Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sit-
zung ist eröffnet.
Ich begrüße Sie zur letzten Sitzungswoche in diesem
Jahr und rufe die Tagesordnungspunkte 1 a und 1 b auf:
1 a) Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
Unterzeichnung des Vertrages von Lissabon
am 13. Dezember und zum Europäischen Rat
am 14. Dezember 2007
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Löning, Michael Link ({0}), Florian Toncar,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
sowie der Abgeordneten Rainder Steenblock,
Jürgen Trittin, Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Gegen die Einsetzung eines „Rates der Weisen“ zur Zukunft der EU
- Drucksache 16/7178 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Zu der Abgabe einer Regierungserklärung liegen ein
Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und
der SPD sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung anderthalb Stunden vorgesehen. Gibt es dagegen
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In diesem
Jahr hat Deutschland durch die Wahrnehmung der EUPräsidentschaft in besonderer Weise Verantwortung für
Europa getragen. Die Ausgangssituation vor zwölf Monaten war denkbar schwierig: Europa war weitgehend
orientierungslos, Skepsis und Ratlosigkeit hatten sich
breitgemacht, und die Zustimmung der Bürgerinnen und
Bürger zu Europa war nur mit sehr viel gutem Willen erkennbar. In dieser Situation hat sich die Bundesregierung für die deutsche Ratspräsidentschaft ein klares Ziel
gesetzt: Wir wollten eine Neuausrichtung und eine Neubegründung der Europäischen Union anstoßen. Heute
können wir, glaube ich, feststellen: Genau das ist gelungen.
({0})
Wir waren gemeinsam nicht nur gut darin, uns Ziele
zu setzen. Wir haben es gemeinsam auch geschafft, diese
Ziele zu erreichen. Wenn ich „gemeinsam“ sage, dann
schließe ich dieses Haus, Sie alle, ausdrücklich mit ein.
Ich möchte diese Debatte als Gelegenheit nutzen, um Ihnen für Ihre große Unterstützung in diesem Jahr ein
herzliches Dankeschön zu sagen.
Wir haben viel erreicht: Die Europäische Union hat
sich globaler Zukunftsthemen angenommen. Beispielhaft dafür ist die Energie- und Klimapolitik. Europa
war, ist und bleibt Vorreiter beim Klimaschutz. Europa
hat erkannt, dass es sich beim Schutz des Klimas und
beim Zugang zu Energie um zwei zentrale Herausforderungen für die Menschheit handelt. Diese Erkenntnis bestimmt unsere Verhandlungsposition bei den gegenwärtig laufenden Klimaschutzberatungen auf Bali, an denen
auch der Bundesumweltminister teilnimmt. Wir dürfen
uns aber keinen Illusionen hingeben; denn die eigentliche Arbeit für den Klimaschutz beginnt erst nach der
Konferenz auf Bali. Der Weg zu einem Abkommen im
Anschluss an das Kioto-Abkommen unter dem Dach der
Vereinten Nationen wird sehr steinig sein. Mehr denn je
wird es dabei auf eine entschlossene Haltung Europas
und all seiner Mitgliedstaaten ankommen.
({1})
In dem Jahr der deutschen EU-Ratspräsidentschaft
haben wir allen Bürgerinnen und Bürgern Europas aber
noch mehr gezeigt, zum Beispiel dass Entscheidungen,
Redetext
die auf europäischer Ebene getroffen werden, Auswirkungen auf das Alltagsleben haben, dass das Alltagsleben ganz konkret verbessert wird. Ich denke beispielsweise an die Senkung der Roaming-Gebühren.
Wir haben aber auch das Bewusstsein für die Zusammengehörigkeit in Europa gestärkt. Ich denke dabei vor
allem an die Feiern zum 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge. Dort haben wir gemeinsam gespürt, was es heißt, zu sagen: Wir Bürger Europas
sind zu unserem Glück vereint. - Das ist kein einfach so
dahingesagter Satz. Nein, auch nach 50 Jahren Frieden
und Freiheit dürfen wir dieses Glück Europas zu keiner
Stunde für selbstverständlich nehmen.
({2})
Stets aufs Neue müssen wir es schützen und dafür eintreten. Deshalb ist gar nicht hoch genug einzuschätzen,
dass die Zustimmung der Bevölkerung in Deutschland
zur Europäischen Union in diesem Jahr auf einem Zehnjahreshoch ist. Das müssen wir halten, stärken und festigen.
Kurzum: In Europa ist wieder mehr Schwung und Leben gekommen. Das ist das Ergebnis unserer gemeinsamen Arbeit hier in Berlin und überall in Deutschland. Es
ist aber wahrlich nicht nur das Ergebnis der Arbeit von
uns Politikern. Nein, ohne die vielen Menschen, die sich
ehrenamtlich für Europa starkgemacht haben, ginge vieles nicht. Deshalb möchte ich bei dieser Gelegenheit
auch ihnen den ausdrücklichen Dank der Bundesregierung und - ich bin mir ganz sicher - auch Ihren Dank sagen.
({3})
Die größte Herausforderung für unsere Präsidentschaft war die Reform der Verträge der Europäischen
Union. Ich habe vor einem Jahr an dieser Stelle gesagt:
Es wäre ein historisches Versäumnis, wenn es uns nicht
gelänge, den Reformprozess bis zur Europawahl 2009 zu
einem guten Ende zu führen. - Die Folgen wären kaum
auszudenken gewesen. Umgekehrt können wir heute sagen: Dass uns am Ende der Durchbruch zu einem
Reformvertrag gelungen ist, ist für die Zukunft Europas von historischer Bedeutung.
({4})
Unsere Arbeit zur Erreichung dieses Ziels hat sich gelohnt. Wir haben es geschafft, für die Reform ein umfassendes und präzises Mandat zu vereinbaren; kaum jemand hat dies vor einem Jahr für möglich gehalten. Der
Erfolg, zu dem wir morgen unsere Unterschriften leisten
können, liegt auch in unserer engen Zusammenarbeit mit
der portugiesischen Ratspräsidentschaft begründet, die
dieses Mandat innerhalb weniger Monate in einen neuen
Vertragstext überführt hat. Morgen werden der Bundesaußenminister und ich in Lissabon den neuen Vertrag unterschreiben.
Ich neige jetzt wahrlich nicht zu übertriebener Euphorie. Aber ich glaube, wir können gemeinsam festhalten:
Dieser Tag markiert einen historischen Erfolg für Europa, und er wird im Rückblick vielleicht einmal als eine
entscheidende Wegmarke bei der Herstellung von mehr
Handlungsfähigkeit in Europa angesehen werden.
Nach seiner Ratifizierung wird der Vertrag von Lissabon die Reihe der Vertragsreformen von Maastricht über
Amsterdam und Nizza abschließen. Anders als seine
Vorgänger lässt dieser Vertrag keine Fragen offen. Er
holt die bei der großen Erweiterung des Jahres 2004
nicht erfolgten Reformen der Organe der Europäischen
Union nach. Er nimmt die in den letzten zwei Jahren laut
gewordenen Bedenken und Sorgen der Bürgerinnen und
Bürger auf. Er bündelt die unterschiedlichen Konzepte
und Vorstellungen von der Europäischen Union, die es in
den Mitgliedstaaten gibt. Damit schafft er die Grundlage
für die neue Europäische Union im 21. Jahrhundert.
Selbstverständlich: Mit der Unterzeichnung des Vertrages ist die Arbeit noch nicht endgültig abgeschlossen,
auch in Deutschland nicht. Es folgt das Ratifizierungsverfahren im Bundesrat und in diesem Hause. Die Bundesregierung wird die dazu notwendigen Gesetzentwürfe
in der nächsten Woche verabschieden. Ich wünsche mir,
dass die parlamentarischen Verfahren in Deutschland bis
Mitte Mai 2008 erfolgreich abgeschlossen werden können.
Ich bin zuversichtlich, dass die Ratifizierung des Vertrages auch in den anderen Mitgliedstaaten erfolgen
wird. So könnten wir unter Beweis stellen: Wir kommen
voran, wenn wir einig sind. Europa gelingt eben nur gemeinsam.
({5})
Das dürfen wir niemals vergessen oder aus den Augen
verlieren, so mühsam manche Diskussion auch sein mag.
Gewinner sind beide, Europa genauso wie die Nationalstaaten. Lassen Sie mich das an fünf Beispielen verdeutlichen:
Erstens. Die Europäische Union wird demokratischer.
Zum einen wird das Europäische Parlament gestärkt,
zum anderen erhalten die nationalen Parlamente mehr
Mitspracherecht in europäischen Gesetzgebungsverfahren. Bundestag und Bundesrat werden in Zukunft frühzeitig und umfassend über anstehende Gesetzesinitiativen informiert. Lehnt eine Mehrheit der nationalen
Parlamente einen EU-Vorschlag ab, dann müssen sich die
Organe der Europäischen Union mit diesem Votum zwingend beschäftigen. Dies kann auch dazu führen, dass der
Vorschlag fallen gelassen wird. Zum ersten Mal können
also die nationalen Gesetzgeber zu einem sehr frühen
Zeitpunkt unmittelbaren Einfluss auf die europäische
Gesetzgebung nehmen. Das bedeutet natürlich auch, dass
wir uns noch intensiver als früher mit europäischen Vorhaben beschäftigen werden. Auf diese Weise finden - davon bin ich überzeugt - europapolitische Themen eher
Eingang in die öffentliche Diskussion, und so spielt sich
Europapolitik nicht nur in Brüssel ab, sondern sie wird
auch hier bei uns in Berlin greifbarer. Das heißt nichts
anderes, als dass Europa näher an die Bürgerinnen und
Bürger heranrückt. Ich denke, es ist eine gute Bewegung,
die mit diesem Vertrag möglich wird.
({6})
Die nationalen Parlamente werden sicher auch intensiv
von der Möglichkeit Gebrauch machen, zu überprüfen, ob
die Europäische Union im jeweiligen Fall überhaupt tätig
werden soll. Das heißt, es wird auch die Aufgabe dieses
Hauses sein, darauf zu achten, dass es nicht zu einer
schleichenden Ausweitung der EU-Tätigkeiten kommt,
wo sie nicht erforderlich oder rechtlich gar nicht abgesichert ist.
({7})
Dies führt mich unmittelbar zu meinem zweiten
Punkt. Der neue Vertrag unterscheidet deutlich die
Zuständigkeiten der Europäischen Union von denen der
Mitgliedstaaten. Diese Unterscheidung war immer ein
deutsches Anliegen. Wir haben das seit langem vertreten. Ich halte das für ein wirklich wichtiges Ergebnis
dieses neuen Vertrages. Der Vertrag macht außerdem
klar: Zuständigkeiten der Europäischen Union können
wieder an die Mitgliedstaaten zurückgegeben werden,
wenn dies vernünftig erscheint. Das heißt also, Kompetenzzuteilung ist nicht mehr eine Einbahnstraße - von
den Nationalstaaten nach Europa -, sondern auch der
umgekehrte Weg ist möglich. Das ist etwas, was ich für
sehr vernünftig halte. Wenn nämlich gestern etwas von
der Union besser als von den Nationalstaaten geregelt
werden konnte, dann heißt das noch lange nicht, dass das
über 10, 20, 30 oder 40 Jahre weiter so bleiben muss.
Auch kann es nicht sein, dass Kompetenzzuwächse immer nur in eine Richtung gehen. Ich glaube, das entspricht ganz besonders unserem, dem deutschen, Subsidiaritätsverständnis, und das macht vor allem das
Handeln der Europäischen Union nachvollziehbarer. Das
ist natürlich unverzichtbar, um die Verantwortlichkeiten
wieder besser zum Ausdruck zu bringen. Die Bürger Europas haben - das ist zumindest meine Überzeugung einen Anspruch darauf, zu wissen, wer wofür warum
verantwortlich ist.
({8})
Drittens. Ab 2014 gilt im Rat - darum haben wir
lange gestritten - die sogenannte doppelte Mehrheit.
Das heißt, bei Entscheidungen fällt neben der Zahl der
Staaten auch die Zahl der Bürger eines Landes gleichberechtigt ins Gewicht. Dadurch wird die jeweilige Bevölkerungsgröße der Mitgliedstaaten angemessen berücksichtigt, und so wird das Einstimmigkeitsprinzip endlich
auf das Notwendige eingeschränkt. Mehrheitsentscheidungen werden auf einer fairen Grundlage ausgeweitet.
Kurzum: Die doppelte Mehrheit wird der Legitimierung
der Entscheidungen sehr helfen. Allerdings sage ich
auch voraus: Wenn Mehrheitsentscheidungen gefällt
werden, wird sich Deutschland nicht immer zu 100 Prozent durchsetzen können. Auch das wird eine Erfahrung
sein, die wir machen werden. Gut an der Mehrheitsentscheidung ist, dass wir nicht jeden mitnehmen müssen,
wenn uns etwas wichtig ist; schlecht ist, dass wir manchmal das Gefühl haben werden, dass wir etwas nicht erreichen konnten.
Viertens. Der neue Vertrag erleichtert die verstärkte
Zusammenarbeit einer Gruppe von Mitgliedstaaten in
bestimmten Politikbereichen. Damit ist eine Weiterentwicklung der Europäischen Union innerhalb des EUVertragsrahmens möglich. Dies gibt uns die notwendige
Beweglichkeit in einer sehr groß gewordenen Union, einer Union von Mitgliedstaaten mit unterschiedlichen
Stärken, Wünschen und Interessen. Eines ist mir allerdings sehr wichtig: Gruppenspezifische Kooperationen
müssen immer im allgemeinen Einvernehmen erfolgen.
Der Zugang zu einer engeren Zusammenarbeit einer
Ländergruppe muss prinzipiell für alle offenbleiben; es
darf kein Europa der geschlossenen Gesellschaften geben. Wenn wir dies beachten, wird dieses Arbeitsprinzip
uns nach vorn bringen. Die ersten Diskussionen dazu
werden wir in Bezug auf die Kooperation im Mittelmeerraum haben. Aber wenn wir dieses Prinzip nutzen,
kann das viele Vorteile für die Arbeit innerhalb der Europäischen Union bringen.
({9})
Fünftens. Der Vertrag wird der Europäischen Union
der 27 Mitgliedstaaten über institutionelle Neuerungen mehr Gesicht und eine klare Stimme verleihen.
Denn zum einen wird es einen gewählten Präsidenten
geben, der den Treffen der Staats- und Regierungschefs
zweieinhalb Jahre lang vorsitzen wird. Das verleiht der
Ratsarbeit automatisch mehr Kontinuität. Man denkt
nicht mehr nur in Halbjahreszeiträumen, sondern durch
die Amtszeit des Ratspräsidenten wird in längeren Zeiträumen gedacht werden. Zum anderen wird dem Rat der
Außenminister ein Hoher Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik vorsitzen; er wird zugleich Vizepräsident der Kommission sein. Damit gibt es in der Außenund Sicherheitspolitik eine Verzahnung. Die Doppeltätigkeit fällt weg, was sehr vernünftig ist. Aber es gibt
auch neue Konstellationen im Hinblick auf das Parlament. Ich verweise nur darauf, dass die Kommission
vom Parlament bestätigt wird. Der Hohe Vertreter wird
vom Rat bestimmt, ist Vizepräsident der Kommission,
und damit muss indirekt auch das Parlament bezüglich
des Hohen Vertreters konsultiert werden. Das heißt, die
Statik innerhalb der europäischen Institutionen wird sich
verändern. Das gilt auch für den Ratspräsidenten, der die
Interessen der Mitgliedstaaten in besonderer Weise vertreten muss. Wir werden - das sage ich als Vertreterin eines Mitgliedstaats im Rat - darauf achten, dass er unsere
Interessen vertritt und nicht zu viel gemeinsame Sache
mit der Kommission macht. Auch das wird ein Erfahrungsweg sein, den wir uns anschauen werden.
({10})
Sollte der Vertrag - was wir ja wollen - zum 1. Januar
2009 in Kraft treten, dann müssen beide Ämter im
nächsten Jahr mit geeigneten Persönlichkeiten besetzt
werden. Beide Ämter werden Europa gerade im internationalen Rahmen mehr Gewicht geben.
Meine Damen und Herren, es gibt viele weitere
Gründe, warum der Vertrag von Lissabon ein historischer Schritt ist. Wir brauchen sie hier nicht alle im
Einzelnen aufzuzählen. Denn mindestens ebenso wichtig
ist es, sich bewusst zu machen, dass wir jetzt die Möglichkeiten ausschöpfen müssen, die in dem neuen Vertrag stecken. Noch wichtiger ist, dass Europa nun die
Hände frei hat, um sich der zentralen Frage der Ausgestaltung seiner neuen Rolle in einer globalen Welt zuzuwenden. Denn wir leben als Kontinent ja nicht im luftleeren Raum. Die anderen Länder der Erde warten nicht
auf uns, was ihre wirtschaftliche Entwicklung anbelangt.
Wir müssen unsere Interessen bündeln und sie dann auch
durchsetzen.
Deshalb ist es sehr wichtig, dass der Europäische Rat
übermorgen eine gemeinsame Erklärung aller Mitgliedstaaten zur Globalisierung verabschieden wird. Darin
werden die wichtigsten Herausforderungen für Europa
noch einmal genannt. Dazu gehört die Wettbewerbsfähigkeit und die Frage, wie wir sie erhalten können. Wir
müssen es besser als bisher schaffen, gegen unfairen
Wettbewerb von außen vorgehen zu können. Ich glaube,
das ist nicht irgendeine Aufgabe. Diese Aufgabe hat
auch damit zu tun, dass wir das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger Europas in das europäische Sozialstaatsmodell wirklich stärken können.
({11})
Denn wenn wir die Menschen nicht vor unfairem Wettbewerb schützen können, wenn wir unsere Interessen
nicht durchsetzen können, dann wird auch die soziale
Marktwirtschaft oder das Sozialstaatsmodell unter
Druck geraten. Die Bürgerinnen und Bürger werden uns
nach dem Ergebnis fragen und nicht nach den guten Absichten.
Zur Rolle Europas in der Globalisierung gehört auch
die Außen- und Sicherheitspolitik. Um unsere Sicherheitsinteressen gemeinsam effektiv vertreten zu können,
brauchen wir zweierlei: den politischen Willen und die
notwendigen Fähigkeiten und Mittel. Ein aktuelles Beispiel ist - darüber ist mit dem Außenminister in den
Ausschüssen gerade diskutiert worden - die Frage des
Status des Kosovo. Mit dieser Frage wird sich der Europäische Rat, nachdem die Außenminister das am Montag
getan haben, übermorgen noch einmal beschäftigen. Leider, müssen wir sagen, sind die Verhandlungen zwischen
Belgrad und den Kosovo-Albanern ohne Erfolg zu Ende
gegangen. Aber es ist außerordentlich wichtig, diesen
Verhandlungsprozess dazwischengeschaltet zu haben,
wirklich alles versucht zu haben und vielleicht ein paar
Kontakte etabliert zu haben. Ich möchte an dieser Stelle
dem Verhandlungsführer für die Europäische Union,
dem Deutschen Wolfgang Ischinger, danken. Er hat viel
Fantasie und viel Kraft in diese Sache gelegt.
({12})
Jetzt kommt es darauf an, dass die Europäische Union
geschlossen für eine friedliche und stabile Entwicklung
der Region eintritt. Die Europäische Union muss und
wird sich ihrer Verantwortung stellen. Es besteht für
mich überhaupt kein Zweifel: Wollen wir Europäer unsere Interessen in der Welt vertreten, dann müssen wir
unsere Fähigkeiten im Rahmen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik verstärken und auch besser koordinieren, wie wir an vielen Beispielen sehen.
({13})
Meine Damen und Herren, das, was wir in der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik machen,
darf aber nicht in Konkurrenz zur NATO geschehen. Wir
müssen es schaffen, die Europäische Sicherheits- und
Verteidigungspolitik als Ergänzung, als Stärkung der atlantischen Sicherheitspartnerschaft zu verstehen, und dies
beim Aufbau der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik berücksichtigen.
({14})
Ein großer Vorteil der Europäischen Union ist dabei,
dass sie gleichermaßen über militärische wie über zivile
Mittel verfügt. Wir müssen beides in die richtige Balance bringen. Dafür müssen wir unter anderem unsere
Instrumente der zivilen Krisenprävention stärken.
Wahrlich nicht nur, aber auch unter diesem Gesichtspunkt verdienen die Beziehungen Europas zu Afrika unser aller Aufmerksamkeit. Es kann gar nicht oft genug
gesagt werden: Afrika ist ein Kontinent der Zukunft. Sie
haben verfolgen können, wie Europäer und Afrikaner
auf dem EU-Afrika-Gipfel am vergangenen Wochenende durchaus offene Worte gesprochen haben. Aber ich
darf Ihnen sagen: Es war eine außerordentlich konstruktive Atmosphäre. Es gab keine Tabus, weder in Bezug
auf die Einhaltung der Menschenrechte noch in Bezug
auf das künftige Gesicht des neuen Afrika noch in Bezug
auf den Abschluss notwendiger Handelsabkommen. Bei
den Verhandlungen über die Handelsabkommen spielt
sich das ab, was wir von allen Verhandlungen kennen:
dass wenige Tage vor dem Ende bestimmter Fristen jede
Seite noch einmal für ihre Interessen kämpft. Deshalb
würde ich keinen Pessimismus aufkommen lassen. Jeder
weiß, wir brauchen diese Handelsabkommen; das weiß
die afrikanische Seite, und das weiß auch die europäische Seite. Insofern bin ich da sehr optimistisch.
Ein wichtiges Ergebnis des Lissabonner Gipfels vom
Wochenende ist, dass wir eine wirklich neue, strategische Partnerschaft eingehen. Was wir verabschiedet haben, ist ein Meilenstein für die Beziehungen unserer beiden Kontinente. Wir werden uns in drei Jahren wieder
treffen. Jetzt müssen wir das, was wir abgemacht haben,
konkret umsetzen. Am Beispiel der Entwicklungszusammenarbeit sehen wir: Europa kann in vielen Bereichen
- auch durch Aufgabenteilung und Spezialisierung sehr viel an Wirksamkeit gewinnen. Das ist zum Wohle
beider Kontinente. Ich habe das Gefühl, das muss uns
gelingen. Ansonsten schaffen wir es nämlich nicht, die
Millenniumsziele zu erreichen. Denn das, was erreicht
werden muss, muss auch abrechenbar sein. Da kann
nicht jeder der 27 Mitgliedstaaten der EU im Hinblick
auf das Erreichen der Millenniumsziele irgendetwas in
jedem der 54 afrikanischen Staaten machen, ohne dass
wir einen Überblick haben, was bei wem wie passiert.
({15})
Der EU-Afrika-Gipfel hat noch einmal gezeigt, was
Leitprinzip bzw. Grundsatz der Bundesregierung ist: Die
deutsche Außenpolitik ist wertegebunden. Wirtschaftliche Interessen vertreten und für Demokratie und Menschenrechte eintreten, das sind für uns zwei Seiten ein
und derselben Medaille unserer Außen- und Europapolitik.
({16})
Wir sind uns doch darüber im Klaren: Freiheit und Toleranz sowie Demokratie und Menschenrechte sind die
Fundamente eines menschenwürdigen Zusammenlebens. Man kann diese Werte nicht relativieren. Es gibt
sie nur ganz oder gar nicht. Durch sie wird der nötige
Raum für die Entfaltung des Einzelnen und damit auch
dafür geschaffen, soziales Gleichgewicht und wirtschaftlichen Erfolg zu ermöglichen.
Es versteht sich daher von selbst, dass uns die Grundrechtecharta der Europäischen Union bei den Arbeiten
am Reformvertrag besonders am Herzen lag. Ich freue
mich, dass sie heute im Europäischen Parlament in Straßburg noch einmal feierlich proklamiert wird. In ihr sind
die gemeinsamen Werte und grundlegenden Rechte niedergelegt, die der europäischen Geschichte - auch unter
großen Opfern, wie wir alle wissen - abgerungen wurden. Diese Grundrechtecharta wird zusammen mit dem
neuen Vertrag rechtskräftig. Durch sie werden die Organe der Europäischen Union wie auch die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung des Rechts der Union gebunden.
Nur ein Europa, das sich zu seinen Werten bekennt, wird
seinen Weg erfolgreich weitergehen können.
({17})
Für ein Europa in diesem Geist wird Deutschland auch
in Zukunft seine besondere Verantwortung wahrnehmen.
Meine Damen und Herren, gemeinsam mit unseren
Partnern haben wir in diesem Jahr viel erreicht, und zwar
nicht mehr und nicht weniger als die Neuausrichtung
und Neubegründung der Europäischen Union - ganz
so, wie wir es uns zu Beginn dieses Jahres vorgenommen hatten. Das ist ein Weg, auf dem es sich weiterzugehen lohnt, ein Weg, auf dem wir Politiker die Bürgerinnen und Bürger für jeden Schritt und jeden Fortschritt
gewinnen wollen und auch gewinnen müssen - aus einem einzigen Grund: weil wir wissen, dass das erneuerte
Europa unser aller Zukunft ist.
Herzlichen Dank.
({18})
Ich eröffne die Aussprache.
Als erstem Redner erteile ich dem Kollegen
Dr. Werner Hoyer von der FDP-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie mich eine Vorbemerkung machen. Mit großer
Bestürzung und großem Entsetzen haben wir zur Kenntnis genommen, was gestern in Algier passiert ist: ein
Anschlag, dem offenbar weit mehr als 50 Menschen zum
Opfer gefallen sind. Wir verurteilen dieses feige Verbrechen natürlich. Nichts rechtfertigt diese Barbarei. Den
Opfern gehört unser Mitgefühl,
({0})
sowohl den Algeriern, also Angehörigen dieses ohnehin
seit Jahrzehnten vom Terror geschundenen Landes, dem
ich mich besonders verbunden fühle, als auch den Angehörigen der Vereinten Nationen, die dort ihren Dienst für
uns alle leisten. Dieses Verbrechen erinnert fatal an den
Anschlag seinerzeit in Bagdad. Ich denke, wir müssen
auch unsere Solidarität mit den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern der Organisation der Vereinten Nationen
zum Ausdruck bringen.
({1})
Wir alle sind hier gefordert. Damit ist die Brücke zur
europäischen Außen- und Sicherheitspolitik auch schon
klar: Durch den Vertrag, der jetzt zustande gekommen
ist, werden unsere Instrumente verbessert. Das begrüßen
wir sehr.
Ein bewegtes europapolitisches Jahr geht zu Ende, in
dem Deutschland eine wichtige Rolle gespielt hat. Wir
haben das bereits gewürdigt. Eine Phase geht zu Ende,
die von Selbstzweifeln, Identitätssuche und Denkpausen
- manchmal auch Pausen vom Denken und nicht nur
Pausen zum Denken - gekennzeichnet war.
Ein Tiefpunkt war das Scheitern des Verfassungsvertrags, der besser gewesen wäre als das, was wir jetzt haben. Es ist absurd, dass manche derjenigen, die den Verfassungsvertrag verhindert haben, jetzt weniger
bekommen, als sie mit dem Verfassungsvertrag bekommen hätten.
Ein weiterer Tiefpunkt war das Schachern im Juni
dieses Jahres, das den Bürgerinnen und Bürgern nicht
gerade mehr Lust auf Europa gemacht hat. Gut, dass dieses Gewürge vorbei ist.
({2})
Wir bekommen jetzt eine neue Rechtsgrundlage, auf der
wir uns in den nächsten Jahren bewegen können und
müssen. Auf dieser Grundlage müssen wir jetzt Ergebnisse produzieren. Bei den Ergebnissen müssen wir uns
langsam etwas anderes einfallen lassen, Frau Bundeskanzlerin, als immer wieder auf die Roaming-Gebühren
zu verweisen,
({3})
nicht nur, weil beim Thema Europa neben der erforderlichen Technik auch ein bisschen mehr Feuer zu erkennen
sein muss, sondern auch, weil wir jenseits wichtiger und
auch politisch korrekter Themen wie des Klimaschutzes
feststellen müssen, dass es um die Selbstbehauptung der
Europäer in der Globalisierung geht. Dann muss man
auch fragen, wie wir uns am besten aufstellen, um in der
Globalisierung zu bestehen. Was ist mit der Vollendung
des Binnenmarkts, die schon sehr lange auf sich warten
lässt? Diese Themen kann man nicht ausblenden.
({4})
Aber wenn man sie ansprechen würde, dann würde sich
herausstellen, dass wir beispielsweise recht unterschiedliche Vorstellungen haben, wie man das angeht. Die Diskrepanzen, die nicht zuletzt in den letzten Tagen zwischen Frankreich und Deutschland zum Tragen
gekommen sind, haben gezeigt, dass wir noch einen langen Weg vor uns haben, um wieder zu gemeinsamen Positionen zu finden.
Wer von außen auf dieses Europa blickt, der sieht dieses ungeheure Erfolgsprojekt von Frieden und Wohlstand auf diesem Kontinent, der so lange zerstritten war.
Er sieht die beherzte Wiedervereinigung dieses so lange
geteilten Kontinents, und er muss trotzdem Sorge haben
um die Entwicklung des Gewichts, das Europa in der
Hochgeschwindigkeitsglobalisierung in einer Welt mit
mehr Polen als früher einbringt, in einer Welt, in der die
wirtschaftliche und gesellschaftliche Dynamik bei vielen
dieser neuen Pole erheblich stärker ausgeprägt ist als bei
uns. Deshalb muss sich dieses Europa nicht zuletzt auch
einem ökonomischen, bildungspolitischen und technologischen Fitnessprogramm unterwerfen.
({5})
Der Vertrag ist eine gute Grundlage. Aber ich denke,
wenn wir die Bürgerinnen und Bürger, wie es immer so
schön heißt, mitnehmen wollen, dann müssen wir ein
bisschen mehr Begeisterung entfachen. Denn sonst werden wir im Kleinmut versinken. Wenn wir in der Globalisierung bestehen wollen, dann brauchen wir aber Mut
zu mehr Europa - einem Europa, das unsere Interessen
kraftvoll bündelt, das die Werte aufgeklärter, rechtstaatlicher Demokratien glaubwürdig vorlebt und vertritt und
damit die Attraktivität unseres Lebensmodells fördert
und das auf die Vielfalt seiner Völker, Regionen, Religionen und Kulturen rekurriert und dies als Stärkung und
Bereicherung empfindet und folglich auch dafür sorgt,
dass Entscheidungen am besten dezentral getroffen werden, wo immer dies möglich ist.
Wir haben also noch nicht den großen Wurf geschafft.
Aber vielleicht brauchen wir mehr Zeit und Geduld, um
dahin zu kommen, und müssen doch wieder kleinere
Schritte voreinander setzen.
Mir ist bei diesem Vertrag wichtig, dass die doppelte
Mehrheit keine technische Frage ist. Es ist eine Frage,
in der der Doppelcharakter der Europäischen Union zum
Ausdruck kommt, nämlich zum einen als Union von
Völkern, die sich unabhängig von ihrer Größe und wirtschaftlichen Kraft auf Augenhöhe begegnen und ebenbürtig sind, und zum anderen als demokratische Gemeinschaft von Bürgerinnen und Bürgern, die jeweils für
sich genommen das gleiche Gewicht einbringen, wenn
es darum geht, Entscheidungen demokratisch zu legitimieren. Deswegen ist das ein Fortschritt, ohne den wir
nicht gut hätten weiterleben können.
({6})
Denn der Vertrag von Nizza hatte hierfür eine sehr
schlechte Grundlage geschaffen.
({7})
Ich kann jetzt auf viele Kritikpunkte nicht eingehen
- mein Kollege Markus Löning wird sicherlich noch das
eine oder andere, insbesondere zum Wettbewerb, ansprechen -, sondern will mich auf die Außenpolitik beschränken. Die Außenpolitik ist ein sehr wichtiger Faktor. In sehr kurzer Zeit folgt der erste Lackmustest, der
zeigen wird, ob wir in der Lage sein werden, die Kosovo-Krise zu bewältigen. Ich wünsche Ihnen, Herr Minister und Frau Bundeskanzlerin, hierfür eine glückliche
Hand. Wir haben eben im Ausschuss lange darüber diskutiert. Hoffen wir, dass es gelingt, die europäischen
Partner einigermaßen zusammenzuhalten, damit sich
nicht das Trauma des Versagens der Europäer auf dem
Balkan wiederholt, das uns seit den 90er-Jahren begleitet. Wenn es uns einigermaßen gelingt, nach einer
möglichen Unabhängigkeitserklärung auch unsere eigene Politik festzulegen, dann brauchen wir von der
Bundesregierung eine klare Auskunft, wie - das muss
rechtlich überprüfbar sein - die weitere Präsenz der Bundeswehr im Rahmen von KFOR auf dem Balkan - genauer gesagt: im Kosovo - geregelt werden soll. Denn
immerhin - es wird ja immer gesagt, die UN-Resolution
1244 gebe das her - steht in dieser Resolution in Verbindung mit dem KFOR-Mandat und dem Mandat, das der
Deutsche Bundestag erteilt hat, die Verpflichtung, die
territoriale Integrität Serbiens zu wahren.
({8})
Das in Verbindung mit der Schlussakte von Helsinki
bringt uns in eine ziemlich schwierige Situation. Das
muss rechtlich sauber geklärt werden. Bitte verstehen
Sie mich nicht falsch: Die FDP plädiert für alles andere
als den Rückzug aus dem Kosovo. Wir halten diese Mission für erforderlich, aber sie muss rechtlich sauber fundiert sein.
({9})
Meine Damen und Herren, ein letztes Wort zu den außenpolitischen Fragen: Was mich sehr beunruhigt, Frau
Bundeskanzlerin, ist das Auseinanderdriften von Frankreich und Deutschland. Es gab wiederholt Situationen,
bei denen am Ende auch durch Ihr beherztes Eintreten
das Schlimmste verhindert worden ist. Die deutschfranzösische Zusammenarbeit darf natürlich nicht
Direktorium oder Ähnliches sein, sondern muss als notwendige Voraussetzung für jeden Fortschritt in Europa
verstanden werden. Diese deutsch-französische Zusammenarbeit muss mehr sein als das Verhindern von
Schlimmerem. Sie muss eine gestaltende Politik sein.
Sowohl bei der Mittelmeerunion als auch bei dem sogeDr. Werner Hoyer
nannten Rat der Weisen ist Schlimmeres verhindert worden. Das allein kann jedoch nicht genug sein, wenn wir
uns gemeinsam mit Frankreich wieder aktiv an der Gestaltung der europäischen Politik beteiligen wollen.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Angelica SchwallDüren von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Nach der Krise der Europäischen Union haben wir in der
Tat ein erfolgreiches Jahr in der EU hinter uns gebracht,
und das sowohl in inhaltlicher Hinsicht als auch im Hinblick auf die Reform der rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union. Das ist zunächst einmal der Erfolg
der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Ich möchte Ihnen, Frau Bundeskanzlerin und Herr Außenminister,
noch einmal für die Arbeit, die Sie in diesem Jahr geleistet haben, danken.
({0})
Ich möchte Ihnen aber auch dafür danken, dass Sie die
Voraussetzungen dafür geschaffen haben, dass die portugiesische EU-Ratspräsidentschaft diesen Erfolg fortsetzen konnte.
95 Prozent des Inhaltes, der Substanz des Verfassungsvertrages konnten in den Reformvertrag übernommen werden. Für mich ist das Wesentliche, dass wir mit
diesem Vertrag mehr Demokratie in der Europäischen
Union haben, weil das Europäische Parlament gestärkt
ist, weil die Bürgerrechte zum Beispiel durch ein europäisches Bürgerbegehren gestärkt sind,
({1})
aber auch weil die nationalen Parlamente mehr Rechte
bekommen haben, in europäischen Fragen mitzuwirken
und damit die Legitimation der handelnden Regierungen
im Europäischen Rat zu stärken.
Wir haben mehr Bürgerrechte. Das ist für mich ganz
entscheidend. Ich freue mich sehr, dass vor ungefähr
zwei Stunden in Straßburg die Grundrechtecharta proklamiert wurde. Es ist natürlich traurig, dass zwei Länder ausscheren werden, dass Großbritannien ein Opt-out
erkärt hat und Polen dem aus innenpolitischen Gründen
folgt. Ich will aber gleichzeitig sagen, dass ich sehr
glücklich bin, dass sich Polen nun sehr klar bereitgefunden hat, den Reformvertrag zu unterschreiben.
({2})
Mit dem neuen Grundlagenvertrag haben wir mehr
Effizienz zu erwarten, zum Beispiel durch eine verkleinerte Kommission und durch verbesserte Entscheidungsfindungen über die qualifizierte, doppelte Mehrheit. Nun
gilt es allerdings, die Ratifizierung über die Bühne zu
bringen. Ich sage die Unterstützung der SPD-Fraktion
zu, damit wir im Deutschen Bundestag rasch zu einer
Ratifizierung kommen. Wir möchten gerne mit Ihnen allen und der Regierung dafür werben, dass auch in den
übrigen Mitgliedstaaten die Ratifizierung rasch über die
Bühne gebracht wird.
({3})
Wir werden - genauso wie bei der Ratifizierung des Verfassungsvertrages - ein Begleitgesetz einbringen. Das
haben wir schon einmal erfolgreich durchgesetzt.
Nun gibt es manche, die nach dem Prinzip „Nach der
Reform ist vor der Reform“ vorgehen und bereits darüber diskutieren, was man als Nächstes tun soll. So hat
der französische Staatspräsident die Einsetzung eines
Rates der Weisen vorgeschlagen. Ich bin sehr froh, dass
es unter anderem der deutschen Regierung gelungen ist,
dieses Gremium auf eine Reflexionsgruppe zu minimieren; denn ich glaube, dass es zuerst darum gehen muss,
die Reform umzusetzen, Erfahrungen zu sammeln und
dann die notwendigen Debatten in den europäischen
Gremien und den nationalen Parlamenten, aber auch mit
der Öffentlichkeit zu führen. Es ist klar: Die Europäische
Union ist ein lernendes System und wird sicherlich auch
in Zukunft Veränderungen unterliegen. Die Bürger und
Bürgerinnen sowie wir, ihre Vertreter in den Parlamenten, haben über die Zukunft der Europäischen Union, unsere gemeinsamen Werte und unsere gemeinsame europäische Identität zu diskutieren.
Ich appelliere an die Regierung - das ist wichtig -:
Wir brauchen jetzt eine intensive und klare Kommunikation mit der Bürgerschaft. Denn der Reformvertrag hat
einen Mangel: Er ist nicht gut lesbar, auch wenn uns
manche glauben machen wollen, dass wir nun einen vereinfachten Vertrag bekommen. Wir müssen ihn nun lesbar und verständlich machen, damit die Bürger und Bürgerinnen tatsächlich den Wert erkennen können, der mit
diesem neuen Grundlagenvertrag geschaffen wird.
Des Weiteren geht es darum, die neuen Strukturen zu
nutzen. Ich will das an ein paar Beispielen deutlich machen. Ich bin sicher, dass uns der neue europäische
Außenminister, auch wenn er nicht so heißen darf, helfen wird, unsere Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik fortzuentwickeln.
({4})
Selbstverständlich ist er keine Garantie. Es wird nicht
unbedingt nötig sein, die gemeinsame außen- und sicherheitspolitische Strategie völlig zu verändern, wohl aber,
sie an Gegebenheiten anzupassen, die notwendigen Debatten zu führen und auf einen gemeinsamen Punkt zu
bringen, auch bedingt durch die neuen Strukturen.
