes als ein Versuch, die Europäische Union zu spalten oder zumindest in Lobbygruppen aufzuteilen. Die EZB ist ein weiterer Problembereich, um das deutlich zu sagen. Der französische Staatspräsident, der sich all dies ausgedacht hat, hat zudem am Tag der Menschenrechte mit Herrn Gaddafi Verträge über den Export von Atomkraftwerken unterzeichnet. Angesichts dessen hätte ich mir von Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, eine deutlichere Auseinandersetzung mit dem französischen Präsidenten gewünscht. Wir können es nicht zulassen, dass aufgrund dieser - vielleicht neu motivierten - französischen Politik, sich europäischen Themen zuzuwenden, dann aber Spielzeuge entwickelt werden, die in der Realität die Europäische Union und andere gefährden; so habe ich Ihre mütterlichen Warnungen an Herrn Sarkozy verstanden. Aber manchmal muss man solchen Leuten das Spielzeug wegnehmen. ({6}) Wenn Deutschland seine Verantwortung wahrnehmen will, dann bedeutet das, dass wir zu Entscheidungsprozessen kommen müssen, die zu klaren Mehrheiten führen. Die Menschen müssen das nachvollziehen können. Die bisherigen Vorschläge zur Kompromissbildung auf europäischer Ebene sind dazu aber nicht geeignet. Eine Mittelmeerunion soll im Prinzip, aber nicht so ganz, vielleicht nur ein bisschen, angestrebt werden. Der Rat der Weisen soll nun Reflexionsgruppe heißen. Das ist ein toller Ausdruck. Die Menschen wissen sicherlich sofort, was damit gemeint ist. Diese Gruppe hat tatsächlich beschränkte Rechte und darf sich nur mit bestimmten Themen befassen. Hier wären klare Entscheidungsprozesse notwendig. Lieber Sarkozy, so geht es nicht! Deutschland und Frankreich dürfen nicht nur im PR-Bereich, sondern müssen auch bei der Wahrnehmung der Verantwortung auf europäischer Ebene zusammenarbeiten. Lassen Sie uns daran weiterarbeiten! Vielen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Gert Weisskirchen von der SPD-Fraktion. ({0})

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Bundeskanzlerin, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu. Sie haben in Ihrer Regierungserklärung gesagt, es gehe nun darum, mehr Handlungsfähigkeit für die Europäische Union durch den Vertragsabschluss herzustellen. Lieber Kollege Kauder, auch Ihnen stimme ich ausdrücklich zu. Es geht genau um das, was Sie angesprochen haben. Die europäischen Nationalstaaten alleine werden es nicht schaffen, die Herausforderungen der Globalisierung zu meistern. Vielmehr wird die Europäische Union uns allen eine weitaus bessere Chance geben, die Herausforderungen, vor die uns die Globalisierung stellt, zu bestehen. Die nun durch den Reformvertrag erreichte Qualität war historisch gesehen zwingend erforderlich. Ich bin dankbar dafür, dass die Bundesregierung trotz aller Wirren, Probleme und Konflikte, die zu bestehen waren, alles getan und darauf hingewirkt hat. Es ist ein großer Erfolg, dass dieses Vertragswerk nun in Lissabon auf Regierungsebene endlich akzeptiert und durchgesetzt wird. ({0}) Lassen Sie mich als Sozialdemokrat auf den Kernsatz des 1925 von uns verabschiedeten Heidelberger Programms hinweisen: Wir wollen die Vereinigten Staaten von Europa. ({1}) 1925! Was hätten unsere Großväter und Väter Europa und insbesondere Deutschland alles ersparen können, wenn das deutsche Volk, Herr Stresemann und andere mitgeholfen hätten, näher an das Ziel heranzukommen, das wir nun Schritt für Schritt erreichen! Was hätte das für die europäische Entwicklung bedeutet! ({2}) Deswegen sind wir Sozialdemokraten stolz darauf, dass wir diesem Ziel jetzt einen wesentlichen Schritt näher gekommen sind. Von dem, was Sie, Frau Bundeskanzlerin, angesprochen haben, möchte ich gerne zwei Punkte herausgreifen. Erstens: Afrika. Ich glaube, dass wir viel zu viel Zeit verloren haben, die Interessen Afrikas wirklich wahrzunehmen. Wir haben zu wenig Kraft eingesetzt, um füreinander ein verlässlicher Partner zu sein. Mit dem Gipfel in Lissabon ist es mittlerweile aber gelungen, dafür zu sorgen, dass die Partnerschaft zumindest auf dem Papier gleichberechtigt ist, lieber Kollege Fischer. Nun wird es darauf ankommen, dass das, was auf Papier geschrieben steht, umgesetzt wird. Der Prozess, den wir in den nächsten Tagen und Wochen bis zum 1. Januar 2008 Gert Weisskirchen ({3}) erleben, muss wirklich konstruktiv und kreativ genutzt werden. Liebe Frau Bundeskanzlerin, ich bitte herzlich darum, diese Chance zu nutzen, die anstehenden Wirtschaftsabkommen - die Beratungen darüber sind noch nicht abgeschlossen - wirklich voranzubringen, sodass sich die Partner auf dem afrikanischen Kontinent respektiert fühlen können. „Gleichberechtigte Partnerschaft“ heißt auch, dass wir die Interessen derer, die in Afrika leben, bei unseren Verhandlungen und Abkommen berücksichtigen. Es darf keine Asymmetrie geben. Es darf nicht sein, dass die afrikanischen Produzenten solchen Wirtschaftsbeziehungen und Verhältnissen ausgeliefert werden oder sie Handelsschranken unterworfen werden mit der Folge, dass sie es am Ende nicht schaffen, ihre Produkte auf unseren Märkten anzubieten. Wenn wir „gleichberechtigte Partnerschaft“ sagen, dann müssen wir das, was dafür Voraussetzung ist, auch durchsetzen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Frau Bundeskanzlerin, ja, es war gut, dass in Lissabon über Menschenrechte gesprochen wurde. Gut war auch, darüber zu reden, wo sie verletzt werden und wer sie verletzt. Ich würde herzlich darum bitten, sich zumindest daran zu erinnern, was Gustav Heinemann uns einmal gesagt hat: Wer auf andere mit dem ausgestreckten Zeigefinger zeigt, der deutet mit drei Fingern seiner Hand auf sich selbst. Menschenrechte heißt ebenfalls - ich glaube, auch dieses Thema ist behandelt worden -: Menschen, die Europa als Fluchtburg sehen, die von mafiaähnlichen Banden auf Kähne gelockt werden - manche kentern vor den Kanarischen Inseln oder vor Malta, und die Flüchtlinge ertrinken -, müssen von uns ernst genommen werden. Diese Menschen kämpfen um ihr Menschenrecht. Wir können es am besten realisieren, indem wir mithelfen, dass die Produktionsbedingungen in den Regionen Afrikas, aus denen sie kommen, verbessert werden, indem wir mithelfen, dass diese Menschen an der Produktion und am Wettbewerb zwischen Europa und Afrika gleichberechtigt teilnehmen. Auch das ist ein Stück Realisierung von Menschenrechten derjenigen, die in Afrika leben. ({5}) Zweitens: Kosovo. Der Deutsche Bundestag hat in diesem Jahr wiederum - ich glaube, es war im Mai darüber debattiert und entschieden, eine Friedensregelung für das Kosovo militärisch abzusichern. Das Mandat der internationalen Sicherheitspräsenz beruht auf der Grundlage der UN-Resolution 1244. Eines ist klar - das haben wir auch in der Begründung unseres Beschlusses in diesem Jahr festgehalten; ich zitiere -: Die Bundesregierung hofft daher, dass der VNSicherheitsrat seiner Verantwortung gerecht wird und möglichst bald eine neue Resolution verabschiedet, die das Statuspaket - Ahtisaari billigt, die bisherige Resolution 1244 ({6}) des VN-Sicherheitsrates ablöst und die Grundlage für die neue internationale Präsenz schafft. So weit der Beschluss. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen: Um zu einer neuen rechtlichen Grundlage zu kommen, bedarf es der Anstrengungen von uns allen und ganz besonders der Kreativität der Außenminister der Europäischen Union. Ich sage ganz ausdrücklich: Lieber Frank-Walter Steinmeier, wir danken dafür, dass Sie immer wieder versucht haben, auch in diesem Jahr, neue Verhandlungstische aufzubauen, neue Prozesse in Gang zu setzen, damit uns das Kosovo nicht explodiert. Vielen Dank dafür! Nun kommt es allerdings darauf an, in Belgrad und Priština deutlich zu machen: Ihr müsst einhalten, was ihr uns jetzt versprochen habt! Es geht nicht, dass unilateral etwas entschieden und ausgerufen wird, und es geht auch nicht, dass mit dem Gedanken gespielt wird: Wann finden die Präsidentschaftswahlen statt? Die Zeit der Spiele ist beendet. Jetzt muss fair miteinander darum gerungen werden, dass es eine europäische Lösung gibt. Wir dürfen uns von niemandem, weder von Washington noch von Moskau, sagen lassen, was wir als Europäer zu tun haben. Die Europäische Union ist jetzt gefordert, und sie muss jetzt klug und vernünftig handeln, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege Michael Stübgen für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Michael Stübgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Ende dieser Debatte kann man feststellen, was wir im Deutschen Bundestag seit vielen Jahren tun: Die regierungsfähigen Fraktionen signalisieren auch bei unterschiedlichen Auffassungen in Einzelheiten die Zustimmung zu dem Vertrag, der nun Vertrag von Lissabon heißen wird. ({0}) Das war schon bei Maastricht so. Das war bei Amsterdam und Nizza ebenso der Fall. Eine Fraktion allerdings arbeitet nach dem Motto: Man muss Lügen und Unterstellungen nur oft genug wiederholen, dann gibt es immer Leute, die das glauben. ({1}) Ich will noch einmal auf Folgendes hinweisen: Es ist völlig absurd, der Europäischen Union zu unterstellen, sie sei eine Art Kriegs- und Aufrüstungsunion. ({2}) Das Gegenteil ist der Fall. Das beweist die Geschichte der Europäischen Union. Die Europäische Union ist das erfolgreichste Friedensprojekt der Weltgeschichte überhaupt. ({3}) Die Mitgliedstaaten schaffen es nicht nur, dass in ihrem Innern Frieden herrscht, seit die Union besteht - weit über tausend Jahre war das in Europa nicht der Fall -; nein, sie sorgen auch außerhalb der Europäischen Union für Frieden und Friedenserhaltung, zum Beispiel in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo. Die Europäische Union ist eine Friedensunion und keine Kriegsunion. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dehm?

Michael Stübgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. ({0}) Genauso absurd ist es, der Europäischen Union zu unterstellen, sie sei eine Art Freihandelszone, die dem Manchesterkapitalismus fröne. Auch hier ist das genaue Gegenteil der Fall. Nicht nur in den Verträgen ist es eindeutig anders geregelt - soziale Standards werden gesichert und ausgebaut -; auch die Geschichte der Europäischen Union belegt das, und zwar für jedes einzelne Mitgliedsland. Es gibt kein einziges Land unter den 27 Mitgliedsländern, in dem es mit dem Beitritt zur Europäischen Union nicht zu einem wirtschaftlichen Aufschwung gekommen wäre; darüber hinaus ist es überall auch zu besserer sozialer Absicherung, besserem Gesundheitswesen, Rechtsstaatlichkeit usw. gekommen. Die Geschichte belegt also das genaue Gegenteil. Ich sage Ihnen voraus: Sie werden mit Ihren Lügen und Unterstellungen nicht durchkommen. Am Schluss glaubt Ihnen niemand mehr. ({1}) Wenn morgen um 11.30 Uhr in Lissabon der Reformvertrag - er wird hinfort Vertrag von Lissabon heißen unterschrieben wird, kommen wir mit hoher Wahrscheinlichkeit - so sehe ich das - in die letzte Phase des Verfassungsprozesses der Europäischen Union, nämlich in die Ratifizierungsphase. In der Tat, die portugiesische Ratspräsidentschaft hat im letzten halben Jahr sehr viel und sehr gut gearbeitet. Das müssen wir loben. Ich glaube, es ist auch richtig, dass der Vertrag Vertrag von Lissabon heißt. Ich möchte aber noch einmal auf Folgendes hinweisen: Ohne die deutsche Ratspräsidentschaft und das Engagement der Bundesregierung sowie der Kanzlerin Angela Merkel wären wir nie so weit gekommen. Ich möchte Rainder Steenblock zustimmen: Er hat in der Tat recht, wenn er sagt, dass die Idee zu dem Verfassungsentwurf, der ja im Kern dem Vertragsentwurf entspricht, aus den nationalen Parlamenten kam. Im Verfassungskonvent Anfang dieses Jahrhunderts - das ist schon einige Jahre her - hat uns unter anderem Peter Altmaier erfolgreich vertreten. ({2}) Wir werden mit diesem Reformvertrag viele Neuerungen bekommen. Wir werden in der Lage sein, besser und effizienter mit den anderen 26 Mitgliedstaaten zusammenzuarbeiten. Ich möchte jetzt nur noch auf wenige Punkte eingehen. Viele von Ihnen haben in den letzten Monaten und Jahren die Arbeit der Europäischen Kommission genauer beobachtet. Ich bin keiner von denen, die permanent laut die Europäische Kommission als bürokratisches Monster beschimpfen und deren Arbeit kritisieren. Man muss insgesamt feststellen: Die Europäische Kommission erledigt ihre Aufgaben gut, auch wenn manchmal Fehler passieren. ({3}) Das Problem ist aber, dass wir der Europäischen Kommission eine Struktur gegeben haben, die sie gerade dazu zwingt, in Rechtsetzungsfragen zu viel zu tun. Die Übereinkunft, dass jedes Mitgliedsland einen Kommissar stellen soll, führt dazu, dass die Europäische Kommission 27 Kommissare hat. Da sie eine Art QuasiRegierung ist, bedeutet das, dass sie quasi 27 Minister hat. Jetzt versuchen Sie einmal, 27 Ministern einen Ressortbereich zuzuteilen. Ergebnis ist, dass wir Kommissare haben, die für solche beeindruckenden Dinge wie für die Sprachenvielfalt zuständig sind. Hier greift ein menschliches Bemühen, das man in jeder Regierung findet: Jeder Kommissar möchte mindestens einmal in seiner fünfjährigen Amtszeit auffallen. Wie fällt man auf? Indem man eine möglichst spektakuläre Rechtsetzung ankündigt. ({4}) Die jetzige Struktur der Kommission bringt es unweigerlich mit sich, dass zu viele Rechtsetzungsvorhaben in Angriff genommen werden. ({5}) Deshalb ist es richtig, dass die Zahl der Kommissare - leider erst ab 2014, aber immerhin - auf zwei Drittel der derzeitigen Anzahl reduziert wird. Das wird die Kommission arbeitsfähiger machen. Zugleich wird damit im Laufe der Zeit die überbordende Zahl der Rechtsetzungsvorhaben zurückgeschraubt werden. Lassen Sie mich zum Schluss noch auf ein weiteres Problem eingehen. Auch diesbezüglich wird mit dem Vertrag von Lissabon ein Prozess in Gang gesetzt. Es handelt sich um den Subsidiaritätsprozess. Das halte ich für sehr wichtig. Sie wissen, im Maastricht-Vertrag wurde vor über 15 Jahren das Subsidiaritätsprinzip festgeschrieben. Passiert ist allerdings nicht viel. Zwar wurde es im Vertrag von Amsterdam noch einmal bestätigt, indem es in einem Zusatzprotokoll sehr gut definiert worden ist; aber erstaunlich ist doch, dass es in den letzten 15 Jahren vom Europäischen Gerichtshof keine einzige Rechtsprechung gibt, in der das Subsidiaritätsprinzip oder die Frage der Verhältnismäßigkeit eine Rolle spielten. Es gab in den letzten 15 Jahren zwar gelegentlich Klagen - Deutschland hat auch einige geführt -, aber der Europäische Gerichtshof hat sich in seinen Entscheidungen ausschließlich auf die Frage der Zuständigkeit bezogen, niemals Fragen der Subsidiarität oder der Verhältnismäßigkeit rechtlich bewertet. Ich glaube, zur endgültigen Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips ist mehr nötig. Im Moment läuft es folgendermaßen: Derjenige, der eine Rechtsetzung will, behauptet, sie sei gut, und gibt einige Erklärungen, warum sie unter subsidiären Gesichtspunkten sinnvoll sei. Das geht bis zu solch abenteuerlichen Erklärungen wie bei der Bodenschutzrichtlinie. Hier wird behauptet, sie sei nötig, weil Böden auch durch Wind und Flüsse von einem Mitgliedstaat in den anderen gelangen. Diejenigen, die gegen eine solche Richtlinie sind, behaupten schlicht, hier werde gegen das Subsidiaritätsprinzip verstoßen. Die Behauptungen bleiben dann im Raum stehen, egal ob es zu einer Rechtsetzung kommt oder nicht. Ich halte es für richtig - der Grundstein dafür wird mit dem Verfassungsvertrag gelegt -, dass wir dafür sorgen, dass auch in diesen Fällen vermehrt Rechtsprechung stattfindet. Das geschieht zum einen dadurch, dass 50 Prozent der nationalen Parlamente innerhalb von acht Wochen eine Subsidiaritätsrüge erteilen können, zum anderen dadurch, dass nationale Parlamente eine Subsidiaritätsklage erheben können. Das wird zwar ein längerer Prozess sein, aber ich glaube, dass es wichtig für die Europäische Union ist, dass es zu klaren und auch für den Bürger nachvollziehbaren Rechtsprechungen in Fragen der Subsidiarität kommen wird. Ich bin überzeugt, dass wir im Laufe der nächsten Jahre in dieser Frage Fortschritte erzielen werden und dass Subsidiarität in der Europäischen Union dann nicht mehr nur auf dem Papier stehen wird und an die Stelle von bloßen Behauptungen, Subsidiarität werde gewahrt oder werde nicht gewahrt, grundsätzliche Rechtsprechung tritt. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich nun dem Kollegen Dr. Dehm.

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Kollege Stübgen, es ist für Sie ungewöhnlich - denn normalerweise ist das nicht Ihre Art -, dass Sie hier von Lügen sprechen. Der Kollege Trittin hat zuvor von „Geschwätz“ geredet und damit sicherlich eine Vorlage geliefert. Ich möchte Sie einmal Folgendes fragen. ({0}) - Ich stelle diese Frage in den Raum. Es ist dem Kollegen Stübgen überlassen, darauf zu antworten. - Bei George Orwell heißt das Kriegsministerium „Friedensministerium“. Klingt es für Sie nach Abrüstung und Frieden, wenn sich die Mitgliedstaaten verpflichten, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verstärken bzw. zu verbessern? Wenn Sie die Sozialstaatlichkeit, die im Grundgesetz mit der Ewigkeitsklausel für uns alle bindend festgelegt ist und die wir daher nicht abtreten dürfen, aus dem Lissabonner Vertrag heraushalten, aber die Rechtsstaatlichkeit hineinschreiben, dann ist die Frage, warum wir von Ihnen nicht für regierungsfähig gehalten werden, möglicherweise zu beantworten. Führen Sie eine Volksabstimmung durch! Lassen Sie die Menschen mitentscheiden! Machen Sie es auf dem Boden des Grundgesetzes - mit Demokratie, mit Rechtsstaatlichkeit und mit Sozialstaatlichkeit! Wir wollen nur auf dem Boden des Grundgesetzes regieren und nicht mit dem eigenen Volk Versteck spielen. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, wollen Sie antworten? - Bitte sehr, Herr Kollege Stübgen.

Michael Stübgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich will auf diese Wahlkampfrede nicht weiter eingehen und nur Folgendes sagen: Wir haben in Deutschland die Erfahrung gemacht, dass sich das System der repräsentativen Demokratie bewährt hat. ({0}) Die Behauptung, Volksabstimmungen seien demokratisch und alles andere sei undemokratisch, ist schlichtweg Unsinn. ({1}) Dass die Regierungsfraktionen für den Vertrag sind, ist seit mindestens zwei Bundestagswahlen bekannt. Die Bürger haben die Möglichkeit gehabt, Ihre Partei mit absoluter Mehrheit zu wählen, um diesen Vertrag zu verhindern. Das haben sie aber nicht getan, und dies werden sie nicht tun. Das ist auch richtig so. Danke schön. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Damit kommen wir zu den Abstimmungen. Tagesordnungspunkt 1 a. Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/7466. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Entschließungsantrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der Fraktionen der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/7484. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer ist dagegen? Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist damit mit den Stimmen aller Fraktionen mit Ausnahme der Fraktion Die Linke abgelehnt. Tagesordnungspunkt 1 b. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/7178 an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun den Zusatzpunkt 1 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE Haltung der Bundesregierung zur Angemessenheit von Managereinkommen in Deutschland Ich bitte alle Kolleginnen und Kollegen, die an der folgenden Debatte nicht teilnehmen wollen, ihre Gespräche außerhalb des Plenarsaals fortzuführen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Dr. Barbara Höll das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Merkel, hören Sie gut zu: Wir brauchen eine unvoreingenommene, vorurteilsfreie und nicht zuletzt sensible gesellschaftliche Diskussion. Soziale Marktwirtschaft ist immer auch eine Wirtschaft und eine Gesellschaft, in der die Menschen zusammengehören. Wenn das nicht mehr funktioniert, fliegt uns der ganze Laden auseinander, um das einmal ganz einfach zu sagen. Richtig, so sagte es die CDU-Vorsitzende auf dem Parteitag. Ja, Frau Merkel, ich stimme Ihnen selten zu, aber an dieser Stelle stimme ich Ihnen zu: Es besteht die Gefahr, dass uns der ganze Laden auseinanderfliegt. Es geht hier um das wachsende Auseinanderklaffen von Arm und Reich. ({0}) Auf der einen Seite geht es um 2,6 Millionen Kinder und Jugendliche in Armut, um enttäuschte Kinderaugen unter dem Weihnachtsbaum, um leere Kinderbäuche in der Schule. Es geht um 1,3 Millionen Menschen, die Tag für Tag acht Stunden arbeiten und von ihrer Arbeit nicht leben können. Auf der anderen Seite geht es um Managergehälter und Abfindungen in Millionenhöhe. Weil das der Linken nicht egal ist, verlangen wir heute hier eine Positionierung der Bundesregierung. ({1}) Eines muss ich Ihnen allerdings sagen, Frau Merkel: Wir brauchen keine sensible, vorsichtige Diskussion. Nein, wir brauchen keine moralinsaure Debatte über gute und schlechte Arbeit der Manager; das ist ein anderes Thema, damit wollen Sie nur ablenken. Ich sage klipp und klar: Sowohl Herr Schrempp als auch Herr Wiedeking verdienen zu viel. ({2}) Die Frage der Gerechtigkeit steht für die Menschen hier und jetzt konkret, und in dieser unserer sozialen Marktwirtschaft darf Gerechtigkeit keine fromme, platonische Bitte sein. ({3}) Gerechtigkeit beginnt „zunächst einmal in der Einkommensentwicklung“, so Hermann Josef Abs 1964 im Interview mit Günter Gaus. Nehmen wir das Beispiel von Herrn Abs. Im letzten Jahr seiner Ära verdiente er circa das 42-Fache eines durchschnittlichen Arbeitnehmers. ({4}) Bei Josef Ackermann war es 2003 das 380-Fache. Beantworten Sie mir doch bitte einmal folgende Frage: Verdient Herr Ackermann leistungsmäßig das 9-Fache von dem, was Herr Abs verdient hat? ({5}) Der Laden droht auseinanderzufliegen, und um dies zu verhindern, sind wir hier als Politikerinnen und Politiker gewählt. Hier ist gesetzgeberisches Handeln gefragt, nicht aber sensible Diskussionen und Empörungsrhetorik, ({6}) aber auch keine Arbeitsgruppen, ({7}) die jetzt berufen werden und dann nach den Landtagswahlen der erstaunten Öffentlichkeit verkünden dürfen, dass ja alles nicht so ganz einfach sei und überhaupt. ({8}) Hier steht die Frage von Armut und Reichtum, und wir können und müssen handeln: ({9}) Mindestlöhne und Grundsicherung brauchen wir genauso wie die Begrenzung der Managergehälter und Abfindungen. Am 16. November dieses Jahres, vor knapp vier Wochen, hatten Sie die Gelegenheit, hierzu einen ersten Schritt zu tun. Wir haben Ihnen die Änderung des Aktiengesetzes vorgeschlagen, eine Begrenzung der höchsten Gehälter auf das 20-Fache dessen, was der am niedrigsten entlohnte sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in dem jeweiligen Unternehmen verdient. Bis auf fünf Enthaltungen haben Sie alle dies unisono abgelehnt. 24 Stunden später entdecken Sie das Thema: Wir müssen etwas tun, es ist so schlimm. - Das ist doch einfach nur heuchlerisch. ({10}) Sie haben uns in der Debatte hier am 16. November zum wiederholten Male übel beschimpft: Es geht nicht, es geht nicht, alles Rhetorik. - Nein, das stimmt nicht. Ich nenne Ihnen nur drei zusätzliche Punkte, in Bezug auf die Sie sofort handeln könnten. Erstens. Wie ist es denn mit den Managern in den Unternehmen, die überwiegend noch in Staatseigentum sind? Vertreter der Regierung sind in den Aufsichtsräten. ({11}) Haben wir irgendetwas zur Begrenzung der Managergehälter von Ihnen gehört? Nichts, gar nichts. ({12}) Zweitens. Sie haben die Reichensteuer eingeführt; wir sind für eine andere Einkommensbesteuerung, einen wesentlich höheren Spitzensteuersatz im Rahmen einer progressiv gestalteten Besteuerung. Aber bauen Sie die Reichensteuer doch aus. Sagen Sie doch: Ab dem ersten Euro über 250 000 Euro zu versteuerndem Einkommen gilt ein Grenzsteuersatz von 50 Prozent, ab dem ersten Euro über einer halben Million Euro sind es 55 Prozent, ab dem ersten Euro über 1 Million Euro 60 Prozent und ab dem ersten Euro über 2 Millionen Euro 65 Prozent. Warum gestalten wir keinen Stufentarif? Drittens. Abfindungen können heute in voller Höhe als Betriebsausgaben geltend gemacht werden. Nach der geltenden Gesetzeslage könnten wir das sofort ändern; denn Betriebsausgaben müssen grundsätzlich immer angemessen sein. Sind denn Abfindungen in Millionenhöhe angemessen? Nein. ({13}) Das alles ist sofort und jetzt machbar. Es sind keine sensiblen Diskussionen gefragt, sondern Handeln. Wir stehen dafür. Ich danke Ihnen. ({14})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist nun der Kollege Dr. Michael Fuchs für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Kollegin Höll, haben Sie schon einmal etwas vom Halbteilungsgrundsatz im Grundgesetz gehört? Das Verfassungsgericht hat dazu ganz deutlich gesagt, alles andere als die Einhaltung des Halbteilungsgrundsatzes sei Enteignung. Aber damit hat Ihre Partei ja Erfahrung. ({0}) Ich denke, wir sollten uns damit nicht länger beschäftigen. Hier geht es ausschließlich um Eigentumsrechte. Die Unternehmen entscheiden selbst, wie sie ihre Manager entlohnen. Das müssen sie auch tun dürfen. Das geht nach einem geordneten Verfahren. ({1}) Wir reden in den Fällen, die Sie anprangern, ausschließlich von Unternehmen, die der vollen Mitbestimmung unterliegen. Das alles sind Unternehmen, die paritätisch besetzte Aufsichtsräte haben. Die Aufsichtsräte werden von den Aktionären gewählt. Die Aufsichtsräte entscheiden dann über die Bestallung von Managern und über die Vergütungen dieser Manager. Dies geschieht in voller Mitverantwortung der Ihnen besonders nahestehenden Gewerkschafter, die in all diesen Aufsichtsräten sitzen. Kein einziger dieser von Ihnen angesprochenen Verträge ist ohne Zustimmung einer Gewerkschaft zustande gekommen. Das wollen wir einmal festhalten. So ist der Weg, und so funktioniert das Ganze. ({2}) Der Betriebsratsvorsitzende der BASF, Robert Oswald, hat eine sehr bemerkenswerte Äußerung zu den Managergehältern gemacht; Frau Höll, darüber sollten Sie nachdenken. Er hat gesagt, dass die Manager der BASF, also Herr Hambrecht und alle anderen, ordnungsgemäße Gehälter verdienten. Er stehe voll dazu; denn deren Verantwortung sei deutlich höher als die von Herrn Hoeneß, der das Gleiche wie ein Manager von BASF verdiene. Ich meine, da hat der Mann durchaus recht. ({3}) Bei der Diskussion über die Mindestlöhne ist die Situation ähnlich. Sie greifen die Mindestlöhne von Friseurinnen in Thüringen in Höhe von 3,82 Euro pro Stunde an. Aber auch dieser Lohn ist mit der Gewerkschaft vereinbart. Er beruht auf einem Tarifvertrag, den Verdi unterschrieben hat. Wir sind, nebenbei bemerkt, genauso wenig wie Sie für diese niedrigen Löhne, die da in Thüringen gezahlt werden. Fordern Sie doch einmal bitte schön Ihre Genossinnen und Genossen von der Gewerkschaft auf, solche Tarifverträge nicht gegenzuzeichnen! Darin besteht doch das Problem; sie haben es mitgemacht. ({4}) Ich habe diese Forderung von Ihnen bisher jedenfalls noch nicht gehört. Die Gewerkschaften werden mit ziemlich großer Sicherheit dazu nicht bereit sein. Einige von Ihnen fordern, dass ein Manager nur noch maximal das Zwanzigfache eines Arbeitnehmers verdienen darf. Ich will Ihnen am Beispiel des Fußballs klarmachen, wohin das führt: Ein Platzwart verdient vielleicht 1 500 Euro im Monat. Ein Fußballer soll nun also für 30 000 Euro im Monat spielen. Dafür zieht - davon können Sie ausgehen - kein einziger Spieler in der Bundesliga auch nur einen Fußballschuh an. Lassen wir also diesen Quatsch! Wir haben mit den Löhnen schlicht nichts zu tun; das ist nicht unsere Aufgabe. Das heißt aber nicht, dass ich Exzesse, wie sie in einigen Fällen vorgekommen sind, für gut halte. Ich bin froh, dass Herr Hundt gestern auf dem Deutschen Arbeitgebertag 2007 die Ethik der Verantwortung angesprochen hat. Er hat ganz klar gesagt, dass in den Gremien der Aufsichtsräte Verantwortung zu herrschen hat und dass diese Ethik in dem einen oder anderen Fall deutlich ausgeprägter sein sollte. Aber es ist nicht unsere Aufgabe, das zu korrigieren. Das können nur die Manager selber korrigieren. Das muss in den entsprechenden Gremien geschehen. Einige Kommissionen beschäftigen sich bereits mit diesem Thema. Die Cromme-Kommission ist aufgefordert, zum Code of Conduct gute und vernünftige Vorschläge zu machen. Für mich gehört zu einer Ethik der Verantwortung auch, dass Exzesse deutlich und Entscheidungen transparent gemacht werden, wofür wir bereits gesorgt haben. Wir müssen aber auch dafür sorgen - damit hat die Bundeskanzlerin völlig recht -, dass den Menschen bewusst ist, dass das, was in dem einen oder anderen Fall geschehen ist, nicht richtig sein kann. ({5}) Das Parlament und wir Politiker haben uns aber nicht in die Eigentumsrechte von Unternehmen einzumischen; das ist nicht unsere Aufgabe. Unsere Aufgabe ist es, für Transparenz zu sorgen, und das tun wir. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Martin Zeil für die FDP-Fraktion. ({0})

