Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie
herzlich und wünsche uns allen einen guten Morgen und
gute Beratungen.
Heute ist der 9. November, der Tag im Jahresablauf,
der wie kein zweiter herausragende Ereignisse, Höhe-
punkte und Tiefpunkte der deutschen Geschichte mar-
kiert, von der Ausrufung der Republik 1918 über die
staatlich organisierten Judenpogrome 1938 bis zum Fall
der Mauer 1989. Fast auf den Tag genau vor 200 Jahren
wurde Robert Blum geboren, deutscher Revolutionär,
Kämpfer für Einheit und Freiheit, Mitglied der Frankfur-
ter Nationalversammlung. Robert Blum reiste zusam-
men mit zwei weiteren Abgeordneten im Oktober 1848
nach Wien, wo nach der Wiener Märzrevolution Frei-
heitsbewegungen der nichtdeutschsprachigen Nationen
ausgebrochen waren, zur Unterstützung der dortigen
Aufständischen. Nach einigen öffentlichen Auftritten
und Reden wurde er am 4. November verhaftet. Unmit-
telbar nach seiner Verhaftung schrieb er seiner Frau:
Ich werde unfreiwillig hier zurückgehalten. Denke
dir indes nichts Schreckliches, wir werden sehr gut
behandelt. Allein die große Menge der Verhafteten
kann die Entscheidung wohl etwas hinausschieben.
Am 9. November 1848 wurde er standrechtlich erschos-
sen. Einen Tag später wäre er 41 Jahre alt geworden.
Die Geschichte der Bemühungen der Deutschen um
die Verbindung von Einheit und Freiheit ist lang und
schwierig. Sie ist von vielen tragischen Ereignissen be-
gleitet, bevor sie 1989/90 ihren glücklichen Abschluss
gefunden hat.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 c
auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand
der deutschen Einheit 2007
- Drucksache 16/6500 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({1})
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand
der deutschen Einheit 2006
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Arnold Vaatz, Ulrich Adam, Peter Albach,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Stephan
Hilsberg, Andrea Wicklein, Ernst Bahr ({2}), weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD zu der Unterrichtung durch die
Bundesregierung
Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand
der deutschen Einheit 2006
- Drucksachen 16/2870, 16/3310, 16/4041 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Roland Claus
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({3})
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
- zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Börnsen ({4}), Dr. Norbert Lammert,
Ulrich Adam, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten
Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Markus Meckel,
Dr. Gerhard Botz, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Cornelia Pieper, Hans-Joachim Otto ({5}), Christoph Waitz, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Errichtung eines Freiheits- und EinheitsDenkmals
- zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Börnsen ({6}), Dr. Norbert Lammert,
Ulrich Adam, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Markus Meckel,
Dr. Gerhard Botz, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Errichtung eines Freiheits- und EinheitsDenkmals
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Lothar
Bisky, Dr. Lukrezia Jochimsen, Petra Pau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Errichtung eines Denkzeichens mit Dokumentationszentrum zur Erinnerung an die
friedliche Revolution 1989
- zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin
Göring-Eckardt, Grietje Bettin, Ekin Deligöz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Diskussionsprozess über ein Freiheits- und
Einheitsdenkmal unter breit angelegter Beteiligung der Öffentlichkeit initiieren
- Drucksachen 16/6925, 16/6776, 16/6926,
16/6927, 16/6974 Berichterstattung:
Abgeordnete Wolfgang Börnsen ({7})
Hans-Joachim Otto ({8})
Katrin Göring-Eckardt
Der Ausschuss für Kultur und Medien hat in seine
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/6974 die Anträge der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD sowie
der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen
betreffend die Errichtung eines Freiheits- und Einheitsdenkmals auf den Drucksachen 16/6925, 16/6926 und
16/6927 einbezogen. Über diese Vorlagen soll jetzt
ebenfalls abschließend beraten werden. - Ich stelle fest,
dass dazu Einverständnis besteht. Dann ist das so beschlossen.
Zum Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand
der deutschen Einheit 2007 liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD sowie
ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor.
Zu den Anträgen auf den Drucksachen 16/6776 und
16/6925 zur Errichtung eines Freiheits- und Einheitsdenkmals liegt ein Änderungsantrag von einer Gruppe
von Abgeordneten vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Hierzu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält als Erster
der Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Wolfgang Tiefensee.
({9})
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Gäste! Ich bin sehr dankbar,
dass wir den Bericht zur deutschen Einheit heute, am
9. November, beraten. Wenn ich auf die Tribüne schaue,
wo ich eine Vielzahl von jungen Leuten sehe, dann führe
ich mir vor Augen, dass gerade Sie, die Sie vielleicht 18,
19 Jahre alt sind, die Ereignisse um Ihre Geburt herum
nur vom Hörensagen kennen.
Der 9. November 1989 ist eine Zäsur in der deutschen
Geschichte, eine Zäsur nicht nur für Deutschland, sondern auch für Europa und die ganze Welt. Für mich als
jemanden, der in den neuen Bundesländern groß geworden ist, ist mit dem Fall der Mauer am 9. November 1989 in vielerlei Hinsicht ein Tor aufgegangen. Das,
was wir über Jahre und Jahrzehnte ersehnt haben, ist
Wirklichkeit geworden: endlich Demokratie, Freiheit
und der Weg hin zur Einheit.
({0})
Dieser Tag ist nicht vom Himmel gefallen, auch wenn
es wie ein Wunder scheint. Er hatte Vorläufer. Deshalb
halte ich es für ausgesprochen sinnvoll, heute auch über
ein Denkmal für die Freiheit und Einheit zu diskutieren.
Wir müssen an diesen Tag erinnern und uns dennoch vor
Augen führen, dass wir eine Bringschuld gegenüber unseren polnischen Nachbarn - Stichwort Gdańsk - und
unseren tschechischen Nachbarn - Charta 77 - haben.
Sie und Perestroika, Glasnost und der zerschnittene Stacheldrahtzaun in Ungarn gemahnen uns: Es gibt Menschen, die mit ihrem Blut diesen 9. November 1989
möglich gemacht haben. Wir sollten an sie erinnern,
wenn wir über ein Denkmal, über Denkmäler sprechen.
Ohne diese Menschen gäbe es keine deutsche, keine europäische Einheit.
({1})
In diese Zeit fällt ein wunderbares Wort von Willy
Brandt: Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört. Wir legen Ihnen einen Bericht vor, der von diesem Zusammenwachsen spricht. Dieser Bericht hat aber auch
eine Problematik. Er beschreibt nämlich vorwiegend die
Differenzen. Er setzt die wirtschaftliche Entwicklung,
die soziale Entwicklung, die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt in den neuen Bundesländern immer in Relation zu der in den alten Bundesländern. So kann es leicht
passieren, dass wir die Diskussion nur über die Unterschiede führen. Deshalb wünschte ich, dass dieser Bericht mit seiner realistischen Sicht auf das, was sich in
den neuen Bundesländern in den letzten Monaten und
Jahren verändert hat, die Tür für eine weitere Herangehensweise öffnet, die ich mit „Zusammen wachsen“ bezeichnen möchte; denn nicht nur zusammenzuwachsen
im Willy-Brandt’schen Sinne ist wichtig, sondern auch,
dass Deutschland in Ost und West gleichermaßen die
Herausforderungen annimmt und dass die neuen Bundesländer ihren Beitrag dazu leisten. Wir sollten also die
produktive Spannung von Differenzen, die darin besteht,
dass wir in den neuen Bundesländern anderes als die alten Bundesländer einbringen können, um Deutschland
und Europa insgesamt voranzubringen, in der Zukunft
mehr in den Blick nehmen.
Es gibt äußerst positive Entwicklungen in den neuen
Bundesländern. Sie sind markiert durch die hervorragende industrielle Entwicklung, die ein deutliches Mehr
in Relation zu den anderen Bundesländern aufweist.
10 Prozent, 11 Prozent Wachstum zeigen, dass wir aufholen. Die schlechte Nachricht: von einem vergleichsweise niedrigen Niveau aus. Der Arbeitsmarkt belebt
sich. Die Zahl der Kurzzeitarbeitslosen wird in den
neuen Bundesländern in gleichem Maße wie in den alten
reduziert. Die schlechte Nachricht: Das Niveau ist nach
wie vor hoch, zu hoch, immer noch doppelt so hoch wie
in den alten Bundesländern. Die Langzeitarbeitslosigkeit
verfestigt sich auf hohem Niveau. Wir haben eine gesteigerte Exportquote zu verzeichnen. Das Bruttoinlandsprodukt steigt. Das ist gut. Die schlechte Nachricht: Es
beträgt im Vergleich zu den alten Bundesländern nur
67,5 Prozent. Dieses Sowohl-als-auch, dieses Viel-erreicht-viel-zu-tun, markiert diesen Bericht zum Stand
der deutschen Einheit.
Was müssen wir tun? Wir müssen bei der wirtschaftlichen Entwicklung ansetzen. Deshalb muss alles
unterstützt werden, was in Richtung Stärkung der Gemeinschaftsaufgabe, Förderung der industriellen Dienstleistungen und des Beherbergungsgewerbes geht. Wir
brauchen eine Aufstockung in diesem Bereich. Ich
denke dabei auch an die Investitionszulage. Wir müssen
die Zahlung der Investitionszulage über das Jahr 2009
hinaus fortsetzen, damit sowohl in den kleinen und großen Wachstumszentren als auch auf dem flachen Lande,
also in den ländlichen Räumen, gefördert werden kann.
({2})
Wir müssen etwas tun, um denjenigen eine Perspektive zu geben, die langzeitarbeitslos sind. Die Langzeitarbeitslosigkeit ist die Geißel in den neuen Bundesländern. Mein Kollege Franz Müntefering und ich haben
deshalb das Modell „Kommunal-Kombi“ ausgearbeitet;
gestern haben wir darüber mit den Ländervertretern noch
einmal diskutiert. Wir wollen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze für diejenigen schaffen, die länger als
zwei Jahre arbeitslos sind und beheimatet sind in Regionen, die eine Arbeitslosigkeit von über 15 Prozent ausweisen. Das Neue ist, dass das auch Gebiete in den alten
Bundesländern treffen wird, weil auch sie von dieser
Problematik betroffen sind.
Wir müssen mehr für Forschung und Entwicklung
tun. Wir tun das, indem wir mit Innovationswettbewerben wie „Wirtschaft trifft Wissenschaft“ die Verbindung
von Industrie und Wissenschaft, Forschungseinrichtungen und Forschungsinstitutionen verbessern.
Wir müssen auch bei der demografischen Entwicklung ansetzen. Noch immer wandern viel zu viele kreative Menschen aus. Sie gehen in die alten Bundesländer
oder in die Wachstumszentren der neuen Bundesländer,
und die ländlichen Räume bluten aus. Am Stettiner Haff
und um den Kyffhäuser herum erproben wir mit Modellprojekten, wie der ländliche Raum Attraktivität und damit Bindewirkung entfalten kann, damit junge, kreative
Leute, damit Frauen und Männer diese Orte nicht verlassen, sondern bleiben bzw. hinziehen. Das ist eine gigantische Zukunftsaufgabe, der wir uns stellen. Wir sind auf
gutem Wege. Wir brauchen alle Instrumentarien, um den
Aufschwung Ost zu beschleunigen.
Hierzu dient die Betrachtung der Geschichte. Demokratie, demokratische Entwicklung, der Aufbau der
neuen Länder zusammen mit den Bürgerinnen und Bürgern, das ist die Essenz, aus der ein weiterer Aufschwung entstehen kann. Ich sage noch einmal: Lassen
Sie uns in Berlin an die Zeit des 9. November 1989 erinnern, und zwar nicht nur als Rückbezug auf die Geschichte davor und um dieses Datum herum, sondern
auch, um über Demokratie, Aufbruch zur Demokratie
und Stabilität der Demokratie zu reden.
Wir haben das Problem des aufkeimenden Rechtsextremismus. Wir haben das Problem, dass Straftaten
mit rechtsradikalem Hintergrund in Deutschland zunehmen, besonders in den neuen Bundesländern. Wir müssen auch im Hinblick auf das Datum 9. November
- 9. November 1989, aber auch 9. November 1938 über diese Fragen diskutieren.
Entscheidend war nicht zuletzt der 9. Oktober 1989 in
meiner Heimatstadt Leipzig.
({3})
Diejenigen, die die friedliche Revolution miterlebt haben, wissen, dass es ohne Leipzig einen solchen 9. November nicht gegeben hätte. Auch hier gilt es, in der
Öffentlichkeit ein markantes, signifikantes Zeichen zu
setzen, damit wir uns daran auch in Zukunft erinnern.
({4})
Wenn es darüber hinaus gelingt, an bestimmten Orten
Zeichen zu setzen, wie es schon heute beispielsweise in
Magdeburg geschieht, damit Eltern eine Anlaufstelle haben, um ihren Kindern zu sagen: „Ich war damals dabei;
ich habe mit dafür gesorgt, dass du frei reden und reisen
kannst, dass du dich organisieren kannst, dass du in
Demokratie und Freiheit lebst“, dann wären das Erinnern und der Aufbruch komplett.
Willy Brandt hat gesagt:
Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein, im
Inneren und nach außen.
Lassen Sie uns den Bericht zum Stand der deutschen
Einheit und den 9. November 1989 dazu nutzen, unsere
Kraft für ein Zusammenwachsen in Deutschland einzusetzen und dafür, dass Freiheit und Demokratie nicht nur
hier, sondern auch andernorts zum Durchbruch kommen.
Vielen Dank.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Besuchertribüne hat Lothar de Maizière, der erste und letzte frei
gewählte Ministerpräsident der DDR, Platz genommen.
Lieber Herr de Maizière, ich begrüße sie ganz herzlich
heute im Deutschen Bundestag.
({0})
Ich verbinde meinen und unseren Gruß ausdrücklich mit
unserem großen Respekt, den ich Ihnen stellvertretend
für viele Frauen und Männer diesseits und jenseits politischer Ämter für den herausragenden Beitrag zum Ausdruck bringen möchte, den Sie zur Vollendung der Einheit in Freiheit und Frieden geleistet haben.
({1})
Mein herzlicher Gruß gilt auch Bischof Huber, dem
ich zugleich für seinen geistigen und geistlichen Einstieg
in den heutigen Tag bei der ökumenischen Morgenbesinnung herzlich danken möchte.
({2})
Wir setzen die Aussprache fort. Der nächste Redner
ist der Kollege Joachim Günther für die FDP-Fraktion.
({3})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es gut, dass Sie, Herr
Präsident und Herr Minister, den 9. November bereits
gewürdigt haben. Ich möchte mich dem voll und ganz
anschließen. Ich finde es sehr gut, dass wir die Debatte
zur deutschen Einheit an diesem Tag zu einer Stunde
durchführen, in der eine breite Öffentlichkeit sie mitbekommt.
Heute vor 18 Jahren ist die Mauer gefallen. Das ist
ein Thema, das uns 18 Jahre danach weiter beschäftigt
und, wenn wir diesen Bericht genau betrachten, sicherlich auch in 18 Jahren noch beschäftigen wird. Sie, Herr
Minister, haben uns einen Bericht vorgelegt, der - das
sage ich bewusst - strukturierter und aussagekräftiger ist
als die Berichte der Vorjahre. Aber auch dieser Bericht
enthält kein Gesamtkonzept zur Entwicklung Ost; ein
solches fordern wir schon seit Jahren im Zusammenhang
mit diesem Bericht.
({0})
Es kommt jetzt darauf an, die Konsequenzen aus diesem Bericht und denen der Vorjahre schneller als in der
Vergangenheit aufzunehmen und sie in die Realität umzusetzen. Deshalb möchte ich einige Fakten aus dem Bericht darlegen und versuchen, ein paar Lösungswege
aufzuzeigen.
Fakt ist zwar, dass die Arbeitslosigkeit im Osten
unseres Landes, wie Sie, Herr Minister, gesagt haben,
zurückgegangen ist. Aber sie ist nach wie vor doppelt
so hoch wie in den alten Bundesländern. Fakt ist auch,
dass die überwiegende Zahl der Geringverdiener und
ALG-II-Empfänger im Osten Deutschlands wohnt.
Ich möchte deshalb die wirtschaftliche Lage etwas
detaillierter betrachten. Das Bruttoinlandsprodukt - so
steht es in Ihrem Bericht - stieg im Osten real mit
3 Prozent leicht stärker als im Westen mit 2,7 Prozent.
Damit sind wir beim Pferdefuß der Entwicklung. Die
Wirtschaftskraft je Einwohner beträgt in den neuen Bundesländern nach wie vor zwei Drittel der Wirtschaftskraft in den alten Bundesländern. Wenn wir die Angleichung von Ost und West weiter in solchen Schritten
betreiben, werden wir noch in Jahrzehnten über die Angleichung reden. Deshalb muss uns hier etwas Neues
einfallen.
({1})
Weniger produktive Arbeitsplätze und geringere Bezahlung bedeuten mehr Abwanderung im Osten
Deutschlands; das ist ein Kreislauf, infolgedessen in einigen Jahren junge und qualifizierte Arbeitskräfte fehlen
werden. Dies hat die Bundesregierung in ihrem Bericht
richtig aufgezeigt. Dort heißt es:
Die Bevölkerungszahl in den neuen Ländern geht
kontinuierlich zurück.
Das stimmt, und das wird in einigen Gebieten auch nicht
zu verhindern sein. Ich zumindest bin aber nicht bereit,
das Ganze einfach hinzunehmen oder als unabwendbar
zu bezeichnen.
({2})
Diskussionen, wie sie jetzt in Brandenburg begonnen haben, darüber, ganze Randgebiete der Entvölkerung zu
überlassen, können nicht das Ziel sein, wenn man eine
liebenswerte Heimat erhalten will.
({3})
Deshalb müssen wir ständig versuchen, die Rahmenbedingungen, die wir - das betone ich - selbst beeinflussen
können, zum Positiven zu wenden.
Wir als FDP haben dafür in den vergangenen Jahren
konkrete Vorschläge unterbreitet; sie liegen auch jetzt
wieder vor. Ich möchte nur zwei davon ganz kurz streifen: Wie lange wurde in allen Parteien über die Schaffung von Modellregionen gesprochen und gerichtet?
Nichts ist auf den Weg gekommen. Die Infrastrukturprojekte „Deutsche Einheit“ müssen konsequent zu Ende
Joachim Günther ({4})
geführt werden, ohne Zeitverzögerungen in einigen Bereichen.
Ich bitte die Bundesregierung, die Fördermittel für die
EU-Osterweiterung aus den Strukturfonds wirklich für
den grenzüberschreitenden und transeuropäischen Ausbau der Verkehrsnetze einzusetzen. Dies wird immer
dringender. Vor uns steht der 21. Dezember 2007: Die
Grenzkontrollen zu Tschechien entfallen. Das SchengenAbkommen tritt dort in Kraft. Die Situation wird dem zu
erwartenden Verkehr nicht gerecht. Da müssen wir Abhilfe schaffen.
({5})
Nehmen wir das Beispiel „Bildung und Hochschulstandorte“, also die Voraussetzung, dass die Jugend im
Lande bleibt und sich weitere Industrie ansiedelt. Sie als
Bundesregierung schreiben in Ihrem Bericht, dass ostdeutsche Universitäten vor einer besonderen Herausforderung stehen und bis 2020 einen Minderbedarf von
150 000 Studienplätzen haben. Wer diese Zahl theoretisch hochrechnet, der kommt zu dem Schluss: Diese
Universität wird geschlossen, und diese Universität wird
geschlossen. - Das ist meines Erachtens nicht hinnehmbar.
Ich freue mich besonders, dass Sie in Ihrem Bericht
mitteilen, dass der Bund finanzielle Mittel zur gezielten
Anwerbung westdeutscher Studenten und zum Aufbau
der Universitäten zur Verfügung stellt. Das ist gut, aber
es muss sofort erfolgen. Die Universitäten im Osten
müssen die Voraussetzungen erhalten, sich selbstständig
zu Eliteuniversitäten zu entwickeln. Wir haben den
Traum - mit Blick in Richtung Osteuropa -, auch Studenten aus dem Ausland in diese Regionen zu bekommen, wenn wir im Osten solche Eliteuniversitäten haben.
Das wäre ein Aufschwung, und das wäre eine Verfestigung der Universitätslandschaft.
({6})
Wenn wir von Forschung sprechen, dann möchte ich
nur erwähnen: Seit Jahren reden wir über die Ansiedlung
einer Großforschungsanlage im Osten Deutschlands.
({7})
Wir haben noch keine, die diesen Namen wirklich verdient. Deswegen gilt es, auch auf diesem Gebiet weiter
voranzukommen.
({8})
Neben den Universitäten gäbe es noch viele andere
Punkte zu erwähnen. Herr Minister, wenn meine Zeit etwas länger wäre, würde ich die Stadtumbauprogramme besonders loben; denn sie sind ein sehr positives Beispiel dafür, wie es in diese Richtung weitergeht.
Sie greifen inzwischen in Ost und West. Sie sind das
Fundament dafür, dass wir in der Stadtentwicklung vorankommen.
({9})
Ich möchte noch einen Punkt ansprechen, den ich als
gefährlich betrachte und der für unser Land kompliziert
werden kann. Neben Universitäten und industriellen
Schwerpunkten dürfen wir den ländlichen Raum nicht
außer Acht lassen. Als ein Beispiel möchte ich hier das
Erzgebirge nennen, eine Region, wo es im Moment noch
Löhne gibt, die irgendwo bei 3,40 Euro beginnen. Das
ist zu gering für das tägliche Leben. Aber ich bitte Sie,
noch weiter zu denken. Wenn diejenigen, die solche
Löhne erhalten, in 10 bis 15 Jahren in das Rentenalter
kommen, dann wird die Durchschnittsrente so drastisch
sinken, dass wieder andere Mittel aus dem Sozialbereich
eingesetzt werden müssen. Es besteht die Gefahr, dass
wir in einigen Gebieten in Deutschland eine Art Armenhaus bekommen. Da müssen wir gegensteuern.
Auch hierzu gibt es ein Konzept von uns. Ich weiß,
dass es darüber viele Diskussionen gibt. Das Bürgergeld für Geringverdienende einzuführen, um ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, fände ich wichtig; das wäre eine tolle Sache.
({10})
Sie sehen, meine Damen und Herren: Es gibt in unserem Vaterland auch 18 Jahre nach dem Mauerfall noch
viel zu tun. Wer mich vor 17 Jahren, als wir über die
Einheit gesprochen haben, gefragt hat: „Wie lange wird
dieser Angleichungsprozess denn dauern?“, dem habe
ich damals gesagt: Ich schätze, fünf bis zehn Jahre. Heute weiß ich: Das war deutlich zu kurz gesprungen.
Heute weiß ich, dass wir noch mehr dafür tun müssen
und unsere Anstrengungen verdoppeln müssen, damit es
nicht zu großen Unterschieden und sozialen Spannungen
kommt.
Wir sind dazu bereit. Wir arbeiten an diesem Projekt
konkret mit. Die Vorschläge der FDP liegen vor. Ich
wäre Ihnen dankbar, wenn wir uns miteinander offensiv
damit befassen könnten, um das Ziel zu erreichen, dass
sich der Osten Deutschlands in einigen Jahren sozusagen
als angeglichene Gesellschaft innerhalb unseres Vaterlandes versteht.
Herzlichen Dank.
({11})
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält nun der Kollege
Volker Kauder das Wort.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der 9. November hat für uns Deutsche zwei Gesichter. Da ist der 9. November, die Pogromnacht, in der
die Juden in unserem Land körperlich verfolgt und ermordet wurden, in der Synagogen angezündet, Geschäfte geplündert wurden und in der es keine Proteste
auf den Straßen in Berlin und in unserem Land gab. Es
wurde weggeschaut. Dieser Tag ist für uns ein Tag, der
uns beschämt, ein Tag, an dem der Naziterror so richtig
begonnen hat, der unser Land weit zurückgeworfen hat.
Die moralischen Grundlagen sind zerstört worden.
Dann, 50 Jahre später: Die Deutschen im Osten stehen auf. Tausende versammeln sich vor den Grenzausgangsstellen und rufen: Wir wollen raus. Sie protestieren
mutig, obwohl sie die Kenntnis vom 17. Juni 1953 hatten. Diese Menschen gehen auf die Mauer, stürmen die
Mauer. Deswegen dürfen sie heute mit Stolz auf das
schauen, was damals gemacht wurde und was heute
18 Jahre alt wird: die deutsche Einheit.
({0})
Mit der deutschen Einheit hat etwas ganz Neues begonnen. Aber vor allem hat für viele Menschen ein
neues Leben, für viele hat eigentlich erst ihr Leben begonnen: Sie waren befreit aus den Gefängnissen von
Bautzen und Hohenschönhausen. Todesstreifen und Stacheldraht, Bedrängung und Vernehmungen gab es nicht
mehr. Das Leben der anderen ist zum eigenen Leben geworden.
Wir haben heute einige derjenigen, die unter diesem
menschenverachtenden Drucksystem gelitten haben,
eingeladen. Ich heiße sie herzlich willkommen und freue
mich darüber, dass sie die neu gewonnene Freiheit jetzt
für neues Leben nutzen konnten.
({1})
Wir haben uns in der Großen Koalition nicht nur mit
der Frage beschäftigt, wie es in den neuen Ländern weitergeht, sondern natürlich auch an diejenigen Menschen
gedacht, die unter dem alten System gelitten haben. Es
war zwar nicht ganz einfach; aber wir haben es geschafft, eine Pension, eine Entschädigung für diejenigen einzuführen, die in den Gefängnissen der DDR einen Teil ihres Lebens gelassen haben. Ich danke allen
Kolleginnen und Kollegen der Großen Koalition dafür,
dass dies gelungen ist.
({2})
Die deutsche Einheit war nicht selbstverständlich. Sie
war das Werk der Menschen. Aber sie konnte nur gelingen, weil es im Osten und im Westen immer Menschen
gab, die an die deutsche Einheit geglaubt haben. Die
deutsche Einheit konnte nur aus folgendem Grund gelingen: Es war Schicksal - dies gilt nicht für den
9. November 1938 und den 9. November 1989; das waren Geschehnisse, die von Menschen gemacht wurden -,
dass genau zu dieser Zeit einer Kanzler war, der die
deutsche Einheit wollte. Nur wer die deutsche Einheit
wollte, konnte die Einheit herbeiführen und zum Kanzler
der Einheit werden: Helmut Kohl.
({3})
- Frau Kollegin von der Linken, da gibt es überhaupt
nichts zu lachen. An Ihrer Stelle würde ich das Gesicht
nicht verziehen und eisern schweigen. Es war nämlich
Ihr Parteivorsitzender, Oskar Lafontaine, der in einem
Interview im Morgenmagazin des WDR und in einem
Interview in einer großen Tageszeitung auf die Frage,
wie es nun weitergehen soll, gesagt hat: Soll etwa jeder,
der deutscher Abstammung ist, jetzt auf einmal Rente
beziehen?
Soll jetzt jeder, der deutscher Abstammung ist, auf
einmal unser Kindergeld bekommen? - Da kann ich nur
sagen: Wer den Deutschen im Osten die Sozialleistungen
nicht gegönnt hat, braucht sich heute nicht als jemand
aufzuspielen, der die Interessen der Menschen im Osten
wahrnimmt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der SPD
Lesen Sie die Interviews von Oskar Lafontaine! Dann
wird für Sie von den Linken der 9. November 1989 zu
einem noch größeren Tag der Schande, als er ohnehin für
Sie und Ihre Vorgänger geworden ist.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, viele Zeitungen titeln heute: Die deutsche Einheit wird 18; sie
wird volljährig. - Ja, aber jeder weiß: Auch derjenige,
der volljährig ist, hat noch eine große Entwicklung vor
sich. Die Entwicklung ist noch lange nicht abgeschlossen. Das sehen wir auch im Bericht zur deutschen Einheit.
Wir haben viel erreicht, und darauf dürfen wir alle
miteinander stolz sein. Ich sage nur ein Beispiel von vielen, die man nennen könnte: 4,8 Milliarden Euro hat der
Bund bisher im Zusammenhang mit der Wismut ausgegeben, um ein Gebiet zu sanieren, das in der DDR verwüstet wurde. Dort sind im Übrigen, unbestritten blühende Landschaften entstanden.
({5})
Minister Tiefensee hat darauf hingewiesen, dass es
aber noch viel zu tun gibt. Herausforderungen sind für
uns in besonderer Weise die demografische Entwicklung, dass zu wenige Menschen in den neuen Ländern
geboren werden - das ist kein Sonderproblem; das haben
wir in der ganzen Bundesrepublik, aber dort herausragend -, und die Abwanderung.
Die Abwanderung ist natürlich eine freie Entscheidung der Menschen. Ich bitte bei allen Diskussionen zu
berücksichtigen: Es wäre wohl zynisch, denjenigen, die
Jahrzehnte hinter Mauer und Stacheldraht gehalten wurden und nicht reisen konnten, jetzt zu sagen: Ihr müsst in
den neuen Ländern bleiben und dürft nicht weg. Es wurden aber auch keine Räume entleert, wie einmal formuliert worden ist. Vielmehr haben die Menschen eine freie
Entscheidung getroffen.
Wir müssen nun in den neuen Ländern Bedingungen
schaffen, dass junge Menschen aus den alten Bundesländern in die neuen Länder zurückkehren, dass es attraktiv
ist, in den neuen Ländern zu studieren, dass es attraktiv
ist, in den neuen Ländern berufstätig zu sein. Von dieser
Debatte muss das Signal ausgehen: Es lohnt sich, in den
neuen Ländern zu lernen, es lohnt sich, in den neuen
Ländern zu leben.
({6})
Es ist nicht nur in Baden-Württemberg und Bayern
schön, sondern es ist auch in Mecklenburg-Vorpommern
und in Sachsen schön.
({7})
- Und in Thüringen und in vielen anderen Ländern.
({8})
Es ist in ganz Deutschland schön, und zu Deutschland
gehören auch die neuen Bundesländer.
({9})
Deswegen ist es gut, dass es - auch wenn der Begriff
schon ziemlich abgegriffen ist - Leuchtturmprojekte
gibt. Wir müssen darüber reden, dass die allermeisten
Universitäten in den neuen Ländern Leuchtturmprojekte
sind. Wenn ich mich erinnere, wie bei uns zu meiner Studienzeit das Zahlenverhältnis von Studenten zu Professoren war, und wenn ich mir heute das Zahlenverhältnis
von Studenten zu Professoren an den Universitäten in
den neuen Ländern anschaue, kann ich nur sagen: Eigentlich müsste jeder ein Interesse daran haben, in einer
so guten Situation zu studieren.
({10})
Wir müssen Leuchtturmprojekte in den neuen Ländern
aufbauen, damit die Menschen sagen: In diesem Umfeld
sehe ich Chancen und Zukunft.
Es gibt ein Projekt, bei dem man geradezu darüberschreiben könnte: Bei uns wird Zukunft gemacht. Ich
meine das Biomasseforschungszentrum in Leipzig, aus
dem heraus neue Impulse für erneuerbare Energien kommen werden. Es lohnt sich, sich um dieses Projekt herum
anzusiedeln, sowohl für den Mittelstand als auch für
junge Menschen, die sich für diese Forschung interessieren.
In den neuen Bundesländern wachsen eine moderne
Wirtschaft und eine moderne Industrie. Nun kommt es
darauf an, dass wir diesen Wachstumsprozess im Osten
ebenso wie im Westen befördern. Das Wachstum kommt
ebenso wenig von allein, wie die deutsche Einheit von
allein kam. Gerade im Hinblick auf die Entwicklungschancen und die Entwicklungsmöglichkeiten, die
in den neuen Ländern bestehen, gilt, dass wir in der Großen Koalition Kurs halten und den Aufschwung weiter
anfeuern müssen. Das muss unser Thema sein. In der
Konsequenz muss der Aufschwung bei allen Menschen
in unserem Land ankommen.
({11})
Die deutsche Einheit, die mit dem heutigen Tag
18 Jahre alt geworden ist, ist für uns eine immer wieder
neue Herausforderung. Wir sehen, dass wir mit unserer
Arbeit etwas erreichen können. Das macht uns Mut und
gibt uns Optimismus, dass wir bei allem, was noch zu
tun ist, der inneren Einheit Tag für Tag und Jahr für Jahr
ein Stück näher kommen werden. Damit dies gelingt,
muss man sich, trotz aller Probleme, die wir haben, immer wieder an das zurückerinnern, was 1989 geschehen
ist: an die Freude des Aufbruchs zu Einheit und Freiheit.
({12})
Das Wort erhält nun die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch,
Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Herr Präsident, Sie haben in Ihren
einführenden Worten auf die wechselvolle Geschichte
des 9. November hingewiesen. Für meine Fraktion
möchte ich ganz deutlich sagen: Wir dürfen nie den Anblick der brennenden Synagogen vom 9. November
1938 aus unserem Gedächtnis entlassen. Das muss immer Anlass für uns sein, gegen Neofaschismus und
Rechtsextremismus zu kämpfen.
({0})
Meine Damen und Herren von der SPD, Sie haben
frenetisch geklatscht, als mein Vorredner auf Oskar
Lafontaine und seine Äußerungen in den Jahren 1989/90
einging. Ich möchte Sie daran erinnern: Oskar
Lafontaine war damals Ihr Kanzlerkandidat und später
Ihr Parteivorsitzender.
({1})
Um einen Uferweg am Potsdamer Griebnitzsee ist ein
heftiger Streit entbrannt. Nach dem Mauerfall schlenderten dort täglich Spaziergänger mit Blick auf wunderschöne Weiden und das tiefgrüne Wasser des Griebnitzsees entlang und genossen die gewonnene Freiheit.
Damit soll nach Auffassung der dortigen Villenbesitzer
Schluss sein. Sie reklamieren den Weg für sich. Sie ließen den Weg kurzerhand durch eine Handvoll Schlägertypen absperren. Da diese Wildwestmethoden untersagt
wurden, versuchen die Anwälte der Villenbesitzer jetzt
mit allen juristischen Mitteln, den Weg für die Öffentlichkeit sperren zu lassen. Diese Leute wollen den Blick
auf den See mit niemandem teilen. Sie wollen ihn ganz
für sich allein haben.
Diese Geschichte beschreibt die Situation in unserem
Land plastischer als alle Berichte und Studien, die die
Bundesregierung bisher vorgelegt hat.
({2})
Jeden Tag erleben wir, wie öffentliches Eigentum in private Taschen fließt, wie Bürgerinnen und Bürger enteignet werden, und jeden Tag erleben wir, wie die Bundesregierung Zäune zieht, die die Gesellschaft in viele
kleine Teilgesellschaften aufspalten.
({3})
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat in
einer aktuellen Studie festgestellt, dass 10 Prozent der
Deutschen fast zwei Drittel des gesamten Volksvermögens besitzen, die Mehrheit dagegen fast nichts hat. Die
Studie zeigt, dass das Durchschnittsvermögen eines
Westdeutschen zweieinhalbmal höher als das eines Ostdeutschen ist. Ostdeutsche sind eher verschuldet und besitzen seltener Wohneigentum. Auch Frauen sind benachteiligt. Ihr Kapital ist im Schnitt fast 30 000 Euro
niedriger als das von Männern.
({4})
Diese Verteilung ist nicht von Gott gegeben, sie ist auch
nicht mit dem Zuruf „40 Jahre!“ zu erklären, sie ist das
Ergebnis der Umverteilungspolitik der alten und der
neuen Bundesregierung.
({5})
Die CDU/CSU-SPD-Regierung denkt nicht im Traum
daran, diese Umverteilung zu stoppen. Nein, Sie legen
immer noch eins drauf. Die geplante Erbschaftsteuerreform wird die Reichen noch reicher machen. Das ist ein
Skandal.
({6})
Der geplante Verkauf der Bahn ist eine Enteignung
der Bürgerinnen und Bürger, die die Bahn mit ihren
Steuern über Jahrzehnte finanziert haben. Für den Osten,
Herr Kollege Tiefensee, ist dieser Verkauf besonders
schlimm, weil er zu vielen Streckenstilllegungen in den
neuen Bundesländern führen wird. Auch die Einführung
von Studiengebühren schafft Bildungsmauern, die sich
nicht durch Stipendien durchbrechen lassen werden.
({7})
Für eine ostdeutsche Familie, die kaum über Ersparnisse
verfügt, ist es eine große finanzielle Belastung, ihre Kinder auf die Universität zu schicken.
Zusammengefasst kann man sagen: Es ist nicht gut,
wenn man arm ist. Es ist gar nicht gut, wenn man arm ist
und im Osten lebt. Es ist ganz schlecht, wenn man arm
im Osten lebt und eine Migrantin ist.
Wer für Ostdeutschland eine Zukunft will, der muss
in Bildung investieren. Ich interessiere mich schon länger für die Verteilung der Gelder im Rahmen von Bundesprogrammen. Es zeigt sich, dass der Osten unterdurchschnittlich wenig Geld aus diesen Programmen
erhält. Für die Raumfahrt gehen nur 7 Prozent, für die
Energieforschung nur 10 Prozent und für den Studentenund Wissenschaftleraustausch nur ganze 4 Prozent der
Mittel dieser Bundesprogramme in den Osten. Bei der
Exzellenzinitiative der Bundesregierung gingen die ostdeutschen Universitäten ganz leer aus. Die Begründung
der Bundesregierung war lapidar: Wir fördern nur die
Besten. Wenn der Osten nicht gut ist, dann hat er Pech
gehabt. Da frage ich mich, Herr Tiefensee: Was machen
Sie als Ostbeauftragter der Bundesregierung? Haben Sie
mehr zu bieten als schöne Worte und kleinlaute Forderungen an die Bundesregierung? Ich habe von Ihnen bisher vor allen Dingen schöne Worte gehört, aber keine
konkreten Taten gesehen. Die erwarten wir.
({8})
Wir als Linke wollen mit den vielen abgestuften Ungerechtigkeiten in unserem Land Schluss machen. Wir
wollen einen gerechten Mindestlohn, egal ob in Ost oder
West.
({9})
Wir wollen eine armutsfeste Rente. Sie soll im Osten
nicht niedriger sein als im Westen. Wir wollen bessere
Bildungschancen für alle, egal ob sie in Frankfurt/Oder
oder in Frankfurt/Main zur Universität gehen.
({10})
Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass Herr
Lothar de Maizière hier so freundlich begrüßt wurde. Ich
möchte Sie aber daran erinnern, dass auch der letzte Ministerpräsident der DDR, Hans Modrow, einen wesentlichen Anteil daran hatte, dass der Weg in die deutsche
Einheit friedlich und erfolgreich gegangen werden
konnte.
({11})
Vielen Dank.
({12})
Das Wort erhält jetzt der Kollege Peter Hettlich für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Kollegin Lötzsch, das war eine wirklich
schwache Rede.
({0})
Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen - wir kennen uns
schon lange -: Die Redebeiträge der Linken in den Debatten über den Bericht zum Stand der deutschen Einheit
in den letzten Jahren hatten mehr Qualität; Sie waren
schon erheblich weiter. Das heute war nur billige Polemik. Sachliche und inhaltliche Punkte waren in Ihrer
Rede nicht zu finden. Das bedauere ich zutiefst.
({1})
An der heutigen Debatte ärgert mich: Wir diskutieren
viel zu selten über Themen, die die neuen Bundesländer
betreffen. Ich kann zwar verstehen, dass Sie über das
Freiheits- und Einheitsdenkmal heute, am 9. November,
an prominenter Stelle diskutieren wollen, aber warum
musste das in einer verbundenen Debatte stattfinden?
Wir haben eh wenig Zeit, um über die Rede von Herrn
Tiefensee zum Stand der deutschen Einheit zu diskutieren. Damit belasten wir diese Debatte, die wir einmal im
Jahr führen. Warum waren Sie, wenn es schon so ein
wichtiges Thema ist, nicht in der Lage, einen separaten
Debattenpunkt aufzusetzen oder wenigstens die Debattenzeit um eine Stunde zu verlängern?
({2})
Das ist bedauerlich und zeigt die Arroganz der Großen
Koalition, die wir an dieser Stelle wieder erleben.
Ich habe jetzt das Problem, dass ich zwei Reden halten muss, die inhaltlich schwer miteinander zu verknüpfen sind. Aber ich fange jetzt an.
Die Diskussion über das Freiheits- und Einheitsdenkmal hat von Anfang an einen sehr unglücklichen
Verlauf genommen. Es ist im Hauruckverfahren hier
heute aufgesetzt worden. Dies kann man nicht als seriös
bezeichnen. Wir hatten nicht einmal in unserem Ausschuss, der für die Belange der neuen Bundesländer zuständig ist, eine vernünftige Vorlage. Wir haben zum
Schluss über einen Antrag abstimmen müssen, von dem
wir zu diesem Zeitpunkt schon wussten, dass er nicht
mehr aktuell war. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Das hilft
dieser Debatte und ihrem weiteren Verlauf ganz sicher
nicht.
({3})
Ich erwarte, dass wir hier in Zukunft zu einer anderen
Kultur des Umgangs miteinander kommen.
Der Tagesspiegel hat in einem Artikel über den grünen Antrag auf unsere Tendenz zum Grundsätzlichen
hingewiesen, und das nehmen wir eindeutig als Kompliment an. Denn das ist unsere Stärke. Wir fordern, über
dieses Thema noch einmal eine grundsätzliche Diskussion über das Ob, das Wann und die Form eines solchen
Denkmals zu führen. Dabei müssen wir die Öffentlichkeit, Verbände und Initiativen stärker in den Prozess dieser Ausgestaltung einbeziehen.
Herr Präsident Lammert hat in seiner Rede am
Montag gesagt, dass das nicht von oben verordnet werden darf. Die friedliche Revolution war eine basisdemokratische Revolution, und sie wurde von unten getragen.
Insofern muss es auch so sein, dass über das Thema eines Denkmals auch basisdemokratisch diskutiert wird
und dass wir deswegen die Leute, die damals mit auf die
Straße gegangen sind, auch in dieser Diskussion mitnehmen.
({4})
Ein gutes Beispiel für einen solchen Prozess ist die Diskussion um das Berliner Mauergedenken. Wir brauchen
keine allfälligen Festlegungen, sondern wir brauchen
eine öffentliche Diskussion. Wir signalisieren mit unserem Antrag eindeutig die Ernsthaftigkeit dieses Anliegens.
Übrigens hat Herr Minister Tiefensee am Montag
- das hat man mir zugetragen - zugegeben, dass 2009
offensichtlich ein sehr ehrgeiziger Zeitplan ist, und damit wäre dieses symbolträchtige 20. Jahr der friedlichen
Revolution gefährdet. Das ist beispielsweise wieder ein
Problem, das man schon sehr lange hätte diskutieren
können. Wir wissen, dass wir bereits vor sieben Jahren
einen Gemeinschaftsantrag hier im Bundestag hatten,
der von der Mehrheit abgelehnt worden ist.
Denkmäler sind mehr als ein zu Beton erstarrtes Heldengedenken. Wir erwarten mehr als die Manifestation
von Geschichte. Wir wünschen uns, dass ein solches
Denkmal auch eine Inspirationsquelle ist und vor allen
Dingen Raum für eine Diskussion über die Zukunft der
1989 erkämpften Freiheiten schafft.
Abschließend möchte ich noch etwas zum Standort
sagen. Ich unterstütze den Änderungsantrag der Kollegen Weißgerber und Fornahl, wohl wissend, dass dieser
Antrag vermutlich heute hier nicht die Mehrheit finden
wird, was ich sehr bedauere, und wohl wissend, dass ich
damit eher ein Signal für eine offene Debatte über den
Standort setze. Es wären nämlich neben Leipzig und
Berlin noch andere Städte zu nennen. Der Kollege
Günther weiß, dass in Plauen bereits im September des
Jahres 1989 die Menschen auf die Straße gegangen sind.
Also, wir müssen diese Debatte offener führen, und ich
plädiere an dieser Stelle dafür, dass die Einbringung dieses Antrags in den Bundestag heute nicht das Ende dieser Debatte sein darf.
({5})
Aus diesem Grunde bitte ich noch einmal um etwas
mehr Nachdenklichkeit und etwas mehr Seriosität in der
Zukunft bei der Behandlung dieses Themas.
({6})
Meine Damen und Herren, wir kommen nun zum
Bericht über den Stand der deutschen Einheit. Wenn
ich nach rechts schaue, sehe ich, dass Frau Bundeskanzlerin Merkel auch dieses Jahr wieder nicht anwesend ist;
letztes Jahr war sie wenigstens eine halbe Stunde hier.
Und wenn ich auf die linke Seite schaue, dann freue ich
mich, dass ich wenigstens einmal wieder einen sächsischen Ministerpräsidenten hier im Bundestag begrüßen
darf. Die anderen Ministerpräsidenten glänzen wie
üblich durch Abwesenheit. Vermutlich liegt es daran,
dass in den Ländern keine Wahlen stattfinden. Ich finde
es sehr bedauerlich. Denn das ist ein ganz wichtiges
Thema, und ich möchte, dass dieses Thema unter möglichst großer Anteilnahme von den jeweils Betroffenen
und Verantwortlichen auch hier im Bundestag behandelt
wird. Das ist wirklich ein sehr trauriges Bild.
({7})
Da wir schon bei traurigen Bildern sind, können wir
direkt zu Ihrer Rede kommen, Herr Minister. Diese war
ein saft- und kraftloser Versuch, so zu tun, als ob es für
den Aufbau Ost eine Strategie Ihres Hauses gäbe und als
würde diese nicht vorhandene Strategie auch noch nach
Plan verlaufen.
({8})
Sie haben diese im Bericht zum Stand der deutschen
Einheit mit wunderbaren blumigen Worten garniert. Ich
zitiere:
Die neuen Bundesländer befinden sich auf einem
guten wirtschaftlichen Weg. Oder: Ostdeutschland
hat sich zum Land der Chancen entwickelt. Oder:
Die Schere zwischen Ost und West schließt sich
wieder.
- Das sind Rückfälle in alte Zeiten. Ich dachte, wir hätten das mit dem letzten Bericht zum Stand der deutschen
Einheit überwunden.
Ich komme auf die letzte Aussage mit der Schere zwischen Ost und West zurück, weil man sich mit ihr intensiver auseinandersetzen muss. Herr Tiefensee kommt zu
der Erkenntnis, dass sich diese Schere schließt, weil das
Wachstum in Ostdeutschland im letzten Jahr um
0,3 Prozent höher war als in Westdeutschland. Das ist so
ähnlich, als wenn Herr Gabriel sagen würde: Wir hatten
einen verregneten Sommer. Der Klimawandel ist kein
Problem. - Dieses Jahr werden die Zahlen ganz anders
aussehen. Der Vorsprung der ostdeutschen Bundesländer
gegenüber den westdeutschen Bundesländern ist eingebüßt, und die Schere ist eingerostet. Das ist nicht zum
ersten Mal der Fall, sondern das erleben wir seit Mitte
der 90er-Jahre.
Woher soll das Wachstum, von dem Sie immer sprechen, eigentlich kommen? Schauen wir uns doch einmal
die entsprechenden Parameter in der Wirtschaftstheorie
an. Auf der Nachfrageseite gibt es ein ganz klares Kriterium: die Bevölkerungsentwicklung. Über dieses
Thema brauche ich hier wohl nicht lang und breit zu
sprechen. Wir alle wissen, welche Probleme wir hier haben. Die Bevölkerungszahlen sinken aus den vielfältigsten Gründen dramatisch. Diesen Wachstumstreiber werden wir in Ostdeutschland auf lange Sicht nicht haben.
Auf der Angebotsseite geht es um die Ausstattung mit
Humankapital; das ist die nächste Baustelle. In Ostdeutschland findet nicht nur ein allgemeiner Rückgang
der Bevölkerungszahl statt, sondern vor allen Dingen
auch ein Rückgang der Zahl der Erwerbstätigen und insbesondere der qualifizierten Erwerbstätigen. Wie wir
wissen, wandern hauptsächlich junge und gut qualifizierte Frauen ab. Weil diese Jahrgänge dann auch im
Hinblick auf die Geburtenjahrgänge fehlen, kommen
hier zwei Dinge zusammen. Insofern verschärft sich die
Situation noch weiter. Auch dieser Wachstumstreiber
fällt also aus.
Der dritte Wachstumstreiber ist die Kapitalakkumulation. Bis jetzt ist es noch so, dass durch den Solidarpakt über Investitionszuschüsse und Förderungen die
Kapitalakkumulation, die eigentlich aus privatem Kapital stammen müsste, in großem Umfang kompensiert
wird. Die Zuschüsse im Rahmen des Solidarpakts werden ab 2009 stetig sinken. Wir fragen uns, wodurch
diese Lücke ab 2019 geschlossen werden soll. Wir sind
sehr skeptisch, ob die Banken bereit sein werden, sich
hier einzubringen. Ich sehe keine Perspektive, dass sich
an dieser Stelle ein Wachstumstreiber entwickeln wird.
Wie wir am Mittwoch dieser Woche in unserer Diskussion im Ausschuss erlebt haben, kommen Sie in diesem Zusammenhang immer wieder auf die Verkehrsinfrastruktur zu sprechen. Wie eine Monstranz wird
dieses Thema von der Regierung, von Ihrer Partei, aber
auch von anderen Kollegen vor sich hergetragen. Ich
habe Ihnen gesagt, dass wir eine Studie mit dem Titel
„Jobmaschine Straßenbau“ durchgeführt haben, die ich
Ihnen nur empfehlen kann und die ich den Kollegen
gerne zukommen lasse. Darin haben wir sehr detailliert
deutlich gemacht, dass es keine Korrelation zwischen
Straßenbau und wirtschaftlicher Weiterentwicklung gibt.