Die Herausforderungen sind offensichtlich. Wir haben heute noch über den Kosovo zu sprechen. Darauf
wird mein Kollege Gert Weisskirchen sicherlich ausführlich eingehen. Die Bundeskanzlerin hat über den
EU-Afrika-Gipfel und die großen Herausforderungen
berichtet, die wir in der Zusammenarbeit zwischen EU
und Afrika zu bestehen haben. Eine weitere Herausfor13804
derung ist die EU-Russland-Strategie. Ich bin überzeugt,
dass wir als Deutsche hier nach wie vor eine aktive Rolle
spielen müssen, um die Prozesse voranzubringen.
Herr Hoyer, ich glaube, dass wir durchaus die Chancen der deutsch-französischen Zusammenarbeit nutzen
können, nicht exklusiv, aber durch das gemeinsame Anstoßen von Prozessen und Einflussnahme. Deswegen bin
ich froh, dass es der Kanzlerin gelungen ist, die Idee einer Mittelmeerunion in eine Form zu bringen, die es erlaubt, dass wir die Zusammenarbeit zwischen allen EUMitgliedstaaten und der Mittelmeerregion, vergleichbar
mit der Zusammenarbeit mit den osteuropäischen Staaten, so voranbringen, dass sich dort die demokratischen
Strukturen weiterentwickeln sowie die wirtschaftliche
und die soziale Entwicklung und vor allen Dingen ein
friedliches Zusammenleben gefördert werden.
({5})
Ich glaube, man sollte heute, einen Tag nachdem der
neue polnische Ministerpräsident in Berlin gewesen ist,
auch ein Wort zu den deutsch-polnischen Beziehungen
verlieren. Dank der neuen polnischen Regierung sind die
Chancen, dass sich die Beziehungen zwischen unseren
beiden Ländern positiv entwickeln, gut. Darüber bin ich
sehr froh. Ministerpräsident Donald Tusk hat es folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: Die anstehenden Fragen, auch Interessenunterschiede können in einer sachlichen und freundlichen Atmosphäre behandelt werden.
Wir können viele Fragen im europäischen Kontext miteinander klären, ob das Energiefragen sind - Polen ist
um seine Energiesicherheit besonders besorgt - oder ob
es um eine gemeinsame Kompetenz im Hinblick auf die
Nachbarn im Osten, die Zusammenarbeit der Europäischen Union mit ihnen und deren europäische Perspektive geht.
({6})
Wir haben eine Reihe von wichtigen Themen anzupacken. Wir können damit natürlich nicht warten, bis der
neue Grundlagenvertrag umgesetzt ist. Diese Themen
werden schon bei diesem Gipfel auf der Tagesordnung
stehen. Frau Bundeskanzlerin hat hier das Thema Klimaschutz genannt. Ich möchte noch einmal betonen,
welch großer Erfolg die Festlegung der Ziele CO2Reduktion, Effizienzsteigerung und Aufwachsen der erneuerbaren Energien gewesen ist.
Jetzt kommen allerdings die „Mühen der Ebene“.
Jetzt geht es darum, das Erreichen dieser Ziele anzustreben und unter den europäischen Staaten ein BurdenSharing, eine Verteilung der Lasten, zu verabreden. Dies
ist auch eine Chance für Innovationen, die wir ergreifen
sollten, um die europäische Wissensgesellschaft voranzubringen.
Lassen Sie mich zum Abschluss eines sagen - ich bin
froh, dass auch die Bundeskanzlerin das angesprochen
hat -: Europa muss in der Zukunft noch mehr Gewicht
auf die soziale Dimension legen.
({7})
Wir wissen sehr genau, dass das Nein zum Reformvertrag auch damit zu tun hatte, dass die Menschen verängstigt waren.
({8})
Zum Beispiel in Großbritannien sagen Gewerkschaften
ihrer Regierung interessanterweise: Ihr müsst die Ratifizierung ablehnen, weil die sozialen Grundrechte wegen
des Opt-out nicht verankert sind. Das weist darauf hin,
dass wir hier gemeinsam für ein Europa der Vollbeschäftigung und des sozialen Zusammenhalts kämpfen müssen. Dazu gehört, dass in den einzelnen Mitgliedstaaten
etwas vorangebracht wird; Stichwort Mindestlöhne.
({9})
Wir müssen aber auch für gemeinsame soziale Standards
kämpfen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor all diesen Aufgaben steht nun die neue slowenische Präsidentschaft.
Das ist eine große Herausforderung für ein kleines Land.
Außerdem möchte Slowenien dafür sorgen, dass dadurch, dass die Schengen-Grenzen nun verändert werden
- das ist ein wunderbarer Vorgang -, keine neuen Mauern entstehen. Ich wünsche der zukünftigen Präsidentschaft von dieser Stelle alles Gute. Ich bin sicher, dass
wir gemeinsam mithelfen, unser Europa zukunftsfähig,
nachhaltig und sozial voranzubringen.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Monika Knoche von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Welch noble politische Aufgabe hätte
es sein können, meine sehr geehrten Herren und Damen,
die Zukunft der Europäischen Union mit der Bevölkerung in den Mitgliedstaaten zu beraten und zu beschließen!
({0})
Volksabstimmungen durchzuführen, das hätte das Interesse gefördert, das hätte die europäische Integration und
Identität gestärkt.
({1})
Aber nein, eine breite demokratische Beteiligung,
eine Kenntnis der Inhalte des Reformwerks sind erkennbar nicht gewünscht. Noch nicht einmal eine lesbare
Version des Textes liegt vor. Sollen die Menschen nicht
Bescheid wissen? Ist man da schon ein bisschen von der
Volksnähe abgekommen?
Wie dem auch sei, die sogenannte Reflexionsphase
hätte genutzt werden müssen, mit der Bevölkerung die
Zukunft der EU zu gestalten. Dann hätten Sie in der ReMonika Knoche
gierung für die Regierungskonferenz auch erfahren, wie
stark der Wunsch ist, ein soziales, ein gerechtes, ein ökologisches und ein friedensstiftendes Europa zu bekommen.
({2})
Was jetzt zum Ratifizieren vorliegt, ist ein alter Brief
in neuem Umschlag, wie Giscard d’Estaing es formuliert. Die gesamte Entstehung des Vertrages erfüllt den
Anspruch auf Demokratie, Transparenz und Partizipation nicht. Wir halten sie schlicht für undemokratisch.
({3})
Deshalb wollen wir Linken heute Information über
Vertragsinhalte geben. Man muss den Willen der deutschen Bevölkerung nicht fürchten. Sie ist proeuropäisch
und nicht nationalistisch. Es gibt breite Unterstützung
dafür, dass die wirtschaftsstarke EU ihre Kraft dafür einsetzt, die globalen und innereuropäischen Probleme
friedlich, solidarisch und gerecht zu lösen.
Das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer ökologischen Energiewende ist nirgendwo so groß wie in
Europa. Aber was wird festgeschrieben? Die institutionelle Förderung der Atomenergie! Das ist ein Irrweg.
({4})
In Europa haben Menschen erfolgreich soziale Rechte
erkämpft. Das gehört zur europäischen Kultur und Tradition. Aber was bekommen sie? Noch nicht einmal die
Zusicherung der Sozialstaatlichkeit! Das versprochene
Sozialprotokoll existiert nicht.
({5})
Was sind die europäischen Werte und Standards
wert, wenn man Großbritannien erlaubt, die Grundrechtecharta nicht verbindlich anzunehmen?
Wir sagen: Die Auswirkungen der neoliberalen EUWirtschafts- und Sozialpolitik stehen dem Freiheits- und
Gleichheitsideal, das in der europäischen Geschichte
verankert ist, entgegen.
({6})
Wenn wir Linke die neoliberale Wirtschaftsordnung für
die EU ablehnen, dann tun wir das auch deshalb, weil
wir für Demokratie, für Teilhabe und für Gestaltungsmacht des Gesellschaftlichen eintreten. Es zeugt von einem kulturellen Selbstverständnis, wenn man verhindern
will, dass Markt und Wettbewerb in immer weitere Bereiche des Daseins vordringen.
({7})
Deshalb sagen wir: Es ist Zeit für eine Reregulierung in
Europa.
({8})
Mit großer Sorge haben wir gelesen, was die EU
künftig an Sicherheits- und Verteidigungspolitik definiert. 1999 ist eine operativ eigenständige Verteidigungspolitik eingeleitet worden. Jetzt soll der Spielraum
des Militärischen sogar noch erweitert werden. Es ist für
uns völlig inakzeptabel, dass im Vertrag eine Aufrüstungsverpflichtung festgeschrieben wird.
({9})
Es ist für uns völlig indiskutabel, dass mit der Verteidigungsagentur eine institutionalisierte Lobby der Rüstungsindustrie festgeschrieben wird.
({10})
Wir fragen die Regierung: Was bedeutet es, wenn die
sogenannte maßgebliche Rolle der EU im Sicherheitsund Verteidigungsbereich zur Vitalität des erneuerten
Atlantischen Bündnisses beitragen soll? Was haben wir
Europäer und Europäerinnen zu erwarten, wenn die Zusicherung militärischer Mittel für Einsätze außerhalb der
EU zum integralen Bestandteil europäischer Außenpolitik erklärt wird?
Beachtlich ist: Militäreinsätze der Union sollen in
Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Charta der
Vereinten Nationen erfolgen. Das klingt gut. Aber sind
wir auch sicher, dass sie mit UN-Mandat erfolgen werden? Bedeutet das, dass eine europäische Armee ab
2014, wenn das Mehrheitsprinzip gilt, ohne UN-Mandant in Einsätze gehen kann? Eine Stand-by-Interventionstruppe hat sie ohnehin schon. Wird es überdies zu
einem militärischen Kerneuropa kommen, in dem sich
einzelne Mitgliedstaaten zu der sogenannten verstärkten
militärischen Kooperation zusammenfinden, was der
Vertrag zukünftig erlaubt?
Meine sehr geehrten Herren und Damen, einen solchen Vertrag können wir nicht begrüßen.
({11})
Er leitet eine europäische Fehlentwicklung ein. Deshalb
sage ich für die deutsche Linke und für die europäische
Linke: Wer eine zivile, friedliche, soziale und gerechte
Europäische Union will, muss diesen Vertrag ablehnen.
({12})
Das Wort hat jetzt der Fraktionsvorsitzende der CDU/
CSU, Volker Kauder.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr verehrte Kollegen! Der morgige Tag in Lissabon wird zu einem großen Tag für Europa. Wir hatten eine Phase der
Stagnation in Europa. Nichts ging mehr voran. Auch die
Menschen haben gespürt, dass ein bisschen die Kraft aus
der Entwicklung genommen worden war. Deshalb haben
wir heute allen Grund, der portugiesischen EU-Ratspräsidentschaft herzlich zu gratulieren, dass sie es in wenigen Monaten geschafft hat, dass wir morgen den Vertrag
in Lissabon unterschreiben können.
({0})
Dass dies möglich geworden ist, ist aber auch ein Ergebnis der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Dafür sagen wir unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel herzlichen Dank. Ohne ihre konsequente Vorarbeit wäre das,
was morgen in Lissabon geschehen wird, nicht möglich
geworden.
({1})
Lissabon zeigt, dass es in Europa eine neue Dynamik
gibt und dass die Verwirklichung der europäischen Vision gerade meiner Generation noch nicht vollendet ist.
Nach dem Zweiten Weltkrieg begannen wir, unsere Vision zu verwirklichen, indem wir uns darum bemühten,
dass die Schlagbäume fallen und ein Europa ohne
Grenzen entsteht. Wir haben nämlich gewusst: Ein Europa ohne Grenzen wird ein Europa sein, das Frieden
schafft. Ich kann nur immer wieder sagen: Wir haben allen Grund, darüber zu reden. Selbst wenn man im europäischen Einigungsprozess nichts anderes hinbekommen
hätte als nur das, was wir bisher erreicht haben, nämlich
Frieden in Europa, wäre auch dies schon ein großartiges
Ergebnis.
({2})
Vor wenigen Wochen standen viele von uns auf den
Friedhöfen in ihrer Heimat. Wer dort stand, weiß, was es
bedeutet, dass wir nicht mehr wie früher alle 30 bis
40 Jahre das niedergerissen haben, was Generationen davor aufgebaut haben. Am Totensonntag bzw. am Volkstrauertag ist deutlich geworden: Europa, das ist ein großartiges Ergebnis für Frieden und Freiheit in unserer
Welt.
({3})
Nun aber, so hat es die Bundeskanzlerin heute gesagt,
wird Europa demokratischer. Das ist richtig. Es wird
neue Regeln geben, die es auch dem Deutschen Bundestag ermöglichen, frühzeitiger auf Entwicklungen in der
EU einzugehen. Wir haben uns darauf eingestellt: Der
Deutsche Bundestag hat in Brüssel ein Büro eingerichtet. Die Fraktionen sind in Brüssel präsent. Dass wir
frühzeitiger tätig werden können, hat für unsere Arbeit
im Deutschen Bundestag ganz konkrete Konsequenzen:
Wir werden mehr als bisher - das wird natürlich den
Vorsitzenden des Europaausschusses freuen - auch hier
im Plenum über europäische Themen reden müssen. Wir
werden deutlich machen müssen, mit welchen Vorhaben
wir als Parlament einverstanden sind und bei welchen
wir als Parlament Veränderungen erwarten. Europa wird
also für uns im Deutschen Bundestag konkreter erfahrbar.
Wir werden natürlich auch darauf achten müssen,
dass sich Europa nicht Kompetenzen nimmt, die es gar
nicht hat. Es wird entscheidend sein, Frau Bundeskanzlerin, dass Europa nicht nur auf dem Papier demokratischer wird, sondern dass es auch in der Praxis demokratischer wird.
({4})
Die Bereiche, in denen Europa keine Kompetenzen hat,
sollte es komplett den Nationalstaaten überlassen. Dazu
will ich ein ganz konkretes Beispiel nennen: Europa hat
keine Kompetenzen beim Bodenschutz. Trotzdem versucht Europa, sich des Themas zu bemächtigen. Ich sage
Ihnen: Den Schutz unserer Heimat bekommen wir alleine hin. Darum braucht sich die EU nicht zu kümmern.
({5})
Deswegen erwarten wir, dass Europa sich nicht da Kompetenzen anmaßt, wo es keine hat. Wir werden dafür
ganz massiv eintreten. An diesen konkreten Beispielen
wird deutlich werden, wie stark wir Europa wirklich demokratisiert haben.
Richtig ist auch, dass das Europäische Parlament neue
Rechte bekommt. Daher wird die Zusammenarbeit des
Deutschen Bundestages mit dem Europäischen Parlament intensiver werden müssen. Wir werden aber dem
Europäischen Parlament gegenüber deutlich machen
müssen, an welchen Stellen wir eigene Positionen haben,
und es bitten, sich dafür einzusetzen.
In diesem Jahr wird erneut deutlich, wie stark unsere
Visionen „Europa ohne Grenzen“ und „Europa des Friedens“ wirken. Denn am 21. Dezember werden in Europa
weitere Schlagbäume fallen. Die Schengen-Zone wird
vergrößert. Man kann nun die Länder im Osten, im Westen, im Norden und im Süden Europas besuchen, ohne
dass man einen Ausweis vorzeigen muss. Dies ist eine
erfreuliche Entwicklung.
Angesichts der Tatsache, dass der Schengen-Raum
größer wird und dass die Außengrenzen der Union nun
in anderen Staaten liegen, ist es umso wichtiger, dass wir
nicht nur in Europa, sondern auch in unserem eigenen
Land die Sicherheitsinteressen ernst nehmen. Die Terrorismusbekämpfung findet nicht nur an den Grenzen der
Schengen-Staaten statt, sondern sie findet auch im eigenen Land statt. Deshalb müssen wir bei den Gesetzesvorhaben, die vor uns liegen, endlich zu Ergebnissen in
der Großen Koalition kommen.
({6})
Wir erwarten - das ist richtig -, dass in Europa der
Bürokratieabbau vorankommt. Wir haben diesbezüglich manche Sorgen. Trotzdem glaube ich, dass wir auf
einem richtigen Weg sind. Alle diejenigen, die immer
wieder berechtigterweise Kritik an dem üben, was in
Europa teilweise passiert - auch die Sozialdemokraten
und wir tun das -, müssen natürlich zugeben, dass es in
der Großen Koalition nicht immer so einfach ist, wie es
sein könnte.
({7})
Der Weg in Richtung Bürokratieabbau ist aber richtig.
Wir haben konkrete Maßnahmen vereinbart, die nun umgesetzt werden müssen. Auch das gehört dazu: Wenn
Europa demokratischer werden soll, dann muss es unbürokratischer werden, als es heute ist.
({8})
Neben den kleinen Themen, die wir bearbeiten müssen, sollte Europa auch auf die großen Herausforderungen schauen. Wenn Europa wieder näher an den
Menschen sein will - wie die Bundeskanzlerin zu Recht
gefordert hat - dann können die Menschen von diesem
Europa Antworten auf für sie wichtige Fragen erwarten.
Für mich beinhaltet die Vision eines geeinten Europas
nicht nur, dass die Nationalstaaten zusammenarbeiten,
sondern auch, dass Europa eine starke Position in der
Welt einnimmt. Die Voraussetzung dafür ist aber, dass
Europa stark und in sich gefestigt ist.
Nach der Unterzeichnung des Vertrages - Frau Bundeskanzlerin, ich sage Ihnen zu, wir werden ihn so
schnell wie möglich ratifizieren; ich halte den Sommer
nächsten Jahres für durchaus wahrscheinlich - muss die
innere Einheit Europas gefestigt werden. Wir haben
Länder aufgenommen - das war richtig -, die noch
große Anstrengungen unternehmen müssen. Ich denke
dabei an Bulgarien und Rumänien. Ich finde es gut, dass
Europa eine große Anziehungskraft hat und dass alle in
die Europäische Union wollen. Aber ich sage auch klipp
und klar: Nicht der subjektiv verständliche Wunsch,
nach Europa zu kommen, kann der Maßstab sein. Der
Maßstab muss vielmehr sein, ob die Voraussetzung gegeben ist, die Integrationsaufgabe zu meistern.
({9})
Die Nachbarschaftspolitik in Europa muss stärker
ausgebaut werden. Denn den berechtigten Wunsch nach
engeren Beziehungen zu Europa haben viele Länder, die
nicht alle Vollmitglied werden können. Daher kommt
der Nachbarschaftspolitik eine große Bedeutung zu.
Herr Kollege Kauder, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Nein.
Ich möchte zudem deutlich sagen: Es gehört natürlich
auch zur inneren Festigung Europas, dass die Staatschefs
eng zusammenarbeiten. Daher muss zunächst einmal die
Zusammenarbeit in Europa gestärkt und sollten nicht so
sehr ständig neue bilaterale Möglichkeiten gesucht werden. Ich sage ebenfalls ganz klar: Die deutsch-französische Zusammenarbeit ist der Motor Europas. Aber auch
der Präsident Frankreichs muss wissen, dass wir zusammenarbeiten müssen. Deswegen sage ich klar und deutlich: Von den Entwicklungen, die sich da abzeichnen,
beispielsweise in Richtung auf eine Mittelmeerunion,
halte ich relativ wenig. Das hat mit dem, was wir unter
Europäischer Union verstehen, wenig zu tun.
({0})
Wenn wir darüber reden, dass wir morgen den Vertrag
unterschreiben und es für uns neue Herausforderungen
gibt, so will ich einige Punkte nennen, über die wir in
der nächsten Zeit reden müssen.
Erstens geht es um die Position Europas in der
Globalisierung. Wir müssen zeigen, dass Europa unsere
Interessen in der Globalisierung vertritt. Die Menschen
spüren alle ganz genau, dass die Nationalstaaten allein
nicht mehr in der Lage sind, ihre Position im Prozess der
Globalisierung zu vertreten. Also muss es Europa tun.
Zweitens. Wir alle wissen ganz genau, dass die
Energiefrage für uns von großer Bedeutung und für die
Volkswirtschaft entscheidend ist. In diesem Zusammenhang müssen wir meiner Meinung nach ernsthaft darüber
nachdenken, wie in Europa mehr Wettbewerb am Energiemarkt organisiert werden kann - das schaffen wir in
den Nationalstaaten nicht mehr -; aber es muss auch eine
intensivere Zusammenarbeit geben, um Energiesicherheit herzustellen. Es darf nicht sein, dass jeder versucht,
seine Interessen am weltweiten Energiemarkt durchzusetzen. Hierbei wird sich zeigen, ob Europa stark genug
ist, um gemeinsame Interessen bei der lebensnotwendigen Frage der Energieversorgung zu vertreten.
({1})
Heute fand, wie die Bundeskanzlerin angesprochen
hat, auch die Proklamation der Grundrechte im Straßburger Parlament statt. Grundrechte wirken nach innen,
innerhalb Europas; aber sie wirken natürlich auch nach
außen. Glaubwürdigkeit hängt davon ab, dass man die
Grundwerte und Grundpositionen, die in Europa vertreten werden, auch zum Maßstab des Handelns nach außen
macht.
({2})
Deswegen hat die Bundeskanzlerin völlig recht:
Menschenrechte als das Ergebnis europäischer Entwicklung können natürlich nicht allein in Europa gelten.
Menschenrechte sind für uns universal, und sie sind unteilbar. Deswegen geht es nicht, dass man mit Leuten
einfach so spricht, ohne darauf hinzuweisen, welche
Menschenrechtsverletzungen sie begangen haben.
Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass man mit
Gaddafi spricht; aber so zu tun, als ob er ein lupenreiner
Demokrat wäre, entspricht nicht meiner Auffassung.
({3})
Genau an diesem Beispiel will ich zeigen: Wir müssen
zu mehr Gemeinsamkeit kommen; dies fordern wir. Wir
sind überzeugte Europäer. Für überzeugte Europäer ist
aber auch klar, dass sie zwar ihre Interessen vertreten,
aber sie für gemeinsame Interessen Europas auch zurückstellen, und Menschenrechtsinteressen sind europäische Interessen. Sie müssen gemeinsam wahrgenommen
werden.
({4})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen,
Europa hat eine neue Spannung bekommen, Europa ist
wieder interessant geworden, weil sich etwas bewegt.
Das ist das Entscheidende. Aber noch etwas gehört dazu,
etwas, wobei Europa gerade noch die Kurve bekommen
hat und woran die Bundesregierung und die Bundeskanzlerin ganz entscheidend mitgewirkt haben. Ich hätte
mir nur eine etwas andere Kommunikation vorgestellt.
Europa braucht, um in den Herzen der Menschen
noch tiefer verankert zu werden, auch Emotionen. Sie
entstehen durch gemeinsame Projekte, an denen man
sich freuen kann, dass etwas passiert. Ein solches gemeinsames Projekt, an dem Emotionen deutlich werden
- auch für die junge Generation -, ist Galileo, das wir
jetzt auf den Weg bringen.
({5})
Ich wünsche mir noch mehr solche konkreten Projekte, auf die die Menschen in Europa stolz sein können.
Wir haben heute ein Navigationssystem, das von den
Vereinigten Staaten gemacht worden ist, und es funktioniert auch. Das ist doch okay. Aber ich kann Ihnen sagen: Ich freue mich auf den Tag, an dem wir Europäer
sagen können: Wir haben mit großem technischen Sachverstand etwas geschaffen, das noch besser ist als das,
was die Amerikaner geliefert haben. Ich möchte den
Wettbewerb Europas mit anderen großen Nationen und
Kontinenten der Welt im Bereich von Wissenschaft und
Forschung, weil man sich an ihm begeistern kann.
Ich bin ein überzeugter Europäer. Europa hat eine
neue Kraft gewonnen. Dafür sind wir außerordentlich
dankbar. Wir begleiten Sie, Frau Bundeskanzlerin, mit
allen Kräften auf diesem Weg und sagen Ihnen zu - das
kann ich auch für die SPD sagen -:
({6})
Der Vertrag von Lissabon wird im nächsten Jahr im
Deutschen Bundestag ratifiziert.
Herzlichen Dank.
({7})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Dr. Ilja Seifert.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege Kauder,
ich wollte Ihnen eigentlich eine Zwischenfrage stellen,
als Sie über die rasche Ratifizierung des Vertrages von
Lissabon sprachen, der ja erst morgen unterschrieben
werden soll. Ich wundere mich schon, dass Sie später in
Ihrer Rede die Menschenrechte sehr hoch gehalten haben. Denn das Menschenrechtsabkommen der UNO
über die Rechte behinderter Menschen ist noch nicht
vom Bundestag ratifiziert worden. Ein entsprechender
Gesetzentwurf ist noch nicht einmal eingebracht worden. Warum dauert dies angesichts dessen, dass Sie die
Menschenrechte so hoch halten, so lange? Vor diesem
Hintergrund kann ich nicht verstehen, dass Sie den Reformvertrag der EU so sehr durchpeitschen und es gar
nicht schnell genug gehen kann. Bitte erklären Sie mir
und vor allen Dingen den betroffenen Menschen dies.
({0})
Herr Kauder? - Keine Erwiderung.
({0})
Dann hat das Wort der Kollege Jürgen Trittin von der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Zeitalter der Globalisierung nimmt die Kraft der Nationalstaaten ab, ihre Probleme im Interesse ihrer Bevölkerung
zu lösen. Gleichzeitig nehmen natürlich die sozialen,
ökonomischen und ökologischen Folgekosten entsprechend zu. Die Antwort darauf sind Organisationen wie
die Europäische Union. Keines der Probleme, die hier
angesprochen worden sind, keines der globalen Probleme dieser Welt, aber auch keines der nationalen Probleme werden sich allein nationalstaatlich lösen lassen.
Darauf ist die Europäische Union die Antwort.
({0})
Deswegen ist es wichtig, dass der Reformvertrag der
EU in Kraft gesetzt wird. Dies ist eine wichtige Antwort
auf die Globalisierung. Diese Antwort auf die Globalisierung muss demokratisch sein. Sie muss eine an
Grundrechten, an Menschenrechten orientierte Antwort
sein.
Zum ersten Mal wird mit diesem Vertrag die Grundrechtecharta rechtsverbindlich. Vergleichen Sie diese
Grundrechtecharta einmal mit den Art. 1 bis 20 des
Grundgesetzes. Sie werden feststellen: Diese Grundrechtecharta beinhaltet nicht nur klassische Freiheitsrechte, sondern stellt auch soziale, wirtschaftliche und
kulturelle Rechte an die Seite dieser Freiheitsrechte.
Deswegen ist dies eine sehr zeitgemäße Grundrechtecharta. Diese Grundrechtecharta widerlegt das Geschwätz von einer neoliberalen Ordnung in Europa.
({1})
Dieser Vertrag beinhaltet Zielsetzungen, auf die sich
politisches Handeln orientieren soll: auf eine soziale
Marktwirtschaft, auf Vollbeschäftigung, auf sozialen
Fortschritt, auf Umweltschutz, auf eine Verbesserung der
Umweltqualität. Ich sage ausdrücklich: Ich halte diesen
Zielkatalog, der in diesem Reformvertrag festgeschrieben ist, wirklich für einen Erfolg. Ich halte ihn insbesondere für einen Fortschritt gegenüber dem jetzigen Zustand Europas. Deswegen werden wir Grüne diesem
Vertrag zustimmen.
({2})
Er stärkt demokratische Rechte, er stärkt das Europäische Parlament, er stärkt den Bundestag. Wir hoffen,
dass der Bundestag diese Rechte künftig mit dem notwendigen Selbstbewusstsein - und nicht gehindert durch
Herrn Kauder - in Anspruch nimmt.
({3})
Es kommt aber auch darauf an, wie wir alle diese
neue Handlungsfähigkeit nutzen. Es ist richtig, sich um
die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsraums Europa
Sorgen zu machen. Aber diese Herausforderungen werden wir nur als europäische Herausforderungen bewältigen können. Das heißt, Wettbewerbsfähigkeit ist etwas
anderes, als gelegentlich ein AKW an einen Autokraten
oder ein paar Airbusse an China zu verkaufen.
({4})
Liebe Frau Bundeskanzlerin, lieber Herr Kauder, ich
stimme Ihnen ja zu, wenn Sie sagen, dass Menschenrechte und wirtschaftliche Entwicklung - ich glaube, das
war Ihre Formulierung - die beiden Seiten einer Medaille sind. Wenn man weiß, dass wirtschaftlicher Erfolg
nur da dauerhaft ist, wo rechtsstaatliche und demokratische Verhältnisse herrschen, dann muss man mit Ländern wie China oder Russland offen sprechen; das ist
richtig. Man muss aber konsequent sein.
({5})
Und es ist nicht konsequent - lieber Kollege Fischer, Sie
werden dem, was ich jetzt sage, zustimmen -, gegenüber
dem König Abdullah von Saudi-Arabien zu schweigen.
({6})
An dieser Stelle möchte ich eine Bemerkung zu den
unterschiedlichen Organen der Europäischen Union machen. Hier wird immer betont, dass Europa insbesondere
in Sachen Klima- und Umweltschutz eine Vorreiterrolle eingenommen hat. Frau Merkel, wir beide wissen,
dass das stimmt; das kann man nicht bestreiten. Wir
beide wissen aber auch, dass Europa diese Rolle nur deswegen hat einnehmen können, weil die Europäische
Kommission sehr stark war und selbstbewusst aufgetreten ist. Sie hat diesen Fortschritt in der europäischen
Umweltgesetzgebung erst möglich gemacht, und zwar,
indem sie sich vielfach gegen die kurzfristigen und national bornierten Interessen einzelner Staaten - ich beziehe hier Deutschland durchaus mit ein - durchgesetzt
hat.
({7})
Wichtig ist, dass wir ein Mehr an europäischer Außenpolitik bekommen werden. Wie notwendig das ist,
sieht man am Beispiel des Kosovo. Natürlich war es
kein freundlicher Akt, als
Egal was die Kosovaren machen, wir erkennen
sie an. Mit diesem Satz ist aber auch die Herausforderung beschrieben, der wir uns stellen müssen. Die Herausforderung lautet ganz einfach: Wir können nicht zulassen, dass Europa in Washington oder Moskau
geordnet und sortiert wird. Europa muss seine Ordnung
selbst organisieren. Das ist die Herausforderung, der wir
uns im Kosovo stellen müssen. Wir müssen Europa an
dieser Stelle zusammenhalten und in Europa zu einer
koordinierten Vorgehensweise kommen. Das wird die
Bewährungsprobe der neuen, gemeinsamen europäischen Außenpolitik sein.
({0})
Ich möchte eine letzte Bemerkung machen. Beinhaltet
der Vertrag so etwas wie ein Aufrüstungsgebot? Ich
finde, Sie sollten mit diesem Unsinn aufhören.
({1})
Das, was im Vertrag steht, ist völlig eindeutig. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die europäische Verteidigungspolitik sind an die Charta der
Vereinten Nationen gebunden. Im Vertrag ist die Gleichberechtigung von zivilen und militärischen Fähigkeiten
ausdrücklich festgehalten. Das ist der richtige, der neue
europäische Ansatz der Außenpolitik. Es geht nicht um
die Militarisierung der europäischen Außenpolitik. Auch
aus diesem Grund sind wir dafür.
({2})
Das Wort hat der Kollege Michael Roth von der SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn morgen
die Staats- und Regierungschefs und die Außenminister
den Vertrag unterschreiben, ist das zweifellos ein guter
Tag für Europa, aber auch ein guter Tag für unser Land.
Wir haben in den vergangenen Jahren sehr viel Zeit
verloren. Wir haben uns zu lange mit uns selbst beschäftigt. Die Kanzlerin hat es eben schon gesagt: Die Welt
wartet nicht auf Europa. Jetzt haben wir endlich die
Chance, uns nicht mehr nur mit institutionellen Fragen
zu beschäftigen. Wir können uns endlich darum kümmern, dass die Welt mit Europa, mit einem demokratisch
verfassten Europa, mit einem sozial geprägten Europa
besser wird. Ich befürchte jedoch, dass der Reformprozess noch nicht in Gänze abgeschlossen ist. Wenn sich
diese Welt dramatisch verändert, wird sich auch die Europäische Union immer wieder verändern müssen.
Was wir jetzt brauchen, ist kein neuer institutioneller
Anlauf. Vielmehr müssen wir den Menschen Zeit geben,
sich mit dem Gesicht und den Inhalten des neuen
Michael Roth ({0})
Europas anzufreunden. Sie müssen sich in Europa sicher
fühlen und Vertrauen zu diesem Europa fassen.
({1})
Wir haben einen langen Weg zurückgelegt, der meines Erachtens 1999 begonnen hat; dieser Weg war mit
starken Parlamenten verbunden. Wir haben 1999, auch
damals unter deutscher Ratspräsidentschaft, die Initiative für einen Konvent gestartet, der eine Grundrechtecharta erarbeitet hat. Aufbauend auf den großen
Erfolgen des ersten Konvents haben wir einen weiteren
Konvent ins Leben gerufen, der das Verfassungsprojekt
initiiert und vorläufig zu einem erfolgreichen Abschluss
gebracht hat, bis zwei Mitgliedstaaten in Referenden
Nein gesagt haben. Ein starkes Europa kann aus unserer
Sicht nur mit starken Parlamenten gelingen. Deshalb ist
es wichtig, dass wir als Parlament den Vertrag von Lissabon aktiv begleiten und dazu beitragen, dass er erfolgreich in die politische Praxis umgesetzt wird.
({2})
Ich sehe für uns zwei Rollen: Zum einen - diese Rolle
ist im Deutschen Bundestag traditionell stark verankert verstehen wir uns als Partner des Europäischen Parlaments. Dies vor allem in den Politikbereichen, die vergemeinschaftet sind und in denen es klare Zuständigkeiten
der Europäischen Union gibt. Zum anderen werden wir
uns innerstaatlich in noch stärkerem Maße an der Gestaltung der Europapolitik zu beteiligen haben.
So richtig es ist, dass der Vertrag von Lissabon im Bereich der Subsidiaritätskontrolle neue Rechte für die
nationalen Parlamente vorsieht, verspreche ich mir davon allein nicht allzu viel, weil die Verfahren kompliziert sind. Die Achtwochenfrist ist kurz. Ich glaube
nicht, dass man den politischen Erfolg Europas nur an
der Subsidiarität wird messen können. Viele Fragen,
über die wir hier gestritten und um deren Klärung wir
gerungen haben, waren im Hinblick auf die Subsidiarität
klar geregelt. Dennoch haben sie eine erhebliche politische Dimension und unmittelbare Konsequenzen für die
Bürgerinnen und Bürger unseres Landes, zum Beispiel
in den Bereichen Soziales, Ökologie und Arbeitsmarkt.
Deswegen ist es genauso wichtig, dass wir die Bundesregierung, die nun einmal Deutschland im Rat vertritt, in allen Politikbereichen frühzeitig, umfassend und
sehr kritisch begleiten. Das wird die entscheidende Aufgabe des Deutschen Bundestages sein. Hier verspreche
ich mir von der Vereinbarung zwischen Bundestag und
Bundesregierung eine ganze Menge. Wir müssen sie
aber noch mehr mit Leben füllen, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
({3})
Wir fordern starke Parlamente ein, vor allem als
Selbstverpflichtung. Und gerade deshalb können wir mit
der Einsetzung eines Rates der Weisen bzw. einer Reflexionsgruppe nicht zufrieden sein. Denn die Diskussionen der vergangenen Jahre haben doch gezeigt, dass wir
die Debatten über Europas Zukunft in die Parlamente hineintragen müssen. Wir müssen hier darüber streiten, in
welche Richtung Europa gehen soll. Wir brauchen nicht
mehr Arbeitskreise von Expertinnen und Experten, sondern wir müssen hier über den richtigen Weg streiten.
Wir brauchen das Interesse der Abgeordneten und nicht
allein das Interesse der Elder Statesmen bzw. Elder Stateswomen; das reicht nicht aus. Die Einrichtung einer
Reflexionsgruppe - wenn wir denn meinen, ihr allein die
Debatte über die Zukunft Europas übertragen zu können schwächt die Parlamente.
({4})
Das Gesicht der Europäischen Union hat sich in den
vergangenen Jahren dramatisch verändert. Wir spüren,
dass viele neue Mitgliedstaaten mit dieser Europäischen
Union noch fremdeln. Möglicherweise hat das etwas mit
den Beitrittsverhandlungen zu tun, die maßgeblich die
Kommission zu verantworten hat. Möglicherweise werden sie zu technisch geführt.
Die Diskussion darüber, worum es bei dem vereinten
Europa eigentlich geht und warum es zukunftsweisend
ist, die Politik in der Europäischen Union gemeinsam zu
gestalten, ist in vielen neuen Mitgliedstaaten offensichtlich ausgeblieben. Wir sollten dafür sorgen, dass diese
zentralen Fragen stärker in die Beitrittsverhandlungen
integriert werden, damit diese Fremdheit so schnell wie
irgend möglich überwunden werden kann. Denn ich
glaube, wir brauchen in der Europäischen Union mehr
Gemeinsinn, nicht nur das Pochen auf nationale Interessen.
({5})
Vor dem Hintergrund der bitteren Erfahrung der gescheiterten Referenden in den Niederlanden und in
Frankreich wissen wir: Das Ratifizierungsverfahren ist
kein Selbstläufer. Deshalb müssen wir deutlich machen:
Bei dem Ratifizierungsprozess und bei dem Vertrag von
Lissabon geht es in erster Linie um ein gemeinsames europäisches Projekt, nicht um nationale Interessen. Es ist
gut, dass aus den Reihen der Assemblée Nationale und
des Bundestages die Initiative hervorging, das Ratifizierungsverfahren in den EU-Mitgliedstaaten möglichst eng
aufeinander abzustimmen. Damit wird deutlich, dass es
nicht allein um französische, deutsche oder slowenische
Interessen geht. Wir alle profitieren unmittelbar davon,
wenn es in allen 27 Mitgliedstaaten ein sorgfältiges, aber
dennoch rasches Ratifizierungsverfahren gibt.
Der Vertrag hat zweifellos Stärken und Schwächen.
Über die Schwächen haben wir hier schon gesprochen.
Die Symbole sind nicht mehr Teil des Vertrages. Ich begrüße ausdrücklich, dass sich die Bundesregierung der
Initiative angeschlossen hat, ein klares Bekenntnis zu
den europäischen Symbolen abzugeben.
Das Gezerre um die Grundrechtecharta - darauf ist
gerade schon hingewiesen worden - war mehr als peinlich. Wie kann es sein, dass ein Mitgliedsland wie Großbritannien seinen eigenen Bürgerinnen und Bürgern dieMichael Roth ({6})
sen Grundrechtsschutz verwehrt? Bei der Charta geht es
in erster Linie nicht um die Bindung nationaler Institutionen, sondern darum, die Bürgerinnen und Bürger der
Europäischen Union in allen Mitgliedstaaten vor etwaiger Willkür der EU-Organe zu schützen. Es ist ein Armutszeugnis, wenn auf der einen Seite eine politische
Kraft in einem Land den Reformvertrag kritisiert, weil er
eine Grundrechtecharta enthalten soll, und auf der anderen Seite die Gewerkschaften desselben Landes kritisieren, dass die darin enthaltene Grundrechtecharta für die
Bürgerinnen und Bürger des eigenen Landes nicht gelten
soll.