Martin Zeil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003868, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat ist es nicht Aufgabe der Politik, zu bestimmen, wer in Deutschland wie viel verdient. Das gilt, Herr Kollege Fuchs, nach Auffassung der Freien Demokraten für die Mindestlöhne genauso wie für die Managergehälter. ({0}) Wir Freien Demokraten wollen, dass Debatten über Managergehälter dort stattfinden, wo sie hingehören, nämlich in die Aktionärsversammlungen, in die Betriebe und in die Aufsichtsräte. Insbesondere die Aufsichtsräte müssen ihre Verantwortung sehr viel stärker wahrnehmen als bisher. ({1}) Seien wir doch einmal ehrlich. Wir führen diese Debatte heute vor allen Dingen, weil zurzeit alle Parteien außer der FDP der Linken hinterherlaufen, ({2}) Weil die SPD und ihr Vorsitzender verzweifelt nach jedem Strohhalm greifen, um mit einer solchen Neiddebatte Stimmung für die anstehenden Landtagswahlen zu machen. Unterstützt wird diese Neiddebatte leider auch von der Bundeskanzlerin. Sie will damit davon ablenken, dass die Koalition in den letzten zwei Jahren frech in die Taschen der Bürger gegriffen hat. ({3}) Diese Neiddebatte lenkt aber auch davon ab, dass es viele positive Beispiele für verantwortungsvolles Management gibt. Denken Sie beispielsweise an Porsche oder BASF. Dort sind Vorstände am Werk, die ihre Verantwortung für den Betriebsfrieden wahrnehmen und die Mitarbeiter am Erfolg des Unternehmens beteiligen. Wie sieht es aber dort aus, wo die Politik, wo die öffentliche Hand Einfluss hat, also bei den Staatsunternehmen? In einer aktuellen Studie wird beschrieben, wie es bei Post, Bahn, Telekom, RWE und KfW aussieht. Der Gehaltsunterschied zwischen Vorstand und Mitarbeitern ist nirgends so groß wie bei diesen Unternehmen. ({4}) Wie haben sich die schwarzen-roten Vertreter in den Aufsichtsräten dieser Unternehmen verhalten? Sind die Abfindungen in diesen Unternehmen - die Verträge haben sie schließlich mit unterschrieben - angemessen? Wie sieht es mit den Gewerkschaften aus, die das legitimiert haben? Das Pharisäertum bei diesem Thema spricht Bände, meine Damen und Herren. ({5}) Bei all der Hysterie, die diese Neiddebatte auslöst, und der vorherrschenden Kurzsichtigkeit müssen wir auch berücksichtigen, dass die Managervergütungen in Deutschland im internationalen Vergleich unter dem europäischen und amerikanischen Durchschnitt liegen. ({6}) Es ist doch realitätsfern, wenn wir eine solche Debatte lostreten. Unser Ziel muss es doch sein, die besten und klügsten Leute in unseren Unternehmen und in unserem Land zu behalten. ({7}) Wo fängt das an, wo hört das auf? Als Beispiele werden dann morgen die Fußballer herangezogen und vielleicht bald auch beliebte Ratefernsehmoderatoren. Schwarze Schafe gibt es überall, übrigens auch in der Politik. In Richtung SPD-Fraktion sage ich: Gerade Sie sollten zurückhaltend sein; denn es ist nicht lange her, dass sich der ehemalige Kanzler der SPD als Kanzler der Bosse feiern ließ. Mit seinem Engagement bei Gasprom und einem gut dotierten Aufsichtsratssitz bei der Nordeuropäischen Gaspipeline Gesellschaft zeigt dieser Vertreter der Arbeiterklasse, wie man so richtig Geld macht. ({8}) Wenn jemand unglaubwürdig ist, in dieser Debatte auf andere zu zeigen, dann diejenigen, die die Politik nur als Sprungbrett für Spitzenpositionen in der Wirtschaft oder in Verbänden benutzen. Nein, meine Damen und Herren, das öffentliche Anden-Pranger-Stellen von Spitzenmanagern ist ein Ausdruck von Hilflosigkeit und auch von Schäbigkeit. ({9}) Man sucht sich eine Minderheit in der Gesellschaft - das ist ein bewährtes Mittel -, die natürlich Angriffsflächen bietet, um mit großem Lärm von den eigenen Versäumnissen abzulenken. ({10}) Es verwundert nicht, dass beide Parteien des demokratischen Sozialismus in diesem Hause ({11}) in dieses Horn stoßen; das war zu erwarten. Dass aber die Union in ihrem Bemühen, beim Linkstrend ja nicht zu kurz zu kommen, auch mitmacht, ist ein weiteres Beispiel dafür, dass Ihnen der Kompass für die soziale Marktwirtschaft abhanden gekommen ist. ({12}) Wir brauchen eine entschlossene Reformpolitik für mehr netto in den Taschen der Bürger statt solch verantwortungsloser Neiddebatten. ({13})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die SPD-Fraktion hat nun das Wort der Kollege Joachim Stünker.

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich glaube, der bisherige Verlauf dieser Debatte wird den Ansprüchen, die die Bevölkerung bei diesem ernsten Thema an uns stellt, nicht gerecht. ({0}) Das war zuletzt wirklich sehr niveaulos; das tut mir leid. Herr Kollege, wer bei diesem Thema davon redet, dass wir eine Neiddebatte führen, und einfach nur reflexartig auf Art. 14 des Grundgesetzes, die Eigentumsgarantie, verweist, springt nicht weit genug. ({1}) Wenn Sie in unserem Grundgesetz weiterlesen, dann kommen Sie zu Art. 20 und zu Art. 28. ({2}) Aus diesen Artikeln leitet sich das soziale Staatsziel der Bundesrepublik Deutschland ab: dass Deutschland ein sozialer Bundesstaat und ein sozialer Rechtsstaat ist und dass die verfassungsmäßige Ordnung diesem sozialen Staatsziel entsprechen muss. Man kann also nicht nur auf Art. 14 des Grundgesetzes verweisen. Hier mit dem Hinweis auf eine Neiddebatte zu argumentieren, ist einfach nur dürftig, Herr Kollege. Es tut mir furchtbar leid. ({3}) Wenn Sie sich mit dem Sozialstaatsziel beschäftigen, würde ich Ihnen empfehlen, sich auch einmal schlauzumachen, was daraus abzuleiten ist. Ich darf Ihnen einmal vorlesen, was im Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland von Isensee und Kirchhof, die beide sicherlich nicht als soziale Träumer verschrien sind, zu Staatszielbestimmung und sozialem Rechtsstaat steht. Dort heißt es: Wo die Wirklichkeit des Gemeinwesens - ihre Politik, ihr Recht und alle faktischen Verhältnisse, die soziale Lage der in der Verantwortung des Gemeinwesens stehenden Menschen - der Kennzeichnung des Gemeinwesens als ein soziales nicht - mehr - entspricht, muss sie - die Wirklichkeit - so verändert werden, dass sie mit dieser Kennzeichnung übereinstimmt. Das ist ein klarer normativer Auftrag an den Deutschen Bundestag, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) - Das ist einfach nur niveaulos. Was hat der „Kanzler der Bosse“ mit der Frage der Managergehälter zu tun, Herr Kollege? Ich kann Ihnen nur sagen: Ungenügend, setzen! Das wäre die richtige Antwort auf das, was Sie uns hier erzählt haben. ({5}) Wenn wir herausfinden wollen, wie die Wirklichkeit gegenwärtig aussieht, sollten wir einmal in die Bevölkerung hineinhören. Es gibt repräsentative Untersuchungen, deren Ergebnisse besagen, dass nur noch 24 Prozent der Bevölkerung davon überzeugt sind, dass wir in einer sozialen Marktwirtschaft leben. 62 Prozent der Befragten meinen, das deutsche Wirtschaftsmodell sei nicht wirklich sozial. Trotz des Aufschwungs, den wir seit zwei Jahren erleben, sind nur noch 15 Prozent der Deutschen davon überzeugt, dass die Einkommensverteilung in unserem Land gerecht ist. Die Managementberatung Kienbaum kommt zu dem Ergebnis, dass ein Vorstandsmitglied eines DAX-Konzerns im Jahre 2006 im Schnitt eine Barvergütung von 1,9 Millionen Euro kassiert hat; das waren fast zwei Drittel mehr als im Jahre 2001. Haben Topmanager von 1976 bis 1996 das 15- bis 20-fache des Einkommens eines Angestellten verdient, stieg dieses Verhältnis bis zum Jahre 2005 auf etwa 43. Die Vorstandsvorsitzenden erhalten, wie wir wissen, eine noch wesentlich höhere Vergütung, die aktienkursbezogenen Vergütungen noch gar nicht inbegriffen. Es ist also Zeit zum Handeln, um den sozialen Ausgleich in dieser Gesellschaft nicht zu gefährden, und es ist Zeit zum Handeln, um vor allem die demokratische Akzeptanz in dieser Gesellschaft nicht zu gefährden. ({6}) Man soll und muss über Regelungen nachdenken, und wir werden das tun. Es ist nicht einfach, aber man kann regeln. Schauen Sie sich einmal den § 87 des Aktiengesetzes an! In ihm ist schon heute geregelt, dass die Vergütungen in einem angemessenen Verhältnis zur Aufgabe des Vorstandsmitglieds und zur Lage der Gesellschaft stehen müssen. Bei der Frage, was ein angemessenes Verhältnis ist, fängt die Begriffsverwirrung an, die auch in Ihrer Rede zu spüren war. ({7}) Man sieht, wie wenig hilfreich das Mannesmann-Verfahren im Ergebnis gewesen ist. Die deutsche Justiz ist nicht in der Lage gewesen, über die Frage der Angemessenheit zu judizieren. ({8}) Wenn sie das getan hätte, wären wir möglicherweise einen wesentlichen Schritt weiter. ({9}) Wir müssen uns genau darüber unterhalten, wie wir Angemessenheit definieren. Mein Vorschlag ist, darüber zu reden, ob nicht Aufsichtsratsmitglieder namentlich zum Ersatz verpflichtet werden können, wenn sie unangemessene Vergütungen festsetzen; denn eine unangemessene Vergütung ist im Grunde Untreue und damit ein Straftatbestand. ({10}) Reden wir auch darüber, ob nicht zukünftig die Hauptversammlung das Gesamtvergütungskonzept eines Konzerns zu billigen hat. Das sind Vorschläge, über die wir hier gemeinsam verantwortlich diskutieren sollten. Bei der Frage der Abfindungen kann man auch darüber reden, wie es die Amerikaner machen, ob nicht jenseits einer bestimmten Höchstgrenze Abfindungen steuerlich nicht mehr als Betriebsausgaben absetzbar sind. ({11}) Das alles sind Vorschläge, über die man sachlich diskutieren sollte. Machen wir uns an die Arbeit! Hören wir auf mit populistischen Reden ({12}) und mit den Konzepten, die Sie hier vorgetragen haben! Regelungen sind verfassungsrechtlich möglich und politisch nötig. Wir werden entsprechend handeln. Schönen Dank. ({13})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Scheel für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, wir müssen diese Debatte nicht nur sehr ernsthaft führen, sondern wir sollten diese Debatte auch sehr ehrlich führen. Deswegen würde ich ganz gerne zu Beginn einige Phänomene aufzeigen; denn man kann nicht alles in einen Topf werfen. Wir haben es zum Ersten damit zu tun, dass Managerabfindungen auch in Deutschland in den letzten Jahren schwindelerregende Höhen erreicht haben. Wir haben es zum Zweiten damit zu tun, dass es auch vor dem Hintergrund der Mindestlohndebatte zu Recht eine Diskussion darüber gibt, wie groß die Einkommensdifferenzen zwischen Topmanagern und normalen Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen sind. Wir haben es zum Dritten damit zu tun, dass Aktienoptionen und Pensionszusagen für viele Aktionäre und für die Bevölkerung sowieso sehr intransparent sind. Und wir haben es zum Vierten damit zu tun, dass das Verhalten angestellter Topmanager und der Chefs von in der Rechtsform personengeführter Familienunternehmen nicht in einen Topf geworfen werden darf. Hier muss unterschieden werden; denn Familienunternehmer und Familienunternehmerinnen haften mit ihrem gesamten Vermögen. ({0}) Das ist eine völlig andere Situation. Ich halte es für nicht angemessen, wenn es heißt, dass alle, die viel Geld verdienen, absahnen. Es gibt vielmehr unterschiedliche Risiken. Es ist ein Unterschied, ob ich angestellt bin und ein Unternehmen in den Sand gesetzt habe und eine hohe Abfindung bekomme oder ob ich das Risiko habe, als Familienunternehmer mit meinem gesamten Vermögen haften zu müssen. ({1}) Deswegen, so glaube ich, ist es wichtig, dass wir hier eine klare Differenzierung vornehmen. Die Diskussion gibt es auch in anderen Ländern. Es gibt sie in den Vereinigten Staaten - das wurde angesprochen -, es gibt sie in Großbritannien, und es gibt sie jetzt verstärkt auch in Frankreich. Wir stellen aber fest, dass überall dort, wo versucht worden ist, Regelungen zur Begrenzung der Gehälter vorzunehmen, diese Regelungen so große Lücken haben, dass sie am Ende kaum wirksam sind. In Großbritannien wird das unter dem Schlagwort „Fat Cats“ diskutiert. Ich meine schon, dass es wichtig ist, dass wir uns überlegen, was wir politisch und auch gesetzgeberisch als Parlament tun können. Wir können Verschiedenes tun. Wir können auf der einen Seite einen Appell - wie er auch notwendig ist an die Wirtschaft richten und sie auffordern, diese Debatte offen aufzunehmen und nicht als Neiddebatte zu verstehen. Es darf der Wirtschaftsführung nicht egal sein, wenn Mitarbeiter ihre Leistung und ihr Engagement für das Unternehmen missachtet sehen, weil unternehmensbedrohende Fehlentscheidungen angestellter Manager mit Millionenabfindungen vergoldet werden. ({2}) Das ist der Punkt, über den auf der einen Seite gesprochen werden muss. Herr Hundt hat zu Recht die Maßlosigkeit in Ausnahmefällen angesprochen. Aber es geht auch nicht, dass man auf Spitzensportler und Medienstars verweist und sagt, dass es dort noch viel schlimmer sei und man deshalb bei den Managergehältern nichts tun müsse. Es geht nicht, die eine Gruppe gegen die andere auszuspielen. ({3}) Wir haben uns dieses Themas von grüner Seite aus schon vor vielen Jahren angenommen. Thea Dückert hat es von diesem Pult aus schon einige Male thematisiert. Wir haben in der rot-grünen Regierungszeit verschiedene Änderungen bezüglich der Offenlegung von Managergehältern verabschiedet. Es gibt bereits derartige Gesetze. Ich weiß nicht, ob Herr Schäuble das vergessen hat oder ob es Populismus ist. ({4}) Aber das, was er da eingefordert hat, haben wir zum Großteil schon. ({5}) Deswegen müssen wir uns überlegen, was man darüber hinaus noch tun kann. ({6}) Es ist richtig und wichtig, uns über die steuerliche Geltendmachung von Abfindungszahlungen auf der betrieblichen Ebene zu unterhalten. Jeder, der eine Abfindung bekommt, muss diese Abfindung versteuern - das nur als Klarstellung. Die Frage ist nur, was auf Unternehmensebene passiert. Wenn gigantisch hohe Abfindungszahlungen dazu führen, dass die Unternehmensgewinne entsprechend reduziert werden und der Staat weniger Geld einnimmt, dann zahlen alle Steuerzahler und Steuerzahlerinnen diese hohen Abfindungen mit. Das akzeptieren wir so nicht. ({7}) Deswegen hat die grüne Fraktion gestern in ihrer Fraktionssitzung einen Antrag beschlossen, den wir jetzt zur Beratung eingebracht haben, mit dem wir fordern, den Steuerabzug bei Managerabfindungen zu begrenzen. Denn dies setzt einen Anreiz für Unternehmen, mit ihren Abschiedsgeschenken vorsichtiger umzugehen. Wenn diese Abzugsmöglichkeit nicht mehr so gut ist, wird man sich überlegen, ob man Abfindungen in diesen Größenordnungen noch gewährt. Ich finde, dass Lücken bei der Wertbemessung von Aktienoptionen und Pensionszusagen im Aktienrecht geschlossen werden können. ({8}) Darüber wird es, so hoffe ich, eine gute Diskussion geben. Jedenfalls werden wir als Grüne dafür sorgen, dass diese Diskussion nicht sang- und klanglos im Sande verläuft, sondern dass wir zu konkreten Entscheidungen kommen. Das erwarten die Menschen von uns. Danke schön. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Gerald Weiß für die CDU/CSU-Fraktion.