Lieber Kollege Hacker, da Sie das Beispiel Ludwigslust als ein Beispiel für gelungene Verkehrsinfrastruktur
in Verbindung mit Wirtschaftswachstum angeführt haben, möchte ich Sie darauf hinweisen: Gestern wurde
hier bemängelt, dass die Benzinpreise in Deutschland
ein Rekordniveau erreicht haben. Wenn Sie sagen, durch
die Verkehrsinfrastruktur sei es uns gelungen, dass die
Leute aus Schleswig-Holstein bis nach Ludwigslust pendeln, dann frage ich Sie: Wovon sollen diese Leute in
Zukunft die Spritkosten für die Auspendelung bezahlen?
Das müssen Sie mir einmal erklären. Das ist keine Antwort auf die Probleme in Ostdeutschland.
({9})
Zum nächsten Punkt. Wie sieht es eigentlich mit den
Wachstumstreibern aus? Ich empfehle Ihnen die Studie
des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung
mit dem Titel „Talente, Technologie und Toleranz - wo
Deutschland Zukunft hat“. Schauen Sie sich einmal an,
auf welchen Plätzen die neuen Bundesländer stehen. Bei
der Technologie liegt Sachsen auf Platz neun, Thüringen
auf Platz elf, und die drei anderen ostdeutschen Bundesländer belegen die letzten Plätze. Bei den Talenten ist
Sachsen auf Platz zehn, Brandenburg auf Platz zwölf,
und die anderen sind auf den letzten Plätzen. Bei der Toleranz findet man Sachsen, Thüringen, Brandenburg,
Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt auf den
letzten Plätzen.
Da ich gerade beim Thema Toleranz bin, möchte ich
Ihnen, Herr Ministerpräsident, sagen: Sie haben auf dem
Landesparteitag Ihrer Partei in Sachsen zu den Vorkommnissen in Mügeln - ich komme aus diesem Landkreis und kenne Mügeln daher sehr gut - gesagt: Das,
was in Mügeln passiert ist, sei keine Hetzjagd in Mügeln
gewesen, sondern eine Hetzjagd auf Mügeln. - Ich frage
Sie: Wie verträgt sich diese Aussage damit, dass Bundeskanzlerin Merkel bei Manmohan Singh in Indien für
Investitionen in Deutschland wirbt?
Der dumpfe Spruch „Deutschland den Deutschen!“
ist in bestimmten Regionen Deutschlands zum Teil
schon bittere Realität. Wenn man sich diese Regionen
anschaut, stellt man fest: Diese Regionen sind die rückständigsten, sowohl was ihre wirtschaftliche Entwicklung als auch was ihre politische und gesellschaftliche
Entwicklung angeht. Durch solche Aussagen kann man
diese Situation nicht verbessern. Hier muss man ganz
klar Position beziehen. Nur dann, wenn in Ostdeutschland Toleranz herrscht, haben wir in Anbetracht der
globalisierten Welt die Chance, Ansiedlungen zu ermöglichen, auch aus Indien, was ich mir ausdrücklich wünschen würde.
({10})
Meine Damen und Herren, ich komme zum Ende
meiner Rede. Herr Tiefensee - ich spreche Sie nicht persönlich, sondern stellvertretend für die Bundesregierung
an -, wenn Sie schon kein Konzept für den Aufbau Ost
haben, dann seien Sie wenigstens so realistisch und ehrlich, den Menschen zu sagen, dass ihnen die Politik der
Großen Koalition nicht helfen wird.
({11})
Dann wissen die Menschen zumindest, dass sie ihr
Schicksal selbst in die Hand nehmen müssen.
Wir haben uns Gedanken darüber gemacht, wie man
die endogenen Potenziale in Ostdeutschland stärken
kann. Auch dieses Schriftstück, das ich gerade in den
Händen halte - die Untersuchung „Existenzgründungen
in Ostdeutschland“ -, empfehle ich Ihnen sehr.
({12})
- Ja, ich habe drei Exemplare hier. - Dieses Thema ist
nämlich sehr wichtig. Wenn uns von oben die große
Politik nicht mehr hilft, dann müssen wir uns selber helfen.
Ich danke Ihnen für Ihre Geduld.
({13})
Die Kollegin Iris Gleicke ist die nächste Rednerin für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
18 Jahre nach dem Fall der Mauer haben wir eigentlich
allen Grund, stolz auf das zu sein, was wir erreicht haben. Aber das Ziel der Angleichung der Lebensverhältnisse ist noch längst nicht erreicht. Für diejenigen,
die bis heute keine Arbeit gefunden haben, für diejenigen, die nach langen Jahren der Arbeitslosigkeit nur einen ganz kleinen Rentenanspruch haben, für Jugendliche, die trotz aller Anstrengungen, die wir unternommen
haben, bis heute keine Chance auf einen Ausbildungsplatz haben, ist dieses Ziel noch in weiter Ferne.
Insofern ist die Frage nach dem Stand der deutschen
Einheit immer auch eine Frage der Perspektive. Ich will
das sehr deutlich sagen: Wir müssen das Positive in diesem Prozess herausstellen; liebe Frau Kollegin Lötzsch,
das sage ich gerade an Ihre Adresse. Denn wenn wir dieses nicht tun, werden ein weiteres Mal die Lebensleistungen der Menschen entwertet. Aber wir dürfen auch
nichts schönreden, und wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass sich eine große Zahl von Menschen leider nach
wie vor als Verlierer im Prozess der deutschen Einheit
betrachtet. Es ist wahr: In diesem Prozess von Einheit
und fortschreitender Globalisierung gibt es Gewinner,
aber es gibt eben auch Verlierer.
Dennoch ist ein Mehrwert entstanden, der sich nicht
in Zahlen und Tabellen beschreiben lässt. Zu diesem
Mehrwert gehört die individuelle Freiheit ebenso wie
das wachsende demokratische Bewusstsein und die Bereitschaft, Verantwortung für sich, für andere und auch
für unser Gemeinwesen zu übernehmen. Zu diesem
Mehrwert gehört auch, dass die junge Generation in Ostund Westdeutschland ganz unbefangen aufeinander zugeht. Wir müssen allerdings darauf achten, dass aus dieser Unbefangenheit keine Geschichtslosigkeit wird.
Freiheit und Demokratie sind bei uns im Osten erst
17 Jahre jung und stehen noch längst nicht in voller
Blüte. Freiheit und Demokratie müssen täglich aufs
Neue erkämpft und bewahrt werden. Unsere Grundrechte sind eben nicht vom Himmel gefallen. Das muss
auch an dem Freiheits- und Einheitsdenkmal, über das
noch zu diskutieren ist, deutlich werden.
Aber auch die braunen Rattenfänger, die besonders
im Osten ihr Unwesen treiben, sind nicht vom Himmel
gefallen. Hier gilt es, sorgfältig zu unterscheiden zwischen den Verführern und den Verführten.
({0})
Das verbreitete Gefühl einer kollektiven Demütigung,
das Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein, das
sind wesentliche Bestandteile des Nährbodens für
rechtsextremistische Ideen und Bestrebungen. Deshalb
kann heute niemand im Ernst bestreiten, dass der
Rechtsextremismus in Ostdeutschland ein schwerwiegendes Problem ist. Seine Ursachen sind aber nicht in
den Töpfchen der DDR-Krippen zu finden, sondern in
dem verbreiteten Gefühl von Deklassierung und der
ebenso verbreiteten Orientierungslosigkeit. Es ist wahr:
Wer offen und ehrlich über den Stand der deutschen Einheit sprechen will, muss auch über die damit zusammenhängenden Probleme sprechen. Damit erweckt man leider fast zwangsläufig den Eindruck, das Glas sei halb
leer. Wir alle wissen aber: Das Glas ist mehr als halb
voll.
({1})
Damit sind wir wieder bei dem, was wir erreicht haben und worauf wir durchaus stolz sein können. Es geht
nicht darum, das Erreichte mehr oder weniger würdevoll
in Feierstunden zu beweihräuchern. Solange die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland mehr als doppelt so hoch ist
wie in Westdeutschland, würden die Leute das als zynisch empfinden. Wir im Osten sitzen nicht mehr hinter
der Mauer und machen Westpakete auf, und wir sind
auch nicht mehr die Brüder und Schwestern, derer man
am 17. Juni gedenkt. Wir sind Bürgerinnen und Bürger
dieser Bundesrepublik Deutschland, mit gleichen Rechten und mit gleichen Pflichten.
({2})
Die Einheit ist Realität. Nun gilt es, sie zu vollenden.
Nun gilt es, die mit ihr verbundenen Wünsche und Hoffnungen zu erfüllen. Dass die jungen Deutschen aus Ostund Westdeutschland einander in großer Unbefangenheit
gegenübertreten, muss uns ermutigen. Dass bei der älteren Generation im Osten oft noch ein Gefühl der Demütigung überwiegt, muss uns nachdenklich stimmen.
Gleichwertige Lebensverhältnisse - das ist das Ziel,
auf das wir verpflichtet sind und bleiben. Gelegentlich
hat man jedoch das Gefühl, dass die Buchhalter und Erbsenzähler das Steuer übernehmen und den Prozess des
Zusammenwachsens in eine andere Richtung lenken
möchten. Sie reden viel von Transfermitteln, von Geld
und von Bilanzen. Der Lebensrealität der Menschen
wird das nicht gerecht. Ich sage es ohne Bitterkeit, aber
auch nicht ohne einen gewissen Zorn: Die ostdeutschen
Länder sind schon seit langem Beteiligte an einem Verteilungskampf, bei dem es ums liebe Geld geht. Beim
Geld, das wissen wir alle, hört bekanntlich die Freundschaft auf - nicht immer, aber immer öfter.
({3})
Deshalb war es sehr gut, dass Gerhard Schröder damals mit den Bundesländern den Solidarpakt II geschnürt hat. Der Solidarpakt II ist zum Symbol für Zuverlässigkeit und Beständigkeit beim Aufbau Ost
geworden. Das zeigt sich auch immer dann, wenn versucht wird, dieses Paket wieder aufzuschnüren. Wir werden das nicht zulassen.
({4})
Wir werden gegebenenfalls immer wieder und, wenn nötig, mit der gebotenen Deutlichkeit und auch Lautstärke
daran erinnern, dass manche der heutigen Geberländer,
wie etwa Bayern, selbst jahrzehntelang unterstützt worden sind und auch heute - beispielsweise beim Ausbau
der Bundesfernstraßen in Bayern - nicht ganz schlecht
bedient werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, all denen, die am Sinn des Aufbaus Ost zweifeln, empfehle ich einen Blick in den Jahresbericht 2007 zum Stand der deutschen Einheit. Darin
steht nämlich, was alles erreicht worden ist. Das ist eine
ganze Menge, und wir können stolz darauf sein.
Durch den Bericht wird aber auch deutlich, was noch
alles zu tun ist. Diese Arbeit wird noch etliche Jahre in
Anspruch nehmen. Dabei sind wir jetzt und in Zukunft
auf zuverlässige Rahmenbedingungen angewiesen. Daran lassen wir nicht rütteln, und dafür stehen wir ein.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort erhält nun der Kollege Hans-Joachim Otto
für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die liberale Fraktion begrüßt es sehr, dass wir mit den Koalitionsfraktionen eine grundsätzliche Übereinstimmung
über die Errichtung eines Freiheits- und Einheitsdenkmals haben herstellen können. Das ist, wie ich finde, gerade an diesem heutigen Tage ein sehr wichtiges politisches Signal.
({0})
Für uns Liberale sind - Sie werden das verstehen die persönliche und die gesellschaftliche Freiheit Werte
von ganz besonderer Bedeutung. Deswegen begrüßen
wir es auch sehr, dass dieses Denkmal ein Freiheits- und
Einheitsdenkmal - also in dieser Reihenfolge - ist.
({1})
Es sind einige Namen von Menschen erwähnt worden, die für die Einheit sehr wichtige Beiträge geleistet
haben. Ich möchte hier auch einen Namen ausdrücklich
erwähnen, der in diesem Zusammenhang erwähnt werden muss, nämlich Hans-Dietrich Genscher.
({2})
Er ist der Mann, der Entscheidendes für die deutsche
Einheit getan hat.
Als Partei Hans-Dietrich Genschers ist es für die FDP
deshalb von besonderer Bedeutung, ein Denkmal für die
Gewinnung der deutschen Einheit zu errichten. Die deutsche Einheit ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden
und wird allenfalls thematisiert - Herr Tiefensee hat das
vorhin angesprochen -, wenn es um die Probleme und
die Unterschiede geht. Dass es aber ein großes Glück ist,
dass wir 1989 und 1990 die friedliche Revolution und
die Wiedervereinigung erleben durften, in deren Verhältnis die Unterschiede und Probleme nachrangig sind,
kann man nicht oft genug betonen. Ich freue mich deshalb sehr, dass wir heute die Errichtung eines Denkmals
beschließen, welches daran erinnert.
Bei der Überlegung hinsichtlich der spannenden
Frage, wo dieses Freiheits- und Einheitsdenkmal stehen
sollte, hat mich die Argumentation des Bundestagspräsidenten Norbert Lammert überzeugt. In seiner sehr bemerkenswerten Rede zum Tag der Deutschen Einheit am
3. Oktober 2007 in Schwerin sagte er wörtlich:
Wir haben aus gutem Grund insbesondere in der
Hauptstadt zahlreiche auffällige Stätten der Erinnerung an die Verbrechen zweier Diktaturen in
Deutschland. Es gibt keinen vernünftigen Grund,
nicht auch in ähnlich demonstrativer Weise der
Freiheits- und Einheitsgeschichte unseres Landes
zu gedenken.
Sehr richtig.
Hans-Joachim Otto ({3})
({4})
Gerade die Tatsache, dass die nationalen Denkmale
und Mahnmale zur Erinnerung an die dunklen Seiten der
deutschen Geschichte in der Hauptstadt, in der Mitte
Berlins, versammelt sind, unterstreicht für mich die Notwendigkeit, dass auch die Erinnerung an eines der glücklichsten Ereignisse der deutschen Geschichte in, wie es
Norbert Lammert ausgedrückt hat, „ähnlich demonstrativer Weise“ in Berlin stehen muss. Dieses Gegenüber
von Schrecken und Freude, die Abbildung der Geschichte nicht nur in ihren negativen, sondern auch in ihren positiven, optimistischen und vorbildhaften Facetten
halte ich für besonders wichtig.
({5})
Dies ist für mich auch das wichtigste Argument dafür,
dass wir überhaupt ein Freiheits- und Einheitsdenkmal
errichten sollten.
Viele sagen - auch in meiner Fraktion -, dass doch
das Brandenburger Tor das beste Freiheits- und Einheitsdenkmal sei, was man sich nur vorstellen könne. Manche
halten auch das Reichstagsgebäude, in dem wir heute
mit einer Selbstverständlichkeit tagen, die noch vor
20 Jahren unvorstellbar war, für ein Symbol für die Freiheit und die Einheit Deutschlands. Beides trifft ohne
Zweifel zu, und es gibt darüber hinaus zahllose weitere
inoffizielle und persönliche Freiheits- und Einheitsdenkmale, beispielsweise die unvermittelt geöffneten Grenzübergänge, die gestürmten und besetzten Zentralen der
Unterdrücker von MfS und SED oder das schmale Band
des ehemaligen Mauerverlaufs. Aber all diese Freiheitsund Einheitsdenkmale können ein nationales Denkmal in
Berlin, das zur Erinnerung an die friedliche Revolution
im Herbst 1989 und an die Wiedervereinigung errichtet
wird, nicht ersetzen.
Meine Damen und Herren, noch ein Wort zu dem
Gruppenantrag: Ich hoffe sehr, dass die Frage, Leipzig
und Berlin oder Berlin, nicht die grundsätzliche Übereinstimmung verdunkeln kann. Berlin muss es sein; das
habe ich begründet. Ich würde mich durchaus freuen,
wenn auch ein Freiheits- und Einheitsdenkmal in Leipzig errichtet würde;
({6})
aber nicht nur dort und nicht als Denkmalpaar. Leipzig
war unbestritten der wichtigste Ort des Widerstands und
die Keimzelle der friedlichen Revolution. Aber wollen
wir wirklich neben der Hauptstadt allein Leipzig als
zweite Stadt hervorheben? Was ist mit all den anderen
Orten, mit Suhl, mit Plauen, mit Magdeburg oder mit
Greifswald, um nur einige zu erwähnen?
({7})
Ich habe mir eine Karte angesehen, in der die Demonstrationen von August 1989 bis April 1990 verzeichnet
sind. In nicht weniger als 80 Orten gab es in diesem
Zeitraum jeweils mehr als zehn Demonstrationen. Ein
Denkmalpaar würde dieser Revolution in allen Bezirken
der ehemaligen DDR nicht gerecht werden.
({8})
Daher lassen Sie uns in der Hauptstadt ein Freiheitsund Einheitsdenkmal für die ganze Republik errichten
und die Städte und Bundesländer ermutigen und auffordern, weitere Denkmale für die Freiheit und Einheit zu
errichten.
Dazu noch ein letztes Wort: Herr Ministerpräsident
Milbradt - Sie sprechen gleich anschließend -, wäre es
nicht eine großartige Idee, wenn der Freistaat Sachsen
im Gedenken an die Ereignisse in Leipzig in dieser
Stadt ein Freiheits- und Einheitsdenkmal errichtete und
wir auch andere Länder ermutigten, es Ihnen gleichzutun?
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat nun der Ministerpräsident des Freistaates Sachsen, Dr. Georg Milbradt.
({0})
Dr. Georg Milbradt, Ministerpräsident ({1}):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für die
Debatte am heutigen Tage bin ich dankbar. Wir sind der
Erfüllung eines Versprechens näher gekommen: Es gibt
in Ostdeutschland eine Reihe blühender Landschaften.
Dafür bedanke ich mich bei Ihnen, meine Damen und
Herren Abgeordneten, und bei der Bundesregierung für
die Unterstützung.
Mein Dank gilt aber auch den Leistungen der Menschen zwischen Rügen und dem Fichtelberg. Sie alle haben sich mit teilweise schmerzlichen Anpassungen in
eine neue Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung hineingefunden. Jeder Einzelne hat nach seinen Kräften mit
angepackt. Das ist eine beeindruckende und bewundernswerte Leistung, die in Debatten über den Osten oft
unbeachtet bleibt.
({2})
Ich bedanke mich herzlich für die Hilfe und die Solidarität aus dem Westen, die Ostdeutschland immer noch
erfährt, insbesondere über den Bundeshaushalt und die
Sozialversicherungen. Deswegen habe ich Verständnis
für jeden, der Fragen zum Stand zur deutschen Einheit
hat und der nach 17 Jahren Aufbau Ost genau hinsehen
möchte. Ich habe auch Verständnis für jeden, der angesichts der Erfolge in Ostdeutschland Schlaglöcher und
soziale Probleme in westdeutschen Gemeinden diskutieren möchte.
Ministerpräsident Dr. Georg Milbradt ({3})
Wir müssen uns immer wieder die tatsächlichen Verhältnisse deutlich vor Augen führen. Zwar gibt es auch
in Westdeutschland Problemkommunen, aber sie liegen
in einem wirtschaftlich starken Umfeld. Es ist unbestritten, dass wir - insbesondere die jeweiligen Länder im
Rahmen des regionalen Ausgleichs - uns darum kümmern müssen.
Im Osten dagegen verhält es sich umgekehrt: Einzelne wirtschaftlich starke Städte stehen immer noch einer großen Anzahl schwacher Gebiete gegenüber; denn
der Ostdurchschnitt liegt nur bei etwa 70 Prozent West.
Die Arbeitslosigkeit ist flächendeckend doppelt so hoch
wie in Westdeutschland.
Es ist kein Geheimnis, dass niemand in den neuen
Ländern glücklich über diesen Zustand ist. Niemand will
sich dauerhaft auf Transfergeldern ausruhen. Wir wollen
keine Kostgänger sein, sondern auf eigenen Beinen stehen. Jedes Land hat sich in den vergangenen Jahren nach
Kräften angestrengt. Auch das verdient Anerkennung.
({4})
Ich sage ganz deutlich - auch an die Linksfraktion gerichtet -: Wir wollen nicht dauerhaft von Umverteilung
leben, sondern von dem, was wir selber erwirtschaften.
({5})
Das Aufholen wird uns aber nicht immer leicht gemacht.
Denn leider heißt die Politik, die wir in Deutschland für
Ostdeutschland machen, viel zu oft „Überholverbot“.
Wir brauchen Regeln, die der spezifischen Situation
in Ostdeutschland angepasst sind. Wir brauchen die
Möglichkeit, unsere Wirtschaft nach allen Regeln der
Kunst zu tunen, wie es unsere europäischen Nachbarn
auch tun. Wir würden auch manchmal gerne mehr Gas
geben.
Wir haben zum Beispiel in Leipzig/Halle in Rekordzeit einen Flughafen gebaut. Das ist mit der Marscherleichterung durch das Bundesverkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz möglich geworden, das heute in
Gesamtdeutschland gilt, leider aber nur in stark verwässerter Form. Wir haben diesen Flughafen mit DHL
zum internationalen Frachtdrehkreuz ausgebaut. Das
Konzept ist aufgegangen. Die Arbeit trägt Früchte:
2 000 Arbeitsplätze sind schon entstanden; 10 000 weitere werden folgen.
Der Bundesverkehrsminister hat sich in den vergangenen Tagen von den Vorständen von Lufthansa Cargo
die beeindruckende Entwicklung zeigen lassen. DHL hat
sein Zentrum von Brüssel nach Leipzig verlegt. Weitere
Luftfahrtunternehmen sollen folgen. Das heißt aber
auch, dass Berlin den 24-Stunden-Betrieb in Leipzig
rückhaltlos unterstützen muss,
({6})
indem unsere gesetzlichen Regeln den europäischen
Standards angepasst werden und damit denen unserer
europäischen Wettbewerber entsprechen.
({7})
Wir kämpfen in Ostdeutschland jeden Tag um jeden
Arbeitsplatz. Ich führe genauso wie meine Kollegen in
den anderen Ländern viele Gespräche, um Vertrauen zu
gewinnen und zu stärken. Hier müssen die Bundes- und
die Landespolitik synchron sein. Mehr Jobs lautet die
Antwort auf das Problem der Abwanderung. Es gibt eine
ganze Reihe von Regionen - das wurde bereits angesprochen -, in denen es anderen lohnenswert erscheint,
zu uns zu kommen.
In Ostdeutschland gibt es bereits Zentren, die Zuwanderung verzeichnen. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, aber
sie sinkt, und die Zahl der Beschäftigungsverhältnisse
steigt. Die Erfolge werden in den Zentren sichtbar. Dies
muss sich auch mehr und mehr auf die peripheren Regionen ausdehnen.
({8})
Aber jede undifferenzierte, die unterschiedliche Wirtschaftskraft nicht beachtende Diskussion über Löhne
verunsichert nicht nur die lokalen Arbeitgeber, sondern
schadet auch den Arbeitnehmern. Jeder weiß, dass in
manchen Branchen und Regionen zum Beispiel ein Lohn
von 7,50 Euro schlichtweg nicht durchsetzbar oder in
anderen Bereichen eine Anpassung an den Westlohn zurzeit nicht möglich ist. Hier muss mit Augenmaß gehandelt werden. Selbstverständlich möchten wir nicht, wenn
es möglich ist, auf Lohnerhöhungen verzichten, aber wir
müssen deutlich machen, dass auch die Alternativen zu
einer undifferenzierten Entwicklung der Löhne genannt
werden müssen: Arbeitslosigkeit, Schwarzarbeit und
Abwanderung.
({9})
Dank einer weitsichtigen Bundes- und Landespolitik
ist rund um Dresden das größte und einzige europäische, weltweit konkurrenzfähige Halbleitercluster entstanden; hier gibt es 25 000 Arbeitsplätze in 250 Firmen.
Jeder fünfte Mikroprozessor weltweit kommt aus Ostdeutschland. Europa spielt hier wieder in der Weltliga
mit.
Wir erleben neuerdings, dass wichtige Mikroelektronikfirmen nicht in Europa investieren, sondern in Amerika oder Asien, wo sie mehr Unterstützung bekommen,
die uns von der EU verwehrt wird. Meines Erachtens
darf Europa nicht tatenlos zusehen, wenn eine Zukunftstechnologie an ihrer Zukunft bei uns, auch in Ostdeutschland, zu zweifeln beginnt.
Wir erwarten, dass sich Berlin und Brüssel für eine
neue europäische technologieorientierte Industriepolitik
starkmachen. Europa muss sich entscheiden, welche
Branchen und Entwicklungen strategische Bedeutung im
Ringen der großen Wirtschaftsräume der Welt um Einfluss und Gestaltung des 21. Jahrhunderts haben, so wie
das auch unsere Konkurrenten in Amerika und Asien
tun. Die Luft- und Raumfahrt gehört zum Beispiel
ebenso dazu wie die Mikroelektronik in Ostdeutschland.
Meine Damen und Herren, in den nächsten Wochen
fallen die Kontrollen an unseren Ostgrenzen weg; der
Ministerpräsident Dr. Georg Milbradt ({10})
Schengen-Raum erweitert sich. Das ist aber nicht nur ein
Thema für den Innenminister, der beispielhaft in den
Grenzregionen wirbt und Vertrauen schafft. In den neuen
Räumen werden sich, ähnlich wie in den Grenzregionen
Westdeutschlands, die Wirtschaftsbeziehungen neu
orientieren. Das ist eine große Chance für Deutschland
und insbesondere für die Regionen an der Ostgrenze von
Passau bis zur Ostsee. Wir stehen vor einer immensen
Steigerung des Handelsvolumens mit Mittel- und Osteuropa. Das wollen wir auch. Voraussetzung ist aber,
dass Umfang und Qualität der grenzüberschreitenden
Verkehrsnetze bald denen an der West- und Südgrenze
entsprechen.
({11})
Die durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts hervorgerufenen Beeinträchtigungen müssen wir überwinden. Unser Horizont darf nicht an der Grenze enden. Wir
liegen - Gott sei Dank - in der Mitte Europas und sollten
das nutzen.
Dazu brauchen wir deutlich mehr Geld für Infrastruktur, und zwar in Ost und West, an der Grenze wie im
Binnenland.
({12})
Wir sind das Herz Europas; wir sind in der Mitte, und
wir sollten unsere Aufgaben erfüllen, im Interesse unserer eigenen wirtschaftlichen Zukunft.
Ich bin froh, dass die Investitionszulage noch nicht
vom Tisch ist. Für uns ist wichtig, dass die Fortführung
bis 2013 noch einmal sehr sorgfältig erwogen wird; denn
wir brauchen mehr Wirtschaftskraft. Nach wie vor werden nur zwei Drittel des ostdeutschen Einkommens
selbst erwirtschaftet.
Hier sind West und Ost in einem Boot. Wenn die
Transferbelastung des Westens, insbesondere über die
öffentlichen Haushalte und die Sozialsysteme, sinken
soll, was wir alle wollen, dann muss der Osten weiter
stärker wachsen als der Westen. Das gilt insbesondere
für die Industrie.
({13})
Das ist die einzige Möglichkeit, das leidige Transferthema zu bewältigen. Sonst bleibt es bei dem unbefriedigenden Zustand, den alle Beteiligten, sowohl diejenigen, die empfangen, als auch diejenigen, die zahlen,
beklagen.
Wir können uns - und sollten das auch - gemeinsam
über die Erfolge beim Aufbau Ost freuen. Aber wir dürfen in unseren Anstrengungen nicht nachlassen, sondern
müssen jede Initiative belohnen, die Bremsklötze beseitigen kann, und jede Unterstützung gewähren, die die
ostdeutschen Länder in die Lage versetzt, auf eigenen
Beinen zu stehen.
Das ist nicht immer nur die finanzielle Unterstützung,
sondern auch die Berücksichtigung der nach wie vor
sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, eine faire und solidarische Diskussion sowie
die Anerkennung der Leistungen der Deutschen in Ost
und West im Rahmen des Vereinigungsprozesses. Wir
haben - darauf ist hier schon hingewiesen worden durch die friedliche Revolution eine einmalige Chance
in unserer Geschichte bekommen: die Wiedervereinigung in einem friedlich zusammenwachsenden Europa.
Es liegt an uns, diese Chance zu nutzen.
Herzlichen Dank.
({14})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Lukrezia
Jochimsen für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ich spreche nach den großen Daten, auf die der Ministerpräsident verwiesen hat, zu einem speziellen Thema, nämlich
der Errichtung eines Freiheits- und Einheitsdenkmals.
Schnell, schnell, schnell, bloß keine Diskussion, kein
Nachdenken, so müsste man den Antrag der Koalitionsfraktionen und der FDP auf Errichtung eines Freiheitsund Einheitsdenkmals überschreiben.
({0})
Noch nicht einmal der federführende Kulturausschuss
hatte vorgestern Zeit für eine Aussprache. Der Antrag
wurde per Mehrheit aufgesetzt, angenommen und in einer Weise durchgezogen, die aus meiner Sicht allen parlamentarischen Sitten hohnspricht,
({1})
und das ausgerechnet bei einem Denkmal, das der Erringung demokratischer Freiheiten in der DDR gewidmet
werden soll. Sie merken offensichtlich noch nicht einmal, wie weit Ihr Gebaren von der Atmosphäre und dem
Niveau der runden Tische entfernt ist, an denen die Demokratie in der DDR neu geboren wurde. Und warum?
Weil heute der 9. November ist und an diesem Symboltag ein neues Nationalsymbol etabliert werden soll.
Basta! Und was soll symbolisiert werden? Einerseits die
friedliche Revolution im Herbst 1989 und andererseits
die Wiedergewinnung der staatlichen Einheit sowie die
freiheitlichen Bewegungen und Einheitsbestrebungen
der vergangenen Jahrhunderte.
Man merkt sofort: Da sind große Verwischtechniker
am Werk, die alles Mögliche zusammenbringen wollen,
ohne zu fragen, ob das überhaupt geht. Hauptsache, das
Denkmal steht 2009 in Berlin. Seit heute früh gibt es einen zusätzlichen Vorschlag. Er sieht zwei Denkmäler,
genannt ein Denkmalpaar, vor, das eine in Berlin und das
andere in Leipzig. Wenn es nach Herrn Minister
Tiefensee geht, soll es Hunderte Denkmäler überall im
Land geben. So wurde der Minister neulich in den Zeitungen mit der Aussage zitiert, wo die vielen Krieger12964
denkmäler stünden, könnten doch nun Freiheitsdenkmäler errichtet werden. Das ist doch grotesk.
Wir machen dabei nicht mit, und zwar nicht weil uns
Freiheit und Einheit egal sind, sondern weil wir uns dem
politischen Erbe der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung besonders verpflichtet fühlen.
({2})
- Beruhigen Sie sich! - Wer die friedliche Revolution im
Herbst 1989 mit der Wiedergewinnung der staatlichen
Einheit Deutschlands 1990 in eins wirft, wird diesem
Erbe nicht gerecht, weil beide Vorgänge zwei Stufen eines komplexen internationalen, historischen Prozesses
darstellen, die nicht unmittelbar aufeinander bezogen
werden können. Diese Revolution mit dem Ruf „Wir
sind das Volk“ ist singulär in der deutschen Geschichte,
sodass sie erst recht nicht mit den freiheitlichen Bewegungen und Einheitsbestrebungen der vergangenen Jahrhunderte vermengt werden kann.
Wir schlagen deshalb ein anderes Erinnern vor:
({3})
Erinnern an diejenigen, die oft unter großer persönlicher
Gefahr Demokratie und Freiheit in der DDR einforderten, Erinnern an die Abertausend Bürger und Bürgerinnen in Leipzig, die demonstriert, protestiert, geredet und
andere überzeugt haben, Erinnern an diejenigen, die in
den Kasernen und Polizeiwachen geblieben sind und dafür gesorgt haben, dass die Demokratie ohne Blutvergießen begann. Dafür treten wir mit unserem Antrag ein.
({4})
Da aus unserer Sicht eine solche unblutige Revolution
keinen herkömmlichen Denkmalkult erlaubt, möchten
wir in Leipzig ein Denkzeichen zusammen mit einem
Ort der Information und einem aktiven Museum errichten, welches den Nachgeborenen die grundsätzliche
Auseinandersetzung mit der Idee der Freiheit eröffnet.
Natürlich muss darüber eine groß angelegte öffentliche Diskussion geführt werden - in diesem Sinne stimmen wir dem Antrag der Grünen zu -, eine Diskussion,
ausführlich statt schnell, schnell, schnell, nachdenklich
statt unüberlegt und vor allem jene Bürgerrechtler und
Bürgerrechtlerinnen einbeziehend, die damals das Land
verändert haben und die sich heute von der Politik nicht
mehr vertreten sehen.
Ich danke Ihnen.
({5})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Jan
Mücke das Wort.
Frau Kollegin Jochimsen, Sie haben soeben die, ich
muss schon sagen: Unverschämtheit besessen, die Bürgerrechtsbewegung in der DDR für Ihre Zwecke zu benutzen.
({0})
Ich glaube, dass gerade Sie als Angehörige der Fraktion
einer Partei, die mehrfach umbenannt wurde und fusionierte, aber in der Kontinuität der alten SED steht, nicht
diejenigen sein sollten, die an die Bürgerrechtsbewegung
in Leipzig erinnern.
({1})
Deswegen haben der Kollege Weißgerber und ich gemeinsam mit vielen anderen Kollegen einen Gruppenantrag eingebracht, der zur Abstimmung steht und für
den ich um Zustimmung werben möchte. In ihm steht,
dass wir an beiden Standorten, in Berlin und in Leipzig,
der Freiheit und der Wiedergewinnung der Einheit unseres Vaterlandes gedenken. Sie haben offensichtlich vergessen, gegen wen die 70 000 Leipziger am 9. Oktober
eigentlich auf die Straße gegangen sind. Es ist gegen die
SED gewesen, als deren Nachfolgerin Ihre Partei heute
im Bundestag sitzt. Ich finde, dass Ihnen eine solche Bemerkung nicht zusteht.
({2})
Zur Erwiderung.
Herr Kollege Mücke, es tut mir eigentlich leid, dass
Sie die Diskussion jetzt auf dieses Niveau herunterbringen.
({0})
Ich bin versucht, Sie zu fragen, wie Sie eigentlich mit
den zwei Blockparteien umgehen, die Ihre Partei übernommen hat.
({1})
Mich brauchen Sie nicht zu fragen, möglicherweise genauso wenig wie ich Sie dazu befragen kann.
Natürlich erinnern wir uns in unserer Fraktion und in
unserer Partei genau an diese Geschichte.
({2})
Es liegt uns am Herzen, dass viele der Menschen, die damals diesen Wandel herbeigeführt haben - gehen Sie
doch einmal durch die ostdeutschen Länder -, sich heute
nicht mehr vertreten fühlen. Deswegen finden wir: Wenn
es ein Denkmal gibt, dann muss das Denkmal zuerst
nach Leipzig.
({3})
Dort hat alles angefangen, dort soll erinnert werden, und
dafür bin ich hier eingetreten.
({4})
Nächster Redner ist nun der Kollege Wolfgang
Thierse für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Jochimsen, Ihre Rede - lassen Sie mich Ihnen das
sagen - war von einer Dreistigkeit, dass mir regelrecht
die Luft weggeblieben ist.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Idee für ein
Freiheits- und Einheitsdenkmal, über die wir heute debattieren, ist nicht neu. Die Diskussion darüber währt
schon lange. Prominente Befürworter haben sich geäußert, von Lothar de Maizière bis zu Richard Schröder,
den ich herzlich begrüße,
({1})
Egon Bahr und Wolfgang Huber. Vor drei Jahren hatte
bereits eine große Anzahl von Abgeordneten aus verschiedenen Fraktionen einen ähnlichen Antrag unterstützt. Es geht also nicht um ein Hauruckverfahren, Kollege Hettlich. Das Motiv war und ist: Wir Deutschen
sollten all unseren Mut zusammennehmen und mit einem Denkmal daran erinnern, dass deutsche Geschichte
auch einmal gut ausgehen kann und gut ausgegangen ist.
({2})
Wir sollten an das Annus mirabilis, an das Jahr der Wunder 1989/90, erinnern. Wir sollten ein Erinnerungsmal
daran errichten, dass - mit den Worten des großen Historikers Fritz Stern - die Bevölkerung der DDR die erste
und einzige erfolgreiche friedliche Revolution in Gang
gesetzt hat, die Deutschland je erlebt hat. Wir sollten ein
Denkzeichen dafür errichten, dass endlich Einheit und
Freiheit, Freiheit und Einheit zusammen verwirklicht
werden konnten und nicht das eine dem anderen geopfert
wurde.
({3})
Wir sollten ein Mahnmal unseres historischen Glücks errichten, damit wir nicht vergessen, wie kostbar und wie
verletzlich Freiheit und Einheit sind und wozu uns unser
nationales Glück verpflichtet.
Gewiss, wir Deutschen sind und bleiben verpflichtet,
uns unserer Schandtaten, vor allem der Verbrechen des
NS-Staates und seiner Opfer, zu erinnern. Es war notwendig und richtig, dass der Deutsche Bundestag in seiner letzten Sitzungswoche in Bonn im Juni 1999 die Entscheidung für das Holocaust-Denkmal im Zentrum der
deutschen Hauptstadt getroffen hat. Dieser Pfahl in unserem nationalen Fleisch ist schmerzlich notwendig. Wir
haben dauerhaft der Opfer zu gedenken.
Aber ein Volk kann vermutlich nicht nur aus seinem
Versagen Orientierung gewinnen. Auch wir Deutschen
können Ermunterung vertragen, zum Beispiel durch die
Erinnerung an die freundlichen Seiten unserer Geschichte, an die Freiheits- und Einheitsbestrebungen, an
die Aufbrüche und Anfänge, an die Erfolge, ohne die
Widersprüche, das Scheitern, die Schandtaten zu verdrängen, zu vergessen.
Also erinnern wir an 1848 und 1918, an 1945 und
eben an 1989 und daran, dass Einheit und Freiheit zusammengehören und dass das so bleiben soll.
({4})
Seien wir endlich ein normales, ein durchschnittliches,
ein gewöhnliches europäisches Volk, das auch dies kann.
Wir schlagen vor, dieses Denkmal in Berlin zu errichten, weil es sinnvollerweise in die Hauptstadt gehört.
Hier in Berlin wurde die Mauer erstürmt und zerbrochen, gewiss. Aber die friedliche Revolution war beileibe kein Berliner Ereignis; sie ereignete sich in vielen
Orten der DDR. Leipzig war ein entscheidender Ort. Das
werde ich, das sollten wir alle nicht vergessen.
({5})
Deshalb sollten wir in der weiteren Diskussion, im Wettbewerb und in der Realisierung darüber nachdenken, wie
auch in Leipzig der Selbstbefreiung und Wiedervereinigung ein Zeichen der Erinnerung gesetzt werden kann,
und uns dazu auch verpflichten.
({6})
Weil wir das wollen, ist der vorgelegte Änderungsantrag,
liebe sächsische Kollegen, überflüssig.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diesem Anliegen,
diesem Projekt werden auch - wenig überraschend Skepsis und Ablehnung entgegengebracht. Es heißt, ein
solches Denkmal sei schlicht überflüssig, es komme zu
früh, wir seien zu eilfertig. Nun ja, ohne Diskussionen
wird es und soll es auch nicht gehen. Wir wollen kein
Denkmal, das in einer ministeriellen oder parlamentarischen Geheimaktion geplant und verwirklicht wird. Im
Gegenteil, die Verständigung über Sinn, Gestalt und Ort
eines solchen Denkmals kann und soll der kollektiven
Selbstverständigung der Deutschen dienen. Einmischung ist ausdrücklich erwünscht.
({8})
Die intellektuelle und künstlerische Herausforderung
ist ohnehin beträchtlich. An die deutsche Freiheitsgeschichte, die Wiedervereinigung und ihre europäischen
Zusammenhänge zu erinnern und das künstlerisch Gestalt annehmen zu lassen, das ist wahrlich eine gigantische Aufgabe. Wir kennen Helden- und Kriegsdenkmäler, Opfer- und Totendenkmäler. Wir kennen mehr oder
weniger peinliche Nationaldenkmäler. Aber wie soll historisches Glück, wie sollen Freiheit und Einheit in eine
dauerhafte künstlerische Form gerinnen? Ich bin sehr gespannt.
Wir stehen vor einer großen Herausforderung. Es
wäre trotzdem gut, wenn wir es bis zum 20. Jahrestag
der deutschen Einheit schaffen könnten. Das ist ein ehrgeiziges Ziel, aber kein Dogma. Beschließen wir heute
also den Start dieses notwendigen und wichtigen Projekts.
({9})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang Börnsen
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Der 9. November ist ein Tag der Trauer und gleichzeitig
ein Tag des Glücks, ein deutscher Tag: Reichskristallnacht und Mauerfall. 1938 die hässliche Fratze unserer
Vergangenheit und 1989 ein Tag, an dem die Träume
tanzen lernten.
Ich habe den für mich bewegendsten Augenblick unserer jüngsten Geschichte im Bonner Wasserwerk erlebt.
Es war gegen 21 Uhr. Auf der Tagesordnung stand die
Beratung des Vereinsförderungsgesetzes. Der Plenarsaal
war gut besetzt, es sollte nämlich eine namentliche Abstimmung folgen. Annemarie Renger unterbrach plötzlich die Debatte. Kanzleramtsminister Rudolf Seiters erhielt das Wort - dann die explosive Mitteilung: Die
Mauer ist gefallen. Wir sind das glücklichste Volk der
Welt. Liesel Hartenstein fiel Willy Brandt in die Arme.
Alfred Dregger und Wolfgang Mischnick kämpften aufgewühlt mit ihren Tränen. Spontan sang das gesamte
Parlament unsere Nationalhymne von Einigkeit und
Recht und Freiheit. Drei Kollegen von den Grünen verließen den Plenarsaal. Trotzdem werde ich diesen wunderbarsten Augenblick meines parlamentarischen Lebens nie vergessen, weil ich miterleben durfte, dass sich
in meinem eigenen Land der Wille zur Freiheit friedlich
Bahn gebrochen hat durch die unbändige Spontaneität
der Leipziger, die Courage der Bürgerrechtler und den
Mut von Menschen in unserem Land.
({0})
Deutschlands Freiheits- und Einheitsgeschichte geht
jedoch über diesen epochalen Augenblick hinaus. Schon
1817 stritten Studenten beim Wartburgfest für Freiheit
und ein geeintes Vaterland. Beim Hambacher Fest forderte man Freiheit und Demokratie. Doch erst 1848
brach sich die Freiheitsrevolution Bahn. Freiheit,
Gleichheit, bürgerliche Rechte, Pressefreiheit, Gewaltenteilung - diese zutiefst demokratischen Ideen gehören
seitdem zu unserem politischen und historischen Erbe.
100 Jahre später hat der Parlamentarische Rat sie ganz
bewusst im Grundrechtekatalog unserer Verfassung verankert.
Vorher gab es die Weimarer Verfassung von 1919. Sie
war eine freiheitliche Verfassung mit liberalen und sozialen Grundrechten und vielleicht zu vielen plebiszitären Elementen. Sie - nicht eine Räterepublik oder Rätediktatur nach sowjetischem Vorbild - war das Ergebnis
der Revolution von 1918. Diese junge Demokratie hatte
nur einen kurzen Atem, ging unter im menschenverachtenden Terror des NS-Regimes.
Dann kamen mit der Gründung der Bundesrepublik
1949 Demokratie, Rechtsstaat und Parlamentarismus.
Die Freiheit, den Alliierten geschuldet, fand zurück zu
ihren Wurzeln. Sie durfte im Westen gelebt werden. Im
Osten schlugen am 17. Juni 1953 die sowjetische Besatzungsmacht und DDR-Grenztruppen den Volksaufstand
nieder. Es gab über 100 Tote, 20 Hinrichtungen und
3000 Verhaftungen. Die erste große Freiheitsbewegung
gegen die kommunistische Diktatur wurde niedergepanzert. Der 17. Juni gehört zu unserer Freiheitsgeschichte.
({1})
Ohne Freiheit gibt es keine Demokratie. Die Deutsche
Demokratische Republik war eine demokratische Täuschung, ein Potemkinsches Dorf der Begrifflichkeiten.
Die Freiheit? Ein Traum, eingesperrt zwischen Stacheldraht und Staatssicherheit. Erst 1989 wurde sie erkämpft, friedlich und ohne Blutvergießen.
Es ist an der Zeit, sich der gesamten Freiheitsgeschichte unseres Landes zu erinnern. Keine Nation kann
ihre Identität und ihre Orientierung allein aus ihrem Versagen und ihren dunklen Kapiteln gewinnen. Vorgestern,
bei der Anhörung des Kulturausschusses zum Gedenkstättenkonzept, hat sich Salomon Korn wie die überwiegende Mehrzahl der Historiker für das Freiheits- und
Einheitsdenkmal hier in der Hauptstadt ausgesprochen,
weil die Befreiung von Diktaturen als Zeichen der Ermutigung dokumentiert werden muss. Doch es gilt, unsere
gesamte Freiheitsgeschichte wahrzunehmen. Ein Denkmal für Freiheit und Einheit kann diese Funktion erfüllen. Es macht die Signalfunktion von Freiheit deutlich.
Es steht für die glücklichen Augenblicke unserer Geschichte. Solche Momente gehören nicht in die Besenkammer der Erinnerung.
({2})
Im Gegenteil, es wird Zeit, sich daran zu erinnern: Unsere Landsleute haben sich über viele Jahrhunderte mit
Leidenschaft und ihrem Leben für die Freiheit eingesetzt. Diese Tugenden haben Vorbildcharakter für die
junge Generation. Erinnern braucht Gestalt. Denkmäler
sind notwendig. Ohne sie geht Erinnerung verloren. Erinnern braucht vor allen Dingen Wissen. Nur wer informiert ist, kann auch gedenken.
Wolfgang Börnsen ({3})
Ein Denkmal muss auch ein Lern- und Erinnerungsort
sein. Dafür sind Voraussetzungen zu schaffen; denn, wie
die Sachverständigen bei der Anhörung feststellten, es
gibt einen Mangel an positiven Geschichtserinnerungen.
Es fehlt an Kenntnis über die deutsche Freiheitsgeschichte. Das Denk-Mal muss die Ausrichtung der Gestaltung bestimmen. Das Nach-Denken ist ebenso anzuregen wie das Voraus-Denken.
Wo soll es stehen? Wir sagen: in Berlin. - Der
Wunsch der Leipziger, es bei sich aufzustellen, ist außerordentlich verständlich, gingen doch von dort die folgenreichen Montagsdemonstrationen aus.
({4})
Eine Stele an der Nikolaikirche erinnert bereits an die
beispielgebende Tat der Leipziger in dieser Stadt. Da wir
aber die ganze Freiheitsgeschichte unseres Landes aufnehmen wollen, ist die Hauptstadt der richtige Ort.
Klar ist: Das Freiheitsdenkmal muss 2009 errichtet
werden, in einem Jahr vierfachen Jubiläums: 160 Jahre
Paulskirche, 20 Jahre Mauerfall, 90 Jahre Weimarer Verfassung, 60. Geburtstag der Bundesrepublik. Das ist ein
Jahr, um der Freiheitsgeschichte unseres Landes in
Würde, aber auch in Freude und Fröhlichkeit zu erinnern.
Die Verwirklichung des Denkmals erfolgt gemeinsam
mit der Deutschen Gesellschaft. Sie steht für Seriosität
und Kompetenz. Ihre Mitstreiter Lothar de Maizière,
Jürgen Engert, Florian Mausbach, Günter Nooke,
Richard Schröder - einige sind heute hier - haben mit
dafür gesorgt, dass eine Idee aus der Mitte der Gesellschaft Gestalt annahm.
Heute sorgen wir im Deutschen Bundestag dafür, dass
sie Realität wird. Bemerkenswert ist, dass die drei vorliegenden Anträge in ihrer Zielsetzung fast übereinstimmen. Vor sieben Jahren scheiterte eine solche Initiative.
Bei meinen zahlreichen Gesprächen in den vergangenen
zwei Jahren zur Beförderung des Antrags habe ich die
Erfahrung gemacht: Heute sind alle, ob Kritiker oder Befürworter, in ihrer geschichtlichen Betrachtung differenzierter geworden als in der Vergangenheit. Sie sind viel
bereiter, dem ermutigendem Freiheits- und Einheitsgedanken einen höheren Stellenwert einzuräumen. Auch
das ist ermutigend.
Herr Kollege, Sie denken bitte an die Redezeit - trotz
des wichtigen Themas.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss.
Kein Text fasst dieses Ideal von Freiheit schöner als
das Volkslied aus dem Jahr 1780, dass 1848 verboten
wurde: Die Gedanken sind frei. Darin heißt es in der dritten Strophe:
Und sperrt man mich ein
im finsteren Kerker,
das alles sind rein
vergebliche Werke.
Denn meine Gedanken
zerreißen die Schranken
und Mauern entzwei:
Die Gedanken sind frei!
Bitte stimmen Sie mit für das Denkmal für Freiheit
und Einheit hier in der Hauptstadt!