Hier müssen wir nachbessern. Wir müssen Polen und
Großbritannien einladen, sich eher früher als später aktiv
an der Umsetzung der Grundrechtecharta zu beteiligen.
Die Länder sollten darin eine Chance sehen, mit manchen Vorurteilen und Klischees gegenüber Europa aufzuräumen und das Band des Vertrauens zwischen Bürgerinnen und Bürgern einerseits und europäischen
Institutionen andererseits stärker zu knüpfen.
({7})
Es ist teilweise kritisiert worden, dass sich die EUKommission in den vergangenen Jahren zu stark auf die
Diskussion um Projekte konzentriert hat. In Brüssel hieß
es immer so schön: Europa mit Projekten voranbringen.
Wir haben gesagt: Projekte können nur dann gelingen,
wenn auch der Reformvertrag gelingt. Jetzt besteht aus
meiner Sicht schon die Notwendigkeit, deutlich zu machen, dass - wie es im Slogan unserer Ratspräsidentschaft so schön hieß - Europa gemeinsam gelingt.
Die Zukunft der Europäischen Union entscheidet sich
nicht allein über den Reformvertrag. Es geht auch um
folgende Fragen: Können wir die Beziehungen zu Afrika
auf ein stabiles Fundament stellen? Schaffen wir es, unseren europäischen Nachbarn, die der Europäischen
Union entweder nicht angehören wollen oder noch nicht
angehören können, ein attraktives Kooperationsangebot
zu unterbreiten? Erreichen wir eine stabile Lösung der
Kosovo-Krise? Schaffen wir eine europäische Einwanderungs- und Asylpolitik ohne nationalen Schaum vor
dem Mund? Schaffen wir hier einen Ausgleich zwischen
der Verantwortung der Mitgliedstaaten und der Verantwortung der Europäischen Union? Wenn ich mir die innenpolitische Diskussion vergegenwärtige, habe ich so
meine Zweifel. Und: Verschaffen wir in unserem Land
der Arbeitnehmerfreizügigkeit stärkere Geltung, nicht
erst ab 2011, sondern möglicherweise schon ab 2009?
All das sind Fragen, die uns hier in den nächsten Wochen und Monaten intensiv beschäftigen werden.
Ich danke der Kanzlerin, dass sie klare Worte zum
europäischen Personal gefunden hat. So wichtig der Vertrag auch ist: Orientierung, Profil und Qualität werden
auch von europäischen Persönlichkeiten gegeben. Wir
erwarten, dass bei der Besetzung der Ämter des Ratsvorsitzenden, des Hohen Repräsentanten für Außen- und
Sicherheitspolitik, des Kommissionspräsidenten und des
Präsidenten des Europäischen Parlaments - hier dürfte
es das geringste Problem sein - Persönlichkeiten gewählt werden, die sich dem europäischen Gemeinsinn
verpflichtet fühlen und nicht nur einigen Mitgliedstaaten.
Darum geht es bei der Besetzung des europäischen
Spitzenpersonals. Diese Fragen stehen 2009 an. Auch
diesbezüglich müssen wir ein klares Wort sprechen,
wenn die Zeit dafür gekommen ist.
({8})
Herr Kollege Roth, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich danke der portugiesischen Präsidentschaft - auch
namens meiner Fraktion - für die hervorragende Arbeit.
Ein gutes europäisches Jahr liegt hinter uns. Ich bin mir
sicher, die slowenischen Partner werden auf diesem guten Jahr aufbauen können und dazu beitragen, dass wir
alle eine gute europäische Zukunft haben.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Markus Löning von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Lassen
Sie mich zunächst für das Protokoll festhalten, dass die
Bundesregierung vor dem Eintritt in die Verhandlungen
über diesen Reformvertrag nicht das Einvernehmen mit
diesem Haus gesucht hat, wie es das Grundgesetz und
die gemeinsame Vereinbarung zwischen Bundesregierung und Bundestag vorgesehen und vorgeschrieben hätten.
Ich habe es öfter gesagt und wiederhole es jetzt angesichts der Tatsache, dass Sie, Herr Kauder, hier gerade
wieder Demokratie und die Stärkung der Parlamente eingefordert haben: Die Chance dazu hätten Sie gehabt. Wir
hätten der Bundesregierung von vornherein ein entsprechendes Mandat mitgeben können. Es entspricht dem
politischen Willen der beiden großen Fraktionen in diesem Haus, dass dies nicht geschehen ist. Was nützen uns
die Reden über Demokratie und eine stärkere Beteiligung der Parlamente? - Nichts! Wir brauchen den politischen Willen, das tatsächlich einzufordern. Dazu fordere
ich Sie hier nachdrücklich auf!
({0})
Dasselbe gilt für den Rat der Weisen. Der Rat der
Weisen ist für jeden Parlamentarier Europas ein Schlag
ins Gesicht. Wir sind die gewählten Vertreter der Völker
Europas. Wir - die Abgeordneten im Bundestag, die
Kollegen im Europäischen Parlament sowie die Kollegen in den Landtagen und den anderen nationalen und
regionalen Parlamenten - sind diejenigen, denen es zusteht, eine öffentliche Debatte über die Zukunft Europas
zu führen. Wir brauchen keinen Geheimzirkel, der
irgendwo hinter verschlossenen Türen redet. Wir brauchen eine öffentliche und nachvollziehbare Debatte.
({1})
Ich hätte mir von der Bundesregierung klarere Worte an
die französischen Partner gewünscht. Wenn sie sich dann
wenigstens in der Türkeifrage nachvollziehbar bewegt
hätten! Aber das haben sie auch nicht getan. Ich frage
mich, welchen Mehrwert diese Absprache, die es da gegeben hat, für Europa dargestellt haben soll.
Lassen Sie mich ein paar Worte zu Wettbewerb und
Globalisierung sagen. Frau Bundeskanzlerin, als ich Sie
vorhin reden hörte, dachte ich, Sie wollen sich um den
Vorsitz der Sozialdemokratischen Partei bewerben.
({2})
Das Thema Wettbewerb wird darauf reduziert, wie wir
Europa vor unfairem Wettbewerb schützen können. Sicherlich ist das ein richtiges und wichtiges Thema. Aber
es ist doch nur ein kleiner Aspekt des Bereichs „Wettbewerbsfähigkeit und Wettbewerb“.
Ich kann mich daran erinnern, dass die CDU früher
einmal eine Partei gewesen ist, die sich für Marktwirtschaft, Wettbewerb und Wettbewerbsfähigkeit eingesetzt
hat. Das würde ich mir wünschen, und das brauchen wir
auch in der Europäischen Union. Es ist die Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaften und unseres Binnenmarkts, die die wahre soziale Dimension Europas darstellt. Sie schafft Arbeitsplätze hier vor Ort, sie bewirkt
die soziale Absicherung unserer Bürgerinnen und Bürger, und sie zeigt unseren Bürgerinnen und Bürgern eine
Perspektive für Europa auf. Wir brauchen mehr marktwirtschaftlichen Mut und mehr Binnenmarkt in der Europäischen Union und nicht nur diese Abwehrschlachten, so richtig diese im Hinblick auf Länder wie China
sein mögen. Diesbezüglich wünsche ich mir eine deutlich veränderte Politik.
({3})
Herr Kauder, insbesondere von Ihnen wurden die
Themen Kompetenzen und Subsidiarität angesprochen. Wir sind der Meinung, dass der Vertrag diesbezüglich einige neue Rechte bietet. Aber ich hätte mir Beispiele gewünscht. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie die
Bereiche nennen, die wir wieder in nationale Verantwortung zurückholen wollen. Auf europäischer Ebene wird
vieles geregelt, das vor vielen Jahren richtigerweise dort
angesiedelt wurde, zum Beispiel die Landwirtschaftspolitik. Aber ist es heute noch richtig, dass die Landwirtschaftspolitik ausschließlich auf europäischer Ebene geregelt wird? Wäre es nicht vernünftiger, auf die Dauer
wieder zu einer nationalen Kofinanzierung und zu den
Regeln des Binnenmarktes zu kommen? Da fehlt mir
insbesondere aufseiten der CDU der politische Mut, das
anzusprechen.
Zum Schluss möchte ich Ihnen, Herr Steinmeier,
gerne noch sagen: Sie haben während der deutschen EURatspräsidentschaft große Anstrengungen unternommen; das erkennen wir an. Aber danach war die Luft
raus.
({4})
Das Verhältnis zu Frankreich wurde angesprochen. Mindestens genauso wichtig - das möchte ich hier anmahnen ist für uns das Verhältnis zu Polen. Ich hätte mir gewünscht, dass auch von Ihnen die Initiative gekommen
wäre, sich mit den Balten, den Finnen, den Schweden,
den Russen und den Polen zusammenzusetzen und noch
einmal über die Ostseepipeline zu sprechen. Seit gestern
gibt es einen ersten Ansatz mit Polen; das begrüße ich
sehr. Ich finde, dieser Ansatz muss auf die übrigen Nachbarn ausgeweitet werden; denn wir haben in der Frage
der Ostseepipeline ein großes Problem mit unseren
Nachbarn, das die gutnachbarschaftlichen Beziehungen
stört. Dieses Problem müssen wir unbedingt lösen. Ich
hoffe, dass die Chance genutzt wird, jetzt, da in Polen
eine neue Regierung im Amt ist, die Beziehungen auf
eine neue Basis zu stellen. Es ist bitter notwendig, dass
wir hier deutliche Fortschritte machen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Thomas Silberhorn von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit der Unterzeichnung des Vertrages von Lissabon am Wochenende werden wir sagen können, dass
2007 ein erfolgreiches Jahr für die Europäische Union
gewesen ist. Mit der Reform der Institutionen und der
Instrumente werden wir uns nach Jahren EU-interner
Debatten endlich wieder den Aufgaben zuwenden können, die die Europäische Union als globaler Akteur
wahrzunehmen hat. Die deutsche Ratspräsidentschaft
hat entscheidende Vorarbeiten dazu geleistet, dass die
portugiesische Ratspräsidentschaft in wenigen Wochen
das Mandat der Regierungskonferenz in einen konkreten
Vertragstext umsetzen konnte. Dafür darf ich der Bundesregierung und namentlich der Kanzlerin Dank zollen.
Ich möchte allerdings, zumal ich ein überzeugter Europäer bin, zwei Punkte kritisch anmerken, weil dieses
Verfahren meines Erachtens an zwei Punkten verbesserungsbedürftig ist. Der erste Punkt: Das Mandat der Regierungskonferenz war sehr eng, sodass es keinen Verhandlungsspielraum gab. Das ist verständlich vor dem
Hintergrund, dass mit dem Entwurf des Verfassungsvertrages schon alles auf dem Tisch lag. Ich meine aber,
dass bei künftigen Vertragsänderungen die nationalen
Parlamente bereits in die Vorbereitung der Verhandlungspositionen, aber auch in die Verhandlungen der Regierungskonferenz intensiver einbezogen werden müsThomas Silberhorn
sen. Ich freue mich, dass in dem Reformvertrag dazu
eine Lösung angedacht ist mit dem Konvent, der künftig
bei Vertragsänderungen eingerichtet werden soll und
dem auch Vertreter der nationalen Parlamente angehören
sollen. Damit ist sichergestellt: Die Weiterentwicklung
der Europäischen Union ist nicht etwa eine technische
Aufgabe für Beamte; sie bedarf vielmehr der intensiven
parlamentarischen Begleitung.
({0})
Der zweite Punkt, den ich kritisch anmerken möchte,
ist das Feilschen um nationale Sonderregelungen, mit
dem wir Gefahr laufen, die Glaubwürdigkeit des Reformprozesses zu untergraben. Ich habe Verständnis für
Ausnahmeregelungen, die sachlich begründet sind, beispielsweise wenn sie dazu beitragen, dass am Ende der
Vertrag als Ganzes in einem Land zustimmungsfähig
wird. Ich habe aber wenig Verständnis für nationale Egoismen, die zulasten der europäischen Integration gehen.
Das betrifft beispielsweise das Verschieben der doppelten Mehrheit bei Ratsentscheidungen auf 2014,
({1})
aber auch den zusätzlichen Sitz im Europäischen Parlament für Italien. Romano Prodi hat als Kommissionspräsident noch im September 2003 zu solchem Vorgehen
gesagt: Die Mitgliedstaaten neigen dazu, durch Kuhhandel Kompromisse zu sichern, die auf Kosten der Glaubwürdigkeit und Stabilität des Systems gehen können.
({2})
Wo er recht hat, hat er recht.
Ich meine, es ist jetzt an der Zeit, dass alle ihre gemeinsame Verantwortung für das Ganze wahrnehmen.
({3})
Wir haben dazu Gelegenheit in dem Ratifikationsprozess, der bis zur Europawahl 2009 abgeschlossen sein
soll. Eine Reihe von Mitgliedstaaten hat schon gut darauf hingearbeitet. Ich darf erwähnen, dass der französische Präsident Sarkozy den Mut hatte, schon in seinem
Wahlkampf anzukündigen, dass Frankreich auf ein Referendum verzichten will. Andernfalls wären wir in diesem Ratifikationsprozess heute möglicherweise nicht so
weit, wie wir es sind.
Mit dem Zustimmungsgesetz werden wir als Bundestag ein Begleitgesetz verabschieden, mit dem wir die
neuen Verfahren bei der Subsidiaritätsrüge und der Subsidiaritätsklage gemäß des Vertrages konkretisieren und
eine Reihe weiterer Beteiligungsrechte des Bundestages verankern wollen. Ich begrüße, dass nun auch die
Bundesländer mit einem einstimmigen Beschluss der
Europaministerkonferenz der deutschen Länder angekündigt haben, mit der Bundesregierung Verhandlungen
über eine Novellierung der Bund-Länder-Vereinbarung
aufnehmen zu wollen; denn dieses Anliegen hat ganz offenkundig die Zusammenarbeitsvereinbarung zum Vorbild, die wir im Bundestag mit der Bundesregierung
geschlossen haben. Ich glaube, dass alles, was die parlamentarische Begleitung und Mitverantwortung stärkt,
insgesamt begrüßenswert ist, weil dadurch auch die Akzeptanz der europäischen Politik gefördert wird.
({4})
Meine Damen und Herren, wir müssen diesen Reformvertrag nun mit Leben füllen. Deswegen muss die
Präzisierung der Kompetenzordnung, müssen die Klarstellungen beim Subsidiaritätsprinzip zu Konsequenzen
führen. Wenn in diesem Vertrag klargestellt wird, dass
durch die Ziele der EU keine Kompetenzen begründet
werden, dann genügt es eben nicht, wenn sich die Mitgliedstaaten und die Kommission einig sind, eine Sache
auf europäischer Ebene voranzutreiben, sondern dann
muss auch die Vorfrage beantwortet werden, ob die europäische Ebene überhaupt tätig werden darf, weil dadurch nicht nur der Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten als Ganzes, sondern - präzise gesagt - auch der
Handlungsspielraum der nationalen Parlamente entscheidend berührt wird. Oder: Wenn in dem Vertrag klargestellt wird, dass die EU nicht ausdrücklich übertragene
Zuständigkeiten auch nicht wahrnimmt, sondern sie bei
den Mitgliedstaaten verbleiben, dass die EU nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig werden darf,
die ihr übertragen werden, dann bedeutet das ganz konkret, dass dynamische Kompetenzerweiterungen, wie
wir sie in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes über viele Jahre hinweg erlebt haben, künftig
nicht mehr möglich sein werden. Auch der Europäische
Gerichtshof muss den Handlungsspielraum der nationalen Parlamente künftig stärker achten, als das bisher der
Fall gewesen ist.
({5})
Ich bin der Auffassung, dass die Achtung der Kompetenzordnung und des Subsidiaritätsprinzips in der Haushaltspolitik auch ganz praktisch ihren Niederschlag findet.
Die Europäische Union - darauf müssen wir im Zusammenspiel mit unseren Kollegen im Europäischen Parlament achten - darf Personal und Finanzmittel nur dafür
einsetzen, wofür ihr tatsächlich Aufgaben übertragen
worden sind.
Die Europäische Union muss sich nun auf das
Wesentliche konzentrieren. Sie darf kein Spielplatz für
nationale Egoismen oder EU-interne Egoismen sein,
sondern sie muss in einer globalisierten Welt wettbewerbsfähig werden. Sie muss eine Europäische Union
der gemeinsamen Werte sein, wenn sie als globaler Akteur auftritt. Insoweit hoffe ich, dass die Gemeinsame
Außen- und Sicherheitspolitik tatsächlich gemeinsam
wird. Wir haben beim EU-Afrika-Gipfel erlebt, dass dies
möglich ist. Die klaren Worte der Kanzlerin sind im
Kreis der Europäischen Union auf Unterstützung gestoßen. Ich hoffe und wünsche mir, dass uns das auch hinsichtlich des Kosovo gelingt. Wenn wir es schaffen, dass
wir in der Außenpolitik geschlossen und entschlossen
auftreten, dann, so denke ich, gehen wir in der Europäischen Union in eine gute Zukunft.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Dr. Diether Dehm von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Vertrag mag in manchen Einzelheiten Verbesserungen
gegenüber der Rechtslage nach Nizza bringen; das bestreiten wir nicht, aber das sagt auch wenig. Durch den
Vertrag wird aber die Tendenz zu weltweiten Militärinterventionen für Energie und Rohstoffe fremder Völker
verstärkt.
Lieber Herr Kollege Trittin, als ich gehört habe, wie
Sie die Rüstungsagentur schöngeredet haben, fand ich
das als jemand, der Sie schon länger kennt, etwas irritierend.
({0})
In der EU-Verfassung wird formuliert:
Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern.
Lieber Herr Kollege Trittin, wenn Sie darin den Willen
zur Abrüstung und zum Frieden sehen, dann kann ich
nur sagen: Mancher ist als maoistischer Tiger gestartet
und bei der Kanzlerin als Bettvorleger gelandet.
({1})
Ein Teil der Mitgliedstaaten hat schon heute Truppen
im Irak. Die Bundeswehr steht mit deutschen Soldaten in
Afghanistan. Im Kosovo wird nach der von Ihnen unterstützten, völkerrechtswidrigen und einseitigen Unabhängigkeitserklärung ein verstärktes militärisches Engagement die Folge sein. Ein größerer militärischer Einsatz
der EU in Afrika zeichnet sich ab. - Als wir uns in der
Schule für Europa begeistert haben - unser Direktor und
unsere Schülervertretung, der der Kollege Axel Schäfer
und ich gemeinsam angehört haben, waren sehr europabegeistert -, gab es wirklich den Traum von einem Europa des Friedens. Jetzt ist Europa hochgerüstet mit
Truppen in anderen Ländern. Ich sage Ihnen voraus:
Morgen wird ein schwarzer Tag für Frieden und Abrüstung in Europa.
({2})
Mit der Binnenmarktkonzeption, dem Prinzip der
wechselseitigen Anerkennung und dem Herkunftslandprinzip zum Beispiel bei der arbeitnehmer- und mittelstandsfeindlichen Dienstleistungsrichtlinie ist die Arbeitslosigkeit in der EU gestiegen. Die Löhne und Gehälter
haben erst relativ, in Deutschland dann aber auch absolut
abgenommen, und Armut breitet sich aus. Betroffen sind
vor allem Kinder.
Der Vertrag bindet die Europäische Union zwar an
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und die Organe bei
der Ausübung übertragener hoheitlicher Gewalt an diese
Prinzipien. Die Sozialstaatlichkeit fehlt aber vollständig.
Das ist ein Verstoß gegen Art. 20 und Art. 79 des Grundgesetzes. Darauf wird gegebenenfalls verfassungsrechtlich zurückzukommen sein.
({3})
Wegen der sozialstaatswidrigen Ausübung des Wettbewerbsrechts durch die EU - des unverfälschten Wettwerbs, der jetzt nur noch eine Fußnote, aber dennoch Bestandteil des Vertrages ist - geht von ihr ein unheilvoller
Zwang zur Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge aus. Die Leistungen werden schlechter, die Entgelte höher. Ohne die Linke wäre kein Ende des Privatisierungswahns abzusehen.
({4})
Ein besonders skurriles Beispiel ist der Versuch von
EU-Kommission und Europäischem Gerichtshof
({5})
- hören Sie zu! -, den niedersächsischen Landkreisen
Harburg, Rotenburg/Wümme, Soltau-Fallingbostel und
Stade
({6})
die Zusammenarbeit im Bereich der Müllverbrennung zu
verbieten und sie zur Ausschreibung und damit zur Vergabe an Privatunternehmen zu zwingen. Was will die
EU-Bürokratie denn noch alles an Daseinsvorsorge kaputtregeln? In wessen Interesse und auf wessen Kosten
soll das geschehen?
({7})
Das Volkswagenwerk in Wolfsburg wurde vom
Hitler-Regime aus geraubten Geldern der Gewerkschaften aufgebaut.
({8})
Deshalb sollten die Anteile bestimmten Beschränkungen
von Kapitalwillkür unterliegen, als 1960 die Privatisierung erfolgte. Jahrzehntelang wurde das nicht beanstandet. Jetzt aber erklärte der EuGH Vorschriften des VWGesetzes für unvereinbar mit dem EG-Vertrag. Diese
Anmaßung wurde weder von der Bundesregierung noch
von der niedersächsischen Landesregierung zurückgewiesen. Auch von den Grünen und der SPD war dazu
nichts zu hören.
({9})
Im Vertrag von Lissabon sind die Rechte des Europäischen Parlaments zwar in Teilbereichen ausgeweitet worden, die entscheidenden Demokratiedefizite wurden
aber nicht behoben. Auch zukünftig kann die EU-Kommission vom Parlament nicht wirklich gewählt und abgewählt werden. Das Europäische Parlament soll weiter
kein Recht zur Gesetzesinitiative haben, sondern vollDr. Diether Dehm
ständig vom Tätigwerden der Kommission abhängen.
Dem neuen europäischen Außenminister wird als Teil sowohl der Kommission als auch des Rats ein doppelter Hut
aufgesetzt, und damit unterliegt er keiner parlamentarischen Kontrolle. Der neue Präsident des Europäischen
Rats wird inmitten der wuchernden Ratsbürokratie ebenfalls weithin unkontrolliert vom Europäischen Parlament
und den nationalen Parlamenten agieren. Wie sollen sich
Bürgerinnen und Bürger mit einem derart intransparenten, überbürokratisierten und undemokratischen Europa
identifizieren?
Die Bürgerinnen und Bürger bzw. die Völker der Mitgliedstaaten der EU sind Wesen, die den Regierenden
eher lästig sind. Da haben sich die Völker in Frankreich
und den Niederlanden doch tatsächlich erlaubt, gegen
den Verfassungsvertrag zu stimmen, und sofort wird ihnen eine Volksabstimmung vorenthalten, obwohl die Inhalte - wie Sie selbst sagen - identisch sind. Morgen
wird eine der größten Niederlagen der europäischen Integration seit der Gründung der EWG stattfinden; denn
Sie organisieren die EU wie eine Verschwörung hinter
dem Rücken der Völker.
({10})
Welches Land und welche Politikerinnen und Politiker werden nicht von der Bundeskanzlerin wegen mangelnder Demokratie gerügt! Als Beispiel nenne ich den
Staatspräsidenten von Venezuela, Hugo Chávez.
({11})
Er hat aber eine Volksabstimmung durchgeführt und erklärt, dass er sich an das Ergebnis der Volksabstimmung,
das mit 49 zu 51 Prozent knapp gegen ihn ausgefallen
ist, halten wird. Wer braucht hier von wem Nachhilfe in
Sachen Demokratie? Er hat eine Volksabstimmung gemacht, Sie verweigern sie.
({12})
- Was soll die Aufregung? - Es wäre für Sie ganz einfach, Ihrem eigenen Demokratieanspruch gerecht zu
werden. Wir haben einen Antrag auf Ergänzung des
Grundgesetzes eingebracht, mit dem Volksabstimmungen über Änderungen der EU-Verträge ermöglicht werden. Stimmen Sie dem doch einfach zu!
({13})
Umso glaubwürdiger wären Sie, wenn Sie von anderen
Demokratie einfordern. Dann werden wir sehen, wie das
deutsche Volk, wie die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land von dem Vertrag denken, wie sie abstimmen.
Wir halten an der Integration Europas fest, die nicht
gegen unser Grundgesetz, sondern nur sozial, friedlich
und demokratisch gelingen kann - und nur mit den Bürgern und nicht hinter ihrem Rücken.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({14})
Das Wort hat der Kollege Rainder Steenblock vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
Mitglied dieses Hohen Hauses, das keine Probleme hat,
sich zu seiner linken Geschichte zu bekennen und sich
noch immer als links empfindet, ist es etwas schwierig,
hier einige Ausführungen lebend zu überstehen.
({0})
Ich möchte nur einen Satz zur Ehrenrettung der europäischen Linken sagen: Die Kommunistische Partei Italiens hat in der letzten Woche im italienischen Parlament
beschlossen, den Reformvertrag der Europäischen
Union zu ratifizieren.
({1})
Das macht deutlich, dass es in Europa Linke gibt, die ein
Interesse daran haben, die Lebensverhältnisse der Menschen, die soziale Situation der Menschen nach einer
Analyse der Wirklichkeit zu verbessern. Mit denen arbeiten wir gerne und sicherlich auch produktiv zusammen.
({2})
Die Bundeskanzlerin und der Außenminister sind ja
bereits für ihren Einsatz, den sie in dem Prozess, den Reformvertrag zu einem Erfolg zu führen, geleistet haben,
gelobt worden. Lassen Sie mich aber an dieser Stelle
noch einmal sehr deutlich machen: Der Reformvertrag
ist nicht von der deutschen Bundesregierung erfunden
worden. Er ist - daran sollte man heute erinnern, auch
im Selbstbewusstsein als Parlamentarier ({3})
vom Europäischen Konvent ausgearbeitet worden, in
dem die Parlamente der Mitgliedstaaten der EU die
Mehrheit hatten. Es ist der Vertrag unserer Parlamente.
({4})
Wir haben über die Erklärung zur Zusammenarbeit,
die ein großer Erfolg war, geredet und wissen, dass - darüber werden wir morgen entscheiden - noch eine Reihe
von Fragen zu klären sind. Wir als Parlamentarier müssen uns das Recht nehmen, europäische Politik auch von
diesem Hohen Hause aus zu gestalten. Dies muss manch13816
mal so erfolgen, dass man der Bundesregierung durch
dieses Parlament konkret vorgibt, was sie auf europäischer Ebene verhandeln soll. Das hat etwas mit Transparenz zu tun und damit, Menschen bei diesem Integrations- und Friedensprojekt mitzunehmen.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, über die deutschfranzösische Freundschaft wurde bereits gesprochen. Sie
war ein Anker der europäischen Integration. Mich treiben die gleichen Sorgen um, auf die Herr Hoyer zu Beginn der Debatte hingewiesen hat. Wenn ich mir das
deutsch-französische Verhältnis heute genau anschaue,
dann fallen mir folgende Stichworte ein: Der vorgeschlagene Rat der Weisen bedeutet nichts anderes als eine Entdemokratisierung der Entscheidungsverfahren. Die vorgeschlagene Mittelmeerunion ist nichts anderes als ein
Versuch, die Europäische Union zu spalten oder zumindest in Lobbygruppen aufzuteilen. Die EZB ist ein weiterer Problembereich, um das deutlich zu sagen. Der französische Staatspräsident, der sich all dies ausgedacht hat,
hat zudem am Tag der Menschenrechte mit Herrn
Gaddafi Verträge über den Export von Atomkraftwerken
unterzeichnet. Angesichts dessen hätte ich mir von Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, eine deutlichere Auseinandersetzung mit dem französischen Präsidenten gewünscht.
Wir können es nicht zulassen, dass aufgrund dieser
- vielleicht neu motivierten - französischen Politik, sich
europäischen Themen zuzuwenden, dann aber Spielzeuge entwickelt werden, die in der Realität die Europäische Union und andere gefährden; so habe ich Ihre mütterlichen Warnungen an Herrn Sarkozy verstanden. Aber
manchmal muss man solchen Leuten das Spielzeug wegnehmen.
({6})
Wenn Deutschland seine Verantwortung wahrnehmen
will, dann bedeutet das, dass wir zu Entscheidungsprozessen kommen müssen, die zu klaren Mehrheiten führen. Die Menschen müssen das nachvollziehen können.
Die bisherigen Vorschläge zur Kompromissbildung auf
europäischer Ebene sind dazu aber nicht geeignet. Eine
Mittelmeerunion soll im Prinzip, aber nicht so ganz,
vielleicht nur ein bisschen, angestrebt werden. Der Rat
der Weisen soll nun Reflexionsgruppe heißen. Das ist ein
toller Ausdruck. Die Menschen wissen sicherlich sofort,
was damit gemeint ist. Diese Gruppe hat tatsächlich beschränkte Rechte und darf sich nur mit bestimmten Themen befassen. Hier wären klare Entscheidungsprozesse
notwendig. Lieber Sarkozy, so geht es nicht! Deutschland und Frankreich dürfen nicht nur im PR-Bereich,
sondern müssen auch bei der Wahrnehmung der Verantwortung auf europäischer Ebene zusammenarbeiten.
Lassen Sie uns daran weiterarbeiten!
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Gert Weisskirchen von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Bundeskanzlerin, ich stimme Ihnen ausdrücklich
zu. Sie haben in Ihrer Regierungserklärung gesagt, es
gehe nun darum, mehr Handlungsfähigkeit für die Europäische Union durch den Vertragsabschluss herzustellen.
Lieber Kollege Kauder, auch Ihnen stimme ich ausdrücklich zu. Es geht genau um das, was Sie angesprochen haben. Die europäischen Nationalstaaten alleine
werden es nicht schaffen, die Herausforderungen der
Globalisierung zu meistern. Vielmehr wird die Europäische Union uns allen eine weitaus bessere Chance geben, die Herausforderungen, vor die uns die Globalisierung stellt, zu bestehen.
Die nun durch den Reformvertrag erreichte Qualität
war historisch gesehen zwingend erforderlich. Ich bin
dankbar dafür, dass die Bundesregierung trotz aller Wirren, Probleme und Konflikte, die zu bestehen waren, alles getan und darauf hingewirkt hat. Es ist ein großer Erfolg, dass dieses Vertragswerk nun in Lissabon auf
Regierungsebene endlich akzeptiert und durchgesetzt
wird.
({0})
Lassen Sie mich als Sozialdemokrat auf den Kernsatz
des 1925 von uns verabschiedeten Heidelberger Programms hinweisen: Wir wollen die Vereinigten Staaten
von Europa.
({1})
1925! Was hätten unsere Großväter und Väter Europa
und insbesondere Deutschland alles ersparen können,
wenn das deutsche Volk, Herr Stresemann und andere
mitgeholfen hätten, näher an das Ziel heranzukommen,
das wir nun Schritt für Schritt erreichen! Was hätte das
für die europäische Entwicklung bedeutet!
({2})
Deswegen sind wir Sozialdemokraten stolz darauf, dass
wir diesem Ziel jetzt einen wesentlichen Schritt näher
gekommen sind.
Von dem, was Sie, Frau Bundeskanzlerin, angesprochen haben, möchte ich gerne zwei Punkte herausgreifen.
Erstens: Afrika. Ich glaube, dass wir viel zu viel Zeit
verloren haben, die Interessen Afrikas wirklich wahrzunehmen. Wir haben zu wenig Kraft eingesetzt, um füreinander ein verlässlicher Partner zu sein. Mit dem Gipfel in Lissabon ist es mittlerweile aber gelungen, dafür
zu sorgen, dass die Partnerschaft zumindest auf dem Papier gleichberechtigt ist, lieber Kollege Fischer. Nun
wird es darauf ankommen, dass das, was auf Papier geschrieben steht, umgesetzt wird. Der Prozess, den wir in
den nächsten Tagen und Wochen bis zum 1. Januar 2008
Gert Weisskirchen ({3})
erleben, muss wirklich konstruktiv und kreativ genutzt
werden.
Liebe Frau Bundeskanzlerin, ich bitte herzlich darum,
diese Chance zu nutzen, die anstehenden Wirtschaftsabkommen - die Beratungen darüber sind noch nicht abgeschlossen - wirklich voranzubringen, sodass sich die
Partner auf dem afrikanischen Kontinent respektiert fühlen können. „Gleichberechtigte Partnerschaft“ heißt
auch, dass wir die Interessen derer, die in Afrika leben,
bei unseren Verhandlungen und Abkommen berücksichtigen. Es darf keine Asymmetrie geben. Es darf nicht
sein, dass die afrikanischen Produzenten solchen Wirtschaftsbeziehungen und Verhältnissen ausgeliefert werden oder sie Handelsschranken unterworfen werden mit
der Folge, dass sie es am Ende nicht schaffen, ihre Produkte auf unseren Märkten anzubieten. Wenn wir
„gleichberechtigte Partnerschaft“ sagen, dann müssen
wir das, was dafür Voraussetzung ist, auch durchsetzen,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Frau Bundeskanzlerin, ja, es war gut, dass in Lissabon
über Menschenrechte gesprochen wurde. Gut war auch,
darüber zu reden, wo sie verletzt werden und wer sie
verletzt. Ich würde herzlich darum bitten, sich zumindest
daran zu erinnern, was Gustav Heinemann uns einmal
gesagt hat:
Wer auf andere mit dem ausgestreckten Zeigefinger
zeigt, der deutet mit drei Fingern seiner Hand auf
sich selbst.
Menschenrechte heißt ebenfalls - ich glaube, auch
dieses Thema ist behandelt worden -: Menschen, die Europa als Fluchtburg sehen, die von mafiaähnlichen Banden auf Kähne gelockt werden - manche kentern vor den
Kanarischen Inseln oder vor Malta, und die Flüchtlinge
ertrinken -, müssen von uns ernst genommen werden.
Diese Menschen kämpfen um ihr Menschenrecht. Wir
können es am besten realisieren, indem wir mithelfen,
dass die Produktionsbedingungen in den Regionen Afrikas, aus denen sie kommen, verbessert werden, indem
wir mithelfen, dass diese Menschen an der Produktion
und am Wettbewerb zwischen Europa und Afrika gleichberechtigt teilnehmen. Auch das ist ein Stück Realisierung von Menschenrechten derjenigen, die in Afrika leben.
({5})
Zweitens: Kosovo. Der Deutsche Bundestag hat in
diesem Jahr wiederum - ich glaube, es war im Mai darüber debattiert und entschieden, eine Friedensregelung für das Kosovo militärisch abzusichern. Das Mandat der internationalen Sicherheitspräsenz beruht auf der
Grundlage der UN-Resolution 1244. Eines ist klar - das
haben wir auch in der Begründung unseres Beschlusses
in diesem Jahr festgehalten; ich zitiere -:
Die Bundesregierung hofft daher, dass der VNSicherheitsrat seiner Verantwortung gerecht wird
und möglichst bald eine neue Resolution verabschiedet, die das Statuspaket
- Ahtisaari billigt, die bisherige Resolution 1244 ({6}) des
VN-Sicherheitsrates ablöst und die Grundlage für
die neue internationale Präsenz schafft.
So weit der Beschluss.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen: Um zu
einer neuen rechtlichen Grundlage zu kommen, bedarf
es der Anstrengungen von uns allen und ganz besonders
der Kreativität der Außenminister der Europäischen
Union. Ich sage ganz ausdrücklich: Lieber Frank-Walter
Steinmeier, wir danken dafür, dass Sie immer wieder
versucht haben, auch in diesem Jahr, neue Verhandlungstische aufzubauen, neue Prozesse in Gang zu setzen, damit uns das Kosovo nicht explodiert. Vielen Dank
dafür!
Nun kommt es allerdings darauf an, in Belgrad und
Priština deutlich zu machen: Ihr müsst einhalten, was ihr
uns jetzt versprochen habt! Es geht nicht, dass unilateral
etwas entschieden und ausgerufen wird, und es geht
auch nicht, dass mit dem Gedanken gespielt wird: Wann
finden die Präsidentschaftswahlen statt? Die Zeit der
Spiele ist beendet. Jetzt muss fair miteinander darum gerungen werden, dass es eine europäische Lösung gibt.
Wir dürfen uns von niemandem, weder von Washington
noch von Moskau, sagen lassen, was wir als Europäer zu
tun haben. Die Europäische Union ist jetzt gefordert, und
sie muss jetzt klug und vernünftig handeln, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Michael Stübgen für die Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Ende dieser Debatte kann man feststellen, was wir im Deutschen
Bundestag seit vielen Jahren tun: Die regierungsfähigen
Fraktionen signalisieren auch bei unterschiedlichen Auffassungen in Einzelheiten die Zustimmung zu dem Vertrag, der nun Vertrag von Lissabon heißen wird.
({0})
Das war schon bei Maastricht so. Das war bei Amsterdam und Nizza ebenso der Fall. Eine Fraktion allerdings
arbeitet nach dem Motto: Man muss Lügen und Unterstellungen nur oft genug wiederholen, dann gibt es immer Leute, die das glauben.
({1})
Ich will noch einmal auf Folgendes hinweisen: Es ist
völlig absurd, der Europäischen Union zu unterstellen,
sie sei eine Art Kriegs- und Aufrüstungsunion.
({2})
Das Gegenteil ist der Fall. Das beweist die Geschichte
der Europäischen Union. Die Europäische Union ist das
erfolgreichste Friedensprojekt der Weltgeschichte
überhaupt.
({3})
Die Mitgliedstaaten schaffen es nicht nur, dass in ihrem
Innern Frieden herrscht, seit die Union besteht - weit
über tausend Jahre war das in Europa nicht der Fall -;
nein, sie sorgen auch außerhalb der Europäischen Union
für Frieden und Friedenserhaltung, zum Beispiel in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo. Die Europäische
Union ist eine Friedensunion und keine Kriegsunion.
({4})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dehm?
Nein.
({0})
Genauso absurd ist es, der Europäischen Union zu unterstellen, sie sei eine Art Freihandelszone, die dem
Manchesterkapitalismus fröne. Auch hier ist das genaue
Gegenteil der Fall. Nicht nur in den Verträgen ist es eindeutig anders geregelt - soziale Standards werden gesichert und ausgebaut -; auch die Geschichte der Europäischen Union belegt das, und zwar für jedes einzelne
Mitgliedsland. Es gibt kein einziges Land unter den
27 Mitgliedsländern, in dem es mit dem Beitritt zur Europäischen Union nicht zu einem wirtschaftlichen Aufschwung gekommen wäre; darüber hinaus ist es überall
auch zu besserer sozialer Absicherung, besserem Gesundheitswesen, Rechtsstaatlichkeit usw. gekommen.
Die Geschichte belegt also das genaue Gegenteil.
Ich sage Ihnen voraus: Sie werden mit Ihren Lügen
und Unterstellungen nicht durchkommen. Am Schluss
glaubt Ihnen niemand mehr.
({1})
Wenn morgen um 11.30 Uhr in Lissabon der Reformvertrag - er wird hinfort Vertrag von Lissabon heißen unterschrieben wird, kommen wir mit hoher Wahrscheinlichkeit - so sehe ich das - in die letzte Phase des
Verfassungsprozesses der Europäischen Union, nämlich
in die Ratifizierungsphase.
In der Tat, die portugiesische Ratspräsidentschaft hat
im letzten halben Jahr sehr viel und sehr gut gearbeitet.
