Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich.
Vor Eintritt in die Tagesordnung habe ich eine Mitteilung zu machen. Zwischen den Fraktionen ist vereinbart
worden, die verbundene Tagesordnung um die in der
Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:
Haltung der Bundesregierung zu den von den
Stromkonzernen angekündigten massiven Strompreiserhöhungen
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Nachtwei, Volker Beck ({0}), Kerstin Müller
({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Prüfkriterien für Auslandseinsätze der Bundeswehr entwickeln - Unterrichtung und Evaluation verbessern
- Drucksache 16/6770 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Barth, Patrick Meinhardt, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Orientierung und verbesserte Berufsperspektiven durch Praktika schaffen
- Drucksache 16/6768 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hellmut
Königshaus, Dr. Karl Addicks, Sibylle Laurischk,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Jugendfreiwilligendienste in einen gemeinsamen Gesetzesrahmen zusammenfassen
- Drucksache 16/6769 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({4})
Sportausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Britta Haßelmann, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Jugendfreiwilligendienste ausbauen und Gesamtkonzeption entwickeln
- Drucksache 16/6771 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({5})
Sportausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({6}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Angelika Brunkhorst,
Michael Kauch, Horst Meierhofer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Bodenschutzrahmenrichtlinie aktiv mitgestalten - Subsidiarität sichern, Verhältnismäßigkeit wahren
- Drucksachen 16/4736, 16/5757 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrich Petzold
Detlef Müller ({7})
Eva Bulling-Schröter
Sylvia Kotting-Uhl
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Ferner mache ich auf vier nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 109. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich zusätzlich an den Finanzausschuss ({8})
zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Bundesregierung zur
Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der
Richtlinie 2006/24/EG
- Drucksache 16/5846 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({9})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Kultur und Medien
Der in der 115. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich zusätzlich an den Ausschuss für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({10}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Dritter Gesetzentwurf der Bundesregierung
zur Änderung des Bundespolizeigesetzes
- Drucksachen 16/6292, 16/6570 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({11})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
Der in der 115. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich zusätzlich an den Ausschuss für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({12}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Modernisierung der Rahmenbedingungen für Kapitalbeteiligungen ({13})
- Drucksache 16/6311 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({14})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Der in der 73. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich zusätzlich an den Rechtsausschuss ({15})
zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Bundesregierung über die
elektromagnetische Verträglichkeit von Betriebsmitteln ({16})
- Drucksache 16/3658 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({17})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Sind Sie damit einverstanden? - Das scheint der Fall
zu sein. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Fragestunde
- Drucksachen 16/6743, 16/6761 Zu Beginn der Fragestunde rufe ich gemäß Nr. 10 der
Richtlinien für die Fragestunde die dringlichen Fragen
auf.
Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich des
Auswärtigen Amtes. Ich begrüße Herrn Staatsminister
Erler, der zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung
steht.
Ich rufe die dringliche Frage Nr. 1 des Abgeordneten
Dr. Norman Paech, Fraktion Die Linke, auf:
Wie bewertet die Bundesregierung die sich zuspitzende
Situation an der türkisch-irakischen Grenze durch den massiven Aufmarsch türkischer Truppen und die immer deutlicher
werdende Drohung, in den Irak einzumarschieren, unter dem
Gesichtspunkt der Souveränität des Irak und den möglichen
Folgen für die Sicherheitslage und Stabilität der Region?
Herr Kollege Paech, die Antwort der Bundesregierung auf Ihre Frage lautet: Die Bundesregierung sieht die
jüngsten Entwicklungen an der türkisch-irakischen
Grenze mit Besorgnis. Sie verurteilt die terroristischen
Angriffe der PKK im türkischen Südosten auf das
Schärfste. Die Bundesregierung appelliert an die Regierungen der Türkei und des Iraks, auf Grundlage ihres vor
kurzem unterzeichneten bilateralen Sicherheitsabkommens gemeinsam für Stabilität in der Region zu sorgen.
Die Bundesregierung steht mit der türkischen Regierung
in Kontakt. Der Bundesminister des Auswärtigen hat am
21. Oktober 2007 mit dem türkischen Außenminister telefoniert und an die türkische Regierung appelliert, mit
Augenmaß und Besonnenheit zu reagieren und so eine
gefährliche Destabilisierung der Region zu verhindern.
Der Bundesregierung ist bekannt, dass das türkische
Parlament am 17. Oktober dieses Jahres einen Beschluss
gefasst hat, der die türkische Regierung ermächtigt,
grenzüberschreitend gegen die PKK tätig zu werden. Die
Bundesregierung wird sich gemeinsam mit ihren EUPartnern und den Vereinigten Staaten weiterhin dafür
einsetzen, dass der Konflikt diplomatisch und unter Ausschöpfung aller nichtmilitärischen Mittel gelöst wird.
Zusatzfragen?
Herr Kollege Erler, ich hatte gefragt, wie Sie diese
Drohung insbesondere unter dem Gesichtspunkt der
Souveränität des Iraks bewerten. Damit verbinde ich die
folgende Frage: Können Sie der weitverbreiteten, immer
wieder geäußerten Vermutung zustimmen, dass es der
Türkei gar nicht um die PKK-Rebellen geht, sondern darum, die Autonomieentwicklung im Norden des Iraks zu
verhindern? Könnte diese Vermutung zutreffen?
Ich kann auf jeden Fall sagen, dass die Bestrebungen,
die auf die Errichtung eines eigenen Staates im Nordirak
zielen, in der Türkei mit großer Sorge beobachtet werden. In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin,
dass eine Stabilisierung des gesamten Iraks eine Separation des Nordiraks verhindert. Ich gehe davon aus, dass
auch die türkische Politik von entsprechenden Erkenntnissen geleitet wird.
Weitere Zusatzfrage?
Ja, ich habe eine zweite Nachfrage. - Ich unterstelle
einmal, dass der Bundesregierung aufgrund der weitverbreiteten Presse bekannt ist, dass die Türkei schon seit
Monaten Militär im Südosten ihres Landes zusammengezogen hat, dass sie von dort immer wieder Überfälle
auf Dörfer und Ortschaften in Südostanatolien unternommen hat und dass sie bisher alle Angebote der PKK
in Richtung Waffenstillstand - seit Oktober 2006 bis
jetzt, zum jüngsten Datum - abgewiesen hat und immer
wieder auf eine militärische Lösung zurückkommt. Was
- das ist meine Frage - hat die Bundesregierung bisher
unternommen, um es zu dieser absehbaren Zuspitzung
der Lage nicht kommen zu lassen?
Herr Kollege, ich glaube, man muss ein bisschen aufpassen, dass man die Dinge jetzt nicht so verkehrt, dass
es zu einer Verwechslung von Tätern und Opfern
kommt. Uns sind mehrere sehr blutige Überfälle der
PKK auf Einheiten der türkischen Armee bekannt, übrigens zum Teil mit zivilen Opfern. Der letzte dramatische
Akt hat am 21. Oktober dieses Jahres stattgefunden. Allein bei diesem Vorfall sind zwölf türkische Soldaten zu
Tode gekommen.
Selbstverständlich gibt es eine Politik der türkischen
Regierung gegenüber den Kurden, die wir seit langem
im Dialog begleiten, was wir auch weiterhin machen
werden. Wir können dadurch feststellen, dass die gerade
erst wieder durch Wahlen bestätigte AKP-Regierung
durchaus Anstrengungen in unserem Sinne unternommen hat, was sich übrigens auch darin niederschlägt,
dass 40 Prozent der Kurden die AKP gewählt haben. Das
ist ein Beleg dafür, dass ein Teil dieser Politik bei der
kurdischen Bevölkerung im Südosten der Türkei angekommen ist.
Ich kann nur noch einmal wiederholen, dass wir unsere Bemühungen fortsetzen werden mit dem Ziel, dass
die türkische Regierung auf diese Provokationen nicht
militärisch in Form eines Einmarsches in den Nordirak
antwortet, weil wir glauben, dass das weder im Sinne der
türkischen Interessen noch im Sinne des gemeinsamen
Interesses an einer stabilen Entwicklung im Gesamtirak
sein kann.
Kollege Koppelin.
Herr Staatsminister, können Sie Auskunft darüber geben, ob sich Gremien der NATO mit der Angelegenheit
beschäftigt haben? Denn immerhin ist die Türkei NATOPartner.
Soweit ich weiß, ist das bisher nicht der Fall. Wir
können erkennen, dass es aktive diplomatische Bemühungen der Vereinigten Staaten gibt, in die der Präsident
und die Außenministerin einbezogen sind. Diese Bemühungen umfassen sowohl Kontakte mit der irakischen
Seite als auch Kontakte mit der nordirakischen Autonomieregierung als auch Kontakte mit der Türkei. Aber
eine formelle Beschäftigung der NATO mit dieser Angelegenheit ist mir nicht bekannt.
Frau Kollegin Dağdelen.
Herr Erler, ist der Bundesregierung bekannt, dass in
den letzten Jahren im Zusammenhang mit dem zunehmenden Nationalismus in der Türkei fast schon Rassismus gegenüber kurdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern aufgetreten ist, und zwar vor allen Dingen auf
Drängen der Partei der Nationalistischen Bewegung,
MHP, die jetzt auch ins Parlament eingezogen ist, und
der CHP, der Republikanischen Volkspartei? Wie bewertet die Bundesregierung diese Entwicklungen? Vor allen
Dingen vor dem Hintergrund des Prozesses des EU-Beitritts der Türkei hat die Bundesregierung doch bestimmt
eine Position zu diesen Entwicklungen.
Frau Kollegin, ich möchte an meine vorletzte Antwort
anknüpfen. Es gibt eine pluralistische Entwicklung in
der Türkei. Es gibt bestimmt verschiedene Parteien, deren Ziele wir nicht teilen können oder auch kritisieren
müssen. Aber was die offizielle Politik der Türkei in den
letzten Jahren angeht, sehen wir durchaus das Bemühen,
zu einer politischen Lösung des Kurdenproblems zu
kommen. Die Fortschritte dabei sind darin erkennbar,
dass der Rückhalt der PKK als Gruppierung, die eine militärische, eine gewaltsame Lösung dieses Problems anstrebt, zurückgegangen ist. Wir sehen die Provokationen
der PKK, beispielsweise ihre grenzüberschreitenden Aktivitäten, durchaus in einem Zusammenhang mit dem
Rückgang der Zustimmung für die PKK in der kurdischen Bevölkerung.
Ich rufe die dringliche Frage 2 des Kollegen Paech
auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Gespräche zwischen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und US-Außenministerin Condoleezza Rice, in denen heutigen Presseberichten zufolge gemeinsame Aktionen des türkischen und des
US-Militärs gegen Guerillas im Nordirak erwogen werden?
Herr Kollege Paech, die Antwort der Bundesregierung auf Ihre Frage lautet: Die Bundesregierung hat
keine Kenntnis von dem Inhalt der Gespräche der USAußenministerin mit dem Ministerpräsidenten der Türkei. Der Bundesregierung ist bekannt, dass zurzeit hochrangige Kontakte zwischen den Regierungen der Türkei,
des Irak und der USA - ich habe sie eben schon erwähnt mit dem Ziel stattfinden, den Konflikt einzudämmen und
möglichst mit friedlichen Mitteln zu lösen. Auch von der
kurdischen Regionalregierung im Nordirak wird in diesem Zusammenhang erwartet, einen Beitrag zu leisten
und zur friedlichen Lösung des Konflikts beizutragen.
Die Stabilität der Region liegt im Interesse aller Beteiligten.
Eine Zusatzfrage?
Auch ich habe dies natürlich nicht von Herrn Erdogan
persönlich, sondern aus der amerikanischen Presse, die
darüber berichtet hat, dass die USA angeboten habe, gemeinsam mit der Türkei per Luftunterstützung über die
PKK-Stellungen in den Kandil-Bergen herzufallen. Sie
wissen, dass die PKK und die Kurden seit 1984 gemeinsam für ihre Rechte - für Menschenrechte, Bürgerrechte,
politische Rechte - und überhaupt für die Anerkennung
ihrer Identität kämpfen und dass bis jetzt zwar einige,
aber immer noch nicht genügend politische Erfolge erzielt worden sind. Jetzt stellen sich die USA an die Seite
der Türkei und bieten militärische Unterstützung an.
Selbst wenn das nur in der Presse steht, frage ich Sie:
Was unternimmt die Bundesregierung in dieser Situation
auch gegenüber den USA, um hier beruhigend zu wirken
und vor allen Dingen eine Pazifizierung der Situation
herzustellen?
Herr Kollege Paech, ich habe schon aus Ihrer Formulierung der Frage erkannt, dass Sie sehr genau wissen,
dass die Bundesregierung zu Presseberichten, zu deren
Gegenstand wir keine eigenen Erkenntnisse haben, keinen Kommentar abgibt. Das erwarten Sie also in Wirklichkeit gar nicht von mir. Insofern kann ich mich mit
meiner Antwort auf den zweiten Teil Ihrer Frage konzentrieren.
Wir bemühen uns - auch im Rahmen eines persönlichen Gesprächs, zum Beispiel unseres Außenministers
mit seinem türkischen Kollegen Babacan -, auf eine
Nichtnutzung der Ermächtigung durch das türkische Parlament hinzuwirken. Wir glauben, dass eine grenzüberschreitende militärische Aktion der türkischen Regierung, mit der versucht würde, die PKK-Basislager in den
Kandil-Bergen anzugreifen, in jeder Hinsicht zum Nachteil der Region und der türkischen Interessen ginge und
vielleicht sogar im Sinne der Provokation, die ich beschrieben habe, das Gegenteil der Interessen der türkischen Regierung erreichte. Deswegen ist es unser Bemühen, eine Deeskalation zu erreichen, und dazu nutzen wir
die diplomatischen Kanäle. Dies halten wir für den richtigen Weg.
Nur noch eine kurze Nachfrage: Haben Sie diese diplomatischen Kanäle auch gegenüber den USA benutzt?
Haben Sie Gespräche aufgenommen, um in diesem
Sinne auf die USA einzuwirken?
Wir gehen fest davon aus, dass die Vereinigten Staaten eine exakt gleiche Beurteilung der Lage vor Ort haben und in die gleiche Richtung wirken. Sie haben ja
selbst über die Presse wahrgenommen, dass hier diplomatische Kanäle benutzt werden - zum Beispiel von der
US-Außenministerin -, um in diesem Sinne auf die Region einzuwirken.
Herr Gehrcke, hatten Sie sich zu einer Zwischenfrage
gemeldet? - Bitte schön.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Kollege Erler,
Herr Staatsminister im Auswärtigen Amt, wir hatten
heute schon im Auswärtigen Ausschuss das Vergnügen,
über diese Fragen zu diskutieren. Ihre Antwort auf die
Frage meines Kollegen Paech ermutigt mich, nachzufragen, wie die Bundesregierung die Politik der USA in
dieser Region beurteilt. Es ist bekannt, dass die kurdischen Formationen im Norden Iraks mit den USA engstens verbündet sind und auch während des Krieges im
Irak eine erhebliche Rolle gespielt haben. Hinzu kommt,
dass die Erklärung des amerikanischen Kongresses zu
Armenien, die ich inhaltlich sehr respektabel finde, die
in der Türkei aber Auseinandersetzungen auslösen
musste, nicht zufällig in dieser Situation und zu diesem
Zeitpunkt abgegeben wurde.
Kann es sein, dass die heftige Reaktion der Türkei
zum Teil auch darin begründet ist, die USA erneut in
eine engere Gefolgschaft bzw. in ein enges Bündnis zu
zwingen, und dass dadurch andere Umfeldbedingungen
bestehen? Wie beurteilt die Bundesregierung die Politik
der USA in dieser Region?
Die Bundesregierung ist sich mit den Vereinigten
Staaten, was das Gesamtinteresse in dieser Region angeht, völlig einig. Es würde für die gesamte Region eine
Zuspitzung der Lage und eine bedrohliche Entwicklung
bedeuten, wenn es etwa zu einem Zerfall des Iraks käme.