Gerald Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003256, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Höll, wenn Sie sagen, es gebe keinen Bedarf an sensibler Diskussion, dann will ich antworten: Ein bisschen differenziert darf es schon sein. Der Beitrag von Frau Scheel, die sagte, sie wolle ehrlich und ernsthaft an das Thema herangehen, war differenziert. Ich will es in der gleichen Richtung zumindest versuchen. Die Gesellschaft darf nicht zu weit auseinanderdriften, weil wir sonst in die Gefahr geraten, dass wir den sozialen Frieden und die soziale Marktwirtschaft Akzeptanz und Ansehen verlieren. Über viele Jahre herrschte Schwindsucht bei der Arbeitnehmerkaufkraft, während die Managereinkommen davonstürmten und die Abfin13826 Gerald Weiß ({0}) dungen - die mit Versagerprämien in zweistelliger Millionenhöhe in umgekehrter Proportionalität zur Leistung standen - zum Teil ins Groteske gestiegen sind. Das ist nicht in Ordnung. ({1}) Da muss man nachdenken. Ich bin der Bundeskanzlerin und dem Bundespräsidenten dankbar für die Beiträge, die sie in diesem Zusammenhang an die Öffentlichkeit gerichtet haben. Das Thema ist bei den Arbeitgebern angekommen, Frau Scheel. So hat Siemens-Chef Löscher gesagt: Ich halte diese Debatte gesellschaftspolitisch für sehr wichtig. Sie richtet sich ja nicht gegen hohe Gehälter an sich, sondern gegen Exzesse - sein Wort! bei denen Bezahlung und Leistung in keinem Verhältnis zueinander stehen. Da sind wir eigentlich mitten beim Thema. ({2}) Herr Zeil, man kann es sich nicht so einfach machen, das als Neiddebatte abzutun. Es geht nicht um Neid, es geht schlichtweg um das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen, ({3}) und zwar um Leistungsgerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit und Belastungsgerechtigkeit. ({4}) Wir können für die Symmetrie in dieser Gesellschaft einiges tun. Die Politik kann beispielsweise dahin gerichtet sein, Jobs zu schaffen. ({5}) Die Politik kann dahin gerichtet sein, Lohnerhöhungsspielräume zu schaffen ({6}) und die Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivkapital zu forcieren. Bei beidem ist die Koalition auf sehr gutem Weg. ({7}) Die Politik kann und muss darauf gerichtet sein - da gibt es einen Berührungspunkt mit der FDP -, die Kaufkraft der Arbeitnehmer zu stärken. Zum 1. Januar 2008 werden wir den Arbeitslosenversicherungsbeitrag nahezu halbiert haben. Das kommt netto, in Form einer Kaufkraftverstärkung, beim Arbeitnehmer an. Die Frage, die jetzt naheliegt, ist natürlich: Was kann man auf den Vorstandsetagen tun? Eines kann man in einem weltoffenen Land, das Teil einer globalisierten Wirtschaft ist, nicht tun: Man kann nicht dirigistisch die Managergehälter deckeln. Dirigismus und Interventionismus sind in einer internationalen Marktwirtschaft ganz sicher kein Rezept. Aber wir können dort ansetzen, wo die Probleme beginnen - einige meiner Vorredner haben sich in ihren Diskussionsbeiträgen sehr wohl damit befasst -: Wir können die Transparenzregeln, die bestehen, verstärken. Wir können die Rechte und die Kontrollpflichten des Aufsichtsrates als Organ stärken. Wir können die Rechte und die Pflichten der Hauptversammlung, der Aktionärsversammlung, stärken. Noch gibt es eine Sperre im Gesetz, noch kann die Aktionärsversammlung die Transparenz bei den Gehältern aussetzen. Wir können in diesem Zusammenhang sozusagen die Rolle des Eigentümers stärken. Die Cromme-Kommission hat gesagt: Angemessen soll bezahlt werden. Das kann man konkretisieren. Wir können deutlicher definieren, was angemessen ist. Man kann die Verantwortung der Aufsichtsräte und die Möglichkeiten der Aktionäre sicherlich stärken. Es geht um das soziale Gleichgewicht, um die Balance in unserer Gesellschaft, es geht um Leistungsgerechtigkeit. Jetzt ist erst einmal die Wirtschaft am Zuge. Wenn sie in Selbstverantwortung handeln will, hat sie Vorfahrt. Wenn sie nicht handelt, müssen wir uns überlegen, was wir im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft tun können. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort der Kollege Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke. ({0})

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der aktuellen Befragung der BertelsmannStiftung zum Thema „Soziale Gerechtigkeit“ heißt es: Im Jahre 2000 waren noch 35 Prozent der Bevölkerung der Auffassung, die wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland seien gerecht. Im Jahre 2007 waren es nur noch 15 Prozent. Nunmehr sagen 56 Prozent der Bürger: Die wirtschaftlichen Verhältnisse sind definitiv ungerecht. Jetzt erzählen uns hier einige etwas von Neid. Ich kann Ihnen sagen, wer hier neidisch ist. Neidisch, finden die Arbeitslosen mit 347 Euro Regelsatz, sind Sie, meine Herren, ({0}) weil Sie ihnen ans Geld gehen. Das Problem ist doch, dass die Schere in diesem Land auseinandergeht und permanent mit unterschiedlichen Maßstäben gemessen wird. Inzwischen empört sich das ganze Land über das, was hier vonstattengeht. Herr Benneter hat, als es in der letzten Debatte um unseren Antrag ging, gesagt, wir seien notorische Protestierer. ({1}) Ich kann Ihnen nur sagen, Herr Benneter: Dass inzwischen das ganze Land protestiert, hängt damit zusammen, dass die Bürger bestimmte Verhältnisse nicht mehr akzeptieren. Sie akzeptieren nicht mehr, dass die Bezüge der Vorstände der DAX-Unternehmen von 2002 bis 2006 um 62 Prozent gestiegen sind, die Löhne hingegen nur um 2 Prozent. Also wer ist hier neidisch? Neidisch sind die Manager, die den Arbeitnehmern den Lohn nicht mehr gönnen. ({2}) - Zu den Gewerkschaften sage ich gleich einmal Folgendes: Ja, sie sitzen in den Aufsichtsräten. Sie wissen aber ganz genau, dass sie nie eine Mehrheit haben, weil Sie als FDP dafür gesorgt haben, dass der Vorsitzende, der immer von den Arbeitgebern kommt, ein Doppelstimmrecht hat und dass immer ein leitender Angestellter im Aufsichtsrat sitzt, der mit den Arbeitgebern stimmt. ({3}) Das ist Ihre Parität. Deshalb: Hören Sie mit den Aufsichtsräten auf! Das ist pure Volksverdummung. ({4}) Professor Schwalbach von der Humboldt-Universität hat inzwischen festgestellt, dass das Verhältnis der Vorstandsgehälter der 30 DAX-Unternehmen zu den Personalkosten pro Kopf 1987 14 war und inzwischen bei 44 liegt. Ich sage Ihnen: Die Vorstände der deutschen Unternehmen bereichern sich zulasten der Arbeitnehmer in diesem Land. Sie dulden und unterstützen das. ({5}) Ich sage Ihnen auch: Die Bürger empören sich, weil ein Herr Ackermann 13,2 Millionen Euro im Jahr verdient, während er gleichzeitig einen Stellenabbau bekannt gibt. ({6}) Die Bürger empören sich, wenn dieselben Leute, die ohnegleichen abzocken, dem Bürger das Maßhalten verordnen. ({7}) Ich sage Ihnen: Die Bürger empören sich auch, weil sich Ihre Klientel immer mit den Bestverdienenden in den USA vergleicht, während es zu den eigenen Arbeitnehmern sagt: Guckt doch einmal, wie billig die Chinesen, die Portugiesen oder die Tschechen sind. Diese Ungleichheit, die Sie da an den Tag legen, versteht doch kein Mensch. ({8}) Ich sage Ihnen auch: Wir freuen uns über die Einsicht der Kanzlerin, die auf Ihrem Parteitag ja fast zum Erzengel der sozialen Gerechtigkeit geworden ist und gesagt hat: In Japan verdient der Chef eines Autokonzerns in etwa das Zwanzigfache dessen, was seine Beschäftigten erhalten. Das entspricht unserem Antrag. Wir sagen ja auch, dass er im Prinzip 20-mal so viel verdienen soll. Wir können auch über 25-mal so viel diskutieren. Das ist gar nicht die Frage. Das Problem ist - das muss ich auch in Richtung der SPD sagen -: Sie tun momentan so, als hätten Sie dieses Thema entdeckt. Wenn es darum geht, konkrete Vorschläge zu machen, dann bleiben Sie diese aber schuldig. ({9}) Es wird argumentiert, alle Manager würden in die USA oder sonst wohin gehen, weil sie dort besser verdienen als bei uns in der Bundesrepublik oder vielleicht in Japan, wo sie das Zwanzigfache erhalten. Dann dürften wir schon keine Manager mehr haben. Sie sind aber alle noch da. Ich sage Ihnen: Wenn es ihnen dort so gut geht, dann sollen sie doch in die USA gehen. Wir finden hier Arbeitnehmer, die das ein wenig billiger machen. Das zu diesem Thema. ({10}) Die Empörung wird natürlich umso größer, wenn Kannegiesser sagt: Über Millionen hin und her brauchen wir doch gar nicht zu reden, das ist doch gar nicht so wichtig. ({11}) Ich sage Ihnen: Hören Sie auf, an die Arbeitgeber zu appellieren, sie sollten einmal vernünftig sein! Sie könnten auch an den Alkoholiker appellieren, dass er statt Schnaps Mineralwasser trinken soll. Das funktioniert nicht. Ich sage Ihnen: Sie sind eine Regierung und keine Appellierung. An das sollten Sie sich auch halten. ({12}) Zum Schluss sage ich: Die Bundesregierung und vor allen Dingen Sie von der FDP entwickeln sich zusehends zu einer Schutzgemeinschaft für Abzocker. Das muss beendet werden. ({13}) Die Bürger dieses Landes werden es nicht akzeptieren - das werden Sie bei den nächsten Wahlen erleben -, dass Sie sich zum Schutzengel der sozialen Gerechtigkeit machen. Ich danke fürs Zuhören. ({14})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Ludwig Stiegler für die SPD-Fraktion. ({0})

Ludwig Stiegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Kollege Ernst hat sich wie üblich ereifert. ({0}) Ich würde gerne wissen, wie viele Gehälter er als Aufsichtsrat in Unternehmen schon genehmigt hat, gegen die er jetzt getobt hat. ({1}) Wenn wir das wüssten, dann sähe manches anders aus. Ich denke, wir müssen aufpassen, dass das hier nicht in ein generelles Vorstandsbashing ausartet; denn wir alle wissen: Ohne einen guten Vorstand läuft die Chose nicht. ({2}) Gerade bei der Übernahme durch Arbeitnehmer habe ich x-mal erlebt: So gut die einzelnen Orchesterspieler in ihrem Fach auch sind, wenn der Dirigent fehlt, wird es schwierig. Deshalb sage ich: Wir sollten hier schon würdigen, was die Vorstände leisten ({3}) und dass ein guter Vorstand für die Arbeitnehmer und für den Staat ein wichtiges Asset ist. ({4}) Wir sind in der Adventszeit. Als Kinder haben wir immer gesungen: Rorate caeli desuper et nubes pluant iustum - Tauet Himmel den Gerechten, Wolken regnet ihn herab. ({5}) Das geht auf Jesaja zurück. Die Suche nach Gerechtigkeit gab es also schon vor Beginn der Christenheit. Schon die alten Römer haben sich mit dem iustum pretium - dem gerechten Preis - befasst, und auch Aristoteles hat sich darüber verbreitet. Wir stehen also nicht vor einer neuen Aufgabe. Ich denke, wir sollten realistisch an diese Aufgabe herangehen und auch Fehlsteuerungen wahrnehmen. In den letzten Jahren wurde mit der Koppelung der Managergehälter an den Shareholder-Value und der Übernahme der amerikanischen Konzepte ein bewährtes System außer Kraft gesetzt, das im deutschen Aktienrecht eigentlich anders geregelt ist. ({6}) Wir haben die enge Koppelung an den Gewinn und an die Eigentümerinteressen weg von den Interessen der Gesellschaft erlebt. Ich glaube, eine der Hauptaufgaben besteht darin, zu erreichen, dass ein Vorstand wieder dem Unternehmenswohl statt einseitig dem ShareholderValue verpflichtet ist. ({7}) Das ist die derzeitige Situation, in der einiges aus dem Ruder gelaufen ist. Alle, die meinen, der Gesetzgeber dürfe an dieser Stelle nichts tun, irren, Herr Zeil. Das Aktiengesetz legt die Leitlinien fest, nämlich die Aufgabe des Vorstandes und die Lage der Gesellschaft; die Vergütung muss dem angemessen sein. Was die Angemessenheit der Vergütung angeht, würde es sicherlich helfen, wenn die Aufsichtsräte verpflichtet wären, zu begründen, inwiefern die Vergütung eines Vorstandsmitglieds durch seinen Marktwert, seine Leistungen, seinen besonderen Einsatz oder seine Verantwortung legitimiert ist. Das sind zum Beispiel Kriterien, denen wir uns im Zusammenhang mit der Erarbeitung einer angemessenen Vergütung widmen sollten. Das Wichtigste ist aus meiner Sicht, dass wir die Principle-Agent-Situation, in der die Shareholder bestimmen, dass die Vorstandsvergütung an den Gewinn oder den Börsenkurs gekoppelt sein muss, wodurch der Vorstand praktisch an die Leine der Aktionäre gelegt wird, ändern und die Unternehmensverantwortung der Vorstände wiederherstellen. Vorstellbar erscheint mir eine Vergütung des Vorstands entsprechend der Umsatzausweitung, den Leistungen in Forschung und Entwicklung, der Beschäftigungssituation oder der Ausbildungssituation. Zurzeit ist es eher umgekehrt: Ein Vorstand, der Geld spart, indem er auf Ausbildung verzichtet, steigert den Börsenkurs und wird dafür belohnt, dass er sich gegen die Zukunft des Unternehmens versündigt. Denn dass wir zu wenig Fachkräfte haben, wie derzeit immer wieder festgestellt wird, ergibt sich aus dieser Vorstandsdenke. Das muss strukturell geändert werden. ({8}) Ich denke, dass es hierbei auch um Ethik geht. Der Corporate Governance Codex muss überarbeitet werden. Die Aufsichtsräte dürfen nicht nur im stillen Kämmerlein Absprachen treffen. Möglicherweise muss man auch die Personen in den Blick nehmen, die sich gegenseitig in Seilschaften helfen. Es geht darum, einen Manager nicht nach seinen Beziehungen und seinem Networking zu vergüten, sondern nach seinem Marktwert. In diesem Zusammenhang ist einiges zu tun. Der Vorstand darf nicht mehr nur Agent der Aktionäre sein; er muss vielmehr Agent des Unternehmens sein. Eine Aktiengesellschaft ist auch nach dem Grundgesetz der sozialen Verpflichtung des Eigentums unterworfen. Das sollten wir im Hinterkopf haben. Ich habe mit dem Advent begonnen und möchte auch damit schließen. Johannes der Täufer hat seine berühmten Reden über „metanoeite“ gehalten: Kehrt um! Wandelt euren Sinn! Das rufen wir den Beteiligten und uns selbst zu. Wenn wir hinterfragen, wo die Entwicklung zu weit gegangen ist, wo es zu Exzessen gekommen ist, wo wir Leistungen und Gegenleistungen wieder in das richtige Verhältnis zueinander bringen müssen und wie wir das Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Aktionär wieder in Ordnung bringen können, dann haben wir etwas geleistet. Danke. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Redner ist der Kollege Philipp Mißfelder für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Nach den besinnlichen Worten des Herrn Kollegen Stiegler, dem ich in vielen Punkten zustimme, um das großkoalitionär festzustellen, möchte ich bezüglich Herrn Ernst den einen oder anderen Punkt anmahnen. Das Gute ist ja, dass die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land wissen, welche Politiker wie redlich argumentieren und unter welchen Konditionen sie argumentieren. Dabei ist natürlich die Veröffentlichungspflicht hilfreich, die wir als Bundestagsabgeordnete beschlossen haben und die auch umgesetzt wird. Ein Blick ins Internet verrät, dass Herr Ernst, was Besserbezahlung im Vergleich zu manchen, die hier unter uns sitzen, angeht, jemand ist, der Bescheid weiß. Herr Ernst, Sie geben an, dass Sie in der Stufe 2 sind, das heißt bis 7 000 Euro monatlich hinzuverdienen, und dass Sie in einem Aufsichtsrat sitzen, wo Sie in der Stufe 3 mehr als 7 000 Euro monatlich hinzuverdienen. Darüber hinaus geben Sie eine weitere Tätigkeit an, wozu bisher noch nicht veröffentlicht worden ist, wie viel Sie verdienen, weil die Zahlung wahrscheinlich erst im Dezember erfolgen wird. ({0}) Von daher ist der Blick ins Internet hilfreich, weil man damit weiß, von welcher Position aus Sie hier reden. Sie gehören selber Gremien an, in denen Sie wahrscheinlich mitbeschlossen haben, wie die Bezahlung von Managern aussieht. Deshalb ist das moralische Ross, auf dem Sie sitzen, ziemlich wackelig. ({1}) Die Debatte hat in der vergangenen Woche auf dem Bundesparteitag der CDU begonnen. Insofern bin ich unserer Bundeskanzlerin dankbar, dass sie das Thema „Unmoralische Managergehälter“ so offensiv angesprochen hat. ({2}) Der Stellenwert der Debatte ist seitdem wesentlich größer geworden, und die Debatte ist wesentlich sachlicher geworden, als dies vorher der Fall war. Es ist nämlich klargeworden, dass es eine große Spanne zwischen dem Gerechtigkeitsempfinden vieler Menschen und dem gibt, was tatsächlich in Teilen in der Wirtschaft stattfindet. Während früher der Grundsatz galt, geht es der Wirtschaft gut, dann geht es auch den Menschen gut, haben leider heute viele Menschen diesen Grundeindruck nicht mehr. ({3}) Dem müssen wir natürlich entgegenwirken. Dieser Grundsatz gilt für viele Konzerne. Leider gibt es dort aber auch schlechte Beispiele. Bei den Mittelständlern stellt sich die Situation im Durchschnitt hingegen ganz anders dar. Da gilt sehr wohl, geht es der Wirtschaft gut, geht es auch den Mitarbeitern gut, weil wir in Deutschland - das möchte ich nicht vergessen wissen - ein verantwortungsbewusstes Unternehmertum haben. Das gilt im Übrigen für die Mehrzahl der Unternehmer in unserem Land. Ich halte es für unzulässig, so zu tun, als seien alle Unternehmer mit den schwarzen Schafen, die hier bereits genannt worden sind, über einen Kamm zu scheren. Ich meine allerdings, dass man sehr gut prüfen muss, wie weit die Regelungswut des Deutschen Bundestages und des Gesetzgebers insgesamt gehen darf. Ich halte Überlegungen, die zum Beispiel das Aktienrecht betreffen, für bedenkenswert. Hier sind ja bereits konstruktive Vorschläge gemacht worden. Es wird zu prüfen sein, wie effizient sie sind. Wenn man jedoch einerseits Mindestlöhne einführt und andererseits Maximalgehälter einführen will, dann müsste man in der Fortsetzung dieser Logik zukünftig auch Mindestgewinne garantieren. Denn wenn sich der Staat zutraut, alles festzuschreiben, dann muss er in Zukunft auch Mindestgewinne festschreiben. Dann gibt es gar keine Freiheit mehr, sondern nur noch Staat, nur noch Bestimmungen. Das lehnen wir als Union auf jeden Fall ab. Es ist bereits gesagt worden, dass es schwarze Schafe gibt. Gerade weil in dieser Woche das Thema Mindestlohn diskutiert wird, möchte ich auf ein besonders schwarzes Schaf eingehen, nämlich auf den Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Post. Wenn wir hier über unmoralisches Verhalten sprechen, dann muss man auch sehen, was eigentlich passiert, wenn ein Vorstandsvorsitzender wissentlich in Kauf nimmt, dass Tausende von Arbeitsplätzen in seiner gesamten Branche zum Vorteil zwar seines Unternehmens, aber nicht der gesamten Volkswirtschaft in Gefahr geraten, und er gleichzeitig auf eine erbarmungslose Art und Weise abkassiert, wofür er sich sogar im Nachhinein in seiner eigenen Mitarbeiterzeitung entschuldigen muss. Das ist auch für unmoralisch zu halten, und das sollten sich diejenigen genau anschauen, die mit Herrn Zumwinkel kooperieren. ({4}) Wir als Gesetzgeber müssen dafür sorgen, dass Verfassungsgüter geschützt bleiben. Dazu gehören die Vertragsfreiheit und, wie Kollege Fuchs es bereits gesagt hat, die Eigentumsrechte. Wir haben ein sehr gutes System an Kontrollen. Das ist schon mehrmals angesprochen worden. Dies sage ich vor allem an die Adresse der Linkspartei. Ihre neuen Freundinnen und Freunde von den Gewerkschaften sind bei den meisten Entscheidungen, die so getroffen worden sind, wie Sie sie hier kritisiert haben, dabei und heben die Hand. Sprechen Sie doch mit denen und sagen Sie ihnen, dass sie die Mitbestimmungsmöglichkeiten nutzen sollen, die der Gesetzgeber längst geschaffen hat und die sich in den letzten Jahrzehnten bewährt haben. Vielen Dank. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort der Kollege Klaus Uwe Benneter für die SPD-Fraktion.

Klaus Uwe Benneter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bitte um Nachsicht, dass ich wegen meiner Erkältung heute etwas stiller sein muss. Was stört uns eigentlich an der Diskussion über übermäßige Gehälter von Managern? Es ist keine Neiddebatte. Die Manager sollen schon verdienen, was sie verdienen, aber eben auch nicht mehr. ({0}) Dass hier vieles aus den Fugen geraten ist, sehen wir. Wenn jemand am Vormittag mehr verdient als andere im ganzen Jahr, dann ist das abgehoben, frivol und, wie Kollege Thierse es genannt hat, obszön. ({1}) Die FDP sollte sich daran ebenfalls orientieren und - hier stimme ich der PDS zu ({2}) nicht die Partei derjenigen ergreifen, die weiterhin solche maßlosen Abfindungen und Gehälter tolerieren wollen. Beispiele für Abzocker ohne besondere Leistungen bzw. mit fragwürdigen Leistungen kennen wir alle. Herr Schrempp hat Milliarden an Verlusten zu verantworten. ({3}) Herr Esser hat Millionen als Abfindung kassiert. Herr Ackermann hat Tausende Arbeitslose hinterlassen. ({4}) Sie alle sind mit hohen Zahlungen und Abfindungen belohnt worden, obwohl sie schlechte und unfähige Manager sind. Hier ist der Zusammenhang zwischen Leistung und Gegenleistung bzw. Leistung und Vergütung verloren gegangen. Damit sind wir bei den Mindestlöhnen. In einigen Branchen ist der Zusammenhang zwischen Leistung und Vergütung der Arbeitnehmer verloren gegangen. Wenn jemand Vollzeit arbeitet, dann muss er zumindest so viel nach Hause bringen, dass er seine Familie ernähren kann. Diese Zusammenhänge müssen wir sehen. Wie können wir diesen üblen Auswüchsen beikommen? Einige sagen, wir müssten es bei dieser gefühlten Ungerechtigkeit und bei Appellen belassen und könnten nur auf Selbstverpflichtungen setzen. Mit zwar lauten, aber folgenlosen Attacken - auch auf Parteitagen - wird man der Sache aber nicht gerecht. Wir müssen über die Aktienoptionen nachdenken. Diese wirken auf Manager wie Drogen. ({5}) Mit der gesetzlichen Pflicht zur Offenlegung der Managergehälter sind wir - Kollegin Scheel hat es bereits angesprochen - einen ersten Schritt gegangen. Wir hatten die Hoffnung, dass das ausreicht. Aber die von uns festgelegten Transparenzregeln reichen offensichtlich nicht. Daran müssen wir weiter arbeiten. Wir können beispielsweise gesetzlich festlegen, dass der Fixanteil eines Managergehalts höher veranlagt wird oder dass der Kreis derjenigen, die über die Vergütung der Manager bestimmen, größer wird und dass alle im Aufsichtsrat Verantwortung übernehmen. Manche sagen, das gehe gesetzlich nicht. Das ist Unsinn. Kollege Stünker hat dargelegt, dass wir das im Aktienrecht regeln können. Das gibt das Grundgesetz allemal her. Das originäre Wesen des Rechts, gerade des bürgerlichen Rechts ist, die Vertragsfreiheit dort, wo sie aus dem Ruder läuft, zu beschränken. ({6}) Wenn wir sehen, dass die Betreffenden keinen Anstand und keine Moral haben, sind wir in der Lage, ihnen mit dem Gesetz beizukommen. Wenn Selbstverpflichtungen nicht ausreichen, hier Zügel anzulegen, und nicht dafür sorgen, dass alles zwischen bestimmten Leitplanken verläuft, dann müssen und werden wir diesen üblen Auswüchsen, dieser maßlosen Gier Einhalt gebieten, notfalls auch per Gesetz. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun das Wort der Kollege Stefan Müller. ({0})

Stefan Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003597, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich festhalten, dass ich unsere heutige Debatte - jedenfalls zeitweilig - sehr spannend gefunden habe. Sie war dem Anlass von der Tonlage her - ein paar Ausfälle hatten wir wie üblich - weitgehend angemessen. Ich glaube, es war eine wirklich gute und eine sinnvolle Debatte. Letztlich ist es die Fortsetzung einer Debatte, die wir vor gut drei Jahren schon einmal geführt haben, und zwar im Zusammenhang mit der Beratung des Gesetzes Stefan Müller ({0}) zur Offenlegung der Gehälter von Vorstandsmitgliedern. Für meinen Teil kann ich nur sagen: Ich sehe das heute ein bisschen anders als vor drei Jahren. ({1}) - Man kann durchaus einmal zu einem anderen Ergebnis kommen. - Ich glaube, dass Transparenz in dieser Form nicht geschadet hat. Im Grundsatz schließen wir uns damit dem an, was anderswo praktiziert wird. Damals ging es im Kern um die Fragen: Welches Einkommen sollen Vorstandsmitglieder haben? Was ist angemessen? Was ist gerecht? Wer soll letztlich über die Höhe von Vorstandsgehältern entscheiden? Zur Frage der Angemessenheit: Ich meine, dass wir uns da sehr schwertun werden. Ich bin kein Jurist; ich glaube, dass andere versuchen werden, eine Definition zu finden. Letztlich können wir die Frage „Was ist angemessen, und was ist gerecht?“ gar nicht beantworten, weil dafür immer auch das subjektive Empfinden aller relevant ist. Ist das Zwanzigfache, das Hundertfache, das Tausendfache oder was auch immer eines durchschnittlichen Arbeitnehmerverdienstes angemessen oder gerecht? Niemand von uns ist in der Lage, das abschließend und gerecht zu beurteilen. Niemand von uns weiß, wo Gerechtigkeit und Angemessenheit tatsächlich aufhören und wo Ungerechtigkeit und Unangemessenheit beginnen. Ich glaube, genau das ist der Punkt, der es für uns politisch außerordentlich schwierig machen dürfte, uns daranzumachen, irgendeine Definition zu finden. Weil das Ganze so problematisch ist, denke ich, dass wir uns sehr schwertun werden, Obergrenzen von Vorstandsgehältern oder Managerbezügen festzulegen. Deswegen bin ich sehr dafür, dass wir hier nicht den Eindruck erwecken, wir könnten politisch irgendetwas auf den Weg bringen. Wir sollten den Bürgerinnen und Bürgern nicht vermitteln, wir sorgten für Gerechtigkeit. Eine solche Gerechtigkeit kann es - jedenfalls aus meiner Sicht - nicht geben. Ich will überhaupt nicht verhehlen: Manches, was in der Wirtschaft abläuft, ist kritikwürdig. Es kann natürlich nicht sein, dass Vorstandsvorsitzende oder Vorstandsmitglieder mit hohen Abfindungen und goldenem Handschlag verabschiedet werden, obwohl sie offenkundig und nachweislich - nicht nur in unseren Augen, sondern auch in den Augen der Kapitaleigner und der Arbeitnehmer - schlecht gearbeitet haben, was letztlich dazu geführt hat, dass es zum Abbau von Arbeitsplätzen gekommen ist. Ich finde, es ist in diesen Fällen schon eine Frage von Anstand und Moral, der sich die Betroffenen annehmen müssen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, Anstand und Moral sind zuerst eine Sache des Charakters und nicht der Politik. ({2}) An der Höhe von Managergehältern kann man durchaus Kritik anbringen. Natürlich sollen diejenigen, die eine Leistung erbringen, dafür auch entsprechend bezahlt werden. Herr Kollege Zeil, der Hinweis auf die USA ist jedoch unangemessen. Wir müssen schon der Tatsache Rechnung tragen, dass die dortige Wirtschaftsordnung anders als unsere ist. In einer sozialen Marktwirtschaft gelten andere Wertmaßstäbe als in den USA. ({3}) Insofern führt dieser Vergleich nicht weiter. ({4}) - Das mag ja alles sein. Richtig ist auch: Wir haben gute Vorstandsmitglieder und gute Manager. Ich sage nur: Das als alleiniger Maßstab trägt nicht; dieser Vergleich sollte nicht angestellt werden. Ich finde gut, dass wir diese Debatte führen. Diese Debatte sollte aber nicht nur der Deutsche Bundestag führen, sondern auch und vor allem die Wirtschaft. Herr Hundt hat auf dem Arbeitgeberkongress 2007 diese Woche gesagt - ich zitiere aus der Welt von heute -: Ohne Legitimation von innen bleibt die Marktwirtschaft gefährdet, auch wenn sie keinen größeren Feind hat. Offensichtlich spielt dieses Thema auf diesem Kongress eine Rolle. Ich will das würdigen. Ich finde es richtig, dass sich die Wirtschaft dieses Themas annimmt. Auch die Betroffenen, die Manager, die Vorstandsmitglieder, müssen ihre Verantwortung anerkennen und annehmen. ({5}) Jedem Manger, jedem Vorstandsmitglied muss klar sein, dass sein eigenes Verhalten in Bezug auf die Höhe seiner Vergütung, in Bezug auf Aktienoptionen, in Bezug auf Sondergratifikationen nicht nur das Bild prägt, das er von sich selbst vermittelt oder das von seinem Unternehmen vermittelt wird, sondern auch das Bild davon prägt, wie die soziale Marktwirtschaft bei uns noch funktioniert. ({6}) Darüber sollte sich die Wirtschaft im Klaren sein. Insofern appelliere ich an die Wirtschaft, sich diesem Thema und dem zu widmen, worüber wir heute diskutiert haben. Bei allem Berechtigten, was vorgetragen worden ist - ich will das nicht weiter ausführen - und was wir meines Erachtens prüfen sollten, ist mir wichtig, noch einmal deutlich zu machen: Wir müssen aufpassen, dass wir da nicht alle über einen Kamm scheren, weil es in unserem Land durchaus Manager und Vorstandsmitglieder gibt, die sich über ihre Verantwortung wirklich im Klaren sind und die ihr gerecht werden wollen. Die sind in der Pflicht, andere, die anders denken, mitzunehmen. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege Joachim Poß für die SPD-Fraktion.