Das müssen wir loben. Ich glaube, es ist auch richtig,
dass der Vertrag Vertrag von Lissabon heißt. Ich möchte
aber noch einmal auf Folgendes hinweisen: Ohne die
deutsche Ratspräsidentschaft und das Engagement der
Bundesregierung sowie der Kanzlerin Angela Merkel
wären wir nie so weit gekommen.
Ich möchte Rainder Steenblock zustimmen: Er hat in
der Tat recht, wenn er sagt, dass die Idee zu dem Verfassungsentwurf, der ja im Kern dem Vertragsentwurf entspricht, aus den nationalen Parlamenten kam. Im Verfassungskonvent Anfang dieses Jahrhunderts - das ist
schon einige Jahre her - hat uns unter anderem Peter
Altmaier erfolgreich vertreten.
({2})
Wir werden mit diesem Reformvertrag viele Neuerungen bekommen. Wir werden in der Lage sein, besser
und effizienter mit den anderen 26 Mitgliedstaaten zusammenzuarbeiten. Ich möchte jetzt nur noch auf wenige Punkte eingehen.
Viele von Ihnen haben in den letzten Monaten und
Jahren die Arbeit der Europäischen Kommission genauer beobachtet. Ich bin keiner von denen, die permanent laut die Europäische Kommission als bürokratisches Monster beschimpfen und deren Arbeit kritisieren.
Man muss insgesamt feststellen: Die Europäische Kommission erledigt ihre Aufgaben gut, auch wenn manchmal Fehler passieren.
({3})
Das Problem ist aber, dass wir der Europäischen
Kommission eine Struktur gegeben haben, die sie gerade dazu zwingt, in Rechtsetzungsfragen zu viel zu tun.
Die Übereinkunft, dass jedes Mitgliedsland einen Kommissar stellen soll, führt dazu, dass die Europäische
Kommission 27 Kommissare hat. Da sie eine Art QuasiRegierung ist, bedeutet das, dass sie quasi 27 Minister
hat. Jetzt versuchen Sie einmal, 27 Ministern einen Ressortbereich zuzuteilen. Ergebnis ist, dass wir Kommissare haben, die für solche beeindruckenden Dinge wie
für die Sprachenvielfalt zuständig sind. Hier greift ein
menschliches Bemühen, das man in jeder Regierung findet: Jeder Kommissar möchte mindestens einmal in seiner fünfjährigen Amtszeit auffallen. Wie fällt man auf?
Indem man eine möglichst spektakuläre Rechtsetzung
ankündigt.
({4})
Die jetzige Struktur der Kommission bringt es unweigerlich mit sich, dass zu viele Rechtsetzungsvorhaben in
Angriff genommen werden.
({5})
Deshalb ist es richtig, dass die Zahl der Kommissare
- leider erst ab 2014, aber immerhin - auf zwei Drittel
der derzeitigen Anzahl reduziert wird. Das wird die
Kommission arbeitsfähiger machen. Zugleich wird damit im Laufe der Zeit die überbordende Zahl der Rechtsetzungsvorhaben zurückgeschraubt werden.
Lassen Sie mich zum Schluss noch auf ein weiteres
Problem eingehen. Auch diesbezüglich wird mit dem
Vertrag von Lissabon ein Prozess in Gang gesetzt. Es
handelt sich um den Subsidiaritätsprozess. Das halte ich
für sehr wichtig. Sie wissen, im Maastricht-Vertrag
wurde vor über 15 Jahren das Subsidiaritätsprinzip
festgeschrieben. Passiert ist allerdings nicht viel. Zwar
wurde es im Vertrag von Amsterdam noch einmal bestätigt, indem es in einem Zusatzprotokoll sehr gut definiert
worden ist; aber erstaunlich ist doch, dass es in den letzten 15 Jahren vom Europäischen Gerichtshof keine einzige Rechtsprechung gibt, in der das Subsidiaritätsprinzip oder die Frage der Verhältnismäßigkeit eine Rolle
spielten. Es gab in den letzten 15 Jahren zwar gelegentlich Klagen - Deutschland hat auch einige geführt -,
aber der Europäische Gerichtshof hat sich in seinen Entscheidungen ausschließlich auf die Frage der Zuständigkeit bezogen, niemals Fragen der Subsidiarität oder der
Verhältnismäßigkeit rechtlich bewertet.
Ich glaube, zur endgültigen Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips ist mehr nötig. Im Moment läuft es folgendermaßen: Derjenige, der eine Rechtsetzung will, behauptet, sie sei gut, und gibt einige Erklärungen, warum
sie unter subsidiären Gesichtspunkten sinnvoll sei. Das
geht bis zu solch abenteuerlichen Erklärungen wie bei
der Bodenschutzrichtlinie. Hier wird behauptet, sie sei
nötig, weil Böden auch durch Wind und Flüsse von einem Mitgliedstaat in den anderen gelangen. Diejenigen,
die gegen eine solche Richtlinie sind, behaupten
schlicht, hier werde gegen das Subsidiaritätsprinzip verstoßen. Die Behauptungen bleiben dann im Raum stehen, egal ob es zu einer Rechtsetzung kommt oder nicht.
Ich halte es für richtig - der Grundstein dafür wird mit
dem Verfassungsvertrag gelegt -, dass wir dafür sorgen,
dass auch in diesen Fällen vermehrt Rechtsprechung
stattfindet. Das geschieht zum einen dadurch, dass
50 Prozent der nationalen Parlamente innerhalb von acht
Wochen eine Subsidiaritätsrüge erteilen können, zum anderen dadurch, dass nationale Parlamente eine Subsidiaritätsklage erheben können.
Das wird zwar ein längerer Prozess sein, aber ich
glaube, dass es wichtig für die Europäische Union ist,
dass es zu klaren und auch für den Bürger nachvollziehbaren Rechtsprechungen in Fragen der Subsidiarität
kommen wird. Ich bin überzeugt, dass wir im Laufe der
nächsten Jahre in dieser Frage Fortschritte erzielen werden und dass Subsidiarität in der Europäischen Union
dann nicht mehr nur auf dem Papier stehen wird und an
die Stelle von bloßen Behauptungen, Subsidiarität werde
gewahrt oder werde nicht gewahrt, grundsätzliche
Rechtsprechung tritt.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich nun
dem Kollegen Dr. Dehm.
Kollege Stübgen, es ist für Sie ungewöhnlich - denn
normalerweise ist das nicht Ihre Art -, dass Sie hier von
Lügen sprechen. Der Kollege Trittin hat zuvor von „Geschwätz“ geredet und damit sicherlich eine Vorlage geliefert.
Ich möchte Sie einmal Folgendes fragen.
({0})
- Ich stelle diese Frage in den Raum. Es ist dem Kollegen Stübgen überlassen, darauf zu antworten. - Bei
George Orwell heißt das Kriegsministerium „Friedensministerium“. Klingt es für Sie nach Abrüstung und
Frieden, wenn sich die Mitgliedstaaten verpflichten, ihre
militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verstärken
bzw. zu verbessern?
Wenn Sie die Sozialstaatlichkeit, die im Grundgesetz
mit der Ewigkeitsklausel für uns alle bindend festgelegt
ist und die wir daher nicht abtreten dürfen, aus dem Lissabonner Vertrag heraushalten, aber die Rechtsstaatlichkeit hineinschreiben, dann ist die Frage, warum wir von
Ihnen nicht für regierungsfähig gehalten werden, möglicherweise zu beantworten.
Führen Sie eine Volksabstimmung durch! Lassen Sie
die Menschen mitentscheiden! Machen Sie es auf dem
Boden des Grundgesetzes - mit Demokratie, mit Rechtsstaatlichkeit und mit Sozialstaatlichkeit! Wir wollen nur
auf dem Boden des Grundgesetzes regieren und nicht
mit dem eigenen Volk Versteck spielen.
({1})
Herr Kollege, wollen Sie antworten? - Bitte sehr,
Herr Kollege Stübgen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich will auf diese
Wahlkampfrede nicht weiter eingehen und nur Folgendes sagen: Wir haben in Deutschland die Erfahrung gemacht, dass sich das System der repräsentativen Demokratie bewährt hat.
({0})
Die Behauptung, Volksabstimmungen seien demokratisch und alles andere sei undemokratisch, ist schlichtweg Unsinn.
({1})
Dass die Regierungsfraktionen für den Vertrag sind,
ist seit mindestens zwei Bundestagswahlen bekannt. Die
Bürger haben die Möglichkeit gehabt, Ihre Partei mit absoluter Mehrheit zu wählen, um diesen Vertrag zu verhindern. Das haben sie aber nicht getan, und dies werden
sie nicht tun. Das ist auch richtig so.
Danke schön.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Damit kommen wir zu den Abstimmungen.
Tagesordnungspunkt 1 a. Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD auf Drucksache 16/7466. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Entschließungsantrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der
Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der Fraktionen
der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/7484. Wer stimmt
für diesen Entschließungsantrag? - Wer ist dagegen? Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist damit mit
den Stimmen aller Fraktionen mit Ausnahme der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 1 b. Interfraktionell wird die
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/7178 an
den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Haltung der Bundesregierung zur Angemessenheit von Managereinkommen in Deutschland
Ich bitte alle Kolleginnen und Kollegen, die an der
folgenden Debatte nicht teilnehmen wollen, ihre Gespräche außerhalb des Plenarsaals fortzuführen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Dr. Barbara Höll das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Merkel, hören Sie gut zu:
Wir brauchen eine unvoreingenommene, vorurteilsfreie und nicht zuletzt sensible gesellschaftliche
Diskussion. Soziale Marktwirtschaft ist immer auch
eine Wirtschaft und eine Gesellschaft, in der die
Menschen zusammengehören. Wenn das nicht mehr
funktioniert, fliegt uns der ganze Laden auseinander, um das einmal ganz einfach zu sagen.
Richtig, so sagte es die CDU-Vorsitzende auf dem Parteitag. Ja, Frau Merkel, ich stimme Ihnen selten zu, aber
an dieser Stelle stimme ich Ihnen zu: Es besteht die Gefahr, dass uns der ganze Laden auseinanderfliegt. Es
geht hier um das wachsende Auseinanderklaffen von
Arm und Reich.
({0})
Auf der einen Seite geht es um 2,6 Millionen Kinder
und Jugendliche in Armut, um enttäuschte Kinderaugen
unter dem Weihnachtsbaum, um leere Kinderbäuche in
der Schule. Es geht um 1,3 Millionen Menschen, die Tag
für Tag acht Stunden arbeiten und von ihrer Arbeit nicht
leben können. Auf der anderen Seite geht es um Managergehälter und Abfindungen in Millionenhöhe. Weil
das der Linken nicht egal ist, verlangen wir heute hier
eine Positionierung der Bundesregierung.
({1})
Eines muss ich Ihnen allerdings sagen, Frau Merkel:
Wir brauchen keine sensible, vorsichtige Diskussion.
Nein, wir brauchen keine moralinsaure Debatte über
gute und schlechte Arbeit der Manager; das ist ein anderes Thema, damit wollen Sie nur ablenken. Ich sage
klipp und klar: Sowohl Herr Schrempp als auch Herr
Wiedeking verdienen zu viel.
({2})
Die Frage der Gerechtigkeit steht für die Menschen
hier und jetzt konkret, und in dieser unserer sozialen
Marktwirtschaft darf Gerechtigkeit keine fromme, platonische Bitte sein.
({3})
Gerechtigkeit beginnt „zunächst einmal in der Einkommensentwicklung“, so Hermann Josef Abs 1964 im Interview mit Günter Gaus.
Nehmen wir das Beispiel von Herrn Abs. Im letzten
Jahr seiner Ära verdiente er circa das 42-Fache eines
durchschnittlichen Arbeitnehmers.
({4})
Bei Josef Ackermann war es 2003 das 380-Fache. Beantworten Sie mir doch bitte einmal folgende Frage: Verdient Herr Ackermann leistungsmäßig das 9-Fache von
dem, was Herr Abs verdient hat?
({5})
Der Laden droht auseinanderzufliegen, und um dies
zu verhindern, sind wir hier als Politikerinnen und Politiker gewählt. Hier ist gesetzgeberisches Handeln gefragt, nicht aber sensible Diskussionen und Empörungsrhetorik,
({6})
aber auch keine Arbeitsgruppen,
({7})
die jetzt berufen werden und dann nach den Landtagswahlen der erstaunten Öffentlichkeit verkünden dürfen,
dass ja alles nicht so ganz einfach sei und überhaupt.
({8})
Hier steht die Frage von Armut und Reichtum, und
wir können und müssen handeln:
({9})
Mindestlöhne und Grundsicherung brauchen wir genauso wie die Begrenzung der Managergehälter und Abfindungen. Am 16. November dieses Jahres, vor knapp
vier Wochen, hatten Sie die Gelegenheit, hierzu einen
ersten Schritt zu tun. Wir haben Ihnen die Änderung des
Aktiengesetzes vorgeschlagen, eine Begrenzung der
höchsten Gehälter auf das 20-Fache dessen, was der am
niedrigsten entlohnte sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in dem jeweiligen Unternehmen verdient. Bis
auf fünf Enthaltungen haben Sie alle dies unisono abgelehnt. 24 Stunden später entdecken Sie das Thema: Wir
müssen etwas tun, es ist so schlimm. - Das ist doch einfach nur heuchlerisch.
({10})
Sie haben uns in der Debatte hier am 16. November
zum wiederholten Male übel beschimpft: Es geht nicht,
es geht nicht, alles Rhetorik. - Nein, das stimmt nicht.
Ich nenne Ihnen nur drei zusätzliche Punkte, in Bezug
auf die Sie sofort handeln könnten.
Erstens. Wie ist es denn mit den Managern in den Unternehmen, die überwiegend noch in Staatseigentum
sind? Vertreter der Regierung sind in den Aufsichtsräten.
({11})
Haben wir irgendetwas zur Begrenzung der Managergehälter von Ihnen gehört? Nichts, gar nichts.
({12})
Zweitens. Sie haben die Reichensteuer eingeführt; wir
sind für eine andere Einkommensbesteuerung, einen wesentlich höheren Spitzensteuersatz im Rahmen einer progressiv gestalteten Besteuerung. Aber bauen Sie die Reichensteuer doch aus. Sagen Sie doch: Ab dem ersten
Euro über 250 000 Euro zu versteuerndem Einkommen
gilt ein Grenzsteuersatz von 50 Prozent, ab dem ersten
Euro über einer halben Million Euro sind es 55 Prozent,
ab dem ersten Euro über 1 Million Euro 60 Prozent und
ab dem ersten Euro über 2 Millionen Euro 65 Prozent.
Warum gestalten wir keinen Stufentarif?
Drittens. Abfindungen können heute in voller Höhe
als Betriebsausgaben geltend gemacht werden. Nach der
geltenden Gesetzeslage könnten wir das sofort ändern;
denn Betriebsausgaben müssen grundsätzlich immer angemessen sein. Sind denn Abfindungen in Millionenhöhe angemessen? Nein.
({13})
Das alles ist sofort und jetzt machbar. Es sind keine
sensiblen Diskussionen gefragt, sondern Handeln. Wir
stehen dafür.
Ich danke Ihnen.
({14})
Nächster Redner ist nun der Kollege Dr. Michael
Fuchs für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe
Kollegen! Frau Kollegin Höll, haben Sie schon einmal
etwas vom Halbteilungsgrundsatz im Grundgesetz gehört? Das Verfassungsgericht hat dazu ganz deutlich gesagt, alles andere als die Einhaltung des Halbteilungsgrundsatzes sei Enteignung. Aber damit hat Ihre Partei ja
Erfahrung.
({0})
Ich denke, wir sollten uns damit nicht länger beschäftigen.
Hier geht es ausschließlich um Eigentumsrechte. Die
Unternehmen entscheiden selbst, wie sie ihre Manager
entlohnen. Das müssen sie auch tun dürfen. Das geht
nach einem geordneten Verfahren.
({1})
Wir reden in den Fällen, die Sie anprangern, ausschließlich von Unternehmen, die der vollen Mitbestimmung
unterliegen. Das alles sind Unternehmen, die paritätisch
besetzte Aufsichtsräte haben. Die Aufsichtsräte werden
von den Aktionären gewählt. Die Aufsichtsräte entscheiden dann über die Bestallung von Managern und über
die Vergütungen dieser Manager. Dies geschieht in voller Mitverantwortung der Ihnen besonders nahestehenden Gewerkschafter, die in all diesen Aufsichtsräten sitzen. Kein einziger dieser von Ihnen angesprochenen
Verträge ist ohne Zustimmung einer Gewerkschaft zustande gekommen. Das wollen wir einmal festhalten. So
ist der Weg, und so funktioniert das Ganze.
({2})
Der Betriebsratsvorsitzende der BASF, Robert
Oswald, hat eine sehr bemerkenswerte Äußerung zu den
Managergehältern gemacht; Frau Höll, darüber sollten
Sie nachdenken. Er hat gesagt, dass die Manager der
BASF, also Herr Hambrecht und alle anderen, ordnungsgemäße Gehälter verdienten. Er stehe voll dazu; denn
deren Verantwortung sei deutlich höher als die von
Herrn Hoeneß, der das Gleiche wie ein Manager von
BASF verdiene. Ich meine, da hat der Mann durchaus
recht.
({3})
Bei der Diskussion über die Mindestlöhne ist die Situation ähnlich. Sie greifen die Mindestlöhne von Friseurinnen in Thüringen in Höhe von 3,82 Euro pro
Stunde an. Aber auch dieser Lohn ist mit der Gewerkschaft vereinbart. Er beruht auf einem Tarifvertrag, den
Verdi unterschrieben hat. Wir sind, nebenbei bemerkt,
genauso wenig wie Sie für diese niedrigen Löhne, die da
in Thüringen gezahlt werden. Fordern Sie doch einmal
bitte schön Ihre Genossinnen und Genossen von der Gewerkschaft auf, solche Tarifverträge nicht gegenzuzeichnen! Darin besteht doch das Problem; sie haben es mitgemacht.
({4})
Ich habe diese Forderung von Ihnen bisher jedenfalls
noch nicht gehört. Die Gewerkschaften werden mit
ziemlich großer Sicherheit dazu nicht bereit sein.
Einige von Ihnen fordern, dass ein Manager nur noch
maximal das Zwanzigfache eines Arbeitnehmers verdienen darf. Ich will Ihnen am Beispiel des Fußballs klarmachen, wohin das führt: Ein Platzwart verdient vielleicht 1 500 Euro im Monat. Ein Fußballer soll nun also
für 30 000 Euro im Monat spielen. Dafür zieht - davon
können Sie ausgehen - kein einziger Spieler in der Bundesliga auch nur einen Fußballschuh an. Lassen wir also
diesen Quatsch! Wir haben mit den Löhnen schlicht
nichts zu tun; das ist nicht unsere Aufgabe.
Das heißt aber nicht, dass ich Exzesse, wie sie in einigen Fällen vorgekommen sind, für gut halte. Ich bin
froh, dass Herr Hundt gestern auf dem Deutschen Arbeitgebertag 2007 die Ethik der Verantwortung angesprochen hat. Er hat ganz klar gesagt, dass in den Gremien der Aufsichtsräte Verantwortung zu herrschen hat
und dass diese Ethik in dem einen oder anderen Fall
deutlich ausgeprägter sein sollte. Aber es ist nicht unsere
Aufgabe, das zu korrigieren.
Das können nur die Manager selber korrigieren. Das
muss in den entsprechenden Gremien geschehen. Einige
Kommissionen beschäftigen sich bereits mit diesem
Thema. Die Cromme-Kommission ist aufgefordert, zum
Code of Conduct gute und vernünftige Vorschläge zu
machen. Für mich gehört zu einer Ethik der Verantwortung auch, dass Exzesse deutlich und Entscheidungen
transparent gemacht werden, wofür wir bereits gesorgt
haben. Wir müssen aber auch dafür sorgen - damit hat
die Bundeskanzlerin völlig recht -, dass den Menschen
bewusst ist, dass das, was in dem einen oder anderen
Fall geschehen ist, nicht richtig sein kann.
({5})
Das Parlament und wir Politiker haben uns aber nicht in
die Eigentumsrechte von Unternehmen einzumischen;
das ist nicht unsere Aufgabe. Unsere Aufgabe ist es, für
Transparenz zu sorgen, und das tun wir.
({6})
Das Wort hat nun der Kollege Martin Zeil für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der Tat ist es nicht Aufgabe der Politik, zu bestimmen,
wer in Deutschland wie viel verdient. Das gilt, Herr Kollege Fuchs, nach Auffassung der Freien Demokraten für
die Mindestlöhne genauso wie für die Managergehälter.
({0})
Wir Freien Demokraten wollen, dass Debatten über
Managergehälter dort stattfinden, wo sie hingehören,
nämlich in die Aktionärsversammlungen, in die Betriebe
und in die Aufsichtsräte. Insbesondere die Aufsichtsräte
müssen ihre Verantwortung sehr viel stärker wahrnehmen als bisher.
({1})
Seien wir doch einmal ehrlich. Wir führen diese Debatte heute vor allen Dingen, weil zurzeit alle Parteien
außer der FDP der Linken hinterherlaufen,
({2})
Weil die SPD und ihr Vorsitzender verzweifelt nach jedem Strohhalm greifen, um mit einer solchen Neiddebatte Stimmung für die anstehenden Landtagswahlen zu
machen. Unterstützt wird diese Neiddebatte leider auch
von der Bundeskanzlerin. Sie will damit davon ablenken, dass die Koalition in den letzten zwei Jahren frech
in die Taschen der Bürger gegriffen hat.
({3})
Diese Neiddebatte lenkt aber auch davon ab, dass es
viele positive Beispiele für verantwortungsvolles Management gibt. Denken Sie beispielsweise an Porsche
oder BASF. Dort sind Vorstände am Werk, die ihre Verantwortung für den Betriebsfrieden wahrnehmen und die
Mitarbeiter am Erfolg des Unternehmens beteiligen.
Wie sieht es aber dort aus, wo die Politik, wo die öffentliche Hand Einfluss hat, also bei den Staatsunternehmen? In einer aktuellen Studie wird beschrieben, wie es
bei Post, Bahn, Telekom, RWE und KfW aussieht. Der
Gehaltsunterschied zwischen Vorstand und Mitarbeitern
ist nirgends so groß wie bei diesen Unternehmen.
({4})
Wie haben sich die schwarzen-roten Vertreter in den
Aufsichtsräten dieser Unternehmen verhalten? Sind die
Abfindungen in diesen Unternehmen - die Verträge haben sie schließlich mit unterschrieben - angemessen?
Wie sieht es mit den Gewerkschaften aus, die das legitimiert haben? Das Pharisäertum bei diesem Thema
spricht Bände, meine Damen und Herren.
({5})
Bei all der Hysterie, die diese Neiddebatte auslöst,
und der vorherrschenden Kurzsichtigkeit müssen wir
auch berücksichtigen, dass die Managervergütungen in
Deutschland im internationalen Vergleich unter dem europäischen und amerikanischen Durchschnitt liegen.
({6})
Es ist doch realitätsfern, wenn wir eine solche Debatte
lostreten. Unser Ziel muss es doch sein, die besten und
klügsten Leute in unseren Unternehmen und in unserem
Land zu behalten.
({7})
Wo fängt das an, wo hört das auf? Als Beispiele werden dann morgen die Fußballer herangezogen und vielleicht bald auch beliebte Ratefernsehmoderatoren.
Schwarze Schafe gibt es überall, übrigens auch in der
Politik. In Richtung SPD-Fraktion sage ich: Gerade Sie
sollten zurückhaltend sein; denn es ist nicht lange her,
dass sich der ehemalige Kanzler der SPD als Kanzler der
Bosse feiern ließ. Mit seinem Engagement bei Gasprom
und einem gut dotierten Aufsichtsratssitz bei der Nordeuropäischen Gaspipeline Gesellschaft zeigt dieser Vertreter der Arbeiterklasse, wie man so richtig Geld macht.
({8})
Wenn jemand unglaubwürdig ist, in dieser Debatte auf
andere zu zeigen, dann diejenigen, die die Politik nur als
Sprungbrett für Spitzenpositionen in der Wirtschaft oder
in Verbänden benutzen.
Nein, meine Damen und Herren, das öffentliche Anden-Pranger-Stellen von Spitzenmanagern ist ein Ausdruck von Hilflosigkeit und auch von Schäbigkeit.
({9})
Man sucht sich eine Minderheit in der Gesellschaft - das
ist ein bewährtes Mittel -, die natürlich Angriffsflächen
bietet, um mit großem Lärm von den eigenen Versäumnissen abzulenken.
({10})
Es verwundert nicht, dass beide Parteien des demokratischen Sozialismus in diesem Hause
({11})
in dieses Horn stoßen; das war zu erwarten. Dass aber
die Union in ihrem Bemühen, beim Linkstrend ja nicht
zu kurz zu kommen, auch mitmacht, ist ein weiteres Beispiel dafür, dass Ihnen der Kompass für die soziale
Marktwirtschaft abhanden gekommen ist.
({12})
Wir brauchen eine entschlossene Reformpolitik für
mehr netto in den Taschen der Bürger statt solch verantwortungsloser Neiddebatten.
({13})
Für die SPD-Fraktion hat nun das Wort der Kollege
Joachim Stünker.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Ich glaube, der bisherige
Verlauf dieser Debatte wird den Ansprüchen, die die Bevölkerung bei diesem ernsten Thema an uns stellt, nicht
gerecht.
({0})
Das war zuletzt wirklich sehr niveaulos; das tut mir leid.
Herr Kollege, wer bei diesem Thema davon redet,
dass wir eine Neiddebatte führen, und einfach nur reflexartig auf Art. 14 des Grundgesetzes, die Eigentumsgarantie, verweist, springt nicht weit genug.
({1})
Wenn Sie in unserem Grundgesetz weiterlesen, dann
kommen Sie zu Art. 20 und zu Art. 28.
({2})
Aus diesen Artikeln leitet sich das soziale Staatsziel der
Bundesrepublik Deutschland ab: dass Deutschland ein
sozialer Bundesstaat und ein sozialer Rechtsstaat ist und
dass die verfassungsmäßige Ordnung diesem sozialen
Staatsziel entsprechen muss. Man kann also nicht nur
auf Art. 14 des Grundgesetzes verweisen. Hier mit dem
Hinweis auf eine Neiddebatte zu argumentieren, ist einfach nur dürftig, Herr Kollege. Es tut mir furchtbar leid.
({3})
Wenn Sie sich mit dem Sozialstaatsziel beschäftigen,
würde ich Ihnen empfehlen, sich auch einmal schlauzumachen, was daraus abzuleiten ist. Ich darf Ihnen einmal
vorlesen, was im Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland von Isensee und Kirchhof, die
beide sicherlich nicht als soziale Träumer verschrien
sind, zu Staatszielbestimmung und sozialem Rechtsstaat
steht. Dort heißt es: Wo die Wirklichkeit des Gemeinwesens - ihre Politik, ihr Recht und alle faktischen Verhältnisse, die soziale Lage der in der Verantwortung des Gemeinwesens stehenden Menschen - der Kennzeichnung
des Gemeinwesens als ein soziales nicht - mehr - entspricht, muss sie - die Wirklichkeit - so verändert werden, dass sie mit dieser Kennzeichnung übereinstimmt.
Das ist ein klarer normativer Auftrag an den Deutschen Bundestag, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
- Das ist einfach nur niveaulos. Was hat der „Kanzler
der Bosse“ mit der Frage der Managergehälter zu tun,
Herr Kollege? Ich kann Ihnen nur sagen: Ungenügend,
setzen! Das wäre die richtige Antwort auf das, was Sie
uns hier erzählt haben.
({5})
Wenn wir herausfinden wollen, wie die Wirklichkeit
gegenwärtig aussieht, sollten wir einmal in die Bevölkerung hineinhören. Es gibt repräsentative Untersuchungen, deren Ergebnisse besagen, dass nur noch 24 Prozent
der Bevölkerung davon überzeugt sind, dass wir in einer
sozialen Marktwirtschaft leben. 62 Prozent der Befragten meinen, das deutsche Wirtschaftsmodell sei nicht
wirklich sozial. Trotz des Aufschwungs, den wir seit
zwei Jahren erleben, sind nur noch 15 Prozent der Deutschen davon überzeugt, dass die Einkommensverteilung
in unserem Land gerecht ist.
Die Managementberatung Kienbaum kommt zu dem
Ergebnis, dass ein Vorstandsmitglied eines DAX-Konzerns im Jahre 2006 im Schnitt eine Barvergütung von
1,9 Millionen Euro kassiert hat; das waren fast zwei
Drittel mehr als im Jahre 2001. Haben Topmanager von
1976 bis 1996 das 15- bis 20-fache des Einkommens eines Angestellten verdient, stieg dieses Verhältnis bis
zum Jahre 2005 auf etwa 43. Die Vorstandsvorsitzenden
erhalten, wie wir wissen, eine noch wesentlich höhere
Vergütung, die aktienkursbezogenen Vergütungen noch
gar nicht inbegriffen. Es ist also Zeit zum Handeln, um
den sozialen Ausgleich in dieser Gesellschaft nicht zu
gefährden, und es ist Zeit zum Handeln, um vor allem
die demokratische Akzeptanz in dieser Gesellschaft
nicht zu gefährden.
({6})
Man soll und muss über Regelungen nachdenken, und
wir werden das tun. Es ist nicht einfach, aber man kann
regeln. Schauen Sie sich einmal den § 87 des Aktiengesetzes an! In ihm ist schon heute geregelt, dass die Vergütungen in einem angemessenen Verhältnis zur Aufgabe
des Vorstandsmitglieds und zur Lage der Gesellschaft
stehen müssen. Bei der Frage, was ein angemessenes
Verhältnis ist, fängt die Begriffsverwirrung an, die auch
in Ihrer Rede zu spüren war.
({7})
Man sieht, wie wenig hilfreich das Mannesmann-Verfahren im Ergebnis gewesen ist. Die deutsche Justiz ist
nicht in der Lage gewesen, über die Frage der Angemessenheit zu judizieren.
({8})
Wenn sie das getan hätte, wären wir möglicherweise einen wesentlichen Schritt weiter.
({9})
Wir müssen uns genau darüber unterhalten, wie wir
Angemessenheit definieren. Mein Vorschlag ist, darüber
zu reden, ob nicht Aufsichtsratsmitglieder namentlich
zum Ersatz verpflichtet werden können, wenn sie unangemessene Vergütungen festsetzen; denn eine unangemessene Vergütung ist im Grunde Untreue und damit ein
Straftatbestand.
({10})
Reden wir auch darüber, ob nicht zukünftig die
Hauptversammlung das Gesamtvergütungskonzept eines
Konzerns zu billigen hat. Das sind Vorschläge, über die
wir hier gemeinsam verantwortlich diskutieren sollten.
Bei der Frage der Abfindungen kann man auch darüber
reden, wie es die Amerikaner machen, ob nicht jenseits
einer bestimmten Höchstgrenze Abfindungen steuerlich
nicht mehr als Betriebsausgaben absetzbar sind.
({11})
Das alles sind Vorschläge, über die man sachlich diskutieren sollte. Machen wir uns an die Arbeit! Hören wir
auf mit populistischen Reden
({12})
und mit den Konzepten, die Sie hier vorgetragen haben!
Regelungen sind verfassungsrechtlich möglich und politisch nötig. Wir werden entsprechend handeln.
Schönen Dank.
({13})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Scheel
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich finde, wir müssen diese Debatte nicht nur sehr ernsthaft führen, sondern wir sollten diese Debatte auch sehr
ehrlich führen. Deswegen würde ich ganz gerne zu Beginn einige Phänomene aufzeigen; denn man kann nicht
alles in einen Topf werfen.
Wir haben es zum Ersten damit zu tun, dass Managerabfindungen auch in Deutschland in den letzten Jahren
schwindelerregende Höhen erreicht haben. Wir haben es
zum Zweiten damit zu tun, dass es auch vor dem Hintergrund der Mindestlohndebatte zu Recht eine Diskussion
darüber gibt, wie groß die Einkommensdifferenzen zwischen Topmanagern und normalen Arbeitnehmern und
Arbeitnehmerinnen sind. Wir haben es zum Dritten damit zu tun, dass Aktienoptionen und Pensionszusagen
für viele Aktionäre und für die Bevölkerung sowieso
sehr intransparent sind. Und wir haben es zum Vierten
damit zu tun, dass das Verhalten angestellter Topmanager
und der Chefs von in der Rechtsform personengeführter
Familienunternehmen nicht in einen Topf geworfen werden darf. Hier muss unterschieden werden; denn Familienunternehmer und Familienunternehmerinnen haften
mit ihrem gesamten Vermögen.
({0})
Das ist eine völlig andere Situation. Ich halte es für nicht
angemessen, wenn es heißt, dass alle, die viel Geld verdienen, absahnen. Es gibt vielmehr unterschiedliche Risiken. Es ist ein Unterschied, ob ich angestellt bin und
ein Unternehmen in den Sand gesetzt habe und eine hohe
Abfindung bekomme oder ob ich das Risiko habe, als
Familienunternehmer mit meinem gesamten Vermögen
haften zu müssen.
({1})
Deswegen, so glaube ich, ist es wichtig, dass wir hier
eine klare Differenzierung vornehmen.
Die Diskussion gibt es auch in anderen Ländern. Es
gibt sie in den Vereinigten Staaten - das wurde angesprochen -, es gibt sie in Großbritannien, und es gibt sie
jetzt verstärkt auch in Frankreich. Wir stellen aber fest,
dass überall dort, wo versucht worden ist, Regelungen
zur Begrenzung der Gehälter vorzunehmen, diese Regelungen so große Lücken haben, dass sie am Ende kaum
wirksam sind. In Großbritannien wird das unter dem
Schlagwort „Fat Cats“ diskutiert. Ich meine schon, dass
es wichtig ist, dass wir uns überlegen, was wir politisch
und auch gesetzgeberisch als Parlament tun können.
Wir können Verschiedenes tun. Wir können auf der
einen Seite einen Appell - wie er auch notwendig ist an die Wirtschaft richten und sie auffordern, diese Debatte offen aufzunehmen und nicht als Neiddebatte zu
verstehen. Es darf der Wirtschaftsführung nicht egal
sein, wenn Mitarbeiter ihre Leistung und ihr Engagement für das Unternehmen missachtet sehen, weil unternehmensbedrohende Fehlentscheidungen angestellter
Manager mit Millionenabfindungen vergoldet werden.
({2})
Das ist der Punkt, über den auf der einen Seite gesprochen werden muss.
Herr Hundt hat zu Recht die Maßlosigkeit in Ausnahmefällen angesprochen. Aber es geht auch nicht, dass
man auf Spitzensportler und Medienstars verweist und
sagt, dass es dort noch viel schlimmer sei und man deshalb bei den Managergehältern nichts tun müsse. Es geht
nicht, die eine Gruppe gegen die andere auszuspielen.
({3})
Wir haben uns dieses Themas von grüner Seite aus
schon vor vielen Jahren angenommen. Thea Dückert hat
es von diesem Pult aus schon einige Male thematisiert.
Wir haben in der rot-grünen Regierungszeit verschiedene Änderungen bezüglich der Offenlegung von Managergehältern verabschiedet. Es gibt bereits derartige Gesetze. Ich weiß nicht, ob Herr Schäuble das vergessen
hat oder ob es Populismus ist.
({4})
Aber das, was er da eingefordert hat, haben wir zum
Großteil schon.
({5})
Deswegen müssen wir uns überlegen, was man darüber
hinaus noch tun kann.
({6})
Es ist richtig und wichtig, uns über die steuerliche
Geltendmachung von Abfindungszahlungen auf der betrieblichen Ebene zu unterhalten. Jeder, der eine Abfindung bekommt, muss diese Abfindung versteuern - das
nur als Klarstellung. Die Frage ist nur, was auf Unternehmensebene passiert. Wenn gigantisch hohe Abfindungszahlungen dazu führen, dass die Unternehmensgewinne entsprechend reduziert werden und der Staat
weniger Geld einnimmt, dann zahlen alle Steuerzahler
und Steuerzahlerinnen diese hohen Abfindungen mit.
Das akzeptieren wir so nicht.
({7})
Deswegen hat die grüne Fraktion gestern in ihrer
Fraktionssitzung einen Antrag beschlossen, den wir jetzt
zur Beratung eingebracht haben, mit dem wir fordern,
den Steuerabzug bei Managerabfindungen zu begrenzen.
Denn dies setzt einen Anreiz für Unternehmen, mit ihren
Abschiedsgeschenken vorsichtiger umzugehen. Wenn
diese Abzugsmöglichkeit nicht mehr so gut ist, wird man
sich überlegen, ob man Abfindungen in diesen Größenordnungen noch gewährt.
Ich finde, dass Lücken bei der Wertbemessung von
Aktienoptionen und Pensionszusagen im Aktienrecht geschlossen werden können.
({8})
Darüber wird es, so hoffe ich, eine gute Diskussion geben. Jedenfalls werden wir als Grüne dafür sorgen, dass
diese Diskussion nicht sang- und klanglos im Sande verläuft, sondern dass wir zu konkreten Entscheidungen
kommen. Das erwarten die Menschen von uns.
Danke schön.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Gerald Weiß für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Höll, wenn Sie sagen, es gebe keinen Bedarf an sensibler Diskussion, dann will ich antworten:
Ein bisschen differenziert darf es schon sein. Der Beitrag
von Frau Scheel, die sagte, sie wolle ehrlich und ernsthaft an das Thema herangehen, war differenziert. Ich
will es in der gleichen Richtung zumindest versuchen.
Die Gesellschaft darf nicht zu weit auseinanderdriften, weil wir sonst in die Gefahr geraten, dass wir den
sozialen Frieden und die soziale Marktwirtschaft Akzeptanz und Ansehen verlieren. Über viele Jahre herrschte
Schwindsucht bei der Arbeitnehmerkaufkraft, während
die Managereinkommen davonstürmten und die Abfin13826
Gerald Weiß ({0})
dungen - die mit Versagerprämien in zweistelliger Millionenhöhe in umgekehrter Proportionalität zur Leistung
standen - zum Teil ins Groteske gestiegen sind. Das ist
nicht in Ordnung.
({1})
Da muss man nachdenken. Ich bin der Bundeskanzlerin
und dem Bundespräsidenten dankbar für die Beiträge,
die sie in diesem Zusammenhang an die Öffentlichkeit
gerichtet haben.
Das Thema ist bei den Arbeitgebern angekommen,
Frau Scheel. So hat Siemens-Chef Löscher gesagt:
Ich halte diese Debatte gesellschaftspolitisch für
sehr wichtig. Sie richtet sich ja nicht gegen hohe
Gehälter an sich, sondern gegen Exzesse
- sein Wort! bei denen Bezahlung und Leistung in keinem Verhältnis zueinander stehen.
Da sind wir eigentlich mitten beim Thema.
({2})
Herr Zeil, man kann es sich nicht so einfach machen,
das als Neiddebatte abzutun. Es geht nicht um Neid, es
geht schlichtweg um das Gerechtigkeitsempfinden der
Menschen,
({3})
und zwar um Leistungsgerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit und Belastungsgerechtigkeit.
({4})
Wir können für die Symmetrie in dieser Gesellschaft
einiges tun. Die Politik kann beispielsweise dahin gerichtet sein, Jobs zu schaffen.