Natürlich würde diese Gefahr zum Beispiel durch eine
militärische Aktion im Nordirak eher vergrößert als verringert. Insofern sind wir uns, was den Ansatz der Politik
der Vereinigten Staaten in dieser Region angeht, einig.
Im Übrigen, Herr Kollege, darf ich, wenn Sie erlauben, sagen: Wenn es den USA wirklich darum ginge, die
Türkei zu einem Gefolgsland zu machen, wäre die Armenien-Resolution nicht das geeignete Mittel. Insofern
kann ich Ihre Beurteilung dieser Zielsetzung Amerikas,
zumindest was den von Ihnen angeführten Beleg betrifft,
nicht teilen.
({0})
Frau Kollegin Dağdelen.
Herr Erler, auf die Frage meines Kollegen Paech antworteten Sie, man dürfe nicht erwarten, dass die Bundesregierung den Wahrheitsgehalt von Presseberichten
beurteilt und danach handelt. Allerdings hebt die Bundesregierung die deutsch-türkischen Verhältnisse auch in
der öffentlichen Debatte immer wieder hervor. Darüber
hinaus hat sie großes Interesse an der Befriedung der
Situation im Nahen Osten, also auch im Irak und ganz
speziell im Norden Iraks; darauf haben auch Sie heute
hingewiesen.
Ich würde gerne wissen, ob die Berichte in der
Chicago Tribune und in der Hürriyet, die in der AFPMeldung zitiert wurden, die Bundesregierung zumindest
angeregt haben oder in Zukunft anregen werden, den
Inhalt solcher Presseberichte mit Blick auf ihre diplomatischen Verhandlungen zu prüfen.
Frau Kollegin, ich bitte doch sehr um Verständnis:
Die Arbeitsweise der Bundesregierung ist nicht, auf
Presseinformationen zu warten und dann zu versuchen,
deren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Die Bundesregierung verfügt über eigene Handlungsmöglichkeiten,
sowohl im Hinblick auf die Türkei - ich habe mehrfach
erwähnt, dass wir im Augenblick versuchen, diese Möglichkeiten zu nutzen - als auch über direkte Gesprächskontakte im Hinblick auf unseren amerikanischen Partner. Insofern sind wir nicht darauf angewiesen, nach
Presseberichten solche Fahndungsversuche zu unternehmen.
Weitere Wortmeldungen zu diesem Fragenkomplex
liegen nicht vor. Staatsminister Erler, ich danke Ihnen.
Nun kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Andreas Storm zur Verfügung.
Ich rufe die dringliche Frage 3 der Kollegin Cornelia
Hirsch auf:
Wie positioniert sich die Bundesregierung zu der angekündigten Pauschalkürzung um 15 Prozent der Fördersumme für
die im Rahmen des sogenannten Exzellenzwettbewerbs geförderten Hochschulen und den drohenden rechtlichen Konsequenzen ({0})?
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Die Frage der Abgeordneten Hirsch nach den Modalitäten der Finanzierung
der Exzellenzinitiative beantworte ich wie folgt: Bund
und Länder stellen für die Exzellenzinitiative für die
Jahre 2006 bis 2011 insgesamt 1,9 Milliarden Euro
bereit. Um die erfreulich hohe Zahl hervorragend begutachteter Anträge innerhalb dieses Finanzrahmens fördern zu können, wurde in beiden Förderrunden eine Reduzierung der Bewilligungssummen im Hinblick auf die
ausgewählten Projekte vorgenommen. Dabei wird die
Gleichbehandlung der Projekte der ersten und der zweiten Förderrunde sichergestellt. Auf dieser Grundlage berechnen die Deutsche Forschungsgemeinschaft und der
Wissenschaftsrat derzeit die konkreten Bewilligungssummen. Bereits die Bewilligungsschreiben an die Gewinner der ersten Förderrunde enthielten eine Sperre bei
den bewilligten Mitteln, die nun bestätigt wurde. Ein
Eingriff in bereits erfolgte und nicht mit einer Sperre belegte Bewilligungen der ersten Runde erfolgt nicht;
rechtliche Konsequenzen sind daher nicht zu erwarten.
Zusatzfrage.
Danke schön. - Herr Staatssekretär, es ist ja schön,
wenn vielleicht in diesem einzelnen Bereich nicht so
große Schwierigkeiten aufgetreten sind. Es gab im Rahmen der Exzellenzinitiative aber auch einiges an Kritik.
Wir haben das heute Morgen auch im Ausschuss behandelt. Dort ist übereinstimmend festgehalten worden, dass
die Rahmenbedingungen für die Finanzierung der Hochschulen insgesamt völlig unzureichend sind und auf jeden Fall Schritte notwendig sind, um daran etwas zu ändern; ansonsten hilft auch die Exzellenzinitiative nicht
wirklich weiter.
Die GEW hat vorgeschlagen, möglichst schon im
nächsten Jahr einen zweiten Hochschulpakt aufzulegen,
um neben der Finanzierung der Forschung, die über die
Exzellenzinitiative erfolgen soll, gerade auf eine bessere
Lehre hinzuwirken. Meine Nachfrage wäre: Was sagt die
Bundesregierung dazu, bzw. - wenn Sie diesen Vorschlag ablehnen - welche anderen Vorschläge hat die
Bundesregierung, um das Problem der Unterfinanzierung der Hochschulen zu lösen?
Frau Abgeordnete Hirsch, ich teile Ihre Beobachtung
und Bewertung der heutigen Beratungen im Ausschuss
für Bildung und Forschung ausdrücklich nicht. Im Gegenteil, die dort durchgeführte Präsentation der Ergebnisse der Exzellenzinitiative hat gezeigt, dass wir in
Deutschland an einer Vielzahl von Standorten Leucht12460
türme der exzellenten Forschung haben. Die Breite dieser Standorte ist von allen einhellig begrüßt worden.
Über die Finanzierungsmodalitäten mussten wir übrigens auch deswegen reden, weil die Zahl der bewilligten
Förderprojekte ein Stück weit größer war, als es von vielen erwartet worden ist.
Unabhängig davon stellt sich die Frage nach der Verbesserung der Situation der Lehre an den Universitäten.
Hier ist zum einen der Hochschulpakt zwischen Bund
und Ländern beschlossen worden, mit dem der Bund die
Länder bis zum Jahr 2010 für die Bereitstellung zusätzlicher Kapazitäten für bis zu 90 000 Studienanfänger mit
mehr als einer halben Milliarde Euro finanziell unterstützt. Darüber hinaus überlegen die Länder, der Bund
und die Hochschulen auch im Hinblick auf die Schlussfolgerungen aus der Bologna-Folgekonferenz, die im
Mai dieses Jahres in London stattgefunden hat, welche
weiteren Maßnahmen zur Verbesserung der Situation in
der Lehre im Zusammenhang mit der Umstellung der
Studiengänge auf Bachelor und Master ergriffen werden
können.
Weitere Zusatzfrage?
Die überwiegende Anzahl der Hochschulen, die jetzt
im Rahmen der Exzellenzinitiative als Spitzenhochschulen definiert worden sind, liegt in Bundesländern, die
allgemeine Studiengebühren eingeführt haben. Die Erfahrungen der ersten Runde zeigen, dass die Exzellenzprojekte mit der Einführung von verschärften individuellen Auswahlverfahren an den einzelnen Hochschulen
verbunden sind.
Meine Frage ist daher, inwieweit auch die Bundesregierung der Auffassung ist, dass die Zustimmung von
Hochschulen zur Exzellenzinitiative bzw. ihr Erfolg bei
der Exzellenzinitiative sehr eng damit zusammenhängt,
dass sie sich dem Leitbild unterordnen, dass Hochschulen eher als eine Art Unternehmensform anzusehen sind wodurch Studierende in die Rolle von Kundinnen und
Kunden gedrängt werden. Oder ist so ein Leitbild nicht
die Voraussetzung, um im Rahmen der Exzellenzinitiative Erfolg zu haben?
Frau Abgeordnete Hirsch, die Bundesregierung teilt
Ihre Einschätzung ausdrücklich nicht. Die Beratungen
im Fachausschuss heute Morgen haben noch einmal verdeutlicht, dass wir für die Art und Weise, wie die Auswahl der exzellenten Projekte vorgenommen worden ist
- in einem Verfahren, in dem von wissenschaftlicher
Seite 80 Prozent der Gutachter aus dem Ausland stammen; renommierte Wissenschaftler, die die Anträge
bewertet haben -, auch international hervorragende Resonanz bekommen. Diese Art und Weise, wie herausragende Forschungsprojekte für eine staatliche Förderung
ausgewählt werden, wird international als beispielgebend angesehen.
Ich rufe die dringliche Frage 4 der Kollegin Cornelia
Hirsch auf:
Wie positioniert sich die Bundesregierung zu dem vom
studentischen Dachverband Freier Zusammenschluss von Student/inn/enschaften und der Bildungsgewerkschaft GEW am
22. Oktober 2007 vorgelegten Bericht, wonach die Bundesrepublik gegen den sogenannten UN-Sozialpakt bezüglich des
Rechtes auf Bildung verstoße?
Herr Präsident, ich beantworte die Frage der Abgeordneten Hirsch wie folgt: Der Internationale Pakt über
wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom
19. Dezember 1966 beinhaltet nach Auffassung der Bundesregierung im Ergebnis kein Verbot der Einführung
von Studienbeiträgen. Entscheidend ist, dass der Zugang
von der Finanzkraft des Einzelnen unabhängig bleibt.
Auch das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Studiengebührenurteil vom 26. Januar 2005 in dem Vertrag
kein Studienbeitragsverbot gesehen, sondern den Pakt
als Ausdruck und Konkretisierung der eigenverantwortlichen sozialstaatlichen Verpflichtung des Bundes und
der Länder zitiert.
Die Bundesregierung geht davon aus, dass die Länder bei der Ausgestaltung ihrer Studienbeitragssysteme
die Zielsetzung und die Regelungen des Paktes als
Konkretisierung ihrer sozialstaatlichen Verpflichtung
berücksichtigen. Alle studienbeitragserhebenden Länder haben gleichzeitig mit den Studienbeiträgen zinsgünstige, elterneinkommensunabhängige Kredite zur
sozialverträglichen Ausgestaltung eingeführt. Unabhängig von der Einführung von Studienbeiträgen wird die
Chancengleichheit beim Zugang zum Hochschulstudium darüber hinaus auch durch das BAföG gesichert.
Vor diesem Hintergrund sind Verstöße gegen den Pakt
nach Auffassung der Bundesregierung nicht erkennbar.
Zusatzfrage?
In dem Pakt steht fast wörtlich, dass sich die Bundesregierung verpflichtet, das Hochschulstudium gebührenfrei zu halten bzw. Schritt für Schritt gebührenfrei zu
machen. Können Sie nachvollziehen, dass sich ziemlich
viele Studierende etwas veralbert vorkommen, wenn sie
sich Ihre Antwort hier angehört haben, in der Sie ja gesagt haben, dass in dem Pakt zwar „gebührenfrei“ steht,
womit aber eigentlich nur gemeint sei: Wir bieten euch
Darlehen an, sodass ihr euch hoch verschulden könnt?
Nein, ich teile diese Auffassung nicht. Im Übrigen
sind diese Darlehensangebote, die von allen Bundesländern, die Studienbeiträge eingeführt haben, parallel dazu
ebenfalls eingeführt worden sind, sozial verträglich ausgestaltet, sodass die Rückzahlung der Darlehen unter besonderen Umständen ganz oder teilweise erlassen werden kann.
Weitere Zusatzfrage?
Ja, ich habe noch eine kurze Frage. - Die Bundesregierung ist verpflichtet, einen Bericht darüber vorzulegen, welche Fortschritte sie bei der Umsetzung des UNSozialpaktes gemacht hat. In einer Fragestunde vor der
Sommerpause wurde das hier schon einmal behandelt.
Damals hatten Sie mir zugesichert, dass dieser Bericht
baldmöglichst vorgelegt wird. Das ist immer noch nicht
passiert. Deshalb habe ich die Nachfrage, wann genau
dieser Bericht, der mittlerweile wirklich schon lange
überfällig ist, vonseiten der Bundesregierung vorgelegt
wird.
Frau Abgeordnete Hirsch, den genauen Zeitpunkt
kann ich Ihnen im Moment nicht sagen. Das werden wir
Ihnen schriftlich nachreichen.
Ich sehe keine weiteren Meldungen für Zusatzfragen.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich der Bundeskanzlerin und des Bundeskanzleramtes.
Zur Beantwortung der beiden dringlichen Fragen des
Kollegen Rainder Steenblock steht der Staatssekretär
Dr. Beus zur Verfügung.
Ich rufe die dringliche Frage 5 auf:
Warum wurde zum jetzigen Zeitpunkt unverzüglich nach
den Wahlen in Polen und dem sich abzeichnenden Regierungswechsel das die deutsch-polnischen Beziehungen belastende Thema des Zentrums gegen Vertreibung von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel bei dem Festakt „50 Jahre Bund
der Vertriebenen“ am Montag, dem 22. Oktober 2007, im
Kronprinzenpalais angesprochen ({0})?
Sehr geehrter Herr Abgeordneter, Ihre Frage beantworte ich wie folgt: Anlass der Rede der Bundeskanzlerin war das 50-jährige Jubiläum des Bundes der
Vertriebenen, das am Montag, dem 22. Oktober 2007,
begangen wurde. Der Termin des Festaktes stand bereits
vor dem Termin der Wahlen in Polen fest.
Die Bundeskanzlerin hat sich bei der Veranstaltung
hinsichtlich des in Ihrer Frage genannten Themas ausschließlich zu dem im Koalitionsvertrag vereinbarten
sichtbaren Zeichen geäußert. Im Koalitionsvertrag ist
dazu vereinbart - ich darf zitieren -:
Die Koalition bekennt sich zur gesellschaftlichen
wie historischen Aufarbeitung von Zwangsmigration, Flucht und Vertreibung. Wir wollen im Geiste
der Versöhnung auch in Berlin ein sichtbares Zeichen setzen, um - in Verbindung mit dem Europäischen Netzwerk Erinnerung und Solidarität über die
bisher beteiligten Länder Polen, Ungarn und Slowakei hinaus - an das Unrecht von Vertreibungen
zu erinnern und Vertreibung für immer zu ächten.
Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Rede ausgeführt,
dass damit dem breiten Bedürfnis nach Erinnerung als
Mahnung für die Zukunft Rechnung getragen wird. Dabei wird eine angemessene und würdige Lösung angestrebt. Das gute nachbarschaftliche Verhältnis zu Polen
war und ist stets im Interesse der Bundesregierung.
Zusatzfrage, Herr Kollege Steenblock?
Vielen Dank für die Antwort. - Ich weiß, dass die
Terminierung im zeitlichen Ablauf so erfolgt ist, wie Sie
es beschrieben haben. Trotzdem war zum Zeitpunkt der
Rede bekannt - auch der Bundeskanzlerin -, dass am
Vortag ein neues polnisches Parlament gewählt worden
ist. Wäre es zum Zeitpunkt der Rede nicht ein gutes Signal gewesen, gerade den Dialog mit der neuen polnischen Regierung bzw. dem neuen polnischen Parlament
in den Vordergrund zu stellen? Denn dies hätte sicherlich
ein Gegengewicht zu der sehr negativen Presseberichterstattung über die Rede der Bundeskanzlerin in Polen geschaffen.
Herr Abgeordneter, ich denke, Sie wissen, dass der
Dialog mit Polen der Bundesregierung und insbesondere
der Bundeskanzlerin besonders am Herzen liegt. Sie hat
das in den vergangenen Wochen und Monaten auch immer wieder unter Beweis gestellt. Der polnischen Seite
ist bekannt, was im Koalitionsvertrag vereinbart worden
ist, und sie verfolgt sicherlich auch die Diskussion in unserem Land über dieses Thema. Ich denke, es war deshalb keine Überraschung, dass das sichtbare Zeichen angesprochen worden ist, von dem im Koalitionsvertrag
die Rede ist. Es entspricht der Übung der Bundesregierung auch in anderen Bereichen, dass sie Vorhaben, die
im Koalitionsvertrag festgelegt worden sind und deren
Umsetzung erwartet wird, bei derartigen Veranstaltungen anspricht und sich zu dem Stand der Umsetzung äußert.