({0})
Das Wort erhält nun der Kollege Gunter Weißgerber,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es redet
ein Leipziger, und daher meinen viele, dass es lokalpatriotisch zugeht. Überhaupt nicht!
Für mich ist es undenkbar, in Leipzig ein Denkmal
hinzustellen und es in Berlin nicht zu tun. Die deutsche
Nachkriegsgeschichte ist für mich ohne die geteilte Stadt
Berlin, ohne die Blockade, ohne den Volksaufstand,
ohne den Mauerbau, ohne die Ostberliner Untergrundszene und ohne den Sturm auf die Umweltbibliothek
überhaupt nicht denkbar. Deshalb gehört nach Berlin auf
jeden Fall ein ganz wichtiges Denkmal, und zwar dieses.
Deshalb verstehe ich überhaupt nicht, warum die Linke
die Geschichte so verkürzt.
Klar ist natürlich: Der Mauerfall, der auch mit Berlin
zusammenhängt, ist eine Folge von Ereignissen, die sich
speziell im Herbst 1989 in Ostdeutschland vor allem in
der Provinz abgespielt haben; aber natürlich auch in Ostberlin; ich denke an die Gethsemanekirche. Die ganzen
Bilder habe ich noch vor mir. Ich habe vor dem Fernseher mitgelitten. In der Provinz aber ging die Bewegung
los, speziell in Leipzig. Sie werden in Ostdeutschland
fast niemanden finden, der nicht sagen wird - egal wo er
wohnt und wo seine Demonstrationen stattfanden -: eigentlich Leipzig. Dort hat sich nämlich alles fokussiert.
Es waren ja nicht nur 70 000 Leipziger am 9. Oktober 1989 auf der Straße. Es waren auch viele von auswärts dabei. Sie sind nach Leipzig gefahren, weil klar
war: Von dort ist das Signal am mächtigsten. Aus diesem
Grunde und deshalb, weil der Ruf „Wir sind das Volk“ in
Leipzig entstanden ist - daraus wurde: „Wir sind ein
Volk“; wir sind jetzt ein Volk in einem freien Land; wunderbar! -, haben wir diesen Änderungsantrag vorgelegt.
Ich bedanke mich ausdrücklich bei denjenigen, die
mir hierbei Unterstützung erwiesen haben. Es sind übrigens nicht nur Sachsen; die Kolleginnen und Kollegen
kommen aus allen Bundesländern, aus Ost wie West. Die
Unterstützung vollzieht sich also auf nationaler Ebene
und nicht nur auf regionaler Ebene. Dafür bedanke ich
mich.
({0})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Klaas Hübner, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Gunter Weißgerber, ich kann gut
verstehen, dass man darauf hinweist, dass die friedliche
Revolution, die zur Einheit geführt hat, in Gesamtostdeutschland stattgefunden hat und dass ihrer überall gedacht werden soll. Aber wir haben heute über den
Antrag zu entscheiden, ein bestimmtes Denkmal zu errichten, und zwar hier in der Hauptstadt Berlin. Richard
Schröder hat gesagt:
Berlin [ist] die Hauptstadt des Landes und damit
auch die Hauptstadt unserer Erinnerungskultur.
Wir entscheiden heute über einen entsprechenden Antrag. Deshalb möchte ich darum bitten, ihm in der vorliegenden Fassung zuzustimmen.
Das enthebt uns nicht der Notwendigkeit der Diskussion, gemeinsam mit den Landesregierungen und den
Menschen darüber nachzudenken - einer meiner Vorredner hat es gesagt -, wie man auch an anderen Orten eine
Stätte des Erinnerns und des Ehrens dessen, was 1989
geschehen ist, in geeigneter Weise errichten kann.
({0})
Ich möchte im Rahmen des Jahresberichts zum Stand
der deutschen Einheit noch auf einen ganz anderen Aspekt eingehen. Die Wirtschaftskraft Ostdeutschlands ist
in den letzten 17 Jahren deutlich gestiegen. Wir haben
zwar heute nur 70 Prozent der Wirtschaftskraft des Westens; aber immerhin haben wir sie. Dass wir in den letzten 17 Jahren so weit gekommen sind, ist eine gewaltige
Leistung des Gesamtstaates. Es ist nicht nur eine Leistung Ostdeutschlands, sondern sie ist auch geprägt von
der Solidarität des Westens, wofür ich mich an dieser
Stelle ausdrücklich bedanken will.
Wir müssen aber weiterkommen. Wir müssen Chancen ergreifen, um schneller an die durchschnittliche
Wirtschaftskraft Gesamtdeutschlands aufzuschließen.
Dabei muss man erkennen, dass uns das nur sehr schwer
gelingen wird, wenn wir versuchen, den Aufholprozess
dadurch zu generieren, dass wir parallele Strukturen zu
bestehenden Industriezweigen aufbauen. Solche Industrien hätten sich nachher in einem Verdrängungswettbewerb zu behaupten.
Es wird vielmehr notwendig sein, dass wir in Ostdeutschland Forschung und Innovationen bei neuen
Technologien fördern und damit auf neue Märkte vorstoßen; denn dort, wo neue Märkte entstehen, ist es am einfachsten, entsprechend zu wachsen und schnell an die
Spitze zu kommen. Darum haben die Koalitionsfraktionen in ihrem Entschließungsantrag zum Jahresbericht
zum Stand der deutschen Einheit einen besonderen
Schwerpunkt auf eine verstärkte Förderung von Forschung und Innovationen in den neuen Bundesländern
gelegt. Hierin sehe ich eine Chance, Ostdeutschland
nach vorne zu bringen.
({1})
Es gibt gute Beispiele dafür, in welchen Bereichen
uns dies schon gelungen ist. Ich denke an den Bereich
der erneuerbaren Energien und an den Bereich der Solarzellentechnologie. In meinem Wahlkreis hatten vor
sieben Jahren zehn junge Leute die Idee, eine Solarzellenproduktion aufzubauen. Sie haben damals zu zehnt
angefangen. Heute beschäftigen sie in ihrer eigenen
Firma 1 500 Mitarbeiter. Das hat mittlerweile zu
weiteren Investitionen aus Kanada und den USA in die
Region um Wolfen und Thalheim bei Bitterfeld geführt. Insgesamt sind in diesem Bereich dort heute
5 000 Menschen beschäftigt.
({2})
Nach den jetzigen Investitionsplanungen ist fest davon
auszugehen, dass im Jahre 2010 10 000 Menschen in einem vollkommen neuen Technologiebereich einen Arbeitsplatz haben werden.
Das zeigt: Es lohnt sich, in neue Technologien zu investieren. Es lohnt sich auch, das von staatlicher Seite
durch eine gute Förderpolitik zu begleiten. Dies bringt
den Menschen etwas. Dies führt zur Schaffung von Arbeitsplätzen und ist gut für die neuen Bundesländer.
({3})
In diesem Zusammenhang möchte ich auf einen
Punkt hinweisen, der auch Bestandteil unseres Entschließungsantrages ist. Er betrifft die Verstetigung dessen, was wir GA-Mittel-Förderung nennen. Hierbei geht
es um eine Investitionsförderung, die die zielgenaueste
ist, die wir haben. Denn hier werden Investitionen gefördert, die zur Schaffung von Arbeitsplätzen führen. Die
Mittel für dieses zielgenaue Instrument sollten wir auf
möglichst hohem Niveau verstetigen. Das bietet uns die
beste Gelegenheit, eine zielgenaue Wirtschaftspolitik zu
betreiben. Insofern bitte ich den Haushaltsausschuss,
noch einmal zu überdenken - ich weiß, dass das in Zeiten, in denen die Steuerschätzung nicht so gut ausfällt,
wie man sich das wünscht, schwierig ist -, ob man nicht
eine Verstetigung der Mittel auf altem Niveau erreichen
kann. Ich glaube, dies wäre gut für die neuen Bundesländer.
({4})
Sicherlich sollten wir gerade bei einer Debatte um die
deutsche Einheit nicht verschweigen, dass es noch Probleme gibt. Wir sollten aber vor allen Dingen auf die Erfolge und auf die ungemeinen Chancen der vor uns
liegenden Entwicklung hinweisen. Wir sollten den Menschen keine Angst machen, sondern Mut machen, diese
Chancen zu ergreifen. Dadurch, dass sich die Europäische Union nach Osteuropa erweitert hat, hat die Zahl
der Menschen in Europa um 20 Prozent, die Wirtschaftskraft aber nur um 5 Prozent zugenommen. Das heißt,
hier ist ein Potenzial, das noch entwickelt werden kann
und entwickelt werden muss. Das ist ein Wachstumspotenzial direkt an der Grenze der neuen Bundesländer,
das wir als Chance begreifen sollten und nutzen müssen.
Die EU-Erweiterung stellt für die neuen Bundesländer in
erster Linie nicht ein Risiko, sondern eine Chance dar.
Lassen Sie uns das den Menschen sagen! Lassen Sie uns
ihnen Mut machen. Ich glaube, das haben die Menschen
in Ostdeutschland, aber auch in Gesamtdeutschland verdient.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/6500 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Entschließungsanträge auf den Drucksachen 16/7014 und 16/7015 sollen an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Sind
Sie damit einverstanden? - Das sieht so aus. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen unter dem Tagesordnungspunkt 33 b zur
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung zu dem Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit 2006 und zu
dem Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU
und SPD zu diesem Bericht.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4041, in Kenntnis der Unterrichtung auf Drucksache 16/2870 den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf
Drucksache 16/3310 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich der Stimme? - Die Beschlussempfehlung ist
mit Mehrheit angenommen.
Unter Punkt 33 c unserer Tagesordnung geht es um
die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur
und Medien auf der Drucksache 16/6974.
Wir kommen zunächst zu dem Antrag der Fraktionen
der CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache 16/6925
sowie zum Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD auf Drucksache 16/6776 mit gleichlautenden Titeln: Errichtung eines Freiheits- und Einheits-Denkmals.
Unter Buchstaben a und b empfiehlt der Ausschuss,
die genannten Anträge zusammenzuführen und in der
Fassung des Antrags auf Drucksache 16/6925 anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Abgeordneten
Gunter Weißgerber, Rainer Fornahl, Simone Violka und
weiterer Abgeordneter vor. Darüber stimmen wir nun
zunächst ab. Wer für diesen gerade genannten Änderungsantrag auf Drucksache 16/7047 stimmt, den bitte
ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich der Stimme?
({0})
- Das Präsidium ist sich einig, dass die Mehrheit knapper war, als vermutet wurde, dass aber das Zweite erkennbar die Mehrheit war. Das heißt, der Änderungsantrag ist damit abgelehnt.
Ich erlaube mir in diesem Zusammenhang den Hinweis, der im Übrigen in der Debatte von verschiedenen
Rednern vorgetragen worden ist, dass niemand ernsthaft
erwartet, dass mit dem heutigen Beschluss die Debatte
zu Ende ist. Sie soll damit ausdrücklich auf eine möglichst breite Basis gestellt werden.
({1})
Ich darf noch darauf hinweisen, dass mir zu der Ab-
stimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses eine persönliche Erklärung zum Abstimmungsver-
halten nach § 31 unserer Geschäftsordnung von den
Kollegen Gunter Weißgerber und Rainer Fornahl vor-
liegt.1) Die nehmen wir selbstverständlich zu Protokoll.
Wir stimmen jetzt über die Beschlussempfehlung ab,
also über die Zusammenführung der Anträge und Annahme
in der Fassung des Antrages auf Drucksache 16/6925. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Das war jetzt zweifellos
eindeutiger. Das Erste war die Mehrheit. Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen.
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrages der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/6926 mit dem Titel „Errichtung eines
Denkzeichens mit Dokumentationszentrum zur Erinne-
rung an die friedliche Revolution 1989“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit
eindeutiger Mehrheit angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrages der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/6927 mit dem Titel „Diskussionsprozess
über ein Freiheits- und Einheitsdenkmal unter breit an-
gelegter Beteiligung der Öffentlichkeit initiieren“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfeh-
lung ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen ange-
nommen.
Ich rufe nun die Zusatzpunkte 11 und 12 auf:
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Fritz
Kuhn, Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Tempolimit 130 km/h auf Autobahnen sofort
einführen
- Drucksache 16/6894 -
ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Dagmar Enkelmann, Dr. Gesine Lötzsch,
Dorothee Menzner, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
1) Anlage 3
Präsident Dr. Norbert Lammert
Schnellstmögliche Einführung eines generellen
Tempolimits von 130 Stundenkilometern auf
Bundesautobahnen
- Drucksache 16/6932 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Diese Beratung unterscheidet sich von der vorherigen
auch dadurch, dass der Antrag auf schnellstmögliche
Umsetzung bei dem eben mit Mehrheit beschlossenen
Antrag nicht gestellt wurde.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich um
schnellstmögliche Herstellung der nötigen Aufmerksamkeit bei denjenigen, die an dieser Debatte teilnehmen
können und wollen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Fritz Kuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte mit zwei Zitaten beginnen:
Wir wollen die steuerliche Besserstellung hochverbrauchender Dienstwagen abschaffen.
Ein schneller und unbürokratischer Weg zum Klimaschutz ist die Einführung einer allgemeinen Geschwindigkeitsbegrenzung von 130 km/h.
Das ist vor wenigen Tagen auf dem SPD-Parteitag in
Hamburg so beschlossen worden.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich
will Ihnen sagen, dass wir diesen Beschluss gut finden.
In unserem Programm haben wir uns zwar für ein Tempolimit von 120 km/h ausgesprochen, heute beantragen
wir aber die Umsetzung Ihres Beschlusses. Ich will deutlich machen, aus welchen Gründen wir das tun. Im Wesentlichen sprechen vier Gründe für diese Position:
Erstens. Ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen
bringt sofort - ich betone: sofort - eine Reduktion der
CO2-Emissionen um mindestens 2,5 Millionen Tonnen
jährlich.
({1})
Das entspricht immerhin 7 bis 8 Prozent der durch Pkws
auf Autobahnen verursachten Emissionen.
Der zweite Grund ist, dass ein Tempolimit auf Autobahnen die Zahl der Verkehrstoten reduzieren würde.
Von den jährlich 600 Verkehrstoten auf Autobahnen in
Deutschland könnte ein Viertel - das besagt eine Studie,
die im Auftrag der Brandenburger Landesregierung entstanden ist - gerettet werden. Das ist ein elementarer
Grund. An dieser Stelle frage ich immer wieder die
Union und die FDP: Wieso weichen Sie diesem Grund
immer aus? Wieso wollen Sie diesen sachlichen Grund
nicht zur Kenntnis nehmen? Wir können Menschenleben
retten. Ich fordere die CDU/CSU auf, dies zu tun.
({2})
Der dritte Grund ist nicht minder wichtig: Es würde
weniger Staus auf unseren Autobahnen geben;
({3})
denn Staus entstehen, wenn Fahrer mit sehr hohen Geschwindigkeiten auf Fahrer mit niedrigerer Geschwindigkeit stoßen. Der Verkehrsfluss würde durch ein Tempolimit also harmonisiert. In der Studie, die gestern von
der Brandenburger Regierung vorgestellt wurde, wurde
das empirisch untersucht. Sie kommt zu dem Ergebnis,
dass bei einem Tempolimit von 130 km/h auf einer
sechsspurigen Autobahn pro Tag 7 200 Fahrzeuge mehr
durchkämen, sich der Verkehrsdurchfluss also entsprechend erhöhen würde, und zwar, weil die Harmonisierung des Verkehrs durch ein Tempolimit gegeben wäre.
({4})
Der vierte Grund - wenig diskutiert in der Öffentlichkeit, aber ich will ihn nennen -: Stress und Aggressionen würden abgebaut, und vor allem für ältere Menschen wären die Autobahnen wieder leichter benutzbar.
({5})
Ich richte folgende Frage an die CDU/CSU: Wenn wir
eine alternde Gesellschaft haben und auch mehr ältere
Menschen auf den Autobahnen fahren, muss man dann
nicht irgendwann einmal von diesem Hochgeschwindigkeitswahn abkommen, der nur noch in Deutschland, aber
sonst nirgendwo in Europa stattfindet?
({6})
Deswegen sage ich denen von der FDP, die jetzt hier
geifern - den jungen Mann kannte ich bisher noch gar
nicht -: Das Tempolimit in Deutschland wird kommen,
so wie das Rauchverbot in den Gaststätten gekommen
ist. Sie können sich noch ein Weilchen dagegen wehren,
aber die Vernunft wird sich an dieser Stelle schlicht und
einfach durchsetzen.
({7})
Ich möchte zu zwei Gegenargumenten kommen, die
immer vorgebracht werden. Das erste Argument, das
auch von Umweltminister Gabriel in Interviews genannt
wird, ({8})
- vielleicht steckt er im Stau, weil wir kein Tempolimit
haben; das kann man in seinem Fall nicht wissen ({9})
lautet: Die CO2-Einsparungen in Höhe von
2,5 Millionen Tonnen durch ein Tempolimit seien zu wenig, man müsse die CO2-Emissionen um 270 Millionen
Tonnen reduzieren, um die Klimaschutzziele zu erreichen. Ich kann nur sagen: Das ist ein absurdes Verständnis dessen, wie wir Klimaschutz in Deutschland betreiben sollten.
({10})
Denn es ist doch klar, dass wir alle Maßnahmen brauchen. Wir sind doch nicht in der komfortablen Situation,
uns von 20 Maßnahmen drei auszusuchen. Klimaschutz,
die Reduzierung um 270 Millionen Tonnen erreichen
wir nur, wenn wir alle Maßnahmen anpacken.
Im Übrigen hat man - auch Frau Merkel und Herr
Gabriel - uns immer erzählt, das Gebäudesanierungsprogramm - es ist wirklich gut - sei ein so tolles Programm,
das man unbedingt machen müsse. Es sei ein Glanzstück
des Klimaschutzes. Dieses Programm hat im Jahr 2006
1 Million Tonnen CO2 eingespart. Warum sind
2,5 Millionen Tonnen plötzlich zu wenig, wenn bei anderen Programmen 1 Million Tonnen eine riesige und
gute Zahl ist?
({11})
Deswegen sage ich an die Adresse der Bundesregierung:
Wer ein wirkliches Klimaschutzprogramm umsetzen
und verwirklichen will, kommt an einem Tempolimit auf
den deutschen Autobahnen nicht vorbei.
({12})
Das zweite Argument ist industriepolitischer Art. Es
wird gesagt, die deutsche Automobilindustrie könne nur
auf dem heutigen Stand weiter exportieren, wenn wir
kein Tempolimit haben, weil auf unseren Fahrzeugen
das Marketinglabel „Tested on the German Autobahn“
stehen müsse. Dazu kann ich nur sagen: Wer die Realität
der Exporte der deutschen Automobilindustrie kennt,
der weiß, dass das eine absurde Konstruktion ist. Porsche exportiert vorwiegend in die Vereinigten Staaten,
die ja nun nachgerade ein Tempolimit der Sonderklasse
haben. Daran kann es also wirklich nicht liegen.
({13})
Außerdem produziert der größte Konkurrent der deutschen Automobilindustrie, Toyota, in Japan, wo es ein
Tempolimit von 110 km/h gibt. Die Automobilindustrie
kann also durch eine allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen nicht so sehr geschwächt werden.
({14})
Es geht, glaube ich, um eine ganz einfache Frage.
Wenn wir eine Geschwindigkeitsbegrenzung hätten,
würde der Drang, immer größere, schnellere und aufgrund der Sicherheitstechnik schwerere Autos zu bauen,
endlich aufhören. Es würden endlich ein vernünftiges
Downsizing und ein Wettbewerb um das ökologischste
Auto stattfinden. Das geht ohne Tempolimit nicht ohne
Weiteres.
Ich will zum Schluss sagen: Manches ist einfach eine
Angewohnheit, die man nicht so gerne aufgeben will.
Ich darf Frau Nahles von der SPD zitieren.
({15})
Kollege Kuhn, das müssen Sie sich bitte aufheben.
Sie haben Ihre Redezeit schon überschritten.
({0})
Es dauert eine halbe Minute, Frau Präsidentin.
Ein letzter Satz!
Frau Nahles sagte nach dem Parteitag:
Aber ich fahre gerne auch mal schnell Auto, wo das
möglich ist. Auf meine Lieblings-Rennstrecke auf
der A 48 würde ich nur sehr ungern verzichten.
Frau Nahles, ich kann nur sagen: Das ist ein Fall für die
Drogenbeauftragte der Bundesregierung.
({0})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege
Storjohann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kuhn hat uns eben eine Studie aus Brandenburg zum Besten gegeben, mit der er als Beispiel die
sechsspurigen Autobahnen anführte. Ich hatte vor meinem Auge jetzt überprüft, wo wir in Schleswig-Holstein
sechsspurige Autobahnen haben und wo sich die Grünen
jemals für einen sechsspurigen Autobahnausbau ausgesprochen hätten. Deswegen gibt es einen Konflikt: Sie
werden die Verkehrssicherheit insgesamt forcieren
müssen, aber dann müssen Sie auch den Ausbau von
Straßen bei uns unterstützen.
Knapp 23 Jahre ist es her, da beantragten die Grünen
im Deutschen Bundestag aus Gründen des Umweltschutzes und der Verkehrssicherheit ein Tempolimit von
100 km/h; das war in der 10. Wahlperiode 1985. In der
11. Wahlperiode, im September 1988, beantragten die
Grünen Tempo 100 als Maßnahme gegen Luftverschmutzung und Gesundheitsgefährdung wegen fotochemischen Smogs. In der 12. Wahlperiode, im September
1993, wollten die Grünen dann 20 km/h mehr, also
Tempo 120 durchsetzen. Grund war diesmal die Bekämpfung des Waldsterbens.
({0})
In der 13. Wahlperiode, im Oktober 1997, wollten die
Grünen für Pkw bis 2,8 Tonnen Gesamtgewicht
Tempo 100 auf Autobahnen und für alle anderen
Tempo 80 einführen. Diesmal musste unter anderem die
neue Erscheinung wilder Straßenrennen dafür herhalten,
wie es in dem damaligen Antrag hieß. In der 14. und der
15. Wahlperiode stellten die Grünen gar keinen Antrag
zum Tempolimit.
({1})
- Da regierten sie.
Meine Damen und Herren von den Grünen, wenn Ihnen wirklich an einem allgemeinen Tempolimit gelegen
wäre, dann hätten Sie als Regierungspartei sieben Jahre
Zeit dafür gehabt, es einzuführen. Stattdessen stellen Sie
jetzt, in der 16. Wahlperiode und wieder in der Opposition, in einem Jahr bereits den zweiten Antrag zum Tempolimit.
Ihrem Anliegen eines Tempolimits erweisen Sie eigentlich einen Bärendienst. Es geht Ihnen gar nicht um
die Sache, sondern um das Vorführen unseres Koalitionspartners SPD.
({2})
Das ist keine seriöse Politik.
({3})
Anfang des Jahres wollten Sie als klimapolitische Sofortmaßnahme Tempo 120 auf allen deutschen Autobahnen. Jetzt wollen Sie wieder Tempo 130. Wer diesen
Zickzackkurs noch nachvollziehen kann, möge sich bitte
melden.
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Fraktion
lehnt ein allgemeines Tempolimit auf den deutschen Autobahnen ab.
({4})
Für den Klimaschutz würde ein generelles Tempolimit auf Autobahnen kaum erkennbare Verbesserungen
bringen. Die BASt hat im Jahre 1992 berechnet, dass
rund zwei Drittel der Fahrleistungen auf Autobahnen mit
Geschwindigkeiten unter der Richtgeschwindigkeit von
130 km/h abgewickelt werden. Damals wurde festgestellt, dass nur etwa 13 Prozent aller von Personenkraftwagen erbrachten Fahrleistungen mit Geschwindigkeiten von über 150 km/h gefahren werden.
Seit der Erhebung vor 15 Jahren hat sich das Verkehrsaufkommen auf unseren Straßen jedoch um ein
Vielfaches erhöht. Das bedeutet, dass schon heute auf
vielen Streckenabschnitten gar nicht mehr schneller als
mit Tempo 130 gefahren werden kann. Das gilt insbesondere an Autobahnkreuzen, in der Nähe von Städten
und in Ballungszentren.
({5})
Darüber hinaus sind heute bereits knapp 40 Prozent
des Autobahnnetzes dauerhaft oder durch Baustellen geschwindigkeitsbeschränkt. Auf knapp 10 Prozent des
Netzes werden Geschwindigkeitsbeschränkungen
durch Verkehrsbeeinflussungsanlagen in Abhängigkeit
von Verkehrsdichte oder Wetterlage angeordnet. Damit
unterliegt knapp die Hälfte des deutschen Autobahnnetzes faktisch schon heute einem Tempolimit.
Außerhalb dieser Bereiche gibt es keinen vernünftigen Grund, ein allgemeines Tempolimit einzuführen schon gar nicht aus Gründen der Verkehrssicherheit. Unsere Autobahnen sind die bei Weitem sichersten Straßen
in Deutschland.
({6})
Auf den Bundesautobahnen werden rund 31 Prozent
aller in Deutschland von Kraftfahrzeugen gefahrenen
Kilometer zurückgelegt. Der Anteil an Verkehrstoten
liegt auf den Bundesautobahnen bei etwa 12 Prozent und
ist somit im Vergleich zu allen anderen Straßen wesentlich geringer.
({7})
- Ja, er ist noch zu hoch. Deswegen arbeiten wir an vielen Konzepten, und natürlich muss auch der Kontrolldruck erhöht werden. All das wollen wir gemeinsam anpacken.
60 Prozent aller tödlichen Verkehrsunfälle - dieser
Anteil ist viel zu hoch - geschehen auf Landstraßen; hier
gibt es übrigens ein allgemeines Tempolimit von
100 km/h. Danach folgen mit 28 Prozent die Unfälle, die
innerorts passieren; hier gilt ein allgemeines Tempolimit
von 50 km/h. Auf den deutschen Autobahnen verunglücken rund 7,5 Prozent aller Verkehrsteilnehmer. Lediglich 6 Prozent aller Unfälle mit Personenschaden ereignen sich hier. Daher sollten Tempolimits auf
Autobahnen nur an bekannten Unfallschwerpunkten und
bei hohem Verkehrsaufkommen angeordnet werden. In
der Studie aus Brandenburg wurde deutlich, dass die Anordnung eines Tempolimits von 130 km/h auf dem langen Abschnitt vor Berlin durchaus sinnvoll war und sich
im Nachhinein als sehr richtig erwiesen hat.
({8})
Geschwindigkeitsbeschränkungen müssen für den
Verkehrsteilnehmer immer nachvollziehbar sein.
({9})
Bereits heute leisten verkehrsabhängige Streckenbeeinflussungsanlagen, mit deren Hilfe die Anordnung von
Geschwindigkeitsbeschränkungen und Überholverboten
situationsabhängig geregelt werden kann, einen großen
Beitrag zu einem optimalen Fahrverhalten.
({10})
Dadurch wird der Verkehrsablauf auf unseren Autobahnen verbessert und die Verkehrssicherheit erhöht.
Die CDU/CSU spricht sich für den verstärkten Ausbau elektronischer Verkehrsbeeinflussungsanlagen
entlang unserer Autobahnen aus. Im Bundeshaushalt für
dieses Jahr haben wir für den Bau solcher Anlagen
30 Millionen Euro vorgesehen. Eine flexible Geschwindigkeitsregelung ermöglicht, dass die Autofahrer ihr
Fahrtempo an die jeweilige Verkehrssituation und an die
Umfeldbedingungen wie das Wetter und den Straßenzustand anpassen.
Untersuchungen haben ergeben, dass die Zahl der Unfälle beim Einsatz elektronischer Verkehrsbeeinflussungsanlagen um 20 bis 30 Prozent zurückgegangen ist.
Das hat auch zur Folge, dass diese flexible Regelung bei
den Autofahrern große Akzeptanz erfährt.
({11})
Diese Flexibilität erlaubt im Gegensatz zur Anordnung eines starren Tempolimits, dessen Einführung
Grüne und Linke heute vorschlagen, die optimale Nutzung der Autobahn. Ein allgemeines Tempolimit ist im
Gegensatz zur Anordnung der Geschwindigkeit durch
Verkehrsbeeinflussungsanlagen nicht sinnvoll. Es muss
alles vermieden werden, wodurch die Attraktivität der
sichersten Straße in Deutschland, nämlich der Autobahn,
beeinträchtigt werden könnte.
({12})
Durch Einführung eines allgemeinen Tempolimits würde
diese Attraktivität geschmälert.
({13})
Durch die Anordnung eines allgemeinen Tempolimits
laufen wir außerdem Gefahr, dass sich ein erheblicher
Anteil des Verkehrs auf die Landstraßen verlagert.
({14})
Meine Damen und Herren, Landstraßen sind aufgrund
des Begegnungsverkehrs besonders gefährlich. Das Risiko, auf einer Landstraße getötet zu werden, ist viermal
so hoch, wie es auf der Autobahn ist. Überdies werden
Landstraßen mit ihren häufigen Ortsdurchfahrten im Gegensatz zu Bundesautobahnen von schwach motorisierten Verkehrsteilnehmern, von Radfahrern und Fußgängern genutzt.
({15})
Eine Verlagerung des Verkehrs von Bundesautobahnen
auf Landstraßen würde eine erhebliche Gefährdung aller
Verkehrsteilnehmer nach sich ziehen und auf Kosten der
Verkehrssicherheit gehen.
Dies alles macht deutlich: Die Anträge der Grünen
und der Linken sind nicht durchdacht. Sie sind reiner
Aktionismus. Daher lehnt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Vorschläge der Linksfraktion und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen zur Einführung eines
allgemeinen Tempolimits ab.
({16})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Döring das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin schon überrascht, wie undifferenziert Sie, Herr
Kollege Kuhn, versucht haben, Ihren früheren Koalitionspartner hier durch Verwendung falscher Zahlen vorzuführen.
({0})
Ich will versuchen, ein wenig sachlicher zu bleiben und
die Zahlen zu nennen, die tatsächlich Grundlage einer
Debatte zu diesem Thema sein sollten.
Ich habe mich übrigens gefragt, was sich seit dem
20. September dieses Jahres eigentlich geändert hat. An
diesem Tag haben wir an dieser Stelle nämlich schon
einmal mit den Stimmen der Koalition und der FDP Ihre
gleichlautenden Anträge abgelehnt; dass es in dem einen
Fall um 120 km/h und in dem anderen Fall um 130 km/h
ging, sei einmal übersehen. Damals haben wir in einer,
wie ich finde, sehr differenziert geführten Debatte deutlich gemacht, warum wir diese Anträge ablehnen. Es
geht nämlich gerade nicht um das Motto „Freie Fahrt für
freie Bürger“,
({1})
sondern darum, dass man Tempolimits an Stellen, an denen sie sinnvoll sind, einführen sollte, dass man sie aber
dort, wo sie vom Fahrer bzw. vom Nutzer der Straße
eher nicht verstanden werden, nicht generell einführen
sollte. Generelle Lösungen sind nicht so gut wie ausgefeilte und strukturell richtige Lösungen. Das muss man
zur Kenntnis nehmen.
({2})
Das kann man auch belegen. Einige Zahlen sind eben
schon genannt worden. Ich gebe Ihnen recht, dass wir in
Deutschland mit 5 600 Toten zu viele Opfer durch Verkehrsunfälle haben. Wir alle arbeiten gemeinsam daran,
das zu ändern. Aber wenn wir uns das genauer anschauen, sehen wir: Weniger als die Hälfte kommt bei
Unfällen zu Tode, die durch nicht angepasste Geschwindigkeit verursacht sind. Das ist das Erste, was man zur
Kenntnis nehmen muss: Weniger als die Hälfte wird deswegen Opfer im Verkehr, weil der Unfall durch überhöhte Geschwindigkeit zustande kommt, sagt das Kraftfahrt-Bundesamt; dessen Zahlen nehme ich jetzt einmal.
Insofern sind die Hochrechnungen zu Vermeidungspotenzialen absolut falsch. Denn 40 Prozent des Verkehrs finden heute auf Autobahnen statt, und lediglich
12 Prozent der Opfer sind bei Unfällen auf Autobahnen
ums Leben gekommen. Das heißt, trotz des massiven
Verkehrsanteils der Autobahnen kommen die meisten
Menschen auf tempolimitierten Straßen zu Tode, nämlich auf Bundesstraßen und innerorts. Wie hat die SPDFraktion zu Recht in ihrem Vermerk zu dem Antrag auf
dem Parteitag geschrieben:
({3})
Die Gefahr, auf Bundesstraßen oder innerorts zu Tode
zu kommen, ist viermal so hoch wie auf Autobahnen.
Das war ein Grund, warum die SPD-Fraktion dieses
Tempolimit abgelehnt hat.
({4})
- Das war der Vermerk Ihrer Fraktion zu dem Antrag auf
dem Parteitag im letzten Jahr.
({5})
Das zweite Argument, das für ein Tempolimit ins
Feld geführt wird, ist die Verringerung der CO2-Emissionen. Ich habe schon in der Debatte am 20. September
deutlich gemacht, dass die Zahlen des Umweltbundesamtes widerlegt sind, weil das Amt von zwei falschen
Grundannahmen ausgegangen ist. Die erste Annahme,
von der das UBA ausgegangen ist, lautet: Alle, die
schneller fahren können, fahren auf den 60 Prozent der
Strecken, auf denen kein Tempolimit herrscht, auch
schneller als 130. Das ist aber, wie wir alle, die wir in
Deutschland unterwegs sind, wissen, nicht der Fall.
Viele Menschen fahren auch auf nichtlimitierten Strecken nicht schneller als 130, sodass das Minderungspotenzial eine völlig andere Basis hat.
Die zweite Annahme, von der das Umweltbundesamt
ausgegangen ist, lautet: Bei einem allgemeinen Tempolimit halten sich auch alle an dieses Tempolimit. Auch das
wird durch das, was wir täglich erleben auf deutschen
Straßen, widerlegt. Denn dort, wo wir allgemeine Tempolimits haben - auf Bundesstraßen und innerorts -, finden 75 Prozent der Verstöße gegen Tempolimits statt.
Nur etwas mehr als 20 Prozent der Verstöße gegen Geschwindigkeitsbeschränkungen finden auf Autobahnen
statt. Auch diese Zahlen stammen vom Kraftfahrt-Bundesamt. Das heißt, überall dort, wo den Menschen generelle Lösungen vorgesetzt werden und diese nicht verstanden werden, kommt es nicht zu mehr
Verkehrssicherheit und nicht zu weniger Emissionen,
sondern zum Gegenteil. Deshalb sind die Anträge wie
am 20. September abzulehnen.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Jörg Vogelsänger für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon interessant, Herr Kuhn:
Im Regierungshandeln ist alles ein bisschen schwieriger.
Wir hatten 2000, glaube ich, eine Abstimmung, bei der
ich mit dabei war, da hat ein Umweltminister Trittin so
einen Antrag abgelehnt. Das muss man sich in Erinnerung rufen.
({0})
Herr Trittin kann es ja richtigstellen, wenn ich etwas Falsches sage.
Der Bundesparteitag der SPD in Hamburg wurde
von vielen Medien begleitet. Das ist ein gutes Zeichen
für meine Partei.
({1})
Das Interesse ist auch bei den Mitgliedern des Deutschen
Bundestages immer noch sehr groß: Die Grünen und die
Linken schreiben einen Antrag nach dem anderen ab und
bringen ihn in den Bundestag ein. Besonders kreativ ist
das nicht, meine Damen und Herren. Da lobe ich mir die
FDP; die hat so etwas nicht nötig.
Die Frage einer Tempobegrenzung auf 130 km/h auf
deutschen Autobahnen wird immer sehr emotional diskutiert. Das betrifft Befürworter und Gegner gleichermaßen. Vielleicht ist heute eine gute Gelegenheit für beide
Seiten, ein wenig abzurüsten; das täte uns allen gut.
({2})
Der Beschluss auf dem Bundesparteitag der SPD wurde
in erster Linie unter dem klimapolitischen Aspekt gefasst. Dazu das Zitat:
Ein schneller und unbürokratischer Weg zum Klimaschutz ist die Einführung einer allgemeinen Geschwindigkeitsbegrenzung von 130 km/h.
({3})
Wir als SPD-Fraktion werden die Umsetzung des Beschlusses erörtern, und wir Verkehrspolitiker werden mit
unserem Koalitionspartner über ein Verkehrssicherheitspaket beraten. Das gehört sich nun einmal so.
Die Debatte über ein Tempolimit von 130 km/h hat
sowohl einen klimapolitischen als auch einen verkehrspolitischen und Verkehrssicherheitsaspekt. Mein Kollege Gerd Friedrich Bollmann ist da ein ausgewiesener
Experte und wird einige Ausführungen zum klimapolitischen Aspekt machen. Ich werde mich auf die beiden anderen Bereiche konzentrieren.
Es bleibt dabei: Die Autobahnen sind die sichersten
Straßen in Deutschland. Das sollte man hier auch nicht
wegreden. Aufgrund des Parteitagsbeschlusses haben
wir zu prüfen, ob man diese noch sicherer machen kann.
Das werden wir auch tun. Dabei ist das Tempolimit von
130 km/h nur ein Aspekt. Ich bin der festen Überzeugung, dass durch die Erweiterung der Verkehrsbeeinflussungsanlagen mit flexiblen Geschwindigkeitsregelungen ein großer Beitrag geleistet werden kann.
Darin gibt es Übereinstimmung hier im Haus. Damit
habe ich auch gar kein Problem. Das hat auch für mich
weiterhin eine hohe Priorität.
Wenn der Autofahrer nachvollziehen kann, warum
eine bestimmte Höchstgeschwindigkeit vorgeschrieben
ist, dann wird er sich auch stärker daran halten. Das ist
so. Unvernünftige Autofahrer wird es immer geben.
({4})
Hier müssen Kontrollen greifen. Auch wenn das nicht
flächendeckend möglich ist, sind die Bundesländer in
besonderer Pflicht. Leider wird in den meisten Bundesländern bei der Polizei eher Personal abgebaut. Das betrifft übrigens Landesregierungen jeder Farbe. Wenn mir
andere Beispiele genannt würden, wäre ich froh.
Im Übrigen muss das Gespräch mit den Ländern ohnehin gesucht werden. Die Einführung des Tempolimits
von 130 km/h erfordert eine Änderung des § 3 der Straßenverkehrsordnung. Dies ist nach meiner Kenntnis im
Bundesrat zustimmungspflichtig.
Die Debatte über ein Tempolimit von 130 km/h
könnte versachlicht werden, wenn neues Datenmaterial
zur Verfügung gestellt würde. Ich habe heute früh um
7.30 Uhr - es wird also früh gearbeitet - ein Gespräch
dazu mit dem Brandenburger Verkehrsminister geführt.
Das Datenmaterial wird nicht von heute auf morgen vorliegen, aber wir sollten das Bundesamt für Straßenverkehr beauftragen, neues Datenmaterial zusammenzustellen, damit wir diese Debatte noch sachlicher führen
können. Das Material ist vielfach über ein Jahrzehnt alt.
Das muss man hier einfach sagen.
Ich habe mir den § 3 der Straßenverkehrsordnung
noch einmal genau angesehen. Eine denkbare Sofortmaßnahme wäre die Herabsetzung der zulässigen
Höchstgeschwindigkeit für Kleintransporter von 2,8
bis 3,5 Tonnen.
({5})
Darüber muss man auch debattieren. Gerade diese Fahrzeuggruppe ist zunehmend in schwerste Verkehrsunfälle
verwickelt. Ich kann Ihnen hierzu Beispiele aus meinem
Wahlkreis nennen.
Eine andere Möglichkeit wäre es, die Entwicklung
des Unfallgeschehens bei dieser Fahrzeuggruppe über
die Bundesanstalt für Straßenwesen zu beobachten. Vielleicht könnte dies zu einer Versachlichung der Diskussion beitragen.
Dies wünsche ich mir auch in den Ausschüssen, wobei ich neben einer Debatte im Verkehrsausschuss und
im Umweltausschuss auch eine Debatte im Rechtsausschuss anrege.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Lutz
Heilmann das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Werte Gäste! Leider vermisse ich bei unserer Debatte
über das Tempolimit den zuständigen Fachminister.
Auch dies zeigt ganz einfach wieder, welchen Stellenwert Herr Tiefensee dieser Problematik offensichtlich
zumisst. Auch der des Weiteren mit diesem Thema befasste Umweltminister Gabriel lässt sich durch einen
Staatssekretär vertreten.
({0})
Daran sieht man, wie ernst die Bundesregierung die Klimadebatte nimmt.
Herr Storjohann, ich danke Ihnen für Ihre Zusammenstellung der Geschichte der Diskussion im Deutschen
Bundestag über ein Tempolimit. Ich komme allerdings
zu einem anderen Ergebnis: Ein Tempolimit steht auch
weiterhin auf der Tagesordnung, und es wird demnächst
kommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Tempolimit ist
in dieser Wahlperiode ein Dauerbrenner im Bundestag,
und zwar zu Recht. Die letzte Debatte ist noch nicht so
lange her; sie fand am 20. September statt, Herr Döring
erwähnte sie auch. In dieser Debatte haben CDU/CSU,
SPD und FDP wortreich erklärt - heute haben sie alles
wiederholt -,
({1})
warum Deutschland kein allgemeines Tempolimit
braucht. Die vorgebrachten Argumente sind allerdings
so wenig überzeugend, dass ich es mir erspare, erneut
darauf einzugehen.
Aber dann kam vor zwei Wochen die Kehrtwende bei
der SPD.
({2})
Auf ihrem Parteitag fasste sie den Beschluss, den der
Kollege Vogelsänger heute schon zitierte. Dazu kann ich
nur sagen: Donnerwetter! Mit diesem Beschluss nähert
sich die SPD übrigens zumindest im Bereich der Verkehrspolitik der Linken an.
({3})
Sie zeigen damit, dass Sie lernfähig sind, und Sie arbeiten daran, für die Linke koalitionsfähig zu werden. Wir
stehen gewissermaßen gemeinsam erstens für Klimaschutz und CO2-Reduzierung, zweitens für Verkehrssicherheit, weniger Verkehrsunfälle und Verkehrstote und
drittens für kleinere und sparsamere Fahrzeuge.
Aber machen wir uns keine Illusionen! Herr
Tiefensee, der jetzt nicht anwesend ist, ließ als zuständiger Fachminister kürzlich verlautbaren: „Tempolimit für
Klimaschutz nutzlos“. Ja, was denn nun, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD? Ich will Ihnen jetzt
nicht zu nahe treten; aber Sie sollten vielleicht ganz einfach einmal darüber nachdenken, ob dieser Minister
wirklich der richtige Mann ist, die Linie der Partei in der
Regierung zu vertreten;
({4})
denn nicht nur beim Tempolimit, auch beim geplanten
Verkauf von Anteilen der Bahn und bei der Besteuerung
von Dienstwagen liegt der Minister nicht nur neben unserer Linie, sondern auch neben der seiner eigenen Partei. Davon einmal abgesehen, wäre es doch eine Revolution gewesen, wenn in unserem gelobten Land des
Geschwindigkeitswahns der Verkehrsminister ein Tempolimit gefordert hätte. Aber Pustekuchen!
Sehr bedauerlich ist auch, dass selbst der Umweltminister, der sich heute ebenfalls nur vertreten lässt, in diesen Kanon einstimmt. Erst befürwortet er ein Tempolimit, um es wenige Wochen später abzulehnen.
({5})
Jetzt beginnt er ganz zaghaft, wieder eines zu fordern.
Ich zitiere ihn: Wer ein Tempolimit allein zur Begrenzung des Kohlendioxidausstoßes befürworte, laufe Gefahr, sich in unnötigen Debatten zu verzetteln. Ich denke,
der Minister hat sich hier wohl eher beim Basteln an seiner Karriere verzettelt, wenn ich die letzten Nachrichten
richtig verstanden habe.
({6})
Konsequenterweise wurde der Antrag auf dem SPD-Parteitag gegen die ausdrückliche Empfehlung des Ministers beschlossen.
Ich kann den Ministern Tiefensee und Gabriel nur sagen: Selbstverständlich dient ein Tempolimit sowohl
dem Klimaschutz als auch der Verkehrssicherheit. Ich
bin der Meinung, dass sich Deutschland endlich zu einer
Vision Zero bekennen sollte; denn jeder und jede Verkehrstote sind einer und eine zu viel.
({7})
Von daher ist es natürlich schon verwunderlich, dass sich
das Verkehrsministerium für dieses Thema nicht erwärmen kann. Dort scheint man eher der Meinung zu sein,
dass großflächige Plakate - wahlweise mit Tieren oder
mit Prominenten - wirksamer als ein Tempolimit sind.
Da ich gerade bei Tieren bin, stelle ich eine Frage an
Herrn Gabriel, die Sie, Herr Staatssekretär, an ihn weitergeben können: Was sagt eigentlich Knut im Berliner
Zoo zum Tempolimit? Hat nicht das Umweltministerium
vor zwei Tagen mit sehr viel Wirbel die nationale Biodiversitätsstrategie verabschiedet, die nach den eigenen
Aussagen des Ministers über 300 Zielvorgaben enthält?
Aber Sie streben mit dieser Strategie nur Sachen an; verpflichten wollen Sie sich zu nichts.
Ich freue mich jedenfalls, der SPD und besonders
dem Umweltminister mitteilen zu können, dass wir die
Bedeutung der Verkehrssicherheit in unserem Antrag
selbstverständlich berücksichtigt haben. Wenn also nur
der fehlende Bezug zur Verkehrssicherheit im Beschluss
der SPD der Grund für dessen Ablehnung war, dann
steht Ihrer Zustimmung zu unserem Antrag nichts im
Wege.
({8})
Ein Wort möchte ich noch an meine Kollegin aus Lübeck, Frau Hiller-Ohm, richten. Sie ist heute leider nicht
hier. Ich bedauere das sehr, da sie sich erst letzte Woche
in einer Pressemitteilung im Wahlkreis Lübeck vehement für ein Tempolimit ausgesprochen hat und sehr
engagiert dafür kämpft. Ich habe sie auch am 20. September bei der Abstimmung über unseren damaligen Antrag vermisst. Ich sage ihr trotzdem - sie verfolgt die Sitzung vielleicht am Fernsehgerät -: Frau Kollegin, lassen
Sie Ihren Ankündigungen und Pressemitteilungen endlich Taten hier in Berlin folgen! Oder sind Sie tatsächlich
der Meinung, dass die Menschen in Lübeck das nicht
mitbekommen? Die Kollegin Heidi Wright war da wesentlich konsequenter. Sie hat unermüdlich für ein Tempolimit gestritten. Dafür gebührt ihr mein Respekt und
meine Hochachtung.
({9})
Bevor hier die Freude auf der rechten Seite überhandnimmt, möchte ich ein paar Worte an die CDU/CSU
richten. Angela Merkel lässt sich gerne landauf, landab
als Klimaschützerin feiern.
({10})
Was die internationalen Beschlüsse angeht, erkennen wir
auch an, dass es Fortschritte gibt. Auf nationaler Ebene
sieht die Bilanz aber sehr dürftig aus. Das vor wenigen
Wochen mit großem Tamtam verkündete Klima- und
Energiepaket droht im Dschungel der Ressortabstimmung vom Tiger zum Bettvorleger zu mutieren. Mit ihrer eindeutigen Absage an ein Tempolimit - ich zitiere:
„Mit mir wird es das nicht geben“ - hat Frau Merkel gezeigt, dass es ihr mit dem Klimaschutz nicht ernst ist.
Ähnlich verhielt sie sich Anfang des Jahres, als sie die
deutsche Autoindustrie vor allzu strengen Anforderungen der EU geschützt hat. Das Wohl der Industrie ist ihr
wichtiger als das Wohl der Menschen und der Schutz des
Klimas.
({11})
Auf internationaler Ebene Gas geben, aber zuhause auf
der Bremse stehen: Das passt nicht zusammen, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Union.
({12})
In meiner letzten Rede zum Tempolimit erwähnte ich,
dass die Mehrheit der Deutschen den Börsengang der
Bahn ablehnt. Das Protokoll verzeichnet daraufhin „Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU“. Verständlicherweise verzeichnet es keinen Beifall von Ihnen, als ich
darauf hinwies, dass 73 Prozent der Deutschen ein Tempolimit befürworten. Verstehen Sie mich richtig: Ich erwarte nicht, dass ausgerechnet Sie mir Beifall klatschen.
Das würde mir, nebenbei bemerkt, auch zu denken geben. Sie sollten aber zur Kenntnis nehmen, dass auch
40 Prozent der Wählerinnen und Wähler der CDU/CSU
für ein Tempolimit von 130 Stundenkilometer sind. Ich
frage mich, wer diese Menschen in Ihrer Fraktion vertritt.
({13})
Abschließend erinnere ich Sie und alle, die sich - aus
welchen Gründen auch immer - gegen ein Tempolimit
aussprechen, an das heutige Datum. Heute vor 18 Jahren
fiel zu Recht die Mauer. Was kurz davor noch fast undenkbar schien, wurde Realität. Ich hoffe, dass Sie sich
heute einen Ruck geben, damit auch beim Tempolimit
das Undenkbare geschieht und die Mauer in Ihren Köpfen fällt.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche ein
schönes Wochenende.
({14})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Dr. Andreas Scheuer das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Heilmann, dass Sie als Führungskraft
in der DDR hier diesen symbolträchtigen Tag in Bezug
auf die Wiedervereinigung ansprechen, zeigt, wie schizophren Ihre Politik ist. Denn in der Republik des Trabis
fanden keine Diskussionen über Verkehrssicherheit oder
Klimaschutz und sicherlich auch nicht über ein Tempolimit statt.