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unsere Debatte hier hat sich gelohnt - da muss man der PDS fast dankbar sein -, ({0}) weil in verschiedenen Beiträgen, etwa von Herrn Stünker, Frau Scheel oder Herrn Weiß, die Handlungsmöglichkeiten, die wir in unserer Rechtsordnung haben, aufgezeigt worden sind. Den Faden müssen wir in den nächsten Wochen und Monaten konstruktiv weiterspinnen. Das wird die SPD in der Arbeitsgruppe, die ich leite, tun. Das ist eine Aufgabe, die man zeitlich nicht so limitieren kann, wie das öffentlich teilweise erwähnt wurde. Wir müssen hier auch die gesellschaftliche Situation reflektieren und das aufgreifen, was gesellschaftlich diskutiert wird. Das ist keine Debatte - das sage ich einmal in Richtung FDP -, die die Politik erfunden hat, sondern eine Debatte, die inmitten unserer Gesellschaft geführt wird. Ich will einmal konkret auf das eingehen, was Kollege Fuchs, der jetzt nicht mehr hier sein kann, am Anfang gesagt hat. Wer die mit dem Stichwort „Vertragsfreiheit“ garnierte Behauptung aufstellt, die Höhe von Managervergütungen oder -abfindungen gehe nur den Manager selbst und die Eigentümer des Unternehmens etwas an, der übersieht geflissentlich oder aber auch ganz bewusst - Frau Scheel, glaube ich, hat schon darauf hingewiesen -, dass Dritte hierbei zur Kasse gebeten werden, meine Damen und Herren von der FDP. ({1}) Höhere Managerbezüge oder -abfindungen mindern als Betriebsausgaben den Gewinn und führen somit zu geringeren Steuerzahlungen des Unternehmens. ({2}) Nach der Explosion der Managervergütungen und -abfindungen in den letzten Jahren drängt sich die Frage auf, ob diese teilweise vorgenommene Sozialisierung der Kosten über den Steuerabzug wirklich unbegrenzt weitergehen soll. ({3}) Hier ist schon darauf hingewiesen worden: In anderen Ländern gibt es andere Regeln. Wir machen hier nicht in Antikapitalismus. ({4}) Es geht um Regeln im Kapitalismus. Übersteigen Managerabfindungen ein bestimmtes Maß, entfällt der Betriebsausgabenabzug zum Beispiel in den USA, und zwar ganz, nicht nur für den überhöhten Teil. ({5}) Weil Herr Westerwelle immer die DDR zitiert: Das hat mit der DDR nun wahrlich nichts zu tun. ({6}) Dass Sie unsere amerikanischen Freunde in diesen Zusammenhang bringen, ist wirklich empörend, meine Damen und Herren von der FDP! ({7}) Das sind Argumente, die wirkungsmächtig sind. Die haben auch mit dem Standort nichts zu tun. Mit dem Standortargument kann man nicht jeden Abfindungsexzess zum Steuerabzug zulassen. Das kann ja wohl nicht sein! Der deutsche Corporate-Governance-Kodex hat im Juli dieses Jahres - das ist die aktuelle Fassung - entsprechende Empfehlungen für eine Begrenzung von Abfindungszahlungen aufgenommen. Sollte die Abzugsfähigkeit nicht auch bei uns ihre Grenze da finden, wo dieses Maß überschritten wird? Wäre so etwas dann nicht auch bei exzessiven Einkommen möglich? Wir werden das zumindest sorgfältig prüfen. ({8}) Dann kommt ganz schnell das Argument: Nettoprinzip. Alles, was Betriebsausgabe ist, muss auch steuerlich absetzbar sein. - Aber was lese ich in § 4 Abs. 5 unseres Einkommensteuergesetzes? Darin heißt es - ich zitiere -: Die folgenden Betriebsausgaben dürfen den Gewinn nicht mindern: Es folgt eine Aufzählung mit zehn Punkten und Unterpunkten. Das heißt doch: Unser Einkommensteuerrecht kennt längst die vollständige oder teilweise Beschränkung der Abzugsfähigkeit betrieblicher Ausgaben. ({9}) In § 10 Nr. 4 des Körperschaftsteuergesetzes haben wir eine solche Abzugsbeschränkung ganz konkret für Aufsichtsratsvergütungen: Diese sind nur zur Hälfte absetzbar. Diese Regelung wurde im Rahmen der großen Körperschaftsteuerreform 1976 ausdrücklich damit begründet, „das Interesse an überhöhten Aufsichtsratsbezügen zu mindern“. Nun mag man einwenden, dass die konkret gefundene Form des hälftigen Abzugsverbots keine wirksame Bremse darstellt. Allemal klar ist aber, dass die Beschränkung des steuerlichen Abzugs mit dem Ziel einer Begrenzung der Vergütungen selbst rechtlich offenbar sehr wohl möglich ist. Es gibt also gute Gründe, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, sich der Frage der steuerlichen Abzugsfähigkeit neben den anderen Fragen, die hier angesprochen wurden - Rechte der Hauptversammlungen; wie läuft es im Aufsichtsrat konkret ab usw. -, vertieft zuzuwenden. Dafür gibt es Anknüpfungspunkte im geltenden Recht des In- und Auslands. Vielen Dank. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

In der Debatte, liebe Kolleginnen und Kollegen, wurde der Kollege Klaus Ernst persönlich angesprochen. Er hat den Wunsch nach einer Richtigstellung geäußert. Nach § 30 unserer Geschäftsordnung hat er diese Möglichkeit auch in der Aktuellen Stunde. Ich erteile ihm deshalb das Wort zu einer persönlichen Richtigstellung. ({0})

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Meine Damen und Herren, ich mache es nun wirklich nicht lange. Es ist ja kurz vor Weihnachten, dem Fest der Liebe. Deshalb bin ich auch nicht böse, dass der Kollege Mißfelder offensichtlich monatlich und jährlich verwechselt hat. Auf meiner Internetseite ist zu lesen, dass ich jährlich Bezüge der Stufe 3, also der Stufe „über 7 000 Euro“, aus Tätigkeiten in Aufsichtsräten beziehe. Das ist wahr. Ich kann Ihnen sogar die genaue Summe sagen: Es handelt sich insgesamt um 14 500 Euro jährlich. Entsprechend den Bestimmungen der HansBöckler-Stiftung, denen alle hauptamtlichen und ehrenamtlichen Gewerkschaftler unterliegen, führe ich den größten Teil dieses Betrages an die Hans-Böckler-Stiftung ab. Das heißt, der Betrag, der mir bleibt, ist relativ überschaubar. Ich würde mich sehr freuen, wenn auch alle Vertreter der Arbeitgeberseite ähnlich verfahren würden. Dann hätten wir zumindest bei den Aufsichtsräten das hier zur Debatte stehende Problem nicht. Danke fürs Zuhören. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Damit sind wir am Ende der Aktuellen Stunde. ({0}) - Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe die Aktuelle Stunde beendet. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 2 auf: Fragestunde - Drucksache 16/7433 Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Für die Beantwortung der Fragen steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Michael Müller zur Verfügung. Ich rufe die Frage 1 des Kollegen Hans Michelbach auf: Zählt es nach Auffassung der Bundesregierung zu den geläufigen, gutzuheißenden Aussagen im Bestreben auf eine Förderung des Wirtschaftsstandortes Deutschland, dass der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Sigmar Gabriel, am 16. November 2007 auf einer Abendveranstaltung in der Stadt Coburg in Bezug auf die Person des Präsidenten der IHK zu Coburg und Vorsitzenden der Gesellschafterversammlung der weltweit tätigen Brose Unternehmensgruppe, M. S., geäußert hat: „Dem MöchtegernBerlusconi müsst ihr zeigen, dass man Coburg nicht kaufen kann!“ ({1}), und, wenn nein, sollte der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Sigmar Gabriel, sich für diese Aussage öffentlich entschuldigen?

Michael Müller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001561

Meine Damen und Herren! Kollege Michelbach, Sie fragten, ob eine Aussage des Bundesumweltministers, die in der örtlichen Zeitung zitiert wurde, dem Wirtschaftsstandort Bundesrepublik Deutschland förderlich sei. Ich kann nur sagen: Erstens. Die Bundesregierung sieht diesen Zusammenhang nicht. Zweitens. Tun Sie es mir bitte nicht an, dass ich jetzt aus der örtlichen Zeitung all das zitiere, was von den unterschiedlichen Parteien in dem Zusammenhang gesagt wurde. Das wäre sicherlich auch nicht förderlich. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Eine Nachfrage, Herr Kollege? - Bitte sehr.

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, vielen Dank. Sagen Sie damit, dass die Aussage des Herrn Bundesministers - ich zitiere wörtlich -: „Dem Möchtegern-Berlusconi müsst ihr zeigen, dass man Coburg nicht kaufen kann!“, seine Privatmeinung in diesem Falle sei? Ansonsten würde man ja letzten Endes dem Präsidenten der IHK zu Coburg die Fähigkeit zur Vertretung der Wirtschaft absprechen. Sie sagen ja auch, dass zwischen der Aussage und dem Wirtschaftsstandort Coburg kein Zusammenhang bestünde.

Michael Müller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001561

Ich glaube, ich habe klar geantwortet. Ich möchte jetzt nicht alles Mögliche - ich sage das noch einmal über Coburger Kabalen, die Unterdrucksetzung von CSU-Stadträten und von den Spaltungen, die es dort in Ihrer Partei gibt, anführen. Ich glaube, wir sollten so etwas lassen. Ich weiß nicht, ob es weiterhilft, solche Anfragen an die Bundesregierung zu stellen. ({0}) Ich glaube, in dem Brief, den Sie vom Herrn Bundesminister bekommen haben, wurde das Notwendige ver13834 deutlicht. Im Übrigen war es nicht hilfreich, eine Presseerklärung zu machen, bevor die Frage gestellt wurde.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, haben Sie eine weitere Zusatzfrage?

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, nachdem ich feststellen muss, dass Sie keine Entschuldigung des Herrn Bundesministers vortragen - ich habe auch keinen Brief erhalten -, frage ich Sie: Können Sie sich vorstellen, dass sich der Bundesminister von seiner Aussage über den IHK-Präsidenten als Vertreter der Wirtschaftsregion Coburg zumindest distanziert?

Michael Müller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001561

Ich empfehle Ihnen, einmal in Ihrem Büro nachzuschauen. Der Brief, an Sie adressiert, liegt hier vor. ({0}) - Keine Entschuldigung, sondern die Klarstellung, dass es da keinen Zusammenhang gibt. Die Bewertung eines Sachverhalts unterliegt im Übrigen der Verantwortung eines jeden Abgeordneten und eines jeden Ministers. Es wäre nicht besonders erfreulich, wenn ich all das, was über diese Person in der Öffentlichkeit gesagt wurde, hier zitieren würde.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich rufe nun die Frage 2 des Kollegen Hans Michelbach auf: Besitzt die Bundesregierung über die vom Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Sigmar Gabriel, ausgeführte kommunalpolitische Lage in der Stadt Coburg eigene Kenntnis, und, wenn nein, woher bezieht sie ihr Wissen? Bitte, Herr Staatssekretär.

Michael Müller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001561

Ich kann dazu nur ausführen, dass jeder Besuch des Bundesministers entweder vom Ministerium, wenn es um fachliche Fragen geht, oder von seinem Büro, wenn es um politische Fragen geht, vorbereitet wird. Ich kann in diesem Fall auf circa 25 Blatt Papier verweisen, die als Information über die politische Situation vor Ort zusammengestellt wurden und die leider kein nur erfreuliches Bild ergeben.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Eine Nachfrage, bitte.

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, wird sich die Bundesregierung zukünftig in die kommunalen Themenbereiche dergestalt einmischen, wie es der Bundesminister Sigmar Gabriel für nötig befunden hat, oder wird sie sich fortan bei rein kommunalpolitischen Themenfeldern zurückhalten?

Michael Müller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001561

Ich weiß nicht, ob eine solche Trennung überhaupt möglich ist. Auch bei Ihren Aussagen im Parlament habe ich nicht den Eindruck, dass Sie sich immer nur auf bundespolitische Fragen beschränken. Vielmehr ist es so, dass Sie ebenfalls den Anspruch erheben, allgemeinpolitisch agieren zu können. Das finde ich auch richtig. Ich sage es noch einmal: Dies ist jedem Einzelnen selbst überlassen. Ich finde aber, dass wir im Bundestag wichtigere Dinge zu besprechen haben als das, womit Sie sich in Ihrer Frage beschäftigen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, haben Sie eine zweite Nachfrage? Bitte sehr.

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich denke, dass die Vertreter der Wirtschaftsregion Coburg eine andere Auffassung haben. Sie, Herr Staatssekretär, sagen, dass es sozusagen Privataussagen des Herrn Ministers sind. Fand die Fahrt mit dem Dienstwagen zu der Veranstaltung in Coburg, auf der es zur Beleidigung des IHK-Präsidenten kam, auf Kosten der Steuerzahler statt, oder ist der Minister auf eigene Kosten dorthin gereist?

Michael Müller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001561

Sie können dem Brief, den der Minister Ihnen geschrieben hat, ebenfalls entnehmen, dass es eine Fahrt im Zusammenhang mit seinem Mandat war. Diese Fahrt wurde daher entsprechend eingeordnet und sauber abgerechnet. Ich will mir im Übrigen nicht verkneifen, darauf hinzuweisen, dass es eine sehr enge Beziehung zwischen dem angesprochenen Herrn und Ihrer Partei bei Spenden gibt. Angesichts Ihrer Reaktion auf den Besuch des Ministers in Coburg sei mir dieser Hinweis erlaubt. Ich finde aber, wir sollten nicht auf einer solchen Ebene debattieren. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen für die Beantwortung der Fragen. Ich rufe den Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts auf. Für die Beantwortung steht Herr Staatsminister Günter Gloser zur Verfügung. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Wir kommen zur Frage 3 der Kollegin Dr. Marlies Volkmer: Welchen Ansehensverlust befürchtet die Bundesregierung für die Bundesrepublik Deutschland innerhalb der Weltgemeinschaft, wenn sich der Freistaat Sachsen über die völkerrechtlichen Verpflichtungen aus der UNESCO-Welterbekonvention hinwegsetzt und die Waldschlösschenbrücke ohne Verständigung mit der UNESCO-Kommission bauen lässt und so die Aberkennung des Welterbetitels für die Elbtalauen verursacht?

Not found (Gast)

Die Bundesregierung hat in den vergangenen Monaten bei verschiedenen Gelegenheiten wiederholt auf außenpolitische Folgen eines nicht mit dem UNESCOWelterbekomitee abgestimmten Brückenbaus hingewiesen. In völkerrechtlicher Hinsicht besteht auf der Ebene des Bundes Einvernehmen, dass die 1976 ratifizierte Welterbekonvention alle staatlichen Ebenen in Deutschland - Bund, Länder und Gemeinden - gleichermaßen bindet. Das Welterbekomitee hat das Dresdner Elbtal im Juli 2006 auf seine „Liste des Welterbes in Gefahr“ und damit auf die „Rote Liste“ gesetzt und angekündigt, das Elbtal ganz aus der „Liste des Welterbes“ zu streichen, falls die Brücke in geplanter Form gebaut würde. Dieser Beschluss wurde vom Welterbekomitee im Juni 2007 bestätigt. Eine Streichung würde von der UNESCO als Sanktion für eine Verletzung völkerrechtlicher Schutzpflichten verstanden werden, es wäre die erste Streichung einer Stätte in Europa, sie würde das Ansehen Deutschlands im Rahmen der Vereinten Nationen beschädigen und die Aufnahme weiterer deutscher Kandidatenstädte erschweren. Die Bundesregierung setzt sich weiterhin in Gesprächen mit der UNESCO und den verantwortlichen Stellen der Sächsischen Staatsregierung für eine Konsenslösung ein, um den Welterbetitel für das Dresdner Elbtal zu erhalten.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Haben Sie eine Nachfrage?

Dr. Marlies Volkmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, das war ausführlich.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Dann kommen wir zur Frage 4 des Kollegen Rainder Steenblock: Wie ist die Haltung der Bundesregierung zu dem Parteitagsbeschluss der CDU, den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union infrage zu stellen und für eine privilegierte Partnerschaft zu plädieren, in Anbetracht der Tatsache, dass dies im Widerspruch zur beschlossenen EU-Verhandlungslinie steht, der die Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende Dr. Angela Merkel zugestimmt hat?

Not found (Gast)

Ich darf Ihre Frage wie folgt beantworten: Die Haltung der Bundesregierung zum Beitritt der Türkei zur Europäischen Union ergibt sich aus dem Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 11. November 2005. Ich darf daraus zitieren: Die am 3. Oktober 2005 aufgenommenen Verhandlungen mit dem Ziel des Beitritts sind ein Prozess mit offenem Ende, der keinen Automatismus begründet und dessen Ausgang sich nicht im Vorhinein garantieren lässt. Es heißt dann weiter: Sollte die EU nicht aufnahmefähig oder die Türkei nicht in der Lage sein, alle mit einer Mitgliedschaft verbundenen Verpflichtungen voll und ganz einzuhalten, muss die Türkei in einer Weise, die ihr privilegiertes Verhältnis zur EU weiter entwickelt, möglichst eng an die europäischen Strukturen angebunden werden. Diese Vereinbarung gilt weiterhin.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Haben Sie eine Nachfrage, Herr Kollege? - Bitte sehr.

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatsminister, wir hatten gerade schon Gelegenheit, zu beobachten, wie die Regierungskoalition öffentlich miteinander umgeht. Ich wage mir gar nicht vorzustellen, wie Sie miteinander umgehen, wenn die Öffentlichkeit bei diesen Debatten nicht dabei ist. Es ist doch erstaunlich, wenn, nachdem eine Koalitionsvereinbarung getroffen worden ist, die größere Partei dieser Regierungskoalition etwas beschließt, was dem, was in der Vereinbarung festgeschrieben ist, diametral entgegengesetzt ist. Wenn die Vorsitzende dieser Partei gleichzeitig Kanzlerin ist, dann ergeben sich daraus doch Widersprüche, die die Positionierung der Partei und ihrer Parteivorsitzenden betreffen. Ich habe ja Psychologie gelernt, und eine meiner mündlichen Prüfungen betraf das Thema Schizophrenie.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, ich darf Sie daran erinnern, dass Sie hier eine Frage stellen wollten.

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich frage, wie man als Regierung mit der Situation umgeht, dass die Vorsitzende der größten regierungstragenden Partei etwas völlig anderes beschließt als das, was sie als Kanzlerin unterschrieben hat.

Not found (Gast)

Lieber Kollege Steenblock, zuerst einmal zu der inneren Verfasstheit und dazu, wie wir miteinander umgehen, auch wenn vieles davon nicht öffentlich ist: Sie sehen ja, wir leben alle noch; wir gehen sehr zivilisiert miteinander um. Dass es gelegentlich einmal Streit gibt, kenne ich aus anderen Koalitionen, in denen dies auch der Fall war. Aber ich komme zu Ihrer inhaltlichen Bemerkung. Meines Erachtens müssen wir Folgendes trennen: Zum einen gibt es in unserem Land politische Parteien, die Parteitage durchführen. Dort wird um Ziele und Themen gerungen, und dort werden Beschlüsse gefasst. Wenn ich es richtig sehe, hat die CDU diese Position auch schon in der Zeit vertreten, als sie noch in der Opposition war. Zum anderen gibt es Koalitionsverhandlungen wie die, bei denen man zu dem genannten Ergebnis kam. Allein deshalb ist, wie wir es heute Morgen im EUAusschuss diskutiert haben, ganz klar - ohne dass ich damit jetzt eine Entscheidung vorwegnehmen will -, was wir am Freitag auf dem Europäischen Rat in Brüssel machen werden: Die Bundeskanzlerin wird namens der Bundesregierung die Beschlüsse der Großen Koalition im Rat vollziehen, wenn es darum gehen wird, die Schlussfolgerungen zu verabschieden, und sie wird das Paket hinsichtlich der generellen Erweiterung der Europäischen Union mit beschließen. In einer Koalition gilt, dass nicht ein Partner seinen Punkt durchsetzen kann. Deshalb haben wir damals auch diesen Kompromiss gefunden.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Haben Sie eine weitere Zusatzfrage? - Bitte sehr.

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatsminister - wir haben ja beide Erfahrungen in Koalitionen, auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Konstellationen -, empfinden Sie es nicht als Provokation einer Regierung, wenn eine regierungstragende Partei nach der Koalitionsvereinbarung eine Kampfansage an die offizielle Politik der Bundesregierung, die von dieser Partei ja mitgetragen wird, macht? Es ist doch etwas, was Sie nicht ruhig schlafen lassen kann, wenn bei einer so zentralen Frage Züge aufs Gleis gesetzt werden, die gegeneinanderrasen.

Not found (Gast)

Ich möchte den von Ihnen verwendeten Begriff der Kampfansage nicht übernehmen, Kollege Steenblock. Aber unterstellt, dieser Begriff wird in Anführungszeichen gesetzt, antworte ich auf Ihre Frage: Ich kann nicht erkennen, dass diese „Kampfansage“ beispielsweise am kommenden Freitag beim Europäischen Rat so umgesetzt wird.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Vielen Dank, Herr Staatsminister, für die Beantwortung der Fragen. Wir sind am Ende dieses Geschäftsbereichs. Die Fragen 5 und 6 der Kollegin Ina Lenke aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend werden schriftlich beantwortet. Damit rufe ich den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales auf. Für die Beantwortung der Fragen steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Franz Thönnes zur Verfügung. Wir kommen zur Frage 7 des Kollegen Dr. Ilja Seifert: Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus den Veranstaltungen im Rahmen der Infotour „Selbstbestimmt leben: Persönliches Budget“ mit Blick auf die Einführung des Persönlichen Budgets als Regelleistung ab 1. Januar 2008?