Weitere Zusatzfrage.
Vielen Dank. - Kann ich Ihre Antwort auch so verstehen, dass die Bundesregierung tatsächlich beabsichtigt,
auch vor dem Hintergrund der schwierigen Auseinandersetzung der vergangenen Jahre mit der neu gewählten
polnischen Regierung in einen neuen Dialogprozess über
das, was im Koalitionsvertrag ausgeführt worden ist,
einzutreten?
Herr Staatsminister Neumann, der innerhalb der Bundesregierung damit betraut ist, führt intensive Gespräche
mit allen beteiligten Kreisen und bereitet eine Befassung
des Bundeskabinetts mit dem Thema vor. In dem Zusammenhang wird dann sicherlich auch das Parlament
zum einen das Konzept erfahren, zum anderen aber auch
darüber informiert, wie diese Gespräche verlaufen sind
und zu welchem Ergebnis sie bei der Formulierung des
Konzepts geführt haben.
Zusatzfrage? - Herr Kollege Fromme.
Herr Staatssekretär, offensichtlich soll der zeitliche
Ablauf problematisiert werden. Können Sie vielleicht
einmal schildern, wie die Umsetzung der Koalitionsvereinbarung verläuft? Insbesondere bei komplizierten Themen werden allein mit dem Formulieren der Koalitionsvereinbarung noch keine Ergebnisse erzielt; vielmehr
muss man die Ergebnisse im Laufe der Zeit erarbeiten,
wobei verschiedentlich auch Rückkoppelungen und Klärungen notwendig sind. Das ist ein Prozess, der zielgerichtet über einen bestimmten Zeitraum geführt werden
muss, bevor es zu einem Ergebnis kommt. Was die mögliche Veröffentlichung der Einzelheiten zu diesem Zeitpunkt angeht, frage ich Sie: War das von der Bundesregierung oder von jemand anderem gesteuert?
Herr Abgeordneter, ich habe mich in Vorbereitung der
Fragestunde damit befasst, ob das Thema bereits im Parlament erörtert worden ist, und habe festgestellt, dass
Herr Staatsminister Neumann schon vor mehr als einem
Jahr Fragen zu diesem Thema beantwortet hat. Ich
glaube, aus dem zeitlichen Ablauf wird deutlich, wie
sorgfältig und umfangreich die Gespräche geführt worden sind. Das hat auch die Bundeskanzlerin in ihrer
Rede noch einmal betont.
Der Bundesregierung ist daran gelegen, dem Deutschen Bundestag ein abgestimmtes und in sich schlüssiges Konzept vorzulegen. Das heißt, dass sie kein Interesse hat, dass vorab einzelne Fragen gesondert in der
Öffentlichkeit diskutiert werden, weil das zu Missverständnissen führen kann. Vielmehr soll dem Parlament
ein geschlossenes Konzept vorgelegt werden - ich
glaube, dass das Parlament auch einen Anspruch darauf
hat -, über das dann diskutiert werden kann.
Zusatzfrage? - Herr Kollege Beck.
Herr Staatssekretär, darf ich Ihre Aussage so verstehen, dass es vonseiten der Bundeskanzlerin und der Bundesregierung bislang keine Festlegung auf ein Zentrum
gegen Vertreibungen, wie es vom Bund der Vertriebenen
gefordert wird, gibt, sondern dass bisher nur das im Koalitionsvertrag erwähnte sichtbare Zeichen als Konkretisierung und Festlegung vorliegt? Stimmen Sie mir zu,
dass es klug wäre, mit der neuen polnischen Regierung
über diese Fragen zu reden, bevor man Festlegungen
trifft, um die Neuwahl in Polen als Chance für eine Verbesserung der deutsch-polnischen Beziehungen und damit auch des innereuropäischen Reformklimas beizutragen?
Herr Abgeordneter, es gibt vonseiten der Bundesregierung die bereits von mir zitierte Festlegung im Koalitionsvertrag, die dort als „sichtbares Zeichen“ beschrieben ist. Im Übrigen ist klar, dass der Bundesregierung
weiterhin und in besonderem Maße an intensiven Kontakten zur polnischen Regierung gelegen ist und dass
sich das sicher bald auch in weiteren bilateralen Kontakten ausdrücken wird. Ich denke, daran kann es keinerlei
Zweifel geben.
Frau Kollegin Stokar.
Muss ich Ihre bisherigen Ausführungen so verstehen,
dass die Nutzung der Richtlinienkompetenz der Bundeskanzlerin und auch ihr Verständnis von eigenständiger
Führung so auszulegen ist, dass Bundeskanzlerin Merkel
sich darauf beschränkt, Koalitionsvereinbarungen umzusetzen?
Können Sie sich darüber hinaus vorstellen, dass Bundeskanzlerin Merkel eigenständige positive Akzente im
Dialog mit Polen setzt?
Frau Abgeordnete, ich denke, die Politik der Bundeskanzlerin im Verhältnis zu Polen hat in den letzten Wochen und Monaten gezeigt, dass sie dort eigenständige
Akzente setzt. Die Diskussion, die es im Zusammenhang
mit dem EU-Vertrag mit Polen gegeben hat, macht deutlich, wie sehr sich die Bundeskanzlerin um ein gutes
Verhältnis zu Polen bemüht hat und sich auch weiter bemühen wird.
Herr Kollege Grund.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, dass es
sich bei dem Vorhaben „Zentrum gegen Vertreibungen“
um ein Zentrum handelt, bei dem Vertreibungen weltweit in der Gegenwart und in der Geschichte im Mittelpunkt stehen und dass es sich nicht allein um die Vertreibung von 12 Millionen Deutschen infolge des Zweiten
Weltkrieges handelt?
Können Sie weiter bestätigen, dass in der jüngsten
Geschichte Vertreibungen und ethnische Säuberungen
auch in Europa als Mittel der Politik zurückgekehrt sind,
zum Beispiel infolge des Geschehens nach dem Zerfall
von Jugoslawien?
Herr Abgeordneter, ich denke, es ist klar, dass es nicht
nur um die Vertreibung Deutscher, sondern in der Tat darum geht, die Vertreibung insgesamt darzustellen. Das ist
auf jeden Fall der Ansatz der Bundesregierung bei dem
Projekt „sichtbares Zeichen“, um das es uns geht. Das
wird ja auch Gegenstand des Konzeptes sein, das sich
gegenwärtig in der Abstimmung befindet und Ihnen
dann vorgelegt werden wird. Ich denke, es ist sinnvoll,
dieses Konzept abzuwarten und erst nach seinem Vorliegen konkret zu diskutieren.
Dann rufe ich die dringliche Frage 6 des Kollegen
Steenblock auf:
Welche inhaltlichen Schwerpunkte werden in dem von der
Kanzlerin in ihrer Rede bei diesem Festakt angekündigten
neuen Konzept zum Setzen eines sichtbaren Zeichens zur Erinnerung der Vertriebenen enthalten sein?
Herr Abgeordneter, Ihre Frage bezieht sich auf
Schwerpunkte des eben schon angesprochenen Konzeptes. Auf der Basis der Koalitionsvereinbarungen, die ich
bereits zitiert habe, wird unter Federführung des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien,
Staatsminister Neumann, ein Konzept zur Umsetzung erarbeitet. Bei der Entwicklung des in der regierungsinternen Abstimmung befindlichen Konzeptes ist historischer
Sachverstand ebenso eingebunden worden wie die Auffassung relevanter gesellschaftlicher Gruppen einschließlich der Organisationen der Vertriebenen. Die
Vorbereitungen sind weit vorangeschritten. Wir gehen
davon aus, dass das Konzept für das sichtbare Zeichen
noch in diesem Jahr dem Bundeskabinett vorgelegt werden kann. Es wird danach unverzüglich dem Deutschen
Bundestag zugeleitet werden.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, in diesem Konzept wird ja, wie
auch in der Koalitionsvereinbarung, immer vom sichtbaren Zeichen gesprochen. Ich gehe deshalb davon aus,
dass die Bundeskanzlerin auf der Veranstaltung am
22. Oktober den Begriff „Zentrum gegen Vertreibungen“
ganz bewusst nicht benutzt hat, auch um sich davon zu
distanzieren. Wird das inhaltliche Konzept im Vorfeld
mit der polnischen Seite erörtert, oder versteht die Bundesregierung das tatsächlich nur als einen nationalen Arbeitsprozess, über dessen Ergebnisse dann erst mit den
Polen gesprochen wird?
Herr Abgeordneter, die Bundeskanzlerin hat in ihrer
Rede auch deutlich gemacht, dass in dem Stadium, in
dem wir uns befinden, eine Vielzahl von Gesprächen geführt werden. Dazu gehören sicherlich Wissenschaftler,
die das aus polnischer Sicht, aber auch aus Sicht anderer
östlicher Nachbarn erläutern. Der Zeitraum, der für die
Vorbereitung in Anspruch genommen wurde, zeigt, dass
alle Aspekte beleuchtet wurden und, soweit nötig, noch
beleuchtet werden.
Eine weitere Zusatzfrage.
Sie werden mir sicherlich recht geben, dass nach den
sehr schwierigen Debatten in der Vergangenheit gerade
diese Frage für das deutsch-polnische Verhältnis von
zentraler Bedeutung ist.
Eine weitere zentrale Frage betrifft die anstehende
Klärung der vermögensrechtlichen Verhältnisse im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg. Ist die Bundesregierung nach der Wahl in Polen, die Chancen eröffnet, bereit, einen Schritt auf die neue polnische
Regierung zuzugehen und ein sichtbares Zeichen zu setzen sowie zu einer endgültigen Vereinbarung über die
vermögensrechtlichen Verhältnisse zu kommen?
Herr Abgeordneter, der Zeitraum, der für die Vorbereitung dieses Konzepts notwendig war, macht deutlich,
wie sorgfältig die Bundesregierung hier vorgegangen ist.
Das wird sie weiterhin tun. Angesichts dessen muss
keine Besorgnis darüber bestehen, dass Irritationen in
dem von Ihnen beschriebenen Umfang eintreten werden.
Die von Ihnen angesprochene Klärung der vermögensrechtlichen Verhältnisse ist nicht Gegenstand Ihrer
dringlichen Frage. Ich weiß, dass Sie ursprünglich eine
Frage dazu eingereicht hatten. Dies ist aber bei uns so
nicht angekommen.
({0})
Eine Zusatzfrage des Kollegen Fromme.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, dass im
Vorfeld der Erarbeitung ein Gremium eingeschaltet war,
in dem internationale Wissenschaftler vertreten waren
und das die gesamte gesellschaftspolitische Bandbreite
widergespiegelt hat, und dass gerade die öffentliche Diskussion im Laufe des letzten Jahres in den Medien, insbesondere in Hörfunk und Fernsehen, die mit dem Zentrum gegen Vertreibungen verbundene Intention und den
Bedarf deutlich unterstrichen hat, dieses Kapitel der Geschichte zu bewältigen und aufzuarbeiten und ein Mahn12464
mal insbesondere für Jugendliche zu setzen, dass man
Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit immer wieder verteidigen muss?
Ich kann Ihnen gern bestätigen, dass es bei den zahlreichen Gesprächen einen Kreis gegeben hat, dem in der
Tat Wissenschaftler unterschiedlicher Herkunft und Ausrichtung angehörten. Es hat sich im Laufe der Diskussion und der Umsetzung dieses Projektes gezeigt - ich
glaube, das ist in der aktuellen Diskussion deutlich geworden -, dass es Bedarf nach Erinnerung als Mahnung
für die Zukunft gibt. Das ist das Anliegen der Bundesregierung, das sich auch im Koalitionsvertrag wiederfindet.
Kollege Volker Beck.
Herr Staatssekretär, ich bin aus Ihrer Antwort nicht
ganz schlau geworden. Die Konzeption für ein sichtbares Zeichen einerseits und die Gespräche mit den Polen
und Tschechen andererseits scheinen nicht miteinander
verbunden zu sein. Könnten Sie dem Parlament sagen,
ob die Bundesregierung das Benehmen oder das Einvernehmen mit der polnischen Regierung und der tschechischen Regierung - das sind die Hauptbetroffenen - herstellt, bevor wir mit einem fertigen Konzept in der
deutschen Öffentlichkeit und im deutschen Parlament
rechnen müssen? Wenn man wieder Porzellan zerschlägt, vertut man möglicherweise die Chancen, die die
Neuwahl in Polen eröffnet hat.
Herr Abgeordneter, es geht zuerst darum, dass wir ein
eigenes Konzept unter Beachtung dessen entwickeln,
was wir aus polnischen Stellungnahmen und aus Stellungnahmen anderer östlicher Nachbarn wissen; das ist
in vollem Gang. Damit wird sich die Bundesregierung
befassen. Ich glaube, alle Aspekte der Diskussion werden in die Entscheidungsfindung einfließen.
({0})
Sie brauchen keine Sorge zu haben, dass etwas nicht beachtet wird, was wichtig ist. Der Diskussionsprozess findet nicht ohne die Öffentlichkeit statt, sondern er wird
von der Öffentlichkeit wahrgenommen und stößt auf ein
breites öffentliches Interesse. Ihre Sorge, dass diese
Dinge nicht beachtet werden, kann ich deshalb in keiner
Weise teilen.
Nachdem nun die dringlichen Fragen wie auch immer
beantwortet sind, kommen wir nun zu den vorher eingereichten Fragen zur mündlichen Beantwortung in der
ausgedruckten Reihenfolge der Geschäftsbereiche. Wir
beginnen mit dem Geschäftsbereich des Auswärtigen
Amtes.
Ich rufe zunächst die Frage 1 des Kollegen Beck
({0}) auf und bitte Herrn Staatsminister Erler um die
Beantwortung:
In welcher Weise hat Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
in ihren jüngsten Gesprächen mit dem russischen Präsidenten
Wladimir Putin vor einem erneuten gravierenden Rückschritt
für die Demokratie in Russland gewarnt, falls die zurzeit im
Kreml ventilierten Pläne ({1}) zu einer Rochade zwischen dem jetzigen Präsidenten
und dem amtierenden Ministerpräsidenten verwirklicht würden und Wladimir Putin damit entgegen der russischen Verfassung, die nur zwei aufeinanderfolgende Wahlperioden vorsieht, für eine dritte Amtszeit als Präsident kandidieren
würde?
Die Antwort der Bundesregierung lautet: Die Bundeskanzlerin hat die Frage der verfassungsgemäßen
Entwicklung in Russland und die Einhaltung der demokratischen und bürgerlichen Grundrechte in ihren Gesprächen mit Präsident Putin, so auch zuletzt am 14. und
15. Oktober 2007 in Wiesbaden, kontinuierlich angesprochen.
Bitte schön.
Was hat denn die russische Seite zu diesem Thema
gesagt? Gibt es Pläne, wie in der Presse ansatzweise zitiert, dass der jetzige Präsident womöglich auch sein eigener Nachfolger werden könnte, unterbrochen durch
eine zweimonatige Amtszeit als Ministerpräsident der
Russischen Föderation? Das wird kolportiert, und darauf
deutet mit der Benennung eines besonders schwachen
Ministerpräsidenten manches hin. Dieser würde nach der
russischen Verfassung im Falle des Rücktritts des jetzigen Präsidenten automatisch Präsident, was Putin die
Möglichkeit gäbe, schon bei der Präsidentschaftswahl
als Kandidat für die nächste Präsidentschaft anzutreten,
was zwar ein Verbiegen der Verfassung wäre, aber vielleicht vom Verfassungsgericht der Russischen Föderation anders bewertet werden könnte.
Herr Kollege Beck, es wird Sie wahrscheinlich nicht
überraschen, dass der russische Präsident die Gelegenheit der deutsch-russischen Regierungskonsultationen
und des Petersburger Dialoges am vorvergangenen Wochenende nicht benutzt hat, um das im Detail vorzutragen, wozu Sie eben berichtet haben; er hat vielmehr
genau das Gegenteil gesagt. Er hat gesagt, der Amtswechsel werde nicht nur nach der Verfassung erfolgen,
sondern er werde dabei auch den Geist der Verfassung
berücksichtigen. Das ist das Einzige, was er uns zu diesem Thema öffentlich gesagt hat. Ich sage Ihnen das
gerne, weil ich selber dabei war.