({5})
Die Politik kann dahin gerichtet sein, Lohnerhöhungsspielräume zu schaffen
({6})
und die Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivkapital zu forcieren. Bei beidem ist die Koalition auf sehr
gutem Weg.
({7})
Die Politik kann und muss darauf gerichtet sein - da gibt
es einen Berührungspunkt mit der FDP -, die Kaufkraft
der Arbeitnehmer zu stärken. Zum 1. Januar 2008 werden wir den Arbeitslosenversicherungsbeitrag nahezu
halbiert haben. Das kommt netto, in Form einer Kaufkraftverstärkung, beim Arbeitnehmer an.
Die Frage, die jetzt naheliegt, ist natürlich: Was kann
man auf den Vorstandsetagen tun? Eines kann man in einem weltoffenen Land, das Teil einer globalisierten
Wirtschaft ist, nicht tun: Man kann nicht dirigistisch die
Managergehälter deckeln. Dirigismus und Interventionismus sind in einer internationalen Marktwirtschaft
ganz sicher kein Rezept. Aber wir können dort ansetzen,
wo die Probleme beginnen - einige meiner Vorredner
haben sich in ihren Diskussionsbeiträgen sehr wohl damit befasst -: Wir können die Transparenzregeln, die bestehen, verstärken. Wir können die Rechte und die Kontrollpflichten des Aufsichtsrates als Organ stärken. Wir
können die Rechte und die Pflichten der Hauptversammlung, der Aktionärsversammlung, stärken. Noch gibt es
eine Sperre im Gesetz, noch kann die Aktionärsversammlung die Transparenz bei den Gehältern aussetzen.
Wir können in diesem Zusammenhang sozusagen die
Rolle des Eigentümers stärken. Die Cromme-Kommission hat gesagt: Angemessen soll bezahlt werden. Das
kann man konkretisieren. Wir können deutlicher definieren, was angemessen ist. Man kann die Verantwortung
der Aufsichtsräte und die Möglichkeiten der Aktionäre
sicherlich stärken.
Es geht um das soziale Gleichgewicht, um die Balance in unserer Gesellschaft, es geht um Leistungsgerechtigkeit. Jetzt ist erst einmal die Wirtschaft am Zuge.
Wenn sie in Selbstverantwortung handeln will, hat sie
Vorfahrt. Wenn sie nicht handelt, müssen wir uns überlegen, was wir im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft
tun können.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Nun hat das Wort der Kollege Klaus Ernst für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! In der aktuellen Befragung der BertelsmannStiftung zum Thema „Soziale Gerechtigkeit“ heißt es:
Im Jahre 2000 waren noch 35 Prozent der Bevölkerung
der Auffassung, die wirtschaftlichen Verhältnisse in
Deutschland seien gerecht. Im Jahre 2007 waren es nur
noch 15 Prozent. Nunmehr sagen 56 Prozent der Bürger:
Die wirtschaftlichen Verhältnisse sind definitiv ungerecht.
Jetzt erzählen uns hier einige etwas von Neid. Ich
kann Ihnen sagen, wer hier neidisch ist. Neidisch, finden
die Arbeitslosen mit 347 Euro Regelsatz, sind Sie, meine
Herren,
({0})
weil Sie ihnen ans Geld gehen. Das Problem ist doch,
dass die Schere in diesem Land auseinandergeht und
permanent mit unterschiedlichen Maßstäben gemessen
wird. Inzwischen empört sich das ganze Land über das,
was hier vonstattengeht.
Herr Benneter hat, als es in der letzten Debatte um unseren Antrag ging, gesagt, wir seien notorische Protestierer.
({1})
Ich kann Ihnen nur sagen, Herr Benneter: Dass inzwischen das ganze Land protestiert, hängt damit zusammen, dass die Bürger bestimmte Verhältnisse nicht mehr
akzeptieren. Sie akzeptieren nicht mehr, dass die Bezüge
der Vorstände der DAX-Unternehmen von 2002 bis
2006 um 62 Prozent gestiegen sind, die Löhne hingegen
nur um 2 Prozent. Also wer ist hier neidisch? Neidisch
sind die Manager, die den Arbeitnehmern den Lohn
nicht mehr gönnen.
({2})
- Zu den Gewerkschaften sage ich gleich einmal Folgendes: Ja, sie sitzen in den Aufsichtsräten. Sie wissen aber
ganz genau, dass sie nie eine Mehrheit haben, weil Sie
als FDP dafür gesorgt haben, dass der Vorsitzende, der
immer von den Arbeitgebern kommt, ein Doppelstimmrecht hat und dass immer ein leitender Angestellter im
Aufsichtsrat sitzt, der mit den Arbeitgebern stimmt.
({3})
Das ist Ihre Parität. Deshalb: Hören Sie mit den Aufsichtsräten auf! Das ist pure Volksverdummung.
({4})
Professor Schwalbach von der Humboldt-Universität
hat inzwischen festgestellt, dass das Verhältnis der Vorstandsgehälter der 30 DAX-Unternehmen zu den Personalkosten pro Kopf 1987 14 war und inzwischen bei 44
liegt. Ich sage Ihnen: Die Vorstände der deutschen Unternehmen bereichern sich zulasten der Arbeitnehmer in
diesem Land. Sie dulden und unterstützen das.
({5})
Ich sage Ihnen auch: Die Bürger empören sich, weil
ein Herr Ackermann 13,2 Millionen Euro im Jahr verdient, während er gleichzeitig einen Stellenabbau bekannt gibt.
({6})
Die Bürger empören sich, wenn dieselben Leute, die ohnegleichen abzocken, dem Bürger das Maßhalten verordnen.
({7})
Ich sage Ihnen: Die Bürger empören sich auch, weil
sich Ihre Klientel immer mit den Bestverdienenden in
den USA vergleicht, während es zu den eigenen Arbeitnehmern sagt: Guckt doch einmal, wie billig die Chinesen, die Portugiesen oder die Tschechen sind. Diese Ungleichheit, die Sie da an den Tag legen, versteht doch
kein Mensch.
({8})
Ich sage Ihnen auch: Wir freuen uns über die Einsicht
der Kanzlerin, die auf Ihrem Parteitag ja fast zum Erzengel der sozialen Gerechtigkeit geworden ist und gesagt
hat: In Japan verdient der Chef eines Autokonzerns in
etwa das Zwanzigfache dessen, was seine Beschäftigten
erhalten. Das entspricht unserem Antrag. Wir sagen ja
auch, dass er im Prinzip 20-mal so viel verdienen soll.
Wir können auch über 25-mal so viel diskutieren. Das ist
gar nicht die Frage. Das Problem ist - das muss ich auch
in Richtung der SPD sagen -: Sie tun momentan so, als
hätten Sie dieses Thema entdeckt. Wenn es darum geht,
konkrete Vorschläge zu machen, dann bleiben Sie diese
aber schuldig.
({9})
Es wird argumentiert, alle Manager würden in die
USA oder sonst wohin gehen, weil sie dort besser verdienen als bei uns in der Bundesrepublik oder vielleicht
in Japan, wo sie das Zwanzigfache erhalten. Dann dürften wir schon keine Manager mehr haben. Sie sind aber
alle noch da. Ich sage Ihnen: Wenn es ihnen dort so gut
geht, dann sollen sie doch in die USA gehen. Wir finden
hier Arbeitnehmer, die das ein wenig billiger machen.
Das zu diesem Thema.
({10})
Die Empörung wird natürlich umso größer, wenn
Kannegiesser sagt: Über Millionen hin und her brauchen
wir doch gar nicht zu reden, das ist doch gar nicht so
wichtig.
({11})
Ich sage Ihnen: Hören Sie auf, an die Arbeitgeber zu appellieren, sie sollten einmal vernünftig sein! Sie könnten
auch an den Alkoholiker appellieren, dass er statt
Schnaps Mineralwasser trinken soll. Das funktioniert
nicht. Ich sage Ihnen: Sie sind eine Regierung und keine
Appellierung. An das sollten Sie sich auch halten.
({12})
Zum Schluss sage ich: Die Bundesregierung und vor
allen Dingen Sie von der FDP entwickeln sich zusehends
zu einer Schutzgemeinschaft für Abzocker. Das muss
beendet werden.
({13})
Die Bürger dieses Landes werden es nicht akzeptieren
- das werden Sie bei den nächsten Wahlen erleben -,
dass Sie sich zum Schutzengel der sozialen Gerechtigkeit machen.
Ich danke fürs Zuhören.
({14})
Nächster Redner ist der Kollege Ludwig Stiegler für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Kollege Ernst hat sich wie üblich ereifert.
({0})
Ich würde gerne wissen, wie viele Gehälter er als Aufsichtsrat in Unternehmen schon genehmigt hat, gegen
die er jetzt getobt hat.
({1})
Wenn wir das wüssten, dann sähe manches anders aus.
Ich denke, wir müssen aufpassen, dass das hier nicht
in ein generelles Vorstandsbashing ausartet; denn wir
alle wissen: Ohne einen guten Vorstand läuft die Chose
nicht.
({2})
Gerade bei der Übernahme durch Arbeitnehmer habe ich
x-mal erlebt: So gut die einzelnen Orchesterspieler in ihrem Fach auch sind, wenn der Dirigent fehlt, wird es
schwierig. Deshalb sage ich: Wir sollten hier schon würdigen, was die Vorstände leisten
({3})
und dass ein guter Vorstand für die Arbeitnehmer und für
den Staat ein wichtiges Asset ist.
({4})
Wir sind in der Adventszeit. Als Kinder haben wir
immer gesungen: Rorate caeli desuper et nubes pluant
iustum - Tauet Himmel den Gerechten, Wolken regnet
ihn herab.
({5})
Das geht auf Jesaja zurück. Die Suche nach Gerechtigkeit gab es also schon vor Beginn der Christenheit.
Schon die alten Römer haben sich mit dem iustum pretium - dem gerechten Preis - befasst, und auch Aristoteles hat sich darüber verbreitet. Wir stehen also nicht vor
einer neuen Aufgabe.
Ich denke, wir sollten realistisch an diese Aufgabe
herangehen und auch Fehlsteuerungen wahrnehmen. In
den letzten Jahren wurde mit der Koppelung der Managergehälter an den Shareholder-Value und der Übernahme
der amerikanischen Konzepte ein bewährtes System außer Kraft gesetzt, das im deutschen Aktienrecht eigentlich anders geregelt ist.
({6})
Wir haben die enge Koppelung an den Gewinn und an
die Eigentümerinteressen weg von den Interessen der
Gesellschaft erlebt. Ich glaube, eine der Hauptaufgaben
besteht darin, zu erreichen, dass ein Vorstand wieder
dem Unternehmenswohl statt einseitig dem ShareholderValue verpflichtet ist.
({7})
Das ist die derzeitige Situation, in der einiges aus dem
Ruder gelaufen ist. Alle, die meinen, der Gesetzgeber
dürfe an dieser Stelle nichts tun, irren, Herr Zeil. Das
Aktiengesetz legt die Leitlinien fest, nämlich die Aufgabe des Vorstandes und die Lage der Gesellschaft; die
Vergütung muss dem angemessen sein.
Was die Angemessenheit der Vergütung angeht,
würde es sicherlich helfen, wenn die Aufsichtsräte verpflichtet wären, zu begründen, inwiefern die Vergütung
eines Vorstandsmitglieds durch seinen Marktwert, seine
Leistungen, seinen besonderen Einsatz oder seine Verantwortung legitimiert ist. Das sind zum Beispiel Kriterien, denen wir uns im Zusammenhang mit der Erarbeitung einer angemessenen Vergütung widmen sollten.
Das Wichtigste ist aus meiner Sicht, dass wir die Principle-Agent-Situation, in der die Shareholder bestimmen, dass die Vorstandsvergütung an den Gewinn oder
den Börsenkurs gekoppelt sein muss, wodurch der Vorstand praktisch an die Leine der Aktionäre gelegt wird,
ändern und die Unternehmensverantwortung der Vorstände wiederherstellen.
Vorstellbar erscheint mir eine Vergütung des Vorstands entsprechend der Umsatzausweitung, den Leistungen in Forschung und Entwicklung, der Beschäftigungssituation oder der Ausbildungssituation. Zurzeit ist
es eher umgekehrt: Ein Vorstand, der Geld spart, indem
er auf Ausbildung verzichtet, steigert den Börsenkurs
und wird dafür belohnt, dass er sich gegen die Zukunft
des Unternehmens versündigt. Denn dass wir zu wenig
Fachkräfte haben, wie derzeit immer wieder festgestellt
wird, ergibt sich aus dieser Vorstandsdenke. Das muss
strukturell geändert werden.
({8})
Ich denke, dass es hierbei auch um Ethik geht. Der
Corporate Governance Codex muss überarbeitet werden.
Die Aufsichtsräte dürfen nicht nur im stillen Kämmerlein Absprachen treffen. Möglicherweise muss man auch
die Personen in den Blick nehmen, die sich gegenseitig
in Seilschaften helfen. Es geht darum, einen Manager
nicht nach seinen Beziehungen und seinem Networking
zu vergüten, sondern nach seinem Marktwert. In diesem
Zusammenhang ist einiges zu tun.
Der Vorstand darf nicht mehr nur Agent der Aktionäre
sein; er muss vielmehr Agent des Unternehmens sein.
Eine Aktiengesellschaft ist auch nach dem Grundgesetz
der sozialen Verpflichtung des Eigentums unterworfen.
Das sollten wir im Hinterkopf haben.
Ich habe mit dem Advent begonnen und möchte auch
damit schließen. Johannes der Täufer hat seine berühmten Reden über „metanoeite“ gehalten: Kehrt um! Wandelt euren Sinn! Das rufen wir den Beteiligten und uns
selbst zu. Wenn wir hinterfragen, wo die Entwicklung zu
weit gegangen ist, wo es zu Exzessen gekommen ist, wo
wir Leistungen und Gegenleistungen wieder in das richtige Verhältnis zueinander bringen müssen und wie wir
das Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Aktionär
wieder in Ordnung bringen können, dann haben wir etwas geleistet.
Danke.
({9})
Nächste Redner ist der Kollege Philipp Mißfelder für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Nach den besinnlichen Worten des Herrn Kollegen Stiegler, dem ich in vielen Punkten zustimme, um
das großkoalitionär festzustellen, möchte ich bezüglich
Herrn Ernst den einen oder anderen Punkt anmahnen.
Das Gute ist ja, dass die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land wissen, welche Politiker wie redlich argumentieren und unter welchen Konditionen sie argumentieren. Dabei ist natürlich die Veröffentlichungspflicht
hilfreich, die wir als Bundestagsabgeordnete beschlossen haben und die auch umgesetzt wird. Ein Blick ins Internet verrät, dass Herr Ernst, was Besserbezahlung im
Vergleich zu manchen, die hier unter uns sitzen, angeht,
jemand ist, der Bescheid weiß. Herr Ernst, Sie geben an,
dass Sie in der Stufe 2 sind, das heißt bis 7 000 Euro monatlich hinzuverdienen, und dass Sie in einem Aufsichtsrat sitzen, wo Sie in der Stufe 3 mehr als 7 000 Euro monatlich hinzuverdienen. Darüber hinaus geben Sie eine
weitere Tätigkeit an, wozu bisher noch nicht veröffentlicht worden ist, wie viel Sie verdienen, weil die Zahlung
wahrscheinlich erst im Dezember erfolgen wird.
({0})
Von daher ist der Blick ins Internet hilfreich, weil
man damit weiß, von welcher Position aus Sie hier reden. Sie gehören selber Gremien an, in denen Sie wahrscheinlich mitbeschlossen haben, wie die Bezahlung von
Managern aussieht. Deshalb ist das moralische Ross, auf
dem Sie sitzen, ziemlich wackelig.
({1})
Die Debatte hat in der vergangenen Woche auf dem
Bundesparteitag der CDU begonnen. Insofern bin ich
unserer Bundeskanzlerin dankbar, dass sie das Thema
„Unmoralische Managergehälter“ so offensiv angesprochen hat.
({2})
Der Stellenwert der Debatte ist seitdem wesentlich größer geworden, und die Debatte ist wesentlich sachlicher
geworden, als dies vorher der Fall war. Es ist nämlich
klargeworden, dass es eine große Spanne zwischen dem
Gerechtigkeitsempfinden vieler Menschen und dem gibt,
was tatsächlich in Teilen in der Wirtschaft stattfindet.
Während früher der Grundsatz galt, geht es der Wirtschaft gut, dann geht es auch den Menschen gut, haben
leider heute viele Menschen diesen Grundeindruck nicht
mehr.
({3})
Dem müssen wir natürlich entgegenwirken. Dieser
Grundsatz gilt für viele Konzerne. Leider gibt es dort
aber auch schlechte Beispiele. Bei den Mittelständlern
stellt sich die Situation im Durchschnitt hingegen ganz
anders dar. Da gilt sehr wohl, geht es der Wirtschaft gut,
geht es auch den Mitarbeitern gut, weil wir in Deutschland - das möchte ich nicht vergessen wissen - ein verantwortungsbewusstes Unternehmertum haben. Das gilt
im Übrigen für die Mehrzahl der Unternehmer in unserem Land. Ich halte es für unzulässig, so zu tun, als seien
alle Unternehmer mit den schwarzen Schafen, die hier
bereits genannt worden sind, über einen Kamm zu scheren.
Ich meine allerdings, dass man sehr gut prüfen muss,
wie weit die Regelungswut des Deutschen Bundestages
und des Gesetzgebers insgesamt gehen darf. Ich halte
Überlegungen, die zum Beispiel das Aktienrecht betreffen, für bedenkenswert. Hier sind ja bereits konstruktive
Vorschläge gemacht worden. Es wird zu prüfen sein, wie
effizient sie sind. Wenn man jedoch einerseits Mindestlöhne einführt und andererseits Maximalgehälter einführen will, dann müsste man in der Fortsetzung dieser
Logik zukünftig auch Mindestgewinne garantieren.
Denn wenn sich der Staat zutraut, alles festzuschreiben,
dann muss er in Zukunft auch Mindestgewinne festschreiben. Dann gibt es gar keine Freiheit mehr, sondern
nur noch Staat, nur noch Bestimmungen. Das lehnen wir
als Union auf jeden Fall ab.
Es ist bereits gesagt worden, dass es schwarze Schafe
gibt. Gerade weil in dieser Woche das Thema Mindestlohn diskutiert wird, möchte ich auf ein besonders
schwarzes Schaf eingehen, nämlich auf den Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Post. Wenn wir hier über unmoralisches Verhalten sprechen, dann muss man auch
sehen, was eigentlich passiert, wenn ein Vorstandsvorsitzender wissentlich in Kauf nimmt, dass Tausende von
Arbeitsplätzen in seiner gesamten Branche zum Vorteil
zwar seines Unternehmens, aber nicht der gesamten
Volkswirtschaft in Gefahr geraten, und er gleichzeitig
auf eine erbarmungslose Art und Weise abkassiert, wofür er sich sogar im Nachhinein in seiner eigenen Mitarbeiterzeitung entschuldigen muss. Das ist auch für unmoralisch zu halten, und das sollten sich diejenigen
genau anschauen, die mit Herrn Zumwinkel kooperieren.
({4})
Wir als Gesetzgeber müssen dafür sorgen, dass Verfassungsgüter geschützt bleiben. Dazu gehören die Vertragsfreiheit und, wie Kollege Fuchs es bereits gesagt
hat, die Eigentumsrechte. Wir haben ein sehr gutes
System an Kontrollen. Das ist schon mehrmals angesprochen worden. Dies sage ich vor allem an die Adresse
der Linkspartei. Ihre neuen Freundinnen und Freunde
von den Gewerkschaften sind bei den meisten Entscheidungen, die so getroffen worden sind, wie Sie sie hier
kritisiert haben, dabei und heben die Hand. Sprechen Sie
doch mit denen und sagen Sie ihnen, dass sie die Mitbestimmungsmöglichkeiten nutzen sollen, die der Gesetzgeber längst geschaffen hat und die sich in den letzten
Jahrzehnten bewährt haben.
Vielen Dank.
({5})
Nun hat das Wort der Kollege Klaus Uwe Benneter
für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bitte um Nachsicht, dass ich wegen meiner Erkältung
heute etwas stiller sein muss.
Was stört uns eigentlich an der Diskussion über übermäßige Gehälter von Managern? Es ist keine Neiddebatte. Die Manager sollen schon verdienen, was sie
verdienen, aber eben auch nicht mehr.
({0})
Dass hier vieles aus den Fugen geraten ist, sehen wir.
Wenn jemand am Vormittag mehr verdient als andere im
ganzen Jahr, dann ist das abgehoben, frivol und, wie
Kollege Thierse es genannt hat, obszön.
({1})
Die FDP sollte sich daran ebenfalls orientieren und
- hier stimme ich der PDS zu ({2})
nicht die Partei derjenigen ergreifen, die weiterhin solche maßlosen Abfindungen und Gehälter tolerieren wollen.
Beispiele für Abzocker ohne besondere Leistungen
bzw. mit fragwürdigen Leistungen kennen wir alle. Herr
Schrempp hat Milliarden an Verlusten zu verantworten.
({3})
Herr Esser hat Millionen als Abfindung kassiert. Herr
Ackermann hat Tausende Arbeitslose hinterlassen.
({4})
Sie alle sind mit hohen Zahlungen und Abfindungen belohnt worden, obwohl sie schlechte und unfähige Manager
sind. Hier ist der Zusammenhang zwischen Leistung und
Gegenleistung bzw. Leistung und Vergütung verloren
gegangen.
Damit sind wir bei den Mindestlöhnen. In einigen
Branchen ist der Zusammenhang zwischen Leistung und
Vergütung der Arbeitnehmer verloren gegangen. Wenn
jemand Vollzeit arbeitet, dann muss er zumindest so viel
nach Hause bringen, dass er seine Familie ernähren
kann. Diese Zusammenhänge müssen wir sehen.
Wie können wir diesen üblen Auswüchsen beikommen? Einige sagen, wir müssten es bei dieser gefühlten
Ungerechtigkeit und bei Appellen belassen und könnten
nur auf Selbstverpflichtungen setzen. Mit zwar lauten,
aber folgenlosen Attacken - auch auf Parteitagen - wird
man der Sache aber nicht gerecht. Wir müssen über die
Aktienoptionen nachdenken. Diese wirken auf Manager
wie Drogen.
({5})
Mit der gesetzlichen Pflicht zur Offenlegung der
Managergehälter sind wir - Kollegin Scheel hat es bereits angesprochen - einen ersten Schritt gegangen. Wir
hatten die Hoffnung, dass das ausreicht. Aber die von
uns festgelegten Transparenzregeln reichen offensichtlich nicht. Daran müssen wir weiter arbeiten. Wir können beispielsweise gesetzlich festlegen, dass der Fixanteil eines Managergehalts höher veranlagt wird oder
dass der Kreis derjenigen, die über die Vergütung der
Manager bestimmen, größer wird und dass alle im Aufsichtsrat Verantwortung übernehmen. Manche sagen, das
gehe gesetzlich nicht. Das ist Unsinn. Kollege Stünker
hat dargelegt, dass wir das im Aktienrecht regeln können. Das gibt das Grundgesetz allemal her. Das originäre
Wesen des Rechts, gerade des bürgerlichen Rechts ist,
die Vertragsfreiheit dort, wo sie aus dem Ruder läuft, zu
beschränken.
({6})
Wenn wir sehen, dass die Betreffenden keinen Anstand und keine Moral haben, sind wir in der Lage, ihnen
mit dem Gesetz beizukommen. Wenn Selbstverpflichtungen nicht ausreichen, hier Zügel anzulegen, und nicht
dafür sorgen, dass alles zwischen bestimmten Leitplanken verläuft, dann müssen und werden wir diesen üblen
Auswüchsen, dieser maßlosen Gier Einhalt gebieten,
notfalls auch per Gesetz.
({7})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun das Wort der
Kollege Stefan Müller.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst einmal möchte ich festhalten, dass ich unsere
heutige Debatte - jedenfalls zeitweilig - sehr spannend
gefunden habe. Sie war dem Anlass von der Tonlage her
- ein paar Ausfälle hatten wir wie üblich - weitgehend
angemessen. Ich glaube, es war eine wirklich gute und
eine sinnvolle Debatte.
Letztlich ist es die Fortsetzung einer Debatte, die wir
vor gut drei Jahren schon einmal geführt haben, und
zwar im Zusammenhang mit der Beratung des Gesetzes
Stefan Müller ({0})
zur Offenlegung der Gehälter von Vorstandsmitgliedern.
Für meinen Teil kann ich nur sagen: Ich sehe das heute
ein bisschen anders als vor drei Jahren.
({1})
- Man kann durchaus einmal zu einem anderen Ergebnis
kommen. - Ich glaube, dass Transparenz in dieser Form
nicht geschadet hat. Im Grundsatz schließen wir uns damit dem an, was anderswo praktiziert wird. Damals ging
es im Kern um die Fragen: Welches Einkommen sollen
Vorstandsmitglieder haben? Was ist angemessen? Was
ist gerecht? Wer soll letztlich über die Höhe von Vorstandsgehältern entscheiden?
Zur Frage der Angemessenheit: Ich meine, dass wir
uns da sehr schwertun werden. Ich bin kein Jurist; ich
glaube, dass andere versuchen werden, eine Definition
zu finden. Letztlich können wir die Frage „Was ist angemessen, und was ist gerecht?“ gar nicht beantworten,
weil dafür immer auch das subjektive Empfinden aller
relevant ist. Ist das Zwanzigfache, das Hundertfache, das
Tausendfache oder was auch immer eines durchschnittlichen Arbeitnehmerverdienstes angemessen oder gerecht?
Niemand von uns ist in der Lage, das abschließend und
gerecht zu beurteilen. Niemand von uns weiß, wo Gerechtigkeit und Angemessenheit tatsächlich aufhören
und wo Ungerechtigkeit und Unangemessenheit beginnen.
Ich glaube, genau das ist der Punkt, der es für uns politisch außerordentlich schwierig machen dürfte, uns daranzumachen, irgendeine Definition zu finden. Weil das
Ganze so problematisch ist, denke ich, dass wir uns sehr
schwertun werden, Obergrenzen von Vorstandsgehältern
oder Managerbezügen festzulegen. Deswegen bin ich
sehr dafür, dass wir hier nicht den Eindruck erwecken,
wir könnten politisch irgendetwas auf den Weg bringen.
Wir sollten den Bürgerinnen und Bürgern nicht vermitteln, wir sorgten für Gerechtigkeit. Eine solche Gerechtigkeit kann es - jedenfalls aus meiner Sicht - nicht geben.
Ich will überhaupt nicht verhehlen: Manches, was in
der Wirtschaft abläuft, ist kritikwürdig. Es kann natürlich nicht sein, dass Vorstandsvorsitzende oder Vorstandsmitglieder mit hohen Abfindungen und goldenem
Handschlag verabschiedet werden, obwohl sie offenkundig und nachweislich - nicht nur in unseren Augen, sondern auch in den Augen der Kapitaleigner und der Arbeitnehmer - schlecht gearbeitet haben, was letztlich
dazu geführt hat, dass es zum Abbau von Arbeitsplätzen
gekommen ist. Ich finde, es ist in diesen Fällen schon
eine Frage von Anstand und Moral, der sich die Betroffenen annehmen müssen. Aber, liebe Kolleginnen und
Kollegen, Anstand und Moral sind zuerst eine Sache des
Charakters und nicht der Politik.
({2})
An der Höhe von Managergehältern kann man durchaus Kritik anbringen. Natürlich sollen diejenigen, die
eine Leistung erbringen, dafür auch entsprechend bezahlt werden. Herr Kollege Zeil, der Hinweis auf die
USA ist jedoch unangemessen. Wir müssen schon der
Tatsache Rechnung tragen, dass die dortige Wirtschaftsordnung anders als unsere ist. In einer sozialen Marktwirtschaft gelten andere Wertmaßstäbe als in den USA.
({3})
Insofern führt dieser Vergleich nicht weiter.
({4})
- Das mag ja alles sein. Richtig ist auch: Wir haben gute
Vorstandsmitglieder und gute Manager. Ich sage nur:
Das als alleiniger Maßstab trägt nicht; dieser Vergleich
sollte nicht angestellt werden.
Ich finde gut, dass wir diese Debatte führen. Diese
Debatte sollte aber nicht nur der Deutsche Bundestag
führen, sondern auch und vor allem die Wirtschaft. Herr
Hundt hat auf dem Arbeitgeberkongress 2007 diese Woche gesagt - ich zitiere aus der Welt von heute -:
Ohne Legitimation von innen bleibt die Marktwirtschaft gefährdet, auch wenn sie keinen größeren
Feind hat.
Offensichtlich spielt dieses Thema auf diesem Kongress
eine Rolle. Ich will das würdigen. Ich finde es richtig,
dass sich die Wirtschaft dieses Themas annimmt. Auch
die Betroffenen, die Manager, die Vorstandsmitglieder,
müssen ihre Verantwortung anerkennen und annehmen.
({5})
Jedem Manger, jedem Vorstandsmitglied muss klar
sein, dass sein eigenes Verhalten in Bezug auf die Höhe
seiner Vergütung, in Bezug auf Aktienoptionen, in Bezug auf Sondergratifikationen nicht nur das Bild prägt,
das er von sich selbst vermittelt oder das von seinem Unternehmen vermittelt wird, sondern auch das Bild davon
prägt, wie die soziale Marktwirtschaft bei uns noch
funktioniert.
({6})
Darüber sollte sich die Wirtschaft im Klaren sein. Insofern appelliere ich an die Wirtschaft, sich diesem Thema
und dem zu widmen, worüber wir heute diskutiert haben.
Bei allem Berechtigten, was vorgetragen worden ist
- ich will das nicht weiter ausführen - und was wir meines Erachtens prüfen sollten, ist mir wichtig, noch einmal deutlich zu machen: Wir müssen aufpassen, dass wir
da nicht alle über einen Kamm scheren, weil es in unserem Land durchaus Manager und Vorstandsmitglieder
gibt, die sich über ihre Verantwortung wirklich im Klaren sind und die ihr gerecht werden wollen. Die sind in
der Pflicht, andere, die anders denken, mitzunehmen.
({7})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Joachim Poß für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unsere
Debatte hier hat sich gelohnt - da muss man der PDS
fast dankbar sein -,
({0})
weil in verschiedenen Beiträgen, etwa von Herrn
Stünker, Frau Scheel oder Herrn Weiß, die Handlungsmöglichkeiten, die wir in unserer Rechtsordnung haben,
aufgezeigt worden sind. Den Faden müssen wir in den
nächsten Wochen und Monaten konstruktiv weiterspinnen. Das wird die SPD in der Arbeitsgruppe, die ich
leite, tun.
Das ist eine Aufgabe, die man zeitlich nicht so limitieren kann, wie das öffentlich teilweise erwähnt wurde. Wir
müssen hier auch die gesellschaftliche Situation reflektieren und das aufgreifen, was gesellschaftlich diskutiert
wird. Das ist keine Debatte - das sage ich einmal in Richtung FDP -, die die Politik erfunden hat, sondern eine Debatte, die inmitten unserer Gesellschaft geführt wird.
Ich will einmal konkret auf das eingehen, was Kollege Fuchs, der jetzt nicht mehr hier sein kann, am Anfang gesagt hat. Wer die mit dem Stichwort „Vertragsfreiheit“ garnierte Behauptung aufstellt, die Höhe von
Managervergütungen oder -abfindungen gehe nur den
Manager selbst und die Eigentümer des Unternehmens
etwas an, der übersieht geflissentlich oder aber auch
ganz bewusst - Frau Scheel, glaube ich, hat schon darauf
hingewiesen -, dass Dritte hierbei zur Kasse gebeten
werden, meine Damen und Herren von der FDP.
({1})
Höhere Managerbezüge oder -abfindungen mindern als
Betriebsausgaben den Gewinn und führen somit zu geringeren Steuerzahlungen des Unternehmens.
({2})
Nach der Explosion der Managervergütungen und -abfindungen in den letzten Jahren drängt sich die Frage
auf, ob diese teilweise vorgenommene Sozialisierung der
Kosten über den Steuerabzug wirklich unbegrenzt weitergehen soll.
({3})
Hier ist schon darauf hingewiesen worden: In anderen
Ländern gibt es andere Regeln. Wir machen hier nicht in
Antikapitalismus.
({4})
Es geht um Regeln im Kapitalismus. Übersteigen Managerabfindungen ein bestimmtes Maß, entfällt der Betriebsausgabenabzug zum Beispiel in den USA, und zwar
ganz, nicht nur für den überhöhten Teil.
({5})
Weil Herr Westerwelle immer die DDR zitiert: Das
hat mit der DDR nun wahrlich nichts zu tun.
({6})
Dass Sie unsere amerikanischen Freunde in diesen Zusammenhang bringen, ist wirklich empörend, meine Damen und Herren von der FDP!
({7})
Das sind Argumente, die wirkungsmächtig sind. Die
haben auch mit dem Standort nichts zu tun. Mit dem
Standortargument kann man nicht jeden Abfindungsexzess zum Steuerabzug zulassen. Das kann ja wohl nicht
sein!
Der deutsche Corporate-Governance-Kodex hat im
Juli dieses Jahres - das ist die aktuelle Fassung - entsprechende Empfehlungen für eine Begrenzung von Abfindungszahlungen aufgenommen. Sollte die Abzugsfähigkeit nicht auch bei uns ihre Grenze da finden, wo dieses
Maß überschritten wird? Wäre so etwas dann nicht auch
bei exzessiven Einkommen möglich? Wir werden das zumindest sorgfältig prüfen.
({8})
Dann kommt ganz schnell das Argument: Nettoprinzip. Alles, was Betriebsausgabe ist, muss auch steuerlich
absetzbar sein. - Aber was lese ich in § 4 Abs. 5 unseres
Einkommensteuergesetzes? Darin heißt es - ich zitiere -:
Die folgenden Betriebsausgaben dürfen den Gewinn nicht mindern:
Es folgt eine Aufzählung mit zehn Punkten und Unterpunkten.
Das heißt doch: Unser Einkommensteuerrecht kennt
längst die vollständige oder teilweise Beschränkung der
Abzugsfähigkeit betrieblicher Ausgaben.
({9})
In § 10 Nr. 4 des Körperschaftsteuergesetzes haben
wir eine solche Abzugsbeschränkung ganz konkret für
Aufsichtsratsvergütungen: Diese sind nur zur Hälfte absetzbar. Diese Regelung wurde im Rahmen der großen
Körperschaftsteuerreform 1976 ausdrücklich damit begründet, „das Interesse an überhöhten Aufsichtsratsbezügen zu mindern“. Nun mag man einwenden, dass die
konkret gefundene Form des hälftigen Abzugsverbots
keine wirksame Bremse darstellt. Allemal klar ist aber,
dass die Beschränkung des steuerlichen Abzugs mit dem
Ziel einer Begrenzung der Vergütungen selbst rechtlich
offenbar sehr wohl möglich ist.
Es gibt also gute Gründe, meine Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen, sich der Frage der steuerlichen Abzugsfähigkeit neben den anderen Fragen, die
hier angesprochen wurden - Rechte der Hauptversammlungen; wie läuft es im Aufsichtsrat konkret ab usw. -,
vertieft zuzuwenden. Dafür gibt es Anknüpfungspunkte
im geltenden Recht des In- und Auslands.
Vielen Dank.
({10})
In der Debatte, liebe Kolleginnen und Kollegen,
wurde der Kollege Klaus Ernst persönlich angesprochen.
Er hat den Wunsch nach einer Richtigstellung geäußert.
Nach § 30 unserer Geschäftsordnung hat er diese Möglichkeit auch in der Aktuellen Stunde. Ich erteile ihm
deshalb das Wort zu einer persönlichen Richtigstellung.
({0})
Meine Damen und Herren, ich mache es nun wirklich
nicht lange. Es ist ja kurz vor Weihnachten, dem Fest der
Liebe. Deshalb bin ich auch nicht böse, dass der Kollege
Mißfelder offensichtlich monatlich und jährlich verwechselt hat. Auf meiner Internetseite ist zu lesen, dass
ich jährlich Bezüge der Stufe 3, also der Stufe „über
7 000 Euro“, aus Tätigkeiten in Aufsichtsräten beziehe.
Das ist wahr. Ich kann Ihnen sogar die genaue Summe
sagen: Es handelt sich insgesamt um 14 500 Euro jährlich. Entsprechend den Bestimmungen der HansBöckler-Stiftung, denen alle hauptamtlichen und ehrenamtlichen Gewerkschaftler unterliegen, führe ich den
größten Teil dieses Betrages an die Hans-Böckler-Stiftung ab. Das heißt, der Betrag, der mir bleibt, ist relativ
überschaubar.
Ich würde mich sehr freuen, wenn auch alle Vertreter
der Arbeitgeberseite ähnlich verfahren würden. Dann
hätten wir zumindest bei den Aufsichtsräten das hier zur
Debatte stehende Problem nicht.
Danke fürs Zuhören.
({0})
Damit sind wir am Ende der Aktuellen Stunde.
({0})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe die Aktuelle Stunde beendet.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
- Drucksache 16/7433 Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Für die Beantwortung der Fragen steht Herr
Parlamentarischer Staatssekretär Michael Müller zur
Verfügung.
Ich rufe die Frage 1 des Kollegen Hans Michelbach
auf:
Zählt es nach Auffassung der Bundesregierung zu den geläufigen, gutzuheißenden Aussagen im Bestreben auf eine
Förderung des Wirtschaftsstandortes Deutschland, dass der
Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Sigmar Gabriel, am 16. November 2007 auf einer
Abendveranstaltung in der Stadt Coburg in Bezug auf die Person des Präsidenten der IHK zu Coburg und Vorsitzenden der
Gesellschafterversammlung der weltweit tätigen Brose Unternehmensgruppe, M. S., geäußert hat: „Dem MöchtegernBerlusconi müsst ihr zeigen, dass man Coburg nicht kaufen
kann!“ ({1}), und, wenn nein, sollte der Bundesminister für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit, Sigmar Gabriel, sich für
diese Aussage öffentlich entschuldigen?
Meine Damen und Herren! Kollege Michelbach, Sie
fragten, ob eine Aussage des Bundesumweltministers,
die in der örtlichen Zeitung zitiert wurde, dem Wirtschaftsstandort Bundesrepublik Deutschland förderlich
sei. Ich kann nur sagen: Erstens. Die Bundesregierung
sieht diesen Zusammenhang nicht. Zweitens. Tun Sie es
mir bitte nicht an, dass ich jetzt aus der örtlichen Zeitung
all das zitiere, was von den unterschiedlichen Parteien in
dem Zusammenhang gesagt wurde. Das wäre sicherlich
auch nicht förderlich.
({0})
Eine Nachfrage, Herr Kollege? - Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, vielen Dank. Sagen Sie damit,
dass die Aussage des Herrn Bundesministers - ich zitiere
wörtlich -: „Dem Möchtegern-Berlusconi müsst ihr zeigen, dass man Coburg nicht kaufen kann!“, seine Privatmeinung in diesem Falle sei? Ansonsten würde man ja
letzten Endes dem Präsidenten der IHK zu Coburg die
Fähigkeit zur Vertretung der Wirtschaft absprechen.
Sie sagen ja auch, dass zwischen der Aussage und
dem Wirtschaftsstandort Coburg kein Zusammenhang
bestünde.