({0})
Das zeigt die Doppeldeutigkeit, mit der Sie Politik machen.
({1})
Die Anträge der Grünen und der Linken zum Tempolimit sind heute wieder einmal Symbolpolitik, reine
Ideologie und parlamentarische Bewegungstherapie.
Mein Kollege Storjohann hat Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Grünen, schon den Spiegel Ihrer
politischen Geschichte in Bezug auf das Tempolimit vorgehalten. Sie waren sieben Jahre in der Regierung. Gott
sei Dank waren Sie so durchsetzungsschwach, dass Sie
das Tempolimit nicht auf den Weg gebracht haben.
Da der Herr Kollege Trittin vorhin mit Zwischenrufen
geglänzt hat, möchte ich ihn fragen, wie oft er früher
wohl unter Termindruck unterwegs war. Wenn er mit
dem Dienstwagen
({2})
- und der Flugbereitschaft; danke für den Hinweis, Herr
Kollege Koppelin - durch die Republik gereist ist, wird
er sich wahrscheinlich auch nicht an die Richtgeschwindigkeit gehalten haben.
({3})
Aber das ist die Scheinheiligkeit, mit der hier zu Werke
gegangen wird.
({4})
Ohne die Steilvorlage, die der Kollege Kuhn für seine
heutige Rede bekommen hat, hätte er die Rede wahrscheinlich gar nicht halten können, weil sie dann kein
Volumen gehabt hätte. Ein einziger Presseartikel zum
Bereich Tempolimit ist die Grundlage für seine ganzen
Ausführungen. Aber das Thema ist vielschichtiger.
Wir diskutieren hier zum zweiten Mal binnen weniger
Monate darüber. Erst musste der SPD-Parteitag stattfinden, damit die Opposition aus Grünen und Linken reflexartig aus dem Oppositionsschlaf erwacht und das
Thema aufgreift. Aber die Grundlage der Debatte sind
wieder Verbote und Limits. Ihnen fällt nichts anderes
ein, vor allem nicht, Politik auf der Basis von Selbstbestimmtheit und Eigenverantwortung zu machen. Vielleicht wird das Ganze noch darin gipfeln, dass Sie wegen
dem Ausstoß von Treibhausgasen ein Weideverbot für
Kühe beantragen, verbunden mit einem Arbeitsverbot
für Landwirte.
({5})
Wir haben attraktive Autobahnen. Sie wollen durch
solche Diskussionen diese Autobahnen in ihrer verkehrspolitischen Bedeutung degradieren,
({6})
sie unattraktiver machen und durch das Tempolimit Ausweichverkehre ermöglichen. Schauen Sie sich einmal
die Unfallzahlen an. Wir arbeiten als Verkehrspolitiker
wirklich hart daran, die Vision Zero zu erfüllen, die Zahl
der Unfälle und der Verkehrstoten weiter zu reduzieren,
weitere Verbesserungen in Europa zu erreichen. Sie können deutsche Autobahnen einfach nicht mit Autobahnen
in Italien, zum Beispiel über den Brenner, vergleichen,
die viel enger und kurvenreicher sind. Auf unseren älteren Autobahnen haben wir ohnehin schon ein Tempolimit,
({7})
eine Verkehrsregelung, die dieser Autobahnsituation angemessen ist.
Dort, wo die Richtgeschwindigkeit gilt und wo es
keine Limitierung gibt, hat man die Möglichkeit, den
Verkehr zu beschleunigen und die Mobilität zu erhöhen.
Angesichts der Zahl der Verkehrstoten sind wir uns alle
einig, dass wir weiterhin an der Reduzierung dieser Zahl
arbeiten müssen. Wenn wir aber die Zahlen von
Deutschland mit denen von Belgien, Österreich, Slowenien, Tschechien oder den USA vergleichen, dann
schneidet Deutschland - auch ohne Tempolimit - viel
besser ab.
({8})
Da ist also kein Zusammenhang festzustellen.
Meine Damen und Herren, bezogen auf den Gesamtkraftstoffausstoß ist es sehr optimistisch gerechnet, dass
der Ausstoß durch ein Tempolimit um 1,4 Prozent reduziert werden würde. Das Tempolimit würde allerdings zu
einer unverhältnismäßig massiven Gängelung der Bürgerinnen und Bürger führen. Das halte ich für falsch.
Umwelt- und Klimaschutz dürfen nicht reflexartig und
blindwütig gemacht werden, sondern müssen sich an
Realität und Vernunft anpassen.
({9})
Bezogen auf Verkehrssicherheit und Klimaschutz ist
ein Tempolimit die falsche Antwort.
({10})
Das Tempolimit ist unsinnig in Bezug auf die Verkehrssicherheit, mobilitätspolitisch nachteilig und geht umweltpolitisch ins Leere. Führen wir doch lieber
Verkehrssicherheitstrainings mit einem Spritsparmodul
durch, vielleicht sogar verpflichtend.
({11})
Es wird alles Mögliche angeboten, auch intelligente Verkehrsleitsysteme, die flexibel und innovativ sind. Setzen
wir uns an die Spitze der Bewegung, damit wir in
Europa mit diesen Verkehrsleitsystemen weiterhin
Marktführer sind!
Ein Appell an die Medien zu der Raserdarstellung.
Frau Kollegin Künast, Sie machen ja immer die Andeutung, dass die unbeschränkte Geschwindigkeit gerade
für Männer wichtig sei, quasi als Potenzmittel.
({12})
Es ist wirklich schäbig, wenn Sie so argumentieren.
Denn die Berichte in den Medien über Raser, die mit einem großen Wagen durch das Land fahren und dabei
ständig Gas geben, sich also unter dem Aspekt der Verkehrssicherheit unvernünftig verhalten, zeichnen kein
vollständiges Bild der Realität. Sehr viele Bürgerinnen
und Bürger halten sich an die Richtgeschwindigkeit. Die
Durchschnittsgeschwindigkeit liegt unter 100 km/h, bezogen auf alle Straßen. Wir sollten ausreichend Kraft haben und auf die Eigenverantwortung und die Freiwilligkeit der Bürger setzen, anstatt ständig zu gängeln und
mit Verboten zu drohen.
({13})
Hätten wir bereits ein generelles Tempolimit, wäre
das Autoland Deutschland definitiv nicht an der Spitze
bei intelligenten Verkehrssicherheitssystemen.
({14})
Schauen Sie sich die Zahlen in den USA an! Bei der dortigen Produktion der großen Klimaschutzkiller orientiert
man sich gar nicht an Verkehrssicherheitsaspekten. Wir
sind an der Spitze der Bewegung für Innovation und Klimaschutz. Wir müssen die deutsche Automobilindustrie
weiterhin auf diesem Weg unterstützen.
Herzlichen Dank.
({15})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Dr. Anton Hofreiter das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Andi, tut mir leid, aber das war unfreiwillig
komisch.
({0})
Der Vorwurf der Potenzraser hat dich anscheinend so
schwer getroffen, dass du dich rechtfertigen musstest.
Das ist hoffentlich nicht das Bild von Bayern.
Zurück zur Ernsthaftigkeit, denn es handelt sich um
ein ernstes Problem. Die Regierung spricht gerne über
den Klimaschutz und die Sicherung der Mobilität der
Bürger. Aber unsere Aussitzkanzlerin Merkel und die
traurigen Ankündigungsminister Gabriel und Tiefensee
sind noch nicht einmal in der Lage, ein Tempolimit auf
Autobahnen einzuführen.
({1})
Dabei würde ein Tempolimit CO2 in der Größenordnung
des Ausstoßes eines durchschnittlichen Kohlekraftwerkes einsparen sowie die Zahl der Toten und Schwerverletzten reduzieren. Wir behaupten sicherlich nicht, dass
allein ein Tempolimit als Klimaschutzstrategie ausreicht.
Aber es ist ein wichtiger Baustein.
({2})
Angesichts der sinkenden Rohölvorräte gefährdet
Ihre Verkehrspolitik, insbesondere die Ihres traurigen
Verkehrsministers, die Mobilität der Bürger. Ihnen liegt
offensichtlich nur etwas an der Mobilität für wenige Raser und Drängler. Ein Beispiel: Ein Porsche Cayenne
verbraucht in der Spitze fast 70 Liter auf 100 Kilometer.
Das wollen Sie weiter zulassen. Das ist ein Skandal.
({3})
So populistisch wie Sie von der CDU/CSU normalerweise sind, lassen Sie sich sagen: Die Mehrheit der Bürger ist mittlerweile für ein Tempolimit.
({4})
Im Bereich der Verkehrssicherheit ist die Nichteinführung eines Tempolimits ein Skandal. Gestern wurde
bekannt, dass die Bundesanstalt für Straßenwesen bereits
1984 geschätzt hat, dass die Zahl der Toten durch ein
Tempolimit um 20 Prozent reduziert werden könnte.
Aber wie haben alle roten und schwarzen Verkehrsminister bis heute reagiert? Statt ein Tempolimit einzuführen, haben sie diese Studie weggeschlossen und der
BASt weitere Untersuchungen verboten. Angesichts von
600 Toten sollten sie sich schämen.
({5})
Die SPD beschließt auf ihren Parteitagen immer dann
ein Tempolimit, wenn sie nicht an der Macht ist.
({6})
- Ich habe gesagt: nicht an der Macht. Sie mögen an der
Regierung beteiligt sein. Aber angesichts Ihrer traurigen
Ergebnisse muss man sagen, dass Sie nicht an der Macht
sind.
({7})
Es wird uns vorgeworfen, dass wir damals, als wir mit
8 Prozent an der Regierung und der Macht beteiligt waren, kein Tempolimit eingeführt haben. Im Vergleich zu
Ihren traurigen Ergebnissen in dieser Regierung waren
wir grandios, sogar mehr als das.
Angesichts dieser Tatsachen kann man der Mehrheit
dieses Hauses nur eines sagen: Verabschieden Sie sich
aus der verkehrspolitischen Steinzeit und führen Sie genauso wie alle anderen kultivierten Nationen ein Tempolimit für entspanntes Fahren, mehr Sicherheit und mehr
Klimaschutz ein.
({8})
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Gerd
Bollmann.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich nehme ein Ergebnis meiner Rede gleich vorweg: Sie
von den Fraktionen der Grünen und der Linken wissen
ganz genau, dass wir von der Koalition Ihren Anträgen
nicht zustimmen werden, so richtig sie auch sein mögen.
In der rot-grünen Koalition mussten Sie und wir ähnliche
Erfahrungen machen; gegen den Willen des Koalitionspartners wird nicht gestimmt. Ich würde mich auch wundern, wenn im Berliner Senat die Parteitagsbeschlüsse
der Linken eins zu eins umgesetzt würden.
({0})
Von Vorführen kann hier absolut nicht die Rede sein.
Aber in der Sache gebe ich Ihnen weitgehend recht.
Ich bin froh, dass das Thema durch den SPD-Parteitagsbeschluss wieder Fahrt aufgenommen hat.
({1})
Wenn der Parlamentarische Geschäftsführer der Union
erklärt, in dem Parteitagsbeschluss der SPD erkenne er
eine ideologisch linke Bevormundungspolitik, so muss
erstaunt festgestellt werden, dass es offensichtlich auch
in den USA diese linke Bevormundungspolitik gibt.
({2})
Darüber hinaus: Außer in Nepal, Uganda und auf der
Isle of Man hat diese linke Bevormundungspolitik offensichtlich weltweit Platz ergriffen.
({3})
In Europa ist Deutschland das letzte Land, das sich
den Luxus erlaubt, auf ein Tempolimit zu verzichten. In
allen europäischen Ländern liegen die Begrenzungen
zwischen 90 und 130 Kilometern pro Stunde. Für ein
Land, dem in der Klimafrage eine Führungsrolle zugerechnet wird, ist dies meiner Meinung nach unglaubwürdig.
({4})
Daher gilt: Ein guter Grund, der für das Tempolimit
spricht, ist der Umweltschutz. Der Ausstoß von Treibhausgasen ließe sich pro Jahr um mehr als 2,5 Millionen
Tonnen CO2 reduzieren. Das ist ein Wert, der zu einer
Zeit ermittelt wurde, als die Zahl der Kraftfahrzeuge und
deren Leistung deutlich geringer waren. Seit 1992 erhöhte sich die Zahl der zugelassenen Kfz von
36 Millionen auf 55 Millionen, das ist eine Steigerung
um mehr als 50 Prozent. Wir können also gut und gerne
davon ausgehen, dass die Einsparungen deutlich höher
wären. Es ist unverständlich, dass bis heute keine neuen
Zahlen ermittelt wurden.
({5})
Ein Tempolimit wäre eine der wenigen Maßnahmen, die
ohne jegliche Anlauf- und Investitionskosten durchzuführen wären. Die erreichten CO2-Einsparungen lassen
sich trotz aller Versuche nicht kleinreden.
Das energetische Gebäudesanierungsprogramm ist sicherlich in hohem Maße lobenswert, nicht nur allein wegen der vielen Arbeitsplätze, die dadurch geschaffen
wurden. Aber warum ist eine Einsparung von 1 Million
Tonnen CO2 bei der Gebäudesanierung und einem Einsatz von 1 Milliarde Euro viel, wenn eine Einsparung
von 2,5 Millionen Tonnen CO2 beim Tempolimit wenig
sein soll?
({6})
Das Energie- und Klimaschutzprogramm, das in Meseberg beschlossen wurde, soll unter Berücksichtigung
bisheriger Maßnahmen für CO2-Einsparungen in Höhe
von 36 Prozent gut sein. Wir brauchen aber 40 Prozent.
Das Tempolimit wäre ein weiterer, wenn auch vielleicht
kleiner Schritt hin zu diesem Ziel.
({7})
Oder anders und pragmatisch von Brandenburgs Verkehrsminister Dellmann ausgedrückt: Auch Kleinvieh
macht Mist. ({8})
Es wären keine komplizierten Verordnungen mit ellenlangen Anhängen nötig. Das zuständige Ministerium
müsste nicht ganze Abteilungen allein mit der Frage der
Durchsetzung beschäftigen, wie es vielfach bei anderen,
technisch hochkomplizierten Punkten des Klimaschutzprogramms der Fall ist. Aber der Umweltschutz geht bekanntlich über den Schutz des Klimas hinaus. So ließe
sich zum Beispiel auch der Ausstoß von Kohlenmonoxid
und anderen Schadstoffen reduzieren, und nicht zuletzt
würde auch die Lärmbelästigung abnehmen. Im Übrigen
steigt der Schadstoffausstoß ab 130 Stundenkilometern
exponentiell an.
Die Gegner eines Tempolimits führen gerne den Verlust von Arbeitsplätzen in der deutschen Automobilindustrie ins Feld. Ich weiß natürlich, dass der Verlust von
Arbeitsplätzen gern als Totschlagargument für alles
Mögliche missbraucht wird. Circa 75 Prozent der in
Deutschland produzierten Autos werden ins Ausland geliefert, und zwar nachweislich nahezu vollständig in
Länder, in denen ein Tempolimit gilt. Der größte Teil der
außereuropäischen Lieferungen geht mit mehr als einer
halben Million Autos in die USA. Glauben Sie zum Beispiel, dass viele dieser Käufer in den Vereinigten Staaten
wirklich wissen, dass wir in Deutschland immer noch
mit 200 Stundenkilometern über die Autobahn brettern
dürfen? Glauben Sie wirklich, wir verkauften auch nur
ein einziges Auto weniger, wenn in Deutschland ein
Tempolimit von 130 Stundenkilometern eingeführt wird?
({9})
Was die Zukunft der Automobilindustrie betrifft: Ein
Tempolimit würde die Entwicklungsbemühungen in
fruchtbare Bahnen lenken. Nicht mehr die Leistungsstärke wäre ausschlaggebend, sondern Umweltverträglichkeit, Komfort und Sicherheit wären die Kriterien, an
denen sich die Ingenieure messen lassen müssten. Es
gibt gar kein besseres Mittel, die Zukunftsfähigkeit der
deutschen Automobilindustrie und somit Arbeitsplätze
zu sichern.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
wir Sozialdemokraten nehmen das Thema „Tempolimit“
sehr ernst. Anträge, in denen die schnellstmögliche oder
die sofortige Einführung gefordert werden, bringen uns
aber nicht weiter, sondern schaden eher der gemeinsamen Sache. Ich bin sicher: Gute Argumente - ich bin
überzeugt, dass sie eindeutig aufseiten der Befürworter
eines Tempolimits sind - werden in Zukunft immer mehr
Menschen von der Notwendigkeit eines Tempolimits
überzeugen. Lassen Sie uns deshalb auch im politischen
Alltag das gemeinsame Ziel nicht aus den Augen verlieren!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort hat der Kollege Horst Friedrich für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als Abgeordneter, der diesem Hause schon ein bisschen
länger angehört, habe ich einmal im Archiv gestöbert
und festgestellt, dass ich vor ziemlich genau 16 Jahren
meine erste Rede zum Thema „Tempolimit“ gehalten
habe. Damals war die SPD in der Opposition, auch die
Linken, vertreten unter anderem durch die Abteilung
Bündnis 90, und es gab eine übereinstimmende Argumentation für ein Tempolimit. Die seitdem diskutierten
Fakten haben sich nicht verändert.
Erstens. Mich fasziniert, Herr Kollege Hofreiter, dass
Sie es trotz Ihres Appells, die verkehrspolitische Steinzeit zu verlassen, in der Phase von 1998 bis 2005 - damals haben Sie mit den Kollegen von der SPD offensichtlich die Grundüberzeugung geteilt, dass es besser
ist, nicht für ein Tempolimit einzutreten - nicht geschafft
haben, ein Tempolimit einzuführen. Entweder haben die
Kollegen von der SPD ihre Anträge bis 1998 nicht wirklich ernst gemeint, oder Sie haben nicht nachhaltig versucht, das Ganze umzusetzen. Ein gewisses Maß an
Glaubwürdigkeit würde Ihren Anträgen schon guttun.
({0})
Sie stellen diese Anträge immer dann, wenn es dafür
keine Mehrheit gibt. Aber wenn Sie dafür eine Mehrheit
hätten - sieben Jahre hatten Sie dafür Zeit; in dieser Phase
Horst Friedrich ({1})
ist von Ihnen kein einziger Antrag gestellt worden -, stellen Sie sie nicht. Das macht Sie nicht glaubwürdiger.
Zweitens. Herr Kollege Bollmann, Sie argumentieren
auf der Basis von 1992 und stellen die Hochrechnung an,
dass mit einem Ansteigen der Anzahl der Pkws auch die
Ersparnis größer wird. Sie sollten wenigstens zur Kenntnis nehmen, dass sich auch die Motortechnologie verändert hat, und zwar zum Positiven. Deswegen ist ein
schlichtes Hochrechnen auf der Basis von 1992 nicht
nachvollziehbar.
({2})
- Sie haben es gerade vorgerechnet. Ich habe Ihrer Rede
doch zugehört. - Dieser Punkt ist, wie gesagt, aus meiner Sicht nicht ganz nachvollziehbar.
({3})
Im Übrigen vergessen Sie hier offensichtlich, dass auf
den Autobahnen in Deutschland weder eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 130 noch von 150 Stundenkilometern oder noch schneller gefahren wird. Das ist
aus Gründen der Dichte überhaupt nicht mehr möglich.
Da Sie aus Wanne-Eickel kommen und in der Nähe des
Kölner Rings wohnen, müssten Sie eigentlich wissen,
worum es geht.
({4})
Ich bin im Übrigen gespannt, ob Sie mir wirklich einmal eine Autobahn zeigen können, auf der man noch ungestört 200 km/h fahren kann, wenn man es denn will.
Es kann ja sein, dass das morgens um 3 Uhr irgendwo
auf der A 20 möglich ist, aber Realität ist es auf deutschen Autobahnen nicht.
({5})
- Herr Kollege Kelber, weder in der Opposition noch in
der Regierung haben Sie einen Antrag für ein starres
Tempolimit gestellt. Sie versuchen jetzt, mit einer festen
Reglementierung - unabhängig von der Situation - ein
Problem zu lösen, das Sie damit nicht lösen können.
({6})
Wir sind schon immer für intelligente Verkehrsleitsysteme gewesen.
({7})
- Frau Kollegin Wright, Ihre geschätzte Kollegin Ferner
hat, als sie noch verkehrspolitische Sprecherin Ihrer
Fraktion war, alle Anträge der damaligen Koalitionsfraktionen von Union und FDP zum Thema Telematik und
intelligente Verkehrsleitsysteme abgelehnt. Sie hat geglaubt, uns mit Vorschlägen aus der Steinzeit - dazu gehörte beispielsweise das Aufstellen von Schildern übertrumpfen zu können.
({8})
- Ich orientiere mich nur an Ihrem Kollegen Hofreiter,
der von verkehrspolitischer Steinzeit gesprochen hat.
Wenn es eine verkehrspolitische Steinzeit gegeben hat,
hat es wahrscheinlich auch dementsprechende Schilder
gegeben, ganz zu schweigen davon, dass die Schilder
aufgestellt und gepflegt werden müssen, was Geld kostet.
({9})
Vor diesem Hintergrund ist es völlig eindeutig, dass
Sie diesen Antrag heute nur gestellt haben, um die SPD
zu ärgern. Das kann man als FDP gerade noch akzeptieren.
({10})
Das wird aber den Themen Unfallsicherheit, Todesrate
auf Autobahnen und Erhöhung der Akzeptanz von Vorschriften nicht gerecht.
({11})
Ihrer Glaubwürdigkeit im Hinblick auf die Durchsetzbarkeit von Anträgen im Falle einer Regierungsbeteiligung haben Sie erst recht keinen Gefallen getan.
({12})
Es bleibt wieder nur bei Schauanträgen, die nicht
ernst gemeint sind. Vielleicht sollten wir uns irgendwann
einmal ernsthaft über die Lösung der Probleme unterhalten und gemeinsam darüber nachdenken, wie wir die
Verkehrssicherheit in Deutschland über das Niveau hinaus, das wir jetzt schon haben, weiter verbessern können.
({13})
Für die Fraktion der CDU/CSU hat nun der Kollege
Dirk Fischer das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Deutschland braucht kein Tempolimit.
({0})
Die Debatte darüber ist alt. Unsere Fraktion hat ein starres Tempolimit auf Autobahnen immer abgelehnt, und
zwar aus guten Gründen.
Fakt ist, dass die deutschen Autobahnen die bei weitem sichersten Straßen sind, um die wir weltweit beneidet werden. Es gibt keinen Zusammenhang zwischen einem generellen Tempolimit und dem Sicherheitsniveau
auf Autobahnen im internationalen Vergleich. Im Gegenteil: Unsere Maßnahmen sind viel erfolgreicher gewesen
als die anderer Länder, die ein starres Tempolimit haben.
({1})
Was wirkt hier zusammen? Es sind: Verkehrsleitsysteme, die aktuelle Informationen über die jeweils
angepasste Geschwindigkeit im Sinne von § 1 der
Straßenverkehrs-Ordnung liefern; spezielle Geschwindigkeitsbeschränkungen, die es auf Autobahnen
Dirk Fischer ({2})
zahlreich gibt; ein guter Straßenbau, im Hinblick auf die
gesamte Verkehrssicherheitsbilanz ist insbesondere der
Bau von Ortsumgehungen hervorzuheben, wodurch der
Schwerlastverkehr aus den geschlossenen Ortslagen herausgehalten wird; Aufklärung und Erziehung in der
Fahrschulausbildung und danach; die hohe Qualität unserer Kfz, die sich positiv auf Sicherheit und Umwelt
auswirkt.
Ein starres Tempolimit würde zu Rückverlagerungen
des Verkehrs von den Autobahnen auf die Landstraßen
führen, die oftmals noch durch geschlossene Ortschaften
führen. Damit würden wir unserer Verkehrsunfallbilanz
einen Tort antun, denn diese Landstraßen und insbesondere die innerörtlichen Straßen sind die gefährlichsten
Straßen, die wir in Deutschland haben.
({3})
Es ist schon gesagt worden, dass der Fahrleistungsanteil auf Landstraßen 40 Prozent beträgt, sich dort aber
60 Prozent aller tragischen Unfälle mit Todesfolge ereignen, obwohl es ein starres Tempolimit von 100 km/h
gibt. Das ist fast viermal so viel wie auf unseren Autobahnen.
({4})
Das wäre ein ganz schlechter Abschlag. Das würden wir
mit der Verschlechterung unserer Verkehrsunfallbilanz
teuer bezahlen.
Man muss einmal daran erinnern: Wir hatten 1970
ohne die neuen Bundesländer, also mit einer um etwa
20 Prozent geringeren Fläche und Bevölkerung, fast
20 000 Verkehrstote. Heute liegt die Zahl leicht oberhalb
von 5 000. Das ist eine gute Entwicklung, die wir weiterführen wollen, weil jedes Leben wertvoll ist und geschützt werden muss.
({5})
Wir müssen aber alles dafür tun, dass der Verkehr gebündelt da abgewickelt wird, wo das am sichersten ist, und
das ist nun eindeutig auf den Autobahnen der Fall.
Auch für den Umwelt- und Klimaschutz ergeben
sich keine signifikanten Verbesserungen durch ein Tempolimit. Der Pkw-Verkehr ist an den CO2-Emissionen in
Deutschland mit ungefähr 12 Prozent beteiligt. Ein generelles Tempolimit von 130 km/h auf Autobahnen beträfe
nur einen begrenzten Anteil des Verkehrs,
({6})
nämlich nur den Autobahnverkehr, wo auf einem Anteil
von rund 5 Prozent unseres gesamten Straßennetzes sensationelle 32 Prozent unseres gesamten Kfz-Verkehrs
abgewickelt werden - sensationelle Bündelung! -, von
diesem wiederum nur den Pkw-Verkehr und davon nur
den Anteil Fahrleistung oberhalb 130 km/h.
Zudem sind heute bereits knapp 40 Prozent des Autobahnnetzes dauerhaft oder zeitweise geschwindigkeitsbeschränkt. Auf weiteren 9 Prozent des Netzes erfolgt
eine Geschwindigkeitsregelung über Verkehrsbeeinflussungsanlagen. Es ist schon gesagt worden: Mit unserem
Haushaltsantrag wollen wir diesen Anteil möglichst zügig deutlich erhöhen.
({7})
Der Bundesumweltminister hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es hier eher um eine Symbolpolitik geht;
denn der Mehrverbrauch, der sich aus dem Nichtvorhandensein eines starren Tempolimits auf Autobahnen ergibt, beträgt etwa 250 Millionen Liter Kraftstoff im Jahr.
Das sind rund 0,4 Prozent; bei der CO2-Emission ist das
deutlich unter 1 Prozent.
({8})
Wenn man dies so zuspitzt, als würden das Heil und das
Wohl des Landes davon abhängen, dann ist das, gelinde
gesagt, eine zu große Übertreibung, als dass man sie
ernst nehmen könnte.
({9})
Wenn überhaupt, geht es hierbei um einen marginalen
CO2-Effekt.
Gleiches gilt für den Bereich der Lärmemissionen.
Autobahnen sind hauptsächlich außerorts gelegen. Führen sie durch Wohngebiete, haben wir heute dort eigentlich überall Tempolimits in Deutschland.
Allgemein gilt, dass der Lkw-Anteil am Verkehr die
Höhe des Lärmpegels bestimmt; denn 10 Lkw erzeugen
so viel Lärm wie 100 Pkw. Das kann es also auch nicht
sein.
Umweltpolitisch wird hier eindeutig mit Kanonen auf
Spatzen geschossen. Statt starrer Verbote gilt es vielmehr, das flexible Instrument der Verkehrsbeeinflussungsanlagen noch stärker zu nutzen. Mit diesen Anlagen kann man flexibel auf Verkehrssituationen und
Witterungsbedingungen reagieren, bei denen ein Tempo
von 130 km/h viel zu hoch wäre. Ich stelle mir einmal
vor: Nebel, Glatteisbildung, und da steht „130 km/h“.
Was ist das für eine Information an den Autofahrer?
({10})
Da muss er wissen: In dieser Situation sind 30, 40,
50 km/h genug, gilt nicht das, was dort ausgeschildert
worden ist. Anders als bei einem generellen Tempolimit
können wir also aktuelle Informationen liefern. Deswegen finden solche Anlagen beim Autofahrer eine sehr
hohe Akzeptanz. Wir haben damit auf der A 5 westlich
von Frankfurt in der Gesamtentwicklung hervorragende
Erfahrungen gemacht.
Wer ein allgemeines Tempolimit fordert, muss es
auch kontrollieren können. Daher müsste die Kontrolldichte durch die zuständigen Bundesländer deutlich erhöht werden.
({11})
Dann wäre schon jetzt aufgrund geltender Regelungen
viel mehr möglich, insbesondere bei der Bekämpfung
von extremen und hochgefährlichen Regelverstößen.
Dirk Fischer ({12})
Herr Kollege Hofreiter, Sie haben hier ein Zerrbild
gezeichnet. Die deutschen Autofahrer, die deutschen
Bürger, sind nicht halbwilde Nörgler, Drängler, Raser
und, und, und. Es sind in aller Regel verantwortungsbewusste Leute. Die Einzelnen, die diesem Bild entsprechen, müssen wir herausfiltern und über entsprechende
Bußgelder, Punkte oder Fahrverbote bewirken, dass sie
den Führerschein endgültig verlieren. Denn die haben
nicht das Verantwortungsbewusstsein, das wir von Autofahrern verlangen. Da sind wir uns hier alle einig.
({13})
Deswegen spielen Sie diese extremen Verhaltensweisen
bitte nicht gegen das allgemeine Thema aus! Das ist ein
absolutes Zerrbild, das wir nicht im Raum stehen lassen
dürfen.
({14})
Es gibt leider Bundesländer, in denen eine ganz andere Tendenz vorherrscht: Dort wird die Kontrolldichte
eher verringert, als dass sie erhöht wird, was ich sehr bedauere. Wer aber immer schärfere Regelungen einführt
und immer weniger kontrolliert, macht aus dem Rechtsstaat einen Popanz nach dem Motto: Es steht zwar auf
dem Papier; aber man braucht sich nicht darum zu kümmern, es ändert sich sowieso nichts.
({15})
Lassen Sie mich abschließend kurz feststellen: Ein
Tempolimit würde die Interessen der Hersteller und der
Kunden an immer besserer Sicherheits- und Fahrzeugtechnologie eher reduzieren. Eine Antriebsfeder für den
technischen Fortschritt sollte aber sein, dass unsere
Fahrzeuge im Zweifel auch für High Speed ausgerüstet
sind, weil dies auch in anderen Geschwindigkeitslagen
eindeutig positive Wirkungen hat.
Kollege Fischer, Sie müssen bitte Ihren letzten Satz
formulieren.
Wir glauben, dass wir mit einer verbesserten Fahrzeugtechnik, der Umstellung der Kfz-Steuer von der
Hubraumbesteuerung auf die emissionsbezogene Besteuerung und dem Eintreten für Antriebsmotoren, die
den Kohlendioxidausstoß verringern - Stichworte: Erdgas, Biokraftstoffe, Wasserstofftechnologie -, die richtige Richtung einschlagen.
Herr Kollege Fischer, dazu haben wir in den Beratungen noch Zeit. Ich bitte Sie wirklich, zum Schluss zu
kommen.
Damit haben wir eine bessere Antwort auf die bestehenden Probleme als Sie mit einem starren Tempolimit.
({0})
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Heidi Wright
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Freude über den Parteitagsbeschluss der SPD
zum Tempolimit hält immer noch an, ebenso meine
Freude über die Unterstützung meiner Fraktion.
({0})
Ich danke allen, die mithelfen, dass wir an diesem wichtigen Thema dranbleiben und gemeinsam zu guten und
richtigen Ergebnissen kommen werden.
Es ist nicht so, dass die Weisheit eines SPD-Parteitages sich flugs auf alle oder gar auf unseren Koalitionspartner, die Union, überträgt. Aber es ist klar: Dieser Beschluss hat Auswirkungen auf die SPD-Fraktion.
Bei der Union strahlt mir die langjährige Erkenntnis
des Kollegen Josef Göppel entgegen.
({1})
Ich weiß: Dies hat Strahlwirkung in Ihre Fraktion. Allerdings sind die Abwehrschirme von oben noch festgezurrt
und festgespannt. Aber Sie werden sich noch wundern:
Mit der Unterstützung der Bevölkerung werden wir dieses Thema voranbringen.
({2})
Wir werden Mehrheiten dafür bekommen. Sie werden
sich noch wundern, wie viel Drive das Thema eines
Tempolimits von 130 Stundenkilometern hat.
({3})
Ich muss mich leider auf das Thema Verkehrssicherheit beschränken;
({4})
denn viele andere Punkte hat mein Kollege Gerd
Bollmann schon angesprochen. Ich will den Vorspann,
also den Hinweis auf unsere Bemühungen um gute Ansätze in der Verkehrssicherheit, weglassen und gleich zu
den harten Fakten kommen. Harte Fakten sind: mehr als
5 000 Tote - Tendenz steigend; 75 000 Schwerverletzte.
({5})
Sie erleiden Schädelhirnverletzungen, Querschnittslähmungen und Verluste von Gliedmaßen. Diese Verletzungen führen zu dauerhaften Behinderungen. 12 Prozent
dieser Verletzungen geschehen auf Autobahnen. Das
sind horrende und besorgniserregende Zahlen.
({6})
Der Verkehrsminister schlägt richtigerweise
Spritspartrainings vor. Er propagiert Antiaggressionsaktionen. Dazu werden an den Autobahnen große Plakate
aufgehängt. Darauf heißt es: „Gelassen läuft’s“ oder: Rasen ist wenig sexy.
({7})
Das besagt alles; diese Aktionen sind richtig. Was sollen
sie bewirken? Runter mit dem Tempo!
({8})
Es hilft also kein Drumherumreden. Wir sind zu
schnell auf deutschen Straßen, und zwar auf allen Straßen.
({9})
Deshalb überschreibe ich meine Vorschläge in diesem
Zusammenhang mit „Entschleunigung“. Es geht nicht
nur um ein Tempo von 130 Stundenkilometern.
({10})
Wir sind zu schnell, und bei der Verkehrssicherheit - das
ist unsere Aufgabe - bleiben wir unter unseren Möglichkeiten. Das ist tödlich. Wir brauchen ein Tempolimit.
({11})
Wir erkennen, dass wir in der Verkehrssicherheitspolitik wieder mehr bei den Menschen ansetzen müssen.
Somit heißt es im Vorspann des neuen Bußgeldkatalogs:
95 Prozent der Unfälle sind auf das Fehlverhalten des
Fahrers zurückzuführen. - Das bedeutet, dass wir die
Technik nicht wie in der Vergangenheit, in der wir uns
bei der Verbesserung der Verkehrssicherheit hauptsächlich auf die Technik verlassen haben, über alles stellen
dürfen. Technik ist das Zauberwort. Wenn es dann gar
noch als „intelligente“ Technik garniert wird - toll!
Liebe Kollegen, Technik ist nicht alles.
({12})
Ich denke, wir müssen wieder mehr die Menschen,
auch die Defizite der Menschen in den Mittelpunkt stellen. Beim Dreiklang der Verkehrssicherheit - Mensch,
Maschine und Infrastruktur - darf der Mensch nicht vernachlässigt, aber auch nicht überfordert werden. Der
Mensch macht Fehler. Bei höheren Geschwindigkeiten
- das soll doch jemand einmal widerlegen! - sind die
Fehler fataler, oft tödlich. Das ist eine Tatsache.
Leider fehlen uns in Deutschland - darauf haben viele
Kollegen hingewiesen - aktuelle Grundlagen. Ich habe
heute Morgen mit dem Präsidenten des UBA gesprochen. Präsident Troge ist beauftragt - das wird noch
konkretisiert -, neue Daten schnell zu ermitteln, sie wissenschaftlich aufzuarbeiten und uns zur weiteren Entscheidung vorzulegen. Der Präsident sagte mir, seine Erwartungen bei den Emissionseinsparungen gingen weit
über 2,5 bis 3 Millionen Tonnen hinaus.
({13})
Aber wir haben bereits Grundlagen. Es gibt die Studie
aus Brandenburg - gestern vorgelegt und heute schon
viel zitiert. Weiterhin haben wir Grundlagen in Form der
zweijährigen Unfallverhütungsberichte. Wir haben internationale Grundlagen des ETSC, des European Transport Safety Council. All diese Grundlagen lassen jetzt
schon Schlüsse zu. Diese Schlüsse drängen sich regelrecht auf.
Unangepasste Geschwindigkeit ist die Hauptunfallursache. Die Risikogruppe junge Männer - das sind
8 Prozent - verursacht ein Drittel aller Unfälle. Aber gerade diese Gruppe ist gegen ein Tempolimit. Da liegt es
doch in meiner, in unserer Verantwortung, dass wir die
Sicherheit auch dieser jungen Menschen gewährleisten. Ich habe noch so vieles aufgeschrieben und hätte vieles
zu sagen, aber die Zeit drängt mich.
Zum Schuss: Das Tempolimit wird kommen, sehr
verehrte Kolleginnen und Kollegen.
({14})
Viele sagen abschätzig: Das ist Symbolpolitik. Ja, das
ist ein gutes Symbol für unsere Verantwortung, und das
ist ein Signal für Veränderung hin zu mehr Verkehrssicherheit und zu mehr Klimaschutz.
Sprüche wie „Freie Fahrt für freie Bürger“ oder gar
„Des Deutschen liebstes Kind ist das Auto“ sind absolut
out und bewirken ein peinliches Image für Deutschland.
Kollegin Wright, der Kollege Koppelin möchte Ihnen
mit einer Zwischenfrage die Chance geben, noch etwas
zu sagen. Lassen Sie sie zu?
Ja, gut, wunderbar!
Frau Kollegin, nachdem ich Ihnen aufmerksam zugehört habe, darf ich einmal fragen, warum Sie in der Zeit,
als Sie den Bundeskanzler gestellt haben - da war es
Herr Schröder -, nicht das gemacht haben, was Sie uns
jetzt hier als Weisheit verkünden.
Das ist ganz wichtig, und ich nehme das auf meine
ganz persönliche Kappe. Wir haben damals keinen solchen Antrag gestellt. Es gab im Jahr 2000 einen Antrag
- Berichterstatter war damals Albert Schmidt von den
Grünen -, den wir damals allerdings abgelehnt haben.
Wir hatten argumentiert, wir hätten Sympathie für den
Antrag, aber die Bevölkerung würde nicht in Gänze dahinterstehen. Die Zeiten haben sich geändert, und wir
haben uns geändert. Wir werden ein Tempolimit bekommen.
Glück auf, Kollegen!
({0})
Das Wort hat der Kollege Uwe Beckmeyer für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir haben eine engagierte, manchmal ideologische, manchmal auch emotionale Debatte erlebt. Aber
ich frage den Deutschen Bundestag: Was wollen Sie
denn tun? Es ist keine Mehrheit im Deutschen Bundestag zu erwarten.
({0})
- Herr Kuhn, Ihre Initiative hat doch mit Ihrem Parteitag
zu tun - das sage ich einmal ganz nüchtern -; das ist
nicht nur Eigennutz Ihrer Partei. Das ist doch wahrscheinlich ganz persönlich motiviert. - Aber sei’s drum!
Wir haben lange nicht mehr 75 Minuten lang über dieses
Thema diskutiert. Bis zu diesem Zeitpunkt haben wir es
aber genossen.
Was tut der Deutsche Bundestag jetzt? Das ist der entscheidende Punkt. Sind wir Manns oder Frau genug, haben wir die Kraft, etwas auf den Weg zu bringen, das sowohl der Verkehrssicherheit dient als auch zu einer
Verminderung des CO2-Ausstoßes auf deutschen Autobahnen und deutschen Straßen generell führt? An dieser
Stelle möchte ich einmal sagen: Jemand, der auf einer
Landstraße oder Bundesstraße zu Tode kam, ist genauso
ein Verkehrstoter wie jemand, der auf einer Autobahn zu
Tode kam. Manchmal gewinnt man nämlich den Eindruck, die Autobahn sei eine besondere Art von Straße
und Unfälle dort seien besondere Unfälle. Ich möchte
deutlich in Erinnerung rufen, dass drei Viertel der Unfälle auf Außerortsstraßen nicht auf Bundesautobahnen
stattfinden.
Was tun wir? Die Koalition bereitet einen Antrag vor
- das kündige ich hier an -, der den Gesichtspunkten der
CO2-Reduzierung, aber auch der Reduzierung der Zahl
der Unfallschäden und Unfalltoten auf deutschen Straßen gerecht werden soll. Wir wollen eine Reduzierung
der Zahl der Unfalltoten und eine Reduzierung der CO2Emissionen. Das ist eine klare Orientierung.
In der heutigen Debatte haben Sie mitbekommen,
dass in der Koalition hinsichtlich eines generellen Tempolimits von 130 km/h auf Autobahnen keine Einigkeit
herrscht. Gleichwohl finde ich es angemessen, dass dieses Ziel in der Koalition verfolgt wird.
({1})
Wir haben uns vorgenommen, beim Fahrverhalten der
Menschen anzusetzen. In absehbarer Zeit wird ein entsprechender Antrag in den Ausschüssen des Deutschen
Bundestages beraten. Wer mit Bleifuß fährt, trägt stark
zu dem unangemessen hohen CO2-Ausstoß bei. Wenn
wir es erreichen, dass die Menschen in Deutschland ihr
Fahrverhalten ändern und selbstbestimmt ein kraftstoffsparendes Fahrverhalten an den Tag legen, kann die
CO2-Emission deutlich reduziert werden, was notwendig
ist. Wir müssen bei der Schulung von Fahrern ansetzen.
({2})
Fahrerinnen und Fahrer von Fahrzeugen mit 2,8 bis
3,5 Tonnen legen ein unangemessenes Fahrverhalten an
den Tag. Das ist eine kleine schnelle Einheit, die auf
deutschen Autobahnen eine Art Flugersatzverkehr betreibt. Das betrifft auch die Umzugsfahrzeuge auf deutschen Autobahnen. Dies muss uns nachdenklich stimmen und zu der Überlegung bringen, ob wir nicht bei
diesen Fahrzeugtypen ansetzen können, um eine Reduzierung der Unfallträchtigkeit zu erreichen.
Wir müssen uns verstärkt um den Einsatz von Fahrassistenztechniken in diesen Fahrzeugen kümmern. Das
ist möglich. Die Industrie bietet entsprechende Techniken an: Fahrzeuge mit Bremsverstärkern, die verhindern,
dass das Fahrzeug aus der Spur kommt, und Fahrzeuge,
bei denen nicht nur Haltepunkte für die Sicherung der
Ladung vorgesehen sind, sondern die echte Ladesicherungssysteme an Bord haben. Ich denke, das sind wichtige Punkte. Wir werden Ihnen das in einem Antrag präsentieren.
Wir sind dafür, dass für Kraftfahrzeuge dieser Gewichtsklasse in der Bundesrepublik Deutschland generell ein Tempolimit gilt.
({3})
Auch dazu werden wir Ihnen einen Antrag vorlegen.
Bezogen auf die Verkehrssicherheit müssen wir uns
angesichts des tatsächlichen Geschehens auf Außerortsstraßen überlegen, ob es nicht sinnvoll ist, mit Unterstützung der Länder gerade auf diesen Straßen die erlaubte
Geschwindigkeit stark zu reduzieren.
({4})
Es kann nicht sein, dass drei Viertel aller tödlichen Verkehrsunfälle durch unangemessenes Fahrverhalten, unangemessene Geschwindigkeit auf baumbestandenen
Alleen - ob es nun eine Landstraße oder eine Bundesstraße ist - verursacht werden.
({5})
Zum Schluss ein Appell des Bundestages an die Länder: Das alles ist nichts wert, wenn nicht mehr Verkehrsüberwachung stattfindet. Wir brauchen eine stärkere Verkehrsüberwachung in der Bundesrepublik
Deutschland, um der Tendenz zum Rasen bei Einzelnen
entgegenwirken zu können. Ich glaube, das ist wichtig.
({6})
Diese Koalition wird die Kraft finden, bei der Verkehrsbeeinflussung noch mehr auf die Tube zu drücken. Verkehrsbeeinflussung auf deutschen Autobahnen
gibt es heute schon. Wir haben gute Erfahrungen damit
gemacht. Aber wir wissen auch: Verkehrsbeeinflussung
bedeutet Stauvermeidung, CO2-Reduzierung und einen
Rückgang der Zahl schwerer Unfälle auf Autobahnen.
Gleichzeitig bedeutet es einen deutlichen Zuwachs an
Sicherheit.
Ich habe jetzt für die Koalition ein kleines Bündel von
Maßnahmen vorgestellt. Wir wollen im Deutschen Bundestag mit diesem Maßnahmenbündel demnächst unseren Beitrag zur CO2-Reduzierung und zur Verkehrssicherheit auf deutschen Straßen leisten.
Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 16/6894 mit dem Titel
„Tempolimit 130 km/h auf Autobahnen sofort einführen“. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht namentliche Abstimmung in der Sache. Die Fraktionen der
CDU/CSU und SPD wünschen Überweisung, und zwar
federführend an den Ausschuss für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung und mitberatend an den Innenausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie,
den Ausschuss für Gesundheit, den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, den Ausschuss
für Tourismus sowie an den Haushaltsausschuss.
Die Abstimmung über den Antrag auf Ausschussüberweisung geht nach ständiger Übung vor. Ich frage
deshalb: Wer stimmt für die beantragte Überweisung? Gegenprobe! - Gibt es Enthaltungen? - Dann ist die
Überweisung so beschlossen. Damit stimmen wir heute
über den Antrag auf Drucksache 16/6894 nicht ab.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/6932 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 13 und 14 auf:
ZP 13 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Siebenundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung
des Abgeordnetengesetzes
- Drucksache 16/6924 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
ZP 14 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Bundesministergesetzes
- Drucksache 16/5052 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die scheinbar
unentschlossen sind, ob sie an dieser Debatte teilnehmen
wollen oder andere Verpflichtungen haben, das schnell
zu entscheiden und die nötige Ruhe herzustellen, sodass
wir der Debatte folgen können.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Olaf Scholz für die SPD-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren hier über ein Thema, das große öffentliche Aufmerksamkeit genießt und für die Abgeordneten und in
der öffentlichen Diskussion nicht immer leicht ist. Dieses Thema wird zu Recht ausreichend gewürdigt. Denn
wir sind mit der besonderen Situation konfrontiert, dass
die Abgeordneten über das, was sie an Gehalt, an Diäten
und an Altersversorgung erhalten, selbst entscheiden; zu
diesem Thema will ich noch kommen. Ich glaube, deshalb ist es richtig, dass wir mit großer Sachlichkeit und
Vernunft an diese Debatte herangehen.
Was haben wir uns vorgenommen, bei der Änderung
des Abgeordnetengesetzes jetzt durchzusetzen? - Erstens. Die Altersversorgung der Abgeordneten soll reduziert werden. Zweitens. Wir werden auch für die Abgeordneten das Renteneintrittsalter mit 67 Jahren festsetzen,
so wie das für die Bürgerinnen und Bürger in der gesetzlichen Rentenversicherung auch der Fall ist. Drittens.
Wir werden dauerhaft einen Orientierungsmaßstab für
das festlegen, was die Abgeordneten als Entschädigung,
als Diäten, bekommen sollen. Es soll dem, was ein Bürgermeister einer Gemeinde mit 50 000 bis 100 000 Einwohnern in Deutschland auch erhält, oder dem, was ein
beisitzender, ein einfacher Bundesrichter an einem der
vielen Gerichtshöfe der Bundesrepublik Deutschland bekommt, entsprechen. Das ist - so glauben wir - eine angemessene Bezugsgröße. Über diese drei Entscheidungen wollen wir heute hier diskutieren.
Ich will etwas zur Entschädigung sagen. Der erste
Satz, den man dazu sprechen muss, lautet: Die Abgeordneten verdienen viel Geld. Sie verdienen mehr Geld als
die meisten ihrer Wählerinnen und Wähler, und jeder,
der darüber einen falschen Eindruck erweckt, spricht
nicht die Wahrheit. Ich persönlich habe es auch nie gemocht, wenn sich Abgeordnete in öffentlichen Debatten
darüber beklagen, dass sie nicht genug Geld bekämen
und verglichen mit anderen Führungskräften - oft schon
im mittleren Bereich - in der Wirtschaft, in den VerbänOlaf Scholz
den und in den Gewerkschaften ein relativ geringes Gehalt bezögen.
Es gehört meiner Meinung nach auch dazu, zu sagen:
Es ist ein ordentliches, ein hohes Einkommen, das die
Abgeordneten beziehen, und das muss auch klargestellt
werden.
Wenn wir uns also über die Frage unterhalten, was ein
Abgeordneter als Entschädigung bekommen soll, dann
geht es vor allen Dingen darum, dass wir uns einen Maßstab überlegen. Wie soll der aussehen? Was sollen diejenigen erhalten, die als 613 Abgeordnete heute darüber
entscheiden, wie es mit den Steuern weitergeht, ob sich
die Bundeswehr an internationalen Einsätzen beteiligt,
ob wir unsere Soldaten in den Kosovo oder nach Afghanistan schicken, um dort den Frieden herzustellen und zu
sichern? Wir sind diejenigen, die Fragen wie beispielsweise die einer Beteiligung an einer militärischen Intervention im Irak - wir wollten uns nicht beteiligen - erörtern. Wir sind diejenigen, die entscheiden, ob die Steuern
erhöht oder gesenkt werden sollen, wie es mit der Unternehmensbesteuerung und der Erbschaftsteuer weitergeht, wie sich das Arbeitslosengeld entwickelt und wie
die Zukunft der Krankenversicherung aussieht.