({0})
Das ist sehr schön. Also, Sie würden sagen, die Gespräche mit der russischen Seite haben ergeben, dass es
eine Zusicherung gibt, dass wir nicht im Frühjahr aufwachen und einen neuen Präsidenten Putin als Präsidenten
der Russischen Föderation sehen werden?
({0})
Wir haben überhaupt keine Veranlassung - obwohl
wir natürlich viele Gerüchte aus Moskau und Spekulationen darüber, was dort passiert, hören -, an der Zusage
von Präsident Putin, die er öffentlich in Wiesbaden gegeben hat, zu zweifeln. Das würde heißen, es geht nicht nur
nach dem Buchstaben der Verfassung, sondern auch
nach dem Geist der Verfassung.
Weitere Zusatzfragen gibt es dazu nicht.
Dann rufe ich die Frage 2 der Kollegin Dağdelen auf:
Inwieweit sieht die Bundesregierung die Beziehungen zur
Schweiz dadurch beeinträchtigt, dass die Bundesratspartei
Schweizerische Volkspartei, SVP, die derzeit mit großer
Wahrscheinlichkeit auch nach den Wahlen den Vorsteher des
Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements stellt, einen
Wahlkampf führt, den der UN-Sonderberichterstatter für Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung, Doudou
Dienne, als „rassistisch und fremdenfeindlich“ ({0}) bezeichnete und dieser Partei
„Rassenhass“ ({1}) vorwarf?
Die Antwort der Bundesregierung lautet: Die Beziehungen zwischen Deutschland und der Schweiz sind eng
und vertrauensvoll. In der Schweizer Öffentlichkeit findet eine kontroverse Debatte über die Art des Wahlkampfs der Schweizerischen Volkspartei, SVP, statt. Die
Bundesregierung verurteilt jede Art von Rassismus und
Fremdenfeindlichkeit. Zur zukünftigen Regierungsbildung in der Schweiz nimmt die Bundesregierung im Übrigen keine Stellung.
({0})
Bitte schön.
Lieber Herr Staatsminister Erler, es ist schön, zu wissen, dass die Bundesregierung jede Art von Rassismus
und Fremdenfeindlichkeit verurteilt und dass die Beziehungen zur Schweiz so eng und vertrauensvoll sind.
Trotzdem interessiert mich, ob die Bundesregierung
solch einen Wahlkampf missbilligt. Auch der Sonderberichterstatter der UN hat ihn als „rassistisch und fremdenfeindlich“ bezeichnet und der Partei „Rassenhass“
vorgeworfen. Es gibt viele andere Stimmen in dieselbe
Richtung. Ist diese Missbilligung vorhanden, und ist sie
trotz der so engen und vertrauensvollen Beziehungen zur
Schweiz einmal zum Ausdruck gekommen?
Frau Kollegin, ich kann nur wiederholen: Wir haben
sehr großes Vertrauen in die kritische Aufarbeitung dieses Wahlkampfes in der Schweiz selber. Ich verweise
darauf, dass es eine Rückäußerung des Schweizer Bundesrats zur Kritik des Sonderberichterstatters Dienne gegeben hat: Auf der einen Seite gibt es das Gut der freien
Meinungsäußerung, das natürlich auch im Wahlkampf zu
beachten ist; auf der anderen Seite wird die Schweiz - das
wurde ausdrücklich erklärt - keinerlei Form von Rassismus dulden. Ich finde, das ist eine gute Antwort auf die
Kritik von Herrn Dienne.
Zweite Zusatzfrage.
Die Bundesregierung hat in ihren engen und vertrauensvollen diplomatischen Beziehungen zur Schweiz also
nicht ihre Missbilligung eines nach Auffassung des UNSonderberichterstatters rassistischen und fremdenfeindlichen Wahlkampfs zum Ausdruck gebracht. Ist das richtig? Darf ich Sie so verstehen?
Nachdem schon die Schweiz selber auf die Kritik von
Herrn Dienne in der von mir geschilderten Weise reagiert hat - man hat ausdrücklich festgestellt, dass jede
Form von Fremdenfeindlichkeit und Fremdenhass in der
Schweiz nicht geduldet wird -, sehen wir keine Veranlassung, so etwas einzufordern. Dem wird ja schon
Rechnung getragen.
Weitere Zusatzfragen hierzu liegen nicht vor.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Der Parlamentarische Staatssekretär Altmaier steht zur Beantwortung der Fragen bereit.
Ich rufe die Frage 3 des Kollegen Werner Dreibus
auf:
Welche Haltung nimmt die Bundesregierung zu einem
möglichen Verbotsverfahren gegen die NPD ein vor dem Hintergrund, dass die NPD Hessen im hessischen Landtagswahlkampf mit einem von der Schweizerischen Volkspartei, SVP,
übernommenen „Schwarze-Schafe“-Plakat wirbt, welches der
UN-Sonderberichterstatter für Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung, Doudou Dienne, als „rassistisch
und fremdenfeindlich“ einstuft ({0})?
Herr Altmaier, bitte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich beantworte die Frage des Kollegen Dreibus wie folgt:
Die NPD ist eine antidemokratische, fremdenfeindliche, antisemitische und verfassungsfeindliche Partei. Sie
erfüllt damit grundsätzlich die materiellen Voraussetzungen für ein Parteiverbot. Dies ist die übereinstimmende
Einschätzung aller Innenminister des Bundes und der
Länder. So wurde es auch in einem Beschluss der IMK
vom 11. Februar 2005 klar zum Ausdruck gebracht.
Von dieser materiellen Einschätzung zu unterscheiden
ist aber die Frage nach den formellen Anforderungen an
eine erfolgreiche Durchführung eines Parteiverbotsverfahrens. Ich verweise auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 18. März 2003, durch den hohe
Hürden aufgestellt worden sind. Danach wäre ein erneutes NPD-Verbotsverfahren mit hinreichender Aussicht
auf Erfolg nur zu betreiben, wenn zuvor die Beobachtung der Partei mit nachrichtendienstlichen Mitteln auf
deren Leitungsebenen sowie solcher Personen, die maßgeblichen Einfluss auf Willensbildung, Handeln und/
oder Außendarstellung der Partei haben, eingestellt
würde. Die Bundesregierung beabsichtigt gegenwärtig
nicht, einen Verbotsantrag zu stellen.
Im Übrigen müssen wir uns darüber im Klaren sein,
dass die Diskussion nicht auf die bloße Verbotsfrage reduziert werden darf. Sie muss vielmehr mit allen politischen und sonstigen rechtlichen Mitteln geführt werden.
Dabei spielen insbesondere die Zivilgesellschaft und die
permanente Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus vor Ort eine wichtige Rolle. Aus diesem Grund
hat der Deutsche Bundestag die Mittel des Bündnisses
für Demokratie und Toleranz erheblich ausgeweitet. Ein
Verbot der NPD kann immer nur die Ultima Ratio sein.
Eine dauerhafte Lösung im Sinne einer Abkehr von
rechtsextremistischen Ideologien ist damit nicht zu erzielen.
Zusatzfrage.
Vielen Dank. - Herr Staatssekretär, können Sie verstehen, dass sich beispielsweise die Menschen in Hessen, die diese rassistischen, fremdenfeindlichen Plakate
der NPD in diesen Tagen sehen, die Frage stellen, ob die
von Ihnen noch einmal angesprochene Abwägung zu einem möglichen Antrag beim Verfassungsgericht auf
Feststellung der Verfassungswidrigkeit dieser Partei vor
dem Hintergrund nachzuvollziehen ist, dass offensichtlich auch ohne nachrichtendienstliche Mittel, nämlich
durch Plakate, der Beweis dafür erbracht wird?
Herr Kollege, ich glaube, dass es für die Menschen
auch schwer nachvollziehbar wäre, wenn ein erneutes
NPD-Verbotsverfahren scheitern würde mit dem Ergebnis, dass wir zweimal eine solche Bestätigung aus Karlsruhe hätten, wenngleich auch nur aus formalen Gründen.
Das wäre in der öffentlichen Diskussion nur schwer vermittelbar.
Insofern sind wir alle gehalten, jeden der Schritte, die
wir tun, gründlich abzuwägen. Es ist auch Aufgabe der
demokratischen Parteien, die politische Auseinandersetzung vor Ort zu führen.
Ich darf darauf hinweisen, dass in dem Bundesland,
das Sie genannt haben, in Hessen, die NPD jedenfalls
keine Chance hatte, in den parlamentarischen Gremien
vertreten zu sein.
Weitere Zusatzfrage.
Umso schlimmer ist es, dass die NPD weiterhin unterstützt mit öffentlichen Mitteln zu solchen Wahlkämpfen
antreten kann, wie das in Hessen jetzt wieder geschieht.
Insofern muss ich schon noch einmal nachfragen, ob solche offensichtlichen Aktivitäten - das ist der eigentliche
Anlass für die Frage gewesen - bei der Bundesregierung
nicht doch zu einer Veränderung der von Ihnen dargestellten bisherigen Position führen müssten.
Herr Kollege, aus meiner Antwort ist deutlich geworden, glaube ich, dass wir die Aktivitäten der NPD sehr
genau beobachten und dass wir uns auch immer wieder
die Frage stellen, welche Gegenmaßnahmen und Reaktionen angezeigt sind. Im Augenblick gilt allerdings,
dass die Bundesregierung ein Verfahren nicht beabsichtigt.
Frau Kollegin Höhn.
({0})
- Dann Kollege Beck, Frau Stokar, Frau Dağdelen, Frau
Enkelmann. Habe ich jemanden übersehen? - Kollege
Seifert. Es wird alles notiert.
Ich denke, Herr Staatssekretär, es besteht Einigkeit im
Haus darüber, dass die NPD eine verfassungswidrige
Partei ist und dass sie aggressiv-kämpferisch vorgeht.
Sie meinen, dass deshalb die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für ein Verbot schon gegeben sind. Legt
man die Entscheidungen zum Verbot der Sozialistischen
Reichspartei und der Kommunistischen Partei Deutschlands zugrunde, ist dies sicherlich richtig. Inwiefern unterscheidet sich die Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte zu Parteienverboten
von den damaligen Urteilen und den Kriterien für ein
Verbot?
Meines Wissens ist es so, dass bei den Verboten der
islamistischen Parteien in der Türkei der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte die Hürde für Parteienverbote höher gelegt hat, als das bei der sehr alten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Fall war,
nämlich: Die Partei muss auch tatsächlich in der Lage
sein, die verfassungsrechtliche Ordnung außer Kraft zu
setzen. - Ich glaube, das kann man von der NPD nicht
sagen, weil unser Land stabile demokratische Institutionen und eine stark demokratisch eingestellte Bevölkerung hat.
Welche Schlüsse zieht die Bundesregierung aus der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für
Volker Beck ({0})
Menschenrechte zu diesen Parteienverbotsverfahren für
die Frage, ob es tatsächlich materiell-rechtlich als sicher
angesehen werden kann, dass ein Verbotsverfahren zum
Erfolg führt?
Sie wissen, Herr Kollege Beck, dass die Urteile des
Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs grundsätzlich
inter partes wirken. Das heißt, man kann sie nicht ohne
Weiteres auf ähnlich gelagerte Fälle übertragen, zumal
nach meiner Einschätzung der Kontext auch nicht ganz
vergleichbar ist. Trotzdem gebe ich Ihnen recht, dass wir
das von Ihnen zitierte Urteil zum Anlass nehmen müssen, uns über die Erfolgsaussichten - über das rein Formale, Prozedurale hinaus - Gedanken zu machen. Ich
bitte um Verständnis, dass ich mich mit konkreten
Schlussfolgerungen aus diesem Urteil zurückhalte, weil
die Ausgangslage aus meiner Sicht nicht ganz vergleichbar ist.
Aber richtig ist: Auch die Bundesrepublik ist der Europäischen Menschenrechtskonvention beigetreten. Wir
müssen davon ausgehen, dass selbst im Falle eines erfolgreichen Verbotsverfahrens in Karlsruhe die Unterlegenen den Weg zum Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg gehen würden - mit allen Risiken,
die dies beinhaltet.
Bevor ich der Kollegin Stokar das Wort für eine Zusatzfrage erteile, weise ich darauf hin, dass wir in zwei
Minuten die für die Fragestunde vereinbarte Zeit verbraucht haben werden. Deswegen wäre ich den angemeldeten Fragestellern aus der Fraktion Die Linke dankbar,
wenn sie sich vielleicht untereinander darüber verständigten, wessen Zusatzfrage ich noch aufrufen soll. Ich
bitte dazu um einen entsprechenden Hinweis.
Bitte schön, Frau Stokar.
Herr Staatssekretär, können Sie es nachvollziehen,
dass es der Öffentlichkeit außerordentlich schwierig zu
vermitteln ist, dass der Staat mit Millionenbeträgen die
NPD, die ja zu Recht von der Innenministerkonferenz
als verfassungswidrig oder verfassungsfeindlich eingestuft wird, finanziert, und können Sie es darüber hinaus
nachvollziehen, dass die Praxis der Landesämter für Verfassungsschutz, fast sämtliche Vorstände der NPD auf ihren Gehaltslisten als V-Leute zu führen, auch nicht zu vermitteln ist? Mittlerweile ist die Praxis der Landesämter für
Verfassungsschutz und des Bundesamtes für Verfassungsschutz, über Jahre V-Leute bis in die Spitzen dieser
Partei zu führen, zu einem Garanten für die NPD geworden. Ist das wirklich Ziel des Einsatzes von V-Leuten im
nachrichtendienstlichen Bereich?
Zu Ihrer ersten Frage, die auf die Wahlkampfkostenerstattung abzielt, kann ich Ihnen nur antworten, dass
wir verpflichtet sind, nach Recht und Gesetz vorzugehen, dass ich aber überzeugt bin, dass der Umstand, dass
man die NPD politisch bekämpft, und zwar auf allen
möglichen Ebenen, insbesondere auch in Wahlkämpfen,
in der politischen Diskussion leichter zu vermitteln ist
- auch wenn man ihr die Behandlung im Hinblick auf
die Kostenerstattung, die andere, demokratische Parteien
bekommen, nicht verwehren kann - als ein erneutes Verbotsverfahren, mit dem wir in Karlsruhe oder in Straßburg scheitern würden.
Die Antwort auf Ihre zweite Teilfrage haben Sie vermutlich schon erwartet. Ich würde mich gerne mit dieser
Frage und den Unterstellungen, die darin enthalten sind,
auseinandersetzen, aber Sie wissen, dass es sich hier um
Angelegenheiten der Nachrichtendienste handelt und
dass die Bundesregierung dazu nur im Parlamentarischen Kontrollgremium Auskunft gibt.
({0})
Die nächste Zusatzfrage stellt die Abgeordnete Frau
Enkelmann.
Herr Staatssekretär, in Mecklenburg-Vorpommern ist
die Situation anders, als Sie sie für Hessen beschrieben
haben. Hier ist die nach Ihren Worten verfassungsfeindliche Partei NPD im Landtag vertreten, und aufgrund der
Erfahrungen mit dieser Partei auch im Landtag haben die
demokratischen Parteien SPD, CDU, FDP und Linke gemeinsam den Beschluss gefasst, ein Verbotsverfahren
gegen die NPD auf den Weg zu bringen. Wie bewertet
die Bundesregierung diesen Beschluss?
Die Bundesregierung beobachtet nicht nur die NPD
und ihre Aktivitäten sehr genau, sondern auch die Diskussion im politisch-parlamentarischen Raum. Ich habe
Ihnen allerdings vorhin schon gesagt, dass es zum jetzigen Zeitpunkt aus Sicht der Bundesregierung nicht angezeigt ist, ein solches Verfahren einzuleiten.
Die für die Fragestunde vereinbarte Zeit ist zu Ende.