Franz Thönnes (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002818

Werter Herr Dr. Seifert, ich beantworte die Frage wie folgt: Die Beauftragte für die Belange behinderter Menschen hat gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen aus den Ländern im September und Oktober 2007 unter dem Titel „Budget-Tour“ eine deutschlandweite Informationskampagne zum Thema „Selbstbestimmt leben: Persönliches Budget“ durchgeführt. Zielgruppen der Informationstour waren potenzielle Budgetnehmerinnen und -nehmer, deren Angehörige, Leistungsträger und Leistungserbringer. Die Resonanz war insbesondere bei potenziellen Budgetnehmern und deren Angehörigen sehr groß. Insgesamt hat die Tour rund 4 000 Menschen direkt erreicht. Die Veranstaltungen haben deutlich gemacht, dass die neue Leistungsform bei behinderten Menschen grundsätzlich auf ein großes und positives Interesse stößt. Eine Reihe von guten Beispielen hat gezeigt, dass Persönliche Budgets ab dem 1. Januar 2008 ein wichtiges Instrument für mehr Teilhabe und Selbstbestimmung behinderter Menschen sein werden. Deutlich wurde auch, dass der Informationsbedarf nach wie vor sehr hoch ist. Sowohl aufseiten der behinderten Menschen als auch bei den beteiligten Leistungserbringern und Leistungsträgern bestehen noch Unsicherheiten hinsichtlich der Umsetzung des Persönlichen Budgets in der Praxis, was mit der sehr flexiblen Leistungsform, die sich eng an den individuellen Bedürfnissen der behinderten Menschen orientiert, zusammenhängt. Zentrale Fragestellungen betrafen regelmäßig die Bereiche Bedarfsfeststellung, Verpreislichung von Leistungen und Gewährleistung ausreichender Beratungen und Assistenz bei der Inanspruchnahme eines Persönlichen Budgets. Aus diesem Grund hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales entschieden, die Reihe der regionalen Fachtagungen zum Persönlichen Budget in Zusammenarbeit mit dem Kompetenzzentrum Persönliches Budget des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in den Jahren 2008 bis 2010 fortzusetzen. Im Rahmen des Programms zur Strukturverstärkung und Verbreitung Persönlicher Budgets stellen Bundeshaushalt und Ausgleichsfonds in den kommenden drei Jahren zusammen 3,5 Millionen Euro zur Förderung von Projekten zum Anschub und zur Verbesserung der Inanspruchnahme Persönlicher Budgets zur Verfügung.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, haben Sie eine Nachfrage? - Bitte sehr.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Oh ja, Frau Präsidentin, ich habe viele Nachfragen. Aber ich glaube, ich darf nur zwei stellen. Herr Staatssekretär, erst einmal vielen Dank für die sehr ausführliche Antwort. Ich bin zunächst ein bisschen verunsichert, dass Sie sagen, diese 3,5 Millionen Euro kämen aus dem Bundeshaushalt und dem Ausgleichsfonds. Wenn damit der Ausgleichsfonds im Rahmen der Ausgleichsabgabe gemeint ist, dann würde mich das schon ein bisschen wundern. Meine Frage zielt aber auf etwas anderes ab. Sie sagen, dass es bei den Betroffenen ein großes Interesse gab, sich zu informieren, und dass 4 000 Menschen an diesen Veranstaltungen teilgenommen haben. Aber wie viele können denn nun dieses Persönliche Budget in Anspruch nehmen? Es handelt sich doch nur um eine neue Leistungsform und nicht um eine neue Leistungsart; es gibt ja nicht mehr Geld. Meine Informationen sind die, dass auf diesen Veranstaltungen das Buffet häufig wichtiger war als das Budget, sodass am Ende nicht viel herausgekommen sein soll.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Staatssekretär.

Franz Thönnes (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002818

Sehen Sie mir bitte nach, dass ich Ihre Frage nicht ganz verstehe. An diesen Veranstaltungen hat der Personenkreis teilgenommen, den ich gerade genannt habe: Menschen, die behindert sind - diese haben grundsätzlich erst einmal alle einen Anspruch auf ein Persönliches Budget, wenn sie dies ab 1. Januar 2008 geltend machen -, Leistungserbringer und Menschen aus den Behörden. Ich selber war bei drei, vier Veranstaltungen dabei. Wir haben uns dort gesehen. Ich weiß also, dass auch Sie dabei waren. Mir ist ein bisschen unklar, worauf Ihre Frage zielt. Ich habe folgende Schlussfolgerung gezogen: Im Rahmen der wissenschaftlichen Begleituntersuchung wurden rund 800 Personen befragt, denen im Rahmen der Erprobungsphase ein Persönliches Budget zur Verfügung stand. 90 Prozent der Menschen, die davon Gebrauch gemacht haben, haben gesagt: Das ist gut für mich; meine Situation hat sich verbessert; ich würde das auf jeden Fall wieder machen. - Das ist ein hervorragendes Ergebnis. Besonders beeindruckt haben mich - ich glaube, auch Sie - die guten Beispiele, die von den Menschen genannt worden sind. Solche Beispiele sind ein Ansporn, weiterzumachen und die Arbeit fortzusetzen. Im Rahmen von Regionalfachtagungen und in Zeitschriften soll über das Persönliche Budget informiert werden. Auch Ihre Frage ist eine gute Gelegenheit, um noch einmal darauf hinzuweisen, dass dieser Rechtsanspruch eingeführt wird. Es ist aber auch Aufgabe der Verbände der Menschen mit Behinderungen, ihre Mitglieder und alle Menschen mit Behinderungen durch eine Vielzahl von Informationen und Aktivitäten darauf aufmerksam zu machen. Ich finde, wir sind ein gutes Stück vorangekommen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ihre weitere Nachfrage, bitte.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Staatssekretär, wie erklären Sie sich denn, dass bezüglich der Fragen, wer wann wo was beantragen kann und wer wann wo was leistet, immer noch große Unsicherheit herrscht? Ich weiß, dass das Persönliche Budget innerhalb der Behindertenbewegung seit Jahren eines der Hauptthemen - man könnte sagen, das Lieblingsthema überhaupt - ist. Jetzt beginnen Sie - das sagen Sie ja selbst - gemeinsam mit dem Kompetenzzentrum eine dreijährige Informationskampagne. Hätte diese Informationskampagne nicht stattfinden müssen, bevor der Rechtsanspruch eingeführt wird? Ich stelle immer wieder fest, dass viele nicht wissen, ob sie einen Anspruch haben oder nicht. Sobald man arbeiten geht, hat man keinen Anspruch mehr, weil man dann keine Sozialhilfe mehr bezieht. Dann kann man auf die Eingliederungshilfe nicht zugreifen und bekommt gar nichts.

Franz Thönnes (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002818

Herr Dr. Seifert, man kann natürlich sagen, dass immer, wenn jemand etwas nicht weiß, die Bundesregierung daran schuld ist. Sie wissen genau, dass wir bereits 2004 Modellversuche gestartet und regelmäßig über diese Modellversuche berichtet haben. Sie haben in diesem Hause fünf oder sechs Anfragen gestellt, die wir Ihnen ausführlich beantwortet haben. Das ist alles dokumentiert. Nach anfänglichen Schwierigkeiten haben wir in den Modellregionen zusätzliches Geld in die Hand genommen. Der Bund hat die Modellregionen bei der zusätzlich anfallenden Verwaltungsarbeit unterstützt. Sie haben in Zeitschriften darüber geschrieben, wir haben in Zeitschriften darüber geschrieben. Wir haben darüber debattiert, auch im Ausschuss. Wir werden wahrscheinlich damit leben müssen, dass in fünf Jahren noch jemand sagen wird: Davon habe ich noch nichts gehört. Wenn man aber die Aktivitäten der letzten sechs Monate zusammenfassend betrachtet, muss man sagen: Das Persönliche Budget ist in Deutschland mittlerweile ein großes Thema. Für manche Menschen ist es trotzdem etwas Neues. Sie haben zu Recht gesagt, dass das keine neue Leistungsart ist, sondern eine neue Leistungsform. Man muss fragen: Wie kann ich damit umgehen? Was bedeutet das für mich? Einige fragen auch: Wenn ich davon Gebrauch gemacht habe, aber nicht zufrieden bin, kann ich vom Leistungsträger dann wieder eine komplexe Leistung erhalten? Das ist übrigens möglich. All diese Fragen werden beantwortet. In unserem Hause steht eine Telefonhotline zur Verfügung. In den Ländern und in den Kreisen stehen Servicestellen zur Verfügung. Auch die Behindertenverbände informieren laufend darüber. Ich denke, wir sind da ein gutes Stück vorangekommen. Wenn wir an dieser Stelle weitermachen wollen, geht es darum, ganz explizit bestimmte Themenbereiche aufzugreifen: Was bedeutet das für den Bereich Wohnen? Was bedeutet das für den Bereich Kinder? Wie sieht das bei Frauen aus? Wir müssen bestimmten Gruppen helfen und dabei Erkenntnisse gewinnen. Wir fangen nicht erst jetzt an, zu informieren. Sie sollten das in Ihrer Frage auch nicht unterstellen; sonst würdigen Sie die Arbeit der behindertenpolitischen Sprecher der anderen Fraktionen des Deutschen Bundestages und unsere gemeinsame Arbeit nicht in angemessener Form.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Wir kommen nun zur Frage 8 des Kollegen Markus Kurth: Sieht die Bundesregierung, bezogen auf die Forderung der Arbeits- und Sozialministerkonferenz nach einer Beteiligung des Bundes an den Kosten der Eingliederungshilfe sowie bezogen auf die Forderung nach einer Stärkung ambulanter vor stationärer Leistungen, eine Möglichkeit darin, die Finanzverantwortung für die Ausführung ambulanter Leistungen selbst zu übernehmen, und, falls nein, wie möchte die Bundesregierung ansonsten mit den Forderungen der Arbeits- und Sozialministerkonferenz umgehen?

Franz Thönnes (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002818

Der Kollege Kurth hat auch die Frage 9 gestellt. Ich würde gerne beide Fragen zusammen beantworten.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte sehr. Dann rufe ich auch die Frage 9 des Kollegen Kurth auf: Wie möchte die Bundesregierung auf die Forderung der Arbeits- und Sozialministerkonferenz reagieren, die eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe sowie einen Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe verlangt, und wie möchte die Bundesregierung prüfen, ob ein eigenständiges Leistungsrecht für Menschen mit Behinderung wünschbar ist?

Franz Thönnes (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002818

Ich beantworte beide Fragen wie folgt: Die Bundesregierung hat wiederholt betont, dass sie Forderungen nach einer Beteiligung des Bundes an den Kosten der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen ablehnend gegenübersteht. Außerdem hält es die Bundesregierung nicht für sachgerecht, einen Gesetzentwurf zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe vorzulegen. Bevor gesetzgeberische Maßnahmen ergriffen werden, sollten zunächst die Strukturen und die Organisation der Eingliederungshilfe durch die Träger und die Leistungsanbieter so reformiert werden, dass bestehende Hemmnisse für die Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung abgebaut werden. Die Bundesregierung ist weiterhin unverändert bereit, zusammen mit den Ländern, den Kommunen und den Verbänden behinderter Menschen nach Lösungen zu suchen, die Eingliederungshilfe weit mehr als bisher auf den Paradigmenwechsel, den wir in der Behindertenhilfe gemeinsam vorgenommen haben, auszurichten. Sie begrüßt deshalb die im Beschluss der Arbeits- und Sozialministerkonferenz 2007 zu erkennende Bereitschaft der Länder, verstärkt auf die Probleme der Menschen mit Behinderung einzugehen und fiskalische Überlegungen in den Hintergrund treten zu lassen. Die Bundesregierung strebt an, Mitverantwortung für die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe in Zukunft unter anderem auch dadurch zu übernehmen, dass sie sich bereit erklärt, in Abstimmung mit den Ländern eine flankierende wissenschaftliche Begleitforschung zu ausgewählten Problemen und Themenstellungen der verschiedenen Eingliederungsbereiche zu initiieren und zu finanzieren. Eines dieser Themen könnte zum Beispiel die personenzentrierte Eingliederungshilfe sein. Es sollte keine Rolle mehr spielen, ob ein behinderter Mensch notwendige Leistungen ambulant oder stationär in Anspruch nimmt.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ihre Nachfrage bitte, Herr Kurth.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Fürchten Sie denn nicht, dass sich eine Art Pingpongspiel entwickeln könnte, und zwar dadurch, dass die Bundesregierung ständig von den Ländern aufgefordert wird, die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe voranzutreiben - das ist auch im Koalitionsvertrag festgelegt worden -, dass der Ball dann aber immer wieder durch ihre Zurückweisung, die gerade auch in Ihrer Antwort deutlich wurde, zu den Ländern zurückspielt wird?

Franz Thönnes (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002818

Wenn die Arbeitsgruppe eingerichtet wird, dann sitzen alle mit am Tisch. Wenn man nicht gerade ein Netz in der Mitte aufbaut, wird es schwierig, Pingpong zu spielen. Alle sind in der Verantwortung. Im Kern nimmt der Bund seine Verantwortung für die Unterstützung der Menschen mit Behinderung, wie Sie wissen, über die BA, über die Rentenversicherung und über die Werkstätten für Menschen mit Behinderung wahr. Ich glaube, wenn wir uns auf die personenzentrierte Eingliederungshilfe konzentrieren, dann müssen auch die Länder ein Interesse daran haben, gemeinsam mit uns über die Zuweisung von Menschen in Werkstätten für Menschen mit Behinderung zu reden, obwohl sie auf dem freien Arbeitsmarkt möglicherweise eine intensivere Unterstützung erfahren würden. Wir arbeiten zurzeit gemeinsam daran, die unterstützte Beschäftigung - das ist ein Förderungsbestandteil - im Rahmen des SGB III zu organisieren. Das Risiko, das Sie angesprochen haben, sehe ich daher nicht.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Eine weitere Zusatzfrage.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich möchte auf die ambulante Hilfe zurückkommen. Ist der Bundesregierung die Initiative des Landschaftsverbandes Rheinland bekannt - der Landschaftsverband Rheinland ist der größte überörtliche Sozialhilfeträger -, bei der Erbringung ambulanter Leistungen auf die Anrechnung von Einkommen und Vermögen zu verzichten, um dadurch einen Anreiz zu schaffen, dass sich die Menschen nicht stationär im Heim unterbringen lassen, sondern sich ambulant behandeln lassen?

Franz Thönnes (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002818

Das ist bekannt. Hier hoffe ich auf eine gute Zusammenarbeit. Wir haben noch eine Menge Arbeit vor uns; allerdings gibt es viele übereinstimmende Positionen. Wir müssen gemeinsam darauf achten, den Leitgedanken „ambulant vor stationär“ so umzusetzen, dass es nicht zu Benachteiligungen kommt. Wir müssen genau aufpassen, wo angerechnet wird und wo nicht. Wenn Einkommen und Vermögen nicht bei den behinderten Menschen, die ambulant versorgt werden, angerechnet werden, jedoch bei den behinderten Menschen, die stationär versorgt werden, dann kommt es zu einem Ungleichgewicht. Das gilt es kritisch zu betrachten. Ich will jetzt keine abschließende Bewertung vornehmen; aber ich glaube, wir müssen gemeinsam daran arbeiten. Ich will nur auf diesen Widerspruch hinweisen, der mit Sicherheit von den Betroffenen nicht verstanden werden wird. Gleichwohl gibt es unterschiedliche Mechanismen, die - der Auffassung sind wir sicherlich beide - eher einen Anreiz für eine stationäre als für eine ambulante Versorgung bieten. Über die Widersprüche zwischen diesem Anreiz und der offiziell vertretenen Philosophie „ambulant vor stationär“ müssen wir offen reden.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Sie haben noch eine weitere Frage? - Bitte sehr.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn man im Sinne der Initiative des Landschaftsverbandes Rheinland versuchen will, die Anreizwirkung durch unterschiedliche Anrechnungsverfahren in eine bestimmte Richtung - die wir beide, so glaube ich, wollen - zu lenken, ist es dann nicht hochwahrscheinlich, dass im Ergebnis von Verhandlungen die Bundesregierung ein „Eintrittsgeld“ in Form einer Kostenbeteiligung wird zahlen müssen, und wäre das nicht genau an dieser Stelle sinnvoll, weil man dann mit der Kostenbeteiligung im ambulanten Bereich ein Stück weit die Steuerungsverantwortung übernehmen könnte?

Franz Thönnes (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002818

Herr Kollege Kurth, Sie wissen aus unserer gemeinsamen Zusammenarbeit in der Vorgängerkoalition, dass wir bei der Reform der Sozialhilfe sehr genau auf die Zuständigkeiten geachtet haben. Zuständig für Fragen der Eingliederungshilfe sind - ich wiederhole das - die Länder. Das Steueraufkommen ist so aufgeteilt, dass jede Körperschaft mit dem ihr zur Verfügung stehenden Geld die ihr per Gesetz übertragenen oder auch die selbst gewollten Bereiche abdecken und den Menschen Hilfen zugänglich machen kann. Das gilt ganz genau für den Bereich der Eingliederungshilfe. Ich habe gerade beschrieben, wo wir bereit sind, zu helfen und zu unterstützen. Personenzentrierte Eingliederungshilfe ist ein Element, von dem, so glaube ich, die Kommunen, Kreise oder Landschaftsverbände profitieren würden. Das zweite Element ist der Komplex der Leistungsüberprüfung: Wie ist es mit der Zuweisung von Menschen in Werkstätten für Menschen mit Behinderung? Wie sieht es mit dem Eingangsverfahren aus? Läuft das alles richtig? Zur Steuerung: Auch darüber, wo der Bund ansetzen kann, Anreize zu geben, um den Grundsatz „ambulant vor stationär“ umzusetzen, können wir reden. Aber schon im Vorgriff zu sagen, man müsse ein „Eintrittsgeld“ bezahlen, damit man mitreden darf, wie die Kommunen sparen können, ist falsch. Ich würde eher sagen: Lasst uns einmal über die Vorschläge reden, die wir gemacht haben. Ich glaube, auch die sind ganz attraktiv.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Haben Sie noch eine Frage?

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe erst drei Fragen gestellt.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich weiß. Ich wusste nur nicht, ob Sie von Ihrem Recht auf eine vierte Frage Gebrauch machen wollen. Bitte sehr.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Ausführungen des Staatssekretärs haben mich zu einer weiteren Frage inspiriert. Sie haben den sehr interessanten Begriff der personenzentrierten Eingliederungshilfe ins Spiel gebracht. Ist die Bundesregierung der Ansicht, dass wir bei einer solchen Ausrichtung ein einheitliches Bemessungsverfahren statt der derzeit bis zu 60 verschiedenen Berechnungsverfahren für die Leistungen brauchen? Ist das dann wenigstens Bundesangelegenheit?

Franz Thönnes (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002818

Wir wissen, welche Entscheidungen wir im Rahmen der Föderalismusdiskussion getroffen haben, was dieses Haus und was der Bundesrat beschlossen hat und wie die Verantwortlichkeiten nach der Reform verteilt sind. Es wäre in der Tat gut, wenn man zu vergleichbaren Kriterien kommen könnte. Da setze ich schlichtweg auf die Arbeitsminister- und Sozialministerkonferenz. Wer so einheitlich vorgeht wie hier, der muss auch den nächsten Schritt tun und sagen: Wenn es um die Anwendung geht, dann wollen wir gemeinsam daran arbeiten, vergleichbare Kriterien für die Gewährung zu entwickeln. - Das wird dann aber der Diskussionsprozess zeigen. Im Interesse der Menschen mit Behinderung wäre es wahrscheinlich allemal.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Zu diesem Themenkomplex hat nun der Kollege Dr. Seifert noch eine Frage. Bitte sehr.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär, auch ich finde den Begriff der personenzentrierten Eingliederungshilfe, den Sie jetzt ins Gespräch bringen, sehr interessant. Aber jeder weiß doch, dass das Problem eigentlich nicht die Ausgabenseite ist. Die Eingliederungsleistungen sind meistens sehr gut. Vielmehr sind die Zugangskriterien das Problem. Sollte bei dieser personenzentrierten Eingliederungshilfe endlich die Vermögens- und Einkommensprüfung wegfallen? Das ist doch das Problem im richtigen Leben.

Franz Thönnes (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002818

Herr Kollege Seifert, ich will dazu jetzt keine abschließende Position einnehmen; denn das ist, wie Sie wissen, ein sehr empfindlicher Diskussionsprozess, bei dem es darum geht, die Einkommens- und Vermögenssituation mit gleichen Maßstäben zu bewerten und bei der Frage, für welche Bereiche - ambulant oder stationär - die Wiedereingliederungshilfe gewährt wird, vergleichbare Kriterien anzuwenden. Ich möchte gern darüber sprechen, warum wir die Philosophie „ambulant vor stationär“ bisher noch nicht so umsetzen konnten, wie wir es gern wollen. Da müssen wir das Pro und Kontra von Lösungen diskutieren. Dabei wird die Frage der Anrechnung des Einkommens natürlich eine Rolle spielen. Aber ich werde jetzt nicht dem Diskussions- und Meinungsbildungsprozess vorgreifen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Die Fragen 10 und 11 der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch werden schriftlich beantwortet, ebenso die Fragen 12 und 13 der Kollegin Sabine Zimmermann. Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen für die Beantwortung der Fragen. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern auf. Für die Beantwortung der Fragen steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Peter Altmaier zur Verfügung. Wir kommen zur Frage 14 des Kollegen Wolfgang Wieland: Welcher oder welche Richter am Bundesverfassungsgericht haben dem Bundesminister des Innern bei welcher Gelegenheit geraten, die Bundesregierung solle sich im Zweifel nicht an Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes halten, wie dieser in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag am 29. November 2007 ausführte?

Peter Altmaier (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002617

Herr Kollege Wieland, ich fürchte, ich werde Ihre Neugier nicht ganz befriedigen können. Der Bundesminister des Innern hat sich, ebenso wie verschiedentlich auch Richter am Bundesverfassungsgericht es getan haben, an der gegenwärtigen öffentlichen Debatte über Sicherheit und Freiheit beteiligt, indem er in den Haushaltsberatungen seinen Standpunkt zu den verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für das Handeln der Sicherheitsbehörden wiederholt hat.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Haben Sie eine Nachfrage?

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe sicherlich eine Nachfrage. Sie haben, mit Verlaub, eben gar nichts geantwortet. Aber dennoch ist es formal eine Nachfrage, die ich stelle. Der Herr Bundesminister des Innern ist, wie wir wissen, ein besonders scharfzüngiger Formulierer, der uns aber des Öfteren rätseln lässt, was der Dichter uns damit eigentlich sagen wollte. Damit haben wir heute schon eine Stunde im Innenausschuss verbracht. Er hat gesagt - ich zitiere das Protokoll der Plenardebatte vom 29. November -: Bei allem Respekt: Ich halte nichts, aber auch gar nichts davon, dass uns Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts raten, wir sollten uns im Zweifel nicht an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts halten. Der Minister hat damit eine Tatsache berichtet, nämlich dass er von - sogar mehreren - Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts den Rat erhalten habe, sich nicht an das zu halten, was sie judiziert haben. Im Grunde steht dahinter die Aussage: Die dritte Gewalt rät mir als Exekutive, einfach über ihre Urteile hinwegzugehen und sie nicht zu beachten. Das ist ja nun kein Allerweltsvorgang, mein lieber Herr Staatssekretär, sondern eine schwerwiegende Behauptung, die der Bundesinnenminister in den Raum gestellt hat. Ich frage deshalb: Welcher oder welche Bundesverfassungsrichter haben ihm denn diesen Rat gegeben?

Peter Altmaier (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002617

Herr Kollege Wieland, wenn der Bundesinnenminister vorgehabt hätte, über das Gesagte hinaus konkreter zu werden, hätte er dies sicherlich in der von Ihnen angesprochenen Bundestagsdebatte getan. ({0}) Im Übrigen verweise ich auf einschlägige Presseveröffentlichungen, die zeigen, dass sich auch Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts in den vergangenen Monaten und Jahren an öffentlichen Debatten beteiligt haben. Die dürften Ihnen auch zugänglich sein. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Haben Sie eine weitere Frage, Herr Kollege?

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Viele Fragen, aber leider keine Antworten. Der Presse nach war der geschätzte Herr Bundesinnenminister höchstselbst in Karlsruhe beim Bundesverfassungsgericht und hat dort versucht - ich sage es jetzt einmal mit meinen Worten -, den Richterinnen und Richtern klarzumachen, welche Auswirkungen deren Rechtsprechung auf die innere Sicherheit in diesem Land habe. Ist im Rahmen dieser Besprechung der Ratschlag „Dann halten Sie sich doch einfach nicht an das, was wir in unsere Urteile schreiben“ erfolgt? Wo kommt der Ratschlag her? Wenn er es gesagt hätte, hätte ich es gehört. Er hat es aber nicht gesagt. Sie sind sein Interpret und sozusagen sein berufener Sprecher. Nun sagen Sie es uns doch! Woher und von wem kommt dieser Ratschlag?

Peter Altmaier (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002617

Herr Kollege Wieland, Sie beziehen sich auf die Unterredung, die Mitglieder der Bundesregierung mit Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts vor einigen Wochen in Karlsruhe geführt haben. Sie wissen so gut wie ich, dass der Charakter dieser Unterredung vertraulich war. Deshalb werden Sie verstehen, dass ich nicht vorhabe, aus dieser Unterredung zu zitieren. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Die Frage 15 des Kollegen Volker Beck ({0}) wird schriftlich beantwortet. Damit rufe ich die Frage 16 der Kollegin Petra Pau auf: Wie geht die Bundesregierung mit der Tatsache um, dass das sachsen-anhaltinische Landeskriminalamt und Mitarbeiter des dortigen Innenministeriums die Zahlen rechtsextrem motivierter Straftaten bewusst geschönt haben, indem man rechtsextreme Straftaten wie „Hakenkreuzschmierereien“ und „Sieg-Heil“-Rufe nicht mehr als solche einstufte und damit die Statistik zumindest für das Jahr 2007 um 200 Fälle senkte?

Peter Altmaier (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002617

Frau Kollegin Pau, ich kann dazu sagen, dass die abschließende Bewertung einer Tat als politisch motivierte Straftat und ihre Zuordnung zu einem der Phänomenbereiche dem jeweils zuständigen Landeskriminalamt obliegt und dass die Fachaufsicht über die Landeskriminalämter, wie Sie wahrscheinlich wissen, nicht die Bundesregierung, sondern das jeweils zuständige Landesinnenministerium ausübt. Deshalb möchte die Bundesregierung diesen Vorgang nicht kommentieren.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Eine Nachfrage, Frau Kollegin?

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja; danke, Frau Präsidentin. Herr Staatssekretär, mir ist natürlich bekannt, wer die Fachaufsicht hat. Aber nun ist dieses Landeskriminalamt - wie die Landeskriminalämter der übrigen Bundesländer - für Sie sozusagen Zulieferer des entsprechenden statistischen Zahlenmaterials, von dem Sie ausgehen, wenn Sie zum Beispiel mir monatlich die Antwort auf meine Kleine Anfrage zum Thema „rechtsextrem motivierte Straf- und Gewalttaten“ zustellen. Deshalb wiederhole ich meine Frage: Wie geht die Bundesregierung mit der nun offenkundigen Tatsache um, dass im Land Sachsen-Anhalt und nach Behauptungen des Sprechers des Innenministeriums des Landes Sachsen-Anhalt auch in anderen Bundesländern zumindest im Jahre 2007 die Anzahl dieser Straftaten verfälscht wurde? Denn in der Konsequenz müssen Sie ja auch mir falsche Antworten gegeben haben.