All das sind Fragen, die die vom Volk gewählten
613 Abgeordneten zu behandeln haben. Sie vertreten
Wahlkreise mit mehr oder weniger als 250 000 Wahlberechtigten und natürlich all denjenigen, die noch nicht
wahlberechtigt sind, weil sie zu jung sind, aber dennoch
zu den Einwohnern eines solchen Wahlkreises gehören.
Das ist eine sehr verantwortungsvolle Tätigkeit, und
es ist das höchste Amt, in das man in unserer Demokratie vom Volk gewählt werden kann. Direkt gewählt werden kann man vom Volk nur zum Abgeordneten. Die Regierung, die Staatssekretäre, der Präsident und andere
werden durch Versammlungen bestimmt. Wir sind es,
die einer direkten Wahl unterliegen und als Gesetzgeber
Verantwortung tragen.
Wir müssen die Frage beantworten, ob der Maßstab
angemessen ist oder nicht. Wir glauben, dass das, was
vor vielen Jahren schon einmal als Maßstab entwickelt
worden ist, nämlich das Gehalt eines Bürgermeisters einer Gemeinde mit 50 000 bis 100 000 Einwohnern, ein
angemessener Maßstab ist.
Meine Damen und Herren, das Problem ist also wahrscheinlich nicht die Höhe. Auch diejenigen, die vorschlagen, man soll das auf eine Kommission delegieren
oder einen Maßstab bzw. eine automatische Erhöhung
fest ins Gesetz hineinschreiben, sagen meistens nicht,
dass sie eine Absenkung der Diätenhöhe wollen; jedenfalls habe ich Herrn Westerwelle noch nie so verstanden,
dass er für eine Reduzierung der Diäten ist. Deshalb gehört es - so glaube ich - zur Ehrlichkeit der Debatte
dazu, dass wir auch sagen: Wir suchen nach einem Maßstab.
Wir entscheiden uns jetzt nicht dafür, eine Verfassungsänderung durchzuführen, die das auf irgendwen
anders delegiert. Obwohl es wahrscheinlich den meisten
Abgeordneten recht wäre, nicht selber die Verantwortung
tragen zu müssen, wäre es letztendlich doch ein bisschen
so, als würde man sich drücken wollen. Wir sollten uns
nicht drücken, sondern uns zu dieser Entscheidung bekennen und deshalb den Maßstab, den wir diskutieren,
auch vertreten.
({0})
Wir haben jetzt eine Erhöhung in zwei Schritten vorgesehen. Natürlich hat das - leider war das zu erwarten,
und darüber will ich mich auch nicht beklagen, weil es
berechtigt ist, so etwas hin- und herzudiskutieren - in
der Öffentlichkeit die aufgeregte Frage ausgelöst, ob es
nicht zu viel sei und ob es nicht auch weniger hätte sein
können.
Meine Damen und Herren, abgesehen davon - darauf
will ich noch zu sprechen kommen -, dass wir auch eine
Änderung bei der Altersvorsorge vornehmen - es liegt
den Menschen berechtigterweise übrigens sehr am Herzen, dass diese nicht zu üppig ausfällt -, ist es so, dass
die Erhöhung jetzt so ausfällt, weil wir seit 2003 keine
Erhöhung durchgesetzt haben.
Nun, es hat keine armen Leute getroffen; das muss
man dazusagen. Niemandem von uns ist es schlecht gegangen, weil keine Erhöhungen stattgefunden haben,
und niemand sollte diesen Eindruck erwecken. Aber es
ist auch ein Stück Wahrheit, dass seit 2003 in keinem
Jahr eine Erhöhung der Diäten, des Gehalts der Abgeordneten, vorgenommen wurde. Hätten wir für jedes
Jahr - 2004, 2005, 2006, 2007 - und jetzt auch für 2008
und 2009 eine Erhöhung beschlossen, dann wäre es jedes Mal eine Erhöhung um 1,509 Prozent gewesen. Hier
hätte wohl niemand gesagt, das sei zu viel. Zumindest
hätte niemand gesagt, das sei maßlos. Das spricht doch
dafür, genau so vorzugehen, wie wir es jetzt tun.
Wir wollen einen Maßstab entwickeln und die Höhe
der Diäten an der Höhe der Bezüge der Bürgermeister
mittelgroßer Gemeinden und der einfachen Bundesrichter orientieren; an diesen Maßstab wollen wir uns in Zukunft immer halten. Wenn ihr Gehalt um 1 Prozent
steigt, erhöhen wir auch unsere Bezüge um 1 Prozent.
Wenn ihr Gehalt um 2 Prozent steigt, erhöhen wir auch
unseres um 2 Prozent. Wenn ihre Bezüge nicht steigen,
erhöhen wir auch unsere nicht.
Mein Rat an alle Abgeordneten in diesem Haus und
an die Öffentlichkeit lautet: Sie sollten uns dabei unterstützen, damit die Leute nicht mehr denken, dass wir die
Höhe unserer Diäten ganz frei und selbst bestimmen.
Wir wollen einen langfristig angelegten, dauerhaften
Maßstab entwickeln, an dem uns alle messen können. Jeder soll wissen, woran er in den nächsten 20, 30 Jahren
ist. Heute können wir dafür sorgen, dass das möglich
wird. Vielleicht ist das sogar ein großer Beitrag zur Erhöhung der Akzeptanz der parlamentarischen Demokratie. Meine Bitte an Sie ist: Helfen Sie mit!
({1})
Meine Damen und Herren, wir müssen natürlich auch
darüber sprechen, dass nicht nur die Diäten der Abgeordneten eine ordentliche Höhe haben, sondern dass das
auch für ihre Altersversorgung zutrifft. Anders als bei
der Entschädigung - hier meinen die meisten, das ist im
Großen und Ganzen schon in Ordnung; einige finden allerdings, die Erhöhungen müssten nicht sein; hier muss
man zueinander finden; denn es kann nicht beides richtig
sein - sagen bei der Altersversorgung viele: Das ist zu
viel. - Ich finde - hier bin ich mir mit den Kollegen von
der Union einig -, wer das sagt, hat recht. Hier musste
man handeln.
Ich glaube aber, dass die Kritik am Umfang unserer
Altersversorgung daher rührt, dass die Leute vielfach
noch Regelungen im Kopf haben, die aus anderen Zeiten
stammen.
({2})
Die Bürgerinnen und Bürger müssen wissen: Bis 1995
war es so, dass ein Abgeordneter für jedes Jahr, das er
Mitglied des Deutschen Bundestages war, 4 Prozent der
Höhe seiner Entschädigung als Altersversorgungsanspruch bekommen hat. Das hat den nachhaltigen, weil
bis heute wirkenden Eindruck erweckt, das sei noch immer so und das sei ziemlich viel. Wir haben das bereits
in der Vergangenheit auf 3 Prozent reduziert. Jetzt wollen wir den Steigerungssatz noch einmal reduzieren, und
zwar auf 2,5 Prozent. Wenn wir das tun, ist die Versorgung völlig anders geregelt, als es damals der Fall war.
Wenn man diese Entwicklung betrachtet, kann man,
wie ich glaube, feststellen: Wir haben uns den Vorstellungen der Menschen angenähert. Es ist richtig, dass wir
mit dieser Reform eine Senkung der Höhe des Altersversorgungsanspruchs verbinden.
Ich bitte Sie darum - das will ich dazusagen -, dass
wir offen und ehrlich miteinander diskutieren. Wer sagt,
dass wir einen Systemwechsel vornehmen - das kann
man durchaus sagen - und unsere Altersversorgung anders organisieren sollten, der bekommt Beifall von Leuten, die systematisch denken und der Meinung sind, dass
ein anderes System besser ist. Meistens bekommt er aber
Beifall von Leuten, die glauben, dass wir, wenn wir von
einem Systemwechsel sprechen, meinen, dass wir den
Umfang unserer Altersversorgung reduzieren; auch
diese Meinung habe ich teilweise gehört, allerdings nicht
von vielen Kollegen in diesem Hause.
Kollege Scholz, ich verstehe, dass es Sie drängt, auch
das noch zu erklären.
Das mache ich auch.
Sie haben Ihre Redezeit aber schon weit überschritten. Vielleicht können Sie mit Ihrem Koalitionspartner
eine Verabredung treffen, wie Sie diesen Aspekt nachher
noch in die Debatte einbringen können.
Ich komme zum Schluss. Ich möchte nur noch auf eines hinweisen, Frau Präsidentin: Wer sagt, dass ein anderes System eingeführt werden sollte, der sollte auch
hinzufügen, welche Konsequenzen das für die Altersversorgung haben soll: Soll ihr Umfang reduziert werden,
soll er gleich bleiben, oder soll er erhöht werden? Alle
drei Varianten sind möglich.
Ich bin dafür, dass wir uns zu dem bekennen, was wir
aufgrund des Wunsches und angesichts der berechtigten
Kritik der Bevölkerung richtigerweise tun müssen: Wir
müssen unseren Altersversorgungsanspruch reduzieren.
Diese Senkung sollten wir nicht hinter einem Systemwechsel „verschwurbeln“, sondern sie real durchführen.
Das wollen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
tun.
Schönen Dank.
({0})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege van Essen
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt diesen Gesetzentwurf
der Großen Koalition ab.
({0})
Wir wollen einen Systemwechsel, und zwar in mehrfacher Hinsicht.
Wir erleben in der Diskussion, die wir in diesen Tagen
in den Zeitungen lesen können, dass es ganz offensichtlich ein großes Akzeptanzproblem für eine Diätenerhöhung im Deutschen Bundestag gibt. Das gilt nicht nur
für diese, sondern für jede Diätenerhöhung, die zur Debatte steht. Deshalb muss es nach meiner Auffassung unsere Aufgabe sein, uns ein System zu überlegen, bei dem
die Bürger das Gefühl haben: Das Ganze ist transparent,
und das Ganze ist gerecht. Wenn entschieden wird von
denen, die die Gehaltserhöhung bekommen, haben die
Bürger - das ist ganz natürlich - das Gefühl, dass es
nicht gerecht ist, weil man nicht zu seinen Lasten entscheidet. Wer sich selbst das Gehalt festsetzt, der tut das
in der Regel nicht zu seinem Nachteil. Das ist das Gefühl
der Bürger - was wir nach meiner Auffassung ernst nehmen müssen.
({1})
Wir sehen das ja auch an den Schreiben, die uns in diesen Tagen erreichen.
Wir haben ein weiteres Problem, nämlich das Problem, im Bundestag selbst die notwendigen Entscheidungen, die anstehen, zu treffen. Auch das gehört zur
Beschreibung der Realität. Das war der Hintergrund dafür, dass wir als FDP sagen: Wir brauchen einen Systemwechsel. - Das Bundesverfassungsgericht hat es uns
nicht leicht gemacht, als es entschieden hat, dass die Abgeordneten selbst, durch Gesetz, die Höhe der Diäten
festlegen müssen. Das ist nicht unser Wunsch gewesen;
gleichwohl ist es die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.
({2})
Deshalb haben wir schon unmittelbar nach der letzten
Bundestagswahl einen sehr gut durchdachten Vorschlag
in das Parlament eingebracht, nämlich einen Vorschlag
zu einer Verfassungsänderung - es bedarf nach unserer
Auffassung einer Verfassungsänderung -, die es ermöglicht, dass eine unabhängige Kommission vom Bundespräsidenten als neutraler Institution einberufen wird, die
in Zukunft die Höhe der Diäten verbindlich festlegt.
({3})
Da Sie die Frage aufgeworfen haben, Herr Kollege
Scholz: Das kann das Gleiche sein wie heute, das kann
mehr sein, das kann aber auch weniger sein.
Ich bin der Auffassung, wir sollten uns einem solchen
Vorschlag unterwerfen. Ich glaube auch, dass das beides
löst: das Mutproblem, das wir haben, aber insbesondere
- das ist für mich das Wichtigste - das Akzeptanzproblem bei den Bürgern. Denn die Bürger müssen das
Gefühl haben, dass die Abgeordneten so, wie die Verfassung das vorschreibt, nämlich angemessen, bezahlt werden, und ich habe den Eindruck, dass die Bürger das
auch wollen.
Ein anderer Punkt, der für uns ganz wichtig ist und
bei dem wir ebenfalls eine Systemänderung wollen, ist
die Frage der Altersversorgung. Unser Vorschlag sieht
vor, dass auch dafür die unabhängige Kommission beim
Bundespräsidenten Vorschläge machen soll. Wir werden
uns diesen Vorschlägen dann selbstverständlich zu unterwerfen haben. Ich will hierbei für die FDP-Bundestagsfraktion keinen Zweifel daran lassen, was unser
Wunschmodell wäre: Wir wollen von der jetzigen beamtenähnlichen Versorgung weg.
({4})
Der Grund dafür ist einfach: Wir Abgeordneten sind
keine Beamten. Deswegen sollten wir uns weder bei dem
Maßstab der Diäten - B 6 - noch bei der Altersversorgung an den Beamten orientieren. Die Abgeordneten sind
frei von Aufträgen und Weisungen, sagt das Grundgesetz
klar und eindeutig. Sie haben damit einen völlig anderen
Status, als es Beamte haben. Deshalb ist unser Vorschlag
der, dass die Abgeordneten in Zukunft selbst, durch eigene Beiträge, für ihre Altersversorgung sorgen sollen.
({5})
Das ist kein theoretisches Modell: Die FDP hat das in
Nordrhein-Westfalen umgesetzt.
({6})
Wer sich mit den Kollegen in Nordrhein-Westfalen unterhält, der stellt fest, dass das auch funktioniert. Alles
das, was hier gegen diesen Vorschlag der FDP vorgetragen worden ist, ist also durch die Praxis widerlegt worden.
Von daher wiederhole ich noch einmal: Die FDPBundestagsfraktion lehnt den Gesetzentwurf der Großen
Koalition ab. Wir wollen einen Systemwechsel.
({7})
Die Diäten sollen durch eine unabhängige Kommission,
die beim Bundespräsidenten anzusiedeln ist, festgesetzt
werden. Und wir wollen, dass die Abgeordneten selbst
für ihre Altersversorgung sorgen müssen.
Vielen Dank.
({8})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Dr. Norbert Röttgen das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die geltende Verfassung gebietet, dass der Bundestag in dieser Angelegenheit entscheidet; das steht in
Art. 48 des Grundgesetzes.
({0})
Solange dies gilt, müssen wir dem auch gerecht werden.
({1})
Ich will aber auch sagen, dass ich es inhaltlich für
richtig halte. Ich bin der Auffassung, dass wir zu dem,
was wir in dieser Frage entscheiden, stehen müssen.
({2})
Ich bin dagegen, dass wir uns hinter einer Kommission
verstecken und sagen: Wir haben das nicht entschieden,
wir müssen doch das nehmen, was die Kommission gesagt hat. - So viel Selbstbewusstsein, Klarheit und
Transparenz - ein viel verwendetes Wort - können die
Bürgerinnen und Bürger von uns erwarten. Wir müssen
an uns den Anspruch haben, dass wir vor sie treten und
vor den Augen der Öffentlichkeit, wie es das Bundesverfassungsgericht gesagt hat - ich ergänze: erhobenen
Hauptes -, einen Vorschlag unterbreiten.
({3})
Herr van Essen, die Schwäche Ihrer Rede war, dass
Sie abstrakt von einem Systemwechsel und dem, was Sie
sich alles vorstellen können, gesprochen haben.
({4})
Nein, zum parlamentarischen Selbstverständnis und Mut
gehört es, die Vorschläge konkret auf den Tisch zu legen
und nicht nur zu kritisieren.
({5})
Wer nicht konkret wird, der entscheidet nicht. Wir
müssen auch aus sachlichen Gesichtspunkten und nicht
nur, weil wir die Pflicht haben, entscheiden. Wer nicht
dafür entscheidet, sondern ablehnt, der entscheidet sich
dagegen, dass das, was wir für die gesetzliche Rentenversicherung entschieden haben, auch für die Abgeordneten gelten soll. Wir sind der Auffassung: Wenn die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach einem Prozess
von 20 Jahren ein Renteneintrittsalter von 67 Jahren akzeptieren müssen, dann muss das auch der Bundestagsabgeordnete akzeptieren. Wer dagegen stimmt, der
stimmt auch dafür, dass wir das Privileg behalten, anders
als die arbeitende Bevölkerung mit 65 Jahren in Rente
zu gehen. Wir sind gegen dieses Privileg für Abgeordnete. Stimmen Sie mit uns!
({6})
Die Bevölkerung muss mehr für ihre Altersversorgung tun, also mehr zurücklegen. Es gibt keine Sitzungswoche, in der wir nicht an die Bevölkerung appellieren:
Stellt euch auf die demografische Entwicklung ein! - Es
kann nicht sein, dass wir uns von dieser Entwicklung in
der Bevölkerung, von der wir ihr predigen, ausnehmen,
indem wir bei einer Versorgung bleiben, bei der pro Jahr
Wachstumsschritte von 3 Prozent vorgesehen sind, womit wir uns besserstellen als die allgemeine Bevölkerung. Darum sind wir dafür, dass wir den Aufbau unseres Pensionsanspruches um 16,6 Prozent zurückführen.
Das halten wir für geboten und richtig. Wer das ablehnt,
der ist dafür, dass wir ein Privileg behalten. Wir sind gegen dieses Privileg. Wir wollen, dass wir an der Entwicklung der Bevölkerung teilnehmen und auch das leisten, was wir ihr zusätzlich abverlangen.
Das führt dazu, dass die Ansprüche substanziell reduziert werden. Wer will, dass man nach 23 Jahren einen
Anspruch von 69 Prozent erwirbt, der muss unseren Vorschlag ablehnen. Wer akzeptiert, dass man dafür
27 Jahre braucht und am Ende nur das Rentenniveau der
gesetzlichen Rentenversicherung erreicht, der muss für
unseren Antrag votieren.
Ein weiterer Punkt. Wer dem Gesetzentwurf nicht zustimmt, der sollte einen Gesetzentwurf einreichen, mit
dem das Abgeordnetengesetz geändert wird.
({7})
- Das Abgeordnetengesetz.
({8})
Vor über zehn Jahren hat das Haus gesagt: Wir haben einen Maßstab gefunden. Man muss ein System, eine Anknüpfung finden. Ansonsten kann man den Bürgern
nicht erklären, warum es der und kein anderer - ein niedrigerer oder ein höherer - Betrag ist.
Olaf Scholz hat völlig zu Recht gesagt: Wir haben vor
über zehn Jahren den Maßstab gefunden. Wir wollen an
die Regelungen für Bürgermeister kleinerer und mittlerer Städte - 50 000 bis 100 000 Einwohner - anknüpfen
und uns an den Bundesrichtern orientieren, die ebenso
wie wir eine unabhängige Tätigkeit ausüben.
Der Maßstab steht seit über zehn Jahren im Gesetz.
Ich finde, es ist ein Gebot der Konsequenz und der parlamentarischen Selbstachtung, dass wir bereit sind, das,
was wir selber als Gesetz beschlossen haben, auch umzusetzen. Nach 12, 13 Jahren könnte es so weit sein. Das
wollen wir mit diesem Gesetzentwurf erreichen.
({9})
In einem ersten Schritt sind das 330 Euro in einem
Zeitraum von fünf Jahren. Wenn ich den Vorschlag unter
allen Gesichtspunkten betrachte, dann muss ich sagen:
Er ist maßvoll und ausgewogen.
Ich möchte eine abschließende Bemerkung zur öffentlichen Debatte machen; denn in der öffentlichen Debatte
geht es um mehr als um 330 Euro, also um 4,7 Prozent
innerhalb von fünf Jahren. Ich möchte Heribert Prantl
aus der Süddeutschen Zeitung zitieren,
(Hans-Christian Ströbele ({10}): Sie sollten ihn öfter zitieren!
der, wie andere auch, etwas über die öffentliche Debatte
hinsichtlich der Abgeordnetendiäten geschrieben hat:
Sogleich wird die Vorurteilsmaschinerie angeworfen und das Parlament als Raffkartell beschimpft.
Diese antiparlamentarische Narretei begleitet nun
schon die gesamte Geschichte der Bundesrepublik.
Als den erfreulichsten Punkt dieser Debatte möchte
ich feststellen: Nicht nur Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung, auch die Kommentatoren in der Frankfurter Rundschau, in der Welt, im Tagesspiegel und in
der Zeit haben dafür gesorgt, dass über diese Narretei
nachgedacht wird. Beim Thema der Abgeordnetendiäten, das man sachlich kritisieren kann - ich nehme keine
dieser Zeitungen für unseren Vorschlag in Anspruch -,
müssen wir zwischen einer sachlichen Debatte und antiparlamentarischer Stimmungsmache unterscheiden.
In diesem Geist haben wir diesen Vorschlag unterbreitet, und in diesem Geist sollten wir die weitere Beratung
miteinander angehen.
Ich danke Ihnen.
({11})
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Dr. Dagmar Enkelmann das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Röttgen, ich gestehe, ich bin ein Fan von
Heribert Prantl und lese seine Kommentare in der Süddeutschen Zeitung zumeist mit großem Genuss. Ich verweise auf denselben Kommentar, den Sie gerade zitiert
haben. In diesem Kommentar wundert er sich darüber,
dass es eine Schärfe in der öffentlichen Ablehnung der
Diätenerhöhung gibt, sieht uns Abgeordnete am mittelalterlichen Pranger und stellt - jetzt zitiere ich ihn - „abDr. Dagmar Enkelmann
gründiges Misstrauen in die Integrität der Volksvertreter“ fest. Ich finde, Prantl hat recht.
({0})
Dieses Misstrauen besteht; aber ich denke, dieses Misstrauen besteht zu Recht.
({1})
Blicken wir nur auf die letzten Wochen: In der Sommerpause haben sich Kollegen quer durch alle Fraktionen darüber erregt, dass die Preise für Milch und
Fleischerzeugnisse steigen, und gefordert, darüber nachzudenken, dass das Arbeitslosengeld II angehoben wird.
Das Ganze ist im Sommerloch versenkt worden, passiert
ist nichts. Seit Wochen wird hier darüber geredet, dass
die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I verlängert wird.
Nichts liegt dazu auf dem Tisch. Es wurde großartig
angekündigt, die Kürzung der Pendlerpauschale zurückzunehmen. Auch das ist wieder vom Tisch gefegt. Rentnerinnen und Rentner wurden in diesem Jahr mit
0,54 Prozent abgespeist. Es hieß, mehr sei nicht drin.
Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Nun aber sollen im Hauruckverfahren die Diäten mal
eben ordentlich um 9,4 Prozent angehoben werden. Um
es in absoluten Zahlen auszudrücken - wir reden hier
über zwei Jahre, nicht über fünf oder sieben Jahre -: in
zwei Jahren um immerhin fast 700 Euro. Angesichts
dessen braucht man sich über Misstrauen nicht zu wundern.
Das Ganze wird mit dem wirtschaftlichen Aufschwung begründet. Abgesehen davon, dass man sich
hier offenkundig mit fremden Federn schmückt, ist es
eine Tatsache - darüber haben wir hier auch mehrfach
diskutiert -, dass viele Menschen von diesem wirtschaftlichen Aufschwung nicht profitieren: diejenigen, die
nach wie vor keine Arbeit haben; diejenigen, die mit einem Hungerlohn auskommen müssen und als sogenannte Aufstocker ergänzende Sozialleistungen brauchen; diejenigen, die als Leiharbeiter arbeiten und
fürchten müssen, dass sie als Erste gefeuert werden; oder
diejenigen, die inzwischen zwei oder drei Minijobs haben, um überhaupt leben zu können. Der Aufschwung
hat Schattenseiten; aber Sie wollen ein gewaltiges Stück
vom Kuchen abbekommen.
Nun versüßen Sie das Ganze der staunenden Öffentlichkeit mit der Ankündigung einer Kürzung bei der Altersversorgung. Schauen wir uns diese einmal genauer
an, stellen wir fest, Herr Kollege Scholz, Herr Kollege
Röttgen, dass es eine Milchbubenrechnung ist.
({2})
Eine prozentuale Kürzung bedeutet eben nicht eine automatische Absenkung in absoluten Zahlen; denn wenn die
Diäten höher sind, führt dies auch zum Steigen der Altersversorgung, da sie sich an der Höhe der aktuellen
Diäten bemisst. Auch das sollten Sie ehrlich sagen.
({3})
Während der Anspruch auf Altersversorgung heute
erst nach acht Jahren entsteht, soll er nach dem neuen
Vorschlag bereits nach einem Jahr entstehen. Auch dies
erklären Sie nicht.
Ein Weiteres sage ich ganz deutlich: Wir haben uns
hier im Bundestag gegen die Rente ab 67 ausgesprochen,
und wir sind auch gegen die Rente ab 67 für Abgeordnete. Aber während es Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern immer schwerer gemacht wird, über Altersteilzeit, Erwerbsminderung usw. vorzeitig in die Rente
einzusteigen, ist es bei Abgeordneten nach 18 Jahren Zugehörigkeit zum Bundestag durchaus möglich, mit
57 Jahren ohne Abschläge in die Rente zu gehen. Daran
wird nichts geändert.
Es bleibt bei unserer grundsätzlichen Kritik, dass Abgeordnete Leistungen beziehen, für die sie keinerlei Beiträge einzahlen. Mit dieser Privilegierung muss endlich
Schluss gemacht werden. Wir werden einen Vorschlag
auf den Tisch legen, der vorsieht, dass Abgeordnete in
die gesetzliche Rentenversicherung einzubeziehen sind.
({4})
Heribert Prantl sieht uns am Pranger. Gott sei Dank
wurde der Pranger in der 48er-Revolution abgeschafft.
Aber die Empörung vieler Bürgerinnen und Bürger können wir sehr gut nachvollziehen.
Danke.
({5})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun
der Kollege Volker Beck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich kann
mich des Eindrucks nicht erwehren, Herr Prantl könnte
genau solche Reden gemeint haben, wie sie gerade gehalten wurden.
({0})
Solche Angriffe sind in einer seriösen Debatte über die
Abgeordneten und ihre Stellung in Verfassung und Gesellschaft unangemessen.
Trotzdem muss ich feststellen, geschätzte Koalition:
So, wie Sie das Thema angegangen sind, müssen Sie
sich nicht wundern, wenn das manchen sauer aufstößt.
Nach einer Koalitionsrunde am Wochenende liegt kein
Ergebnis vor. Die Koalition schafft es zwar nicht, sich
auf eine Mindestlohnregelung für Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer zu einigen, sorgt aber für die Mindestversorgung der Abgeordneten.
({1})
Wenn man nichts zustande bekommt und dann mit einem solchen Vorschlag kommt, dann muss man sich
Volker Beck ({2})
nicht wundern, wenn das gegen das Parlament und die
Politik verwendet wird. Das muss man Ihnen bei aller
Seriosität in der Sache entgegenhalten. Das ist einfach
unsensibel. So darf man solche Debatten nicht führen.
Trotzdem wende ich mich eindeutig gegen bestimmte
Töne in der Debatte. Wenn das Parlament aufgrund der
verfassungsrechtlichen Lage das Abgeordnetengesetz
ändern muss - niemand auf dieser Welt kann ihm das abnehmen; es gibt kein höheres Wesen, dass diese Entscheidungsgewalt hat -, dann darf man das nicht als Selbstbedienung denunzieren, lieber Kollege Westerwelle.
({3})
Das ist schofel. Es ist antiparlamentarisch und beschädigt die parlamentarische Demokratie.
Nach unserer Verfassung haben die Abgeordneten
Anspruch auf eine angemessene, ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung. Der Sinn dieser Bestimmung
liegt darin, dass die Abgeordneten nach bestem Wissen
und Gewissen die Entscheidungen zum Wohle des deutschen Volkes treffen - nur das sollte sie im Herzen bewegen -,
({4})
statt den Verlockungen der Wirtschaft durch Nebenjobs
und Anschlussjobs nachzugeben.
({5})
Dass wir eine vernünftige Entschädigung brauchen,
ist unbestritten. Trotzdem müssen wir feststellen, dass
nicht verstanden wird, was wir hier machen. Deshalb
meine ich, dass wir bei der Beratung des Gesetzentwurfs
darüber nachdenken sollten, ob wir nicht einen Systemwechsel machen. Wir haben in unserer Fraktion seit Beginn der Wahlperiode darüber geredet. Wir haben über
den Präsidenten ein Gutachten in Auftrag geben lassen,
das inzwischen vorliegt.
Das Gutachten ist zu folgendem Ergebnis gekommen:
Wenn wir das jetzige Niveau der Altersversorgung der
Abgeordneten - ich will nicht den falschen Eindruck erwecken, dass wir unheimlich kürzen würden - durch ein
Versorgungswerk für Abgeordnete finanzieren würden,
dann würde das Pi mal Daumen einen monatlichen Betrag von 2 600 bis 3 000 Euro pro Abgeordneten bedeuten. Das ist das Ergebnis des Gutachtens, das, um zu einer seriösen Grundlage zu kommen, gegebenenfalls
überprüft werden müsste.
Ich glaube, eine solche Lösung wäre verständlicher
als das bestehende komplizierte Regelwerk im Abgeordnetengesetz. Denn bisher fragen immer wieder Kolleginnen und Kollegen bei den Parlamentarischen Geschäftsführungen nach - das ist bei Ihnen sicherlich nicht
anders -, was das Gesetz im Einzelfall für sie bedeutet.
Der einfache Abgeordnete weiß also nicht einmal selber,
wie das Gesetz auszulegen ist, weil es zu kompliziert ist.
Wie sollen die Menschen draußen im Lande das verstehen?
Ich glaube, dass das kein populistisches Argument ist.
Uns geht es vielmehr darum, offenzulegen, was wir für
die Altersversorgung zurücklegen. Das kann jeder nachvollziehen. Mit diesem Vorschlag als Alternative zum
bestehenden System sollte man sich meines Erachtens
ernsthaft beschäftigen.
Sie haben vorhin angesprochen, Herr Röttgen - die
Zahlen sind richtig -, dass Sie die Diäten in zwei Schritten um 4,7 Prozent und 4,48 Prozent erhöhen wollen.
Das sind keine dramatisch hohen Zahlen. Gleichzeitig
wird die Altersversorgung um 16,6 Prozent gesenkt.
({6})
Nachdem Sie es für richtig gehalten haben, den Spiegel
noch vor den Oppositionsparteien über Ihre Vorschläge
zu informieren, war am Montag dieser Woche im Spiegel
in einer Überschrift zu lesen: „Diäten steigen kräftig,
Pensionen sinken leicht“.
Kollege Beck, Sie müssen bitte weitere Literaturempfehlungen nachreichen und zu Ihrem letzten Satz kommen.
Das ist wunderbar. - Das zeigt zumindest, dass kein
Mensch versteht, was wir hier tun. Deshalb sollten wir
zu einem verständlicheren System kommen. Wir sollten
auch über die Doppelversorgung der Abgeordneten auf
der Regierungsbank reden. Ich kann nicht verstehen,
dass ein Bundesminister, der diesem Hohen Haus angehört, sowohl die Abgeordnetenversorgung als auch die
Ministerversorgung bekommt,
({0})
wenn auch nicht zu 100 Prozent; das wird verrechnet.
Kollege Beck, ich bitte Sie!
Aber diese Doppelversorgung - auch darüber sollten
wir reden - muss meines Erachtens weg.
({0})
Für die Fraktion der CDU/CSU hat nun der Kollege
Hartmut Koschyk das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Unser Bundestagspräsident hat seit Beginn dieser Legislaturperiode die Vorsitzenden aller Fraktionen dieses
Hauses zweimal zu ausführlichen Gesprächen über die
Entwicklung der Abgeordnetenentschädigung, der Altersversorgung der Abgeordneten und alle in diesem Zusammenhang stehenden Fragen eingeladen. Die Koalitionsfraktionen haben bei diesen Gesprächen gespürt
- ich sage das sehr offen -, dass daraus kein gemeinsaHartmut Koschyk
mer Vorschlag für das Hohe Haus erwächst. Deshalb haben die Koalitionsfraktionen sich auf den Vorschlag verständigt, der Ihnen heute vorliegt.
Lieber Herr Kollege Beck, ich darf Ihnen sagen, dass
selbstverständlich auch wir die Frage von Alternativen
in der Versorgung bis hin zu einem Versorgungswerk geprüft haben. Wir haben einen solchen Vorschlag heute
aber auch deshalb nicht unterbreitet, weil wir meinen,
dass wir nicht auf der einen Seite Sonderversorgungssysteme in unserem Land schließen und auf der anderen
Seite ein Sonderversorgungswerk für Abgeordnete aufbauen können, für das am Ende der deutsche Steuerzahler dasselbe aufwenden muss wie für die bisherige Versorgung der Abgeordneten. Letztendlich hat sich dann
nur die Technik, die Systematik verändert. Sie haben ja
ehrlicherweise gesagt, dass es Ihnen auch darum geht,
durch einen Systemwechsel die gleiche Versorgung zu
erreichen. Sorgen wir doch lieber, wie mit unserem Vorschlag, dafür, dass die Altersversorgung um 16 Prozent
sinkt und wir uns damit dem allgemeinen Trend der Absenkung von Altersversorgungen anschließen!
Ich will etwas zu dem Thema Maßstab sagen. Wir
diskutieren - ich habe mir das extra noch einmal angesehen - seit 1977 über eine Bezugsgröße für die Abgeordnetenentschädigung. Bereits damals wurde in den Debatten auf Wahlbeamte von kommunalen Körperschaften
mittlerer Größe verwiesen. Wir haben 1994 beschlossen,
dass die Richtgröße B 6/R 6 ist, aber nicht, weil wir das
für die einzig wahre Bezugsgröße hielten. 1993 hat es
eine Kommission gegeben, geleitet vom damaligen Präsidenten des Bundesarbeitsgerichtes, Professor Kissel.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was Ihnen die Koalitionsfraktionen heute vorschlagen, ist genau das, was die
Kissel-Kommission 1993 vorgeschlagen hat und was wir
1994 beschlossen haben.
In den letzten Jahren hat es gute Gründe dafür gegeben - die wirtschaftliche Situation unseres Landes, die
Arbeitsmarktsituation -, den Beschluss von 1994 nicht
zu verwirklichen. Aber ich meine, nun ist die Zeit gekommen, dass der Deutsche Bundestag, nachdem er einmal eine solche Richtgröße - Entschädigung eines Oberbürgermeisters einer mittleren Stadt, eines Landrates
eines mittleren Kreises in Deutschland - beschlossen
hat, dazu steht und das umsetzt. Deshalb sollten wir das,
was die Koalitionsfraktionen vorgelegt haben, in der Beratung sachlich diskutieren.
Ich sage ganz offen: Wenn ich den Bürgerinnen und
Bürgern in meinem Wahlkreis, der eine Stadt und anderthalb Landkreise umfasst, erkläre, dass ich es aufgrund
meiner Arbeit als direkt gewählter Abgeordneter für angemessen halte, dass meine Bezüge auf dem gleichen
Niveau sind wie die des Oberbürgermeisters und der beiden Landräte, dann bin ich sicher, dass ich kein Problem
haben werde. Die Menschen werden meine Bezüge
ebenfalls für angemessen halten.
({0})
Wir senken nun das Niveau der Altersversorgung und
führen die Rente mit 67 für Abgeordnete ein. Das entspricht vielem, was der Bundestag längst beschlossen
hat. Wir sollten jetzt den Mut haben, endlich dazu zu stehen.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/6924 und 16/5052 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 15 a und 15 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur
Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG
- Drucksache 16/5846 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jerzy Montag, Hans-Christian
Ströbele, Wolfgang Wieland, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Reform der Telekommunikationsüberwachung ({0})
- Drucksache 16/3827 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({1})
- Drucksache 16/6979 Berichterstattung:
Abgeordnete Siegfried Kauder ({2})
Klaus Uwe Benneter
Wolfgang Nešković
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({3}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Jörg van Essen,
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Mechthild
Dyckmans, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Reform der Telefonüberwachung zügig umsetzen
- Drucksachen 16/1421, 16/6979 Berichterstattung:
Abgeordnete Siegfried Kauder ({4})
Vizepräsidentin Petra Pau
Jörg van Essen
Wolfgang Nešković
Zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen, über den wir später namentlich
abstimmen werden, liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries.
({5})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten
heute abschließend über zwei Gesetzentwürfe: zum einen über den Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Telekommunikationsüberwachung und zum anderen über
den Entwurf eines Gesetzes, mit dem eine europäische
Richtlinie - Stichwort „Vorratsdatenspeicherung“ - umgesetzt werden soll. Im Hinblick auf die Redezeit haben
der Kollege Stünker und ich vereinbart, dass er zur Telekommunikationsüberwachung redet und ich zur Vorratsdatenspeicherung. Nicht, dass Sie sich wundern, warum
ich einen Teil in meiner Rede ausspare.
Das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung dient der
Umsetzung einer europäischen Richtlinie. Wie kam es
zu dieser europäischen Richtlinie? Nach den Attentaten
von Madrid wurde anhand von Handys, die man gefunden hatte, festgestellt, mit wem die Attentäter zuvor telefoniert hatten. Auf diese Weise konnte man andere aus
dem terroristischen Umfeld fangen, die an den Attentaten beteiligt waren. Das war der Anlass für England,
Schweden, Frankreich und Irland, eine Initiative im Rat
zu starten mit dem Ziel, dass künftig in ganz Europa Verbindungsdaten gespeichert werden.
Es ist also keineswegs so, dass Deutschland, wie Frau
Leutheusser-Schnarrenberger in einem Artikel der Stuttgarter Zeitung heute behauptet, dieses Thema bei der
EU lanciert habe. Vielmehr haben die genannten Länder
massiv auf die Umsetzung ihrer Vorschläge gedrungen.
Diese sahen die Speicherung der Daten bis zu
36 Monaten vor, darunter die Daten jedes versuchten
Anrufes, der Bewegungsdaten beim Telefonieren mit
dem Handy sowie vieles andere. Der Antrag dieser Länder war in der dritten Säule. Das heißt, es musste Einstimmigkeit herrschen.
({0})
- Darüber wird der Europäische Gerichtshof entscheiden, Herr Kollege Montag, und nicht Sie.
({1})
Deutschland hat sich ungefähr ein gutes Jahr lang
- und zwar allein auf weiter Flur - im Europäischen Rat
gegen diese weitgehenden Vorschläge der vier Staaten
ausgesprochen.
({2})
Wir haben unter Rot-Grün, aber auch mit Unterstützung
des ganzen Deutschen Bundestages deutlich gemacht,
dass uns das viel zu weit geht. Wir haben in ausführlichen Gesprächen - auch mit Telekommunikationsunternehmen - darauf hingewiesen, dass man allenfalls die
Daten speichern kann, die ohnehin beim Telefonieren erhoben und bereits zu Abrechnungszwecken gespeichert
werden. Wir Deutsche haben uns in Europa dafür eingesetzt, die Richtlinie so zu formulieren, dass das möglich
ist.
({3})
Ich möchte Sie bitten, das zur Kenntnis zu nehmen und
nicht zu behaupten, wir hätten auf europäischer Ebene
etwas lanciert, was wir jetzt umsetzen. Das ist völlig daneben.
Die Tatsache, dass die Iren gegen diese Richtlinie klagen, heißt nicht, dass sie inhaltlich dagegen sind; sie waren ja Antragsteller. Das heißt nur, dass sie den Systemwechsel angreifen, den die Engländer während ihrer
Präsidentschaft durch die Überführung der Entscheidung
von der dritten in die erste Säule vorgenommen haben.
Die Engländer haben das getan, um eine Mehrheitsentscheidung herbeiführen zu können und damit Deutschland als blockierendes Land auszubremsen und die
Macht Deutschlands zu beschränken. Es geht bei der
Klage nicht um den Inhalt der Richtlinie. Deswegen
kann man nicht glauben, dass der Europäische Gerichtshof über den Inhalt entscheiden wird. Da liegen Sie völlig falsch.
({4})
Wir haben erreicht, dass die Richtlinie ganz erheblich
entschärft wurde. Wir setzen jetzt diese Richtlinie, die
bei der Umsetzung einen gewissen Spielraum lässt, in
minimaler Weise um. Wir sehen von den möglichen
Speicherfristen die geringste Speicherfrist von sechs
Monaten vor, und wir orientieren uns auch an anderer
Stelle am geringsten Level. Frau Leutheusser, Sie haben
in Ihrem Interview mit der Berliner Zeitung behauptet,
dass wir mit diesem Gesetz dem Verfassungsschutz und
sonstigen Geheimdiensten Tür und Tor öffnen würden.
Das ist einfach nicht richtig.
({5})
Dieses Gesetz enthält überhaupt keine Regelungen über
künftige Kompetenzen der Geheimdienste. Dies muss in
einem anderen Gesetz geregelt werden. Damit wir uns
darüber klar sind: Aufgrund dieses Gesetzes ist kein Zugriff möglich.
({6})
Aufgrund dieses Gesetzes bleibt es dabei, dass die
Daten gespeichert werden, die heute bereits zu Abrechnungszwecken drei Monate gespeichert werden. Die Daten umfassen Angaben darüber, mit wem ich telefoniert
habe, wann ich telefoniert habe, wie lange das Gespräch
gedauert hat und wie teuer es war. Diese Daten, die für
Abrechnungszwecke gebraucht werden, werden gespeichert, nicht mehr und nicht weniger. Richtig ist, dass die
Daten künftig nicht drei Monate, wie es heute üblich ist,
sondern sechs Monate gespeichert werden. Richtig ist
ebenfalls, dass wir auch Daten speichern, die heute nicht
gespeichert, aber generiert werden. Es werden nur Daten
gespeichert, die ohnehin generiert werden; es müssen
keine zusätzlichen Daten generiert werden. Das heißt,
dass auch die Daten, die bei Nutzung einer Flatrate anfallen, gespeichert werden müssen. Insoweit ist das eine
Regelung, die über das, was heute möglich ist, hinausgeht, aber eben auch nur insoweit. Ich wäre dankbar,
wenn man diese Tatsache zur Kenntnis nehmen würde.
Mit der Erweiterung von Telekommunikationsüberwachungsmöglichkeiten hat die Regelung schon gar
nichts zu tun. Dass da ein großer Unterschied besteht,
wollen wir auch dadurch deutlich machen, dass zu den
beiden Gesetzen unterschiedliche Personen reden. Die
TKÜ-Novelle ist eine Novelle, die nur dazu führt, dass
die Rechte der deutschen Bundesbürgerinnen und Bundesbürger im Hinblick auf Datenüberwachung oder Abhörmöglichkeiten verbessert werden. Sie werden überhaupt nicht verschlechtert.
({7})
Durch die einfache Speicherung der Vorratsdaten wird
auch nichts verschlechtert; denn es bleibt dabei, dass die
Daten nicht beim Staat, sondern wie heute bei den Telekommunikationsunternehmen gespeichert werden. Es
bleibt dabei: Einen Zugriff auf diese Daten kann es nur
geben, wenn man den Verdacht auf eine erhebliche
Straftat hat und ein richterlicher Beschluss vorliegt. Es
kann nicht willkürlich auf Daten zugegriffen werden.
Deswegen sind die Beispiele aus den genannten Interviews falsch.
Ich wäre dankbar, wenn Sie diesen Unterschied zur
Kenntnis nähmen und helfen würden, auch in der öffentlichen Kommunikation deutlich zu machen, dass wir
nicht auf dem Weg in einen Überwachungsstaat sind,
sondern dass wir die Voraussetzungen dafür schaffen,
dass schwerste Kriminalität, terroristische Taten und organisierte Kriminalität wirksam bekämpft werden können.
({8})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg van Essen für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
sprechen heute über zwei Themenfelder: erstens über die
Telekommunikationsüberwachung und zweitens über
die Vorratsdatenspeicherung. Gerade die Telekommunikationsüberwachung ist ein Thema, das mich seit meinem Eintritt in den Deutschen Bundestag beschäftigt.
Ich bin derjenige gewesen, der Jahr für Jahr die Überwachungszahlen abgefragt hat, weil diese Zahlen sonst
nicht errechnet worden wären. Das ärgert mich; denn die
Parlamente müssen natürlich wissen, ob sie gegebenenfalls eingreifen müssen.
Das Ergebnis der Berichte, nach denen ich bei der
Bundesregierung gefragt habe, war, dass wir von Jahr zu
Jahr erhebliche Steigerungsraten hatten. Im letzten Jahr
hat es - Gott sei Dank; auch das darf man hier sagen zum ersten Mal einen Rückgang gegeben. Ich finde, dass
sich ein Parlament damit beschäftigen muss, warum es
diesen Anstieg gab. Das ist erklärungsbedürftig. Es bedeutet nämlich einen ganz erheblichen Eingriff in die Intimsphäre eines Bürgers, wenn Telefonate abgehört werden.
Die parlamentarischen Beratungen in der Vergangenheit haben deutlich gemacht, dass es Verbesserungsbedarf gab, insbesondere bei den Verfahrenssicherungen.
Deshalb will ich zunächst zu dem aus meiner Sicht einzigen positiven Punkt kommen: Bei den Verfahrenssicherungen gibt es eindeutig Fortschritte. Das will ich als
Vertreter der Opposition ausdrücklich anerkennen.
Es gibt aber auch heftige und, wie ich finde, berechtigte Kritik. Insbesondere für Berufsgruppen, die bewusst geschützt werden müssen, gibt es Regelungen, die
nicht nachvollziehbar sind. Absolut geschützt sind nur
Geistliche, Verteidiger und Abgeordnete.
({0})
- Sie können gleich dazu Stellung nehmen. - Wie absurd
das Ganze ist, können wir gerade bei dem Beruf des Verteidigers erleben. Viele Beratungen finden zunächst einmal nicht unter dem Aspekt des Strafrechts, also der Verteidigung, statt. Deshalb kann man vieles gar nicht
vorhersehen; die Entwicklung kann sich sehr schnell
wandeln. Daher ist die Kritik, die insbesondere von den
entsprechenden Verbänden geübt wird, absolut berechtigt; sie findet ausdrücklich unsere Unterstützung.
({1})
Anwälte, Ärzte und viele andere Berufsgruppen haben
berechtigterweise Sorgen. In Zukunft findet eine Verhältnismäßigkeitsprüfung statt. Keiner kann mehr sicher
sein, dass das Vertrauensverhältnis, das gegenüber einem
Arzt, einem Rechtsanwalt oder anderen bestehen muss,
nicht in Gefahr gerät.
({2})
Wir haben genauso heftige und, wie ich gleich darlegen werde, berechtigte Kritik an der Vorratsdatenspeicherung. Es mangelt doch bereits an einer wirklich
tragfähigen Grundlage, Frau Ministerin. Sie haben dargestellt, wie es zu der EU-Richtlinie gekommen ist. Das
ändert aber nichts daran, dass Irland berechtigterweise
den Europäischen Gerichtshof angerufen hat. Ich weiß,
wie das Urteil aussehen wird. Wer das Urteil zu der
Fluggastdatenspeicherung gelesen hat, weiß, zu welchem Urteil es hier kommen wird. Sie hätten warten
müssen, bis dieses Urteil vorliegt.
Die Bundeskanzlerin hat zu Beginn der Legislaturperiode das Versprechen gegeben, dass EU-Richtlinien in
Zukunft nur noch eins zu eins umgesetzt werden. Dieses
Versprechen ist erneut gebrochen worden. Das ärgert
uns.
({3})
Diese Richtlinie gibt vor, Regelungen zum Umgang mit
schweren Straftaten zu treffen. Sie haben den Umfang
der Regelungen auf erhebliche Straftaten, auf Straftaten,
die mit Telekommunikation zu tun haben, erweitert. Damit gehen Sie weit über die EU-Richtlinie hinaus.
Uns macht die anlass- und verdachtslose Speicherung
von Daten von Bürgern am meisten Sorgen. Bürger werden unter Generalverdacht gestellt.
({4})
Das ist ein klarer und eindeutiger Verstoß gegen das
Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Ich bin
deshalb sehr froh, dass mehrere Kollegen meiner Fraktion prüfen, ob es sinnvoll ist, das Bundesverfassungsgericht anzurufen. Ich bin sicher, dass sie das tun werden,
und ich bin genauso sicher, dass sie ausgesprochen gute
Chancen haben, zu erleben, dass das Bundesverfassungsgericht dieses Gesetz kippt. Es muss gekippt werden.
Frau Ministerin, ich erinnere daran, dass der Bundestag Sie mit den Stimmen aller Fraktionen ausdrücklich
aufgefordert hat, einer solchen Vorratsdatenspeicherung
nicht zuzustimmen.
({5})
Wir erleben heute eine klare und eindeutige Missachtung
des Deutschen Bundestages. Das ist für uns nicht akzeptabel.
({6})
Die Entscheidung meiner Fraktion ist unzweideutig:
Wir lehnen Ihre Vorschläge heute hier ab.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Siegfried Kauder von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Wer im Zusammenhang mit dem Entwurf eines Gesetzes
zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung
und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie
zur Umsetzung der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung das Schreckgespenst eines Orwell’schen Überwachungsstaates an die Wand malt, der zündelt.