Ich glaube, ich habe klar geantwortet. Ich möchte
jetzt nicht alles Mögliche - ich sage das noch einmal über Coburger Kabalen, die Unterdrucksetzung von
CSU-Stadträten und von den Spaltungen, die es dort in
Ihrer Partei gibt, anführen. Ich glaube, wir sollten so etwas lassen. Ich weiß nicht, ob es weiterhilft, solche Anfragen an die Bundesregierung zu stellen.
({0})
Ich glaube, in dem Brief, den Sie vom Herrn Bundesminister bekommen haben, wurde das Notwendige ver13834
deutlicht. Im Übrigen war es nicht hilfreich, eine Presseerklärung zu machen, bevor die Frage gestellt wurde.
Herr Kollege, haben Sie eine weitere Zusatzfrage?
Herr Staatssekretär, nachdem ich feststellen muss,
dass Sie keine Entschuldigung des Herrn Bundesministers vortragen - ich habe auch keinen Brief erhalten -,
frage ich Sie: Können Sie sich vorstellen, dass sich der
Bundesminister von seiner Aussage über den IHK-Präsidenten als Vertreter der Wirtschaftsregion Coburg zumindest distanziert?
Ich empfehle Ihnen, einmal in Ihrem Büro nachzuschauen. Der Brief, an Sie adressiert, liegt hier vor.
({0})
- Keine Entschuldigung, sondern die Klarstellung, dass
es da keinen Zusammenhang gibt.
Die Bewertung eines Sachverhalts unterliegt im Übrigen der Verantwortung eines jeden Abgeordneten und eines jeden Ministers. Es wäre nicht besonders erfreulich,
wenn ich all das, was über diese Person in der Öffentlichkeit gesagt wurde, hier zitieren würde.
Ich rufe nun die Frage 2 des Kollegen Hans
Michelbach auf:
Besitzt die Bundesregierung über die vom Bundesminister
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Sigmar
Gabriel, ausgeführte kommunalpolitische Lage in der Stadt
Coburg eigene Kenntnis, und, wenn nein, woher bezieht sie
ihr Wissen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Ich kann dazu nur ausführen, dass jeder Besuch des
Bundesministers entweder vom Ministerium, wenn es
um fachliche Fragen geht, oder von seinem Büro, wenn
es um politische Fragen geht, vorbereitet wird. Ich kann
in diesem Fall auf circa 25 Blatt Papier verweisen, die
als Information über die politische Situation vor Ort zusammengestellt wurden und die leider kein nur erfreuliches Bild ergeben.
Eine Nachfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, wird sich die Bundesregierung
zukünftig in die kommunalen Themenbereiche dergestalt einmischen, wie es der Bundesminister Sigmar
Gabriel für nötig befunden hat, oder wird sie sich fortan
bei rein kommunalpolitischen Themenfeldern zurückhalten?
Ich weiß nicht, ob eine solche Trennung überhaupt
möglich ist. Auch bei Ihren Aussagen im Parlament habe
ich nicht den Eindruck, dass Sie sich immer nur auf bundespolitische Fragen beschränken. Vielmehr ist es so,
dass Sie ebenfalls den Anspruch erheben, allgemeinpolitisch agieren zu können. Das finde ich auch richtig. Ich
sage es noch einmal: Dies ist jedem Einzelnen selbst
überlassen. Ich finde aber, dass wir im Bundestag wichtigere Dinge zu besprechen haben als das, womit Sie
sich in Ihrer Frage beschäftigen.
Herr Kollege, haben Sie eine zweite Nachfrage? Bitte sehr.
Ich denke, dass die Vertreter der Wirtschaftsregion
Coburg eine andere Auffassung haben. Sie, Herr Staatssekretär, sagen, dass es sozusagen Privataussagen des
Herrn Ministers sind. Fand die Fahrt mit dem Dienstwagen zu der Veranstaltung in Coburg, auf der es zur Beleidigung des IHK-Präsidenten kam, auf Kosten der Steuerzahler statt, oder ist der Minister auf eigene Kosten
dorthin gereist?
Sie können dem Brief, den der Minister Ihnen geschrieben hat, ebenfalls entnehmen, dass es eine Fahrt
im Zusammenhang mit seinem Mandat war. Diese Fahrt
wurde daher entsprechend eingeordnet und sauber abgerechnet.
Ich will mir im Übrigen nicht verkneifen, darauf hinzuweisen, dass es eine sehr enge Beziehung zwischen
dem angesprochenen Herrn und Ihrer Partei bei Spenden
gibt. Angesichts Ihrer Reaktion auf den Besuch des Ministers in Coburg sei mir dieser Hinweis erlaubt. Ich
finde aber, wir sollten nicht auf einer solchen Ebene debattieren.
({0})
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs.
Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts
auf. Für die Beantwortung steht Herr Staatsminister
Günter Gloser zur Verfügung.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Wir kommen zur Frage 3 der Kollegin Dr. Marlies
Volkmer:
Welchen Ansehensverlust befürchtet die Bundesregierung
für die Bundesrepublik Deutschland innerhalb der Weltgemeinschaft, wenn sich der Freistaat Sachsen über die völkerrechtlichen Verpflichtungen aus der UNESCO-Welterbekonvention hinwegsetzt und die Waldschlösschenbrücke ohne
Verständigung mit der UNESCO-Kommission bauen lässt
und so die Aberkennung des Welterbetitels für die Elbtalauen
verursacht?
Die Bundesregierung hat in den vergangenen Monaten bei verschiedenen Gelegenheiten wiederholt auf außenpolitische Folgen eines nicht mit dem UNESCOWelterbekomitee abgestimmten Brückenbaus hingewiesen. In völkerrechtlicher Hinsicht besteht auf der Ebene
des Bundes Einvernehmen, dass die 1976 ratifizierte
Welterbekonvention alle staatlichen Ebenen in Deutschland - Bund, Länder und Gemeinden - gleichermaßen
bindet.
Das Welterbekomitee hat das Dresdner Elbtal im Juli
2006 auf seine „Liste des Welterbes in Gefahr“ und damit auf die „Rote Liste“ gesetzt und angekündigt, das
Elbtal ganz aus der „Liste des Welterbes“ zu streichen,
falls die Brücke in geplanter Form gebaut würde. Dieser
Beschluss wurde vom Welterbekomitee im Juni 2007 bestätigt.
Eine Streichung würde von der UNESCO als Sanktion für eine Verletzung völkerrechtlicher Schutzpflichten verstanden werden, es wäre die erste Streichung einer Stätte in Europa, sie würde das Ansehen
Deutschlands im Rahmen der Vereinten Nationen beschädigen und die Aufnahme weiterer deutscher Kandidatenstädte erschweren.
Die Bundesregierung setzt sich weiterhin in Gesprächen mit der UNESCO und den verantwortlichen Stellen
der Sächsischen Staatsregierung für eine Konsenslösung
ein, um den Welterbetitel für das Dresdner Elbtal zu erhalten.
Haben Sie eine Nachfrage?
Nein, das war ausführlich.
Dann kommen wir zur Frage 4 des Kollegen Rainder
Steenblock:
Wie ist die Haltung der Bundesregierung zu dem Parteitagsbeschluss der CDU, den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union infrage zu stellen und für eine privilegierte Partnerschaft zu plädieren, in Anbetracht der Tatsache, dass dies
im Widerspruch zur beschlossenen EU-Verhandlungslinie
steht, der die Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende
Dr. Angela Merkel zugestimmt hat?
Ich darf Ihre Frage wie folgt beantworten: Die Haltung der Bundesregierung zum Beitritt der Türkei zur
Europäischen Union ergibt sich aus dem Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 11. November
2005. Ich darf daraus zitieren:
Die am 3. Oktober 2005 aufgenommenen Verhandlungen mit dem Ziel des Beitritts sind ein Prozess
mit offenem Ende, der keinen Automatismus begründet und dessen Ausgang sich nicht im Vorhinein garantieren lässt.
Es heißt dann weiter:
Sollte die EU nicht aufnahmefähig oder die Türkei
nicht in der Lage sein, alle mit einer Mitgliedschaft
verbundenen Verpflichtungen voll und ganz einzuhalten, muss die Türkei in einer Weise, die ihr
privilegiertes Verhältnis zur EU weiter entwickelt,
möglichst eng an die europäischen Strukturen angebunden werden.
Diese Vereinbarung gilt weiterhin.
Haben Sie eine Nachfrage, Herr Kollege? - Bitte sehr.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatsminister,
wir hatten gerade schon Gelegenheit, zu beobachten, wie
die Regierungskoalition öffentlich miteinander umgeht.
Ich wage mir gar nicht vorzustellen, wie Sie miteinander
umgehen, wenn die Öffentlichkeit bei diesen Debatten
nicht dabei ist.
Es ist doch erstaunlich, wenn, nachdem eine Koalitionsvereinbarung getroffen worden ist, die größere Partei dieser Regierungskoalition etwas beschließt, was
dem, was in der Vereinbarung festgeschrieben ist, diametral entgegengesetzt ist. Wenn die Vorsitzende dieser
Partei gleichzeitig Kanzlerin ist, dann ergeben sich daraus doch Widersprüche, die die Positionierung der Partei und ihrer Parteivorsitzenden betreffen.
Ich habe ja Psychologie gelernt, und eine meiner
mündlichen Prüfungen betraf das Thema Schizophrenie.
Herr Kollege, ich darf Sie daran erinnern, dass Sie
hier eine Frage stellen wollten.
Ich frage, wie man als Regierung mit der Situation
umgeht, dass die Vorsitzende der größten regierungstragenden Partei etwas völlig anderes beschließt als das,
was sie als Kanzlerin unterschrieben hat.
Lieber Kollege Steenblock, zuerst einmal zu der inneren Verfasstheit und dazu, wie wir miteinander umgehen,
auch wenn vieles davon nicht öffentlich ist: Sie sehen ja,
wir leben alle noch; wir gehen sehr zivilisiert miteinander um. Dass es gelegentlich einmal Streit gibt, kenne
ich aus anderen Koalitionen, in denen dies auch der Fall
war.
Aber ich komme zu Ihrer inhaltlichen Bemerkung.
Meines Erachtens müssen wir Folgendes trennen: Zum
einen gibt es in unserem Land politische Parteien, die
Parteitage durchführen. Dort wird um Ziele und Themen
gerungen, und dort werden Beschlüsse gefasst. Wenn ich
es richtig sehe, hat die CDU diese Position auch schon in
der Zeit vertreten, als sie noch in der Opposition war.
Zum anderen gibt es Koalitionsverhandlungen wie die,
bei denen man zu dem genannten Ergebnis kam.
Allein deshalb ist, wie wir es heute Morgen im EUAusschuss diskutiert haben, ganz klar - ohne dass ich
damit jetzt eine Entscheidung vorwegnehmen will -,
was wir am Freitag auf dem Europäischen Rat in Brüssel
machen werden: Die Bundeskanzlerin wird namens der
Bundesregierung die Beschlüsse der Großen Koalition
im Rat vollziehen, wenn es darum gehen wird, die
Schlussfolgerungen zu verabschieden, und sie wird das
Paket hinsichtlich der generellen Erweiterung der Europäischen Union mit beschließen. In einer Koalition gilt,
dass nicht ein Partner seinen Punkt durchsetzen kann.
Deshalb haben wir damals auch diesen Kompromiss gefunden.
Haben Sie eine weitere Zusatzfrage? - Bitte sehr.
Herr Staatsminister - wir haben ja beide Erfahrungen
in Koalitionen, auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Konstellationen -, empfinden Sie es
nicht als Provokation einer Regierung, wenn eine regierungstragende Partei nach der Koalitionsvereinbarung
eine Kampfansage an die offizielle Politik der Bundesregierung, die von dieser Partei ja mitgetragen wird,
macht? Es ist doch etwas, was Sie nicht ruhig schlafen
lassen kann, wenn bei einer so zentralen Frage Züge aufs
Gleis gesetzt werden, die gegeneinanderrasen.
Ich möchte den von Ihnen verwendeten Begriff der
Kampfansage nicht übernehmen, Kollege Steenblock.
Aber unterstellt, dieser Begriff wird in Anführungszeichen gesetzt, antworte ich auf Ihre Frage: Ich kann nicht
erkennen, dass diese „Kampfansage“ beispielsweise am
kommenden Freitag beim Europäischen Rat so umgesetzt wird.
Vielen Dank, Herr Staatsminister, für die Beantwortung der Fragen. Wir sind am Ende dieses Geschäftsbereichs.
Die Fragen 5 und 6 der Kollegin Ina Lenke aus dem
Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend werden schriftlich beantwortet.
Damit rufe ich den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales auf. Für die Beantwortung der Fragen steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Franz Thönnes zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 7 des Kollegen Dr. Ilja
Seifert:
Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus
den Veranstaltungen im Rahmen der Infotour „Selbstbestimmt
leben: Persönliches Budget“ mit Blick auf die Einführung des
Persönlichen Budgets als Regelleistung ab 1. Januar 2008?
Werter Herr Dr. Seifert, ich beantworte die Frage wie
folgt: Die Beauftragte für die Belange behinderter Menschen hat gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen aus den Ländern im September und Oktober 2007
unter dem Titel „Budget-Tour“ eine deutschlandweite
Informationskampagne zum Thema „Selbstbestimmt leben: Persönliches Budget“ durchgeführt. Zielgruppen
der Informationstour waren potenzielle Budgetnehmerinnen und -nehmer, deren Angehörige, Leistungsträger
und Leistungserbringer. Die Resonanz war insbesondere
bei potenziellen Budgetnehmern und deren Angehörigen
sehr groß. Insgesamt hat die Tour rund 4 000 Menschen
direkt erreicht.
Die Veranstaltungen haben deutlich gemacht, dass die
neue Leistungsform bei behinderten Menschen grundsätzlich auf ein großes und positives Interesse stößt. Eine
Reihe von guten Beispielen hat gezeigt, dass Persönliche
Budgets ab dem 1. Januar 2008 ein wichtiges Instrument
für mehr Teilhabe und Selbstbestimmung behinderter
Menschen sein werden.
Deutlich wurde auch, dass der Informationsbedarf
nach wie vor sehr hoch ist. Sowohl aufseiten der behinderten Menschen als auch bei den beteiligten Leistungserbringern und Leistungsträgern bestehen noch Unsicherheiten hinsichtlich der Umsetzung des Persönlichen
Budgets in der Praxis, was mit der sehr flexiblen Leistungsform, die sich eng an den individuellen Bedürfnissen der behinderten Menschen orientiert, zusammenhängt. Zentrale Fragestellungen betrafen regelmäßig die
Bereiche Bedarfsfeststellung, Verpreislichung von Leistungen und Gewährleistung ausreichender Beratungen
und Assistenz bei der Inanspruchnahme eines Persönlichen Budgets.
Aus diesem Grund hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales entschieden, die Reihe der regionalen
Fachtagungen zum Persönlichen Budget in Zusammenarbeit mit dem Kompetenzzentrum Persönliches Budget
des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in den Jahren
2008 bis 2010 fortzusetzen. Im Rahmen des Programms
zur Strukturverstärkung und Verbreitung Persönlicher
Budgets stellen Bundeshaushalt und Ausgleichsfonds in
den kommenden drei Jahren zusammen 3,5 Millionen
Euro zur Förderung von Projekten zum Anschub und zur
Verbesserung der Inanspruchnahme Persönlicher Budgets zur Verfügung.
Herr Kollege, haben Sie eine Nachfrage? - Bitte sehr.
Oh ja, Frau Präsidentin, ich habe viele Nachfragen.
Aber ich glaube, ich darf nur zwei stellen.
Herr Staatssekretär, erst einmal vielen Dank für die
sehr ausführliche Antwort. Ich bin zunächst ein bisschen
verunsichert, dass Sie sagen, diese 3,5 Millionen Euro
kämen aus dem Bundeshaushalt und dem Ausgleichsfonds. Wenn damit der Ausgleichsfonds im Rahmen der
Ausgleichsabgabe gemeint ist, dann würde mich das
schon ein bisschen wundern.
Meine Frage zielt aber auf etwas anderes ab. Sie sagen, dass es bei den Betroffenen ein großes Interesse
gab, sich zu informieren, und dass 4 000 Menschen an
diesen Veranstaltungen teilgenommen haben. Aber wie
viele können denn nun dieses Persönliche Budget in Anspruch nehmen? Es handelt sich doch nur um eine neue
Leistungsform und nicht um eine neue Leistungsart; es
gibt ja nicht mehr Geld. Meine Informationen sind die,
dass auf diesen Veranstaltungen das Buffet häufig wichtiger war als das Budget, sodass am Ende nicht viel herausgekommen sein soll.
Herr Staatssekretär.
Sehen Sie mir bitte nach, dass ich Ihre Frage nicht
ganz verstehe. An diesen Veranstaltungen hat der Personenkreis teilgenommen, den ich gerade genannt habe:
Menschen, die behindert sind - diese haben grundsätzlich erst einmal alle einen Anspruch auf ein Persönliches
Budget, wenn sie dies ab 1. Januar 2008 geltend machen -,
Leistungserbringer und Menschen aus den Behörden.
Ich selber war bei drei, vier Veranstaltungen dabei. Wir
haben uns dort gesehen. Ich weiß also, dass auch Sie dabei waren. Mir ist ein bisschen unklar, worauf Ihre Frage
zielt.
Ich habe folgende Schlussfolgerung gezogen: Im
Rahmen der wissenschaftlichen Begleituntersuchung
wurden rund 800 Personen befragt, denen im Rahmen
der Erprobungsphase ein Persönliches Budget zur Verfügung stand. 90 Prozent der Menschen, die davon Gebrauch gemacht haben, haben gesagt: Das ist gut für
mich; meine Situation hat sich verbessert; ich würde das
auf jeden Fall wieder machen. - Das ist ein hervorragendes Ergebnis. Besonders beeindruckt haben mich - ich
glaube, auch Sie - die guten Beispiele, die von den Menschen genannt worden sind. Solche Beispiele sind ein
Ansporn, weiterzumachen und die Arbeit fortzusetzen.
Im Rahmen von Regionalfachtagungen und in Zeitschriften soll über das Persönliche Budget informiert
werden. Auch Ihre Frage ist eine gute Gelegenheit, um
noch einmal darauf hinzuweisen, dass dieser Rechtsanspruch eingeführt wird. Es ist aber auch Aufgabe der
Verbände der Menschen mit Behinderungen, ihre Mitglieder und alle Menschen mit Behinderungen durch
eine Vielzahl von Informationen und Aktivitäten darauf
aufmerksam zu machen. Ich finde, wir sind ein gutes
Stück vorangekommen.
Ihre weitere Nachfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, wie erklären Sie sich denn, dass
bezüglich der Fragen, wer wann wo was beantragen
kann und wer wann wo was leistet, immer noch große
Unsicherheit herrscht? Ich weiß, dass das Persönliche
Budget innerhalb der Behindertenbewegung seit Jahren
eines der Hauptthemen - man könnte sagen, das Lieblingsthema überhaupt - ist. Jetzt beginnen Sie - das sagen Sie ja selbst - gemeinsam mit dem Kompetenzzentrum eine dreijährige Informationskampagne. Hätte
diese Informationskampagne nicht stattfinden müssen,
bevor der Rechtsanspruch eingeführt wird? Ich stelle immer wieder fest, dass viele nicht wissen, ob sie einen
Anspruch haben oder nicht. Sobald man arbeiten geht,
hat man keinen Anspruch mehr, weil man dann keine
Sozialhilfe mehr bezieht. Dann kann man auf die Eingliederungshilfe nicht zugreifen und bekommt gar
nichts.
Herr Dr. Seifert, man kann natürlich sagen, dass immer, wenn jemand etwas nicht weiß, die Bundesregierung daran schuld ist. Sie wissen genau, dass wir bereits
2004 Modellversuche gestartet und regelmäßig über
diese Modellversuche berichtet haben. Sie haben in diesem Hause fünf oder sechs Anfragen gestellt, die wir Ihnen ausführlich beantwortet haben. Das ist alles dokumentiert. Nach anfänglichen Schwierigkeiten haben wir
in den Modellregionen zusätzliches Geld in die Hand genommen. Der Bund hat die Modellregionen bei der zusätzlich anfallenden Verwaltungsarbeit unterstützt. Sie
haben in Zeitschriften darüber geschrieben, wir haben in
Zeitschriften darüber geschrieben. Wir haben darüber
debattiert, auch im Ausschuss.
Wir werden wahrscheinlich damit leben müssen, dass
in fünf Jahren noch jemand sagen wird: Davon habe ich
noch nichts gehört. Wenn man aber die Aktivitäten der
letzten sechs Monate zusammenfassend betrachtet, muss
man sagen: Das Persönliche Budget ist in Deutschland
mittlerweile ein großes Thema. Für manche Menschen
ist es trotzdem etwas Neues.
Sie haben zu Recht gesagt, dass das keine neue Leistungsart ist, sondern eine neue Leistungsform. Man muss
fragen: Wie kann ich damit umgehen? Was bedeutet das
für mich? Einige fragen auch: Wenn ich davon Gebrauch
gemacht habe, aber nicht zufrieden bin, kann ich vom
Leistungsträger dann wieder eine komplexe Leistung erhalten? Das ist übrigens möglich. All diese Fragen werden beantwortet. In unserem Hause steht eine Telefonhotline zur Verfügung. In den Ländern und in den
Kreisen stehen Servicestellen zur Verfügung. Auch die
Behindertenverbände informieren laufend darüber. Ich
denke, wir sind da ein gutes Stück vorangekommen.
Wenn wir an dieser Stelle weitermachen wollen, geht
es darum, ganz explizit bestimmte Themenbereiche aufzugreifen: Was bedeutet das für den Bereich Wohnen?
Was bedeutet das für den Bereich Kinder? Wie sieht das
bei Frauen aus? Wir müssen bestimmten Gruppen helfen
und dabei Erkenntnisse gewinnen. Wir fangen nicht erst
jetzt an, zu informieren. Sie sollten das in Ihrer Frage
auch nicht unterstellen; sonst würdigen Sie die Arbeit
der behindertenpolitischen Sprecher der anderen Fraktionen des Deutschen Bundestages und unsere gemeinsame Arbeit nicht in angemessener Form.
Wir kommen nun zur Frage 8 des Kollegen Markus
Kurth:
Sieht die Bundesregierung, bezogen auf die Forderung der
Arbeits- und Sozialministerkonferenz nach einer Beteiligung
des Bundes an den Kosten der Eingliederungshilfe sowie bezogen auf die Forderung nach einer Stärkung ambulanter vor
stationärer Leistungen, eine Möglichkeit darin, die Finanzverantwortung für die Ausführung ambulanter Leistungen selbst
zu übernehmen, und, falls nein, wie möchte die Bundesregierung ansonsten mit den Forderungen der Arbeits- und Sozialministerkonferenz umgehen?
Der Kollege Kurth hat auch die Frage 9 gestellt. Ich
würde gerne beide Fragen zusammen beantworten.
Bitte sehr. Dann rufe ich auch die Frage 9 des Kollegen Kurth auf:
Wie möchte die Bundesregierung auf die Forderung der
Arbeits- und Sozialministerkonferenz reagieren, die eine
Bund-Länder-Arbeitsgruppe sowie einen Gesetzentwurf der
Bundesregierung zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe verlangt, und wie möchte die Bundesregierung prüfen,
ob ein eigenständiges Leistungsrecht für Menschen mit Behinderung wünschbar ist?
Ich beantworte beide Fragen wie folgt: Die Bundesregierung hat wiederholt betont, dass sie Forderungen
nach einer Beteiligung des Bundes an den Kosten der
Eingliederungshilfe für behinderte Menschen ablehnend
gegenübersteht. Außerdem hält es die Bundesregierung
nicht für sachgerecht, einen Gesetzentwurf zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe vorzulegen. Bevor
gesetzgeberische Maßnahmen ergriffen werden, sollten
zunächst die Strukturen und die Organisation der Eingliederungshilfe durch die Träger und die Leistungsanbieter so reformiert werden, dass bestehende Hemmnisse
für die Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen
mit Behinderung abgebaut werden.
Die Bundesregierung ist weiterhin unverändert bereit,
zusammen mit den Ländern, den Kommunen und den
Verbänden behinderter Menschen nach Lösungen zu suchen, die Eingliederungshilfe weit mehr als bisher auf
den Paradigmenwechsel, den wir in der Behindertenhilfe
gemeinsam vorgenommen haben, auszurichten. Sie begrüßt deshalb die im Beschluss der Arbeits- und Sozialministerkonferenz 2007 zu erkennende Bereitschaft der
Länder, verstärkt auf die Probleme der Menschen mit
Behinderung einzugehen und fiskalische Überlegungen
in den Hintergrund treten zu lassen.
Die Bundesregierung strebt an, Mitverantwortung für
die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe in Zukunft unter anderem auch dadurch zu übernehmen, dass
sie sich bereit erklärt, in Abstimmung mit den Ländern
eine flankierende wissenschaftliche Begleitforschung zu
ausgewählten Problemen und Themenstellungen der verschiedenen Eingliederungsbereiche zu initiieren und zu
finanzieren. Eines dieser Themen könnte zum Beispiel
die personenzentrierte Eingliederungshilfe sein. Es sollte
keine Rolle mehr spielen, ob ein behinderter Mensch
notwendige Leistungen ambulant oder stationär in Anspruch nimmt.
Ihre Nachfrage bitte, Herr Kurth.
Fürchten Sie denn nicht, dass sich eine Art Pingpongspiel entwickeln könnte, und zwar dadurch, dass die
Bundesregierung ständig von den Ländern aufgefordert
wird, die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe voranzutreiben - das ist auch im Koalitionsvertrag festgelegt worden -, dass der Ball dann aber immer wieder
durch ihre Zurückweisung, die gerade auch in Ihrer Antwort deutlich wurde, zu den Ländern zurückspielt wird?
Wenn die Arbeitsgruppe eingerichtet wird, dann sitzen alle mit am Tisch. Wenn man nicht gerade ein Netz
in der Mitte aufbaut, wird es schwierig, Pingpong zu
spielen. Alle sind in der Verantwortung. Im Kern nimmt
der Bund seine Verantwortung für die Unterstützung der
Menschen mit Behinderung, wie Sie wissen, über die
BA, über die Rentenversicherung und über die Werkstätten für Menschen mit Behinderung wahr.
Ich glaube, wenn wir uns auf die personenzentrierte
Eingliederungshilfe konzentrieren, dann müssen auch
die Länder ein Interesse daran haben, gemeinsam mit
uns über die Zuweisung von Menschen in Werkstätten
für Menschen mit Behinderung zu reden, obwohl sie auf
dem freien Arbeitsmarkt möglicherweise eine intensivere Unterstützung erfahren würden. Wir arbeiten zurzeit gemeinsam daran, die unterstützte Beschäftigung
- das ist ein Förderungsbestandteil - im Rahmen des
SGB III zu organisieren. Das Risiko, das Sie angesprochen haben, sehe ich daher nicht.
Eine weitere Zusatzfrage.
Ich möchte auf die ambulante Hilfe zurückkommen.
Ist der Bundesregierung die Initiative des Landschaftsverbandes Rheinland bekannt - der Landschaftsverband
Rheinland ist der größte überörtliche Sozialhilfeträger -,
bei der Erbringung ambulanter Leistungen auf die Anrechnung von Einkommen und Vermögen zu verzichten,
um dadurch einen Anreiz zu schaffen, dass sich die
Menschen nicht stationär im Heim unterbringen lassen,
sondern sich ambulant behandeln lassen?
Das ist bekannt. Hier hoffe ich auf eine gute Zusammenarbeit. Wir haben noch eine Menge Arbeit vor uns;
allerdings gibt es viele übereinstimmende Positionen.
Wir müssen gemeinsam darauf achten, den Leitgedanken „ambulant vor stationär“ so umzusetzen, dass es
nicht zu Benachteiligungen kommt. Wir müssen genau
aufpassen, wo angerechnet wird und wo nicht.
Wenn Einkommen und Vermögen nicht bei den behinderten Menschen, die ambulant versorgt werden, angerechnet werden, jedoch bei den behinderten Menschen, die stationär versorgt werden, dann kommt es zu
einem Ungleichgewicht. Das gilt es kritisch zu betrachten. Ich will jetzt keine abschließende Bewertung vornehmen; aber ich glaube, wir müssen gemeinsam daran
arbeiten. Ich will nur auf diesen Widerspruch hinweisen,
der mit Sicherheit von den Betroffenen nicht verstanden
werden wird. Gleichwohl gibt es unterschiedliche Mechanismen, die - der Auffassung sind wir sicherlich
beide - eher einen Anreiz für eine stationäre als für eine
ambulante Versorgung bieten. Über die Widersprüche
zwischen diesem Anreiz und der offiziell vertretenen
Philosophie „ambulant vor stationär“ müssen wir offen
reden.
Sie haben noch eine weitere Frage? - Bitte sehr.
Wenn man im Sinne der Initiative des Landschaftsverbandes Rheinland versuchen will, die Anreizwirkung
durch unterschiedliche Anrechnungsverfahren in eine
bestimmte Richtung - die wir beide, so glaube ich, wollen - zu lenken, ist es dann nicht hochwahrscheinlich,
dass im Ergebnis von Verhandlungen die Bundesregierung ein „Eintrittsgeld“ in Form einer Kostenbeteiligung
wird zahlen müssen, und wäre das nicht genau an dieser
Stelle sinnvoll, weil man dann mit der Kostenbeteiligung
im ambulanten Bereich ein Stück weit die Steuerungsverantwortung übernehmen könnte?
Herr Kollege Kurth, Sie wissen aus unserer gemeinsamen Zusammenarbeit in der Vorgängerkoalition, dass
wir bei der Reform der Sozialhilfe sehr genau auf die
Zuständigkeiten geachtet haben. Zuständig für Fragen
der Eingliederungshilfe sind - ich wiederhole das - die
Länder. Das Steueraufkommen ist so aufgeteilt, dass
jede Körperschaft mit dem ihr zur Verfügung stehenden
Geld die ihr per Gesetz übertragenen oder auch die selbst
gewollten Bereiche abdecken und den Menschen Hilfen
zugänglich machen kann. Das gilt ganz genau für den
Bereich der Eingliederungshilfe.
Ich habe gerade beschrieben, wo wir bereit sind, zu
helfen und zu unterstützen. Personenzentrierte Eingliederungshilfe ist ein Element, von dem, so glaube ich, die
Kommunen, Kreise oder Landschaftsverbände profitieren würden. Das zweite Element ist der Komplex der
Leistungsüberprüfung: Wie ist es mit der Zuweisung von
Menschen in Werkstätten für Menschen mit Behinderung? Wie sieht es mit dem Eingangsverfahren aus?
Läuft das alles richtig?
Zur Steuerung: Auch darüber, wo der Bund ansetzen
kann, Anreize zu geben, um den Grundsatz „ambulant
vor stationär“ umzusetzen, können wir reden. Aber
schon im Vorgriff zu sagen, man müsse ein „Eintrittsgeld“ bezahlen, damit man mitreden darf, wie die Kommunen sparen können, ist falsch. Ich würde eher sagen:
Lasst uns einmal über die Vorschläge reden, die wir gemacht haben. Ich glaube, auch die sind ganz attraktiv.
Haben Sie noch eine Frage?
Ich habe erst drei Fragen gestellt.
Ich weiß. Ich wusste nur nicht, ob Sie von Ihrem
Recht auf eine vierte Frage Gebrauch machen wollen.
Bitte sehr.
Die Ausführungen des Staatssekretärs haben mich zu
einer weiteren Frage inspiriert.
Sie haben den sehr interessanten Begriff der personenzentrierten Eingliederungshilfe ins Spiel gebracht. Ist
die Bundesregierung der Ansicht, dass wir bei einer solchen Ausrichtung ein einheitliches Bemessungsverfahren statt der derzeit bis zu 60 verschiedenen Berechnungsverfahren für die Leistungen brauchen? Ist das
dann wenigstens Bundesangelegenheit?
Wir wissen, welche Entscheidungen wir im Rahmen
der Föderalismusdiskussion getroffen haben, was dieses
Haus und was der Bundesrat beschlossen hat und wie die
Verantwortlichkeiten nach der Reform verteilt sind. Es
wäre in der Tat gut, wenn man zu vergleichbaren Kriterien kommen könnte. Da setze ich schlichtweg auf die
Arbeitsminister- und Sozialministerkonferenz. Wer so
einheitlich vorgeht wie hier, der muss auch den nächsten
Schritt tun und sagen: Wenn es um die Anwendung geht,
dann wollen wir gemeinsam daran arbeiten, vergleichbare Kriterien für die Gewährung zu entwickeln. - Das
wird dann aber der Diskussionsprozess zeigen. Im Interesse der Menschen mit Behinderung wäre es wahrscheinlich allemal.
Zu diesem Themenkomplex hat nun der Kollege
Dr. Seifert noch eine Frage. Bitte sehr.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär,
auch ich finde den Begriff der personenzentrierten Eingliederungshilfe, den Sie jetzt ins Gespräch bringen, sehr
interessant. Aber jeder weiß doch, dass das Problem
eigentlich nicht die Ausgabenseite ist. Die Eingliederungsleistungen sind meistens sehr gut. Vielmehr sind
die Zugangskriterien das Problem. Sollte bei dieser personenzentrierten Eingliederungshilfe endlich die Vermögens- und Einkommensprüfung wegfallen? Das ist doch
das Problem im richtigen Leben.
Herr Kollege Seifert, ich will dazu jetzt keine abschließende Position einnehmen; denn das ist, wie Sie
wissen, ein sehr empfindlicher Diskussionsprozess, bei
dem es darum geht, die Einkommens- und Vermögenssituation mit gleichen Maßstäben zu bewerten und bei
der Frage, für welche Bereiche - ambulant oder stationär - die Wiedereingliederungshilfe gewährt wird, vergleichbare Kriterien anzuwenden.
Ich möchte gern darüber sprechen, warum wir die
Philosophie „ambulant vor stationär“ bisher noch nicht
so umsetzen konnten, wie wir es gern wollen. Da müssen
wir das Pro und Kontra von Lösungen diskutieren. Dabei
wird die Frage der Anrechnung des Einkommens natürlich eine Rolle spielen. Aber ich werde jetzt nicht dem
Diskussions- und Meinungsbildungsprozess vorgreifen.
Die Fragen 10 und 11 der Kollegin Dr. Gesine
Lötzsch werden schriftlich beantwortet, ebenso die
Fragen 12 und 13 der Kollegin Sabine Zimmermann.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs.
Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern auf. Für die Beantwortung der Fragen
steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Peter
Altmaier zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 14 des Kollegen Wolfgang
Wieland:
Welcher oder welche Richter am Bundesverfassungsgericht haben dem Bundesminister des Innern bei welcher Gelegenheit geraten, die Bundesregierung solle sich im Zweifel
nicht an Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes halten, wie dieser in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag
am 29. November 2007 ausführte?
Herr Kollege Wieland, ich fürchte, ich werde Ihre
Neugier nicht ganz befriedigen können. Der Bundesminister des Innern hat sich, ebenso wie verschiedentlich
auch Richter am Bundesverfassungsgericht es getan haben, an der gegenwärtigen öffentlichen Debatte über
Sicherheit und Freiheit beteiligt, indem er in den Haushaltsberatungen seinen Standpunkt zu den verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für das Handeln der Sicherheitsbehörden wiederholt hat.
Haben Sie eine Nachfrage?
Ich habe sicherlich eine Nachfrage. Sie haben, mit
Verlaub, eben gar nichts geantwortet. Aber dennoch ist
es formal eine Nachfrage, die ich stelle.
Der Herr Bundesminister des Innern ist, wie wir wissen, ein besonders scharfzüngiger Formulierer, der uns
aber des Öfteren rätseln lässt, was der Dichter uns damit
eigentlich sagen wollte. Damit haben wir heute schon
eine Stunde im Innenausschuss verbracht. Er hat gesagt
- ich zitiere das Protokoll der Plenardebatte vom 29. November -:
Bei allem Respekt: Ich halte nichts, aber auch gar
nichts davon, dass uns Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts raten, wir sollten uns im Zweifel
nicht an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts halten.
Der Minister hat damit eine Tatsache berichtet, nämlich dass er von - sogar mehreren - Mitgliedern des
Bundesverfassungsgerichts den Rat erhalten habe, sich
nicht an das zu halten, was sie judiziert haben. Im
Grunde steht dahinter die Aussage: Die dritte Gewalt rät
mir als Exekutive, einfach über ihre Urteile hinwegzugehen und sie nicht zu beachten. Das ist ja nun kein Allerweltsvorgang, mein lieber Herr Staatssekretär, sondern
eine schwerwiegende Behauptung, die der Bundesinnenminister in den Raum gestellt hat.
Ich frage deshalb: Welcher oder welche Bundesverfassungsrichter haben ihm denn diesen Rat gegeben?
Herr Kollege Wieland, wenn der Bundesinnenminister vorgehabt hätte, über das Gesagte hinaus konkreter
zu werden, hätte er dies sicherlich in der von Ihnen angesprochenen Bundestagsdebatte getan.
({0})
Im Übrigen verweise ich auf einschlägige Presseveröffentlichungen, die zeigen, dass sich auch Mitglieder
des Bundesverfassungsgerichts in den vergangenen Monaten und Jahren an öffentlichen Debatten beteiligt haben. Die dürften Ihnen auch zugänglich sein.
({1})
Haben Sie eine weitere Frage, Herr Kollege?
Viele Fragen, aber leider keine Antworten. Der Presse
nach war der geschätzte Herr Bundesinnenminister
höchstselbst in Karlsruhe beim Bundesverfassungsgericht und hat dort versucht - ich sage es jetzt einmal mit
meinen Worten -, den Richterinnen und Richtern klarzumachen, welche Auswirkungen deren Rechtsprechung
auf die innere Sicherheit in diesem Land habe.
Ist im Rahmen dieser Besprechung der Ratschlag
„Dann halten Sie sich doch einfach nicht an das, was wir
in unsere Urteile schreiben“ erfolgt? Wo kommt der Ratschlag her? Wenn er es gesagt hätte, hätte ich es gehört.
Er hat es aber nicht gesagt. Sie sind sein Interpret und
sozusagen sein berufener Sprecher. Nun sagen Sie es uns
doch! Woher und von wem kommt dieser Ratschlag?
Herr Kollege Wieland, Sie beziehen sich auf die Unterredung, die Mitglieder der Bundesregierung mit Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts vor einigen
Wochen in Karlsruhe geführt haben. Sie wissen so gut
wie ich, dass der Charakter dieser Unterredung vertraulich war. Deshalb werden Sie verstehen, dass ich nicht
vorhabe, aus dieser Unterredung zu zitieren.
({0})
Die Frage 15 des Kollegen Volker Beck ({0}) wird
schriftlich beantwortet.
Damit rufe ich die Frage 16 der Kollegin Petra Pau
auf:
Wie geht die Bundesregierung mit der Tatsache um, dass
das sachsen-anhaltinische Landeskriminalamt und Mitarbeiter
des dortigen Innenministeriums die Zahlen rechtsextrem motivierter Straftaten bewusst geschönt haben, indem man
rechtsextreme Straftaten wie „Hakenkreuzschmierereien“ und
„Sieg-Heil“-Rufe nicht mehr als solche einstufte und damit
die Statistik zumindest für das Jahr 2007 um 200 Fälle senkte?