Peter Altmaier (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002617

Frau Kollegin, ich denke, dass sich die Antwort auf Ihre Frage aus der Antwort auf die Frage 17, die Sie gestellt haben, ergibt.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Dann rufe ich hiermit zugleich die Frage 17 der Kollegin Petra Pau auf: Welche Initiativen hat die Bundesregierung im Rahmen der Innenministerkonferenz ergriffen, um zu verhindern, dass die Verfahrensregelungen zur Erfassung rechtsextrem motivierter Straftaten von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Landes- und Bundesbehörden verletzt werden, weil man sich gegen „Fehlinterpretationen und ungerechtfertigte Bewertungen“ schützen wolle?

Peter Altmaier (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002617

Hierzu kann ich Ihnen sagen, dass die Frage der Einstufung als politisch motivierte Kriminalität wiederholt Gegenstand der Beratungen der IMK und der nachgeordneten Gremien gewesen ist. Vor allem in der eigens zu diesem Zweck geschaffenen und regelmäßig tagenden Arbeitsgruppe „Qualitätskontrolle PMK“ - politisch motivierte Kriminalität - werden festgestellte Einzelprobleme erörtert und Lösungsvorschläge erarbeitet. Dieses Gremium hat seit seiner Gründung bereits über 20 Mal getagt, und dort wird über diese Fragen, die Sie ansprechen, intensiv diskutiert. In all diesen Gremien und auch in dieser Arbeitsgruppe wurde und wird seitens des Bundesinnenministeriums bzw. des Bundeskriminalamtes die Zielsetzung verfolgt, bei den Ländern auf eine einheitliche Anwendung des Definitionssystems „politisch motivierte Kriminalität“ hinzuwirken. Das ist die Absicht der Bundesregierung, und dafür setzen wir uns auch ein. Das ändert aber nichts daran, dass die Kompetenzen in diesen Fragen bei den Ländern liegen. Das heißt, auch diese Arbeitsgruppe kann keine verbindlichen Beschlüsse fassen; sie kann nur versuchen, durch ständige Diskussionen auf eine gemeinsame, einheitliche Praxis hinzuwirken.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ihre weitere Frage.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Zum Thema Qualitätskontrolle. Ist Ihnen denn im Rahmen dieser regelmäßigen Beratungen bekannt ge13842 worden, in welchen weiteren Bundesländern es in diesem Jahr oder in den vergangenen Jahren eventuell Probleme mit der Zuordnung solcher Straftaten gegeben hat? Gibt es auch eine Aussage dazu, wie viele Straftaten auf diese Art und Weise wahrscheinlich nicht in die Statistik gelangt sind?

Peter Altmaier (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002617

Nein. Ich kann Ihnen keine Zahlenangaben machen. Wir haben allerdings sehr oft Diskussionen darüber, wie Straftaten einzuordnen sind, wenn sie anonym begangen werden. Hier gibt es durchaus leichte Unterschiede in der Praxis einzelner Bundesländer. Es ist ja gerade das Ziel dieser Arbeitsgruppe, diese Unterschiede so weit wie möglich zu reduzieren. Ganz ausschließen kann ich aber nicht, dass es hier im Einzelfall zu unterschiedlichen Bewertungen gekommen ist. Mir liegen aber keine Zahlen vor.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Wenn ich das richtig gehört habe, dann haben Sie schon auf die Frage 17 der Kollegin Petra Pau geantwortet. Sie hat aber noch die Möglichkeit, Zusatzfragen zu stellen.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Genau. Ich danke. - Sie haben gerade noch einmal auf das Problem der anonymen oder vielleicht nicht ganz zuzuordnenden Straftaten aufmerksam gemacht. In dem Zusammenhang stelle ich meine Nachfrage. In Ihrer Antwort auf eine Anfrage von mir haben Sie mitgeteilt, dass in den Jahren 2002 bis heute zum Beispiel 237 Schändungen von jüdischen Friedhöfen nicht Eingang in diese Statistik gefunden haben. Hat im Rahmen der Beratungssitzung Ihrer Arbeitsgruppe auch die Frage eine Rolle gespielt, auf welche Art und Weise solche zumindest zu vermutenden antisemitisch motivierten Straftaten in Zukunft Eingang in die Statistik finden können, um sich etwas genauer mit der Situation vertraut machen zu können?

Peter Altmaier (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002617

Das ist ja das Problem, das ich bereits angesprochen hatte. Bei bestimmten Propagandadelikten - insbesondere bei der Verbreitung und Verwendung verbotener nationalsozialistischer Symbole, wie zum Beispiel Hakenkreuze und SS-Runen - ist die Frage, ob diese immer, ständig und regelmäßig dem Phänomenbereich „PMK rechts“ zuzuordnen sind, sofern keine gegenteiligen Hinweise zur Tätermotivation vorliegen, oder ob man dies nicht generell, sondern nur dann tun kann, wenn Hinweise auf die Tätermotivation vorliegen. Ansonsten gibt es nämlich auch die Möglichkeit einer Tatbegehung durch schuldunfähige Personen, zum Beispiel durch Kinder oder geistig Verwirrte. Darüber ist in dieser Arbeitsgruppe wiederholt und mehrfach diskutiert worden. Die Diskussionen haben aber noch nicht zu einem abschließenden Ergebnis geführt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Weitere Zusatzfrage?

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, ich habe noch eine weitere Zusatzfrage. - Wie Sie wissen, stellen meine Fraktion und ich diese Anfragen nicht aus Lust am Zahlenmaterial, sondern weil wir auf der Grundlage der Auskünfte, die uns die Bundesregierung gibt, versuchen wollen, einen Befund über die tatsächliche Situation in diesem Bereich zu erhalten, um dann darüber zu debattieren, wie man gegen rechtsextrem oder antisemitisch motivierte Straf- und Gewalttaten vorgehen bzw. Prävention betreiben kann. Deshalb frage ich die Bundesregierung: Haben die vorliegenden Statistiken - seien die Zahlen nun zu niedrig oder richtig - bei der Vergabe der Mittel aus dem Bundesprogramm zur Stärkung von Demokratie und Toleranz sowie zur Unterstützung von mobilen Beratungsteams und Initiativen vor Ort eine Rolle gespielt?

Peter Altmaier (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002617

Ich kann Ihnen diese Frage leider nicht aus dem Kopf beantworten. Ich biete Ihnen aber an, dass wir Ihnen eine schriftliche Antwort zukommen lassen.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Dazu gibt es jetzt noch eine Zusatzfrage des Kollegen Kurth. - Bitte schön.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nur zur Klärung, ob ich das eben richtig verstanden habe: Hält es die Bundesregierung tatsächlich für möglich, dass eine so große Anzahl von Propagandadelikten, wie Hakenkreuzschmierereien, von, wie Sie es nennen, sogenannten geistig Verwirrten und Kindern verübt wird, sodass allen Ernstes überlegt wird, diese Propagandadelikte nicht in die Statistik für politisch motivierte Straftaten aufzunehmen? ({0})

Peter Altmaier (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002617

Herr Kollege Kurth, Sie sollen schon den Versuch unternehmen, mir genau zuzuhören. Genau das, was Sie unterstellen, habe ich nämlich nicht gesagt.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Darum frage ich ja.

Peter Altmaier (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002617

Ich habe darauf hingewiesen, dass es in der von mir zitierten Arbeitsgruppe der IMK Diskussionen zu dieParl. Staatssekretär Peter Altmaier sem Thema gegeben hat. Die Bundesregierung hat die Auffassung, die Sie zitieren, nicht vertreten.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun ist dieses Missverständnis hoffentlich auch ausgeräumt. ({0}) Dann sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. Ich bedanke mich beim Kollegen Altmaier. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen auf. Zur Beantwortung steht die Parlamentarische Staatssekretärin Nicolette Kressl zur Verfügung. - Ich begrüße Sie. Ich rufe zunächst die Frage 18 des Kollegen Dr. Diether Dehm auf: Wie beurteilt die Bundesregierung die aktuelle Debatte im Europäischen Rat zur Verlängerung der Ausnahmegenehmigungen für die ermäßigte Mehrwertsteuer für die nach dem 1. Mai 2004 der Europäischen Union beigetretenen Mitgliedstaaten, und wird die Bundesregierung die Verlängerung unterstützen?

Nicolette Kressl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002706

Ich beantworte Ihre Frage wie folgt: Der Ecofin-Rat hat sich am 4. Dezember dieses Jahres politisch auf die Verabschiedung des angesprochenen Richtlinienvorschlags verständigt. Die formale Verabschiedung muss noch erfolgen. Dies wird geschehen, sobald die noch ausstehende Stellungnahme des Europäischen Parlaments vorliegt. Ich will zusätzlich darauf hinweisen, dass das Bundesministerium der Finanzen eine von der Kommission angestrebte breite politische Diskussion über die Sinnhaftigkeit und damit sicherlich auch über die Ausgestaltung des Systems der ermäßigten Mehrwertsteuersätze begrüßt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Dehm.

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Staatssekretärin, als Bundesvorsitzender des Unternehmerverbands OWUS werde ich immer wieder mit der Frage gelöchert, was noch mehr zu tun sei, um im Bereich des kleinen Handwerks und der kleinen Dienstleistungen zu einem Mehrwertsteuersatz von nur 7 Prozent statt 19 Prozent zu kommen; denn das wäre gut für die Arbeitsplätze und die Binnennachfrage und würde zur Bekämpfung der Schwarzarbeit beitragen. Wie ist die Haltung der Bundesregierung dazu?

Nicolette Kressl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002706

Herr Kollege Dehm, Sie haben in Ihrer Frage unterstellt, dass ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz - ich beziehe mich dabei nicht auf Handwerkerleistungen; vielmehr geht es im Zweifel um die sogenannten arbeitsintensiven Dienstleistungen - sehr starke positive Auswirkungen ökonomischer Art hätte. Dazu hat ein Experiment mit einer entsprechenden Auswertung stattgefunden. Vor dieser Auswertung gab es sehr viel Euphorie. Danach - das ist nachzulesen - ist eine relativ starke Ernüchterung eingetreten. Die neutrale Auswertung hat zu dem Ergebnis geführt, dass die nachhaltigen und positiven ökonomischen Wirkungen so nicht eingetreten sind. Daraus schließt die Bundesregierung, die solche Auswertungen sehr ernst nimmt, dass es keinen Sinn macht, die steuerlichen Mindereinnahmen und die positiven arbeitsmarktpolitischen Wirkungen gegeneinander abzuwägen und auf den ermäßigten Mehrwertsteuersatz zu setzen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Kollege Dehm.

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Staatssekretärin, obwohl die Europäische Kommission eine ausdrücklich positive Stellungnahme zur Verlängerung der Richtlinie für einen ermäßigten Steuersatz für 17 Mitgliedstaaten abgegeben hat, lehnt die Bundesregierung offensichtlich eine entsprechende Umsetzung ab. Für bestimmte arbeitsintensive Dienstleistungen wie die Renovierung von Privatwohnungen, Frisördienste, die Reinigung von Fenstern, die häusliche Pflege und kleine Reparaturarbeiten gibt es in vielen europäischen Staaten ermäßigte Steuersätze. Länder wie Frankreich, Belgien, Spanien und Großbritannien haben mit dieser Regelung sehr gute Erfahrungen gemacht. Polen, die Tschechische Republik und Ungarn haben diese Regelung neu eingeführt. In Gesprächen mit Kleinunternehmern in Ostfriesland wurde ich kürzlich gefragt, ob es nicht ein Nachteil für andere europäische Konkurrenten sei, wenn wir bei uns keinen Wert auf den ermäßigten Mehrwertsteuersatz legten bzw. diese Diskussion vernachlässigten, während andere sie intensivieren. Die Franzosen etwa sind weit davon entfernt, den Rotwein und die Gastronomie davon auszunehmen.

Nicolette Kressl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002706

Herr Kollege Dehm, ich fürchte, Sie verwechseln zwei Dinge. Das eine ist die Stellungnahme zur Verlängerung der ermäßigten Mehrwertsteuersätze für die ab 2004 beigetretenen Mitgliedstaaten. Das andere ist der Versuch des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes für arbeitsintensive Dienstleistungen, auf den Sie sich eben bezogen haben. Dies sind keineswegs gleiche Tatbestände. Zum ermäßigten Mehrwertsteuersatz für arbeitsintensive Dienstleistungen habe ich Sie auf die Auswertung hingewiesen - Sie können das sicherlich nachlesen -, die ausdrücklich nicht zu einem so positiven Ergebnis kommt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich rufe die Frage 19 des Kollegen Dehm auf: Präsident Dr. Norbert Lammert Wie beurteilt die Bundesregierung die Einschätzung vieler Wirtschaftswissenschaftler, dass durch die Ausweitung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes deutliche Effekte für eine Vergrößerung der Kaufkraft und damit zusätzliche Anreize zur Verbesserung der wirtschaftlichen Entwicklung erreicht werden könnten, und sieht die Bundesregierung aus dieser Einschätzung heraus Handlungsbedarf, den ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf Reparaturdienstleistungen und für reparierte Ersatzteile in den Bereichen Pkw, Haushaltsgeräte und Rundfunkgeräte auszudehnen?

Nicolette Kressl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002706

Die Antwort dazu lautet: Die Bundesregierung lehnt die Einführung weiterer ermäßigter Mehrwertsteuersätze unter Abwägung beschäftigungs-, wettbewerbs- und finanzpolitischer sowie verwaltungstechnischer Gründe ab. Sie bezweifelt, dass durch die Einführung ermäßigter Mehrwertsteuersätze die beabsichtigten Lenkungswirkungen zum Erreichen der angestrebten Ziele tatsächlich realisiert werden können. Dies wird durch den Bericht der Kommission zu dem Experiment „Ermäßigter Mehrwertsteuersatz auf arbeitsintensive Dienstleistungen“ - das hatte ich bereits in der Antwort auf die Zusatzfragen erwähnt - aus dem Jahre 2003 sowie durch die der Mitteilung der Kommission vom 5. Juli 2007 über vom Normalsatz abweichende Mehrwertsteuersätze zugrunde liegende Analyse des Forschungsinstituts Copenhagen Economics bestätigt. Daraus ergibt sich eindeutig, dass durch die Einführung ermäßigter Mehrwertsteuersätze keine Lenkungswirkung erzielt werden kann, da die Weitergabe der steuerlichen Ermäßigungen an die Verbraucher von staatlicher Seite nicht sichergestellt werden kann. Darüber hinaus wird deutlich, dass die mit der Ermäßigung verbundene Preissenkung selbst bei Weitergabe oft zu gering ist, um dadurch positive Lenkungsimpulse zu erzielen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte schön.

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich kann nicht verstehen, dass zum Beispiel Mitglieder der Kfz-Innung Niedersachsen darauf beharren, während Sie Experten zitieren, die die Differenz zwischen 7 und 19 Prozent als überhaupt nicht relevant ansehen. Ich weiß auch nicht, welche Grundrechenarten dieser Expertise zugrunde liegen. Ich habe eine Nachfrage vor dem Hintergrund der Debatten von Bali. Wäre es nicht ein guter Ansatz, wenn wir eine Offensive für Reparaturfreundlichkeit starten würden, bei der bei Pkw, Fernsehgeräten oder Kühlschränken das defekte Teil nicht gegen ein anderes ausgewechselt würde, mit der Folge, dass Müll anfällt, Stoff verbraucht wird und Material mit Lastwagen über Tausende von Kilometern unter erheblichem CO2-Ausstoß hin und her gefahren würde? Wäre es nicht ein guter Ansatz, wenn wir gesetzlich darauf hinwirkten, dass reparaturfreundlicher produziert und dem Reparaturhandwerk ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz gegeben wird, wie es andere Länder in den erlaubten Teilbereichen auch tun? Würden wir damit nicht viel von dem erreichen, was wir mit Blick auf die Umwelt wollen? Wir sollten nicht nur eine Offensive für erneuerbare Energien, sondern auch eine Offensive für erneuerbare Stoffe machen, um damit in der mittelständischen Wirtschaft für Effekte zu sorgen.

Nicolette Kressl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002706

Sehr geehrter Herr Kollege Dehm, ich befürchte, dass zur Bewertung von ökonomischen Wirkungen etwas mehr als Grundrechenarten gehören. Genau dieses können Sie in diesem Bericht, den ich jetzt zum dritten Mal erwähne, nachlesen. Dort wird ausgeführt, dass genau die Wirkungen ökonomischer Art so nicht eingetreten sind, auch nicht bezogen auf den Arbeitsmarkt. Zusätzlich möchte ich darauf hinweisen - das hatte ich in der Antwort zu Ihrer Frage 19 schon erwähnt -, dass es für uns keine Möglichkeit gibt, zu kontrollieren, ob und in welcher Form der ermäßigte Mehrwertsteuersatz tatsächlich an die Verbraucherinnen und Verbraucher weitergegeben wird. Insofern bitte ich Sie, erstens ein bisschen mehr als Grundrechenarten anzuwenden, und zweitens können wir Ihnen gerne noch einmal die Quelle für den Kommissionsbericht nennen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Weitere Zusatzfrage.

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Staatssekretärin, ich wäre froh, wenn Sie mir diese Expertise geben würden. Mich würde aber auch sehr interessieren, wie Sie sich das erklären, was Sie hier ausführen. Wenn ich Sie richtig verstehe, dann wollen Sie damit sagen, dass es hier einen Mitnahmeeffekt gibt. Sie können das gerne durch Kopfnicken bestätigen, sodass ich meine Frage weiter ausdehnen kann. Das heißt, beim Handwerksbetrieb gibt es einen Mitnahmeeffekt, der nicht an den Kunden weitergegeben wird. Dieselben, die das bei Konzernen und Banken als nonchalant bezeichnen, kritisieren die Nichtweitergabe an den Kunden beim Handwerksbetrieb. Ist es jedoch nicht auch bei einem Handwerksbetrieb von großem Vorteil, wenn er das in Arbeitsplätze umsetzt und der Betrieb dadurch nicht von Insolvenz bedroht wird? Hätte es, selbst wenn es so wäre, wie Sie sagen, nicht auch für die Klein- und Kleinstbetriebe - die KMU in Europa besteht zu über 85 Prozent aus Kleinstbetrieben - immer noch einen positiven Effekt?

Nicolette Kressl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002706

Herr Kollege Dehm, ich kann mich sehr gut an die Debatte erinnern, die ich persönlich als Abgeordnete mit den Vertretern und Vertreterinnen des Handwerks geführt habe, bevor die Auswertung des Experiments zum Beispiel in Frankreich - mein Wahlkreis liegt an der Grenze zu Frankreich; daher habe ich die Debatten sehr oft geführt - vorlag. Da herrschte viel Euphorie. Die Auswertung hat, wie bereits erwähnt, zu einer gewissen Ernüchterung geführt. Ihre vorsichtig geäußerte Unterstellung, ich hätte gesagt, das werde nie weitergegeben, stimmt nicht. Ich habe lediglich darauf hingewiesen, dass wir mit Steuermindereinnahmen rechnen und deswegen vorsichtig sein müssen und dass wir gleichzeitig nicht die Möglichkeit haben, staatlich zu kontrollieren bzw. zu lenken, in welcher Form und in welcher Höhe der ermäßigte Mehrwertsteuersatz weitergegeben wird. Ich persönlich und die Bundesregierung sehen jedenfalls die Notwendigkeit, auf eine nachhaltige und effiziente Wirkung zu achten. Aber das können wir in diesem Fall, bei Steuermindereinnahmen, nicht garantieren.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun hat der Kollege Thiele eine Zusatzfrage.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Staatssekretärin, es gibt den normalen und den ermäßigten Mehrwertsteuersatz. Es gibt aber auch Leistungen in unserem Lande, die gar nicht besteuert werden. Ich frage Sie, wie Sie die Tatsache bewerten, dass auf die Leistungen, die die Deutsche Post AG erbringt, gar keine Mehrwertsteuer erhoben wird, und wie hoch Sie den daraus resultierenden Steuerausfall schätzen. Da diese Frage für Sie möglicherweise etwas überraschend ist, wäre ich einverstanden, wenn Sie Ihre Antwort schriftlich nachreichen.

Nicolette Kressl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002706

Herr Thiele, die Zahlen reiche ich Ihnen gerne nach. Ich weise allerdings darauf hin, dass dies bereits ein Tagesordnungspunkt auf der Sitzung des Finanzausschusses heute Morgen war. Es gab zwar zeitliche Probleme, aber dort hätte diese Frage eigentlich ihren Platz gehabt. Nichtsdestotrotz werden wir die Zahlen gerne nachreichen. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Wir sind uns über das Prozedere einig. - Weitere Zu- satzfragen zu Frage 19 habe ich nicht registriert. Die Frage 20 der Abgeordneten Christine Scheel und die Frage 21 des Kollegen Dr. Gerhard Schick aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen werden schriftlich beantwortet. Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie. Die Frage 22 des Abgeordneten Ernst Burgbacher, die Fragen 23 und 24 des Abgeordneten Jürgen Koppelin, die Frage 25 der Abgeordneten Christine Scheel, die Frage 26 des Abgeordneten Hans-Kurt Hill1) sowie die Fragen 27 und 28 des Kollegen Manfred Kolbe werden schriftlich beantwortet. Das sind alle Fragen aus diesem Geschäftsbereich. 1) Die Antwort lag bei Redaktionsschluss nicht vor und wird zu einem späteren Zeitpunkt abgedruckt. Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Freundlicherweise ist die Parlamentarische Staatssekretärin Ursula Heinen erschienen, um die Fragen zu beantworten. Ich rufe die Frage 29 der Kollegin Cornelia Behm auf: Welche Rolle spielte der Marine Stewardship Council, MSC, als weltweit bisher umfassendstes Zertifizierungssystem für eine nachhaltige Meeresfischerei im Rahmen des runden Tisches zur Fischerei am 21. November 2007 in Bonn ({0})? Bitte, Frau Staatssekretärin.

Ursula Heinen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003143

Kollegin Behm, ich teile Ihnen mit, dass der MSC am runden Tisch aktiv teilgenommen hat und in einem einführenden Vortrag die eigene Organisation, insbesondere den Aspekt der Rückverfolgbarkeit im Zertifizierungssystem des MSC, vorgestellt hat. Im Mittelpunkt des runden Tisches zur Fischerei stand die Frage, wie Verbraucherinnen und Verbraucher über eine gezielte Nachfrage nach nachhaltig gewonnenen Fischereierzeugnissen zu einer nachhaltigeren und ökosystemverträglicheren Nutzung der weltweiten Fischbestände beitragen und dadurch die direkt bei der Fischerei ansetzenden Erhaltungsmaßnahmen unterstützen können. Die Teilnehmer waren sich einig, dass Ökokennzeichen wie das des MSC hierzu einen wichtigen Beitrag leisten können und dass mit einer weiteren Zunahme des Marktanteils ökozertifizierter Fischereierzeugnisse zu rechnen ist.

Cornelia Behm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003500, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Könnten Sie meine Fragen 29 und 30 im Zusammenhang beantworten?

Ursula Heinen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003143

Ja.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Dann rufe ich die Frage 30 der Kollegin Cornelia Behm auf: In welcher Weise unterstützt die Bundesregierung den MSC, insbesondere bei der Steigerung seines Bekanntheitsgrades? Bitte, Frau Staatssekretärin.

Ursula Heinen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003143

Wir haben im Rahmen einer in Auftrag gegebenen Studie festgestellt, dass zu den Chancen der Ökokenn13846 zeichnung für die deutsche Fischerei 12 Prozent der Befragten angaben, den MSC zu kennen. Die Steigerung des Bekanntheitsgrades wird von der Bundesregierung unterstützt, indem wir regelmäßig in Pressemitteilungen, verschiedenen Publikationen sowie im Internet auf den MSC hinweisen. Auf einer vom Bundesumweltministerium geplanten Konferenz zum Thema „Initiative Artenschutz - Ökozertifizierung in der Fischerei“, die im Februar 2008 stattfinden soll, wird der MSC einen der Schwerpunkte darstellen. Außerdem wirbt die Bundesregierung seit längerem in Gesprächen mit den Vertretern der deutschen Fischerei dafür, eine Zertifizierung vorzunehmen bzw. zu erwägen. Die MSC-Zertifizierung der deutschen Seelachsfischerei wird voraussichtlich in den kommenden Monaten abgeschlossen werden. Eine direkte finanzielle Unterstützung, Kollegin Behm, ist bisher allerdings nicht erfolgt. Die Steigerung des Bekanntheitsgrades der MSC-Produkte setzt voraus, dass genug Produkte im Handel erhältlich sind. Das ist in Deutschland allerdings erst seit dem Jahr 2005 der Fall, nachdem der MSC auch Fischprodukte größerer Fischereien wie Alaska-Seelachs - mit einem Anteil von immerhin rund 25 Prozent die wichtigste Fischart für den deutschen Markt -, südafrikanischen Seehecht und Nordseehering zertifizieren konnte. Wir sind froh darüber, dass immer mehr Verarbeitungsund Handelsunternehmen seitdem das Label des MSC verwenden. Sie sehen also, dass wir uns nachhaltig dafür einsetzen, dass dieses Zertifizierungssystem bekannt wird und in der Öffentlichkeit entsprechend genutzt und wahrgenommen wird.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Sie haben das Wort zu Ihrer ersten Nachfrage. Bitte schön, Frau Behm.