Die nicht aufgerufenen Fragen werden im üblichen Verfahren schriftlich beantwortet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Haltung der Bundesregierung zu den von den
Stromkonzernen angekündigten massiven
Strompreiserhöhungen
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Hill für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für die Bürgerinnen und Bürger ist am Strom- und Gasmarkt offenbar, was falsches Handeln und Untätigkeit der Regierung
kosten. Anders gesagt: Die Stromkunden können das
Versagen der Großen Koalition mittlerweile am Zähler
ablesen.
Aber nun zu den Fakten:
Erstens: Abschaffung der Aufsicht über die Stromtarife. CDU/CSU und SPD haben einmütig die einzige
Kontrollschranke zwischen dem Energiekartell und den
Stromkunden ersatzlos gestrichen. Was ist die Folge? Drei
Preiserhöhungen in einem Jahr. Im Januar 2008 werden
die Stromkosten für private Haushalte um 27 Prozent höher liegen als noch 2004. Die Gaspreise steigen im selben Zeitraum um sage und schreibe 45 Prozent. Was ist
im gleichen Zeitraum mit den Reallöhnen passiert? Sie
sinken weiter. Anpassungen bei Hartz-IV-Empfängern
oder bei den Rentnerinnen und Rentnern? Ebenfalls
Fehlanzeige. Das ist völlig inakzeptabel.
({0})
Mit Ihrer unsozialen Energiepolitik schüren Sie, meine
Damen und Herren von der Bundesregierung, auch den
sozialen Unfrieden in diesem Land.
Zweitens: Einführung der Anreizregulierung für Stromund Gasnetzbetreiber. Schon der Name klingt widersprüchlich. Das ist es auch. Die Regulierung der Netze
senkt zwar die Kosten. Aber dies geschieht insbesondere
zulasten der kleinen Stadtwerke, und zwar überwiegend
durch den Abbau von Personal. Die Energieriesen bleiben
weitgehend außen vor. Die Anreizregulierung wird die
kleinen Stadtwerke in die Arme von Eon und RWE treiben und verstetigt die Monopolstruktur im Energiesektor. Außerdem kann die Bundesnetzagentur nach
Belieben in die Lohnstruktur bei den Stadtwerken eingreifen und per Verordnung die Gehälter kürzen. Das ist
ein eklatanter Eingriff in die Tarifautonomie. Das können wir so nicht zulassen.
({1})
Zu erwähnen ist noch, dass der Effekt für private
Stromkunden gleich null ist. Die Anreizregulierung wird
dem Endverbraucher erst 2013 eine Ersparnis von etwa
50 Euro pro Jahr bringen. Vattenfall hat aber in diesem
Sommer den Strom in Berlin um 62 Euro je Haushalt
verteuert. Wo das hinführt, kann man sich an fünf Fingern abzählen.
Drittens: Verschärfung des Kartellrechts. Wenn die
Monopolisten die Preise um 10 Prozent willkürlich anheben können, muss, wie sich aktuell zeigt, die Hälfte
der Regionalversorger und Stadtwerke mitziehen, da sie
am Tropf der Konzerne hängen. Die vorgeschlagene
Kartellrechtsänderung wird deshalb weitgehend wirkungslos bleiben. Denn: Wenn über 300 Energieversorger durch Preisanstiege vom Durchschnitt abweichen, ist
das der neue Durchschnitt - in der Regel unter 10 Prozent - und somit maßgebend, und das Kartellamt kann
nur noch tatenlos zusehen.
RWE und Eon beherrschen nach wie vor rund
60 Prozent des Strom- und des Gasmarktes. Diese Kartellstrukturen wurden maßgeblich von ehemaligen SPDMinistern systematisch aufgebaut. Das ist das Problem.
Wenn die Bundesregierung nicht bereit ist, diese Kartellstrukturen zu zerschlagen, bleiben die Ankündigungen
der Großen Koalition nur heiße Luft. Die Zeche zahlen
die Bürgerinnen und Bürger mit überhöhten Strom- und
Gaspreisen.
Die Linke fordert deshalb ganz konkrete Schritte: erstens die Wiedereinführung einer wirksamen Preisaufsicht über die Strom- und Gastarife;
({2})
zweitens verpflichtende Sozialtarife für Privathaushalte
mit geringem Einkommen;
({3})
drittens Offenlegung der Stromhandelspreise, um Missbrauch durch die Energieversorger zu unterbinden, und
viertens die Überführung der Strom- und Gasnetze in die
öffentliche Hand.
({4})
Zum Schluss einer der für uns wichtigsten Punkte:
unbürokratische Heizkostenzuschüsse für Haushalte mit
geringem Einkommen und zusätzlich die Anhebung der
Hartz-IV-Sätze auf mindestens 435 Euro.
Ich bedanke mich.
({5})
Das Wort erhält nun der Bundeswirtschaftsminister
Michael Glos.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir müssen in Deutschland dafür sorgen, dass
der Aufschwung weiter anhält. Dazu gehört natürlich
auch das Ziel der Bundesregierung, dass den Verbraucherinnen und Verbrauchern von Strom und Gas nicht
tiefer in die Tasche gegriffen wird, als es unbedingt sein
muss.
({0})
Wir wissen, dass hohe Strompreise einerseits die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft und andererseits den
Geldbeutel der Endverbraucher stark belasten.
Nun haben mehrere große Energiekonzerne angekündigt, dass sie zur Jahreswende Preiserhöhungen von bis
zu 10 Prozent vornehmen wollen. Erhöhungen in dieser
Größenordnung sind für mich nicht nachvollziehbar. Ich
meine, sie sind eine Zumutung für die Verbraucher.
({1})
Die allgemeinen Tarife waren früher genehmigungspflichtig; das ist richtig. Zu diesen allgemeinen Tarifen
wird aber nur noch ein sehr geringer Teil des Stromes
abgesetzt, weil Strom und inzwischen auch Gas ein
Stück weit über im Wettbewerb befindliche Anbieter geliefert werden können. Das geht auf einen Beschluss der
früheren Koalition zurück. Unser Ziel ist, dass auf den
Märkten ein stärkerer Wettbewerb herrscht.
Nun argumentiert die Versorgungsindustrie mit gestiegenen Terminmarktpreisen zum Beispiel an der Leipziger Strombörse. Aber dort werden nur 15 Prozent des
Stromes gehandelt. Wir haben leider noch keine funktionierende europäische Strombörse. Leider haben wir auch
noch zu wenig Wettbewerb innerhalb Europas. Deswegen möchten wir, dass Leitungstrassen, die Wettbewerb
zwischen den Ländern im Strombereich erlauben, häufiger genehmigt werden. Zudem brauchen wir, was die
Preise angeht, vor allen Dingen mehr Transparenz.
Das andere Argument, das immer wieder gebraucht
wird, betrifft die hohen Beschaffungskosten. Wenn wir
nachrechnen, ergibt sich allerdings ein sehr differenziertes Bild. Die Beschaffungskosten machen bei dem Preis,
den ein normaler Haushalt bzw. der Privatmann zahlt,
nur circa 25 bis 30 Prozent des Stromendpreises aus. Um
eine Erhöhung des Endpreises um 10 Prozent zu rechtfertigen, hätten also die Beschaffungskosten um 20 bis
25 Prozent steigen müssen. Diese Steigerung sehen wir
nicht.
Ich bringe ein paar Beispiele: Strom wird in Deutschland in hohem Maß in abgeschriebenen Kernkraftwerken
produziert. Strom wird aus der Verarbeitung von preiswerter, in Deutschland befindlicher Braunkohle gewonnen; das ist die andere große Stromquelle. Er wird aus
importierter Steinkohle gewonnen - deren Preis ist allerdings etwas angestiegen - und zum Teil aus Gas. Der
Gaspreis, der ein Stück weit an den Ölpreis gekoppelt
ist, ist in der Tat etwas stärker gestiegen. Ein geringer
Teil des Stroms kommt aus erneuerbaren Energien. Bei
den erneuerbaren Energien steigen allerdings die Kosten,
die über die Umlage erhoben werden, nicht weil die
Sätze steigen, sondern deswegen, weil die Mengen steigen. Aber dies ist im Verhältnis zu den Strombeschaffungskosten immer noch ein Betrag, der meiner Ansicht
nach zu verkraften wäre.
Nun argumentieren auf ganz andere Weise die Oligopole, die wir in Deutschland bei der Stromerzeugung haben. Wir gehen von einem Wert von 80 Prozent aus. Ich
habe aber unlängst in einer Fernsehsendung - Frau
Höhn, Sie waren auch dabei - mit einem führenden Manager diskutieren dürfen, der von 73 Prozent gesprochen
hat. Belassen wir es also bei diesen 73 Prozent. Wir wollen - das ist das Ziel der Bundesregierung -, dass es
mehr Wettbewerb gibt, dass mehr Strom in das Stromnetz eingespeist wird und sich über diesen Wettbewerb
ein günstigerer Preis entwickelt.
({2})
Dazu haben wir - ich bedanke mich bei allen Kolleginnen und Kollegen, die daran mitgewirkt haben - die
Netzzugangsverordnung verbessert. Dadurch hat derjenige, der neu Strom anbietet, bevorrechtigt Zugang zum
Netz, auch vor denjenigen Anbietern, denen das Netz
zum großen Teil gehört. Wir haben durch eine Regulierung der Stromnetze und eine Überprüfung der Kosten
zu einer Netzkostensenkung um bis zu 20 Prozent beigetragen; ansonsten wäre der Strombezug für die Privatkunden noch teurer. Wir haben eine Netzanreizregulierung in Kraft gesetzt, die sich künftig an den technisch
am besten betriebenen Netzen orientiert und mit der
Druck auf die Durchleitungskosten ausgeübt werden
soll. Wir brauchen vor allen Dingen neue Kraftwerke
und neue Anbieter auf dem Strommarkt. Auch das haben
wir, wie gesagt, geregelt.
Wir wissen natürlich, dass wir ein Instrument brauchen, um den Stromkonzernen auf die Finger schauen zu
können, solange es keinen echten Wettbewerb gibt. Deswegen haben wir eine Novelle zum Kartellgesetz in den
Deutschen Bundestag eingebracht. Diese Novelle steht
zur Verabschiedung an. Ich kann nur an alle appellieren,
diese Novelle möglichst rasch zu verabschieden. Meines
Wissens soll noch eine Anhörung stattfinden und das
Gesetz spätestens zum 1. Januar in Kraft treten.
Wir haben das Gesetz - was ich gut finde - befristet.
Ich hoffe, dass dieses Gesetz durch den Wettbewerb in
Europa überflüssig wird. Wenn dieses Gesetz im
Jahr 2011, also in der nächsten Legislaturperiode, nicht
verlängert wird, läuft die Regelung automatisch aus.
Das Wehklagen der großen Stromkonzerne kann ich
nicht verstehen. Ich finde, dieses befristete Gesetz kann
ihnen in Sachen Glaubwürdigkeit sogar helfen. Die Konzerne könnten beweisen, dass die überdurchschnittlichen
Preissteigerungen nicht auf mangelnden Wettbewerb,
sondern auf echte Mehrkosten zurückzuführen sind. Das
Kartellamt kann die Beweislastumkehr verlangen. Das
heißt, solange es keinen echten Wettbewerb gibt, müsste
nicht das Kartellamt beweisen, dass die Strompreiserhöhung nicht gerechtfertigt ist, sondern die Konzerne
müssten beweisen, dass die Erhöhung gerechtfertigt ist.
Das Kartellamt könnte außerdem künftig schneller eingreifen.
Das hat nichts damit zu tun, dass ich Gegner der
freien Marktwirtschaft wäre, was mir unterstellt wird. Im
Gegenteil: Die freie, die soziale Marktwirtschaft ist nur
dann glaubwürdig, wenn sie dafür sorgt, dass es nicht zu
Monopolgewinnen kommt, die nicht sein müssen.
({3})
Eine letzte Bemerkung. Es wird gefordert, die Konzerne zu zerschlagen, ihnen die Netze wegzunehmen
usw. Das ist billig. Damit ist niemandem gedient. Wir
brauchen nach wie vor ein sehr leistungsfähiges Leitungsnetz. Das gilt insbesondere, wenn wir mehr Windstrom, mehr Strom aus erneuerbaren Energien einspeisen
wollen. Dafür sind gewaltige Investitionen in das Netz
erforderlich. Das könnte die öffentliche Hand nicht
schaffen.
Deswegen ist der Weg, den die Bundesregierung beschritten hat, der richtige Weg. Wir müssen ihn nur konsequent weitergehen.
Herzlichen Dank.
({4})
Gudrun Kopp ist die nächste Rednerin für die Fraktion der FDP.
Herr Präsident! Sehr geehrte Herren und Damen! Ich
möchte dieser scheinheiligen Debatte zunächst einmal
ein Ende setzen.
({0})
All denjenigen, die uns zuhören, egal ob hier im Saal
oder außerhalb, möchte ich sagen: Bei allem Wehklagen
über die zweifellos sehr hohen Energiepreise bleibt festzuhalten, dass der Staat der größte Preistreiber ist.
({1})
Sehr geehrter Herr Minister Glos, Sie haben es fertiggebracht, die Probleme im Strombereich aufzuzeigen, ohne
die Verantwortung des Staates in irgendeiner Weise zu
erwähnen.
Ich rufe in Erinnerung, wie sich der Strompreis zusammensetzt: 40, 30, 30. 40 Prozent des Strompreises
- es sind exakt 41 Prozent - sind auf Steuern und Abgaben auf Energie zurückzuführen. Von 1998 bis heute ist
der Staatsanteil - ich drücke es in Prozenten aus - von
25 Prozent auf 41 Prozent gestiegen. In absoluten Zahlen heißt das: von rund 2 Milliarden Euro auf
13 Milliarden Euro. Das ist eine Zahl, die man unbedingt
nennen muss. Nur in Dänemark ist der Staatsanteil noch
höher. Häufig wird Großbritannien angeführt, wo es einen recht gut funktionierenden Wettbewerb gibt. Der
Staatsanteil liegt in Großbritannien bei gerade einmal
9 Prozent, während er bei uns bei 41 Prozent liegt. Diese
circa 40 Prozent staatlichen Lasten müssen berücksichtigt werden.
Hinzu kommen die Mehrkosten, die sich aus der Gewinnung von Strom aus erneuerbaren Energien ergeben.
Diese Kosten haben sich von 2006 auf 2007 um
1 Milliarde Euro auf jetzt 4,2 Milliarden Euro erhöht.
Auch diese Zahl muss man nennen.
Die 40 Prozent habe ich genannt. 30 Prozent betreffen
Netzentgelte. Die Netze werden jetzt reguliert. Eine
starke Anreizregulierung ist in dem Bereich dringend
notwendig. Das ist in Ordnung. Dazu haben wir Ja gesagt. Es hat im Strom- und im Gasbereich bislang eine
Senkung der Netzkosten um 2,8 Milliarden Euro gegeben. Das ist sehr gut.
Die letzten 30 Prozent betreffen das - darüber hat
Herr Minister Glos hier gesprochen -, was bei der Preisgestaltung von der Energiewirtschaft aufgeschlagen
wird. Es ist tatsächlich so, dass wir am deutschen Markt
immer noch ein Wettbewerbsproblem haben. Trotz der
Steigerung durch die EEG-Umlage und des Anstiegs bei
den Beschaffungskosten von Öl und Gas ist das, was einige Energieversorger jetzt fordern, für uns, für die FDPBundestagsfraktion, nicht nachvollziehbar.
({2})
Da muss man hinschauen. Das Bundeskartellamt macht
das jetzt und prüft. Das ist sehr richtig.
Ich kann nur sagen: Es ist darauf zu achten, dass die
Staatsanteile, die ich eben nannte, zu senken sind. Denken Sie zum Beispiel daran, dass die Erlöse aus der Versteigerung der CO2-Zertifikate - diese Erlöse wird es ja
demnächst geben; hier sind Einnahmen in Höhe von
400 Millionen Euro vorgesehen - eigentlich den Verbrauchern, den Endkunden, die die hohen Kosten zu tragen haben, zurückzugeben sind, indem die Stromsteuer
gesenkt wird. Das wäre ein Anfang, um den hohen
Staatsanteil zu senken. Das fordern wir ausdrücklich.