Frau Kollegin Pau, ich kann dazu sagen, dass die abschließende Bewertung einer Tat als politisch motivierte
Straftat und ihre Zuordnung zu einem der Phänomenbereiche dem jeweils zuständigen Landeskriminalamt
obliegt und dass die Fachaufsicht über die Landeskriminalämter, wie Sie wahrscheinlich wissen, nicht die
Bundesregierung, sondern das jeweils zuständige Landesinnenministerium ausübt. Deshalb möchte die Bundesregierung diesen Vorgang nicht kommentieren.
Eine Nachfrage, Frau Kollegin?
Ja; danke, Frau Präsidentin.
Herr Staatssekretär, mir ist natürlich bekannt, wer die
Fachaufsicht hat. Aber nun ist dieses Landeskriminalamt
- wie die Landeskriminalämter der übrigen Bundesländer - für Sie sozusagen Zulieferer des entsprechenden
statistischen Zahlenmaterials, von dem Sie ausgehen,
wenn Sie zum Beispiel mir monatlich die Antwort auf
meine Kleine Anfrage zum Thema „rechtsextrem motivierte Straf- und Gewalttaten“ zustellen.
Deshalb wiederhole ich meine Frage: Wie geht die
Bundesregierung mit der nun offenkundigen Tatsache
um, dass im Land Sachsen-Anhalt und nach Behauptungen des Sprechers des Innenministeriums des Landes
Sachsen-Anhalt auch in anderen Bundesländern zumindest im Jahre 2007 die Anzahl dieser Straftaten verfälscht wurde? Denn in der Konsequenz müssen Sie ja
auch mir falsche Antworten gegeben haben.
Frau Kollegin, ich denke, dass sich die Antwort auf
Ihre Frage aus der Antwort auf die Frage 17, die Sie gestellt haben, ergibt.
Dann rufe ich hiermit zugleich die Frage 17 der Kollegin Petra Pau auf:
Welche Initiativen hat die Bundesregierung im Rahmen
der Innenministerkonferenz ergriffen, um zu verhindern, dass
die Verfahrensregelungen zur Erfassung rechtsextrem motivierter Straftaten von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der
Landes- und Bundesbehörden verletzt werden, weil man sich
gegen „Fehlinterpretationen und ungerechtfertigte Bewertungen“ schützen wolle?
Hierzu kann ich Ihnen sagen, dass die Frage der Einstufung als politisch motivierte Kriminalität wiederholt
Gegenstand der Beratungen der IMK und der nachgeordneten Gremien gewesen ist. Vor allem in der eigens zu
diesem Zweck geschaffenen und regelmäßig tagenden
Arbeitsgruppe „Qualitätskontrolle PMK“ - politisch motivierte Kriminalität - werden festgestellte Einzelprobleme erörtert und Lösungsvorschläge erarbeitet. Dieses
Gremium hat seit seiner Gründung bereits über 20 Mal
getagt, und dort wird über diese Fragen, die Sie ansprechen, intensiv diskutiert. In all diesen Gremien und auch
in dieser Arbeitsgruppe wurde und wird seitens des Bundesinnenministeriums bzw. des Bundeskriminalamtes
die Zielsetzung verfolgt, bei den Ländern auf eine einheitliche Anwendung des Definitionssystems „politisch
motivierte Kriminalität“ hinzuwirken. Das ist die Absicht der Bundesregierung, und dafür setzen wir uns
auch ein. Das ändert aber nichts daran, dass die Kompetenzen in diesen Fragen bei den Ländern liegen. Das
heißt, auch diese Arbeitsgruppe kann keine verbindlichen Beschlüsse fassen; sie kann nur versuchen, durch
ständige Diskussionen auf eine gemeinsame, einheitliche Praxis hinzuwirken.
Ihre weitere Frage.
Zum Thema Qualitätskontrolle. Ist Ihnen denn im
Rahmen dieser regelmäßigen Beratungen bekannt ge13842
worden, in welchen weiteren Bundesländern es in diesem Jahr oder in den vergangenen Jahren eventuell Probleme mit der Zuordnung solcher Straftaten gegeben
hat? Gibt es auch eine Aussage dazu, wie viele Straftaten
auf diese Art und Weise wahrscheinlich nicht in die Statistik gelangt sind?
Nein. Ich kann Ihnen keine Zahlenangaben machen.
Wir haben allerdings sehr oft Diskussionen darüber, wie
Straftaten einzuordnen sind, wenn sie anonym begangen
werden. Hier gibt es durchaus leichte Unterschiede in
der Praxis einzelner Bundesländer. Es ist ja gerade das
Ziel dieser Arbeitsgruppe, diese Unterschiede so weit
wie möglich zu reduzieren.
Ganz ausschließen kann ich aber nicht, dass es hier im
Einzelfall zu unterschiedlichen Bewertungen gekommen
ist. Mir liegen aber keine Zahlen vor.
Wenn ich das richtig gehört habe, dann haben Sie
schon auf die Frage 17 der Kollegin Petra Pau geantwortet. Sie hat aber noch die Möglichkeit, Zusatzfragen zu
stellen.
Genau. Ich danke. - Sie haben gerade noch einmal
auf das Problem der anonymen oder vielleicht nicht ganz
zuzuordnenden Straftaten aufmerksam gemacht. In dem
Zusammenhang stelle ich meine Nachfrage.
In Ihrer Antwort auf eine Anfrage von mir haben Sie
mitgeteilt, dass in den Jahren 2002 bis heute zum Beispiel 237 Schändungen von jüdischen Friedhöfen nicht
Eingang in diese Statistik gefunden haben. Hat im Rahmen der Beratungssitzung Ihrer Arbeitsgruppe auch die
Frage eine Rolle gespielt, auf welche Art und Weise solche zumindest zu vermutenden antisemitisch motivierten
Straftaten in Zukunft Eingang in die Statistik finden können, um sich etwas genauer mit der Situation vertraut
machen zu können?
Das ist ja das Problem, das ich bereits angesprochen
hatte. Bei bestimmten Propagandadelikten - insbesondere bei der Verbreitung und Verwendung verbotener
nationalsozialistischer Symbole, wie zum Beispiel Hakenkreuze und SS-Runen - ist die Frage, ob diese immer, ständig und regelmäßig dem Phänomenbereich
„PMK rechts“ zuzuordnen sind, sofern keine gegenteiligen Hinweise zur Tätermotivation vorliegen, oder ob
man dies nicht generell, sondern nur dann tun kann,
wenn Hinweise auf die Tätermotivation vorliegen.
Ansonsten gibt es nämlich auch die Möglichkeit einer
Tatbegehung durch schuldunfähige Personen, zum Beispiel durch Kinder oder geistig Verwirrte. Darüber ist in
dieser Arbeitsgruppe wiederholt und mehrfach diskutiert
worden. Die Diskussionen haben aber noch nicht zu einem abschließenden Ergebnis geführt.
Weitere Zusatzfrage?
Ja, ich habe noch eine weitere Zusatzfrage. - Wie Sie
wissen, stellen meine Fraktion und ich diese Anfragen
nicht aus Lust am Zahlenmaterial, sondern weil wir auf
der Grundlage der Auskünfte, die uns die Bundesregierung gibt, versuchen wollen, einen Befund über die tatsächliche Situation in diesem Bereich zu erhalten, um
dann darüber zu debattieren, wie man gegen rechtsextrem oder antisemitisch motivierte Straf- und Gewalttaten vorgehen bzw. Prävention betreiben kann.
Deshalb frage ich die Bundesregierung: Haben die
vorliegenden Statistiken - seien die Zahlen nun zu niedrig oder richtig - bei der Vergabe der Mittel aus dem
Bundesprogramm zur Stärkung von Demokratie und Toleranz sowie zur Unterstützung von mobilen Beratungsteams und Initiativen vor Ort eine Rolle gespielt?
Ich kann Ihnen diese Frage leider nicht aus dem Kopf
beantworten. Ich biete Ihnen aber an, dass wir Ihnen eine
schriftliche Antwort zukommen lassen.
Danke schön.
Dazu gibt es jetzt noch eine Zusatzfrage des Kollegen
Kurth. - Bitte schön.
Nur zur Klärung, ob ich das eben richtig verstanden
habe: Hält es die Bundesregierung tatsächlich für möglich, dass eine so große Anzahl von Propagandadelikten,
wie Hakenkreuzschmierereien, von, wie Sie es nennen,
sogenannten geistig Verwirrten und Kindern verübt
wird, sodass allen Ernstes überlegt wird, diese Propagandadelikte nicht in die Statistik für politisch motivierte
Straftaten aufzunehmen?
({0})
Herr Kollege Kurth, Sie sollen schon den Versuch unternehmen, mir genau zuzuhören. Genau das, was Sie
unterstellen, habe ich nämlich nicht gesagt.
Darum frage ich ja.
Ich habe darauf hingewiesen, dass es in der von mir
zitierten Arbeitsgruppe der IMK Diskussionen zu dieParl. Staatssekretär Peter Altmaier
sem Thema gegeben hat. Die Bundesregierung hat die
Auffassung, die Sie zitieren, nicht vertreten.
Nun ist dieses Missverständnis hoffentlich auch ausgeräumt.
({0})
Dann sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. Ich
bedanke mich beim Kollegen Altmaier.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen auf. Zur Beantwortung steht die Parlamentarische Staatssekretärin Nicolette Kressl zur Verfügung. - Ich begrüße Sie.
Ich rufe zunächst die Frage 18 des Kollegen
Dr. Diether Dehm auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die aktuelle Debatte im
Europäischen Rat zur Verlängerung der Ausnahmegenehmigungen für die ermäßigte Mehrwertsteuer für die nach dem
1. Mai 2004 der Europäischen Union beigetretenen Mitgliedstaaten, und wird die Bundesregierung die Verlängerung unterstützen?
Ich beantworte Ihre Frage wie folgt: Der Ecofin-Rat
hat sich am 4. Dezember dieses Jahres politisch auf die
Verabschiedung des angesprochenen Richtlinienvorschlags verständigt. Die formale Verabschiedung muss
noch erfolgen. Dies wird geschehen, sobald die noch
ausstehende Stellungnahme des Europäischen Parlaments vorliegt.
Ich will zusätzlich darauf hinweisen, dass das Bundesministerium der Finanzen eine von der Kommission
angestrebte breite politische Diskussion über die Sinnhaftigkeit und damit sicherlich auch über die Ausgestaltung des Systems der ermäßigten Mehrwertsteuersätze
begrüßt.
Herr Kollege Dehm.
Frau Staatssekretärin, als Bundesvorsitzender des Unternehmerverbands OWUS werde ich immer wieder mit
der Frage gelöchert, was noch mehr zu tun sei, um im
Bereich des kleinen Handwerks und der kleinen Dienstleistungen zu einem Mehrwertsteuersatz von nur 7 Prozent statt 19 Prozent zu kommen; denn das wäre gut für
die Arbeitsplätze und die Binnennachfrage und würde
zur Bekämpfung der Schwarzarbeit beitragen. Wie ist
die Haltung der Bundesregierung dazu?
Herr Kollege Dehm, Sie haben in Ihrer Frage unterstellt, dass ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz - ich beziehe mich dabei nicht auf Handwerkerleistungen; vielmehr geht es im Zweifel um die sogenannten
arbeitsintensiven Dienstleistungen - sehr starke positive
Auswirkungen ökonomischer Art hätte. Dazu hat ein Experiment mit einer entsprechenden Auswertung stattgefunden. Vor dieser Auswertung gab es sehr viel Euphorie. Danach - das ist nachzulesen - ist eine relativ starke
Ernüchterung eingetreten.
Die neutrale Auswertung hat zu dem Ergebnis geführt, dass die nachhaltigen und positiven ökonomischen
Wirkungen so nicht eingetreten sind. Daraus schließt die
Bundesregierung, die solche Auswertungen sehr ernst
nimmt, dass es keinen Sinn macht, die steuerlichen Mindereinnahmen und die positiven arbeitsmarktpolitischen
Wirkungen gegeneinander abzuwägen und auf den ermäßigten Mehrwertsteuersatz zu setzen.
Kollege Dehm.
Frau Staatssekretärin, obwohl die Europäische Kommission eine ausdrücklich positive Stellungnahme zur
Verlängerung der Richtlinie für einen ermäßigten Steuersatz für 17 Mitgliedstaaten abgegeben hat, lehnt die
Bundesregierung offensichtlich eine entsprechende Umsetzung ab. Für bestimmte arbeitsintensive Dienstleistungen wie die Renovierung von Privatwohnungen, Frisördienste, die Reinigung von Fenstern, die häusliche
Pflege und kleine Reparaturarbeiten gibt es in vielen
europäischen Staaten ermäßigte Steuersätze. Länder wie
Frankreich, Belgien, Spanien und Großbritannien haben
mit dieser Regelung sehr gute Erfahrungen gemacht.
Polen, die Tschechische Republik und Ungarn haben
diese Regelung neu eingeführt.
In Gesprächen mit Kleinunternehmern in Ostfriesland
wurde ich kürzlich gefragt, ob es nicht ein Nachteil für
andere europäische Konkurrenten sei, wenn wir bei uns
keinen Wert auf den ermäßigten Mehrwertsteuersatz legten bzw. diese Diskussion vernachlässigten, während andere sie intensivieren. Die Franzosen etwa sind weit davon entfernt, den Rotwein und die Gastronomie davon
auszunehmen.
Herr Kollege Dehm, ich fürchte, Sie verwechseln
zwei Dinge. Das eine ist die Stellungnahme zur Verlängerung der ermäßigten Mehrwertsteuersätze für die ab
2004 beigetretenen Mitgliedstaaten. Das andere ist der
Versuch des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes für arbeitsintensive Dienstleistungen, auf den Sie sich eben
bezogen haben. Dies sind keineswegs gleiche Tatbestände.
Zum ermäßigten Mehrwertsteuersatz für arbeitsintensive Dienstleistungen habe ich Sie auf die Auswertung
hingewiesen - Sie können das sicherlich nachlesen -, die
ausdrücklich nicht zu einem so positiven Ergebnis
kommt.
Ich rufe die Frage 19 des Kollegen Dehm auf:
Präsident Dr. Norbert Lammert
Wie beurteilt die Bundesregierung die Einschätzung vieler
Wirtschaftswissenschaftler, dass durch die Ausweitung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes deutliche Effekte für eine
Vergrößerung der Kaufkraft und damit zusätzliche Anreize
zur Verbesserung der wirtschaftlichen Entwicklung erreicht
werden könnten, und sieht die Bundesregierung aus dieser
Einschätzung heraus Handlungsbedarf, den ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf Reparaturdienstleistungen und für reparierte Ersatzteile in den Bereichen Pkw, Haushaltsgeräte und
Rundfunkgeräte auszudehnen?
Die Antwort dazu lautet: Die Bundesregierung lehnt
die Einführung weiterer ermäßigter Mehrwertsteuersätze
unter Abwägung beschäftigungs-, wettbewerbs- und
finanzpolitischer sowie verwaltungstechnischer Gründe
ab. Sie bezweifelt, dass durch die Einführung ermäßigter
Mehrwertsteuersätze die beabsichtigten Lenkungswirkungen zum Erreichen der angestrebten Ziele tatsächlich
realisiert werden können. Dies wird durch den Bericht
der Kommission zu dem Experiment „Ermäßigter Mehrwertsteuersatz auf arbeitsintensive Dienstleistungen“
- das hatte ich bereits in der Antwort auf die Zusatzfragen erwähnt - aus dem Jahre 2003 sowie durch die der
Mitteilung der Kommission vom 5. Juli 2007 über vom
Normalsatz abweichende Mehrwertsteuersätze zugrunde
liegende Analyse des Forschungsinstituts Copenhagen
Economics bestätigt. Daraus ergibt sich eindeutig, dass
durch die Einführung ermäßigter Mehrwertsteuersätze
keine Lenkungswirkung erzielt werden kann, da die
Weitergabe der steuerlichen Ermäßigungen an die Verbraucher von staatlicher Seite nicht sichergestellt werden
kann. Darüber hinaus wird deutlich, dass die mit der Ermäßigung verbundene Preissenkung selbst bei Weitergabe oft zu gering ist, um dadurch positive Lenkungsimpulse zu erzielen.
Bitte schön.
Ich kann nicht verstehen, dass zum Beispiel Mitglieder der Kfz-Innung Niedersachsen darauf beharren,
während Sie Experten zitieren, die die Differenz zwischen 7 und 19 Prozent als überhaupt nicht relevant ansehen. Ich weiß auch nicht, welche Grundrechenarten
dieser Expertise zugrunde liegen.
Ich habe eine Nachfrage vor dem Hintergrund der Debatten von Bali. Wäre es nicht ein guter Ansatz, wenn
wir eine Offensive für Reparaturfreundlichkeit starten
würden, bei der bei Pkw, Fernsehgeräten oder Kühlschränken das defekte Teil nicht gegen ein anderes ausgewechselt würde, mit der Folge, dass Müll anfällt, Stoff
verbraucht wird und Material mit Lastwagen über Tausende von Kilometern unter erheblichem CO2-Ausstoß
hin und her gefahren würde? Wäre es nicht ein guter Ansatz, wenn wir gesetzlich darauf hinwirkten, dass reparaturfreundlicher produziert und dem Reparaturhandwerk
ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz gegeben wird, wie es
andere Länder in den erlaubten Teilbereichen auch tun?
Würden wir damit nicht viel von dem erreichen, was wir
mit Blick auf die Umwelt wollen? Wir sollten nicht nur
eine Offensive für erneuerbare Energien, sondern auch
eine Offensive für erneuerbare Stoffe machen, um damit
in der mittelständischen Wirtschaft für Effekte zu sorgen.
Sehr geehrter Herr Kollege Dehm, ich befürchte, dass
zur Bewertung von ökonomischen Wirkungen etwas
mehr als Grundrechenarten gehören. Genau dieses können Sie in diesem Bericht, den ich jetzt zum dritten Mal
erwähne, nachlesen. Dort wird ausgeführt, dass genau
die Wirkungen ökonomischer Art so nicht eingetreten
sind, auch nicht bezogen auf den Arbeitsmarkt.
Zusätzlich möchte ich darauf hinweisen - das hatte
ich in der Antwort zu Ihrer Frage 19 schon erwähnt -,
dass es für uns keine Möglichkeit gibt, zu kontrollieren,
ob und in welcher Form der ermäßigte Mehrwertsteuersatz tatsächlich an die Verbraucherinnen und Verbraucher weitergegeben wird.
Insofern bitte ich Sie, erstens ein bisschen mehr als
Grundrechenarten anzuwenden, und zweitens können
wir Ihnen gerne noch einmal die Quelle für den Kommissionsbericht nennen.
Weitere Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, ich wäre froh, wenn Sie mir
diese Expertise geben würden. Mich würde aber auch
sehr interessieren, wie Sie sich das erklären, was Sie hier
ausführen.
Wenn ich Sie richtig verstehe, dann wollen Sie damit
sagen, dass es hier einen Mitnahmeeffekt gibt. Sie können das gerne durch Kopfnicken bestätigen, sodass ich
meine Frage weiter ausdehnen kann. Das heißt, beim
Handwerksbetrieb gibt es einen Mitnahmeeffekt, der
nicht an den Kunden weitergegeben wird. Dieselben, die
das bei Konzernen und Banken als nonchalant bezeichnen, kritisieren die Nichtweitergabe an den Kunden
beim Handwerksbetrieb. Ist es jedoch nicht auch bei einem Handwerksbetrieb von großem Vorteil, wenn er das
in Arbeitsplätze umsetzt und der Betrieb dadurch nicht
von Insolvenz bedroht wird? Hätte es, selbst wenn es so
wäre, wie Sie sagen, nicht auch für die Klein- und
Kleinstbetriebe - die KMU in Europa besteht zu über
85 Prozent aus Kleinstbetrieben - immer noch einen
positiven Effekt?
Herr Kollege Dehm, ich kann mich sehr gut an die
Debatte erinnern, die ich persönlich als Abgeordnete mit
den Vertretern und Vertreterinnen des Handwerks geführt habe, bevor die Auswertung des Experiments zum
Beispiel in Frankreich - mein Wahlkreis liegt an der
Grenze zu Frankreich; daher habe ich die Debatten sehr
oft geführt - vorlag. Da herrschte viel Euphorie. Die
Auswertung hat, wie bereits erwähnt, zu einer gewissen
Ernüchterung geführt.
Ihre vorsichtig geäußerte Unterstellung, ich hätte gesagt, das werde nie weitergegeben, stimmt nicht. Ich
habe lediglich darauf hingewiesen, dass wir mit Steuermindereinnahmen rechnen und deswegen vorsichtig sein
müssen und dass wir gleichzeitig nicht die Möglichkeit
haben, staatlich zu kontrollieren bzw. zu lenken, in welcher Form und in welcher Höhe der ermäßigte Mehrwertsteuersatz weitergegeben wird. Ich persönlich und
die Bundesregierung sehen jedenfalls die Notwendigkeit, auf eine nachhaltige und effiziente Wirkung zu achten. Aber das können wir in diesem Fall, bei Steuermindereinnahmen, nicht garantieren.
Nun hat der Kollege Thiele eine Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, es gibt den normalen und den
ermäßigten Mehrwertsteuersatz. Es gibt aber auch Leistungen in unserem Lande, die gar nicht besteuert werden. Ich frage Sie, wie Sie die Tatsache bewerten, dass
auf die Leistungen, die die Deutsche Post AG erbringt,
gar keine Mehrwertsteuer erhoben wird, und wie hoch
Sie den daraus resultierenden Steuerausfall schätzen. Da
diese Frage für Sie möglicherweise etwas überraschend
ist, wäre ich einverstanden, wenn Sie Ihre Antwort
schriftlich nachreichen.
Herr Thiele, die Zahlen reiche ich Ihnen gerne nach.
Ich weise allerdings darauf hin, dass dies bereits ein Tagesordnungspunkt auf der Sitzung des Finanzausschusses heute Morgen war. Es gab zwar zeitliche Probleme,
aber dort hätte diese Frage eigentlich ihren Platz gehabt.
Nichtsdestotrotz werden wir die Zahlen gerne nachreichen.
({0})
Wir sind uns über das Prozedere einig. - Weitere Zu-
satzfragen zu Frage 19 habe ich nicht registriert.
Die Frage 20 der Abgeordneten Christine Scheel und
die Frage 21 des Kollegen Dr. Gerhard Schick aus dem
Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen
werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie.
Die Frage 22 des Abgeordneten Ernst Burgbacher, die
Fragen 23 und 24 des Abgeordneten Jürgen Koppelin,
die Frage 25 der Abgeordneten Christine Scheel, die
Frage 26 des Abgeordneten Hans-Kurt Hill1) sowie die
Fragen 27 und 28 des Kollegen Manfred Kolbe werden
schriftlich beantwortet. Das sind alle Fragen aus diesem
Geschäftsbereich.
1) Die Antwort lag bei Redaktionsschluss nicht vor und wird zu einem
späteren Zeitpunkt abgedruckt.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
Freundlicherweise ist die Parlamentarische Staatssekretärin Ursula Heinen erschienen, um die Fragen zu
beantworten.
Ich rufe die Frage 29 der Kollegin Cornelia Behm
auf:
Welche Rolle spielte der Marine Stewardship Council,
MSC, als weltweit bisher umfassendstes Zertifizierungssystem für eine nachhaltige Meeresfischerei im Rahmen des runden Tisches zur Fischerei am 21. November 2007 in Bonn
({0})?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Kollegin Behm, ich teile Ihnen mit, dass der MSC am
runden Tisch aktiv teilgenommen hat und in einem einführenden Vortrag die eigene Organisation, insbesondere
den Aspekt der Rückverfolgbarkeit im Zertifizierungssystem des MSC, vorgestellt hat. Im Mittelpunkt des
runden Tisches zur Fischerei stand die Frage, wie
Verbraucherinnen und Verbraucher über eine gezielte
Nachfrage nach nachhaltig gewonnenen Fischereierzeugnissen zu einer nachhaltigeren und ökosystemverträglicheren Nutzung der weltweiten Fischbestände beitragen und dadurch die direkt bei der Fischerei
ansetzenden Erhaltungsmaßnahmen unterstützen können. Die Teilnehmer waren sich einig, dass Ökokennzeichen wie das des MSC hierzu einen wichtigen Beitrag
leisten können und dass mit einer weiteren Zunahme des
Marktanteils ökozertifizierter Fischereierzeugnisse zu
rechnen ist.
Könnten Sie meine Fragen 29 und 30 im Zusammenhang beantworten?
Ja.
Dann rufe ich die Frage 30 der Kollegin Cornelia
Behm auf:
In welcher Weise unterstützt die Bundesregierung den
MSC, insbesondere bei der Steigerung seines Bekanntheitsgrades?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Wir haben im Rahmen einer in Auftrag gegebenen
Studie festgestellt, dass zu den Chancen der Ökokenn13846
zeichnung für die deutsche Fischerei 12 Prozent der Befragten angaben, den MSC zu kennen. Die Steigerung
des Bekanntheitsgrades wird von der Bundesregierung
unterstützt, indem wir regelmäßig in Pressemitteilungen,
verschiedenen Publikationen sowie im Internet auf den
MSC hinweisen. Auf einer vom Bundesumweltministerium geplanten Konferenz zum Thema „Initiative Artenschutz - Ökozertifizierung in der Fischerei“, die im
Februar 2008 stattfinden soll, wird der MSC einen der
Schwerpunkte darstellen.
Außerdem wirbt die Bundesregierung seit längerem
in Gesprächen mit den Vertretern der deutschen Fischerei dafür, eine Zertifizierung vorzunehmen bzw. zu erwägen.
Die MSC-Zertifizierung der deutschen Seelachsfischerei wird voraussichtlich in den kommenden Monaten abgeschlossen werden. Eine direkte finanzielle Unterstützung, Kollegin Behm, ist bisher allerdings nicht
erfolgt.
Die Steigerung des Bekanntheitsgrades der MSC-Produkte setzt voraus, dass genug Produkte im Handel erhältlich sind. Das ist in Deutschland allerdings erst seit
dem Jahr 2005 der Fall, nachdem der MSC auch Fischprodukte größerer Fischereien wie Alaska-Seelachs - mit
einem Anteil von immerhin rund 25 Prozent die wichtigste Fischart für den deutschen Markt -, südafrikanischen Seehecht und Nordseehering zertifizieren konnte.
Wir sind froh darüber, dass immer mehr Verarbeitungsund Handelsunternehmen seitdem das Label des MSC
verwenden. Sie sehen also, dass wir uns nachhaltig dafür
einsetzen, dass dieses Zertifizierungssystem bekannt
wird und in der Öffentlichkeit entsprechend genutzt und
wahrgenommen wird.
Sie haben das Wort zu Ihrer ersten Nachfrage. Bitte
schön, Frau Behm.
Vielen Dank für die Antwort. - Ich habe den runden
Tisch zur nachhaltigen Fischerei mit Interesse verfolgt.
Ich denke, das ist eine sehr gute Initiative. Ich bin nur
über Ihre Angaben erstaunt. Sie sagen: 12 Prozent der
Befragten kennen das MSC-Siegel. Meine Erfahrungen
sind sehr viel schlechter, auch wenn ich zuletzt wiederholt erstaunt feststellen konnte, dass in Supermärkten,
sogar in Discountern, MSC-zertifizierte Ware zu finden
ist.
Es geht darum, Produkte der nachhaltigen Meeresfischerei bekannter zu machen. Beabsichtigt die Bundesregierung oder Ihr Haus angesichts der Tatsache, dass
das nächste Jahr durch COP 9, Biodiversität, gekennzeichnet ist, im Rahmen der Grünen Woche dazu in der
BMELV-Halle einen Schwerpunkt zu setzen?
Ich kann Ihnen im Augenblick nicht sagen, ob wir das
für die Grüne Woche schon geplant haben. Ich nehme
Ihre Anregung aber sehr gern in unser Haus mit, um
auch dort darauf hinzuweisen, wie wichtig dieses Thema
ist. Uns helfen natürlich auch, was den Bekanntheitsgrad
angeht, die Presseveröffentlichungen über nachhaltigen
Fischfang, die es in den vergangenen Monaten gegeben
hat. Um zu Ihrer Eingangsbemerkung zurückzukommen:
Ich kann mir durchaus vorstellen, dass der Bekanntheitsgrad des Labels mittlerweile größer als 12 Prozent ist.
Wie gesagt, ich nehme Ihre Anregung, auch dies zum
Thema auf der Grünen Woche zu machen, in unser Haus
mit.
Eine zweite Zusatzfrage, Frau Behm.
Die Pressemitteilung zum runden Tisch endete damit,
dass es nunmehr konkrete Vorschläge zur Kennzeichnung von Fisch aus nachhaltiger Fischerei geben soll.
Die einzelnen Beteiligten wollten entsprechende Vorschläge vorlegen. Gibt es seitens des BMELV schon etwas, was man auf den Tisch legen kann?
Das gibt es zurzeit noch nicht. Aber es sind zwei Arbeitsgruppen unter unserem Vorsitz eingerichtet worden.
Sie sollen sich zum einen mit dem Thema „Mindestkriterien für eine Ökokennzeichnung“ und zum anderen mit
der ganz entscheidenden Frage der Möglichkeit von Herkunftsangaben beschäftigen. Es wird noch ein paar Monate dauern, bis Vorschläge auf dem Tisch liegen. Wir
werden Sie im Ausschuss oder hier sehr zeitnah darüber
unterrichten.
Ihre dritte Zusatzfrage, Frau Behm.
Ist es vorgesehen, einen weiteren runden Tisch zur
nachhaltigen Meeresfischerei durchzuführen? Wenn ja,
können Sie schon einen etwaigen Termin benennen?
Darüber kann ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt noch
nichts sagen. Dies hängt zum einen im Wesentlichen davon ab, welche Ergebnisse die beiden Arbeitsgruppen
erzielen. Zum anderen hängt es davon ab, wie sich der
internationale Fischfang weiterentwickelt, Stichwort „illegaler Fischfang“, welche Konsequenzen es gibt und
welche Möglichkeiten wir auf internationaler Ebene haben, den illegalen Fischfang bzw. die Überfischung einzudämmen. Das alles spielt eine Rolle dabei, wie wir mit
dem runden Tisch weiter umgehen. Ich persönlich kann
mir durchaus vorstellen, ihn noch einmal zusammenzurufen; schließlich ist es ein Erfolg gewesen, darüber so
zu beraten und Kennzeichnungssysteme bekannt zu machen.
({0})
Das ist doch mal was - verglichen mit den in solchen
Zusammenhängen häufigeren Beschwerden.
Die Frage 31 der Kollegin Dr. Kirsten Tackmann wird
schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 32 der Kollegin Mechthild Rawert
auf:
Was hat die Bundesregierung seit dem Auslaufen der Walfangflotte Japans am 18. November 2007 unternommen, um
die japanische Regierung von ihrem Vorhaben abzubringen,
bis zu 935 Zwergwale, 50 Finnwale und 50 Buckelwale in
dieser Saison unter dem Deckmantel des „wissenschaftlichen
Walfanges“ zu töten?
Auf Ihre Frage, Kollegin Rawert, teile ich Ihnen mit:
Nach den vorliegenden Informationen sieht das japanische Walfangprogramm vor, dass bis Mitte April 2008
rund 1 000 Wale gefangen und getötet werden, darunter
850 Zwergwale, 50 Buckelwale und 50 Finnwale. Die
Bundesregierung setzt sich für einen konsequenten
Schutz der Walbestände ein und fordert im Einklang mit
anderen Walschutzländern in der Internationalen Walfang-Kommission, dass das seit 1986 bestehende Moratorium aufrechterhalten wird. Dies entspricht auch den
einstimmigen Voten des Deutschen Bundestages, an denen Sie, Kollegin Rawert, in den letzten Jahren sehr aktiv mitgewirkt haben.
Deutschland und andere Walschutzländer haben bei
der letzten IWC-Jahrestagung erneut ihre ablehnende
Haltung zu den wissenschaftlichen Walfangaktivitäten
Japans, aber auch Norwegens und Islands zum Ausdruck
gebracht. Daraufhin wurde bei dieser Jahrestagung eine
Resolution verabschiedet, in der die Fragwürdigkeit der
japanischen Programme erneut betont und Japan aufgefordert wird, auf diesbezügliche Programme zu verzichten.
Gleich nach Bekanntwerden der diesjährigen japanischen Walfangaktion hat Deutschland ein Gespräch mit
Vertretern des zuständigen japanischen Ministeriums
und der dortigen Fischereibehörden geführt. Japan ist in
der Vergangenheit bereits mehrfach dazu aufgefordert
worden, die IWC-Beschlüsse zu respektieren. Die Bundesregierung wird die japanischen Walfangaktivitäten
weiterhin intensiv verfolgen.
Auf internationaler Ebene hat die erneute Walfangaktion Japans erheblichen Unmut hervorgerufen. Australien, Neuseeland, die USA und die Europäische Kommission haben sich an die japanische Regierung gewandt
und ihren Protest gegen diese Aktion zum Ausdruck gebracht. In ihren Äußerungen zeigen sie Betroffenheit,
weil diese japanische Walfangaktion die internationalen
Anstrengungen unterminiert, Wale zu schützen und die
Arten zu bewahren.
Bitte schön, Frau Rawert.
Frau Staatssekretärin, würden Sie sofort auch die
zweite Frage beantworten?
Ja.
Dann rufe ich auch gleich die Frage 33 der Kollegin
Rawert auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Tötung von jeweils
50 Finn- und Buckelwalen, obwohl diese Walpopulationen
auf der Roten Liste 2007 der World Conservation Union,
IUCN, stehen, und was unternimmt die Bundesregierung konkret, um das Aussterben dieser Walpopulationen zu verhindern?
Auf Ihre weitere Frage antworte ich wie folgt: Die
Tötung von Finn- und Buckelwalen zu wissenschaftlichen Zwecken verstößt, wie ich es bereits in der Antwort
auf Ihre erste Frage gesagt habe, ganz klar gegen den
Geist des Walfangmoratoriums der Internationalen Walfang-Kommission, unabhängig davon, dass in der jüngsten Roten Liste Finn- und Buckelwale in der Kategorie
„Least Concern“ mit der Anmerkung geführt werden,
dass diese Listung überholt sei.
Mit der Annahme des Koalitionsantrags vom 10. Mai
2007 mit dem Titel „Schutz der Wale sicherstellen“ hat
die Mehrheit des Deutschen Bundestages die Bundesregierung aufgefordert, den Schutz der Wale weltweit voranzubringen und in den laufenden Bemühungen nicht
nachzulassen.
Den kontinuierlichen Bestrebungen von Walschutzländern einschließlich Deutschlands zur Gewinnung
neuer Mitglieder für den Walschutz - dabei sind jetzt
auch Ecuador, Griechenland, Kroatien, Slowenien und
Zypern - ist es zu verdanken, dass die Walschutzländer
ihre nominelle Mehrheit, die sie in den letzten Jahren leider verloren hatten, in diesem Jahr deutlich zurückgewinnen konnten.
Durch die Verabschiedung mehrerer Resolutionen
konnten klare Zeichen für eine Fortsetzung und Verbesserung des internationalen Schutzes der Wale gesetzt
werden. Dazu zählt einmal die Aufrechterhaltung des
Moratoriums für den kommerziellen Walfang. Zum anderen konnten die Walschutzländer auch eine Erklärung
zur Förderung und Bedeutung der nicht tödlichen Nutzung der Walbestände, insbesondere durch kommerzielle
Walbeobachtung, durchsetzen und in einer weiteren Resolution ein wichtiges politisches Signal gegen den sogenannten wissenschaftlichen Walfang Japans geben.
Bitte schön.
Herzlichen Dank für die Beantwortung der Fragen.
Meine Nachfragen beziehen sich auf Aspekte der Konkretisierung. Sie haben Ausführungen zur Roten Liste gemacht und darauf hingewiesen, dass Buckel- und Finnwale dort „out of date“ seien. Nichtsdestotrotz gelten sie
als gefährdet. Welche Maßnahmen sieht die Bundesregierung vor, um den sogenannten wissenschaftlichen Walfang wirklich griffiger zu sanktionieren? Wir diskutieren
in regelmäßigen Abständen immer wieder darüber, dass
es durch Japan, Norwegen, Grönland und Dänemark zu
Verletzungen kommt. Im anderen Rahmen, zum Beispiel
bei Fischereiabkommen, sind Sanktionsmaßnahmen ja
auch möglich. Was ist hier getan worden, und was ist
möglich?
Zunächst ist es ganz klar, dass wir die Tötung von Walen verurteilen. Es gibt auch keinerlei Ansatzpunkt, das
Moratorium aufzuheben. Dafür wäre eine Zweidrittelmehrheit erforderlich; diese ist auch aufgrund der Tatsache, dass sich Deutschland um neue Mitglieder bemüht
hat und nunmehr die Mehrheiten eindeutig sind - um es
einmal so zu formulieren - nicht in Sicht. Von dieser
Seite besteht also keine Gefahr. Von daher können wir
den Rahmen schon einmal als gegeben hinnehmen.
Bezüglich einer Übertragung der Bestimmungen des
Moratoriums auf die Fangquoten für andere Fischarten
oder Ähnliches kann ich Ihnen zurzeit keine Auskunft
geben. Ich werde diese Frage aber aufnehmen und sie Ihnen anderweitig beantworten.
Danke für den Bericht, zumal sich die Rote Liste ja
auch auf Natur- und Artenschutz bezieht.
Eine weitere Frage zur Konkretisierung, nämlich zu
Maßnahmen im Jahre 2008. Selbstverständlich wird
wieder die Internationale Walfang-Kommission tagen.
Gibt es weitere Aktivitäten oder Vorstellungen der Bundesregierung, wie der Walschutz aktiv vorangetrieben
werden kann? Hierzu bietet ja zum Beispiel die Grüne
Woche Möglichkeiten.
Zurzeit sind, wenn ich das richtig sehe, auf der Grünen Woche keine weiteren Aktivitäten geplant. Ich rege
allerdings an, dass Sie das Thema noch einmal mit in
den Ausschuss nehmen, der ja zur Grünen Woche tagen
wird. Vielleicht könnten Sie dort als Parlamentarierin
noch einmal ein Zeichen gegen den internationalen Walfang setzen, indem sie zum Beispiel einen interfraktionellen Antrag dazu einbringen. Das wäre ja gerade im
Vorfeld einer solchen internationalen Messe ein sehr
deutliches Zeichen.
Wir hatten darüber auch heute Morgen im Ausschuss
schon eine sehr intensive Debatte. Es wäre schön, wenn
Sie es uns ermöglichen, das Thema auf der Grünen Woche zu diskutieren. Wir als Parlamentarier brauchen natürlich die entsprechenden Gesprächspartner. Danke,
dass Sie das mit in Ihr Haus nehmen und sich darum bemühen wollen, dass es uns ermöglicht wird, solche Gespräche mit entsprechenden Gesprächspartnern zu führen.
Ich komme noch einmal zurück auf den Begriff des
wissenschaftlichen Walfangs. Er wird ja als Schlupfloch
benutzt, um letztendlich kommerziellen Walfang zu ermöglichen. Mittlerweile gibt es in Japan im Zusammenhang mit der jetzt laufenden Fangaktion Marketingkampagnen, die zum Beispiel „Wal-Curry“ und Ähnliches
bewerben. Was kann getan werden, damit diese Machenschaften auf keinen Fall nach Deutschland übergreifen?