Cornelia Behm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003500, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank für die Antwort. - Ich habe den runden Tisch zur nachhaltigen Fischerei mit Interesse verfolgt. Ich denke, das ist eine sehr gute Initiative. Ich bin nur über Ihre Angaben erstaunt. Sie sagen: 12 Prozent der Befragten kennen das MSC-Siegel. Meine Erfahrungen sind sehr viel schlechter, auch wenn ich zuletzt wiederholt erstaunt feststellen konnte, dass in Supermärkten, sogar in Discountern, MSC-zertifizierte Ware zu finden ist. Es geht darum, Produkte der nachhaltigen Meeresfischerei bekannter zu machen. Beabsichtigt die Bundesregierung oder Ihr Haus angesichts der Tatsache, dass das nächste Jahr durch COP 9, Biodiversität, gekennzeichnet ist, im Rahmen der Grünen Woche dazu in der BMELV-Halle einen Schwerpunkt zu setzen?

Ursula Heinen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003143

Ich kann Ihnen im Augenblick nicht sagen, ob wir das für die Grüne Woche schon geplant haben. Ich nehme Ihre Anregung aber sehr gern in unser Haus mit, um auch dort darauf hinzuweisen, wie wichtig dieses Thema ist. Uns helfen natürlich auch, was den Bekanntheitsgrad angeht, die Presseveröffentlichungen über nachhaltigen Fischfang, die es in den vergangenen Monaten gegeben hat. Um zu Ihrer Eingangsbemerkung zurückzukommen: Ich kann mir durchaus vorstellen, dass der Bekanntheitsgrad des Labels mittlerweile größer als 12 Prozent ist. Wie gesagt, ich nehme Ihre Anregung, auch dies zum Thema auf der Grünen Woche zu machen, in unser Haus mit.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Eine zweite Zusatzfrage, Frau Behm.

Cornelia Behm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003500, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Pressemitteilung zum runden Tisch endete damit, dass es nunmehr konkrete Vorschläge zur Kennzeichnung von Fisch aus nachhaltiger Fischerei geben soll. Die einzelnen Beteiligten wollten entsprechende Vorschläge vorlegen. Gibt es seitens des BMELV schon etwas, was man auf den Tisch legen kann?

Ursula Heinen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003143

Das gibt es zurzeit noch nicht. Aber es sind zwei Arbeitsgruppen unter unserem Vorsitz eingerichtet worden. Sie sollen sich zum einen mit dem Thema „Mindestkriterien für eine Ökokennzeichnung“ und zum anderen mit der ganz entscheidenden Frage der Möglichkeit von Herkunftsangaben beschäftigen. Es wird noch ein paar Monate dauern, bis Vorschläge auf dem Tisch liegen. Wir werden Sie im Ausschuss oder hier sehr zeitnah darüber unterrichten.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ihre dritte Zusatzfrage, Frau Behm.

Cornelia Behm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003500, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ist es vorgesehen, einen weiteren runden Tisch zur nachhaltigen Meeresfischerei durchzuführen? Wenn ja, können Sie schon einen etwaigen Termin benennen?

Ursula Heinen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003143

Darüber kann ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt noch nichts sagen. Dies hängt zum einen im Wesentlichen davon ab, welche Ergebnisse die beiden Arbeitsgruppen erzielen. Zum anderen hängt es davon ab, wie sich der internationale Fischfang weiterentwickelt, Stichwort „illegaler Fischfang“, welche Konsequenzen es gibt und welche Möglichkeiten wir auf internationaler Ebene haben, den illegalen Fischfang bzw. die Überfischung einzudämmen. Das alles spielt eine Rolle dabei, wie wir mit dem runden Tisch weiter umgehen. Ich persönlich kann mir durchaus vorstellen, ihn noch einmal zusammenzurufen; schließlich ist es ein Erfolg gewesen, darüber so zu beraten und Kennzeichnungssysteme bekannt zu machen. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das ist doch mal was - verglichen mit den in solchen Zusammenhängen häufigeren Beschwerden. Die Frage 31 der Kollegin Dr. Kirsten Tackmann wird schriftlich beantwortet. Ich rufe die Frage 32 der Kollegin Mechthild Rawert auf: Was hat die Bundesregierung seit dem Auslaufen der Walfangflotte Japans am 18. November 2007 unternommen, um die japanische Regierung von ihrem Vorhaben abzubringen, bis zu 935 Zwergwale, 50 Finnwale und 50 Buckelwale in dieser Saison unter dem Deckmantel des „wissenschaftlichen Walfanges“ zu töten?

Ursula Heinen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003143

Auf Ihre Frage, Kollegin Rawert, teile ich Ihnen mit: Nach den vorliegenden Informationen sieht das japanische Walfangprogramm vor, dass bis Mitte April 2008 rund 1 000 Wale gefangen und getötet werden, darunter 850 Zwergwale, 50 Buckelwale und 50 Finnwale. Die Bundesregierung setzt sich für einen konsequenten Schutz der Walbestände ein und fordert im Einklang mit anderen Walschutzländern in der Internationalen Walfang-Kommission, dass das seit 1986 bestehende Moratorium aufrechterhalten wird. Dies entspricht auch den einstimmigen Voten des Deutschen Bundestages, an denen Sie, Kollegin Rawert, in den letzten Jahren sehr aktiv mitgewirkt haben. Deutschland und andere Walschutzländer haben bei der letzten IWC-Jahrestagung erneut ihre ablehnende Haltung zu den wissenschaftlichen Walfangaktivitäten Japans, aber auch Norwegens und Islands zum Ausdruck gebracht. Daraufhin wurde bei dieser Jahrestagung eine Resolution verabschiedet, in der die Fragwürdigkeit der japanischen Programme erneut betont und Japan aufgefordert wird, auf diesbezügliche Programme zu verzichten. Gleich nach Bekanntwerden der diesjährigen japanischen Walfangaktion hat Deutschland ein Gespräch mit Vertretern des zuständigen japanischen Ministeriums und der dortigen Fischereibehörden geführt. Japan ist in der Vergangenheit bereits mehrfach dazu aufgefordert worden, die IWC-Beschlüsse zu respektieren. Die Bundesregierung wird die japanischen Walfangaktivitäten weiterhin intensiv verfolgen. Auf internationaler Ebene hat die erneute Walfangaktion Japans erheblichen Unmut hervorgerufen. Australien, Neuseeland, die USA und die Europäische Kommission haben sich an die japanische Regierung gewandt und ihren Protest gegen diese Aktion zum Ausdruck gebracht. In ihren Äußerungen zeigen sie Betroffenheit, weil diese japanische Walfangaktion die internationalen Anstrengungen unterminiert, Wale zu schützen und die Arten zu bewahren.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte schön, Frau Rawert.

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Staatssekretärin, würden Sie sofort auch die zweite Frage beantworten?

Ursula Heinen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003143

Ja.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Dann rufe ich auch gleich die Frage 33 der Kollegin Rawert auf: Wie beurteilt die Bundesregierung die Tötung von jeweils 50 Finn- und Buckelwalen, obwohl diese Walpopulationen auf der Roten Liste 2007 der World Conservation Union, IUCN, stehen, und was unternimmt die Bundesregierung konkret, um das Aussterben dieser Walpopulationen zu verhindern?

Ursula Heinen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003143

Auf Ihre weitere Frage antworte ich wie folgt: Die Tötung von Finn- und Buckelwalen zu wissenschaftlichen Zwecken verstößt, wie ich es bereits in der Antwort auf Ihre erste Frage gesagt habe, ganz klar gegen den Geist des Walfangmoratoriums der Internationalen Walfang-Kommission, unabhängig davon, dass in der jüngsten Roten Liste Finn- und Buckelwale in der Kategorie „Least Concern“ mit der Anmerkung geführt werden, dass diese Listung überholt sei. Mit der Annahme des Koalitionsantrags vom 10. Mai 2007 mit dem Titel „Schutz der Wale sicherstellen“ hat die Mehrheit des Deutschen Bundestages die Bundesregierung aufgefordert, den Schutz der Wale weltweit voranzubringen und in den laufenden Bemühungen nicht nachzulassen. Den kontinuierlichen Bestrebungen von Walschutzländern einschließlich Deutschlands zur Gewinnung neuer Mitglieder für den Walschutz - dabei sind jetzt auch Ecuador, Griechenland, Kroatien, Slowenien und Zypern - ist es zu verdanken, dass die Walschutzländer ihre nominelle Mehrheit, die sie in den letzten Jahren leider verloren hatten, in diesem Jahr deutlich zurückgewinnen konnten. Durch die Verabschiedung mehrerer Resolutionen konnten klare Zeichen für eine Fortsetzung und Verbesserung des internationalen Schutzes der Wale gesetzt werden. Dazu zählt einmal die Aufrechterhaltung des Moratoriums für den kommerziellen Walfang. Zum anderen konnten die Walschutzländer auch eine Erklärung zur Förderung und Bedeutung der nicht tödlichen Nutzung der Walbestände, insbesondere durch kommerzielle Walbeobachtung, durchsetzen und in einer weiteren Resolution ein wichtiges politisches Signal gegen den sogenannten wissenschaftlichen Walfang Japans geben.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte schön.

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herzlichen Dank für die Beantwortung der Fragen. Meine Nachfragen beziehen sich auf Aspekte der Konkretisierung. Sie haben Ausführungen zur Roten Liste gemacht und darauf hingewiesen, dass Buckel- und Finnwale dort „out of date“ seien. Nichtsdestotrotz gelten sie als gefährdet. Welche Maßnahmen sieht die Bundesregierung vor, um den sogenannten wissenschaftlichen Walfang wirklich griffiger zu sanktionieren? Wir diskutieren in regelmäßigen Abständen immer wieder darüber, dass es durch Japan, Norwegen, Grönland und Dänemark zu Verletzungen kommt. Im anderen Rahmen, zum Beispiel bei Fischereiabkommen, sind Sanktionsmaßnahmen ja auch möglich. Was ist hier getan worden, und was ist möglich?

Ursula Heinen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003143

Zunächst ist es ganz klar, dass wir die Tötung von Walen verurteilen. Es gibt auch keinerlei Ansatzpunkt, das Moratorium aufzuheben. Dafür wäre eine Zweidrittelmehrheit erforderlich; diese ist auch aufgrund der Tatsache, dass sich Deutschland um neue Mitglieder bemüht hat und nunmehr die Mehrheiten eindeutig sind - um es einmal so zu formulieren - nicht in Sicht. Von dieser Seite besteht also keine Gefahr. Von daher können wir den Rahmen schon einmal als gegeben hinnehmen. Bezüglich einer Übertragung der Bestimmungen des Moratoriums auf die Fangquoten für andere Fischarten oder Ähnliches kann ich Ihnen zurzeit keine Auskunft geben. Ich werde diese Frage aber aufnehmen und sie Ihnen anderweitig beantworten.

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke für den Bericht, zumal sich die Rote Liste ja auch auf Natur- und Artenschutz bezieht. Eine weitere Frage zur Konkretisierung, nämlich zu Maßnahmen im Jahre 2008. Selbstverständlich wird wieder die Internationale Walfang-Kommission tagen. Gibt es weitere Aktivitäten oder Vorstellungen der Bundesregierung, wie der Walschutz aktiv vorangetrieben werden kann? Hierzu bietet ja zum Beispiel die Grüne Woche Möglichkeiten.

Ursula Heinen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003143

Zurzeit sind, wenn ich das richtig sehe, auf der Grünen Woche keine weiteren Aktivitäten geplant. Ich rege allerdings an, dass Sie das Thema noch einmal mit in den Ausschuss nehmen, der ja zur Grünen Woche tagen wird. Vielleicht könnten Sie dort als Parlamentarierin noch einmal ein Zeichen gegen den internationalen Walfang setzen, indem sie zum Beispiel einen interfraktionellen Antrag dazu einbringen. Das wäre ja gerade im Vorfeld einer solchen internationalen Messe ein sehr deutliches Zeichen.

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir hatten darüber auch heute Morgen im Ausschuss schon eine sehr intensive Debatte. Es wäre schön, wenn Sie es uns ermöglichen, das Thema auf der Grünen Woche zu diskutieren. Wir als Parlamentarier brauchen natürlich die entsprechenden Gesprächspartner. Danke, dass Sie das mit in Ihr Haus nehmen und sich darum bemühen wollen, dass es uns ermöglicht wird, solche Gespräche mit entsprechenden Gesprächspartnern zu führen. Ich komme noch einmal zurück auf den Begriff des wissenschaftlichen Walfangs. Er wird ja als Schlupfloch benutzt, um letztendlich kommerziellen Walfang zu ermöglichen. Mittlerweile gibt es in Japan im Zusammenhang mit der jetzt laufenden Fangaktion Marketingkampagnen, die zum Beispiel „Wal-Curry“ und Ähnliches bewerben. Was kann getan werden, damit diese Machenschaften auf keinen Fall nach Deutschland übergreifen?

Ursula Heinen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003143

Die Gefahr, dass sie nach Deutschland übergreifen, besteht, wie ich glaube, so nicht. Die Bundesregierung hat sich ja ganz klar gegen den Walfang ausgesprochen, der unter dem Deckmantel des sogenannten wissenschaftlichen Walfangs betrieben wird. Diesen lehnen wir klar ab. Wir setzen uns in allen internationalen Organisationen dafür ein, dass diese unsere Sichtweise international mehrheitsfähig wird. Hier haben wir, wie ich vorhin schon gesagt habe, eine ganze Menge erreicht.

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Behm.

Cornelia Behm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003500, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Staatssekretärin, Sie haben mehrfach betont, dass Sie sich klar gegen den japanischen Walfang aussprechen. Ich denke aber, dass das nicht ausreicht. Man muss Druck ausüben. Wir haben da entsprechende Erfahrungen gemacht. Ich denke zum Beispiel an die jährlich wiederkehrenden Robbentötungen. In diesem Zusammenhang hat der Deutsche Bundestag die Bundesregierung aufgefordert, entweder Aktivitäten auf der europäischen Ebene zu entfalten oder, wenn das zunächst einmal nicht möglich sein sollte, ein Gesetz zu erlassen, das den Handel mit Robbenprodukten verbietet. Ihr Haus hat dann an einem entsprechenden Gesetzentwurf gearbeitet. Der ist leider in der Versenkung verschwunden. Man sagt, Frau Merkel habe nach einem Kanada-Besuch ihr Veto eingelegt. Jetzt frage ich Sie: Hat Ihr Haus vielleicht darüber nachgedacht, im Zusammenhang mit den Waltötungen Japans Sanktionen ähnlicher Art vorzunehmen, oder nimmt man davon Abstand, weil wirtschaftliche Sanktionen einfach nicht infrage kommen?

Ursula Heinen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003143

Zunächst einmal muss ich Sie korrigieren, was Ihre Einschätzung zur Robbenjagd und zum Import von Robbenprodukten nach Deutschland bzw. nach Europa betrifft. Gerade das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz setzt sich nachdrücklich dafür ein, dass der Gesetzentwurf durchkommt. Wir befinden uns zurzeit in der Ressortabstimmung. Es ist für Deutschland, das in europäische und internationale Handelsorganisationen eingebunden ist, nicht einfach, ein solches Importverbot allein zu beschließen. Wir brauchen diesbezüglich die umfangreiche Unterstützung der anderen Ressorts, insbesondere des Wirtschaftsministeriums und des Justizministeriums. Wir sind da auf einem guten Weg. Ich darf Ihnen im Übrigen in Erinnerung rufen, dass - soweit mir bekannt ist - die Niederlande wegen ihres einseitigen Importverbots bereits vor der WTO verklagt worden sind. Wir müssen also sorgfältig vorgehen. Der Gesetzentwurf ist auf einem wirklich guten Weg. Sie können ebenfalls davon ausgehen, dass wir uns beim Thema Walfang nachdrücklich dafür einsetzen, dass die Moratorien eingehalten werden. Inwieweit wir in diesem Bereich gesetzgeberisch tätig werden müssen oder wir in internationalen Organisationen stärker tätig werden sollten, müssen wir noch genauer untersuchen. Wir freuen uns auf weitere Diskussionen darüber mit Ihnen, den Parlamentarierinnen und Parlamentarien.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. Ich bedanke mich bei Ihnen, Frau Heinen. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit auf. Der Parlamentarische Staatssekretär Schwanitz beantwortet die Fragen. Die Frage 34 des Kollegen Ackermann wird schriftlich beantwortet. Ich rufe die Frage 35 des Kollegen Wodarg auf: Wie erklärt sich die Bundesregierung, dass nach Angaben der Deutschen Stiftung Organtransplantation, DSO, im Jahr 2005 an der Charité Berlin von insgesamt 115 Nieren 59 an Privatpatienten transplantiert wurden, dass in Kiel von 22 Nieren 8 an Privatpatienten und von 8 Herzen 3 an Privatpatienten transplantiert wurden und dass in Hannover für das gleiche Jahr die Warteliste für Lungentransplantationen 130 Privatpatienten und nur 38 Kassenpatienten ausweist?

Rolf Schwanitz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002123

Die Organisation der Organentnahme und Organvermittlung ist, wie bereits in der Antwort auf Ihre schriftlichen Fragen 10/91 bis 10/94 dargelegt, in unser Gesundheitssystem integriert. Daher hat nach der Konzeption des Transplantationsgesetzes die Selbstverwaltung - nämlich die Spitzenverbände der Krankenkassen, die Bundesärztekammer und die Deutsche Krankenhausgesellschaft - die Aufgabe, diese zu organisieren. Sie haben die Deutsche Stiftung Organtransplantation als Koordinierungsstelle mit der Organisation der Organentnahme und die Stiftung Eurotransplant mit der Organvermittlung beauftragt. Entsprechend hat die Selbstverwaltung auch die Aufgabe, das Geschehen zu überwachen. Eine Überprüfung der in den Tätigkeitsberichten der Koordinierungsstelle dargestellten Angaben zum Versichertenstatus von Patienten erfolgt derzeit durch die von der Selbstverwaltung eingesetzte Überwachungskommission.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nachfrage? - Bitte schön, Herr Kollege Wodarg.

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dieses Haus hat vor etwa zehn Jahren das Transplantationsgesetz auf den Weg gebracht. Wir haben großen Wert darauf gelegt, dass Transparenz bei der Organentnahme und bei der Organvergabe gewährleistet ist. Wir wollten damit sicherstellen, dass die Organvergabe nicht nach dem Portemonnaie, sondern nur nach der medizinischen Indikation erfolgt. Deshalb haben wir die Auflage gemacht, dass Transparenz über den Versichertenstatus geschaffen wird. Die DSO hat über viele Jahre die entsprechenden Statistiken erstellt. Sind denn die Zahlen, die in meiner Frage genannt werden, nie jemandem aufgefallen? Für diese Zahlen gibt es zwei Erklärungsmöglichkeiten. Zum einen könnte es sein, dass die Zahlen, die uns der gesetzlich Beauftragte liefert, über mehrere Jahre falsch waren. Zum anderen könnte es sein, dass die Zahlen richtig sind. Sie wären dann aber mit der normalen Morbidität in Deutschland nicht zu erklären. Auch die großen Unterschiede zwischen den Transplantationszentren sind nicht zu erklären. Es gibt einige Transplantationszentren, in denen, wie bei der Charité, die Hälfte der Nieren an Privatpatienten vergeben werden. Dies muss doch irgendjemandem aufgefallen sein. Wer hat denn die Aufsicht darüber? Gibt es entsprechende Rückfragen bei den Ländern? Wer ist für die Transparenz, die es in der Umsetzung dieses Bundesgesetzes - das Transplantationsgesetz hat der Deutsche Bundestag auf den Weg gebracht; wir organisieren auch die Werbung für die Organspende - geben soll, verantwortlich? Uns muss doch am Herzen liegen, dass hier Transparenz herrscht. Wenn hier Schmu gemacht wird, können wir uns die großen Plakate sparen.

Rolf Schwanitz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002123

Herr Kollege Wodarg, Sie wissen, dass bei der Konzeption des Transplantationsgesetzes vor nunmehr zehn Jahren die Transplantation als eine gemeinschaftliche Aufgabe der Transplantationszentren und der Krankenhäuser in Deutschland organisiert und so im Gesetz verankert worden ist. Dementsprechend ist die Verantwortlichkeit auf Bundesebene bei den von mir in der Antwort beschriebenen Spitzenorganisationen verankert worden, also bei den Spitzenverbänden der Krankenkassen, der Bundesärztekammer und der Deutschen Krankenhausgesellschaft. Ich halte es für richtig und auch für angezeigt, dass beim kritischen Hinterfragen und bei nicht aus dem Stand zu beantwortenden Fragen zu Zahlen die dafür verantwortlichen Stellen und die dafür verantwortliche Kommission tätig werden. Das ist eingeleitet. Gerade vor dem Hintergrund, dass dies ein so sensibles Feld der gesundheitlichen Versorgung - nicht zuletzt mit unmittelbaren Auswirkungen hinsichtlich Leben und Tod für viele Tausende in unserem Land - ist, werbe ich darum, dass man von vorschnellen Urteilen Abstand nimmt. Wir können darüber ja ganz offen reden. Seit mehreren Wochen nehmen wir einzelne Zahlen zur Kenntnis. Hier geht es um Zahlen von zwei Jahren und von einzelnen Zentren, die die Kommission zu untersuchen hat und über die auch berichtet werden wird. Aber ich halte den Hinweis auf angeblich korrumpierte Transplanteure und käufliche Ärzte nicht für geeignet, die Situation in Deutschland zu beschreiben, im Gegenteil: Erstens müssen diese Zahlen meines Erachtens durch die Kommission aufgeklärt werden. Zweitens kann dies nicht Anlass sein, einen ganzen Berufsstand und die Organtransplantation in Deutschland zu verunglimpfen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Kollege Wodarg.

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nach den Auskünften, die ich bei meinen Recherchen erhalten habe - das sind Auskünfte des Verbandes der privaten Krankenversicherung -, sind die Fallpauschalen zwar immer gleich, wenn den Krankenhäusern die Transplantationen vergütet werden. Dem steht aber die Vergütung der jeweiligen Ärzte gegenüber, die privat liquidieren dürfen. Das ist wahrscheinlich hier mit dem Adjektiv „privat“ gemeint; das muss vielleicht noch geklärt werden, und dafür wäre ich dankbar. Diese Ärzte dürfen, wenn sie es günstig machen, für eine Lebertransplantation - so war die Auskunft - etwas über 7 000 Euro privat liquidieren. Wenn sie den 3,5-fachen Satz nehmen, sind das dann etwas über 10 000 Euro. Hinzu kommen Liquidationsmöglichkeiten für Ärzte, die bei diesen Privatpatienten als Konsiliarärzte zusätzlich hinzugezogen werden. Das ist natürlich ein erheblicher finanzieller Anreiz, den es bei gesetzlich Krankenversicherten, die zur gleichen Zeit auf Organe warten, nicht gibt. Wie wollen Sie sicherstellen und wie genau muss man angesichts der Zahlen, die möglicherweise falsch sind, Ihrer Meinung nach aufpassen, damit der Vorwurf bzw. der Verdacht entkräftet wird, in Deutschland könne es so etwas wie korrumpierte Ärzte geben?

Rolf Schwanitz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002123

Herr Kollege Wodarg, der Gesetzgeber, der Deutsche Bundestag - auch Sie selbst -, hat vor zehn Jahren, was die Sicherstellung im Hinblick auf diese Frage betrifft, zum schärfsten Instrument gegriffen. Er hat im Transplantationsgesetz einen speziellen strafrechtlichen Teil statuiert, der nicht nur ein allgemeines Handelsverbot festlegt, sondern auch sicherstellt, dass die Organvermittlung in Deutschland ausschließlich nach medizinischen Gesichtspunkten und nicht nach finanzieller Potenz der Empfänger, nach Versichertenstatus oder nach anderen Gesichtspunkten erfolgt. Das Ganze ist straf- und bußgeldbewehrt. Deswegen ist es angezeigt, dass man, wenn man konkrete Vorwürfe hat, diese offenlegt und den zuständigen Ermittlungsbehörden, den Staatsanwaltschaften, die Möglichkeit gibt, diesen Dingen nachzugehen. Das ist der Wille des Gesetzgebers gewesen. Ich will Sie ausdrücklich auffordern, wenn Sie über solche Informationen verfügen, diese an die entsprechenden Stellen weiterzugeben.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich rufe die Frage 36 ebenfalls des Kollegen Wodarg auf: Welche Erkenntnisquellen nutzt die Bundesregierung, um sich einen Eindruck über eine medizinisch sachgerechte Praxis bei der Organallokation zu verschaffen, und wie gestaltet die Bundesregierung ihre diesbezügliche Informationspflicht gegenüber dem Deutschen Bundestag?

Rolf Schwanitz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002123

Ich antworte wie folgt: Die Überwachung der ärztlichen Tätigkeit wird in Deutschland durch die Länder und die Selbstverwaltung wahrgenommen. Dies gilt auch für die Transplantationsmedizin. Die Organisation der Vermittlung vermittlungspflichtiger Organe ist nach dem Transplantationsgesetz Aufgabe der Selbstverwaltung. Die Selbstverwaltungspartner haben einen entsprechenden Vertrag mit der Stiftung Eurotransplant als Vermittlungsstelle abgeschlossen. Das Bundesministerium für Gesundheit prüft im Rahmen der Genehmigung dieses Vertrages präventiv, ob die vertraglichen Vereinbarungen zur Organisation der Organverteilung den gesetzlichen Anforderungen genügen. Die Selbstverwaltung überwacht die Einhaltung der vertraglichen Vorgaben zur Organverteilung und -gewinnung. Hierzu wurde gemäß den Verträgen eine Überwachungskommission eingerichtet. Die Bundesregierung informiert den Deutschen Bundestag in vielfältiger Weise, beispielsweise mit dem im nächsten Jahr vorzulegenden Erfahrungsbericht zum Transplantationsgesetz sowie im Rahmen der Beantwortung von parlamentarischen Anfragen.