({3})
Des Weiteren fordern wir eine konsequente Regulierung. Man kann den Verbrauchern und Verbraucherinnen
nur sagen: Wir brauchen mehr neue Wettbewerber. Wir
fordern die Kunden angesichts der hohen Preisen ganz
massiv zum Wechsel ihres Stromanbieters auf. Die
Quote liegt im Moment bei rund 10 Prozent; da ist sehr
viel mehr möglich. Ich kann nur ermuntern, diesen Weg
weiterzugehen.
Es ist geradezu unverantwortlich - Herr Minister
Glos, das sage ich an Ihre Adresse und an die Adresse
der Kanzlerin -, in Meseberg ein Klimapaket zu verabschieden, aber die Kosten-Nutzen-Analyse nachreichen
zu wollen. Sie kennen noch nicht einmal die Auswirkungen dessen, was Sie beschlossen haben. Das ist allenfalls
eine sehr oberflächliche Wohlfühlpolitik, aber hat mit einer konsequenten Energiepolitik gar nichts zu tun. Ich
kann Ihnen nur sagen: Das ist völlig intransparent.
Klimapolitik muss so kostengünstig wie möglich betrieben werden.
Frau Kollegin!
Sie dürfen nicht auf Kosten der Verbraucher ins Blaue
agieren. Deshalb fordern wir Sie auf: Rufen Sie nicht
„Haltet den Dieb!“ in Richtung Energiewirtschaft, sondern schauen Sie auf sich selbst! Senken Sie die Kosten
und lassen Sie uns gemeinsam für mehr Wettbewerb und
hoffentlich niedrige Energiepreise sorgen!
Vielen Dank.
({0})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Rolf Hempelmann,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Liebe Gudrun Kopp, ich habe schon oft gehört, dass der
Staat der Preistreiber Nummer eins bei den Energiekosten sei.
({0})
Ich denke, es ist wirklich Zeit, mit dieser Mär ein Stück
weit aufzuräumen. Wir reden über einen Staatsanteil an
den Stromkosten von 40 Prozent, meinetwegen:
41 Prozent. Wenn wir uns das im Einzelnen anschauen,
dann werden wir sehr schnell feststellen, dass wir bestenfalls über Teilbereiche davon diskutieren können.
14 Prozent Mehrwertsteuer. Das sind weniger als die
19 Prozent, die auf viele andere Produkte genommen
werden.
9 Prozent Konzessionsabgabe. Da wird eine Leistung
bezahlt, die von den Kommunen erbracht wird. Auch
darüber kann man nicht wirklich diskutieren.
Dann gibt es in der Tat eine Stromsteuer in Höhe von
11 Prozent. Ich rufe hier aber erstens in Erinnerung, dass
wir mit dem Aufkommen aus der Stromsteuer diejenigen
haben entlasten können, die Beiträge in das Rentensystem zahlen. Wenn Sie also Vorschläge machen, die die
Stromsteuer betreffen, dann müssen Sie auch sagen, wie
Sie das finanzieren wollen; denn Sie nehmen das Geld
an anderer Stelle weg.
({1})
Zweitens ist es unbestritten - dies bestätigen viele Fachleute -, dass die Stromsteuer auch eine Lenkungswirkung entfaltet hat. Wenn es heute Minderverbräuche und
ein Stück weit Bewusstsein gibt, dann hat dies genau damit zu tun.
Bleiben also noch 2 Prozent, die wir ausgeben, um die
umweltfreundliche Kraft-Wärme-Kopplung zu fördern,
und 4 Prozent für die erneuerbaren Energien. Wer das in
Abrede stellen will, während wir in der Öffentlichkeit
ständig die Wichtigkeit erneuerbarer Energien propagieren, der macht sich erst recht unglaubwürdig.
({2})
Stehen wir also zu diesen 40 Prozent und sagen, dass
sie notwendig sind und dass sich Strom in keiner Weise
negativ von anderen Produkten und Waren unterscheidet.
So negativ müssen wir auch gar nicht in die Zukunft
schauen. Natürlich haben Sie recht: In der Vergangenheit
haben nur etwa 10 Prozent der Verbraucher ihren Stromanbieter gewechselt. Die jüngste Emnid-Umfrage macht
aber deutlich, dass die Wechselbereitschaft mittlerweile
bei etwa 40 Prozent angelangt ist und in den letzten Monaten in dieses Thema ganz erheblich Tempo hineingekommen ist. Das ist auch kein Zufall. Dass wir das vor
zwei, drei Jahren so noch nicht erleben konnten, hat auch
etwas damit zu tun gehabt, dass wir zu jenem Zeitpunkt
die politischen Rahmenbedingungen noch nicht gesetzt
hatten. Zwischenzeitlich haben wir ein Energiewirtschaftsgesetz entwickelt und eine Bundesnetzagentur
aufgebaut. Letztere hat für diskriminierungsfreien Netzzugang sowie dafür gesorgt, dass das Netz keine Barriere für Wettbewerb mehr ist. Wir brauchen dazu auch
keine eigentumsrechtliche Entflechtung. Nach Aussagen
der Netzagentur selbst ist sie in der Lage, einen diskriminierungsfreien Netzzugang sicherzustellen.
Dies führt dazu, dass es mittlerweile echten Anbieterwechsel gibt. Viele Barrieren, die zu Beginn noch bestanden, sind mittlerweile abgebaut worden. Von den
Kunden wird heute nicht mehr verlangt, dass sie neue
Zähler einbauen, Wechselgebühren zahlen und vieles anderes mehr. Der Wechsel ist eine ganz einfache Angelegenheit geworden. Hier hat Politik in durchaus positiver
Weise positive Rahmenbedingungen entwickelt.
Natürlich können dabei viele mithelfen, beispielsweise die Medien, die dies teilweise schon tun. Sie können auf die Wechselmöglichkeiten hinweisen und auch
einmal Tarifvergleiche öffentlich machen. Die Verbraucherberatungsstellen sind in diesem Bereich ebenfalls
sehr aktiv.
Jeder, der seinen Stromanbieter wechselt, hilft dadurch, den bisherigen Anbieter unter Druck zu setzen.
Wir bemerken, dass es zunehmend auch von etablierten
Anbietern neue Angebote gibt. Dies alles ist kein Allheilmittel; aber es zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg
sind.
Vieles andere war zu tun und ist teilweise auch getan
worden. Der Minister hat bereits die Kraftwerksanschlussverordnung erwähnt, die dazu dienen soll, dass
neue Kraftwerke und neue Anbieter auf dem Erzeugermarkt erscheinen. Wenn uns dies gelingen sollte - vieles
spricht dafür -, dann wäre dies ein Weg hin zu mehr
Wettbewerb und damit auch zur Ausschöpfung von
Preissenkungsspielräumen, die trotz steigender Primärenergiekosten vorhanden sind. Andere Dinge haben wir
implementiert, etwa ein Infrastrukturplanungsbeschleunigungsgesetz, damit wir auch zu mehr und schnellerem
Netzausbau kommen. Hier werden wir noch nachlegen
müssen; es funktioniert noch nicht ganz so, wie wir es
uns vorstellen. Der Minister hat schon die GWB-Novelle
erwähnt, die wir jetzt angehen werden. Ich verspreche
dem Minister nochmals, dass wir es schneller als das Ministerium schaffen werden. Es hat anderthalb Jahre gebraucht; wir werden es vor Weihnachten hinbekommen.
Vielen Dank.
({3})
Die Kollegin Höhn ist die nächste Rednerin für die
Fraktion Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für
immer mehr Menschen werden in diesem Land die steigenden Strompreise zu einem ernsten sozialen Problem.
Frau Kopp, Herr Hempelmann hat sehr genau einiges zu
den Steuern und Abgaben des Staates gesagt.
({0})
Ich möchte noch etwas zu den Gewinnen der Energiekonzerne sagen, unter denen nicht nur die Verbraucherinnen und Verbraucher, sondern auch große Teile der
Wirtschaft leiden, nämlich jene Teile, die selbst keine
Energie erzeugen. Bei genauerem Hinsehen stellt man
fest, dass die Gewinne der Energiekonzerne exorbitant
gestiegen sind. Im Jahr 2006 verbuchten die vier Großen
in der Energiebranche allesamt Rekordgewinne. RWE
Power zum Beispiel verzeichnete eine Kapitalrendite
von unglaublichen 40 Prozent. Man muss sich das einmal auf der Zunge zergehen lassen, meine Damen und
Herren: 40 Prozent Kapitalrendite.
Wenn Sie sich den Gewinn vor Steuern von Eon ansehen, stellen Sie fest: Im Jahr 2002 betrug er 4,2 Milliarden Euro, im Jahr 2006 lag er schon bei 8,1 Milliarden
Euro. Es kam also zu einer Gewinnsteigerung von
durchschnittlich 1 Milliarde Euro pro Jahr. Es darf nicht
sein, dass die großen Energiekonzerne in diesem Land
immer höhere Gewinne machen und dass die Verbraucherinnen und Verbraucher und die Wirtschaft immer
höhere Energiepreise zahlen müssen.
({1})
Die Begründungen der Konzerne für die Preiserhöhungen wechseln. Ob die Brennstoffpreise steigen oder
sinken und ob CO2-Zertifikate billiger oder teurer werden, auf eines können wir uns verlassen: Die Richtung,
die die Strompreise einschlagen, ist immer die gleiche;
die Preise steigen. Auch das darf nicht sein. Das ist
Folge des fehlenden Wettbewerbs auf dem Strommarkt.
Die Energiekonzerne können momentan schalten und
walten, wie sie wollen. Das muss ein Ende haben.
Wir brauchen faire Preise in Deutschland; wir wollen
faire Preise zahlen.
({2})
Ich spreche von fairen Preisen. Das bedeutet nicht unbedingt: billigen Strom. Auch das muss man klar sagen.
Die Strompreise müssen die wahren Kosten der Stromerzeugung, aber auch die wahren Kosten für Umwelt
und Klima zum Ausdruck bringen. Der Strom aus erneuerbaren Energien wird immer günstiger. Dagegen sind
angesichts der knapper werdenden fossilen Rohstoffe bei
Energie aus Öl, Gas und Kohle deutliche Preissteigerungen vorprogrammiert. Umso wichtiger ist, dass wir verstärkt auf erneuerbare Energien setzen; denn sie sind die
Zukunft der Stromerzeugung.
({3})
Der Strom wird nicht billig. Er darf aber auch nicht
überteuert sein. Andersherum ausgedrückt: Wir dürfen
nicht zulassen, dass die Energiekonzerne die Strompreise beliebig erhöhen. Hier ist die Bundesregierung in
der Pflicht. Die Maßnahmen, die die Bundesregierung
vorschlägt, um den Kampf gegen überhöhte Strompreise
aufzunehmen, sind allerdings völlig unzureichend. Im
Rahmen der GWB-Novelle will sie die Vorschriften zur
Bekämpfung von Preismissbrauch verschärfen. Die
Strukturen, die dem Preismissbrauch Tür und Tor öffnen,
lassen Sie aber intakt. Statt die Krankheit, den fehlenden
Wettbewerb, zu kurieren, doktern Sie an den Symptomen herum. Das wird nicht funktionieren; damit können
Sie Eon, RWE & Co. nicht beikommen.
Es kommt noch schlimmer. Nicht nur, dass Sie die
Krankheit nicht kurieren; Sie fallen dem behandelnden
Arzt auch noch in den Arm. Wer ist der behandelnde
Arzt? Die EU-Kommission. Sie hat sich das eindeutige
Ziel gesetzt, für mehr Wettbewerb zu sorgen. Sie hat
auch das Mittel genannt, mit dem sie dieses Ziel erreichen will: die Entflechtung von Netz und Produktion.
Herr Glos, ich muss Ihnen sagen: Es kann nicht sein,
dass Sie diesen guten Vorschlag der EU-Kommission zunächst verwässern und dann den schlechten Kompromiss
kritisieren und Ihren Widerstand ankündigen. Unterstützen Sie die EU-Kommission, statt ihr in den Arm zu fallen!
({4})
Das Ergebnis dieser Politik hat die Financial Times
Deutschland mit der Überschrift „EU knickt vor Stromlobby ein“ beschrieben. Das hat die Bundesregierung
mit ihrer Politik erreicht.
Interessant finde ich eine Aussage von Außenminister
Steinmeier, der auf der gestrigen Abendveranstaltung
von EnBW einmal ganz undiplomatisch die Wahrheit
gesagt hat. Ich zitiere die dpa; dort heißt es:
Steinmeier kritisierte die Haltung der Energiekonzerne nach der Ankündigung von Strompreiserhöhungen durch Eon und RWE-Töchter. Dies
erschwere die gemeinsamen Bemühungen bei der
EU-Kommission, eine mögliche Entflechtung der
Energiekonzerne zu verhindern.
Das ist eine bemerkenswerte Aussage. Hier hat der Außenminister ganz offen ausgesprochen, dass die Bemühungen der EU zur Schaffung von mehr Wettbewerb auf
dem Energiemarkt verhindert werden sollen, und zwar
gemeinsam mit den Energiekonzernen. Das, meine Damen und Herren, ist die falsche Politik.
({5})
Herr Minister Glos, meine Damen und Herren der
Koalition, das ist keine Politik zugunsten der Verbraucherinnen und Verbraucher, das ist keine Politik zur
Schaffung von mehr Wettbewerb. Das ist eine Politik,
mit der Sie sich zum Schutzpatron der Stromkonzerne
und ihrer Monopolgewinne machen. Deshalb sollten Sie
diese Politik beenden. Wir sollten insbesondere im Sinne
der Verbraucher und im Sinne des größten Teils der
Wirtschaft in diesem Land deutlich machen: Wir brauchen mehr Wettbewerb, und wir brauchen faire Preise.
Ich fordere Sie auf: Stimmen Sie der Entflechtung von
Produktion und Netz zu! Denn dadurch wird der Wettbewerb auf dem Energiemarkt garantiert.
Vielen Dank.
({6})
Ich erteile jetzt dem Kollegen Albert Rupprecht für
die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Frau Höhn, zur Verschärfung der Missbrauchsaufsicht
gibt es kurzfristig keine Alternative. Was uns die großen
Energieversorger Eon und RWE in den vergangenen
Wochen an Ankündigungen geliefert haben, ist die direkte Aufforderung an uns Parlamentarier, die Missbrauchsaufsicht zu verschärfen.
Das größte deutsche Unternehmen, Eon, kündigt eine
dramatische Preiserhöhung um 10 Prozent an. Die kurze
Begründung war: Die Beschaffungskosten und die Kosten durch die erneuerbaren Energien sind erheblich gestiegen. Wir haben das nachgeprüft: Die Beschaffungskosten und die Kosten durch die erneuerbaren Energien
sind in diesem Zeitraum nur unwesentlich gestiegen. Zudem sind die Konzessionsabgaben nicht gestiegen, und
auch die Stromsteuer ist nicht gestiegen. Ganz im Gegenteil: Die Netzentgelte sind in diesem Zeitraum sogar
gesunken. Kurzum - ich glaube, da herrscht Übereinstimmung -: Eine Preiserhöhung um 10 Prozent ist sachlich in keiner Weise nachzuvollziehen.
({0})
Auf die wiederholte Nachfrage, wie diese Preiserhöhung
denn im Detail zu rechtfertigen sei, antwortet Eon: Es
handelt sich um Geschäftsgeheimnisse, und die gehen
niemanden etwas an. - Die einzige Erklärung, die uns
bleibt, ist: Eon missbraucht seine Marktmacht, um überhöhte Preise durchzusetzen. Die Zeche zahlen die Verbraucher. Das ist vollkommen inakzeptabel.
Eine zeitlich befristete Verschärfung der Missbrauchsaufsicht ist zwingend notwendig. Die beiden wesentlichen Änderungen, die wir im November im Parlament
beschließen wollen, sind die Beweislastumkehr und der
Sofortvollzug. Ab dem 1. Januar 2008 muss Eon dem
Kartellamt detailliert begründen, wie eine Preiserhöhung
zu rechtfertigen ist. Wenn Eon das nicht kann, wird - das
ist die zweite zentrale Neuerung - eine sofortige Preissenkung angeordnet. Die Missbrauchsaufsicht wird ein
scharfes Schwert. Es wird nicht nur geredet, es wird gehandelt; das erwarten die Verbraucher zu Recht von uns.