Die Gefahr, dass sie nach Deutschland übergreifen,
besteht, wie ich glaube, so nicht. Die Bundesregierung
hat sich ja ganz klar gegen den Walfang ausgesprochen,
der unter dem Deckmantel des sogenannten wissenschaftlichen Walfangs betrieben wird. Diesen lehnen wir
klar ab. Wir setzen uns in allen internationalen Organisationen dafür ein, dass diese unsere Sichtweise international mehrheitsfähig wird. Hier haben wir, wie ich vorhin
schon gesagt habe, eine ganze Menge erreicht.
Danke.
Frau Kollegin Behm.
Frau Staatssekretärin, Sie haben mehrfach betont, dass
Sie sich klar gegen den japanischen Walfang aussprechen. Ich denke aber, dass das nicht ausreicht. Man muss
Druck ausüben. Wir haben da entsprechende Erfahrungen gemacht. Ich denke zum Beispiel an die jährlich wiederkehrenden Robbentötungen. In diesem Zusammenhang hat der Deutsche Bundestag die Bundesregierung
aufgefordert, entweder Aktivitäten auf der europäischen
Ebene zu entfalten oder, wenn das zunächst einmal nicht
möglich sein sollte, ein Gesetz zu erlassen, das den Handel mit Robbenprodukten verbietet. Ihr Haus hat dann an
einem entsprechenden Gesetzentwurf gearbeitet. Der ist
leider in der Versenkung verschwunden. Man sagt, Frau
Merkel habe nach einem Kanada-Besuch ihr Veto eingelegt. Jetzt frage ich Sie: Hat Ihr Haus vielleicht darüber
nachgedacht, im Zusammenhang mit den Waltötungen
Japans Sanktionen ähnlicher Art vorzunehmen, oder
nimmt man davon Abstand, weil wirtschaftliche Sanktionen einfach nicht infrage kommen?
Zunächst einmal muss ich Sie korrigieren, was Ihre
Einschätzung zur Robbenjagd und zum Import von Robbenprodukten nach Deutschland bzw. nach Europa betrifft. Gerade das Bundesministerium für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz setzt sich nachdrücklich dafür ein, dass der Gesetzentwurf durchkommt. Wir befinden uns zurzeit in der Ressortabstimmung. Es ist für Deutschland, das in europäische und
internationale Handelsorganisationen eingebunden ist,
nicht einfach, ein solches Importverbot allein zu beschließen. Wir brauchen diesbezüglich die umfangreiche
Unterstützung der anderen Ressorts, insbesondere des
Wirtschaftsministeriums und des Justizministeriums.
Wir sind da auf einem guten Weg.
Ich darf Ihnen im Übrigen in Erinnerung rufen, dass
- soweit mir bekannt ist - die Niederlande wegen ihres
einseitigen Importverbots bereits vor der WTO verklagt
worden sind. Wir müssen also sorgfältig vorgehen. Der
Gesetzentwurf ist auf einem wirklich guten Weg.
Sie können ebenfalls davon ausgehen, dass wir uns
beim Thema Walfang nachdrücklich dafür einsetzen,
dass die Moratorien eingehalten werden. Inwieweit wir
in diesem Bereich gesetzgeberisch tätig werden müssen
oder wir in internationalen Organisationen stärker tätig
werden sollten, müssen wir noch genauer untersuchen.
Wir freuen uns auf weitere Diskussionen darüber mit Ihnen, den Parlamentarierinnen und Parlamentarien.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs.
Ich bedanke mich bei Ihnen, Frau Heinen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit auf. Der Parlamentarische Staatssekretär Schwanitz beantwortet die Fragen.
Die Frage 34 des Kollegen Ackermann wird schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 35 des Kollegen Wodarg auf:
Wie erklärt sich die Bundesregierung, dass nach Angaben
der Deutschen Stiftung Organtransplantation, DSO, im Jahr
2005 an der Charité Berlin von insgesamt 115 Nieren 59 an
Privatpatienten transplantiert wurden, dass in Kiel von
22 Nieren 8 an Privatpatienten und von 8 Herzen 3 an Privatpatienten transplantiert wurden und dass in Hannover für das
gleiche Jahr die Warteliste für Lungentransplantationen
130 Privatpatienten und nur 38 Kassenpatienten ausweist?
Die Organisation der Organentnahme und Organvermittlung ist, wie bereits in der Antwort auf Ihre schriftlichen Fragen 10/91 bis 10/94 dargelegt, in unser Gesundheitssystem integriert. Daher hat nach der Konzeption
des Transplantationsgesetzes die Selbstverwaltung
- nämlich die Spitzenverbände der Krankenkassen, die
Bundesärztekammer und die Deutsche Krankenhausgesellschaft - die Aufgabe, diese zu organisieren. Sie haben die Deutsche Stiftung Organtransplantation als
Koordinierungsstelle mit der Organisation der Organentnahme und die Stiftung Eurotransplant mit der Organvermittlung beauftragt.
Entsprechend hat die Selbstverwaltung auch die Aufgabe, das Geschehen zu überwachen. Eine Überprüfung
der in den Tätigkeitsberichten der Koordinierungsstelle
dargestellten Angaben zum Versichertenstatus von Patienten erfolgt derzeit durch die von der Selbstverwaltung eingesetzte Überwachungskommission.
Nachfrage? - Bitte schön, Herr Kollege Wodarg.
Dieses Haus hat vor etwa zehn Jahren das Transplantationsgesetz auf den Weg gebracht. Wir haben großen
Wert darauf gelegt, dass Transparenz bei der Organentnahme und bei der Organvergabe gewährleistet ist. Wir
wollten damit sicherstellen, dass die Organvergabe nicht
nach dem Portemonnaie, sondern nur nach der medizinischen Indikation erfolgt. Deshalb haben wir die Auflage
gemacht, dass Transparenz über den Versichertenstatus
geschaffen wird.
Die DSO hat über viele Jahre die entsprechenden Statistiken erstellt. Sind denn die Zahlen, die in meiner
Frage genannt werden, nie jemandem aufgefallen? Für
diese Zahlen gibt es zwei Erklärungsmöglichkeiten.
Zum einen könnte es sein, dass die Zahlen, die uns der
gesetzlich Beauftragte liefert, über mehrere Jahre falsch
waren. Zum anderen könnte es sein, dass die Zahlen
richtig sind. Sie wären dann aber mit der normalen Morbidität in Deutschland nicht zu erklären.
Auch die großen Unterschiede zwischen den Transplantationszentren sind nicht zu erklären. Es gibt einige
Transplantationszentren, in denen, wie bei der Charité,
die Hälfte der Nieren an Privatpatienten vergeben werden. Dies muss doch irgendjemandem aufgefallen sein.
Wer hat denn die Aufsicht darüber? Gibt es entsprechende Rückfragen bei den Ländern? Wer ist für die
Transparenz, die es in der Umsetzung dieses Bundesgesetzes - das Transplantationsgesetz hat der Deutsche
Bundestag auf den Weg gebracht; wir organisieren auch
die Werbung für die Organspende - geben soll, verantwortlich? Uns muss doch am Herzen liegen, dass hier
Transparenz herrscht. Wenn hier Schmu gemacht wird,
können wir uns die großen Plakate sparen.
Herr Kollege Wodarg, Sie wissen, dass bei der Konzeption des Transplantationsgesetzes vor nunmehr zehn
Jahren die Transplantation als eine gemeinschaftliche
Aufgabe der Transplantationszentren und der Krankenhäuser in Deutschland organisiert und so im Gesetz verankert worden ist. Dementsprechend ist die Verantwortlichkeit auf Bundesebene bei den von mir in der Antwort
beschriebenen Spitzenorganisationen verankert worden,
also bei den Spitzenverbänden der Krankenkassen, der
Bundesärztekammer und der Deutschen Krankenhausgesellschaft.
Ich halte es für richtig und auch für angezeigt, dass
beim kritischen Hinterfragen und bei nicht aus dem
Stand zu beantwortenden Fragen zu Zahlen die dafür
verantwortlichen Stellen und die dafür verantwortliche
Kommission tätig werden. Das ist eingeleitet. Gerade
vor dem Hintergrund, dass dies ein so sensibles Feld der
gesundheitlichen Versorgung - nicht zuletzt mit unmittelbaren Auswirkungen hinsichtlich Leben und Tod für
viele Tausende in unserem Land - ist, werbe ich darum,
dass man von vorschnellen Urteilen Abstand nimmt.
Wir können darüber ja ganz offen reden. Seit mehreren Wochen nehmen wir einzelne Zahlen zur Kenntnis.
Hier geht es um Zahlen von zwei Jahren und von einzelnen Zentren, die die Kommission zu untersuchen hat und
über die auch berichtet werden wird. Aber ich halte den
Hinweis auf angeblich korrumpierte Transplanteure und
käufliche Ärzte nicht für geeignet, die Situation in
Deutschland zu beschreiben, im Gegenteil: Erstens müssen diese Zahlen meines Erachtens durch die Kommission aufgeklärt werden. Zweitens kann dies nicht Anlass
sein, einen ganzen Berufsstand und die Organtransplantation in Deutschland zu verunglimpfen.
Kollege Wodarg.
Nach den Auskünften, die ich bei meinen Recherchen
erhalten habe - das sind Auskünfte des Verbandes der
privaten Krankenversicherung -, sind die Fallpauschalen
zwar immer gleich, wenn den Krankenhäusern die
Transplantationen vergütet werden. Dem steht aber die
Vergütung der jeweiligen Ärzte gegenüber, die privat liquidieren dürfen. Das ist wahrscheinlich hier mit dem
Adjektiv „privat“ gemeint; das muss vielleicht noch geklärt werden, und dafür wäre ich dankbar. Diese Ärzte
dürfen, wenn sie es günstig machen, für eine Lebertransplantation - so war die Auskunft - etwas über
7 000 Euro privat liquidieren. Wenn sie den 3,5-fachen
Satz nehmen, sind das dann etwas über 10 000 Euro.
Hinzu kommen Liquidationsmöglichkeiten für Ärzte,
die bei diesen Privatpatienten als Konsiliarärzte zusätzlich hinzugezogen werden. Das ist natürlich ein erheblicher finanzieller Anreiz, den es bei gesetzlich Krankenversicherten, die zur gleichen Zeit auf Organe warten,
nicht gibt.
Wie wollen Sie sicherstellen und wie genau muss man
angesichts der Zahlen, die möglicherweise falsch sind,
Ihrer Meinung nach aufpassen, damit der Vorwurf bzw.
der Verdacht entkräftet wird, in Deutschland könne es so
etwas wie korrumpierte Ärzte geben?
Herr Kollege Wodarg, der Gesetzgeber, der Deutsche
Bundestag - auch Sie selbst -, hat vor zehn Jahren, was
die Sicherstellung im Hinblick auf diese Frage betrifft,
zum schärfsten Instrument gegriffen. Er hat im Transplantationsgesetz einen speziellen strafrechtlichen Teil
statuiert, der nicht nur ein allgemeines Handelsverbot
festlegt, sondern auch sicherstellt, dass die Organvermittlung in Deutschland ausschließlich nach medizinischen Gesichtspunkten und nicht nach finanzieller
Potenz der Empfänger, nach Versichertenstatus oder
nach anderen Gesichtspunkten erfolgt. Das Ganze ist
straf- und bußgeldbewehrt.
Deswegen ist es angezeigt, dass man, wenn man konkrete Vorwürfe hat, diese offenlegt und den zuständigen
Ermittlungsbehörden, den Staatsanwaltschaften, die
Möglichkeit gibt, diesen Dingen nachzugehen. Das ist
der Wille des Gesetzgebers gewesen. Ich will Sie ausdrücklich auffordern, wenn Sie über solche Informationen verfügen, diese an die entsprechenden Stellen weiterzugeben.
Ich rufe die Frage 36 ebenfalls des Kollegen Wodarg
auf:
Welche Erkenntnisquellen nutzt die Bundesregierung, um
sich einen Eindruck über eine medizinisch sachgerechte Praxis bei der Organallokation zu verschaffen, und wie gestaltet
die Bundesregierung ihre diesbezügliche Informationspflicht
gegenüber dem Deutschen Bundestag?
Ich antworte wie folgt: Die Überwachung der ärztlichen Tätigkeit wird in Deutschland durch die Länder
und die Selbstverwaltung wahrgenommen. Dies gilt
auch für die Transplantationsmedizin. Die Organisation
der Vermittlung vermittlungspflichtiger Organe ist nach
dem Transplantationsgesetz Aufgabe der Selbstverwaltung.
Die Selbstverwaltungspartner haben einen entsprechenden Vertrag mit der Stiftung Eurotransplant als Vermittlungsstelle abgeschlossen. Das Bundesministerium
für Gesundheit prüft im Rahmen der Genehmigung dieses Vertrages präventiv, ob die vertraglichen Vereinbarungen zur Organisation der Organverteilung den gesetzlichen Anforderungen genügen. Die Selbstverwaltung
überwacht die Einhaltung der vertraglichen Vorgaben
zur Organverteilung und -gewinnung. Hierzu wurde gemäß den Verträgen eine Überwachungskommission eingerichtet.
Die Bundesregierung informiert den Deutschen Bundestag in vielfältiger Weise, beispielsweise mit dem im
nächsten Jahr vorzulegenden Erfahrungsbericht zum
Transplantationsgesetz sowie im Rahmen der Beantwortung von parlamentarischen Anfragen.
Die Bundesregierung ist ja Aufsichtsbehörde zumindest gegenüber denjenigen gesetzlichen Krankenkassen,
die bundesweit organisiert sind, und hat gesetzliche Aufgaben an sie übertragen. Wie sieht denn die Kontrolle
dieser Kassen aus, wenn ein Zugriff auf die Länder nicht
möglich ist? Ich kann mir aber vorstellen, dass es sinnvoll ist, auch die Länder immer wieder zu fragen, wie es
auf Landesebene aussieht. Aber wie sieht es auf Bundesebene aus? Jedes Organ, das falsch alloziert wäre, würde
einem Kassenpatienten fehlen. Das heißt, Kassenpatienten würden benachteiligt bzw. schlechter wegkommen.
Das sage ich unter der Voraussetzung, dass die Zahlen,
die von der DSO angegeben wurden, so stimmen. Kassenpatienten machen 90 Prozent der Versicherten aus.
Nur 10 Prozent der Patienten, die Leistungserbringern
gegenübertreten, sind Privatversicherte.
Die Kassen müssten doch eigentlich ein großes Interesse daran haben und sich engagiert darum kümmern
- und dies schon seit zehn Jahren -, dass solche Dinge,
die man hier vermuten muss und zumindest als Anfangsverdacht benennen sollte, gar nicht erst vorkommen. Die
Bundesregierung als Aufsichtsbehörde gegenüber den
Kassen muss sich ja auch für die Versicherten dieser
Kassen einsetzen. In welcher Form hat sie das bisher getan? Gibt es schon Berichte, oder ist der Bericht, den wir
im Herbst nächsten Jahres erwarten dürfen, der erste seit
zehn Jahren?
Herr Kollege Wodarg, ich habe jetzt keine genaue
Kenntnis darüber, wie viele Berichte sowie mündliche
und schriftliche Anfragen in den vergangenen zehn Jahren zu diesem Thema seitens der Bundesregierung erstellt bzw. beantwortet worden sind. Aber das ist mit Sicherheit eine stattliche Zahl. Ich bin gerne bereit,
genauere Zahlen schriftlich nachzureichen. Eine Antwort ist ja innerhalb der letzten zwei Wochen in schriftlicher Form auch Ihnen gegenüber erfolgt.
Bezogen auf den ersten Teil Ihrer Frage sage ich: Der
Gesetzgeber hat sich im Zusammenhang mit dem Transplantationsgesetz vor zehn Jahren intensiv mit dieser
Frage befasst. Vor dem Hintergrund der von mir in der
Antwort auf Ihre vorangegangene Frage beschriebenen
generellen Zuständigkeiten hat er für die Bundesregierung eine präventive Rechtskontrolle statuiert, die sich
ausschließlich auf den Vertrag bezieht. Diese Rechtskontrolle gilt bezogen auf die Frage, ob der Vertrag dem geltenden Recht, genauer gesagt, dem Transplantationsgesetz entspricht. Das ist die Rechtskonstruktion des
Transplantationsgesetzes, an die wir uns selbstverständlich gebunden fühlen. Sie beschreibt den Tätigkeitsrahmen.
Letzte Zusatzfrage.
Wie beurteilen Sie erstens die Tatsache, dass die DSO
inzwischen, vermutlich in den letzten 14 Tagen, ihre
Zahlen für 2004 aus dem Internet entfernt hat, und zweitens, dass auf meine schriftliche Nachfrage hin die Herausgabe der DSO-Daten, zu deren jährlicher Veröffentlichung sie durch das Transplantationsgesetz verpflichtet
ist, verweigert wurde?
Kollege Wodarg, ich kenne die Gründe dafür nicht.
Die Frage nach der Motivation könnte letztlich nur von
der DSO beantwortet werden.
Ich will aber ausdrücklich sagen, dass es in unserem
gemeinsamen Interesse liegt, dass die von Ihnen hinterfragten Zahlen überprüft und, sollten sie falsch sein, korrigiert werden. Ich glaube, es ist richtig, eine entsprechende Prüfung einzuleiten.
({0})
Diese Frage müssen wir im Raum stehen lassen, weil
sie nach unserer Geschäftsordnung nicht zulässig war.
Es ist aber erkennbar, dass uns dieses Thema erhalten
bleibt.
Ich bedanke mich für die Beantwortung dieser Fragen.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Der Parlamentarische Staatssekretär Ulrich Kasparick
beantwortet die Fragen, die alle zur mündlichen Beantwortung anstehen.
Zunächst rufe ich die Frage 37 der Kollegin Nicole
Maisch auf:
Wie möchte die Bundesregierung in Zukunft den weiteren
sogenannten Wildwuchs bei den Regionalflughäfen verhindern, und inwiefern sind davon in Planung begriffene Flughäfen betroffen?
Diese Frage bietet mir die Gelegenheit, einmal darauf
hinzuweisen, dass in Deutschland zwischen Bund und
Ländern eine Arbeitsteilung besteht. Die Flughafenplanung und der Flughafenbau sind gemäß § 31 Abs. 2
Luftverkehrsgesetz in Bundesauftragsverwaltung; das ist
eine ähnliche Konstruktion, wie wir sie bei den Bundesstraßen haben. Die Länder nehmen diese Aufgabe
grundsätzlich in eigener Kompetenz wahr. Die Aufgabe
des Bundes beschränkt sich darauf, gemäß § 31 Abs. 2
Nr. 4 Luftverkehrsgesetz zu prüfen, ob und inwieweit
durch die Genehmigung oder Änderung der Genehmigung zur Anlegung und zum Betrieb eines Flughafens,
der dem allgemeinen Verkehr dienen soll, die öffentlichen Interessen des Bundes berührt oder beeinträchtigt
werden. Das Land hat die Zuständigkeit, und der Bund
prüft, ob Bundesinteressen berührt oder beeinträchtigt
werden.
Wie Sie wissen, sprechen wir mit den Ländern über
die Entwicklung eines Gesamtkonzepts, das der Entwicklung im internationalen Luftgüterverkehr und im internationalen Luftpersonenverkehr angemessen Rechnung tragen soll. Das alte Konzept stammt aus dem Jahr
2000. Wir haben uns vorgenommen, das neue Flughafenkonzept im ersten Quartal 2008 vorzulegen.
Frau Maisch, bitte schön.
Danke, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär, im ZDF
wurde im August dieses Jahres berichtet, dass das von
Ihnen genannte Luftverkehrskonzept dazu gedacht ist,
den Wildwuchs bei Regionalflughäfen zu verhindern.
Können Sie das bestätigen?
Ich bitte Sie um Verständnis, dass ich Sendungen und
Zeitungsberichte nicht kommentiere.
Zweite Zusatzfrage.
Sie brauchen das ZDF nicht zu kommentieren. Vielleicht können Sie mir aber Auskunft darüber geben, ob
es inhaltlich richtig ist, dass angedacht wird, hier regulierend einzugreifen.
Das Ziel des Flughafenkonzepts besteht darin, die
Planungen, die wir in Deutschland angestellt haben, um
das Zusammenwirken der unterschiedlichen Verkehrsträger, die wir als Transitland berücksichtigen müssen,
so zu optimieren, dass wir zu einer sinnvollen Arbeitsteilung zwischen den großen Hubs, die wir aus Sicht des
Bundes dringend brauchen, und den zentralen Flughäfen, die von nationaler Bedeutung sind, kommen und sie
so mit den Länderprojekten abzustimmen, dass sich ein
schlüssiges Gesamtkonzept ergibt.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrter Herr
Staatssekretär, die Frage war, ob es richtig ist, dass das
Luftverkehrskonzept unter anderem auch dafür gedacht
ist, den Wildwuchs bei den Regionalflughäfen zu beenden. Das ist eigentlich eine ganz einfache Frage. Es langt,
wenn Sie Ja oder Nein sagen.
Ich erlaube mir, die Antwort zu wiederholen, die ich
eben gegeben habe: Ziel des Luftverkehrskonzepts ist es,
auf die modernen Anforderungen an ein großes Transitland und auf die Aufgaben, die auf uns zukommen, so zu
reagieren, dass wir eine sinnvolle Arbeitsteilung organisieren und zu einem Ausgleich der nationalen und landespolitischen Interessen kommen. Herr Dr. Hofreiter,
diese Frage kann man nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten. Dieser Sachverhalt ist komplexer.
Ich rufe die Frage 38 der Kollegin Maisch auf:
Welche objektiven Kriterien plant die Bundesregierung
vor dem Hintergrund der stetigen Zunahme des Flugverkehrs
und der damit verbundenen extremen Belastung der Umwelt
anzulegen, um den Neubau von reinen Prestigeobjekten zu
verhindern?
Auf die Arbeitsteilung zwischen Bund und Ländern
habe ich bereits hingewiesen. Die Kriterien, die der Bund
anlegen kann, wenn Neubaumaßnahmen, die in der Verantwortung der Länder liegen, durchgeführt werden, beschreibe ich am Beispiel der Novelle zum Fluglärmgesetz - das ist eine Bundeskompetenz -: Am 7. Juni 2007
ist die Novelle zum Fluglärmgesetz in Kraft getreten. Mit
diesem Bundesgesetz haben wir die Lärmgrenzwerte zur
Abgrenzung von Lärmschutzzonen verschärft und eine
Nachtschutzzone eingeführt. Für den Neubau von Flugplätzen - darauf zielt Ihre Frage - und die wesentliche
bauliche Erweiterung von Flugplätzen gelten nochmals
abgesenkte Werte. Außerdem wurde eine Außenwohnentschädigung für die Flughafenanrainer eingeführt. Wir
haben in diesem Gesetz ferner festgelegt, dass die Werte
des Fluglärmgesetzes auch bei der Planfeststellung und
bei der luftrechtlichen Genehmigung von Flugplätzen zu
beachten sind. Das ist aber nicht alles. Wir haben darüber
hinaus Vorschläge zur Reduzierung der durch den Flugverkehr verursachten Belastung der Luftqualität und zur
Begrenzung der klimawirksamen Emissionen unterbreitet und entsprechende Gesetzentwürfe verabschiedet.
Mit der Einführung einer für den Flughafen aufkommensneutral ausgestalteten emissionsbezogenen Landeentgeltkomponente - Sie erinnern sich an die Diskussion, die wir im Verkehrsausschuss und in anderen
Ausschüssen des Deutschen Bundestages geführt haben -,
die ab 1. Januar 2008 an den Flughäfen München und
Frankfurt/Main eingesetzt wird, soll ein Anreiz sowohl
im Hinblick auf die Herstellung als auch im Hinblick auf
den konkreten Einsatz schadstoffärmerer Flugzeuge geschaffen werden. Dies ist für die Luftfahrtindustrie eine
sehr große Herausforderung. Wir wollen schadstoffärmere Flugzeuge haben. Wir glauben, dass wir mit dem,
was wir jetzt an den Flughäfen München und Frankfurt/
Main testen, einen Schritt vorankommen.
Die Einführung der Landeentgeltkomponente erfolgt
freiwillig und setzt einen entsprechenden Antrag des
Flughafens voraus. Wir werden nach etwa einem Jahr
eine Bewertung der am 1. Januar 2008 beginnenden Testphase vornehmen. Ich bin ganz sicher, dass dieses Thema
dann wieder Gegenstand der öffentlichen Debatte im
Parlament sein wird.
Danke schön für die umfangreichen Informationen. Ich habe noch eine Nachfrage. Ursprünglich war geplant, der Öffentlichkeit dieses Konzept viel früher zu
präsentieren. Gibt es einen inhaltlichen Zusammenhang
zwischen den Landtagswahlen, die im Frühjahr nächsten
Jahres stattfinden, und der späten Veröffentlichung dieses Konzepts?
Diese Frage ist einfach zu beantworten: Nein.
Keine weitere Frage dazu.
Ich rufe die Frage 39 des Kollegen Hofreiter auf:
Wie ist der Sachstand bei der vom Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung vorgeschlagenen Einrichtung
einer Pilotstrecke zur Fahrradmitnahme im ICE, nachdem
sich die Fahrradmitnahme im Fernverkehr der Deutschen
Bahn AG durch den seit dem 9. Dezember 2007 gültigen
Fahrplan weiter verschlechtert hat, und kann mit dem Start
des Pilotversuchs noch vor dem Fahrplanwechsel im Dezember 2008 gerechnet werden?
Herr Dr. Hofreiter, wir beide in der Adventszeit und
die Fahrräder. Meine Antwort ist - ich habe Ihnen das
schon zu Ihrer letzten Frage gesagt -: Wir sind mit der
Deutschen Bahn AG im Gespräch. Wir haben vor, uns
nach Weihnachten wieder zu treffen. Die Deutsche
Bahn AG hat im letzten Gespräch angekündigt, uns ein
umfassendes Paket vorzulegen, das sich nicht nur auf
ICE-Projekte bezieht, sondern umfänglicher sein wird.
Das ist bisher noch nicht erfolgt. Ich denke, wir werden
deshalb im ersten Quartal des nächsten Jahres in einem
erneuten Gespräch nachfassen, um die Entwicklungen
im Bereich der Deutschen Bahn AG zu bewerten.
Bitte schön, die Zusatzfrage.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Vielen Dank, Herr
Staatssekretär, für die wortgewandten Ausführungen.
Man kann das kaum eine Beantwortung der Frage nennen. Meine Frage ist - wir machen das Spiel ja öfter -:
Glauben Sie, dass Sie oder Ihr Ministerium in der Lage
sind, vor Ende der Legislaturperiode einen Zeitpunkt zu
benennen? Wir können das in sechs Wochen wiederholen, und Sie können dann wieder antworten, Sie seien im
Gespräch mit der DB AG, wobei es schön ist, wenn Sie
mit der DB AG sprechen. Deshalb die Frage: Halten Sie
Ihr Ministerium für in der Lage, bevor diese Legislaturperiode endet, zu sagen, wann der Pilotversuch beginnt
und um welche Strecke es sich handelt?
Ich erlaube mir darauf folgende Antwort, Herr
Dr. Hofreiter: Wenn Sie mit einem Gesprächspartner in
eine Verhandlung eintreten, dann können Sie, wenn es
um Interessenkonflikte geht, am Beginn eines solchen
Gesprächsprozesses nicht sagen, wann Sie ein Ergebnis
vorlegen können. Ebenso geht es uns bei diesem konkreten Punkt mit der Deutschen Bahn AG. Ich bin zuversichtlich, dass wir Schritt für Schritt vorankommen.
Erstaunlicherweise gibt es eine weitere Zusatzfrage.
Die Antwort ist wirklich erstaunlich; denn es handelt
sich hier nicht um einen einfachen, gleichberechtigten
Gesprächspartner. Ich weiß nicht, ob es Ihnen bekannt
ist, aber noch befindet sich die DB AG zu 100 Prozent im
Bundesbesitz. Wenn die Bundesregierung ein Interesse
daran hätte, dann sollte sie in der Lage sein, ihre Position
gegenüber ihrem Verhandlungspartner durchzusetzen.
Deshalb meine Frage: Was unternehmen der Bundesminister und das Bundesministerium, außer sich ab und zu
mit Herrn Mehdorn zu treffen - ich habe keine Ahnung,
wer sich da trifft -, konkret, um dem zu 100 Prozent im
Bundesbesitz befindlichen Unternehmen klarzumachen,
dass der Minister das gerne hätte, was er öffentlich bekannt gegeben hat? Was unternehmen Sie konkret, außer
nett miteinander zu plaudern?
Herr Dr. Hofreiter, die Vorstellung, die Bundesregierung könnte in unternehmerische Entscheidungen eines
Privatunternehmens, dessen Aktien sich in Bundesbesitz
befinden, eingreifen, begegnet mir oft. Ich erlaube mir
an dieser Stelle deswegen folgenden Hinweis: Die Deutsche Bahn AG ist ein Privatunternehmen, dessen Aktien
- da haben Sie recht - dem Bund gehören. Aber diese
Konstruktion erlaubt es dem Bund nicht, in unternehmerische Entscheidungen des Unternehmens direkt einzugreifen. Deswegen sind diese Gespräche notwendig.
Wenn Sie danach fragen, welche Möglichkeiten das
Bundesministerium hat, um dieses Unternehmen zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen - um es vorsichtig zu formulieren - dann sage ich - das habe ich schon
zu Ihrer ersten Anfrage zu diesem Thema gesagt -, dass
wir darauf angewiesen sind, diesen Gesprächsprozess,
der über lange Zeit abgebrochen war, wieder aufnehmen.
Wir sind dabei. Wir werden uns im ersten Quartal des
nächsten Jahres erneut treffen.
Ich kann Ihnen eines zusagen: Wir werden an dieser
Stelle nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, weil
wir wissen, dass das Thema Fahrradmitnahme in den internationalen Verkehren - dazu gehört der ICE - von
großem Interesse ist, zumal wir sehen, dass beispielsweise in Frankreich oder in anderen europäischen Staaten so etwas möglich ist.
Wir sind der Überzeugung, dass wir das, was die
Nachbarstaaten technologisch können, in Deutschland
auch können. Das ist das Motiv, aus dem heraus wir ganz
geduldig und ausdauernd mit der Bahn an diesem Thema
weiterarbeiten. Ich bin zuversichtlich, dass wir das hinbekommen werden.
Ich rufe die Frage 40 des Kollegen Hofreiter auf:
Inwieweit ist der Bundesregierung bekannt, wie die Deutsche Bahn AG die im dritten Eisenbahnpaket vorgesehene
Fahrradmitnahme umsetzt, und inwieweit plant die Bundesregierung, von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, eine Ausnahme von der Anwendung der Bestimmungen zur Fahrradmitnahme zu gewähren?
Sie beziehen sich mit Ihrer Frage auf das dritte Eisenbahnpaket, das auf europäischer Ebene unter deutscher
Ratspräsidentschaft verabschiedet worden ist. Sie weisen auch darauf hin, dass es sich um das Ergebnis eines
Vermittlungsverfahrens handelt. Ich kann Ihnen für die
Bundesregierung sagen: Wir begrüßen das Ergebnis, das
unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft erreicht werden
konnte. Wir glauben, dass uns das einen Schritt weiter
führt, hin zum Ziel, einen europäischen Verkehrsraum zu
organisieren, der den Ansprüchen eines stark wachsenden Verkehrsaufkommens in Europa gerecht wird.
Sie fragen danach, ob wir vorhaben, von Art. 5 der
Verordnung Nr. 1371/2007 abzuweichen. Ein solches
Abweichen haben wir nicht vorgesehen.
({0})
Bitte schön, Herr Kollege Hofreiter.
Auf den Zwischenruf des Kollegen von der CDU/
CSU: Die Antwort war verblüffend deutlich. Ich glaube,
das war das erste Mal seit zehn Fragen.
Noch eine Vorbemerkung: Es ist mehr als amüsant,
wie wenig Einfluss wir auf das uns zu 100 Prozent gehörende Unternehmen haben. Jeder Private, der Ihre Antwort gehört hat und dem eine Aktiengesellschaft zu
100 Prozent gehört, hätte jetzt schallend gelacht. Das
aber nur am Rande.
Sie haben nicht die Frage beantwortet, was Sie in
Deutschland zu unternehmen gedenken, um dieses dritte
Eisenbahnpaket - insbesondere die Mitnahme der Fahrräder - umzusetzen. Reden Sie wieder mit der DB AG,
oder ist das schon alles? Hat die Richtlinie der EU die
einzige Folge, dass Sie nett mit der DB AG plaudern?
Von „nett plaudern“ war nie die Rede. Ich kann Ihnen
gern ein wenig genauer schildern, in welchem Ton solche Gespräche geführt werden. Ich glaube aber, dass das
nicht Gegenstand des Gespräches hier im Plenum sein
sollte.
Ich erlaube mir nur den zarten Hinweis: Wenn wir unter deutscher Ratspräsidentschaft zu einem Verhandlungsergebnis auf europäischer Ebene kommen - das ist
hier der Fall -, dann werden wir dafür sorgen, dass das
auch umgesetzt wird.
({0})
Eine weitere Zusatzfrage?
Die Frage lautete: Wie?
Der Politik steht zur Umsetzung von europäischen
Richtlinien eine ganze Bandbreite von politischen Aktionsmöglichkeiten zur Verfügung.
({0})
Na ja. - Ich sehe keine weiteren Nachfragen dazu.
Ich rufe jetzt die letzte Frage aus diesem Geschäftsbereich, nämlich die Frage 41 der Kollegin Dr. Volkmer,
auf:
Wird die Bundesregierung die für den Bau der Waldschlösschenbrücke zur Verfügung gestellten Mittel sperren,
wenn sich der Freistaat Sachsen über die völkerrechtlichen
Verpflichtungen aus der UNESCO-Welterbekonvention hinwegsetzt und die Brücke ohne Verständigung mit der
UNESCO-Kommission bauen lässt?
Frau Dr. Volkmer, Sie fragen nach einem Themenbereich, der den Deutschen Bundestag schon mehrfach
beschäftigt hat. Es geht um die Waldschlösschenbrücke
in Dresden. Wir haben es, falls es zum Bau der Waldschlösschenbrücke kommen sollte, mit einem Verfahren
zur Aberkennung des UNESCO-Welterbetitels zu tun.
Sie fragen danach, wie der Bund mit den Mitteln umgeht, die das Bundesland Sachsen einsetzen will.
Zunächst einmal zur Information: Die Bundesregierung hat keine Mittel für den Bau der Waldschlösschenbrücke bewilligt. Wir können deshalb auch keine Mittel
sperren. Der Freistaat Sachsen ist allerdings in der Lage,
für den Bau der Brücke die Kompensationsmittel zu
verwenden, die er aufgrund der Föderalismusreform
anstelle der ausgelaufenen Bundesfinanzhilfen nach dem
Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz für kommunale
Straßenbauvorhaben erhält. Das ergibt sich aus Art. 143 c
des Grundgesetzes.
Wir haben im Rahmen der Föderalismusreform ein
sogenanntes Entflechtungsgesetz miteinander beschlossen. Danach ist das Verfahren so organisiert, dass der
Freistaat dem Bund nachträglich über die Verwendung
dieser Mittel, auf die er Zugriff hat, berichtet. Der Bund
prüft dann, ob die Mittel zweckgerecht verwendet wurParl. Staatssekretär Ulrich Kasparick
den. In diesem Zusammenhang wird auch zu prüfen sein,
ob das Bundesland Sachsen Mittel zweckwidrig verwendet hat, das heißt, ob damit ein dem Völkerrecht widersprechendes Vorhaben finanziert wurde. Das Völkerrecht wäre aber nur in dem Fall verletzt, wenn ein
Verstoß gegen die Bemühenspflicht der Welterbekonvention bejaht werden könnte. Diese Pflicht in Art. 4 der
UNESCO-Welterbekonvention besagt, dass der Vertragsstaat nachweisen muss, dass er alles in seinen Kräften Stehende getan hat, um der UNESCO-Welterbekonvention zu entsprechen; er ist allerdings nicht zu einem
bestimmten Ergebnis verpflichtet. Falls das Völkerrecht
verletzt ist, können die Mittel entsprechend zurückgefordert werden.
Zusatzfrage.
Ich möchte ein bisschen konkreter werden. Es gibt ein
Gutachten der Bundesregierung, in dem klar festgestellt
wird, dass sowohl Deutschland als auch die einzelnen
Bundesländer an die UNESCO-Welterbekonvention gebunden sind. Natürlich bedeutet das nicht, dass nichts
mehr verändert werden kann. Aber es ist notwendig,
dass zuvor ein Prozess der Konsensfindung stattgefunden hat; das ist gerade das Bemühen, von dem Sie gesprochen haben. Jeder Staat ist verpflichtet, alles in
seinen Kräften Stehende zu tun, um das Welterbe zu erhalten.
Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass eine solche Kompromisslösung bisher nicht gesucht worden ist.
Wenn es nicht zu einem Kompromiss zwischen dem
Freistaat Sachsen und der UNESCO kommt, wenn der
Freistaat also nicht nachweisen kann, dass er ernsthaft
einen Kompromiss gesucht hat, sind diese Mittel - das
würde ich gerne von Ihnen bestätigt bekommen - völkerrechtswidrig eingesetzt. Dann kann es aber nicht sein,
dass die Bundesregierung das auf sich beruhen lässt.
Dann muss man diese Mittel zurückfordern bzw. sie mit
den Fördermitteln verrechnen, die der Freistaat sonst für
die Verkehrsinfrastruktur bekommen hätte. Sehe ich das
richtig?
Der letzte Halbsatz war nicht ganz präzise: Wir reden
hier über die Kompensationsmittel, die das Bundesland
nach dem im Zuge der Föderalismusreform geschaffenen Entflechtungsgesetz in Anspruch nehmen kann.
Aber in der Sache ist der Vorgang in der Tat so, wie Sie
ihn beschrieben haben: Sollte sich herausstellen, dass
das Land Sachsen nicht alle Anstrengungen unternommen hat, um dem UNESCO-Anspruch gerecht zu werden, dass es nicht alles in seinen Kräften Stehende getan
hat, dann würde zunächst geprüft, ob damit das Völkerrecht verletzt wäre. Wenn man im Rahmen dieses Prüfverfahrens zu dem Ergebnis kommt, dass das der Fall ist,
hat der Bund die Möglichkeit, die Kompensationsmittel,
die das Land für den Bau der Brücke eingesetzt hat, im
Folgejahr entsprechend haushaltswirksam zu verrechnen.
Das genau ist die Reihenfolge: Das Land hat zunächst
Zugriff auf die Mittel und teilt dem Bund in einem Bericht mit, wie es die Mittel verwendet hat. Der Bund
prüft, ob sie ordnungsgemäß ausgegeben worden sind,
und wenn es Beanstandungen gibt, hat man im Folgejahr
die Möglichkeit, darauf zu reagieren.
Danke.
Weitere Fragen liegen nicht vor; viel Zeit dafür wäre
auch nicht mehr gewesen, weil wir noch maximal vier
Minuten und zwanzig Sekunden für die Fragestunde gehabt hätten. Ich bedanke mich bei allen Beteiligten für
das gelungene Zeitmanagement.
Ich berufe die nächste Sitzung des Bundestages auf
morgen, Donnerstag, den 13. Dezember 2007, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.