({0})
Er zündelt in einem hochsensiblen Bereich und versucht,
das Vertrauen der Bevölkerung in staatliches Handeln zu
unterminieren. Er zündelt im Bereich der inneren Sicherheit sowohl am Ende der Prävention als auch am Ende
der Repression. Das dürfen wir nicht zulassen.
Wie ist denn die augenblickliche Gesetzeslage? Es
geht bei diesem Gesetzentwurf nicht um den Großen
Lauschangriff; den haben wir schon in der Strafprozessordnung. Es geht nicht um das Abhören von Telekommunikationsinhalten; das haben wir schon. Es geht um
das Abgreifen von Übermittlungsdaten, sogenannten
Verkehrsdaten. Herr Kollege Ströbele, auch das haben
wir schon in § 100 g und § 100 h der Strafprozessordnung.
Genau bei diesen beiden Vorschriften bestand Handlungsbedarf; denn diese beiden Paragrafen laufen zum
31. Dezember 2007 aus. Hätte die Bundesregierung
nicht reagiert, würde das bedeuten, dass wir Verkehrsdaten ab dem 1. Januar 2008 überhaupt nicht mehr abfragen dürfen. Das ist unter dem Gesichtspunkt der inneren
Sicherheit ganz und gar nicht vertretbar.
({1})
Die Bundesregierung ist über das, was man aus gesetzgeberischer Sicht dringend tun musste, hinausgegangen, aber nicht, um in die Rechte unbescholtener Bürger
einzugreifen, sondern um den achten Abschnitt des ersten Buches der Strafprozessordnung neu zu ordnen. Das
war auch geboten. Fachkundige können sich den geltenden § 100 h der Strafprozessordung gern einmal anschauen. Im ersten Absatz gibt es eine Verweisungskette,
die keiner nachvollziehen kann. Im zweiten Absatz ist
etwas enthalten, das viele übersehen, nämlich der Schutz
von Berufsgeheimnisträgern. Schauen Sie sich § 100 h
Abs. 2 StPO einmal genau an! Die nichtprivilegierten
Berufsgeheimnisträger sind dort überhaupt nicht geschützt.
({2})
Siegfried Kauder ({3})
Dieses Gesetz wird also zu einer Verbesserung der
Rechte der Berufsgeheimnisträger führen und nicht zu
einer Verschlechterung.
({4})
Man wird es der Bundesregierung nicht verübeln können, dass sie die neueste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Schutz des höchstpersönlichen
Lebensbereichs mit eingebunden hat, enthalten in
§ 100 a Abs. 4 des Gesetzentwurfes. Dem wird sich
wohl keiner verwehren können.
({5})
Streit ist bei der Frage entstanden, ob es zwei unterschiedliche Gruppen von Berufsgeheimnisträgern geben
darf oder nicht. Ich wiederhole es: Diese Unterscheidung
gibt es schon nach jetzigem Recht. Ich erlaube mir, auf
eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im
107. Band der amtlichen Sammlung auf Seite 299 hinzuweisen. Es ging um einen Fall, in dem ein Terrorist mit
sechs Tatgenossen einen Anschlag auf die OPEC-Konferenz in Wien im Jahr 1975 verübt hat. Drei Menschen
wurden getötet, 70 wurden als Geisel genommen. Die
Ermittlungsbehörden hatten die begründete Vermutung,
dieser Top-Terrorist aus Deutschland habe sich ins Ausland abgesetzt und halte Kontakt zu einer Journalistin eines großen Magazins in Deutschland. Dann wurden Verbindungsdaten erhoben. Diese Erhebung hat dazu
geführt, dass man diesen Top-Terroristen festnehmen
konnte und, obwohl er von der Kronzeugenregelung Gebrauch gemacht hat, zu neun Jahren Freiheitsstrafe verurteilen konnte. - Genau diesen Zustand wollen wir beibehalten. Das Bundesverfassungsgericht hat bestätigt,
dass Drittbetroffene in solchen gravierenden Fällen abgehört werden dürfen und dass Verbindungsdaten erhoben werden dürfen. Das soll auch so bleiben.
Natürlich soll es auch den Schutz von nichtprivilegierten Berufsgeheimnisträgern wie Ärzten, Anwälten
und Journalisten geben. Das Bundesverfassungsgericht
sieht vor, dass in solchen Fällen ein Abwägungsprozess
stattzufinden hat; genau das ist im neuen § 160 a des
Entwurfes zur Änderung der Strafprozessordnung vorgesehen, nichts anderes.
Nun kann man sich darüber aufregen, dass Verteidiger
gegenüber Anwälten, Abgeordnete gegenüber Ärzten
und Geistliche gegenüber Journalisten privilegiert sind;
denn bei den jeweils zuerst Genannten besteht jeweils
ein absolutes Beweisverwertungsverbot. Das ist aber
verfassungsrechtlich nun einmal so vorgegeben.
({6})
Man muss von unten anfangen zu argumentieren: Bei
den Ärzten, Anwälten und Journalisten ist es verfassungsrechtlich nicht geboten. Die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts im 107. Band auf Seite 299
hat das glasklar zum Ausdruck gebracht. Bei den anderen drei Berufsgruppen ist es zwingend vorgeschrieben.
Genau diese Vorgaben berücksichtigt der Gesetzentwurf. Deswegen gibt es daran überhaupt nichts zu kritisieren. Es wird keinen Überwachungsstaat geben, um
das klar zum Ausdruck zu bringen.
({7})
Wir wollen keinen gläsernen Menschen, wir wollen einen gläsernen Verbrecher. Daran werden wir festhalten.
Um nichts anderes geht es bei diesem Entwurf.
({8})
Man darf nicht den Eindruck erwecken, als würden
wir flächendeckend Daten erheben. Um was geht es
denn bei der Vorratsdatenspeicherung? Es geht darum,
dass Sinn und Zweck eines ohnehin schon bestehenden
Zustands anders gelagert werden. Schauen Sie in § 100 g
der Strafprozessordnung im derzeitigen Zustand! Er besagt, dass man Verbindungsdaten für Zwecke der polizeilichen Ermittlung erheben darf.
({9})
Wer den dritten Satz des ersten Absatzes des § 100 g
liest und versteht, der wird sehr schnell feststellen, dass
man auch zukünftig anfallende Verbindungsdaten abgreifen darf.
Was ändert sich mit dem Gesetzentwurf an der jetzigen Gesetzeslage? Nichts Wesentliches.
({10})
Der einzige technische Unterschied ist, dass Telekommunikationsunternehmen die Daten nicht mehr freiwillig
speichern, sondern dass sie gesetzlich dazu aufgerufen
werden.
({11})
Der Staat darf aber auf diese gespeicherten Daten nicht
willkürlich zugreifen, sondern nur bei erheblicher Kriminalität und nur dann, wenn der Richter es bewilligt.
Das sind genau die Vorgaben, die das Bundesverfassungsgericht gemacht hat.
({12})
Deswegen, Herr Kollege van Essen, habe ich keine großen Sorgen, dass dieses Gesetz vor dem Bundesverfassungsgericht nicht standhält. Im Übrigen dürfen wir
nicht immer wie das Kaninchen vor der Schlange vor
verfassungsgerichtlichen Entscheidungen stehen, die
noch gar nicht gefallen sind.
({13})
Siegfried Kauder ({14})
Natürlich dürfen wir uns nur im grundrechtlich zulässigen Rahmen bewegen. Darüber haben wir uns lange
Gedanken gemacht. Die Pressefreiheit ist zu wahren.
Um auch das klar zu sagen: Journalisten verbessern sich
gegenüber dem bestehenden Zustand ganz deutlich. Wir
legen im neuen Abs. 3 des § 108 der Strafprozessordnung fest, dass die Verwertung von Zufallsfunden bei
Journalisten nur in deutlich eingeschränktem Maße zulässig ist.
({15})
Kommen die Ermittlungsbehörden im Rahmen einer
Hausdurchsuchung in eine Redaktion, dürfen sie etwas,
was sie zufällig finden und sich auf § 353 b des Strafgesetzbuches, also auf Geheimnisverrat, bezieht, nicht verwerten; da wird eine Sperre eingebaut.
({16})
- Zu Beweiszwecken, Herr Kollege Montag. - Die Journalisten verbessern sich also deutlich in ihrer Position.
Sie sind damit - wir haben mit ihnen gesprochen - eigentlich auch zufrieden.
({17})
Sie sehen also, dass wir berechtigte Interessen sehr
wohl berücksichtigen. Populismus werden wir aber nicht
unterstützen.
Wer innere Sicherheit in diesem Lande will, wer will,
dass Menschen sicher und in Freiheit leben, der darf
nicht nur auf Freiheitsrechte schauen, sondern der muss
sich dessen bewusst sein, dass wir einen von der Verfassung gegebenen Auftrag haben, die innere Sicherheit zu
schützen. Daran werden wir festhalten. Deswegen bitte
ich alle, die diesem Ziel folgen, dem Gesetzentwurf zuzustimmen.
({18})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der
Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin in der Debatte angesprochen worden und
möchte die Gelegenheit nutzen, etwas zu ergänzen zu
den Ausführungen meines Fraktionskollegen van Essen,
der die Kernpunkte unserer Kritik richtig benannt hat,
aber auch die Punkte angesprochen hat, die wir für eine
Verbesserung halten, wie wir es auch im Ausschuss gesagt haben. Wir setzen uns mit diesem umfangreichen
Gesetzgebungsvorhaben also sehr konstruktiv auseinander.
({0})
Dabei muss auf manche Bestimmungen hingewiesen
werden, die bisher nicht so sehr im Fokus der Debatte
standen, die aber große Besorgnis im Hinblick auf die
Bestandskraft der Regelungen rechtfertigen.
Sie ändern mit diesem Gesetzentwurf nicht die Kompetenzen von Bundesnachrichtendienst, Verfassungsschutz und Militärischem Abschirmdienst, aber Sie nehmen im neuen § 113 b Telekommunikationsgesetz
ausdrücklich Regelungen auf, wonach die Verpflichteten
die Daten, die pauschal von jedem gespeichert werden,
der telefoniert, surft oder mailt, auf Anforderung an Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst und Militärischen Abschirmdienst - im Rahmen der Kompetenzaufgaben - herausgeben dürfen. Nach der Richtlinie wäre
das nicht geboten gewesen. Hier geht man deutlich über
die Richtlinie hinaus. Warum gibt es überhaupt diese
Verpflichtung der Diensteanbieter, in der Weitergabe der
Daten viel weiter zu gehen?
Nicht die Inhalte werden gespeichert; das sagen auch
wir bei jeder Gelegenheit. Aber alle Telekommunikationsverbindungsdaten werden gespeichert. Das ist mehr,
als derzeit zu Abrechnungszwecken gespeichert wird.
Dass man aus diesen Daten, aus allen Telefonnummern,
aus dem Zeitpunkt der Verbindung und aus allen IPNummern, sehr wohl nachvollziehen kann, wie das Telekommunikationsverhalten eines Bürgers bzw. einer Bürgerin aussieht, ist absolut unstreitig. Dass aufgrund dessen Profile erstellt werden können, ist vollkommen
unstreitig. Genau das ist datenschutzrechtlich relevant.
({1})
- Das ist keine Volksverdummung, sondern das Rekurrieren auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes.
({2})
Denn das Bundesverfassungsgericht sagt: Schon die Erhebung und Speicherung dieser Daten sind grundrechtsrelevant.
Ihr Hinweis, Frau Ministerin, wie heute in einem Interview von Ihnen zu lesen ist, dass das Recht auf informationelle Selbstbestimmung durch die Benachrichtigung der Bürgerinnen und Bürger gewährleistet wird,
reicht hier eben nicht aus.
({3})
Ich denke, das zu sagen, gehört zu dieser Debatte.
({4})
Zur Erwiderung Herr Kauder.
Es war schon bemerkenswert, was Frau Kollegin
Leutheusser-Schnarrenberger von sich gegeben hat.
Kein Wort zum Interesse und zu der Aufgabe des Staates, die innere Sicherheit zu wahren!
({0})
Sind wir nicht aufgerufen, schwere und schwer zu ermittelnde Straftaten aufzuklären? Darauf hat die Bevölkerung einen Anspruch. Auch das ergibt sich aus der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in mehreren, wenn nicht gar zahlreichen Urteilen. Es fällt auf,
dass darauf hinzuweisen Sie tunlichst unterlassen haben.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jan Korte von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zuerst einmal möchte ich feststellen, dass es grundsätzlich
sinnvoll ist, eine Gesamtregelung für alle im Bereich der
Telekommunikation bestehenden Maßnahmen zu schaffen; darin sind wir uns, glaube ich, einig. Allerdings
wird Sie nicht überraschen, dass wir die gesamte Stoßrichtung für nicht richtig halten.
({0})
Ich will das an zwei Punkten verdeutlichen. Der eine
Punkt ist der Schutz des Kernbereichs; er ist angesprochen worden. Ich möchte noch einmal für alle deutlich
machen: Das ist der Raum, wo Menschen völlig ungestört und unbeobachtet, zum Beispiel im Schlafzimmer
oder in intimsten Gesprächen im engen Familienkreis,
kommunizieren. In dem Gesetzentwurf, der heute vorliegt, steht zum Schutz dieses Kernbereichs, dass eine
Überwachungsmaßnahme dann unzulässig ist, wenn
- ich zitiere - „allein Erkenntnisse aus dem Kernbereich
privater Lebensgestaltung erlangt würden“. Das ist das
entscheidende Problem. Die Telekommunikation bzw.
die Kommunikation zwischen Menschen läuft doch
nicht nach einer bestimmten Tagesordnung ab, nach dem
Motto: Von 10.00 bis 10.15 Uhr rede ich über intime Angelegenheiten des Kernbereichs und von 10.20 bis
10.30 Uhr über eventuelle terroristische Aktivitäten. So
funktioniert es nicht. Das ist das Problem an dieser
Stelle.
({1})
- So funktioniert nun einmal Kommunikation.
Der zweite Punkt ist die Vorratsdatenspeicherung, die
nicht nur uns, die Opposition, sondern auch viele andere
Menschen und Organisationen in diesem Land bewegt.
Es sollte noch einmal deutlich gemacht werden, worum
es dabei geht. Per Gesetz - das ist die Neuerung, also
verpflichtend - werden die Telekommunikationsunternehmen verpflichtet, Verbindungsdaten sechs Monate
lang auf Vorrat zu speichern. Ganz konkret bedeutet
dies, dass es möglich ist, nachzuvollziehen, wer mit
wem in den letzten sechs Monaten wie lange und von wo
aus per Telefon, Handy, SMS oder E-Mail in Verbindung
stand. „Vorratsdatenspeicherung“ ist in diesem Zusammenhang vielleicht nicht der politisch absolut treffliche
Begriff. Trefflicher müsste es vielmehr heißen: Wir haben es hier mit einer Totalregistrierung von menschlichem Kommunikationsverhalten zu tun. - Das ist der
Kern, um den es heute geht.
({2})
Wir beschließen heute, wie ich finde, viel zu kurz und
viel zu fahrlässig mal eben schnell einen Paradigmenwechsel. Dieser besteht darin, dass ab 2008 das Telekommunikationsverhalten von 80 Millionen Menschen
in der Bundesrepublik auf Vorrat gespeichert wird, und
zwar ohne jeden Verdacht und ohne jeden Anlass. Statt
Datensparsamkeit exorbitante Datensammelwut!
Die Bundesregierung geht sehr wohl über die EURichtlinie hinaus; das ist hier bereits angesprochen worden. Denn in der Richtlinie heißt es, die Speicherung
diene „zum Zwecke der Ermittlung, Feststellung und
Verfolgung von schweren Straftaten“.
Bei der Bundesregierung soll der Zugriff bei erheblichen Straftaten und bei einer „mittels Telekommunikation“ begangenen Straftat geregelt werden. So steht das
dort drin. Das beinhaltet beispielsweise auch eine Beleidigung am Telefon oder das illegale Herunterladen von
Klingeltönen oder was auch immer. Das ist die Logik davon.
({3})
Deswegen ist es heute ein ganz trauriger Tag für die Demokratie, wenn das hier umgesetzt wird.
({4})
Man muss sich auch darüber im Klaren sein, was das
für die Menschen praktisch bedeutet. Erstens werden sie
ihr Kommunikationsverhalten ändern. Sie werden versuchen, unauffällig zu kommunizieren, und sich anpassen.
Wir als Linke wollen das Gegenteil, dass sie unangepasst
und frei kommunizieren können.
({5})
Zweitens ist das ein Eingriff in die Pressefreiheit; das
ist hier schon angesprochen worden. Nicht nur wir, sondern sämtliche Journalistenverbände und viele andere
sagen, dass dies einer der größten Eingriffe in die Pressefreiheit ist.
({6})
Erfahrungen aus Belgien zeigen ganz deutlich, dass nach
der Einführung der Vorratsdatenspeicherung Kontakte
zwischen Informanten und Journalisten ein Ende gefunden haben. Das ist in Belgien nachweislich der Fall gewesen.
Im Zusammenhang mit den Datenmengen erinnere
ich an die Debatten über die Mautdaten und daran, welche Begehrlichkeiten dort geweckt wurden. Bei den
gigantischen Datenmengen, die hier gesammelt werden,
sind der Missbrauch und das Wecken von Begehrlichkeiten schon vorprogrammiert.
({7})
Nun noch ein Wort an die Kolleginnen und Kollegen
der SPD: Auf Ihrem Hamburger SPD-Parteitag heißt es
in Ihrem Beschluss zur Innenpolitik: „Die SPD ist die
Partei der Bürgerrechte und der rechtsstaatlichen Terrorbekämpfung.“ Wenn dies wirklich ernst gemeint ist,
wäre es an der Zeit, eine Kurskorrektur vorzunehmen
und der Vorratsdatenspeicherung hier heute nicht zuzustimmen. Dazu fordern wir Sie auf.
({8})
Die Linke hat in den letzten Monaten die vielfältigen
Protest- und Widerstandsaktionen in diesem Lande unterstützt. Wir freuen uns, dass bereits über 7 000 Menschen dieses Landes Vollmachten für eine Verfassungsbeschwerde eingereicht haben. Ich finde, es ist ein gutes
Zeichen für die Demokratie, dass sich die Leute zusammenschließen und ihre Rechte wahrnehmen. Wir unterstützen das ganz deutlich.
({9})
Ich glaube, dass es heute wirklich Zeit ist - das muss das
Signal in die Öffentlichkeit sein, auch wenn dieser Gesetzentwurf heute von Ihnen beschlossen werden sollte für eine neue, energische und freche Bürgerrechtsbewegung. Dafür gibt es gute relevante Indikatoren. Denn einen Staat, den Sie in Richtung Überwachung dirigieren
wollen, möchten wir nicht und möchten ganz viele andere in diesem Lande auch nicht.
Schönen Dank.
({10})
Das Wort hat der Kollege Jerzy Montag vom Bündnis
90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute ist
ein schwarzer Tag für die Bürgerrechte in der Bundesrepublik Deutschland - ein tiefschwarzer Tag!
({0})
Wie schwarz dieser Tag für die Bürgerrechte in Deutschland ist, können Sie dieser deutschen Zeitung entnehmen: Meine Damen und Herren, hier in meiner Hand sehen Sie den Donaukurier aus Bayern, eine konservative
Zeitung. Ich nehme die Chefredaktion und den Verleger
ausdrücklich vor dem Vorwurf in Schutz, sie seien Zündler, wenn sie in dieser Woche in dieser Zeitung schreiben: Wir wehren uns gegen die Einschränkungen von
Grundrechten und der Pressefreiheit in der Bundesrepublik Deutschland.
({1})
Die Zeitungsverleger in Land und Bund sind keine
Zündler. Aber sie sind gegen Ihr Gesetz.
({2})
Herr Kollege Montag, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich möchte keine Zwischenfragen beantworten.
({0})
Bei einer Redezeit von fünf Minuten will ich das nicht.
Die Bundesrechtsanwaltskammer gehört nicht zu den
Zündlern in diesem Lande, die Bundesärztekammer und
der Bundeshebammenverband auch nicht. Ich komme
auf die Hebammen noch zurück. Ich nehme mir hier ausdrücklich das Recht heraus, zu sagen: Es steht Ihnen
nicht an, die Bürgerinnen und Bürger, die sich Sorgen
um ihr Land machen, als „Zündler“ zu beschimpfen.
({1})
Ich will die Kritik beim Namen nennen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, erinnern Sie sich
noch an Ihren hochverehrten Kollegen Hermann
Bachmaier?
({2})
Das ist ein ernstzunehmender, nachdenklicher Rechtspolitiker, mit dem wir hier viele Jahre gemeinsam gearbeitet haben. Er hat sich die Freiheit genommen, Ihnen zu
sagen - das steht in der Süddeutschen Zeitung in dieser
Woche -, die Große Koalition wahrt nicht den Berufsgeheimnisschutz in der Bundesrepublik, sondern begeht,
wie er schreibt, „Geheimnisverrat per Gesetz“. Das sagen nicht wir Grünen oder irgendwelche Radikalinskis,
sondern das sagen die, die Sie als „Zündler“ bezeichnen,
das ist Ihr ehemaliger Bundestagsabgeordneter Bachmaier.
({3})
Hier wurde behauptet, dass diejenigen, die vom Überwachungsstaat reden, „Zündler“ seien. In Richtung
Union sage ich: Ich erinnere Sie an den Verfassungsrichter Udo di Fabio. Udo di Fabio ist ein Konservativer. Er
hat Ihnen am Dienstag dieser Woche ins Stammbuch geJerzy Montag
schrieben - ich zitiere wörtlich -: Die Bürger wollen
nicht den totalen Überwachungsstaat. - Das sind nicht
meine Worte, sondern die Worte eines amtierenden Verfassungsrichters in diesem Land. Das Wort vom totalen
Überwachungsstaat ist gegen Sie gerichtet.
({4})
Die Bundesjustizministerin hat vor einigen Tagen ein
Interview gegeben und sich dabei darüber mokiert, dass
die Kritiker des heutigen Gesetzentwurfs von wenig
Sachkunde beleckt seien. Ich muss und will in aller
Deutlichkeit sagen, alle Punkte, die von der Bundesjustizministerin in diesem Interview zur Verteidigung dieses Gesetzes vorgebracht wurden - zum Teil tauchten sie
in ihrer heutigen Rede auf -, sind in der Sache falsch.
({5})
Sie hat gesagt, der Straftatenkatalog des § 100 a StPO
würde von Ihnen entrümpelt. Nein, Sie machen ihn zur
Hydra: Sie haben einen Kopf abgeschnitten und fünf
weitere hinzugefügt. Die Ministerin hat gesagt, nach ihrem Gesetz könnte man nur noch abhören, wenn eine
Freiheitsstrafe von ein bis fünf Jahren droht. Falsch, Sie
schlagen vor, dass man selbst bei Straftatbeständen, bei
denen nur eine Geldstrafe inmitten steht, abhören kann.
({6})
Die Bundesjustizministerin hat gesagt, dass Gespräche im Kernbereich nicht abgehört werden dürfen.
Falsch, die Praxis des Gesetzes, das Sie vorschlagen, ist
anders: Nur dann, wenn die Polizei von vorneherein
sagt, allein zum Kernbereich würde gesprochen, darf
nicht abgehört werden. So etwas ist - das wissen Sie nie möglich. Gespräche zwischen Menschen umfassen
immer verschiedenartige Gesprächsinhalte. Das bedeutet, dass Sie mittels dieses Gesetzes immer abhören wollen.
({7})
Sie halten das Zweiklassenrecht, das Recht der Berufsgeheimnisträger, das wir haben, aufrecht. Durch die
Ergänzungsanträge dieser Woche haben Sie das noch
verschlimmert.
({8})
Zur Vorratsdatenspeicherung will ich Folgendes sagen: Frau Ministerin, Sie machen mehr, als Sie müssen.
Sie benutzen diese Datei nicht nur zum Kampf gegen
den Terror, sondern auch bei einfachen Straftaten.
({9})
Das, was Sie machen, ist der erste Schritt. Im zweiten
Schritt werden die Daten auch den Geheimdiensten zur
Verfügung gestellt.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss.
Ich möchte noch einmal daran erinnern, dass der Verleger und die Chefredaktion des Donaukuriers geschrieben haben: -
Herr Kollege Montag, bitte.
Ich komme zum Ende.
Lassen Sie sich keine weiteren Eingriffe in die demokratischen Grundrechte bieten.
Ich habe Hochachtung vor diesen Journalisten.
Ich sage für meine Fraktion, die Grünen: Wir werden
all diejenigen unterstützen, die sich gegen dieses Gesetz
zur Wehr setzen werden.
({0})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Siegfried Kauder von der CDU/CSU-Fraktion.
Kollege Montag hat versucht, den Eindruck zu erwecken, als würde dieser Gesetzentwurf die Rechte von
Journalisten verschlechtern.
({0})
Hätte er mir doch nur zugehört! Habe ich nicht ausdrücklich auf § 100 h Abs. 2 der Strafprozessordnung
hingewiesen? Schon nach jetzigem Recht dürfen Verkehrsdaten zu Ermittlungszwecken abgegriffen werden.
Nach bisherigem Recht haben Journalisten überhaupt
keinen Schutz. Den haben wir erst durch diesen Gesetzentwurf in § 160 a der Strafprozessordnung eingefügt.
({1})
Wir verbessern den Schutz der Journalisten beim Zufallsfund.
Das, was Sie heute getan haben, Herr Kollege
Montag, ist nicht das, was ich von Ihnen im Ausschuss
gewohnt bin. Das ist keine sachliche Politik, sondern
blinder Populismus. Schade drum.
({2})
Zur Erwiderung, Herr Montag.
Herr Präsident! Herr Kollege Kauder, Sie wissen ja
- das haben Sie zu Recht erwähnt -, dass ich mich um
eine sachliche Diskussion bemühe,
({0})
wo sie möglich ist. Deswegen habe ich ganz bewusst in
der heutigen Debatte in weiten Teilen meiner kurzen
fünfminütigen Rede andere zu Wort kommen lassen, wie
zum Beispiel die Konservativen aus Bayern und den
konservativen Verfassungsrichter, der vom totalen Überwachungsstaat spricht, in den Sie uns mit diesem Gesetz
führen.
Hinsichtlich der Journalisten gestehe ich zu - Sie geben mir die Gelegenheit, das jetzt zu tun, also mache ich
es -: In einigen Einzelheiten birgt der Gesetzentwurf
Vorteile.
({1})
- Wenn man eine rationale Debatte führt, dann finden
Sie auch das verkehrt.
Ich sage Ihnen: In einigen Kleinigkeiten gibt es in
diesem Gesetzentwurf natürlich Verbesserungen gegenüber dem Status quo; das ist völlig richtig.
({2})
- Ja, beklatschen Sie sich nur selber.
Trotzdem bleibt die Kritik richtig, die nicht nur ich,
nicht nur die Grünen äußern, sondern im breitesten Umfang in der öffentlichen Auseinandersetzung erhoben
wird.
({3})
Der Journalisten- und der Informantenschutz werden
durch dieses Gesetz ausgehöhlt. Lieber Kollege Kauder,
durch die neuesten Änderungen, die Sie in der letzten
und dieser Woche nachgeschoben haben, wird der
Schutz noch mehr ausgehöhlt als bisher.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Uwe Benneter
von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Montag, dies muss kein
schwarzer Tag werden, wenn wir halbwegs redlich und
seriös bleiben.
({0})
Wenn Sie sich hier aber aufführen wie Rumpelstilzchen
({1})
und entgegen Ihrer sonstigen Art, bei der Sie auf Argumente eingehen, Falschheiten verbreiten, dann wird das
wirklich ein schwarzer Tag für den Parlamentarismus.
({2})
Die heutige Situation von Ärzten, Anwälten, Notaren
und Journalisten ist schlechter, als wir sie mit diesem
Gesetz machen werden. Wir schreiben jetzt Abwägungsgründe - Dinge, die bisher nicht eingehalten wurden - in
das Gesetz.
({3})
Unser Grundsatz bleibt: Vertrauliche Gespräche dieser
Berufsgeheimnisträger bleiben geschützt und müssen
geschützt bleiben.
({4})
- Wir haben Riegel vorgeschoben. Wir haben neue Hürden gesetzt.
Schwere Straftaten haben wir im Katalog zusammengefasst. Das ist nichts Neues. Aber wir haben jetzt hineingeschrieben, dass Straftaten mit im Höchstmaß weniger als fünf Jahren herausfallen. Sie können jedenfalls
heute nicht mehr mit heimlichen TKÜ-Maßnahmen
überzogen werden. Das ist ein Fortschritt.
({5})
- Das steht im Gesetz.
({6})
Das steht in § 100 a Abs. 4. Gucken Sie doch rein!
({7})
Außerdem ist es notwendig, dass es nicht nur abstrakt
eine schwere Straftat sein muss, sondern es muss auch
im konkreten Einzelfall eine schwere Straftat sein. Auch
das ist eine weitere Hürde, die wir jetzt eingebaut haben.
Herr Kollege Benneter, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?
Bitte.
Bitte, Herr Ströbele.
Herr Kollege Benneter, geben Sie mir recht, dass nach
der Vorschrift, die Sie heute verabschieden wollen, so
schwere Straftaten wie einfacher Diebstahl Anlassstraftaten sind, um abzuhören, und dass Sie den Straftatenkatalog, den Sie schon vorgefunden haben, um eine ganze
Reihe von zusätzlichen Straftaten erweitert haben, sodass davon auszugehen sein wird, dass über das Maß
dessen hinaus, was in Deutschland in den letzten Jahren
abgehört worden ist - Deutschland hat sich bereits als
Weltmeister im Abhören erwiesen -, weitere Abhörmaßnahmen zu erwarten sind - das heißt, es wird zu einer
Steigerung auf mehr als 50 000 solcher Anordnungen im
Jahr kommen -, und dass das genau der falsche Weg ist?
Das gebe ich nicht zu.
({0})
Wir haben das Gegenteil dessen gemacht und das Gegenteil dessen ins Gesetz geschrieben.
Was den Schutz der Berufsgeheimnisträger angeht, so
haben wir die Maßstäbe für die Abwägung ausdrücklich
mit ins Gesetz hineingenommen. Es müssen Straftaten
von erheblicher Bedeutung sein; ansonsten ist kein Strafverfolgungsinteresse gegeben. All das sind Dinge, die
bisher so nicht im Gesetz standen. Selbst wenn bei Journalisten ein konkreter Verdacht auf Verstrickung besteht,
ist es nicht mehr möglich - das haben wir ausdrücklich
ins Gesetz geschrieben -, Zufallsfunde zu beschlagnahmen und mitzunehmen. Das ist ein ganz wesentlicher
Forschritt gegenüber dem, was wir bisher hatten.
({1})
Obwohl es in der Praxis bisher üblich war, die Verstrickung über den sogenannten Geheimnisverratsparagrafen herzustellen, haben wir jetzt klargestellt, dass, wenn
es um Geheimnisverrat geht, es keine solche Verstrickung für Journalisten gibt. All das sind wesentliche
Fortschritte, die es zu berücksichtigen gilt, und deshalb
ist es unredlich, hier in dieser Art und Weise Besorgnis
zu mobilisieren, die hier nicht angebracht ist.
({2})
Eine wirksame Strafverfolgung - das wird hier im
Hause wohl jeder einräumen - ist nicht nur legitim, sondern eine der wesentlichen Aufgaben, die der Staat leisten muss. Wir haben ein Interesse an der Ermittlung der
Täter, an der Feststellung ihrer Schuld und auch ihrer
Verurteilung bzw. am Freispruch bei Unschuldigen. Das
alles ist unter den heutigen Bedingungen nur möglich,
wenn auch die Kommunikationsmöglichkeiten überwacht, erhoben und gespeichert werden. Deshalb hat das
Bundesverfassungsgericht in einer kürzlich ergangenen
Entscheidung ausdrücklich hervorgehoben, dass dies
möglich und auch notwendig ist
({3})
und dass dies geeignet, erforderlich und angemessen ist,
wenn es sich um eine entsprechend schwere Straftat handelt.
({4})
- Ohne Anlass wird bei den Telekommunikationsunternehmen gespeichert, und dort bleiben die Daten. Das
sind alles automatisiert erfasste Daten, und da guckt keiner rein.
({5})
Es darf erst zugegriffen werden, wenn ein ganz konkreter Verdacht auf eine erhebliche Straftat vorliegt. Sonst
darf darauf nicht zugegriffen werden. Alles andere ist
unwahr. Es ist unwahr, wenn Sie hier so tun, als ob wir
alle unter Generalverdacht gestellt würden.
({6})
Das ist Quatsch. Dann würde heute auch jeder unter Generalverdacht stehen, der irgendwo ein Konto hat. Denn
auch darauf darf bei entsprechenden Verdachtsmomenten zugegriffen werden. Es ist unredlich, hier gegenüber
Regelungen, die verfassungsgemäß sind, Besorgnis zu
formulieren. Es wäre verfassungswidrig, dem Strafgebot, das der Staat zu verwirklichen hat, nicht nachzukommen und alle Berufsgeheimnisträger in diesen
Schutz einzubeziehen. Nichts wurde verschlechtert, aber
vieles verbessert, insbesondere für die Berufsgeheimnisträger.
({7})
Das Wort hat der Kollege Gert Winkelmeier.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
„Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen,
wird am Ende beides verlieren.“ Das sagte bereits
Benjamin Franklin, und das hat noch heute Gültigkeit.
Dies sollten wir bedenken, wenn wir heute über den vorliegenden Gesetzentwurf namentlich abstimmen.
In der Bevölkerung und in vielen Berufsverbänden
mehrt sich der Widerstand gegen die Neuregelung der
Telekommunikationsüberwachung und gegen die geplante Vorratsdatenspeicherung. Noch sind es keine
Hunderttausende von Menschen, die auf die Straße gehen. Aber die Gegner formieren sich. Mehr als
7 000 Bürgerinnen und Bürger wollen sich an einer
Sammelbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht beteiligen. Auch ich habe meine Solidarität erklärt und gehöre zu den Unterstützern.
Zum Glück begreifen immer mehr Bürgerinnen und
Bürger, dass dieses Gesetz jede und jeden unter Generalverdacht stellt. Zudem ermöglicht die Vorratsdatenspeicherung, Bewegungsprofile zu erstellen. Dies widerspricht nicht nur dem Recht auf informationelle
Selbstbestimmung, sondern kann auch zu Veränderungen
im Kommunikationsverhalten der Menschen führen.
Hier geht es um sensible Informationen über soziale Beziehungen im privaten, im geschäftlichen und im individuellen Bereich. So könnte man zumindest annehmen,
dass derjenige, der mehrmals mit einem Psychologen telefoniert, seelische Probleme hat. Das geht den Staat
nichts an.
({0})
Es ist richtig, es darf auf die gewünschten Daten nur
mit richterlichem Beschluss zugegriffen werden. Aber so
wie sich dieser Staat in den vergangenen Jahren im
Wahn und auf der Suche nach vermeintlicher Sicherheit
verändert hat, so verändert sich nach und nach auch das
Bewusstsein für die Verhältnismäßigkeit. Dass allein die
Möglichkeit besteht, die Telekommunikationsdaten von
mehr als 80 Millionen Menschen uneingeschränkt zu
speichern, widerspricht unserer Verfassung. Ich prophezeie: Dieses Gesetz wird vor dem Bundesverfassungsgericht keinen Bestand haben.
Es ist sowieso unverständlich, weshalb sich die Regierung bei einem derart sensiblen Thema nicht etwas
mehr Zeit lässt. Zeit hätte sie gehabt. Denn noch ist vor
dem Europäischen Gerichtshof eine Klage Irlands gegen
die entsprechende EU-Richtlinie anhängig. Ehe dort
nicht entschieden ist, gibt es, was den heute vorliegenden Gesetzentwurf angeht, sowieso keine Bestandssicherheit. Man hätte sich also mehr Zeit lassen können.
Dem Justizministerium, nicht aber den Abgeordneten,
liegt ein Gutachten zu den Erfahrungen der deutschen
Ermittlungsbehörden mit der Telekommunikationsüberwachung vor. Ich frage die Bundesregierung: Warum
wird dieses Gutachten den Abgeordneten vorenthalten?
Es gibt keinen plausiblen Grund, warum wir ohne diese
Sachkenntnis entscheiden sollten. Dieses Gutachten
wurde vom Deutschen Bundestag in Auftrag gegeben.
Warum warten wir mit unserer Entscheidung nicht, bis
wir es gelesen haben?
Die deutsche Fußballnationalmannschaft der Frauen
ist Weltmeister geworden, und die Handballnationalmannschaft der Männer ist ebenfalls Weltmeister geworden; das ist phantastisch. Deutschland ist schon jetzt Datensammelweltmeister. Darauf sollten wir nicht stolz
sein.
Vielen Dank.
({1})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Joachim Stünker von der SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Zitate von Bundesverfassungsrichtern ersetzen nicht die Rechtspolitik. Die
Rechtspolitik haben wir hier im Deutschen Bundestag zu
machen.
({0})
Zur wirksamen Kriminalitätsbekämpfung und zur Aufklärung von Straftaten sind Methoden der verdeckten Ermittlung unerlässlich; das wissen Sie alle, die Sie heute
zu diesem Thema gesprochen haben.
({1})
Das gilt insbesondere für die Bekämpfung der organisierten Kriminalität weltweit, für die Bekämpfung von
Wirtschaftsstraftaten und für die Bekämpfung von Betäubungsmittelstraftaten. All dies sind Delikte schwerer
Kriminalität, häufig mit erheblichen Verletzungen von
Opfern und hohem wirtschaftlichen Schaden. Die Vorratsdatenspeicherung dient auch der Abwehr terroristischer Angriffe auf die Sicherheit dieses Landes. Darum
geht es und um nichts anderes.
({2})
Die Menschen in diesem Land haben ein Recht darauf
- und sie können sich darauf verlassen - dass der Staat
sie wirksam vor diesen Straftätern schützt und diese Erscheinungsformen der Kriminalität wirksam bekämpft.
Darum geht es und um nichts anderes.
({3})
Nichts anderes tun wir mit unserer Novelle zum Telekommunikationsüberwachungsrecht. Das wissen Sie alle
ganz genau, auch wenn Sie heute in Ihren Barrikadenreden, kann man fast sagen, etwas anderes behauptet haben.
Andererseits bedeutet jede verdeckte Ermittlungsmaßnahme in der Regel einen Eingriff in verfassungsrechtlich geschützte Grundrechtspositionen der Bürgerinnen und Bürger. Wir alle sind uns dessen bewusst.
Betroffen sind in der Regel das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis, der Schutz der Wohnung und im Ergebnis auch die Pressefreiheit. Deshalb bedarf es der
Abwägung, bereits im Gesetz: Es ist in jedem Einzelfall
streng zu prüfen, ob das Allgemeininteresse an effektiver Kriminalitätsbekämpfung oder aber der Grundrechtsschutz des Einzelnen überwiegt. Beides sind absolut schutzwürdige Rechtsgüter. Deshalb muss jeder
Eingriff so schonend wie möglich ausgestaltet sein: So
viel Eingriff wie nötig, aber so viel Schutz der Freiheitsrechte wie möglich.
Genau das tun wir mit der vorliegenden Novellierung
der Regelungen zur Telefonüberwachung. Wir verschärfen die Eingriffsvoraussetzungen: Es muss im Einzelfall
immer eine schwere Straftat vorliegen. Wir verschärfen
die inhaltlichen Schranken bei der Überwachung, indem
wir Verwertungsverbote einführen. Wir erweitern - es ist
darauf hingewiesen worden - den Schutz der Berufsgeheimnisträger. Heute ist vom Marburger Bund der Eindruck erweckt worden, als könnten zukünftig Patientendaten auf diesem Wege mitgenommen werden. Da kann
ich nur sagen: Das ganze Gesetz muss man lesen. Patientendaten dürfen nach § 97 unserer Strafprozessordnung
nicht beschlagnahmt werden; sie sind von dem, was wir
hier im Ergebnis verabschieden, überhaupt nicht betroffen.
({4})
Wir verstärken den Grundrechtschutz durch Verfahrensgarantien, obwohl uns die Praxis schon sagt: Das wird
uns alles viel zu kompliziert. Wir machen durch Verfahrensgarantien massiven Grundrechtschutz. Die Anschlusskontrolle, die wir für eine umfassende, öffentliche Transparenz der Maßnahme vorsehen, hat hier auch
keiner erwähnt: Zukünftig müssen die Länder und der
Generalbundesanwalt jedes Jahr über Art und Umfang
der Maßnahmen, die sie getroffen haben - sowohl bei
der Vorratsdatenspeicherung als auch bei der Anordnung
von Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen berichten. Transparenz ist der wirksamste Schutz vor
Missbrauch.
({5})
Ich empfehle all denen, die hier so leichtfertig dahergeredet haben - vor allen Dingen der linken Seite -, sich
einmal die Mühe zu machen, den § 97 StPO im geltenden Recht und den § 108 Abs. 3 ({6}) zu studieren.
Dann werden Sie feststellen, dass zukünftig der Berufsgeheimnisträger, Medienmitarbeiter fast umfassend vor
Eingriffsmaßnahmen geschützt ist, es sei denn, er verabredet selber am Telefon schwere Straftaten. Aber ansonsten ist er massiv geschützt.
({7})
Deshalb halte ich es für grob fahrlässig, wenn durch Reden oder durch Veröffentlichungen in den Medien, vor
allen Dingen in den Printmedien, in den letzten Tagen
und Wochen gezielt der Eindruck erweckt worden ist, als
würde von heute an das massive Abhören von Telefongesprächen möglich. In Wahrheit ist bei dem, was wir
heute beschließen wollen, das Gegenteil der Fall.
({8})
Lassen Sie mich eine letzte Anmerkung machen. Es
ist eigentlich müßig, darauf hinzuweisen. Aber nach den
Diskussionen der letzten Wochen und Monate, die ich
mitgemacht habe, und der Debatte, die heute geführt
worden ist, muss ich feststellen: Es ist bedauerlich, dass
solche Reden heute gehalten worden sind. Alle diese
Maßnahmen, von denen wir reden, stehen unter dem
Richtervorbehalt. Bei jeder Maßnahme bedarf es einer
richterlichen Entscheidung, zum Beispiel wenn Verkehrsdaten an den Staat herausgegeben werden sollen.
Es bedarf einer richterlichen Entscheidung, wenn ein Telefongespräch abgehört werden soll. Wir haben einen
umfassenden Richtervorbehalt. Was ist das letzten Endes
für ein Verständnis von Gewaltenteilung, wenn Sie der
dritten Gewalt nicht zutrauen, diese Gesetze rechtsstaatlich, im Interesse der Menschen in diesem Land, einzuhalten?
({9})
Es ist absurd, was hier teilweise erzählt worden ist. Da
wird teilweise bewusst Massenhysterie verursacht. Deshalb sage ich deutlich: Zielobjekt aller Maßnahmen sind
nur Personen, die irgendwie im Bereich der Begehung
von Straftaten stehen. In aller Deutlichkeit sage ich Ihnen: Ich stehe mit fester Überzeugung - ich glaube, diejenigen, die mich kennen, wissen das - für Rechtsstaatlichkeit. Heute ist in diesem Land ein guter Tag für den
Rechtsstaat.
Danke schön.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer
verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG.
Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/6979, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/5846
in der Ausschussfassung anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst abstimmen.
({0})
- Meine Damen und Herren, wir sind noch nicht bei der
namentlichen Abstimmung. Ich kann das Abstimmergebnis nicht feststellen, wenn Sie sich vor dem Platz des
Präsidenten gruppieren. Nehmen Sie bitte Ihre Plätze
wieder ein. - Wer stimmt für den Änderungsantrag auf
Drucksache 16/7016?
({1})
Anscheinend niemand.
({2})
Ich wiederhole das Ganze: Es liegt ein Änderungsan-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über den
wir jetzt zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Ände-
rungsantrag auf Drucksache 16/7016? - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist bei Zustim-
mung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den
Stimmen aller übrigen Fraktionen abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Hand-
zeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Ge-
setzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
tionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Die Fraktionen der FDP und
des Bündnisses 90/Die Grünen haben namentliche Ab-
stimmung beantragt. Ich bitte die Schriftführerinnen und
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. -
Ich bitte, abzustimmen.
Haben alle Mitglieder ihre Stimmkarte abgegeben? -
Das ist offenkundig der Fall. Dann schließe ich die Ab-
stimmung. Ich bitte, auszuzählen.
Ergänzend möchte ich mitteilen, dass zu dieser Ab-
stimmung zahlreiche schriftliche Erklärungen gemäß
§ 31 unserer Geschäftsordnung vorliegen, die wir mit Ih-
rer Erlaubnis zu Protokoll nehmen.1)
Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ih-
nen später bekannt gegeben.2)
Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Reform der Telekommunikationsüberwachung. Der
Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/6979, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/3827 abzulehnen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu dem
Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Reform der
Telefonüberwachung zügig umsetzen“: Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/6979, den Antrag der FDPFraktion auf Drucksache 16/1421 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der
FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke angenommen.
Da das Ergebnis der namentlichen Abstimmung noch
nicht vorliegt, rufe ich nun den Tagesordnungspunkt 37
sowie den Zusatzpunkt 16 auf:
37 Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Ausbildung der Polizeikräfte in Afghanistan
forcieren
- Drucksache 16/3648 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Innenausschuss ({4})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
Federführung strittig
1) Anlagen 4 bis 6
2) Seite 13009 D
ZP 16 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Nachtwei, Jürgen Trittin, Silke Stokar von
Neuforn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ohne Polizei und Justiz keine Sicherheit Polizei- und Justizaufbau in Afghanistan drastisch beschleunigen
- Drucksache 16/6931 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({5})
Innenausschuss ({6})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Beratung eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. Gibt es dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall, dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Gisela Piltz für die FDP-Fraktion das
Wort.
({7})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sicherheit braucht funktionierende Sicherheitsbehörden. Gut ausgebildete und mit den notwendigen
Mitteln ausgestattete Polizistinnen und Polizisten gewährleisten die Sicherheit der Menschen im Land. Dies
gilt nicht nur in Deutschland; dies gilt ebenso und umso
mehr in einem Land wie Afghanistan, das von Bürgerkrieg und Krieg gebeutelt und zerstört wurde. Das, was
Deutschland in Afghanistan leistet, ist deshalb besonders
wichtig für die Zukunft des Landes, zum einen in praktischer Hinsicht: eine solide Ausbildung der Polizeikräfte.
Es geht aber auch um eine ganz grundsätzliche Aufgabe;
denn es geht um die Vermittlung rechtsstaatlicher Strukturen, die sich ganz besonders in der Polizeiarbeit zeigt.
({0})
Gerade an der Arbeit der Sicherheitsbehörden zeigt sich,
ob ein Land die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und
die Menschenrechte anerkennt und achtet.
Klar ist: Die Polizisten, die bereits in Afghanistan
sind oder dort hingehen werden, brauchen eine bessere
Ausstattung. Nur so können sie ihre Aufgabe überhaupt
erfüllen.
({1})
Notwendig ist zunächst eine Aufstockung der Zahl
der Ausbilder, die vor Ort tätig sind. Wichtig ist ebenso,
dass diese Ausbilder außerhalb von Kabul eingesetzt
werden. Denn die afghanischen Dienstposten brauchen
dort auch nach Abschluss der Ausbildung weiterhin Unterstützung bei der Erfüllung ihrer Aufgaben. Hierzu
kann Deutschland einen erheblichen Beitrag leisten, um
neuerliche Korruption erst gar nicht aufkommen zu lassen und zukunftsfähige Strukturen zu verankern und zu
stärken.
Bei der Ausbildung der Polizeikräfte in Afghanistan
arbeitet Deutschland eng mit den internationalen Aufbaupartnern zusammen, insbesondere mit den Vereinigten Staaten, die die Ausbildung des einfachen Dienstes
in der afghanischen Polizei übernommen haben.
Deutschland hingegen ist für die Ausbildung des mittleren und gehobenen Dienstes zuständig. Das ist gut und
richtig; denn die Verzahnung zwischen den Curricula der
Ausbildung für den einfachen Dienst und den mittleren
wie auch gehobenen Dienst muss dringend gewährleistet
und besser abgestimmt sein.
({2})
In der Antwort auf eine Kleine Anfrage meiner Fraktion wurde klar, dass ein großes Problem bei der Ausbildung das Analphabetentum ist, das in Afghanistan verbreitet ist. Umso wichtiger sind auch hier weitere
Verbesserungen, da nur so eine Ausbildung richtig funktionieren kann. Daher müssen wir Deutschen uns - auch
wenn in erster Linie nicht wir dafür zuständig sind - für
eine Verbesserung der Ausbildung im einfachen Dienst
einsetzen; denn klar ist: Wenn man nicht lesen und
schreiben kann, ist eine Ausbildungsvermittlung extrem
schwierig und dauert viel zu lange.
Eine gute Ausbildung muss einhergehen mit einer guten Ausstattung. Die Bedenken der Bundesregierung, zur
Wahrung der eigenen Sicherheitsinteressen an andere
Länder keine Mittel auszuliefern, die repressiv eingesetzt werden können, in allen Ehren. Aber in diesem Fall
ist gar nicht der Sachverhalt gegeben, dass Waffen an
Staaten ausgeliefert werden, die ohne unsere Kontrolle
damit hantieren können, wodurch gegebenenfalls eine
Bedrohung unserer eigener Sicherheitsinteressen zu befürchten wäre.