Einige wenige Anmerkungen zu den Vorstellungen
der anderen Fraktionen: Ich kann die bisherige Ablehnung der Verschärfung der Missbrauchsaufsicht durch
die FDP nicht nachvollziehen.
({1})
Die Missbrauchsaufsicht ist eine zentrale Aufgabe der
Kartellbehörden; dies war in der Vergangenheit stets auch
die Position der FDP. Der richtige Weg war nie ein Entweder-oder - entweder Wettbewerb oder Missbrauchsaufsicht -, sondern stets ein Sowohl-als-auch: kurzfristig
die Missbrauchsaufsicht stärken, aber mittelfristig vor
allem für funktionierenden Wettbewerb sorgen. Die FDP
weicht hier mit ihrer ablehnenden Haltung von ihrer historischen Grundlinie ab. Ich glaube, das ist ein Fehler.
Ich glaube zudem, dass die starke Konzentration der
Grünen und der Linken auf die eigentumsrechtliche Entflechtung viel zu kurz gesprungen ist.
({2})
Man kann die eigentumsrechtliche Entflechtung unterschiedlich bewerten; aber eines ist wohl unstrittig: Kurzfristig bringt eine eigentumsrechtliche Entflechtung
keine Lösung. Sie müssen den Verbrauchern schon erklären, was für eine Lösung Sie für 2008, 2009, 2010,
2011, 2012 zu bieten haben; denn früher wird eine eigentumsrechtliche Entflechtung, so sie überhaupt kommt,
nicht vollzogen werden, geschweige denn wirksam sein.
({3})
In der Zukunft zu schwelgen, ohne konkrete Lösungen
für die Gegenwart vorzulegen, ist zu wenig.
({4})
Seit einigen Tagen gibt es den Vorschlag vonseiten
der SPD-Fraktion, statt einer sofortigen Preissenkung
das strittige Geld auf ein Treuhandkonto einzuzahlen.
Ich glaube, dass das der falsche Weg wäre; da wir dadurch den Sofortvollzug verwässern würden. Es würde
vor Gericht jahrelang um das Geld auf diesem Treuhandkonto gestritten werden. Selbst wenn das Kartellamt
letztendlich gewinnen würde, ist kein Verfahren vorstellbar, wie man das Geld den Verbrauchern erstatten
könnte. Zuletzt bliebe alles beim Alten: Die Novelle
würde verpuffen, und die Verbraucher würden keine Verbesserung erleben. Das kann nicht in unserem Interesse
sein. Deswegen plädiere ich inständig dafür, dass wir
den Sofortvollzug in der vorliegenden, vom Kabinett beschlossenen scharfen Form im Parlament verabschieden.
Von der heutigen Debatte sollten klare Botschaften
ausgehen, die Botschaft, dass die parlamentarische
Mehrheit ganz klar hinter der Verschärfung der Missbrauchsaufsicht steht, die Botschaft, dass ab dem 1. Januar 2008 gegen Machtmissbrauch und überhöhte Preise
scharf und wirkungsvoll ermittelt wird, die Botschaft an
das Kartellamt, dass bereits heute die Vorbereitungen für
die Verfahren getroffen werden, damit im Januar 2008
auch vollzogen werden kann, und nicht zuletzt die Botschaft an die Verbraucher, dass die deutsche Politik nicht
vor Machtstrukturen einknickt, sondern die Kraft hat,
zum Wohle der Verbraucher wirkungsvoll gegen überhöhte Preise vorzugehen.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort erhält nun der Kollege Oskar Lafontaine,
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Wort „Machtstrukturen“ ist hier oft gefallen,
und die Machtstrukturen sind natürlich der Kern des Problems. Es war richtig, dass Sie die Machtstrukturen angesprochen haben, aber wir dürfen uns nicht darüber
hinwegtäuschen, dass die Politik die jetzt vorhandenen
Machstrukturen geschaffen hat.
({0})
Mit anderen Worten: Im Grunde haben Sie hier gesagt,
dass wir zeigen wollen, dass wir nicht vor den
Machtstrukturen einknicken, die wir selbst geschaffen
haben.
({1})
Sinnvoll wäre es, aus dieser Analyse die Konsequenz zu
ziehen, einmal darüber nachzudenken, ob wir an den
Machtstrukturen, die wir selbst geschaffen haben, nicht
irgendetwas ändern müssen. Darüber möchte ich jetzt reden.
({2})
Zunächst einmal muss auf die langjährige Entwicklung hingewiesen werden, in der der Wettbewerb im
Strommarkt immer weiter ausgeschaltet worden ist. Es
hat überhaupt keinen Sinn, darüber zu reden, dass man
hier Wettbewerb will, wenn die Strukturen dafür überhaupt nicht gegeben sind. Insofern kann ich der Kollegin
Höhn nur zustimmen. Wir brauchen Strukturen, durch
die Wettbewerb tatsächlich ermöglicht wird. Bei den gegenwärtigen Strukturen in Deutschland werden Sie keinen Wettbewerb organisieren können.
Herr Minister Glos, die Wirkung Ihrer Novellierung
des Kartellrechts ist ja von meinem Kollegen Hill infrage gestellt worden, indem er Sie gefragt hat, was Sie
tun, wenn sich die Durchschnittspreise, auf die man Bezug nimmt, bei den jetzigen Strukturen erhöhen. Darauf
haben Sie keine Antwort gegeben. Deshalb möchte ich
hier für meine Fraktion feststellen, dass die Absicht zwar
löblich ist, dass es aber nicht funktionieren wird. Ohne
eine Veränderung der Strukturen bei den Erzeugern und
beim Netz werden Sie nichts bewirken und niemals
Wettbewerb in Deutschland organisieren können.
({3})
Meine Fraktion vertritt die Auffassung, dass wir alles
tun müssen, um die Strom- und die Energieversorgung
zu rekommunalisieren,
({4})
weil die damalige Struktur die Grundlage für vernünftigen Wettbewerb war. Das möchte ich einmal am Beispiel
einer Stadt darstellen, in der ich jahrelang Oberbürgermeister war. Dort gab es drei Erzeugungsanlagen, die
nichts mit Eon, RWE oder einem sonstigen Großanbieter
zu tun hatten; sie befanden sich im Besitz der Stadt. Es
handelte sich um ein Kohlekraftwerk, das abgeschrieben
und insoweit aus Sicht der Stadtwerke eine Gelddruckmaschine war. Daneben gab es eine Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlage, die notwendig war, um Energieversorgung einigermaßen ökologisch gerecht zu ermöglichen.
Um Spitzen abzufangen, gab es dann noch eine Gasturbine, die in einem dicht besiedelten Wohngebiet
stand. So sah die damalige Struktur aus. Nur aufgrund
dieser Struktur konnten wir preisgünstig Strom anbieten.
Wir waren nicht auf irgendwelche Oligopole angewiesen, die die Preise gewissermaßen diktieren. Deswegen
sage ich noch einmal: Rekommunalisierung der Energieversorgung ist der beste Weg, um ökologisch und verbrauchergerecht eine Neuorganisation der Energieversorgung zu erreichen.
({5})
Außerdem, Herr Kollege, versuchen Sie jetzt im
Nachhinein, etwas auf den Weg zu bringen, was Sie abgeschafft haben; denn letztendlich wollen Sie eine Art
Preiskontrolle durch das Kartellamt installieren. Das
Kartellamt soll prüfen, ob die Preiserhöhungen richtig
sind. Wenn sie es nicht sind, dann soll es eingreifen und
die Preise festsetzen. So habe ich Sie hier verstanden;
das haben Sie hier vorgetragen. In dieser Situation müssen Sie den Zuhörerinnen und Zuhörern aber doch einmal erklären, warum Sie die Preiskontrolle mit vereinten
Kräften abgeschafft haben. Das ist doch unsinnig.
({6})
Die Preiskontrolle hat über viele Jahre funktioniert. Ich
war auf verschiedenen Ebenen selbst daran beteiligt. Es
gab auch Missbrauch - ich will das hier nicht alles darlegen; es wird auch in Zukunft Missbrauch geben -, aber
die Preiskontrolle hat funktioniert. Deswegen sage ich
hier für die Fraktion Die Linke: Es ist auf regionaler und
gesamtstaatlicher Ebene notwendig, Preiskontrollen
wieder einzuführen. Die Abschaffung war ein Fehler.
Wir sollten diesen Fehler korrigieren.
({7})
Wenn man Wettbewerb organisieren will, dann darf
man sich nicht allein auf die Erzeugerseite beschränken
- das ist aber ein sehr wichtiger Gesichtspunkt, wie ich
anhand der kommunalen Energieversorgung darzustellen versucht habe -, sondern man muss beim Netz beginnen. Wenn man das Netz monopolisiert, dann wird man
ähnliche Erfahrungen machen wie jetzt auf der Erzeugerseite. Deshalb ist der Vorschlag, die Netze mehr oder
weniger zu regulieren, mit größtem Vorbehalt zu betrachten. Es wäre sinnvoll, bei dem anzusetzen, was die
EU-Kommission vorgeschlagen hat, und zunächst einmal auf eine unabhängige Besitzstruktur beim Netz hinzuwirken. Wir sind der Auffassung, dass die Netze in gesamtgesellschaftlicher Verantwortung sein müssen.
({8})
Das ist der richtige Weg. Darüber, wie die Eigentümerstruktur beschaffen sein muss, kann man dann reden.
Wenn Liberale skeptisch sind, dann empfehle ich,
nachzulesen, was John Stuart Mill einst über die Frage
von Wettbewerb und leitungsgebundenen Strukturen geschrieben hat. Er hat darauf hingewiesen, dass bei leitungsgebundenen Wirtschaftsstrukturen Wettbewerb im
klassischen Sinne nicht möglich ist und dass es eine Instanz geben muss, die den Wettbewerb durchsetzt und
funktionsfähig hält.
In diesem Zusammenhang stelle ich fest: Sie haben
die Machtstrukturen geschaffen, die zu den gewaltigen
Preisschüben geführt haben, die derzeit im Energiesektor
festzustellen sind. Die Leidtragenden sind insbesondere
Arbeitnehmer, Rentner und Empfänger sozialer Leistungen, die niedrige Einkommen haben. Es wäre dringend
geboten, nicht wie seit Jahren über die Preisschübe zu
reden, sondern endlich die Strukturen im Energieversorgungssektor durchgreifend zu ändern.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Manfred Zöllmer,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Kollege Lafontaine, wir sind angetreten,
um die Zukunft zu bewältigen. Das schaffen wir nicht,
wenn wir zu John Stuart Mill in die Vergangenheit zurückblicken.
({0})
- Das haben wir gemerkt. Die Nostalgie hat Ihre Rede
von vorne bis hinten durchzogen. Die sicheren 70erJahre haben wieder fröhliche Urständ gefeiert.
({1})
Wenn Umfragen ergeben, dass Finanzämter inzwischen beliebter sind als Stromkonzerne, dann zeigt das
deutlich, wie ernst die Lage ist.
({2})
Die Strompreise haben sich in den vergangenen Jahren,
seit der Liberalisierung zum Teil drastisch erhöht. Dies
ist eine Zumutung für die Verbraucherinnen und Verbraucher, die sich zu Recht gegen die Abzocke wehren.
Das ist hier deutlich geworden.
Wichtigste Preistreiber sind einem Gutachten der
TU Dresden zufolge in der Tat die vier großen Energiekonzerne, die ihre Marktmacht nutzen und für überhöhte
Großhandelspreise an der Leipziger Strombörse sorgen.
Beispielsweise haben sich zwischen 2005 und Juni 2006
die Preise rechnerisch zwischen 20 und 30 Prozent über
dem Niveau bewegt, das bei besserem Wettbewerb herrschen würde. Wir brauchen mehr Transparenz bei der
Preisbildung an der Strombörse. Es wurde bereits erwähnt, dass nur ein geringer Teil des Stroms dort gehandelt wird. Trotzdem bestimmt dieser Preis weitgehend
das Preisniveau insgesamt. Mein Eindruck ist, dass in
Leipzig sozusagen ein schwarzes Loch der Preisbildung
entstanden ist.
Wir brauchen Wettbewerb und eine gute Regulierung.
Wettbewerb ist zwar der Schlüssel für marktgerechte
Preise, aber nicht unbedingt auch für niedrigere Preise.
Frau Höhn hat dankenswerterweise darauf hingewiesen.
Ich hüte mich davor, den Verbraucherinnen und Verbrauchern weismachen zu wollen, dass mit jedem neuen Anbieter automatisch die Preise sinken. Einen Preisverfall,
wie wir ihn etwa im Telekommunikationssektor erlebt
haben, wird es im Energiebereich nicht geben; dort gibt
es ganz andere Rahmenbedingungen.
Für einen funktionierenden Wettbewerb tragen auch
die Verbraucherinnen und Verbraucher Mitverantwortung. Ich habe insbesondere bei den Beiträgen von den
Vertretern der Linken ein merkwürdiges Verbraucherbild
erlebt. Sie nehmen die Verbraucherinnen und Verbraucher als Akteure im Wirtschaftsgeschehen nicht ernst.
({3})
Der Anbieterwechsel wurde vom Gesetzgeber so stark
vereinfacht, dass diese Möglichkeit von jedermann völlig unbürokratisch genutzt werden kann. In diesem Bereich liegen erhebliche Einsparpotenziale; Herr Kollege
Hempelmann hat darauf hingewiesen. Die Verbraucherzentralen helfen vor Ort. Der Anbieterwechsel ist eine
wirksame Maßnahme gegen überhöhte Energiepreise.
Wer die vorhandenen Möglichkeiten nutzt, um Preise
zu vergleichen - ganz wichtig -, sollte allerdings nicht
auf unseriöse „Billigheimer“ hereinfallen. Keinesfalls
sollte man Vorkasseangebote akzeptieren. Verbraucherinnen und Verbraucher sollten mit ihrer Anbieterwahl
den Wettbewerb und die Anbietervielfalt stärken, auch
zum Beispiel Stadtwerke unterstützen, lieber Herr Kollege Hill, die für ihre Kommunen häufig wichtige zusätzliche Dienstleistungen erbringen, so etwa im Nahverkehr.
({4})
- Nein, es gibt sie ja,
({5})
und sie machen das wirklich gut. Ich glaube, darauf
sollte man auch einmal hinweisen.
Natürlich geht es auch darum - das muss man deutlich sagen -, Einsparpotenziale beim Energieverbrauch
im Haushalt zu nutzen. Stand-by-Geräte zum Beispiel
sollten abgestellt werden, und bei Neuanschaffungen
sollte auf die Energieeffizienz geachtet werden. Hier gibt
es ein sehr großes Aufgabenfeld der EU. All das sind
wichtige Punkte.
Wenn mehr Wettbewerb der Schlüssel ist, dann ist zu
sagen, dass seitens der Politik - Herr Kollege
Hempelmann hat darauf hingewiesen - einiges getan
worden ist, um mehr Wettbewerb zu erreichen. Ich will
kurz auf die Diskussion um die Netze eingehen. Wir haben in Deutschland eine gesellschaftsrechtliche Trennung und eine strikte Regulierung durch die Bundesnetzagentur. Dass sie erfolgreich dabei war, haben wir
gesehen: Sie hat die Durchleitungsgebühren um bis zu
20 Prozent gesenkt.
Der Vorschlag der EU - Eigentumsentflechtung oder
einen unabhängigen Netzbetreiber - muss auf jeden Fall
sehr sorgfältig geprüft werden. Schauen Sie sich doch
einmal den Zustand der Netze in den USA und in anderen Ländern an! Wenn der Strom ausfällt, dann hat derjenige, der den Inhalt seiner Tiefkühltruhe entsorgen muss,
extrem hohe Kosten. Die Versorgungssicherheit ist aus
Sicht der Verbraucherinnen und Verbraucher ein sehr
wichtiges Gut.