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Bundesregierung ist ja Aufsichtsbehörde zumindest gegenüber denjenigen gesetzlichen Krankenkassen, die bundesweit organisiert sind, und hat gesetzliche Aufgaben an sie übertragen. Wie sieht denn die Kontrolle dieser Kassen aus, wenn ein Zugriff auf die Länder nicht möglich ist? Ich kann mir aber vorstellen, dass es sinnvoll ist, auch die Länder immer wieder zu fragen, wie es auf Landesebene aussieht. Aber wie sieht es auf Bundesebene aus? Jedes Organ, das falsch alloziert wäre, würde einem Kassenpatienten fehlen. Das heißt, Kassenpatienten würden benachteiligt bzw. schlechter wegkommen. Das sage ich unter der Voraussetzung, dass die Zahlen, die von der DSO angegeben wurden, so stimmen. Kassenpatienten machen 90 Prozent der Versicherten aus. Nur 10 Prozent der Patienten, die Leistungserbringern gegenübertreten, sind Privatversicherte. Die Kassen müssten doch eigentlich ein großes Interesse daran haben und sich engagiert darum kümmern - und dies schon seit zehn Jahren -, dass solche Dinge, die man hier vermuten muss und zumindest als Anfangsverdacht benennen sollte, gar nicht erst vorkommen. Die Bundesregierung als Aufsichtsbehörde gegenüber den Kassen muss sich ja auch für die Versicherten dieser Kassen einsetzen. In welcher Form hat sie das bisher getan? Gibt es schon Berichte, oder ist der Bericht, den wir im Herbst nächsten Jahres erwarten dürfen, der erste seit zehn Jahren?

Rolf Schwanitz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002123

Herr Kollege Wodarg, ich habe jetzt keine genaue Kenntnis darüber, wie viele Berichte sowie mündliche und schriftliche Anfragen in den vergangenen zehn Jahren zu diesem Thema seitens der Bundesregierung erstellt bzw. beantwortet worden sind. Aber das ist mit Sicherheit eine stattliche Zahl. Ich bin gerne bereit, genauere Zahlen schriftlich nachzureichen. Eine Antwort ist ja innerhalb der letzten zwei Wochen in schriftlicher Form auch Ihnen gegenüber erfolgt. Bezogen auf den ersten Teil Ihrer Frage sage ich: Der Gesetzgeber hat sich im Zusammenhang mit dem Transplantationsgesetz vor zehn Jahren intensiv mit dieser Frage befasst. Vor dem Hintergrund der von mir in der Antwort auf Ihre vorangegangene Frage beschriebenen generellen Zuständigkeiten hat er für die Bundesregierung eine präventive Rechtskontrolle statuiert, die sich ausschließlich auf den Vertrag bezieht. Diese Rechtskontrolle gilt bezogen auf die Frage, ob der Vertrag dem geltenden Recht, genauer gesagt, dem Transplantationsgesetz entspricht. Das ist die Rechtskonstruktion des Transplantationsgesetzes, an die wir uns selbstverständlich gebunden fühlen. Sie beschreibt den Tätigkeitsrahmen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzte Zusatzfrage.

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wie beurteilen Sie erstens die Tatsache, dass die DSO inzwischen, vermutlich in den letzten 14 Tagen, ihre Zahlen für 2004 aus dem Internet entfernt hat, und zweitens, dass auf meine schriftliche Nachfrage hin die Herausgabe der DSO-Daten, zu deren jährlicher Veröffentlichung sie durch das Transplantationsgesetz verpflichtet ist, verweigert wurde?

Rolf Schwanitz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002123

Kollege Wodarg, ich kenne die Gründe dafür nicht. Die Frage nach der Motivation könnte letztlich nur von der DSO beantwortet werden. Ich will aber ausdrücklich sagen, dass es in unserem gemeinsamen Interesse liegt, dass die von Ihnen hinterfragten Zahlen überprüft und, sollten sie falsch sein, korrigiert werden. Ich glaube, es ist richtig, eine entsprechende Prüfung einzuleiten. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Diese Frage müssen wir im Raum stehen lassen, weil sie nach unserer Geschäftsordnung nicht zulässig war. Es ist aber erkennbar, dass uns dieses Thema erhalten bleibt. Ich bedanke mich für die Beantwortung dieser Fragen. Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Der Parlamentarische Staatssekretär Ulrich Kasparick beantwortet die Fragen, die alle zur mündlichen Beantwortung anstehen. Zunächst rufe ich die Frage 37 der Kollegin Nicole Maisch auf: Wie möchte die Bundesregierung in Zukunft den weiteren sogenannten Wildwuchs bei den Regionalflughäfen verhindern, und inwiefern sind davon in Planung begriffene Flughäfen betroffen?

Ulrich Kasparick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003158

Diese Frage bietet mir die Gelegenheit, einmal darauf hinzuweisen, dass in Deutschland zwischen Bund und Ländern eine Arbeitsteilung besteht. Die Flughafenplanung und der Flughafenbau sind gemäß § 31 Abs. 2 Luftverkehrsgesetz in Bundesauftragsverwaltung; das ist eine ähnliche Konstruktion, wie wir sie bei den Bundesstraßen haben. Die Länder nehmen diese Aufgabe grundsätzlich in eigener Kompetenz wahr. Die Aufgabe des Bundes beschränkt sich darauf, gemäß § 31 Abs. 2 Nr. 4 Luftverkehrsgesetz zu prüfen, ob und inwieweit durch die Genehmigung oder Änderung der Genehmigung zur Anlegung und zum Betrieb eines Flughafens, der dem allgemeinen Verkehr dienen soll, die öffentlichen Interessen des Bundes berührt oder beeinträchtigt werden. Das Land hat die Zuständigkeit, und der Bund prüft, ob Bundesinteressen berührt oder beeinträchtigt werden. Wie Sie wissen, sprechen wir mit den Ländern über die Entwicklung eines Gesamtkonzepts, das der Entwicklung im internationalen Luftgüterverkehr und im internationalen Luftpersonenverkehr angemessen Rechnung tragen soll. Das alte Konzept stammt aus dem Jahr 2000. Wir haben uns vorgenommen, das neue Flughafenkonzept im ersten Quartal 2008 vorzulegen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Maisch, bitte schön.

Nicole Maisch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003884, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär, im ZDF wurde im August dieses Jahres berichtet, dass das von Ihnen genannte Luftverkehrskonzept dazu gedacht ist, den Wildwuchs bei Regionalflughäfen zu verhindern. Können Sie das bestätigen?

Ulrich Kasparick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003158

Ich bitte Sie um Verständnis, dass ich Sendungen und Zeitungsberichte nicht kommentiere.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zweite Zusatzfrage.

Nicole Maisch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003884, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie brauchen das ZDF nicht zu kommentieren. Vielleicht können Sie mir aber Auskunft darüber geben, ob es inhaltlich richtig ist, dass angedacht wird, hier regulierend einzugreifen.

Ulrich Kasparick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003158

Das Ziel des Flughafenkonzepts besteht darin, die Planungen, die wir in Deutschland angestellt haben, um das Zusammenwirken der unterschiedlichen Verkehrsträger, die wir als Transitland berücksichtigen müssen, so zu optimieren, dass wir zu einer sinnvollen Arbeitsteilung zwischen den großen Hubs, die wir aus Sicht des Bundes dringend brauchen, und den zentralen Flughäfen, die von nationaler Bedeutung sind, kommen und sie so mit den Länderprojekten abzustimmen, dass sich ein schlüssiges Gesamtkonzept ergibt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Eine weitere Zusatzfrage, bitte schön.

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrter Herr Staatssekretär, die Frage war, ob es richtig ist, dass das Luftverkehrskonzept unter anderem auch dafür gedacht ist, den Wildwuchs bei den Regionalflughäfen zu beenden. Das ist eigentlich eine ganz einfache Frage. Es langt, wenn Sie Ja oder Nein sagen.

Ulrich Kasparick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003158

Ich erlaube mir, die Antwort zu wiederholen, die ich eben gegeben habe: Ziel des Luftverkehrskonzepts ist es, auf die modernen Anforderungen an ein großes Transitland und auf die Aufgaben, die auf uns zukommen, so zu reagieren, dass wir eine sinnvolle Arbeitsteilung organisieren und zu einem Ausgleich der nationalen und landespolitischen Interessen kommen. Herr Dr. Hofreiter, diese Frage kann man nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten. Dieser Sachverhalt ist komplexer.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich rufe die Frage 38 der Kollegin Maisch auf: Welche objektiven Kriterien plant die Bundesregierung vor dem Hintergrund der stetigen Zunahme des Flugverkehrs und der damit verbundenen extremen Belastung der Umwelt anzulegen, um den Neubau von reinen Prestigeobjekten zu verhindern?

Ulrich Kasparick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003158

Auf die Arbeitsteilung zwischen Bund und Ländern habe ich bereits hingewiesen. Die Kriterien, die der Bund anlegen kann, wenn Neubaumaßnahmen, die in der Verantwortung der Länder liegen, durchgeführt werden, beschreibe ich am Beispiel der Novelle zum Fluglärmgesetz - das ist eine Bundeskompetenz -: Am 7. Juni 2007 ist die Novelle zum Fluglärmgesetz in Kraft getreten. Mit diesem Bundesgesetz haben wir die Lärmgrenzwerte zur Abgrenzung von Lärmschutzzonen verschärft und eine Nachtschutzzone eingeführt. Für den Neubau von Flugplätzen - darauf zielt Ihre Frage - und die wesentliche bauliche Erweiterung von Flugplätzen gelten nochmals abgesenkte Werte. Außerdem wurde eine Außenwohnentschädigung für die Flughafenanrainer eingeführt. Wir haben in diesem Gesetz ferner festgelegt, dass die Werte des Fluglärmgesetzes auch bei der Planfeststellung und bei der luftrechtlichen Genehmigung von Flugplätzen zu beachten sind. Das ist aber nicht alles. Wir haben darüber hinaus Vorschläge zur Reduzierung der durch den Flugverkehr verursachten Belastung der Luftqualität und zur Begrenzung der klimawirksamen Emissionen unterbreitet und entsprechende Gesetzentwürfe verabschiedet. Mit der Einführung einer für den Flughafen aufkommensneutral ausgestalteten emissionsbezogenen Landeentgeltkomponente - Sie erinnern sich an die Diskussion, die wir im Verkehrsausschuss und in anderen Ausschüssen des Deutschen Bundestages geführt haben -, die ab 1. Januar 2008 an den Flughäfen München und Frankfurt/Main eingesetzt wird, soll ein Anreiz sowohl im Hinblick auf die Herstellung als auch im Hinblick auf den konkreten Einsatz schadstoffärmerer Flugzeuge geschaffen werden. Dies ist für die Luftfahrtindustrie eine sehr große Herausforderung. Wir wollen schadstoffärmere Flugzeuge haben. Wir glauben, dass wir mit dem, was wir jetzt an den Flughäfen München und Frankfurt/ Main testen, einen Schritt vorankommen. Die Einführung der Landeentgeltkomponente erfolgt freiwillig und setzt einen entsprechenden Antrag des Flughafens voraus. Wir werden nach etwa einem Jahr eine Bewertung der am 1. Januar 2008 beginnenden Testphase vornehmen. Ich bin ganz sicher, dass dieses Thema dann wieder Gegenstand der öffentlichen Debatte im Parlament sein wird.

Nicole Maisch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003884, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke schön für die umfangreichen Informationen. Ich habe noch eine Nachfrage. Ursprünglich war geplant, der Öffentlichkeit dieses Konzept viel früher zu präsentieren. Gibt es einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen den Landtagswahlen, die im Frühjahr nächsten Jahres stattfinden, und der späten Veröffentlichung dieses Konzepts?

Ulrich Kasparick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003158

Diese Frage ist einfach zu beantworten: Nein.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Keine weitere Frage dazu. Ich rufe die Frage 39 des Kollegen Hofreiter auf: Wie ist der Sachstand bei der vom Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung vorgeschlagenen Einrichtung einer Pilotstrecke zur Fahrradmitnahme im ICE, nachdem sich die Fahrradmitnahme im Fernverkehr der Deutschen Bahn AG durch den seit dem 9. Dezember 2007 gültigen Fahrplan weiter verschlechtert hat, und kann mit dem Start des Pilotversuchs noch vor dem Fahrplanwechsel im Dezember 2008 gerechnet werden?

Ulrich Kasparick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003158

Herr Dr. Hofreiter, wir beide in der Adventszeit und die Fahrräder. Meine Antwort ist - ich habe Ihnen das schon zu Ihrer letzten Frage gesagt -: Wir sind mit der Deutschen Bahn AG im Gespräch. Wir haben vor, uns nach Weihnachten wieder zu treffen. Die Deutsche Bahn AG hat im letzten Gespräch angekündigt, uns ein umfassendes Paket vorzulegen, das sich nicht nur auf ICE-Projekte bezieht, sondern umfänglicher sein wird. Das ist bisher noch nicht erfolgt. Ich denke, wir werden deshalb im ersten Quartal des nächsten Jahres in einem erneuten Gespräch nachfassen, um die Entwicklungen im Bereich der Deutschen Bahn AG zu bewerten.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte schön, die Zusatzfrage.

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Vielen Dank, Herr Staatssekretär, für die wortgewandten Ausführungen. Man kann das kaum eine Beantwortung der Frage nennen. Meine Frage ist - wir machen das Spiel ja öfter -: Glauben Sie, dass Sie oder Ihr Ministerium in der Lage sind, vor Ende der Legislaturperiode einen Zeitpunkt zu benennen? Wir können das in sechs Wochen wiederholen, und Sie können dann wieder antworten, Sie seien im Gespräch mit der DB AG, wobei es schön ist, wenn Sie mit der DB AG sprechen. Deshalb die Frage: Halten Sie Ihr Ministerium für in der Lage, bevor diese Legislaturperiode endet, zu sagen, wann der Pilotversuch beginnt und um welche Strecke es sich handelt?

Ulrich Kasparick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003158

Ich erlaube mir darauf folgende Antwort, Herr Dr. Hofreiter: Wenn Sie mit einem Gesprächspartner in eine Verhandlung eintreten, dann können Sie, wenn es um Interessenkonflikte geht, am Beginn eines solchen Gesprächsprozesses nicht sagen, wann Sie ein Ergebnis vorlegen können. Ebenso geht es uns bei diesem konkreten Punkt mit der Deutschen Bahn AG. Ich bin zuversichtlich, dass wir Schritt für Schritt vorankommen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Erstaunlicherweise gibt es eine weitere Zusatzfrage.

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Antwort ist wirklich erstaunlich; denn es handelt sich hier nicht um einen einfachen, gleichberechtigten Gesprächspartner. Ich weiß nicht, ob es Ihnen bekannt ist, aber noch befindet sich die DB AG zu 100 Prozent im Bundesbesitz. Wenn die Bundesregierung ein Interesse daran hätte, dann sollte sie in der Lage sein, ihre Position gegenüber ihrem Verhandlungspartner durchzusetzen. Deshalb meine Frage: Was unternehmen der Bundesminister und das Bundesministerium, außer sich ab und zu mit Herrn Mehdorn zu treffen - ich habe keine Ahnung, wer sich da trifft -, konkret, um dem zu 100 Prozent im Bundesbesitz befindlichen Unternehmen klarzumachen, dass der Minister das gerne hätte, was er öffentlich bekannt gegeben hat? Was unternehmen Sie konkret, außer nett miteinander zu plaudern?

Ulrich Kasparick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003158

Herr Dr. Hofreiter, die Vorstellung, die Bundesregierung könnte in unternehmerische Entscheidungen eines Privatunternehmens, dessen Aktien sich in Bundesbesitz befinden, eingreifen, begegnet mir oft. Ich erlaube mir an dieser Stelle deswegen folgenden Hinweis: Die Deutsche Bahn AG ist ein Privatunternehmen, dessen Aktien - da haben Sie recht - dem Bund gehören. Aber diese Konstruktion erlaubt es dem Bund nicht, in unternehmerische Entscheidungen des Unternehmens direkt einzugreifen. Deswegen sind diese Gespräche notwendig. Wenn Sie danach fragen, welche Möglichkeiten das Bundesministerium hat, um dieses Unternehmen zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen - um es vorsichtig zu formulieren - dann sage ich - das habe ich schon zu Ihrer ersten Anfrage zu diesem Thema gesagt -, dass wir darauf angewiesen sind, diesen Gesprächsprozess, der über lange Zeit abgebrochen war, wieder aufnehmen. Wir sind dabei. Wir werden uns im ersten Quartal des nächsten Jahres erneut treffen. Ich kann Ihnen eines zusagen: Wir werden an dieser Stelle nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, weil wir wissen, dass das Thema Fahrradmitnahme in den internationalen Verkehren - dazu gehört der ICE - von großem Interesse ist, zumal wir sehen, dass beispielsweise in Frankreich oder in anderen europäischen Staaten so etwas möglich ist. Wir sind der Überzeugung, dass wir das, was die Nachbarstaaten technologisch können, in Deutschland auch können. Das ist das Motiv, aus dem heraus wir ganz geduldig und ausdauernd mit der Bahn an diesem Thema weiterarbeiten. Ich bin zuversichtlich, dass wir das hinbekommen werden.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich rufe die Frage 40 des Kollegen Hofreiter auf: Inwieweit ist der Bundesregierung bekannt, wie die Deutsche Bahn AG die im dritten Eisenbahnpaket vorgesehene Fahrradmitnahme umsetzt, und inwieweit plant die Bundesregierung, von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, eine Ausnahme von der Anwendung der Bestimmungen zur Fahrradmitnahme zu gewähren?

Ulrich Kasparick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003158

Sie beziehen sich mit Ihrer Frage auf das dritte Eisenbahnpaket, das auf europäischer Ebene unter deutscher Ratspräsidentschaft verabschiedet worden ist. Sie weisen auch darauf hin, dass es sich um das Ergebnis eines Vermittlungsverfahrens handelt. Ich kann Ihnen für die Bundesregierung sagen: Wir begrüßen das Ergebnis, das unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft erreicht werden konnte. Wir glauben, dass uns das einen Schritt weiter führt, hin zum Ziel, einen europäischen Verkehrsraum zu organisieren, der den Ansprüchen eines stark wachsenden Verkehrsaufkommens in Europa gerecht wird. Sie fragen danach, ob wir vorhaben, von Art. 5 der Verordnung Nr. 1371/2007 abzuweichen. Ein solches Abweichen haben wir nicht vorgesehen. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte schön, Herr Kollege Hofreiter.

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Auf den Zwischenruf des Kollegen von der CDU/ CSU: Die Antwort war verblüffend deutlich. Ich glaube, das war das erste Mal seit zehn Fragen. Noch eine Vorbemerkung: Es ist mehr als amüsant, wie wenig Einfluss wir auf das uns zu 100 Prozent gehörende Unternehmen haben. Jeder Private, der Ihre Antwort gehört hat und dem eine Aktiengesellschaft zu 100 Prozent gehört, hätte jetzt schallend gelacht. Das aber nur am Rande. Sie haben nicht die Frage beantwortet, was Sie in Deutschland zu unternehmen gedenken, um dieses dritte Eisenbahnpaket - insbesondere die Mitnahme der Fahrräder - umzusetzen. Reden Sie wieder mit der DB AG, oder ist das schon alles? Hat die Richtlinie der EU die einzige Folge, dass Sie nett mit der DB AG plaudern?

Ulrich Kasparick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003158

Von „nett plaudern“ war nie die Rede. Ich kann Ihnen gern ein wenig genauer schildern, in welchem Ton solche Gespräche geführt werden. Ich glaube aber, dass das nicht Gegenstand des Gespräches hier im Plenum sein sollte. Ich erlaube mir nur den zarten Hinweis: Wenn wir unter deutscher Ratspräsidentschaft zu einem Verhandlungsergebnis auf europäischer Ebene kommen - das ist hier der Fall -, dann werden wir dafür sorgen, dass das auch umgesetzt wird. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Eine weitere Zusatzfrage?

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Frage lautete: Wie?

Ulrich Kasparick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003158

Der Politik steht zur Umsetzung von europäischen Richtlinien eine ganze Bandbreite von politischen Aktionsmöglichkeiten zur Verfügung. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Na ja. - Ich sehe keine weiteren Nachfragen dazu. Ich rufe jetzt die letzte Frage aus diesem Geschäftsbereich, nämlich die Frage 41 der Kollegin Dr. Volkmer, auf: Wird die Bundesregierung die für den Bau der Waldschlösschenbrücke zur Verfügung gestellten Mittel sperren, wenn sich der Freistaat Sachsen über die völkerrechtlichen Verpflichtungen aus der UNESCO-Welterbekonvention hinwegsetzt und die Brücke ohne Verständigung mit der UNESCO-Kommission bauen lässt?

Ulrich Kasparick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003158

Frau Dr. Volkmer, Sie fragen nach einem Themenbereich, der den Deutschen Bundestag schon mehrfach beschäftigt hat. Es geht um die Waldschlösschenbrücke in Dresden. Wir haben es, falls es zum Bau der Waldschlösschenbrücke kommen sollte, mit einem Verfahren zur Aberkennung des UNESCO-Welterbetitels zu tun. Sie fragen danach, wie der Bund mit den Mitteln umgeht, die das Bundesland Sachsen einsetzen will. Zunächst einmal zur Information: Die Bundesregierung hat keine Mittel für den Bau der Waldschlösschenbrücke bewilligt. Wir können deshalb auch keine Mittel sperren. Der Freistaat Sachsen ist allerdings in der Lage, für den Bau der Brücke die Kompensationsmittel zu verwenden, die er aufgrund der Föderalismusreform anstelle der ausgelaufenen Bundesfinanzhilfen nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz für kommunale Straßenbauvorhaben erhält. Das ergibt sich aus Art. 143 c des Grundgesetzes. Wir haben im Rahmen der Föderalismusreform ein sogenanntes Entflechtungsgesetz miteinander beschlossen. Danach ist das Verfahren so organisiert, dass der Freistaat dem Bund nachträglich über die Verwendung dieser Mittel, auf die er Zugriff hat, berichtet. Der Bund prüft dann, ob die Mittel zweckgerecht verwendet wurParl. Staatssekretär Ulrich Kasparick den. In diesem Zusammenhang wird auch zu prüfen sein, ob das Bundesland Sachsen Mittel zweckwidrig verwendet hat, das heißt, ob damit ein dem Völkerrecht widersprechendes Vorhaben finanziert wurde. Das Völkerrecht wäre aber nur in dem Fall verletzt, wenn ein Verstoß gegen die Bemühenspflicht der Welterbekonvention bejaht werden könnte. Diese Pflicht in Art. 4 der UNESCO-Welterbekonvention besagt, dass der Vertragsstaat nachweisen muss, dass er alles in seinen Kräften Stehende getan hat, um der UNESCO-Welterbekonvention zu entsprechen; er ist allerdings nicht zu einem bestimmten Ergebnis verpflichtet. Falls das Völkerrecht verletzt ist, können die Mittel entsprechend zurückgefordert werden.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zusatzfrage.

Dr. Marlies Volkmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte ein bisschen konkreter werden. Es gibt ein Gutachten der Bundesregierung, in dem klar festgestellt wird, dass sowohl Deutschland als auch die einzelnen Bundesländer an die UNESCO-Welterbekonvention gebunden sind. Natürlich bedeutet das nicht, dass nichts mehr verändert werden kann. Aber es ist notwendig, dass zuvor ein Prozess der Konsensfindung stattgefunden hat; das ist gerade das Bemühen, von dem Sie gesprochen haben. Jeder Staat ist verpflichtet, alles in seinen Kräften Stehende zu tun, um das Welterbe zu erhalten. Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass eine solche Kompromisslösung bisher nicht gesucht worden ist. Wenn es nicht zu einem Kompromiss zwischen dem Freistaat Sachsen und der UNESCO kommt, wenn der Freistaat also nicht nachweisen kann, dass er ernsthaft einen Kompromiss gesucht hat, sind diese Mittel - das würde ich gerne von Ihnen bestätigt bekommen - völkerrechtswidrig eingesetzt. Dann kann es aber nicht sein, dass die Bundesregierung das auf sich beruhen lässt. Dann muss man diese Mittel zurückfordern bzw. sie mit den Fördermitteln verrechnen, die der Freistaat sonst für die Verkehrsinfrastruktur bekommen hätte. Sehe ich das richtig?

Ulrich Kasparick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003158

Der letzte Halbsatz war nicht ganz präzise: Wir reden hier über die Kompensationsmittel, die das Bundesland nach dem im Zuge der Föderalismusreform geschaffenen Entflechtungsgesetz in Anspruch nehmen kann. Aber in der Sache ist der Vorgang in der Tat so, wie Sie ihn beschrieben haben: Sollte sich herausstellen, dass das Land Sachsen nicht alle Anstrengungen unternommen hat, um dem UNESCO-Anspruch gerecht zu werden, dass es nicht alles in seinen Kräften Stehende getan hat, dann würde zunächst geprüft, ob damit das Völkerrecht verletzt wäre. Wenn man im Rahmen dieses Prüfverfahrens zu dem Ergebnis kommt, dass das der Fall ist, hat der Bund die Möglichkeit, die Kompensationsmittel, die das Land für den Bau der Brücke eingesetzt hat, im Folgejahr entsprechend haushaltswirksam zu verrechnen. Das genau ist die Reihenfolge: Das Land hat zunächst Zugriff auf die Mittel und teilt dem Bund in einem Bericht mit, wie es die Mittel verwendet hat. Der Bund prüft, ob sie ordnungsgemäß ausgegeben worden sind, und wenn es Beanstandungen gibt, hat man im Folgejahr die Möglichkeit, darauf zu reagieren.

Dr. Marlies Volkmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Weitere Fragen liegen nicht vor; viel Zeit dafür wäre auch nicht mehr gewesen, weil wir noch maximal vier Minuten und zwanzig Sekunden für die Fragestunde gehabt hätten. Ich bedanke mich bei allen Beteiligten für das gelungene Zeitmanagement. Ich berufe die nächste Sitzung des Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 13. Dezember 2007, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.