Hier liegt der Fall doch völlig anders. Wir haben ein
eigenes Sicherheitsinteresse an einer funktionierenden
Polizeiarbeit in Afghanistan. Die Polizei dort befindet
sich im Aufbau, an dem Deutschland einen entscheidenden Anteil hat und vermutlich noch länger haben wird.
Die gelieferten Materialien wie Tränengas werden quasi
unter unseren Augen eingesetzt. Wir sprechen dabei übrigens nicht von Panzern, sondern von Hilfsmitteln.
Die deutschen Ausbilder schulen die dortigen Polizeikräfte gerade darin, solche Mittel so einzusetzen, dass
rechtstaatliche Grundsätze gewahrt bleiben. Wenn heute
diese Mittel nicht anderweitig von den Afghanen selbst
angeschafft werden können, besteht die Gefahr, dass sie
erst zu einer Zeit zur Verfügung stehen, in der keine internationale Kontrolle mehr möglich ist, und dann ohne
unsere Beratung und Kontrolle eingesetzt werden könnten. Damit wäre nun wirklich niemandem geholfen.
({3})
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass die afghanischen Polizeikräfte regelmäßig und in ausreichender
Höhe bezahlt werden. Das ist sicherlich die beste Korruptionsvorsorge. Deutschland muss daher an entscheidender Stelle ganz konsequent darauf drängen, dass die
Auszahlungen an die Polizistinnen und Polizisten überprüfbar und in voller Höhe ankommen.
Weiter erwarten wir von der Bundesregierung, dass
sie sich für ein funktionierendes Justiz- und Vollzugssystem einsetzt. Nur im Zusammenhang mit einem funktionierenden Justizsystem kann die Polizei in einem rechtsstaatlichen Rahmen tätig werden. Schließlich nützt es
nichts, wenn die ausgebildete Polizei ihren Job gut
macht, dies aber wegen eines mangelhaften Justizsystems keine Konsequenzen hat. Das wäre eher Verdummung als eine konsequente Aufbauhilfe.
({4})
Wir als FDP-Bundestagsfraktion erwarten eine kontinuierliche Evaluation des Geleisteten. Die Bundesregierung muss daher für überprüfbare und zu überprüfende
Zwischenziele bei der Polizeiausbildung eintreten, die
sie auch international vereinbaren muss, vor allem nachdem der Abschluss des Aufbaus der Polizei auf 2010
verschoben wurde.
Schließlich ist es aus unserer Sicht auch notwendig,
dass uns regelmäßig Bericht erstattet wird. Die schwierige und engagierte Arbeit der deutschen Ausbilder in
Afghanistan muss vom Parlament begleitet werden.
Dazu bekennen wir uns ausdrücklich.
Der Deutsche Bundestag hat großen Respekt vor der
Arbeit unserer Polizistinnen und Polizisten in Afghanistan, wo sie sich teilweise unter Einsatz ihres Lebens für
Menschenrechte und den Rechtsstaat einsetzen.
Ich denke, es ist selbstverständlich, dass der Bundestag das würdigt und, je nachdem, kritisch oder positiv
begleitet.
Aus der bisherigen Ausbildung müssen daher aus unserer Sicht dringend Konsequenzen gezogen werden.
Um in Afghanistan und damit auch für die Staatengemeinschaft erfolgreich tätig sein zu können, muss die
Ausbildung der Polizei jetzt - und nicht irgendwann dringend verbessert werden. Wer länger wartet, gefährdet den Entwicklungsprozess. Das will die FDP verhindern.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Ralf Göbel von CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Aufbau einer funktionierenden und rechtsstaatlich agierenden Polizei in Afghanistan ist eines der wichtigsten
Projekte zur Schaffung und Stabilisierung ziviler Strukturen in Afghanistan. Deutschland hat dazu in der Vergangenheit einen wichtigen Beitrag geleistet und wird
auch in Zukunft eine wichtige Rolle bei der Polizeiausbildung in Afghanistan spielen.
Der Antrag der FDP-Fraktion kann hierzu heute allerdings nicht mehr die Grundlage bieten, und zwar nicht,
weil die Zielsetzungen, die dort beschrieben sind, falsch
wären - im Gegenteil, wir sind uns in sehr vielen Bereichen einig -, sondern allein deswegen, weil die Zeit im
Grunde über diesen Antrag hinweggegangen ist und wir
eine neue Ausgangslage haben.
({0})
- Das ist wahr, Herr Nachtwei.
Gleichwohl halten wir es für wichtig, dass im Zusammenhang mit der Entwicklung in Afghanistan nicht nur
das militärische Engagement Deutschlands im Deutschen Bundestag debattiert wird. Beim Aufbau der Polizei in Afghanistan ist Deutschland seit 2002 engagiert.
Wir waren die Leading Nation für diesen Teil der Schaffung einer staatlichen Ordnung in Afghanistan. Deswegen ist es richtig, dass wir im Deutschen Bundestag auch
über diesen Teil unseres Engagements in Afghanistan
diskutieren.
Die deutsche Mission ist durch eine Entscheidung des
Außenministerrats vom 30. Mai dieses Jahres in eine europäische Mission überführt worden. Wir halten dies
grundsätzlich für richtig. Europa kann und muss sich aktiv und nachhaltig am Aufbau in Afghanistan beteiligen.
Ich verhehle allerdings nicht, dass die Überführung in
die europäische Mission mit Schwierigkeiten verbunden
war und, wie man hört, weiterhin Anlaufschwierigkeiten
bestehen.
Wir wissen alle, dass die Sicherheitslage in Afghanistan alles andere als gut ist. Ich plädiere sehr dafür, dass
wir dies auch in öffentlicher Debatte immer wieder darstellen. Die Bevölkerung muss wissen, wohin wir unsere
Soldaten und Polizeibeamten schicken und welchen Gefährdungssituationen sie in diesem Land ausgesetzt sind.
Das gehört zu einer transparenten Debatte über dieses
Thema unabdingbar dazu.
({1})
Bei Anschlägen sind deutsche Soldaten und auch
Polizeibeamte nicht nur gefährdet worden, sondern es
sind auch einige ums Leben gekommen. Auch in dieser
Woche hatten wir wieder einen Beweis für die Gefährlichkeit der Situation in Afghanistan. Bei dem schrecklichen Anschlag am Dienstag sind Parlamentskollegen aus
Afghanistan ums Leben gekommen. Dieser Anschlag
hat im deutschen Verantwortungsbereich stattgefunden.
Das macht deutlich, dass wir uns in einem gefährlichen
Land bewegen.
Gerade deshalb tragen wir eine besondere Verantwortung und müssen alles dafür tun, dass die Soldaten und
Polizeibeamten den besten Schutz erhalten, der unter
diesen Umständen möglich ist. Aus diesem Grund geht
an den Außenminister meine Bitte, im Rahmen der
neuen Mission auf der europäischen Ebene dafür zu sorgen, dass die Polizeibeamten der europäischen Mission
mit allem ausgestattet werden, was sie zu ihrem Schutz
benötigen. Ich weiß, dass Bundesinnenminister Schäuble
sich mit Herrn Solana getroffen hat, dieses Petitum vorgetragen hat und sich nachhaltig dafür einsetzt. Wir
brauchen hier aber die Unterstützung aller, damit unsere
Polizeibeamten in Afghanistan ihren Dienst in relativer
Sicherheit tun können.
In diesem Zusammenhang möchte ich mich bei allen
Polizeibeamtinnen und -beamten sowie den Soldaten,
die in Afghanistan ihren Dienst tun, herzlich dafür bedanken, dass sie sich dieser Mission stellen.
({2})
Die deutsche Polizeimission hatte die Aufgabe, für
die Ausbildung der afghanischen Polizei zu sorgen. Insgesamt waren 183 Polizeibeamte und 151 Kurzzeitexperten in Afghanistan eingesetzt. Bund und Bundesländer waren daran beteiligt. Über 19 000 afghanische
Polizeibeamte sind seit 2002 ausgebildet worden. Ein
Großteil von ihnen wurde in den für uns wichtigen Themenbereichen Menschenrechtsschutz, moderne Polizeitechnik und Polizeiführung, Kriminaltechnik und Verkehrswesen fortgebildet. Zusätzlich - das sage ich mit
einem etwas kritischen Unterton - läuft die Ausbildung
von Personen für den einfachen Dienst in Afghanistan.
Diese Ausbildung wird von Amerika gesteuert und finanziert. Wer die Unterschiede zwischen der europäischen und der amerikanischen Polizeiphilosophie kennt,
wird sehr schnell zu der Erkenntnis kommen, dass wir
eine internationale Harmonisierung brauchen, damit
nicht zwei gegensätzliche Philosophien im gleichen
Land, in der gleichen Organisation, in der gleichen Polizei verfolgt werden.
({3})
Wir haben Modelle für Organisations-, Dienst- und
Gehaltsstrukturen entwickelt. Diese Modelle wurden
auch in die Tat umgesetzt. Wir haben also Grundstrukturen für eine funktionsfähige Polizei geschaffen. Aber wir
müssen feststellen, dass dies noch nicht ausreichend ist,
um wirklich stabile Strukturen in Afghanistan herzustellen; Frau Piltz hat das bereits angesprochen. Es ist auch
richtig, dass das mit der Polizei korrespondierende Justizsystem nicht so funktioniert, wie wir uns das vorstellen. Wir sind also noch ein ganzes Stück von dem Ziel
der Herstellung einer stabilen Ordnung in Afghanistan
entfernt. Aber der Grundansatz, den wir gewählt haben,
ist richtig.
Wir bilden in Afghanistan diejenigen Frauen und
Männer aus, die später in ihrem Land verantwortlich
Aufgaben zur Schaffung von Sicherheit und Ordnung
übernehmen sollen. Wir versetzen sie in die Lage, selbstständig die Ordnung zu entwickeln, die für ihr eigenes
Land die richtige Ordnung ist. Es geht nicht darum,
Afghanistan etwas überzustülpen. Das Land muss seinen
eigenen Weg gehen. Wir müssen den Afghanen jedoch
so lange helfen, bis sie in der Lage sind, sich selbst zu
helfen und ihr Land nach ihren eigenen Vorstellungen
friedlich weiterzuentwickeln.
Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass nur derjenige,
der seine Ordnung selbst entwickelt hat und in dieser
Ordnung lebt, bereit ist, diese Ordnung gegen Angriffe
von innen und außen zu verteidigen. Die Basis einer
friedlichen Entwicklung sind - das wurde bereits angesprochen; darin sind wir uns alle einig - die Menschenrechte, die Gleichheit vor dem Gesetz, der Schutz der
Bevölkerung vor Gefahren und die demokratische Verfasstheit des Staates. Dies tragen wir durch die Polizeiausbildung nach Afghanistan. So sorgen wir dafür, dass
die ausgebildeten Polizeibeamten dies wiederum als
Multiplikatoren in das gesamte Land tragen.
Die Ausbildung kann im Grunde nur mit der entsprechenden Ausstattung umgesetzt werden. Wir haben bei
den schweren Unruhen in Kabul 2006 gesehen, dass die
afghanische Bereitschaftspolizei nicht in der Lage war,
mit verhältnismäßigen Mitteln dagegen vorzugehen.
Frau Piltz hat den allgemeinen Grundsatz angesprochen,
wonach die Bundesrepublik Deutschland keine Gegenstände an Staaten liefert, die zur Anwendung unmittelbaren Zwanges geeignet sind. Dieser Grundsatz wurde für
Afghanistan durch eine Entscheidung des Innen- und des
Außenministers aufgehoben. Wir liefern nun auch Einsatzmittel nach Afghanistan, die geeignet sind, unmittelbaren Zwang auszuüben. Wir haben dies übrigens schon
einmal getan. Wir haben bei den damaligen Unruhen auf
dem Balkan durch eine besondere Entscheidung zugelassen, dass Reizgas in schwierigen Situationen eingesetzt
werden kann, obwohl es bei uns in der Bundesrepublik
Deutschland nicht eingesetzt werden darf.
Wir sind aktiv auch beim Aufbau von Polizeistationen, sozusagen der Infrastruktur der afghanischen Polizei. Wir haben an zwölf Standorten Polizeigebäude errichtet. Wir helfen zudem beim Aufbau von
Drogenbekämpfungseinheiten; das ist ein wichtiger
Punkt. Ich sage offen und klar: Die Entwicklung des
Drogenanbaus in Afghanistan bereitet uns Sorge, genauso wie die Tatsache, dass die internationale Gemeinschaft nicht in der Lage ist, dieses Phänomen so einzudämmen, wie es sein müsste. In Afghanistan müssen
vermehrt Anstrengungen zur Bekämpfung des Drogenanbaus, aber auch zur Schaffung alternativer Erwerbsquellen für diejenigen, die die Drogen anbauen,
unternommen werden.
Alles hängt mit allem zusammen. Es bedarf eines insgesamt kohärenten, großen Ansatzes, um den Friedensund Stabilisierungsprozess in Afghanistan voranzubringen. Wir alle müssen daran arbeiten, alle Länder in der
Europäischen Union, in Deutschland der Bund und die
Bundesländer, und zwar nach den Grundsätzen, die wir
auch bisher beachtet haben, dass die Polizeibeamten, die
dort ihren Dienst verrichten, dies auf freiwilliger Basis
tun. Es darf kein Bundesland gezwungen werden, Polizeibeamte in ein bestimmtes Land zu schicken. Im Antrag der Grünen wird Bayern lobend erwähnt. Dazu will
ich nur sagen: Das Bundesland Bayern stellt Polizeibeamte auch in größerer Zahl für internationale Missionen.
Es sind keine dabei, die nach Afghanistan gehen, aber es
sind Polizeibeamte dabei, die in anderen Ländern wichtige Dienste tun.
({4})
Am Ende will ich sagen: Der Einsatz verlangt Engagement, der Einsatz verlangt Geduld. Wir haben die
Erfahrung auf dem Balkan gemacht, wie lange es dauert
und wie viele kleine Schritte notwendig sind, um einen
Stabilisierungsprozess so zu gestalten, dass am Ende
auch das Ziel, nämlich eine stabile Gesellschaft, erreicht
wird. Ich bin davon überzeugt, dass wir in Afghanistan
noch viele Schritte brauchen werden, um dieses Ziel zu
erreichen. Aber ich glaube auch, jeder erreichte Schritt
ist ein großer Fortschritt und bringt uns diesem Ziel näher, auch wenn wir sicherlich noch viele Jahre über unser Engagement in Afghanistan in diesem Hause werden
diskutieren müssen.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich unterbreche die Aussprache und gebe Ihnen das
von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte
Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Neuregelung der
Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der
Richtlinie 2006/24/EG bekannt. Abgegebene Stimmen
524. Mit Ja haben gestimmt 366, mit Nein haben gestimmt 156, zwei Enthaltungen. Der Gesetzentwurf ist
damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 524;
davon
ja: 366
nein: 156
enthalten: 2
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Albach
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Clemens Binninger
Renate Blank
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
({1})
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Cajus Caesar
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Dr. Stephan Eisel
Anke Eymer ({2})
Ilse Falk
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({3})
Dirk Fischer ({4})
Axel E. Fischer ({5})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Vizepräsident Dr. Hermann Otto S
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({6})
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Olav Gutting
Holger Haibach
Gerda Hasselfeldt
Ursula Heinen
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Dr. Peter Jahr
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({7})
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({8})
Eckart von Klaeden
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Jens Koeppen
Kristina Köhler ({9})
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Thomas Kossendey
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Johann-Henrich
Krummacher
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers
({10})
Andreas G. Lämmel
Dr. Max Lehmer
olms
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Dr. Michael Luther
Stephan Mayer ({11})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Friedrich Merz
Laurenz Meyer ({12})
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Dr. Gerd Müller
Hildegard Müller
Carsten Müller
({13})
Bernward Müller ({14})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({15})
Klaus Riegert
Franz Romer
Johannes Röring
Kurt J. Rossmanith
Albert Rupprecht ({16})
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({17})
Hermann-Josef Scharf
Dr. Wolfgang Schäuble
Hartmut Schauerte
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Andreas Schmidt ({18})
Ingo Schmitt ({19})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Horst Seehofer
Kurt Segner
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Jens Spahn
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Andreas Storm
Max Straubinger
Michael Stübgen
Hans Peter Thul
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß ({20})
Gerald Weiß ({21})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr ({22})
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Petra Bierwirth
Lothar Binding ({23})
Kurt Bodewig
Clemens Bollen
Dr. Gerhard Botz
Klaus Brandner
Bernhard Brinkmann
({24})
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Karl Diller
Martin Dörmann
Dr. Carl-Christian Dressel
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Petra Ernstberger
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Peter Friedrich
Sigmar Gabriel
Martin Gerster
Günter Gloser
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({25})
Dieter Grasedieck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Nina Hauer
Hubertus Heil
Dr. Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Petra Hinz ({26})
Iris Hoffmann ({27})
Frank Hofmann ({28})
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Dr. h. c. Susanne Kastner
Christian Kleiminger
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Angelika Krüger-Leißner
Jürgen Kucharczyk
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christian Lange ({29})
Waltraud Lehn
Helga Lopez
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Petra Merkel ({30})
Ulrike Merten
Dr. Matthias Miersch
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller ({31})
Michael Müller ({32})
Gesine Multhaupt
Dr. Rolf Mützenich
Vizepräsident Dr. Hermann Otto S
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Christoph Pries
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Steffen Reiche ({33})
Gerold Reichenbach
Christel RiemannHanewinckel
Walter Riester
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({34})
Michael Roth ({35})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({36})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
Otto Schily
Dr. Frank Schmidt
Ulla Schmidt ({37})
Silvia Schmidt ({38})
Heinz Schmitt ({39})
Carsten Schneider ({40})
Reinhard Schultz
({41})
Swen Schulz ({42})
Ewald Schurer
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Dieter Steinecke
Andreas Steppuhn
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Dr. Rainer Tabillion
Jella Teuchner
Rüdiger Veit
Simone Violka
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Gert Weisskirchen
({43})
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Engelbert Wistuba
olms
Waltraud Wolff
({44})
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Nein
CDU/CSU
Dr. Hans Georg Faust
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Rolf Koschorrek
Katharina Landgraf
SPD
Petra Heß
Eike Hovermann
Ulrich Kelber
Sönke Rix
Frank Schwabe
Jörn Thießen
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Daniel Bahr ({45})
Uwe Barth
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Mechthild Dyckmans
Ulrike Flach
Otto Fricke
Horst Friedrich ({46})
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Miriam Gruß
Joachim Günther ({47})
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Michael Kauch
Dr. Heinrich L. Kolb
Hellmut Königshaus
Gudrun Kopp
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Michael Link ({48})
Markus Löning
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
({49})
Cornelia Pieper
Jörg Rohde
Frank Schäffler
Dr. Konrad Schily
Marina Schuster
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Florian Toncar
Christoph Waitz
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({50})
Martin Zeil
DIE LINKE
Hüseyin-Kenan Aydin
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Dr. Lothar Bisky
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Hans-Kurt Hill
Cornelia Hirsch
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Hakki Keskin
Katja Kipping
Michael Leutert
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Kornelia Möller
Kersten Naumann
Wolfgang Nešković
Dr. Norman Paech
Bodo Ramelow
Elke Reinke
Paul Schäfer ({51})
Volker Schneider
({52})
Dr. Ilja Seifert
Dr. Petra Sitte
Frank Spieth
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({53})
Volker Beck ({54})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Grietje Bettin
Alexander Bonde
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann
Priska Hinz ({55})
Ulrike Höfken
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Ute Koczy
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({56})
Monika Lazar
Anna Lührmann
Nicole Maisch
Kerstin Müller ({57})
Omid Nouripour
Brigitte Pothmer
Claudia Roth ({58})
Krista Sager
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
fraktionslos
Enthaltung
SPD
Dr. Hermann Scheer
Ottmar Schreiner
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich muss
({59})
Sie noch bitten, über einen Entschließungsantrag der
FDP abzustimmen, den ich vorhin versehentlich nicht
zur Abstimmung vorgelegt habe.
({60})
Es handelt sich um den Entschließungsantrag der FDPFraktion auf Drucksache 16/7017. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen bei Zustimmung der FDP und der Fraktion
Die Linke abgelehnt.
Wir können dann mit der Aussprache fortfahren. Ich
gebe das Wort der Kollegin Inge Höger von der Fraktion
Die Linke.
({61})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Afghanistan braucht Frieden, Afghanistan braucht Stabilität, aber
vor allem braucht Afghanistan eine Entwicklungsperspektive.
({0})
Eine funktionierende Polizei im Rahmen eines zuverlässigen Justizsystems könnte dabei eine wichtige Rolle
spielen. Tatsache ist jedoch, dass die Polizei zurzeit wenig Vertrauen in der Bevölkerung genießt. Nach aktuellen Umfragen wenden sich die Menschen in Afghanistan
mehrheitlich an traditionelle Autoritäten, um Dispute zu
lösen. Polizeikräfte werden von der Bevölkerung häufig
als Bedrohung erlebt. Dieses Misstrauen gegenüber der
Polizei hat im Wesentlichen zwei Ursachen: Einerseits
machen sich Willkür und Korruption auf allen Ebenen
des Polizeiapparates breit - auch bei gut ausgebildeten
Polizistinnen und Polizisten -, andererseits werden Polizisten in militärischen Auseinandersetzungen zu Tätern
und zu Opfern. Polizisten werden als Kanonenfutter der
NATO verheizt. Gleichzeitig werden sie von Teilen der
Bevölkerung nur als verlängerter Arm der militärischen
Besatzung gesehen. Um es klar zu sagen: Die Polizeikräfte in Afghanistan sind momentan in die militärischen
Aktivitäten von ISAF und OEF integriert,
({1})
und das sowohl auf der Ebene der Ausbildung als auch
bei Einsätzen. Eine solche Vermischung von militärischen und polizeilichen Aufgaben ist nicht akzeptabel.
({2})
Wenn die Menschen in Afghanistan eine auch nur annähernd vertrauenswürdige Polizei bekommen sollen,
dann muss Folgendes berücksichtigt werden: Erstens
Trennung von Militär und zweitens Rechtsstaatlichkeit.
({3})
Dem tragen weder die Regierungspolitik noch die EUPOL-Strategie noch die beiden hier vorliegenden Anträge Rechnung.
Die US-amerikanische Schnellausbildung für Polizisten durch private Sicherheitsfirmen ist völlig untauglich
und gefährlich. Doch auch die deutsche Polizeiausbildung erhält durch den Einsatz von Feldjägern und eines
früheren GSG-9-Generals eine paramilitärische Ausrichtung. EUPOL ist nach den Angaben des Generalsekretariats des EU-Rates eng mit der NATO und den USA verknüpft. Eine neutrale Polizeiausbildung sieht anders aus.
Der Antrag der FDP problematisiert an keiner Stelle
die Instrumentalisierung der Polizei für militärische Aufgaben. Die Grünen scheinen das Dilemma immerhin erkannt zu haben. Das, was sie daraus folgern, ist jedoch
ein abenteuerlicher Vorschlag, nämlich, eine separate
Gendarmerietruppe aufzubauen. Zu deren Aufbau soll
die paramilitärische European Gendarmerie Force herangezogen werden. Dieser Vorschlag ist aus Sicht der Linken inakzeptabel.
({4})
Polizeiausbildung an sich ist kein Heilsweg. Das ist
klar, es sei denn, man verschließt die Augen vor der Realität. Wer Polizisten in größerem Umfang ausbilden will,
muss auch Lösungen für das Problem der Desertion finden. Eine beträchtliche Anzahl der ausgebildeten Polizisten verlassen ihre Dienstposten und suchen sich andere Auftraggeber: private Sicherheitsdienste, Warlords,
Drogenmafia oder Talibanverbände. Dies betrifft übrigens nicht nur die schlecht ausgebildeten Hilfspolizisten.
({5})
Es darf nicht sein, dass durch Polizeiausbildung und
-ausrüstung das Gewaltpotenzial in Afghanistan noch
verstärkt wird. Wichtig ist deswegen in erster Linie nicht
die Quantität der Ausbildung, sondern die Qualität des
Gesamtkonzeptes.
({6})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gunkel für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Kolleginnen und Kollegen der FDP-Fraktion und in zielsicherer Kurzfristigkeit natürlich auch die Kollegen vom
Bündnis 90/Die Grünen haben uns jeweils einen Antrag
vorgelegt, die sich nach meiner Lesart insbesondere mit
fünf Problembereichen rund um den deutschen Beitrag
zum Wiederaufbau der Polizei in Afghanistan befassen.
Darauf möchte ich hier kurz eingehen. Vom Kollegen
Göbel ist die grundsätzliche Auffassung der Bundesregierung hierzu schon dargestellt worden. Wir müssen
dennoch feststellen, dass die fünf umrissenen Problembereiche sicherlich diskussionswürdig sind. Die von der
FDP und von den Grünen formulierten Forderungen sind
nicht von vornherein abzulehnen; vielmehr beinhalten
sie einiges Wahres.
Damit nicht der Eindruck entsteht, hier wäre in den
vergangenen Jahren nichts gemacht worden, will ich einmal herausstellen, was aus unserer Sicht im Einzelnen
bewegt worden ist.
Die Notwendigkeit des Ob des Polizeiaufbaus wird
glücklicherweise von keinem bezweifelt. In beiden Anträgen wird zu Recht festgestellt, dass wir ohne eine sich
selbst tragende, ihrer Aufgabe gerecht werdende, nach
zivilen und menschenrechtlichen Standards arbeitende
afghanische Polizeistruktur einen der wichtigsten
Grundsteine zum Wiederaufbau Afghanistans noch nicht
gelegt haben. Das ist wahrlich richtig. Deswegen will ich
Folgendes anführen:
Zunächst einmal ist mir aufgefallen, dass es um die finanzielle und personelle Beteiligung Deutschlands an
der Polizeiausbildung vor Ort geht. Dazu ist festzustellen, dass die finanzielle Untersetzung des Polizeiprojekts
natürlich eine politische Entscheidung ist. Das ist auch
in der vergangenen Woche an höchster Stelle noch einmal deutlich geworden, als sich die Bundeskanzlerin für
eine Aufstockung der Mittel für den Polizeiaufbau ausgesprochen hat. Das begrüßen wir als SPD-Fraktion ausdrücklich.
Hinsichtlich der Erhöhung der Anzahl der Einsatzkräfte müssen wir uns immer zweier Tatsachen bewusst
sein:
Erstens. Die Polizeibeamtinnen und -beamten werden
nicht angewiesen, sondern sie melden sich freiwillig für
derartige Auslandsverwendungen.
({0})
Das darf man nicht vergessen. Das unterscheidet sich
deutlich davon, wie die Bundeswehr ihre Einsatzkräfte
für Auslandseinsätze erhält. Sobald wir also beschließen,
mehr deutsche Polizisten zu entsenden, müssen wir auch
verstärkt um sie werben. Hierbei sind natürlich der Bundesinnenminister und insbesondere die Länderinnenminister gefordert, Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass
sich mehr Polizeibeamte freiwillig für einen Auslandseinsatz entscheiden.
({1})
- Das muss attraktiver werden, sehr richtig, Herr
Wieland. - Es kann nicht sein, dass für die Beamtinnen
und Beamten im Kosovo entschieden bessere Bedingungen - sowohl bezüglich der Unterbringung und anderer
Umstände als auch bezüglich der Bezahlung - herrschen, als es für diejenigen in Afghanistan der Fall ist.
({2})
Zweitens müssen wir uns auch noch einmal mit den
Forderungen der Gewerkschaften auseinandersetzen;
denn nach Ansicht der Gewerkschaften darf keineswegs
versucht werden, per Gesetz aus diesem freiwilligen
Dienst eine Pflicht zu konstruieren. Die Freiwilligkeit
war bisher das Entscheidende. Wir haben ja bisher in
Deutschland auch keine Bürgerkriegspolizei ausgebildet,
sondern eine zivile Polizei ausgebildet, die den hier bestehenden Aufgaben gerecht werden kann.
({3})
Das bedeutet: Wenn eine gesetzliche Regelung beschlossen wird, sollte ebenso ein Parlamentsvorbehalt darin
enthalten sein, wie es bei der Entsendung von Bundeswehrsoldaten der Fall ist. Das muss noch einmal deutlich
gesagt werden.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen uns im
Klaren darüber sein, was wir den Beamten derzeit zumuten wollen. Das Bundesinnenministerium hat dazugelernt, dass die seit 2001 unter alleiniger deutscher Führung stehende Ausbildung nicht ausgereicht hat, um
einen Aufbau in Gänze zu ermöglichen. Deshalb hat
man beschlossen, diese zu internationalisieren und die
EU zur Unterstützung mit heranzuziehen. Die entsprechenden Bestimmungen hat Herr Göbel zitiert; ich will
sie nicht noch einmal wiederholen. Das bringt aber mit
sich, dass das deutsche Kontingent von 40 Beamten auf
60 Beamte aufgestockt werden soll. Insgesamt sollen
195 Polizeibeamte der EU tätig werden. Dieser Aufbau
der Kräfte soll bis Mitte 2008 vollzogen sein. Es ist bekannt, dass das zurzeit noch ein bisschen stockt. Das hat
verschiedene Ursachen, unter anderem sind sie darin zu
suchen, dass die EU nicht genügend gepanzerte Fahrzeuge zur Verfügung stellt und man sich in keiner Weise
um eine Klärung der Wohnmöglichkeiten für die Polizeibeamten bemüht hat.
({5})
Des Weiteren soll der Mittelansatz für den Polizeiaufbau von bisher 12 Millionen Euro auf 20 Millionen Euro
im nächsten Jahr erhöht werden. Das sind alles Schritte
in die richtige Richtung.
({6})
Aber diese sind noch längst nicht ausreichend. Wir hoffen aber, dass man da noch einmal nachbessern kann.
({7})
Ich komme jetzt zu einem Komplex, der in Ihren Anträgen immer wieder eine Rolle spielt: die materielle
Ausstattung der Polizistinnen und Polizisten. Wir haben
ja schon von Herrn Göbel gehört, dass bisher strenge Restriktionen bezüglich der Ausfuhr von sogenannten
Hilfsmitteln zur Ausübung körperlichen Zwangs existieren. Aber für die 500 Einsatzkräfte der Bereitschaftspolizei in Kabul stehen ab Dezember dieses Jahres Körper13014
schutzausstattung, Schilde, Helme, Schlagstöcke,
Handschellen, Handschuhe und Reizstoffsprühgeräte zur
Verfügung. Das ist auch wieder ein Schritt, der zur weiteren Verbesserung der Situation beiträgt. Wir können
also feststellen, dass sich durchaus Verbesserungen ergeben haben, und ich glaube, dass es auch in der nächsten
Zeit noch weitere Verbesserungen geben wird.
Bezüglich der materiellen Dimension des Polizeiaufbaus stellt sich weiterhin die Frage, wie die Besoldung
zu handhaben und die damit einhergehende Korruption
zu beherrschen ist. Die Besoldung der Polizeibediensteten in Afghanistan erfolgt ja nicht durch die afghanische
Regierung, sondern der sogenannte LOTFA, der Law
and Order Trust Fund for Afghanistan, organisiert die
Bezahlung und führt sie durch. An dem Gesamtbeitrag
der EU in Höhe von 35 Millionen Euro beteiligt sich die
Bundesrepublik im nächsten Jahr mit 5 Millionen Euro.
Diesen maßgeblichen Beitrag wird sie auch in den folgenden Jahren aufrechterhalten.
Ein weiterer Punkt: Die Gehälter der Polizisten sind
im September 2007 von 70 US-Dollar auf 100 US-Dollar angehoben worden. Damit kommen die Polizisten in
etwa auf den niedrigsten Betrag, den ein Soldat erzielt.
Letztere werden aber nach wie vor im Durchschnitt besser bezahlt. Auch diese Erhöhung ist noch nicht das
Gelbe vom Ei, aber ein Schritt in die richtige Richtung.
Hinsichtlich der Korruptionsmaßnahmen fordern Sie
von den Grünen in Ihrem Antrag, dass man der afghanischen Regierung gegebenenfalls die Gelder sperren soll.
({8})
Ich glaube nicht, dass das der richtige Weg ist. Ich vermute, dass die Polizisten dann gar nicht mehr bezahlt
werden würden, weil dann diejenigen, die Sie treffen
wollen, Gelder aus anderen Kanälen umleiten werden.
So könnte es dazu kommen, dass die Polizisten leer ausgehen.
({9})
Ich glaube, dass ist eher ein scherzhafter, aber jedenfalls
kein überzeugender Beitrag, um die Korruption zu bekämpfen. Dazu sind andere Dinge erforderlich, aber die
können jetzt in der Kürze der Zeit von mir hier nicht dargelegt werden.
Ich komme noch zu einem weiteren Punkt. Gefordert
wird, dass das bisherige Konzept für den Polizeiwiederaufbau Afghanistan verändert wird. Dem stimmen wir
durchaus zu, aber wir haben uns natürlich schon sehr gewundert, dass Sie von der FDP-Fraktion die Qualität der
Ausbildung infrage stellen. Gerade die Qualität der Ausbildung war bisher anerkannt. Bisher fehlte es an der
zeitlichen Komponente und der Quantität.
({10})
Die Leute für den mittleren und gehobenen Dienst, die
dort ausgebildet worden sind, sind hervorragend ausgebildet. Nur, wir haben in der Zeit eben nicht genügend
Leute ausgebildet. Ich glaube, dass dem in der nächsten
Zeit, wenn mehr Ausbilder zur Verfügung stehen, abgeholfen werden kann.
Ich rede hier keineswegs einem Konzept von paramilitärischen Einheiten das Wort. Wer hier Gendarmerieeinheiten aufstellen will, die man nur halbwegs als Gendarmerie bezeichnen kann, weil sie zugleich militärische
Aufträge haben, dem sage ich: Das soll nicht das Ziel
sein. Es soll schon weiter Polizeiarbeit geleistet werden.
({11})
Das muss man dann voneinander trennen und diese Aufgaben dem militärischen Einsatz zuschreiben. Dann
bleibt man korrekt. Das wollte ich hier unbedingt erwähnt haben.
Zum Schluss will ich in einem letzten Punkt noch die
weitere Entwicklung ansprechen: Die EU-Mission hat
im Wesentlichen das deutsche Modell übernommen. Es
bleibt dabei, dass die Polizei nach europäischen Verhältnissen ausgebildet werden soll. Zusätzlich führen zehn
deutsche Polizeibeamte in einem Projektteam Trainingsmaßnahmen für die EUPOL-Afghanistan durch. Es werden also Bau- und Ausstattungsprojekte zusammen
durchgeführt. Von daher glaube ich, dass auch in dieser
Hinsicht Weiteres zu erwarten ist.
Insgesamt komme ich zu dem Ergebnis: Der Antrag
der FDP ist etwas überholt. Der grüne Antrag enthält einiges Richtige, zu dem wir Stellung beziehen müssen.
Wir von der Regierungskoalition glauben aber, sie zum
jetzigen Zeitpunkt ablehnen zu müssen. Die weitere Entwicklung wird zeigen, dass es richtig ist, den Aufbau der
Polizei in Ruhe zu vollziehen, statt, wie im Antrag gefordert, drastisch zu beschleunigen. Denn auf diese Weise
wird sie ebenso wie das Militär die Aufgaben zur Zufriedenheit aller erledigen können.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Winfried Nachtwei spricht jetzt für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Im November 2002 hatten wir Gelegenheit, mit einer
Delegation des Verteidigungsausschusses das deutsche
Polizeiprojektbüro in Kabul zu besuchen; wir taten das
aus der Erkenntnis heraus, von welch entscheidender
Bedeutung der Polizeiaufbau bei einem solchen Stabilisierungsprozess ist. Wir erfuhren damals, wie die Ausgangsbedingungen waren: 20 Jahre lang keine Polizeiausbildung, eine ganze Generation für die Polizei
verloren; dann die kriegerischen Auseinandersetzungen
mit 600 000 Bewaffneten im Land; die sogenannte Polizei in Kabul hatte nichts an technischer Ausstattung,
kein Funkgerät, nur zehn Pkws, die von irgendwelchen
Privaten zur Verfügung gestellt worden waren. Das waren die Ausgangsbedingungen.
Was die zwölf Beamtinnen und Beamten in diesem
ersten Jahr, mit Unterstützung des Technischen Hilfswerkes, hinbekommen haben, war bewundernswert.
({0})
Zu dem Zeitpunkt waren zum Beispiel auf der Polizeiakademie schon 1 400 Polizeischüler des mittleren und
gehobenen Dienstes. Was da geschafft wurde, war gut.
In den Jahren danach habe ich bei mehreren weiteren
Afghanistan-Besuchen wirklich erfahren, was für einen
guten Dienst diese kleine Gruppe von Polizisten und
Polizistinnen dort geleistet hat. Das Polizeikonzept, bei
dem Deutschland die Führungsrolle innehatte, war
gründlich durchdacht und rechtsstaatsorientiert. Für
diese Arbeit ist den dort eingesetzten Beamtinnen und
Beamten vom Parlament ausdrücklich zu danken.
({1})
Immer deutlicher wurde dabei auch, welch enorme
strategische Bedeutung der Polizeiaufbau und der Justizaufbau haben. Allerdings war das, was dort mit Hilfe
unserer Polizei beim Polizeiaufbau geschah, praktisch
außerhalb jeder politischen und öffentlichen Wahrnehmung.
Ich muss auch sagen - das gilt auch für mich -, dass
wir damals die Dimension der Herausforderung bei weitem unterschätzt haben. Die Kluft zwischen den bestehenden Herausforderungen und dem, was von internationaler und deutscher Seite gemacht wurde, wurde Anfang
2006 im Rahmen der ISAF-Erweiterung besonders groß,
als die Polizeiversorgung in der Fläche gar nicht mehr
hinterherkam, die Gewalt zunahm und der Opiumanbau
rasant anstieg. Gerade im Süden war die Polizei überfordert und wurde besonders zur Zielscheibe. Angesichts
der Tatsache, dass afghanische Polizisten 60 bis 70 Dollar und Talibansöldner 200 bis 250 Dollar im Monat verdienen, ist klar, in welche Richtung viele gingen.
Wer reagierte auf diese von der Dimension her enorm
deutlich werdenden Herausforderungen? Nur die Amerikaner. Sie haben dann ihren Etatansatz von 200 Millionen auf 1,6 Milliarden Dollar aufgestockt. Sie haben
600 Berater eingesetzt. Es ist natürlich völlig zu Recht
festgestellt worden, dass die Konzeption ihrer Polizeiausbildung fragwürdig war. Trotzdem haben die Amerikaner als Einzige die Dimension erkannt.
EUPOL, die europäische Polizeimission, sollte dann
im Juni dieses Jahres diese Aufgabe übernehmen.
Deutschland allein war damit in der Tat überfordert. Die
Mission sollte deshalb auf breitere Schultern verteilt
werden. Diese breiteren Schultern - so muss man inzwischen sagen - haben sich bisher nicht herausgebildet.
EUPOL ist immer noch von enormen bürokratischen
Anstrengungen geprägt und damit blockiert.
({2})
Inzwischen dringt EUPOL weniger nach außen als vorher das deutsche Polizeiprojekt. Es gibt keine zusätzlichen Fahrzeuge, der Aufgabenzuschnitt wurde begrenzt.
EUPOL hat nichts mit der unmittelbaren Fort- und Ausbildung zu tun und verfügt über keine Projektgelder, was
dort das A und O ist.
Wenn bei der europäischen Polizeimission nicht eine
schnelle Wende zum Besseren eintritt, dann ist ein
Scheitern dieses für die Stabilisierung Afghanistans
wichtigen Eckpfeilers programmiert. Eine zweite Folge
wäre, dass die Amerikaner dann einfach alles übernehmen, aber im Hinblick auf die Polizei eine Richtung einschlagen werden, mit der wir alle nicht einverstanden
sein können.
({3})
Deshalb die dringende Aufforderung an die Bundesregierung, endlich mit dem Beschönigen der Situation des
Polizeiaufbaus in Afghanistan in all ihren offiziellen
Verlautbarungen aufzuhören.
({4})
Hier ist ein galoppierender Realitätsverlust festzustellen.
Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, was die Beamtinnen und
Beamten vor Ort sagen!
Wir sollten zu einer Beschleunigung und Intensivierung des gesamten europäischen und deutschen Engagements kommen. Hierzu haben wir in unserem Antrag
konkrete Vorschläge gemacht. Einiges davon ist umstritten, auch bei uns. Aber nehmen wir diesen Streit zum
Anlass, uns endlich ganz anders als in der Vergangenheit
mit dieser Problematik zu beschäftigen. Denn heute beschäftigt sich der Deutsche Bundestag zum ersten Mal
- ich betone: zum ersten Mal; nehmen Sie das bitte zur
Kenntnis - mit dieser für die Afghanistan-Stabilisierung
wichtigen strategischen Frage.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.
Ich komme zum Schluss.
Vor wenigen Tagen hat der Leitende Kriminaldirektor
Jürgen Scholz die Leitung der EUPOL-Mission übernommen. Wir wünschen ihm gerade in dieser schwierigen Situation eine glückliche Hand. Festzustellen ist
aber auch: Die in Afghanistan von uns eingesetzten Polizistinnen und Polizisten brauchen endlich auch von uns
politischen Rückenwind.
Danke.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Die Fraktionen haben verabredet, die Vorlagen auf
den Drucksachen 16/3648 und 16/6931 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Al-
lerdings ist die Federführung strittig. Die Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD wünschen jeweils Federführung
beim Innenausschuss, die Fraktionen der FDP und des
Bündnisses 90/Die Grünen hingegen beim Auswärtigen
Ausschuss.
Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlag
der Fraktionen der FDP und des Bündnisses 90/Die Grü-
nen - Federführung beim Auswärtigen Ausschuss - ab-
stimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor-
schlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist
der Überweisungsvorschlag bei Zustimmung von FDP
und Bündnis 90/Die Grünen und Gegenstimmen von der
Linken, der SPD und der CDU/CSU abgelehnt.
Ich lasse jetzt über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD abstimmen, näm-
lich die Federführung dem Innenausschuss zu übertragen.
Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Gegen-
stimmen? - Enthaltungen? - Dieser Überweisungsvor-
schlag ist mit den Stimmen der Koalition und den Linken
gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und FDP
angenommen.
Ich rufe jetzt die Zusatzpunkte 17 a und b sowie 18
auf:
ZP 17 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Unterhaltsrechts
- Drucksache 16/1830 Beschlussempfehlung und Bericht des
Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 16/6980 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Joachim Stünker
Jörn Wunderlich
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Rechtsausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Sibylle
Laurischk, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Unterhaltsrecht ohne weiteres Zögern sozial und verantwortungsbewusst den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anpassen
- Drucksachen 16/891, 16/6980 Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Joachim Stünker
Jörn Wunderlich
ZP 18 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes
- Drucksache 16/1829 - Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend ({2})
- Drucksache 16/5444 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Eva Möllring
Helga Lopez
Sibylle Laurischk
Ekin Deligöz
- Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/5446 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Frank Schmidt
Dr. Ole Schröder
Otto Fricke
Roland Claus
Anna Lührmann
Zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes liegen ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/
CSU und der Fraktion der SPD sowie je ein Entschließungsantrag der Fraktionen von FDP und Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Verabredung ist vorgesehen, eine Dreiviertelstunde hierüber zu debattieren. Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe der Kollegin
Bundesministerin Brigitte Zypries das Wort.
Sehr geehrte Frau Kollegin Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Reform des Unterhaltsrechts, die wir heute hier nach langen Diskussionen beschließen werden, hat vor allen Dingen einen großen
Gewinner: Das sind die Kinder.
({0})
Wir gehen mit dieser Unterhaltsrechtsreform auf die
sich verändernden Lebenswirklichkeiten ein. Selbst
wenn in diesen Tagen über die Ticker lief, dass die Zahl
der Ehescheidungen im letzten Jahr zurückgegangen ist,
müssen wir doch konstatieren, dass nach wie vor mehr
als jede dritte Ehe geschieden wird. Wir müssen konstaBundesministerin Brigitte Zypries
tieren, dass bei der Hälfte dieser Scheidungen minderjährige Kinder betroffen sind. Weiterhin müssen wir
konstatieren, dass Kinder immer häufiger außerhalb einer Ehe geboren werden. Im letzten Jahr waren es mehr
als 200 000.
Die Lebensentwürfe und die Familienmodelle werden
vielfältiger. Eine Patchworkfamilie ist heute geradezu
normal; niemand stört sich mehr daran.
Das Recht darf sich von diesen Realitäten nicht abkoppeln.
({1})
Deshalb haben wir gesagt: Wir regeln das Unterhaltsrecht neu und schützen diejenigen, die sich am wenigsten selber schützen können - ich habe es eben schon gesagt -: die Kinder.
({2})
Die Kinder stehen künftig im ersten Rang. Sie haben
Vorrang vor allen anderen.
Sie stehen im ersten Rang unabhängig davon, aus
welcher Beziehung sie kommen, unabhängig davon, ob
sie aus einer ehemaligen oder jetzigen Beziehung kommen, ob sie nichtehelich sind oder in einer anderen Beziehung außerhalb des Familienverbundes leben.
({3})
Das alles ist völlig egal: Derjenige, der unterhaltsverpflichtet ist, zahlt für alle Kinder gleichmäßig.
({4})
Wenn dann noch Geld da ist - wir reden jetzt nur von
den Mangelfällen; wir reden über Verteilungsmodi,
wenn das Geld nicht reicht -, stehen im zweiten Rang
diejenigen Elternteile, die Kinder erziehen, und zwar
nur, soweit sie Kinder erziehen. Dies ist eine neue Regelung, die Ihnen heute vorgelegt wird. Wir reagieren
damit auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in der es gesagt hat: Soweit es um die Kindererziehung geht, muss es eine absolute Gleichbehandlung
zwischen nichtehelichen und ehelichen Kindern geben.
Die Differenz, die wir im gegenwärtigen Recht zwar
schon verringert hatten, muss beseitigt werden. Es muss
eine absolute Gleichbehandlung bei Kindern geben.
Wir sehen jetzt also vor, dass im zweiten Rang alle
Elternteile stehen, die Kinder bis zum vollendeten dritten Lebensjahr erziehen. Diese Zeit kann verlängert werden, wenn es der Billigkeit entspricht - da geben wir
Richterinnen und Richtern einen größeren Entscheidungsspielraum -, beispielsweise, wenn das Kind besonderer Zuwendung bedarf oder wenn die Kinder aufgrund
der Betreuungssituation nirgendwo anders hingehen
können. In solchen Fällen kann der betreuende Elternteil
noch länger Unterhalt bekommen.
Mit im zweiten Rang stehen die sogenannten Ehepartner aus alten Ehen. Zu länger andauernden Ehen sagt
man ja oft „Altehe“. Auch diese werden besonders berücksichtigt.
({5})
- Du würdest erstens in die Kategorie „Altehe“ und
zweitens in die Kategorie „kein Mangelfall“ fallen.
({6})
Im dritten Rang kommen dann alle anderen.
Nun gibt es in der Diskussion häufiger den Einwand,
dass wir die Ehen schlechter behandeln und damit zu einer Nivellierung zwischen nichtehelichen Lebensgemeinschaften und Ehen beitragen würden. Ich möchte
diesem Vorwurf gerne entgegentreten und weise darauf
hin, dass wir hier und heute nur über den Betreuungsunterhalt verhandeln und nicht über die anderen Verpflichtungen reden, die sich aus einer Ehe ergeben, die aber
nichts mit dem Betreuungsunterhalt zu tun haben: Der
Unterhaltsanspruch bleibt weiterhin bestehen, wenn der
geschiedene Ehepartner keine angemessene Arbeit finden sollte; auch im Falle von Krankheit oder in anderen,
vom Gesetz ausdrücklich geregelten Fällen bleibt der
Unterhaltsanspruch bestehen. Neben dem Betreuungsunterhalt gibt es also noch andere Unterhaltsformen.
Ferner haben wir eine Sondernorm aufgenommen
- auch das liegt heute zur Abstimmung vor -, nach der
aus Billigkeitsgründen dem Ehepartner dann weiterhin
Unterhalt zugebilligt wird, wenn die Eheleute sich entsprechend verständigt haben. Wenn eine vertragliche
oder quasivertragliche Verabredung über die Organisation des Familienlebens getroffen wurde, dann kann
nicht einer der Partner später sagen, dass die Vereinbarungen nicht mehr gelten. Nein, so wird das nicht sein.
Es gibt einen nachwirkenden Vertrauensschutz und einen
Anspruch auf Geld.
({7})
Wir werden insofern eine Umstellung vornehmen, als
wir die Unterhaltszahlung künftig an das steuerliche
Existenzminimum koppeln. Damit tragen wir wesentlich
zur Verwaltungsvereinfachung bei. In der Übergangszeit
wird das Probleme bereiten, weil das steuerliche Existenzminimum im Moment unter dem Betrag liegt, der in
der Tabelle, nach der der Unterhalt festgelegt wird, vorgesehen ist. Deshalb schlagen wir eine Übergangsregelung vor. Damit können wir garantieren, dass das Niveau
der Unterhaltszahlungen in der Übergangszeit, also bis
zur Anpassung des steuerlichen Existenzminimums im
nächsten Jahr, gleich bleibt und dass niemand weniger
bekommt. Ich glaube, das ist eine gute Nachricht.
Ebenso ist es eine gute Nachricht, dass wir den Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland aufheben
und künftig in ganz Deutschland dieselben Verpflichtungen zur Unterhaltszahlung gelten.
({8})
Diese Rechtsänderung ist - das habe ich eingangs
schon gesagt - vor allem eine gute Nachricht für die
Kinder. Sie ist aber auch ein Zeichen dafür, dass die Koalition in der Lage ist, angemessen auf sich verändernde
Familienstrukturen zu reagieren. In diesem Sinne
möchte ich mich herzlich bei allen, die daran mitgewirkt
haben, bedanken.
({9})
Jetzt hat das Wort Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Diese Reform des Unterhaltsrechts berührt, interessiert und betrifft sehr viele Bürgerinnen und Bürger.
Von daher hat dieses Reformvorhaben einen anderen
Stellenwert als manch anderes Gesetz, über das wir hier
sehr intensiv beraten. Diese Reform wird nämlich auf
fast alle Lebenskonstellationen einwirken.
Die FDP-Bundestagsfraktion hat sich von Anfang an
dafür eingesetzt - unsere Große Anfrage liegt jetzt dreieinhalb Jahre zurück -, dass das Unterhaltsrecht an die
geänderten Lebensbedingungen sowie die geänderten
Vorstellungen vom Zusammenleben und die unterschiedlichen Formen des Zusammenlebens angepasst
wird.
({0})
Als Oppositionsfraktion stimmen wir dem jetzt vorliegenden Kompromissvorschlag der Koalitionsfraktionen zu, weil wir der Auffassung sind, dass das, was jetzt,
nach schwierigen Gesprächen, auch innerhalb der Koalitionsfraktionen, vorgelegt worden ist, klar in die richtige
Richtung geht. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat neue Schwierigkeiten für die Beratungen mit
sich gebracht. Dadurch, dass die Ausgangsregelung für
die Bemessung des Betreuungsunterhalts für nichtverheiratete und betreuende Mütter angeglichen wurde, ist
der Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts entsprochen
worden.
({1})
Wir sind der Auffassung, dass gerade die Veränderungen beim Zusammenleben berücksichtigt werden müssen. Frau Ministerin, Sie haben auf die Scheidungsrate
hingewiesen. Es gibt aber auch Zweitfamilien, ein Zusammenleben ohne Trauschein, Patchworkfamilien mit
vier Kindern aus unterschiedlichen Beziehungen.
({2})
- Die vier Kinder habe ich erwähnt, weil das ein Beispiel
in einer Informationsbroschüre des Justizministeriums
ist. - Diese Entwicklung hat zu schwierigen und komplizierten Regelungen geführt, die bisher eines nicht zum
Ziel hatten, nämlich den Unterhalt der Kinder zu sichern.
Hierbei darf es eben keine Unterschiede, abhängig von
der rechtlichen Konstellation des Zusammenlebens der
Eltern, geben.
Deshalb ist für unsere Zustimmung entscheidend,
dass das Kindeswohl jetzt bei dieser Reform des Unterhaltsrechtes prägend ist. Das ist, Frau Ministerin, eine
grundlegende Reform. Sie geht weit. Sie soll über die
nächsten Jahre Bestand haben. Ich glaube, wir wollen
uns nicht alle paar Jahre wieder mit diesen wichtigen
Fragen beschäftigen. Kinder und gerade auch Elternteile,
die Kinder betreuen, Alleinerziehende, brauchen eine
gewisse Rechtssicherheit; die muss man ihnen geben.
Im Moment - das ist in dieser Reform angelegt, aber
auch nicht vermeidbar - wird es natürlich Unsicherheiten geben, weil Ehen unter anderen Voraussetzungen geschlossen worden sind; Unterhaltsansprüche werden
künftig anders ausgestaltet sein. Da sind Übergangsregelungen schwierig. Deshalb ist der Gedanke einer Stichtagsregelung noch einmal aufgekommen, der, denke ich,
zu Recht verworfen wurde, damit keine neuen verfassungsrechtlichen Probleme entstehen.
Ich denke, es gibt intensiven Beratungsbedarf für Elternteile, die sich jetzt nach Verabschiedung und Inkrafttreten des Gesetzes überlegen, ob sie ein Recht auf Änderung haben oder nicht. Es gibt auch intensiven
Beratungsbedarf für diejenigen, die eine Ehe eingehen.
Sie sollten es sich im Vorfeld sehr gut überlegen, auch
und gerade wenn sie den Ehebund für immer schließen
und irrlichternde Vorschläge über befristete Eheschließungen nicht mehr zur aktuellen Debatte gehören.
({3})
Denn es weiß niemand, was im Laufe eines längeren Lebens geschehen wird. Deshalb wäre es bestimmt richtig,
schon bei Eheschließung, zu Beginn einer Ehe, durch
vertragliche Vereinbarungen Vorsorge zu treffen und
sich darauf zu verständigen, was möglicherweise - zu
diesem Zeitpunkt wünscht man es sich natürlich nicht auf Elternteile zukommen kann.
({4})
Ich denke, es ist richtig, dass der Aspekt der Eigenverantwortung nach Ehescheidung jetzt in der Unterhaltsrechtsreform als eine Obliegenheit - nicht mit mechanischen Regelungen - stärker verankert wird. Ich
glaube, wir alle wissen: Es gibt zu unterschiedliche Gestaltungen, nicht nur bezüglich der Dauer der Ehe, sondern auch bezüglich der Zuteilung der Aufgaben in dieser Ehe. Es obliegt den Elternteilen, sich zu überlegen,
wie die Betreuungssituation später sein kann, wie die Erwerbsmöglichkeiten während der Ehe und nach der Ehe
sind. Hier muss man letztendlich immer den Einzelfall
berücksichtigen. Diese Obliegenheit der Eigenverantwortung der Elternteile und damit eben nicht das Recht,
eine Versorgung für immer, unbefristet auch nach Ehescheidung, in Anspruch nehmen zu können, ist eine richtige Weichenstellung. Das muss erklärt werden; darüber
muss man aufgeklärt werden. Wir halten es letztendlich
für richtig.
({5})
Dass der Unterhaltsvorschuss heute sozusagen nur als
kleiner Punkt auf der Tagesordnung steht und verabSabine Leutheusser-Schnarrenberger
schiedet wird, ist bestimmt der Komplexität der gesamten Materie geschuldet. Wir als FDP-Fraktion haben einen Antrag vorgelegt. Wir halten es für wichtig, dass
man sich diesem Thema sehr wohl gesondert widmet,
und haben Vorschläge dazu auf den Tisch gelegt.
Wir als FDP-Fraktion werden dem Gesetzentwurf der
Koalitionsfraktionen zum Unterhaltsrecht in der vorliegenden Fassung zustimmen.
Vielen Dank.
({6})
Jetzt hat die Kollegin Ute Granold das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben in den letzten 14 oder 15 Monaten bereits
mehrfach über das Unterhaltsrecht debattiert. Heute
möchte ich mich auf das beschränken, was sich in den
letzten Wochen und Monaten bei den Beratungen in diesem Haus getan hat.
Wir haben als Grundlage für die Große Koalition eine
Vereinbarung im Koalitionsvertrag. Wir haben festgehalten, dass die Situation von Familien und Kindern zu verbessern ist, dass deshalb das Unterhaltsrecht jetzt zu reformieren ist, dass die Kinder an erster Stelle im Rang
stehen und auch dass die Eigenverantwortlichkeit nach
der Ehe gestärkt werden soll. Darüber hinaus - da haben
wir noch einiges zu tun - ist das Unterhaltsrecht zu harmonisieren, das heißt, an das Steuer- und Sozialrecht anzupassen.
Wir Rechtspolitiker in der Großen Koalition haben federführend im Rechtsausschuss beraten und, wie ich
denke, unsere Hausaufgaben gemacht. Das Gesetz, das
heute zur zweiten und dritten Lesung ansteht, ist ein gutes Gesetz. Es ist ein tragfähiger Kompromiss. Das Votum im Rechtsausschuss hat uns gezeigt, dass wir auf
dem richtigen Weg sind, und - Frau Ministerin, ich kann
Ihnen zustimmen - die Große Koalition ist sehr gut in
der Lage, wirksame und tragfähige Gesetze zu machen.
Deshalb richte ich an dieser Stelle einen Dank an alle,
die an diesem Gesetz mitgewirkt haben.
({0})
Das Unterhaltsrecht ist nicht nur ein Zweig im Familienrecht, sondern hat auch eine große gesellschaftspolitische Bedeutung. Dem wollen wir Rechnung tragen.
Wir wollen das Kindeswohl fördern - ich habe es gesagt -, die Eigenverantwortlichkeit stärken sowie das
Unterhaltsrecht vereinfachen. Kaum einer weiß vielleicht, dass das Unterhaltsrecht in Deutschland das komplexeste und schwierigste Unterhaltsrecht weltweit ist.
Nirgendwo ist es so schwierig wie in Deutschland, und
das gehört vereinfacht, damit die Menschen für den Fall
der Fälle wissen, was für sie zutrifft. Insofern ist eine
Neuregelung erforderlich.
Schauen wir uns einmal die Genese des Gesetzes an:
Im Sommer 2006 wurde es eingebracht. Wir haben es in
erster Lesung hier im Hause beraten und haben dann
eine umfassende Sachverständigenanhörung durchgeführt. Ich gebe zu, weil es sicherlich gleich angesprochen wird: Es gab danach im Frühjahr 2007 etwas
Sturm; den Sturm gab es vornehmlich in der Union.
Denn es ging darum, in einer großen Volkspartei einen
Konsens, eine tragfähige Regelung zu finden, die allen
Interessen gerecht wird. Wir haben auf der einen Seite
die Stärkung des Kindeswohls bzw. als Priorität die Kinder, die das schwächste Glied in unserer Gesellschaft
sind. Auf der anderen Seite haben wir den Schutz der
Ehe und somit Art. 6 in seiner ganzen Reichweite zu beachten.
Wir haben vor der legendären Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Februar, die uns in der
Rechtsausschusssitzung im Mai getroffen hat, und auch
danach um eine gute Lösung gerungen. Wir haben Anfang dieser Woche einen Kompromiss gefunden, der
heute zur Beschlussfassung ansteht.
Die Ministerin hat ausgeführt, dass wir hohe Scheidungsraten haben. In den letzten zehn Jahren hatten wir
eine Steigerung um 40 Prozent. In mehr als 50 Prozent
der Fälle sind minderjährige Kinder betroffen. Wir haben viele Alleinerziehende. In den neuen Bundesländern
werden über 60 Prozent der Kinder nichtehelich geboren, und wir haben Patchworkfamilien, also viele neue
Formen des Zusammenlebens. Dieser Realität müssen
wir uns stellen, und ich denke, dass wir uns ihr gut gestellt haben.
Vor dem Hintergrund, dass das Kindeswohl für uns
absolute Priorität genießt, war es für uns keine Frage
- ich denke, darüber herrscht in diesem Hause Einvernehmen -, dass die Kinder in einem Mangelfall - das
heißt, der Schuldner hat nicht ausreichend Geld zur Verfügung, um alle Unterhaltsansprüche zu befriedigen - allein im Rang eins stehen.
Wir haben von Anfang an klargestellt, dass auch den
Langzeitehepartnern der zweite Rang zusteht.
({1})
Wir haben im Rahmen der Beratungen lediglich die Modifikation vorgenommen, dass nicht nur die Dauer der
Ehe für die Frage, ob der zweite Rang von Bedeutung
ist, sondern auch weitere Punkte wie Rollenverteilung in
der Ehe sowie Pflege und Erziehung gemeinsamer Kinder maßgeblich sein sollen.
Wir haben nach mehreren Anläufen letztendlich auch
festgelegt, dass im zweiten Rang alle betreuenden Elternteile sind, und zwar unabhängig davon, ob es sich
um nichteheliche Mütter oder geschiedene Elternteile
handelt, weil alle Kinder - so sagt es auch Art. 6 Abs. 5
des Grundgesetzes - vom Gesetzgeber gleich zu behandeln sind und da der Betreuungsunterhalt ausschließlich
an das Kind anknüpft. Folglich sind alle Elternteile, die
Kinder betreuen, gesetzlich gleichzusetzen. Das hat sich
dann relativ schnell geklärt, sodass wir eine Einigkeit in
Bezug auf den zweiten Rang herbeigeführt haben.
Wir haben auch § 1615 l BGB - das ist der Unterhaltsanspruch der nichtehelichen Mutter - lange diskutiert. Der Ursprungsentwurf sah weiterhin eine Ungleichbehandlung vor. Wir wollten die Schere zwischen
dem Betreuungsunterhaltsanspruch des geschiedenen Elternteils und dem der nichtehelichen Mutter schließen.
Wir haben dann vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts - das hat die Union mit in die Beratung
eingebracht - den Unterhaltsanspruch der nichtehelichen
Mutter verlängert und damit im Wesentlichen das vorweggenommen, was das Bundesverfassungsgericht dann
von uns gefordert hat.
Wir haben in den Beratungen immer Art. 6 als Maßstab genommen. Insofern müssen wir sehen, dass wir
nicht nur den geschiedenen Elternteil - in der Regel ist
es die Mutter - nicht schlechter stellen, sondern auch
den Schutz der Ehe weiterhin aufrechterhalten.
Bei dieser Entwicklung sollte man bedenken: Das Familienrecht ist im BGB aus dem Jahre 1896 verankert,
und mit dem Nichtehelichengesetz aus dem Jahre 1969
hat man sich der Gleichstellung angenähert. Das ist also
nichts Neues, sondern schon relativ alt. Im Jahre 1976
wurde eine Eherechtsreform durchgeführt. In deren Rahmen sind wir vom Verschuldensprinzip zum Zerrüttungsprinzip übergegangen und haben die Regelungen
zum Unterhalt neu geregelt.
Damals ging der Gesetzgeber davon aus, dass der
Schwächere - das war immer die Frau - zu schützen ist.
Es hat sich aber relativ schnell herausgestellt, dass auch
viele Frauen aus der Ehe ausgebrochen sind - schon damals waren es ungefähr 50 Prozent -, sodass 1986 ein
Unterhaltsänderungsgesetz verabschiedet wurde. Die
Möglichkeit der Begrenzung der Höhe nach und die zeitliche Beschränkung wurden in das Gesetz aufgenommen. Darüber hinaus wurde im Jahre 1998 eine Kindschaftsrechtsreform durchgeführt, in deren Folge die
Unterhaltsansprüche der Kinder konkretisiert wurden.
Im Zuge der Veränderungen des Rechts und der gesellschaftlichen Realität im Laufe der vielen Jahre, die
ich gerade aufgelistet habe, war es, wie auch die Praxis
gezeigt hat, erforderlich, das Recht an die veränderte gesellschaftliche Situation anzupassen. Wir erinnern uns:
Bereits im Jahre 2000 wurde gefordert, das Unterhaltsrecht zu reformieren. Es hat sieben Jahre gedauert. Letztendlich können wir aber sagen, dass wir das Unterhaltsrecht nun auf einen guten Weg gebracht haben.
Die Ministerin hat ausgeführt, dass das Existenzminimum festgeschrieben und mit Blick auf die Praxis wesentlich vereinfacht wurde, Stichwort: Unterhaltsbezifferung. Darüber hinaus kann die Regelbetragsverordnung,
die wir kurzfristig anpassen mussten, weil wir nicht so
ganz die Kurve gekriegt haben, jetzt außer Kraft gesetzt
werden. Auch das Unterhaltsvorschussgesetz wird der
neuen Rechtslage angepasst.
Wir sind uns in diesem Hause einig, dass wir eine
weitergehende Reform des Unterhaltsvorschussgesetzes
isoliert beraten sollten. Hier ist noch das eine oder andere zu regeln. Unser Vorhaben wäre überfrachtet, wenn
wir es jetzt mit auf den Weg bringen wollten.
Wenn dieses Gesetz in Kraft tritt, müssen wir dafür
sorgen, dass es nicht zu einer Benachteiligung der Bedarfsgemeinschaft von Kind und betreuendem Elternteil
kommt, dass also für die Betroffenen nicht unter dem
Strich weniger herauskommt als heute. Hier muss über
das Sozialrecht und das Steuerrecht nachjustiert werden;
das hatte ich eingangs schon angesprochen.
Lassen Sie mich ferner darauf hinweisen, dass uns das
Bundesverfassungsgericht ganz klar mitgeteilt hat, ob
bzw. wie im Hinblick auf den Betreuungsunterhalt differenziert werden darf. Daher haben wir in § 1570 Abs. 2
BGB geregelt, dass Ehepartner für die Dauer der Unterhaltspflicht von drei Jahren und aus Billigkeitsgründen
auch für längere Zeit einen Unterhaltsanspruch haben
können. Das war der Union sehr wichtig. Auch diese Regelung ist im vorliegenden Gesetzentwurf enthalten.
Frau Ministerin, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie
auf Folgendes hingewiesen haben - auch ich hatte mir
das notiert -: Wir dürfen in dieser Diskussion nicht vergessen, dass Ehepartner weitere Unterhaltsansprüche haben, die zum Beispiel nichteheliche Mütter nicht haben.
Dabei geht es um den Unterhalt wegen Erwerbslosigkeit
oder wegen Krankheit, um den Aufstockungsunterhalt,
um den Unterhalt aus Billigkeitsgründen, um den Unterhalt wegen Ausbildung etc. All das war und bleibt im
Gesetz enthalten.
Genau das Gleiche gilt im Hinblick auf die Höhe des
Unterhalts und die zeitliche Befristung. All das ist Bestandteil der geltenden Rechtslage. Auch der Grundsatz
der Eigenverantwortung ist jetzt schon im Gesetz enthalten. Diesen Grundsatz wollen wir nun aber noch eindeutiger regeln, weil im Rahmen der Rechtsprechung in der
Vergangenheit nicht sehr viel Gebrauch von diesen Möglichkeiten gemacht wurde. Wir möchten, dass auch im
Falle einer zweiten Ehe oder einer weiteren Familie die
Möglichkeit besteht, den Kindern aus der zweiten Ehe
und ihren Müttern mit finanziellen Mitteln eine Chance
zum Neuanfang zu geben.
Noch einige Sätze zur angesprochenen Übergangsregelung. Im Rechtsausschuss legten die Grünen einen
Antrag vor, der dann zurückgezogen wurde, weil sein Inhalt verfassungswidrig war.
({2})
Wir haben immer geprüft: Ist es verfassungswidrig oder
verfassungsgemäß? Wir sind der Meinung, die Übergangsregelung ist maßvoll. Der Änderungsumfang beträgt ungefähr 10 Prozent. Wenn diese Änderungen zumutbar sind - das hat mit der Billigkeitsregelung und
mit der Einzelfallgerechtigkeit zu tun -, dann soll eine
Änderung möglich sein. Wir wollen nicht zwei parallele
Gesetze, sondern Rechtsklarheit.
({3})
Das ist uns wichtig. Daher sollte diese Regelung wie geplant getroffen werden.
Es gäbe noch viel zu sagen; aber ich möchte meine
Redezeit nicht zulasten der Redezeit des Kollegen
Singhammer, der noch für die CSU sprechen wird, verlängern. Zum Schluss möchte ich sagen: Vielen Dank für
die langen und guten Beratungen, die teilweise auch
stürmisch waren. Ich denke, das Ergebnis zählt. Das Ergebnis, das wir erzielt haben, ist sehr gut. Damit können
fast alle in diesem Haus gut leben. Wir müssen die FGGReform auf den Weg bringen, und wir haben beim ehelichen Güterrecht und beim Versorgungsausgleich noch
viel zu tun. Aber auch das werden wir schaffen.
Herzlichen Dank.
({4})
Für die Linke hat der Kollege Jörn Wunderlich das
Wort.
({0})
Verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir begrüßen das neue Unterhaltsrecht, jedenfalls
vom Ansatz her.
({0})
Dieser Gesetzentwurf ist vor der Sommerpause zurückgepfiffen worden. Nachdem aber das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung getroffen hat, sind einige der Forderungen, welche in unseren Anträgen
schon immer enthalten waren, in diesen Gesetzentwurf
eingeflossen.
({1})
Wir - das muss man an dieser Stelle betonen - waren damals die Einzigen, die verfassungskonforme Anträge
eingebracht hatten.
Gut am neuen Unterhaltsrecht ist, dass der Betreuungsunterhalt für Kinder unabhängig davon, ob sie in
ehelichen oder nichtehelichen Haushalten leben, gleich
lange gezahlt werden soll. Schlecht ist, dass der Betreuungsunterhalt - Betreuungsunterhalt! - geschiedenen
Ehefrauen ohne Wenn und Aber drei Jahre gezahlt wird,
bei nichtverheirateten Frauen jedoch zu prüfen ist, ob sie
bedürftig sind und ob ihnen Erwerbstätigkeit zugemutet
werden kann. So steht das im Gesetzestext. Was bedeutet
das? Die ledige Mutter eines Kindes von zwei Jahren
muss halbtags arbeiten gehen, da es ihr, sofern ein Kinderbetreuungsplatz vorhanden ist, zugemutet werden
kann. Die geschiedene Nachbarin, deren Kind auch zwei
Jahre alt ist, muss hingegen nicht arbeiten gehen, bekommt den vollen Unterhalt und bekäme vom Staat,
wenn es nach der CSU ginge, auch noch Betreuungsgeld. Da kann ich nur sagen: Grüß Gott nach Bayern,
Herr Singhammer! Ob das dem lieben Gott gefällt, bezweifle ich.
({2})
Gut ist im Vergleich zum ersten Entwurf die Übergangsregelung für den Mindestunterhalt, die gewährleistet, dass zumindest gegenwärtig nicht weniger gezahlt
wird als vorher. Schlecht ist, dass es grundsätzlich zu
wenig ist.
({3})
Es ist doch nicht einzusehen, dass der Mindestunterhalt
für ein Kind bis zur Einschulung 87 Prozent des Existenzminimums betragen soll. Ist ein Kind, bis es eingeschult wird, nur 87 Prozent Mensch? Überhaupt kann
sich der Unterhalt nach meiner Auffassung und nach der
Auffassung meiner Fraktion doch nicht am Existenzminimum orientieren! Er muss sich am menschenwürdigen Leben orientieren. Und wir reden hier vom Unterhalt für die eigenen Kinder!
({4})
Mit was für einer Sichtweise, unter was für einer Prämisse wird denn hier herangegangen?
Kritisch sehen meine Fraktion und ich auch die steuerlichen Auswirkungen auf die geänderte Rangfolge;
auch das ist schon angesprochen worden, und Herr Gehb
hat es im Ausschuss ja bestätigt. Denn infolge des verminderten Realsplittings haben die Unterhaltsverpflichteten möglicherweise weniger netto - und damit weniger
Geld zu verteilen. Es nützt nichts, wenn das Kind den
vollen Unterhalt bekommt, aber für die Mutter nichts
mehr übrig bleibt.
({5})
Denn auch Ihnen müsste klar sein, dass Kind und Mutter
bzw. Kind und Vater eine gemeinsame Haushaltskasse
haben. Das Brot wird für beide gekauft, es wird nicht aus
dem einen Portemonnaie Brot fürs Kind und aus dem anderen Portemonnaie Brot für die Mutter gekauft.
({6})
Beim Unterhaltsvorschuss fordern wir, dass das Bezugsalter heraufgesetzt und die Bezugsdauer verlängert
wird. Meine Kollegen Familienrichter und Familienanwälte kritisieren diese Grenze zu Recht seit langem.
Dass das Kindergeld voll auf den Unterhaltsvorschuss
angerechnet wird, ist schon skandalös. Aber dass die
Summe nach dem Willen der Koalition jetzt auch noch
reduziert werden soll, ist schlechterdings unglaublich.
In diesem Zusammenhang ist schade - auch das ist
schon angesprochen worden -, dass man über die Voraussetzungen für den Bezug von Unterhaltsvorschuss
nicht nachgedacht hat. Bislang bekommt ein Kind nur
dann Unterhaltsvorschuss, wenn es bei einem Elternteil
lebt. Da tun sich große Löcher auf. Aktueller Fall aus
Thüringen: die Eltern geschieden, das Kind, neun Jahre
alt, lebt bei der Mutter. Der Vater zahlt keinen Unterhalt,
weil er nicht kann oder will. Das Jugendamt geht in Vorleistung. Die Mutter stirbt. Die Großmutter, die ALG II
bekommt, nimmt das Kind bei sich auf. Was macht das
Jugendamt? Es stellt die Zahlungen ein, weil das Kind
nicht bei einem Elternteil lebt. Ich denke, man muss an
den Voraussetzungen arbeiten, damit den betroffenen
Kindern zu ihrem Recht verholfen wird.
({7})
Sehr geehrte Damen und Herren von der Koalition, zu
geringer Mindestunterhalt für Kinder, Ungleichbehandlung von ledigen und geschiedenen Müttern - eben
nicht, wie es das Bundesverfassungsgericht fordert -,
wahrscheinliche Unterhaltseinbußen bei den Familien mit ruhigem Gewissen können meine Fraktion und ich
diesem Gesetz nicht zustimmen. Es hieß doch, das Gesetz sollte dem Kindeswohl dienen, Frau Ministerin. So
wie ich das sehe, wird dieses Ziel mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf verfehlt. Wenn dies so Gesetz wird, bedeutet das: Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verringert sich das Familieneinkommen der betroffenen Familien. Wird kein Unterhalt gezahlt, wird
beim Unterhaltsvorschuss das Kindergeld voll angerechnet. Für den schlimmen Fall, dass der betreuende Elternteil stirbt, stellt das Jugendamt auch noch die Vorschusszahlungen ein. Und die ledigen Mütter sind schlechter
gestellt. Das alles soll zum Wohl der Kinder sein? Das,
Frau Ministerin Zypries, müssen Sie den betroffenen
Kindern und Eltern hierzulande erklären. Wir jedenfalls
werden uns an diesen Ungerechtigkeiten nicht beteiligen.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Jetzt hat Irmingard Schewe-Gerigk für Bündnis 90/
Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Hartnäckigkeit und Geduld sind als Eigenschaften, die
Politiker und Politikerinnen unbedingt mitbringen sollten, völlig unterschätzt. Diese Hartnäckigkeit haben Sie,
Frau Ministerin, bewiesen. Ohne Sie wäre die Reform
des Unterhaltsrechts so nicht zustande gekommen. Dafür
danke ich Ihnen;
({0})
denn das, was Ihnen Ihr Koalitionspartner im Mai abverlangen wollte, war schon eine Zumutung.
Ich bin erleichtert, dass wir heute letztendlich doch einen Gesetzentwurf beschließen können, mit dem wir uns
den gesellschaftlichen Realitäten stellen. Es wurde gesagt: Jede dritte Ehe wird heute geschieden. Die Ehe ist
längst nicht mehr die stabile Basis für die Gründung einer Familie. Andere Formen des Zusammenlebens sind
neben sie getreten. Jedes dritte Kind wird heute nichtehelich geboren.
Deshalb kann es nicht weiterhin so sein, dass im Falle
einer Trennung Höhe und Dauer des Unterhalts für Mutter und Kind davon abhängig sind, ob die Eltern die
Ringe getauscht haben. Es geht hier doch einzig und allein darum, die Nachteile für diejenigen auszugleichen,
die von einer Trennung besonders betroffen sind, und
das sind zuallererst die Kinder. Darum gehören sie beim
Unterhalt auch in den ersten Rang.
({1})
- Nein, keine Zwischenfragen.
Wir Grünen haben ein Familienbild, bei dem das
Wohl der Kinder und nicht die Lebensform der Eltern im
Mittelpunkt steht. Dieses Bild wird sich mit der heutigen
Reform, die unter Rot-Grün ja bereits Konsens war, endlich durchsetzen.
Herr Geis, wie ich der Presse entnahm, haben Sie gesagt, dass wir mit dieser Reform die Ehe in die Ecke
drängen. Ich muss Ihnen sagen: Die Ehe hat sich selbst
in die Ecke gestellt: 200 000 Scheidungen bei 380 000 Eheschließungen im Jahre 2005 sprechen eine eigene Sprache.
({2})
Herr Geis, Sie stehen mit dieser Position aber nicht alleine. Wäre es nach dem Willen vieler in Ihrer Partei gegangen, hätte es weiterhin zwei Klassen von Müttern
gegeben, nämlich die verheirateten und die unverheirateten. Weil Sie die Institution Ehe schützen wollten, glaubten Sie, unverheiratete Mütter diskriminieren zu können.
Erst das Bundesverfassungsgericht brachte Sie hier zur
Räson.
({3})
Um Ihre Niederlage beim Unterhaltsrecht zu kompensieren, haben Sie jetzt den Druck beim Betreuungsgeld
erhöht. Ich stelle mir die Frage: Hat es da vielleicht einen Deal - antiquiertes Betreuungsgeld gegen modernes
Unterhaltsrecht - gegeben?
({4})
Sie schaffen damit doch eine schizophrene Situation: Sie
wollen eine Prämie für das Zuhausebleiben schaffen.
Kinder sollen den Bildungseinrichtungen und Mütter
sollen dem Arbeitsmarkt fernbleiben. Nach der Trennung sollen die Mütter aber ganz schnell wieder nacheheliche Eigenverantwortung an den Tag legen, damit
der ehemalige Gatte eine Zweitfamilie gründen kann.
Wie stellen Sie sich das eigentlich vor? Die Mütter
haben die Verbindung zum Arbeitsmarkt dann doch
längst verloren. Die Leidtragenden dieses Deals werden
die Frauen sein. Unser Staat ist leider nach wie vor darauf aufgebaut, dass die Ehefrau im besten Fall als Zuverdienerin fungiert. Mit der heutigen Reform muss es
heißen - das sage ich jetzt zur CSU -: Bye, bye, Alleinverdienerehe.
({5})
Denn nur mit einer individuellen, partnerunabhängigen
Existenzsicherung können Ehefrauen in Zukunft der
- jetzt zitiere ich die Präsidentin des Deutschen Juristinnenbundes - seriellen Monogamie ihres Ehemannes ruhigen Blutes ins Gesicht sehen.
({6})
„Serielle Monogamie“ - das hört sich doch wirklich gut
an.
({7})
Wir sollten diese Reform daher als Chance anerkennen, endlich gleichberechtigte Verhältnisse in unserem
Land herzustellen. Dafür muss natürlich auch das Ehegattensplitting abgeschafft werden.
({8})
Wir brauchen eine flächendeckende Kinderbetreuung
und die Förderung der Frauen in der Wirtschaft. Das
geht auch Sie an, sehr geehrte Bundesregierung. Der
Herr Staatssekretär aus dem Familienministerium sitzt
hier ja.
({9})
Den Männern rufe ich zu: Sie haben zwar lange Zeit
über die hohen Unterhaltsverpflichtungen gejammert,
sich aber doch die Frau zu Hause gewünscht, die Ihnen
den Rücken stärkt,
({10})
den Haushalt schmeißt und die Kinder versorgt. Damit
ist jetzt Schluss.
({11})
Sie können nicht beides haben. Die finanzielle Freiheit
nach einer Ehe erhalten Sie für den Preis von mehr Verantwortung in der Ehe, nämlich für Haushalt und für
Kindererziehung.
({12})
Sie können in den Chefetagen ja schon einmal Platz
schaffen, und bereiten Sie sich auf die Abende vor, an
denen Sie Ihre gestresste Frau zu Hause erwarten und die
Kinder ins Bett bringen.
Die Frauen sind besonders gefragt. Gerade einmal
44 Prozent der Frauen mit Kindern unter fünf Jahren
sind heute in Deutschland erwerbstätig. Das heißt, mehr
als jede Zweite ist nicht erwerbstätig. Von jetzt an muss
die Rollenverteilung in der Partnerschaft neu verhandelt
werden. Nehmen Sie sich das zu Herzen! Andernfalls
wird es bei einer Scheidung künftig unangenehme Überraschungen geben.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, wir werden diesem Gesetz zustimmen. Es ist
wegweisend, auch wenn wir das eine oder andere anders
gemacht hätten, wie es hier vorhin schon angesprochen
worden ist. Wir wollten eine Stichtagsregelung, um für
die Altehen mehr Gerechtigkeit zu schaffen. Dies hat
sich als sehr schwierig erwiesen, weil es so viele unterschiedliche Fallkonstellationen gibt, dass man nicht allen Rechnung tragen kann. Darum haben wir diesen Antrag heute nicht mehr zur Abstimmung gestellt.
({13})
Ich halte diese Reform für eine gute. Ich freue mich
auf sie und unterstütze sie.
({14})
Jetzt hat der Kollege Johannes Singhammer das
Wort. - Nein, Entschuldigung, Christine Lambrecht
spricht jetzt für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich lege
großen Wert darauf, jetzt sprechen zu dürfen; denn ich
habe lange darauf warten müssen, dass es zur zweiten
und dritten Lesung dieser Reform kommt. Deswegen
freut es mich ganz besonders, dass ich jetzt dazu sprechen kann.
Wir hatten im Sommer eine etwas unüberschaubare
Situation, weil der ursprünglich vereinbarte Regierungsentwurf aufgrund eines vorliegenden Bundesverfassungsgerichtsurteils überarbeitet werden musste, aber
auch - das muss man durchaus zugeben - wegen teilweise unterschiedlicher Auffassungen zwischen den
CDU- und CSU-Familienpolitikern und dem Rest der
Koalition.
({0})
- Herr Gehb, lassen Sie mich bitte im Zusammenhang
vortragen. Wir haben uns im Rechtsausschuss und bei
verschiedenen anderen Gelegenheiten schon ausgetauscht. Das möchte ich jetzt ungern wiederholen.
({1})
Auch wenn es momentan nicht ganz so aussieht, haben wir es geschafft, zu einem Konsens zu finden, der
nicht nur in der Koalition, sondern auch darüber hinaus
auf Zustimmung stößt. Es freut mich, dass die FDP und
die Grünen mit im Boot sind. Frau LeutheusserSchnarrenberger, ich erinnere mich noch daran, dass wir
einmal eine Geschäftsordnungsdebatte darüber geführt
haben, dass es ein bisschen länger gedauert hat.
({2})
Damals habe ich gesagt: So etwas braucht Zeit, und das
muss man ausdiskutieren; aber ich bin optimistisch, dass
wir eine Lösung finden, die auch dem gerecht wird, was
der Lebensrealität entspricht. Ich freue mich, dass dies
gelungen ist; anderenfalls würden Sie ja heute hier nicht
zustimmen.
Zum Thema Lebensrealität nur ein ganz kurzer Einwurf, ohne oberlehrerhaft wirken zu wollen: Wir reden
hier nicht über ein Gesetz, das Mütter in den zweiten
Rang versetzt, egal, ob sie verheiratet sind oder nicht,
sondern über eines, das alle erziehenden Elternteile in
den zweiten Rang versetzt. Dazu können tatsächlich
auch Väter zählen.
({3})
Das entspricht auch tatsächlich der Lebensrealität. Ich
kenne viele Väter, die darauf auch bestehen. Deswegen
sollten wir nicht immer nur davon reden, dass die Mütter
im zweiten Rang sind. Vielleicht nehmen auch Sie es
wahr, Herr Wunderlich, dass wir nicht nur die Mütter belasten; es können durchaus auch Väter sein. Ich wünsche
mir, dass noch viel mehr Väter - vielleicht nicht gerade
in einer Trennungsphase, aber insgesamt - Erziehungsverantwortung übernehmen.
({4})
Inhaltlich ist schon viel gesagt worden. Kinder sind
zu Recht im ersten Rang, weil sie keinerlei Einfluss darauf haben, wie ihre Eltern leben. Keine Mutter fragt ihr
Kind, ob sie dessen Vater heiraten soll oder sich von ihm
trennen soll. In der Regel treffen diese Entscheidungen
die Erwachsenen, was auch richtig ist, weil Kinder selten
in der Lage sind, das ganze Geschehen entsprechend einzuschätzen. Aus diesem Grund sollen die Kinder nicht
die Leidenden sein, sondern, egal, in welcher Lebenssituation sich ihre Eltern befinden, einen gleichen Anspruch haben, und deswegen ist es auch gut, dass sie
jetzt allein im ersten Rang sind und sich nicht wie bisher
das, was im Mangelfall zu verteilen ist, mit einer Ehefrau oder gegebenenfalls auch zwei oder drei Ehefrauen
teilen müssen.
({5})
- Ja, oder Ehemännern, okay. Aber bei den Zweit- und
Drittmännern sind die Frauen vielleicht doch noch nicht
so weit. Da kenne ich noch nicht so viele; aber gut, das
alles mag irgendwann kommen. Es muss ja auch nicht
sein, es ist ja vielleicht auch gar nicht wünschenswert,
für so viele sorgen zu müssen.
Kinder sind im ersten Rang und dann im zweiten
Rang, wie angesprochen, die erziehenden Elternteile,
weil eben ein Kind nicht von dem Elternteil losgelöst gesehen werden kann, mit dem es zusammenlebt. Man
kann nicht sagen, ein Kind, das in einer ehelichen Beziehung aufgewachsen ist, bekomme zwar das Gleiche wie
das in einer nichtehelichen Beziehung aufgewachsene,
aber die Mutter bekomme dann dafür weniger. Ich muss
sie als Gemeinschaft sehen; nur so funktioniert das
Ganze. Deswegen ist es auch richtig, dass alle im zweiten Rang gelandet sind.
Zusätzlich sind im zweiten Rang Frauen in einer Ehe
von langer Dauer. Ich halte es für völlig in Ordnung;
denn hier ist ein Vertrauensschutz entsprechend zu berücksichtigen.
Deswegen finde ich es gut, dass dieser Teil berücksichtigt wurde. Das Gericht wird dann im Einzelfall entscheiden, was als Ehe von langer Dauer gilt. Das mag im
Einzelfall sehr unterschiedlich gehandhabt werden.
Von daher glaube ich nicht, dass mit dem Gesetzentwurf in irgendeiner Weise eine Ideologie übergestülpt
wird oder dass wir als Staat in die Lebensbedingungen
der Familien eingreifen. Der Gesetzentwurf trägt
schlicht und ergreifend dem Rechnung, was jetzt schon
Realität ist, statt einem veralteten Familienbild, das es
- manche mögen das bedauern - schon lange nicht mehr
gibt. Insofern geht es nicht um Ideologie, sondern um die
Anpassung der Gesetzeslage an die Lebensrealität.
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen. Denn ich
finde es nicht fair, Herr Wunderlich, wie Sie den Fall einer Großmutter dargestellt haben, die ein Kind erzieht
und der das Jugendamt den Unterhalt sperrt. Das finde
ich nicht in Ordnung, weil dadurch Emotionen und
Ängste geschürt werden. Wenn das Jugendamt die Unterhaltsleistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz
einstellt, dann gibt es in diesem Fall noch einen anderen
Topf, aus dem Leistungen gewährt werden. Denn wenn
die betroffene Frau ALG II bezieht, wie Sie angegeben
haben, dann kann sie als Teil einer Bedarfsgemeinschaft
eine andere finanzielle Zuwendung - meines Wissens
nach dem SGB II - erhalten.
Dass Sie den Fall so darstellen, als würde die Großmutter, die das Kind erziehen muss, kein Geld mehr bekommen, weil das Jugendamt den Unterhalt sperrt, finde
ich unfair. Das ist nicht richtig, und es soll deshalb nicht
unwidersprochen stehen bleiben.
({6})
Das Unterhaltsvorschussgesetz und die steuerlichen
Auswirkungen sind bereits als Themen genannt worden,
denen wir uns noch widmen müssen. Dem sollten wir
uns auch nicht verschließen, weil es wichtige Themen
sind.
Ich bin aber froh, dass sich die Stichtagsregelung
nicht durchgesetzt hat. Dann hätte es keine Transparenz
gegeben. Es hätte zwei Gesetze nebeneinander gegeben,
was zu einer großen Verunsicherung geführt hätte.
Es wurde das Anliegen geäußert, die Ehe von langer
Dauer besonders zu privilegieren. Das alles geht nur zulasten der Kinder. Sie kann dann nur im ersten Rang berücksichtigt werden, und die Kinder müssen sich das,
was an Unterhalt zur Verfügung steht, teilen. Ein solches
Vorgehen nach dem Motto „Wasch mich, aber mach
mich nicht nass“ funktioniert aber nicht.
({7})
- Ich habe das noch nie angedacht. Ich habe nur auf verschiedene Anstöße von außen reagiert und nachgerechnet. Es wäre immer wieder zulasten der Kinder gegangen.
Die Botschaft muss lauten: Die Kinder sind die Gewinner der Reform. Da gibt es kein Wenn und Aber und
auch keine Ausnahme.
Vielen Dank.
({8})
Jetzt haben wir eine Kurzintervention des Kollegen
Gehb.
Vielen Dank. - Ich habe mich nur deshalb gemeldet,
weil mir durch zweimalige Ablehnung einer Zwischenfrage nicht die Gelegenheit gegeben worden ist, in diesem Hause dem Eindruck entgegenzuwirken, dass
ausschließlich die Familienpolitiker der CDU/CSUFraktion Ewiggestrige seien, die die Verfassung nicht
kennen würden.
({0})
In dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht
- es wird andauernd herangezogen, um uns zu belehren - hat das Bundesjustizministerium selbst bei der
Frage, ob die Regelung über die Ehedauer verfassungswidrig ist, in seiner Stellungnahme ausgeführt, dass es in
diesem Verfahren auf nacheheliche Solidarität ankommt.
Dass man nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts klüger werden kann, weiß jeder von uns.
Aber man sollte nicht so tun, als hätten die einen von
Anfang an die Weisheit mit Löffeln gefressen, während
die anderen die Ewiggestrigen und Dummen sind. Das
bitte ich, hinzunehmen. Das lasse ich nicht als Stigma
auf meinen Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSUFraktion sitzen.
({1})
Offensichtlich möchte niemand antworten. Deswegen
erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen Johannes
Singhammer für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Im Mai dieses Jahres standen wir bereits kurz
vor der abschließenden Beratung eines gemeinsamen
Gesetzentwurfs der Großen Koalition. 48 Stunden vor
der Verabschiedung ist eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ergangen, die sich im Kernbereich
mit Fragen dieses Gesetzentwurfs auseinandergesetzt
hat. Der Kernsatz in dieser Entscheidung lautete:
Die unterschiedliche Regelung der Unterhaltsansprüche wegen der Pflege oder Erziehung von Kindern in § 1570 des Bürgerlichen Gesetzbuches
einerseits und § 1615 l Abs. 2 Satz 3 des Bürgerlichen Gesetzbuches andererseits ist mit dem
Art. 6 Abs. 5 des Grundgesetzes unvereinbar.
Wir haben daraufhin geprüft, welche Wirkungen dieses Urteil hat, und sind zu dem Ergebnis gekommen, die
ursprüngliche Formulierung in einigen Bereichen zu ändern. Unsere Ziele bei der Neuformulierung waren: erstens das Kindeswohl, zweitens der Schutz der Ehe, insbesondere der Ehe von langer Dauer, und drittens die
Verfassungsfestigkeit des Gesetzes.
Das Kindeswohl steht an erster Stelle; das war immer
unser Wunsch und unser Wille. Jedes Kind ist uns gleich
viel wert. Deshalb war es wichtig, den Unterhaltsansprüchen der Kinder unabhängig von der Frage des Status
der Eltern Priorität einzuräumen.
({0})
Der zweite beim Kindeswohl zu berücksichtigende
Punkt ist, dass Kinder bei einer Trennung der Eltern besonders schutzwürdig sind. Wir haben sichergestellt,
dass Mütter und Väter, die ihre Kinder auch nach der
Scheidung selbst betreuen wollen, dies weiterhin tun
können.
Besonders wichtig war uns auch, dass die Institution
Ehe nicht ausgehöhlt wird. Deshalb sind wir erstens einverstanden mit der Formulierung, die jetzt gefunden
worden ist: Wenn ein geschiedener Ehepartner in der
Ehe auf berufliches Fortkommen verzichtet hat, um gemeinsame Kinder zu erziehen, kann dieser nach der
Scheidung durch eine individuell maßgeschneiderte Lösung des Gerichts für längere Zeit Unterhalt beziehen.
({1})
Das ist richtig und gerecht und wird durch die Neuformulierung des Gesetzes ermöglicht.
Zweitens kann die Leistung der Kindererziehung zu
einer unterschiedlichen Bewertung in der Praxis führen.
Das ist richtig.
Drittens ist es recht und billig und uns wichtig, dass
Frauen mit langjähriger Ehe, die keine Kinder mehr erziehen, beispielsweise weil diese schon aus dem Haus
sind, an die zweite Stelle aufrücken können. Das ist
keine Abwertung, sondern eine Aufwertung der Ehe.
Denn eines ist für uns nach wie vor klar: Die Ehe ist
keine Lebensform unter vielen; sie ist nach wie vor die
Lebensform, für die sich Männer und Frauen am häufigsten entscheiden. Das wird auch in Zukunft so sein.
({2})
Männer und Frauen entscheiden sich bewusst für die
Erziehung der gemeinsamen Kinder und wollen die Ehe
als dauerhaften personalen Bund auch in der Zukunft.
Art. 6 Abs. 1 unseres Grundgesetzes verbürgt diesen
besonderen Schutz von Ehe und Familie. Für die, die
diesen Artikel nicht mehr ganz im Gedächtnis haben,
darf ich zitieren:
Ehe und Familie stehen unter dem besonderen
Schutze der staatlichen Ordnung.
Wer etwas anderes will, muss das Grundgesetz ändern.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, trotz hoher
Scheidungszahlen, auf die zu Recht hingewiesen worden
ist, haben viele junge Menschen nach wie vor den
Wunsch, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen. Die Ehe wird auch in Zukunft kein Relikt aus vergangenen Zeiten sein, sondern die meistgewünschte Lebensform. Deshalb lautet, vor allem angesichts so hoher
Scheidungszahlen, der Auftrag an die Familienpolitik,
gute Rahmenbedingungen für die Ehe zu schaffen.
Die Institution Ehe hat Zukunft. An die Adresse der
Grünen sage ich: In einem bin ich mir ganz sicher, Herr
Montag,
({3})
nämlich dass die Institution Ehe länger existieren wird
als mancher Kreisverband der Grünen.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-
rung des Unterhaltsrechts. Erklärungen zur Abstimmung
nach § 31 unserer Geschäftsordnung liegen von den Kol-
leginnen und Kollegen Thomas Bareiß, Antje
Blumenthal, Maria Eichhorn, Manfred Kolbe, Dr. Eva
Möllring, Annette Widmann-Mauz und Dr. Maria
Flachsbarth vor.1)
({0})
Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/6980,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
16/1830 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-
len, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Damit ist der Gesetzentwurf bei Zustimmung der
SPD-Fraktion, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der
FDP-Fraktion und eines Großteils der CDU/CSU-Frak-
tion, Gegenstimmen von der Fraktion Die Linke und ei-
nigen Enthaltungen in der CDU/CSU-Fraktion ange-
nommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
1) Anlagen 7 bis 11
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetz-
entwurf mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor
angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Rechtsausschusses zu dem Antrag der
Fraktion der FDP mit dem Titel „Unterhaltsrecht ohne
weiteres Zögern sozial und verantwortungsbewusst den
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anpassen“. Der
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/6980, den Antrag
der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/891 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Ge-
genstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschluss-
empfehlung bei Zustimmung der Fraktionen Die Linke,
SPD, Bündnis 90/Die Grünen und von großen Teilen der
CDU/CSU-Fraktion sowie bei Gegenstimmen der FDP
und einigen Enthaltungen innerhalb der CDU/CSU-
Fraktion angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Ersten Geset-
zes zur Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes. Der
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 16/5444, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 16/1829 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktio-
nen der CDU/CSU und der SPD vor, über den wir zuerst
abstimmen werden. Wer stimmt für den Änderungsan-
trag auf Drucksache 16/7037? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Damit ist der Änderungsantrag bei Zu-
stimmung von Koalition und FDP, Gegenstimmen von
der Linken und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen
angenommen.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung mit der eben beschlossenen Ände-
rung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegen-
stimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzent-
wurf bei Zustimmung durch Koalition und FDP,
Gegenstimmen von der Linken und Enthaltung von
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Interfraktionell ist vereinbart, unmittelbar in die dritte
Beratung einzutreten. Sind Sie damit einverstanden? -
Das ist der Fall.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der
Gesetzentwurf in dritter Beratung mit dem gleichen
Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Ent-
schließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungs-
antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/5482? -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Ent-
schließungsantrag bei Zustimmung durch die einbrin-
gende Fraktion und Gegenstimmen im übrigen Haus ab-
gelehnt.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 16/5483? - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Dieser Entschließungsantrag ist
bei Zustimmung der Fraktion Die Linke, Ablehnung von
Koalition und FDP sowie bei Enthaltung von Bünd-
nis 90/Die Grünen abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 41 a und 41 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Lothar
Bisky, Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Diether Dehm,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Anpassung der Sozialgesetzgebung für Kultur-, Medien- und Filmschaffende
- Drucksache 16/6080 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Katrin Göring-Eckardt, Kerstin Andreae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Neue Sicherheit für flexible Arbeitsverhältnisse
- Drucksache 16/6436 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Ausschuss für Kultur und Medien
Hier wäre eine halbe Stunde Debatte vorgesehen. Der
Kollege Gerald Weiß, die Kollegin Angelika Krüger-
Leißner, die Kollegen Heinz-Peter Haustein und Profes-
sor Dr. Lothar Bisky sowie die Kollegin Brigitte
Pothmer haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/6080 und 16/6436 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 14. November 2007, 13 Uhr,
ein.
Genießen Sie die gewonnenen Einsichten und das
Wochenende.
Die Sitzung ist geschlossen.