Herr Kollege!
Jede Regelung muss sich daran orientieren, dass auch
zukünftig in die Netze investiert wird. Wir brauchen
mehr Investitionen und nicht weniger.
Das ist ein sehr schöner Schlusssatz, Herr Kollege
Zöllmer.
({0})
Schade, ich wollte noch auf Frau Höhn eingehen, die
den Wettbewerb damit garantiert sah. Leider ist es nicht
so. Frau Höhn, das müssen wir dann privat klären.
Genau. Vielleicht setzen Sie sich am Rande des Plenums noch einmal zusammen.
({0})
Vielen Dank.
({0})
Der nächste Redner ist der Kollege Michael Fuchs für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich finde,
dass der Wirtschaftsminister hier völlig zu Recht eingreift, indem er mit der GWB-Novelle, die sein Ministerium nach vorne bringt, dafür sorgt, dass wir die Strukturen und die Gründe für diese Preiserhöhungen erkennen.
Der Kollege Rupprecht hat das sehr eindrucksvoll ausgeführt. § 29, durch den die Beweislast umgekehrt wird, ist
genau der richtige Weg. Das brauchen wir, damit endlich
Klarheit in dieses Geschäft hineinkommt. Dass es nicht
klar ist und dass da Strukturen herrschen, die mit Wettbewerb nicht viel zu tun haben, darüber sind wir uns,
glaube ich, alle im Klaren. Wir sollten dafür sorgen, dass
sich das ändert.
Allerdings sollten wir auch darüber nachdenken, welche Fehler wir selbst machen. Was ist denn eigentlich
der Grund für diese hohen Strompreise? Ich will Ihnen
nicht ersparen - das wird meinen geschätzten Koalitionspartner nicht unbedingt in jeder Hinsicht erfreuen -,
darauf hinzuweisen, dass wir an verschiedenen Strukturen festhalten, die dazu führen, dass die Strompreise so
hoch sind. Da bin ich sehr schnell bei dem Thema Kernkraft.
({0})
Wir alle wissen, dass es uns die Kernkraft durchaus ermöglicht, den Strompreis günstiger zu halten, als er ist.
({1})
Wir sollten uns bitte schön nichts vormachen: Wer heute
sagt - wie Sie, Frau Höhn -, dass er die Stromversorgung in der Zukunft nur mit erneuerbaren Energien sicherstellen will, der muss dem Verbraucher dann auch
sagen, dass der Strom noch erheblich teurer wird.
({2})
Ich will das an einem Beispiel klarmachen. In meinem Wahlkreis befindet sich ein Unternehmen, das heißt
Kimberly-Clark. Es ist mehr unter dem Markennamen
Kleenex bekannt und stellt Papiertücher etc. her. Ich
habe dort vor kurzem eine Betriebsbesichtigung gemacht
und mir dabei natürlich auch die Papiermaschine angesehen. Die Papiermaschinen kauft Kimberly-Clark weltweit. Eine solche Maschine steht beispielsweise in
Rouen; das ist gerade einmal 250 Kilometer von meinem
Wahlkreis entfernt.
({3})
Die Papiermaschine verbraucht in Koblenz für
25 Millionen Euro Strom im Jahr. In Rouen verbraucht
dieselbe Maschine für dieselbe Leistung nur 17 Millionen Euro Strom im Jahr. Das ist ein Unterschied von
8 Millionen Euro. Wenn man in der Zentrale des Unternehmens in Dallas irgendwann einmal auf die Landkarte
schaut, dann wird man nur zwei Stecknadelköpfe sehen
- so nahe liegen Koblenz und Rouen beieinander - und
sich fragen, ob man das Werk in Koblenz nicht nach
Frankreich verlegen sollte. Wir müssen uns fragen, ob
die Energiepreise, die wir durch unsere Politik mitverursachen, sozialverträglich sind oder ob sie dazu führen,
dass Arbeitsplätze ins Ausland verlagert werden. Das
hätten wir dann mitzuverantworten.
({4})
Machen wir uns bitte nichts vor: Wer nicht darüber
nachdenkt, wie wir im Rahmen eines vernünftigen Energiemixes - dazu gehören selbstverständlich auch die erneuerbaren Energien und neue Technologien und alles
andere, was damit zusammenhängt - vernünftige Preise
behalten können, der macht meiner Meinung nach einen
gewaltigen Fehler und ist nicht glaubwürdig. Herr Kollege Lafontaine, wenn die Linke nichts Besseres zu fordern weiß als die sofortige Abschaffung der Kernkraft,
dann kann ich Sie nicht ernst nehmen. Das ist Ihr üblicher Populismus. Darin sind Sie Weltmeister. Aber mit
realer Politik hat das sicherlich nichts zu tun. Das ist erst
recht keine Politik im Sinne der Verbraucherinnen und
Verbraucher sowie der Unternehmen.
Wir brauchen vernünftige, bezahlbare Energiepreise.
Die Mietnebenkosten dürfen nicht höher sein als die
Miete. Wenn es aber so weitergeht, werden wir auch bei
den KdU erhebliche Probleme bekommen. Deswegen
sind wir alle gefordert, auf vernünftige, bezahlbare Energiepreise zu achten. In diesem Zusammenhang werden
wir um die Diskussion über die Kernkraft nicht herumkommen.
({5})
Nur zur Erläuterung vergeblicher Anfragen: Zwischenfragen sind in Aktuellen Stunden laut unserer Geschäftsordnung nicht vorgesehen.
({0})
Das setzt selbst besonders großzügigen Präsidenten natürliche Grenzen.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Axel Berg für die
SPD-Fraktion.
Verehrter Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Linke, ich finde es gut, dass Sie heute dieses Thema aufgeworfen haben, obwohl mir nicht ganz
klar ist, in welche Richtung Sie gehen wollen. Zuerst
fordert Herr Hill mehr Planwirtschaft. Dann strebt Herr
Lafontaine mehr Wettbewerb an. Vielleicht werden Sie
sich darüber noch einig, was genau Sie wollen. Dann
fällt es uns leichter, darüber nachzudenken, ob wir das
übernehmen werden.
Die Argumentation der Großkonzerne - das ist der
Anlass für die heutige Aktuelle Stunde -, die erklären
soll, warum die Preise erhöht werden müssen, hinkt
nicht nur, sondern ist schlichtweg falsch. Es wurden
schon viele Punkte genannt. Ich möchte insbesondere
auf die erneuerbaren Energien eingehen. Wir verschweigen nicht, dass das Modell des EEG auf den ersten Blick
Mehrkosten zu verursachen scheint, aber nur, wenn man
nicht die gesamte Rechnung aufmacht. Wenn man über
Energie diskutiert, geht es immer um drei Kostenpunkte.
Der erste Punkt sind die Investitionskosten. Dabei geht
es um die Frage, wie viel ein Kraftwerk kostet. Der
zweite Punkt ist der Brennstoff. Dabei geht es um die
Frage, wie sich diese variablen Kosten in Zukunft entwickeln werden. Der dritte Punkt betrifft die Entsorgung.
Dabei geht es um die Frage, was die Entsorgung der
nach der Energieproduktion anfallenden Reststoffe kostet. Wenn man alle Kostenpunkte berücksichtigt - die
Fachleute sprechen hier von der Internalisierung der externen Kosten -, dann stellt man fest, dass die erneuerbaren Energien in der Gesamtheit keine Mehrkosten verursachen; denn bei den erneuerbaren Energien - bis auf die
Biomasse - fällt der Brennstoff als Kostenfaktor total
weg. Die Sonne, der Wind oder das Meer schicken keine
Rechnung. Zudem entfällt eine Entsorgung bei den erneuerbaren Energien fast ganz, da Reststoffe nach der
Energieproduktion kaum vorhanden sind. Wenn die Gesamtbilanz erstellt würde, dann wäre erkennbar, dass
schon heute die fossilen Energien und die atomaren erst
recht überhaupt nicht rentabel sind. Entsprechend hätten
erneuerbare Energien die Marktreife schon längst erreicht, wenn man überhaupt einen Markt hätte. Diese
wären natürlich gegenüber den fossilen Energien im
Vorteil.
({0})
Von den eingesparten Emissionen - das wäre ein weiterer finanzieller Vorteil der erneuerbaren Energien, wenn
sie im Emissionshandel angemessen berücksichtigt würden - will ich jetzt gar nicht sprechen. Das müssen wir in
Zukunft ausbauen. Lassen Sie uns eines im Blick behalten: Die durch das EEG aktuell verursachten Abgaben
sind Investitionen in die Zukunft. Sie machen die erneuerbaren Energien marktfähig. Sie werden mittel- und
langfristig die Kosten für Energie gerade in unserem
Land auf einem bezahlbaren Niveau halten.
Als ein weiteres Argument für Preiserhöhungen führen die Herren aus den Führungsetagen von Eon etc. die
gestiegenen Rohstoffpreise an. Die meisten Menschen
denken gleich an Öl, wenn es um Rohstoffpreise geht.
Der Ölpreis ist massiv gestiegen. Ich bin 1998 in den
Bundestag gekommen. Damals lag der Barrelpreis bei
10 bis 12 Dollar, jetzt liegt er bei 90 Dollar. Das ist eine
Steigerung von 800 Prozent. Das ist eine irre Steigerung.
Die Preise für Kohle sind praktisch stabil geblieben. Die
Hälfte unseres Stroms wird aber aus Kohle gewonnen.
Wie viel Öl wird denn für die Stromproduktion in unserem Land genutzt? Praktisch nichts. Insofern handelt es
sich hier um eine Rosstäuschung der EVUs.
Denken Sie an mein Bild von den drei Rechnungen.
Die Investitionen für die Kraftwerke in unserem Land
sind längst abgeschrieben. Auch die Entsorgung ist kein
Problem. Diese überlässt man lässig den nächsten Generationen. Also geht es doch nur um den zweiten Posten.
Personal wurde im großen Stil in den letzten Jahren gefeuert, und die Rohstoffe sind billig geblieben. Nach der
Logik der Energieversorger müssten jetzt die Preise sinken, weil die Kosten extrem niedrig sind. Wenn Investitionen in den Bau neuer Kraftwerke getätigt werden,
dann steigen die Kosten der Energieversorger tatsächlich. Doch derzeit werden gerade keine höheren Kosten
weitergereicht, sondern es werden einfach die Gewinne
erhöht.
Die Philosophie der Konzerne ist verständlich: Gewinnmaximierung durch Erhöhung der Preise. Das muss
dann aber auch so gesagt werden. Die Konzerne handeln
zwar illegitim, aber nicht illegal. Sie nutzen nur das System aus. Deswegen ist es unser Job, Rahmenbedingungen zu schaffen, die das nicht mehr ermöglichen.
Die totale sofortige Liberalisierung des Strommarkts
vor ungefähr zwölf Jahren war ein Fehler. Das hat uns
damals die Regierung Kohl eingebrockt, und die Regierung Merkel muss jetzt die Suppe auslöffeln. Hat Herr
Fuchs - er ist, so glaube ich, leider gerade gegangen 12478
gerade die Forderung nach einem AKW-Neubau in Koblenz aufgestellt, oder wie will er die Welt retten?
({1})
- Entschuldigung, Herr Dr. Fuchs, ich sehe Sie erst jetzt. Man wüsste gerne noch mehr über Ihre Ansichten. Insbesondere die Koblenzer wüssten gerne mehr von Ihnen.
Wir sind jetzt langsam da, wo wir schon vor zehn Jahren hätten sein können. Langsam beginnt der Wettbewerb auf dem Strommarkt, auf dem Gasmarkt noch nicht
so richtig. Aber auch dieser wird kommen. Energieversorger, bitte nutzt die Chance und verdient auch mit anderen Produkten Geld! Ich denke an Energieeffizienz.
Das wäre vorausschauende Konzernpolitik. Man kann
nicht nur mit dem Verkauf von Kilowattstunden Geld
verdienen, sondern auch mit dem Verkauf von Energiedienstleistungen, Stichwort „Contracting“.
Kollege Berg, es tut mir leid, weitere Stichworte können Sie jetzt nicht mehr ausführen. Kommen Sie bitte
zum Schluss.
Ich komme zu meinem letzten Satz. Ich bitte um Vergebung.
({0})
Auf geht’s, Freunde, wechseln Sie zum günstigsten
Anbieter, den es gibt! Letztlich schießen sich Eon und
die anderen selbst ins Knie, weil die EU das alles beobachtet.
({1})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Dr. Joachim
Pfeiffer das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Preisveränderungen sind in der Marktwirtschaft eigentlich selbstverständlich, und zwar nach oben und nach unten.
({0})
Aber sie müssen natürlich das Resultat des Wettbewerbs
und fundamentaler Marktdaten sein. Es ist in der Tat die
Frage, ob die Erhöhung des Strompreises um 10 Prozent,
die zum 1. Januar nächsten Jahres angekündigt wurde,
richtig ist.
Ich will das gerne im Einzelnen darlegen. Es ist richtig ausgeführt worden, dass staatlich administrierte Abgaben und Belastungen in der Tat für über 40 Prozent
des Haushaltsstrompreises verantwortlich sind. Daran
ändert sich zum 1. Januar 2008 aber nichts: Weder bei
der Konzessionsabgabe noch bei der Stromsteuer noch
im Bereich der erneuerbaren Energien kommt es zu Veränderungen. Auch auf dem Gebiet des Emissionshandels, wo im nächsten Jahr eine teilentgeltliche Vergabe
und eine Auktionierung beginnen - die Kosten dafür
sind schon eingepreist -, ändert sich nichts. Mit diesen
40 Prozent kann eine Stromerhöhung im nächsten Jahr
also nicht begründet werden.
Ein weiterer wesentlicher Bestandteil der Stromkosten sind die Netznutzungsentgelte. Der Betreiber des
Netzes verfügt über ein natürliches Monopol. Kraft
Definition ist ein solches Monopol durch Marktversagen
gekennzeichnet. Diese Entgelte machen 35 Prozent des
Strompreises aus. Was diesen Wert angeht, hat die Bundesregierung schon jetzt viel getan - sie hat den richtigen Weg beschritten -: Dadurch, dass wir 2005 die
Regulierung eingeführt haben, sind die Netznutzungsentgelte bereits jetzt gleichbleibend, oder sie sind sogar
gesunken. Die Höhe der Netznutzungsentgelte liegt bei
23 Milliarden Euro. Netznutzungsentgelte in Höhe von
2,3 Milliarden Euro wurden im letzten Jahr nicht genehmigt bzw. gekürzt. Von den Netznutzungsentgelten kann
also ebenfalls keine den Preis zum 1. Januar 2008 erhöhende Wirkung ausgehen.
Daraus folgt: 75 Prozent des Strompreises können
nicht herangezogen werden, um eine 10-prozentige
Strompreiserhöhung zu begründen. Wenn 25 Prozent der
Stromkostenbestandteile die Preiserhöhung um 10 Prozent rechtfertigen sollen, dann müssten damit verbundenen Kosten um 40 Prozent gestiegen sein.
({1})
Es lohnt sich ein Blick auf die Details. 30 Prozent der
Stromproduktion in Deutschland erfolgt - wenn es nach
uns geht, bleibt es so - durch die Nutzung von Kernkraft. Diese Energieproduktion ist versorgungssicher
und preiswert. Weniger als 5 Prozent der Kosten für den
Betrieb eines Kernkraftwerks gehen auf die Verwertung
von Uran zurück. Der Uranpreis ist zwar gestiegen, aber
in einer vernachlässigbaren Höhe. Das heißt, diese
30 Prozent sind ebenfalls nicht mit höheren Kosten verbunden. Auch die Braunkohlenpreise - die Nutzung von
Braunkohle macht immerhin 25 Prozent der Stromproduktion aus - sind stabil. So könnte man fortfahren.
Ich komme zu dem Ergebnis: Die Erhöhung der
Strompreise kann in keiner Weise mit gestiegenen Bezugskosten gerechtfertigt werden; schließlich sind die
Kosten für Öl und Gas vernachlässigbar. Was diesen vermeintlichen Wettbewerbsbereich angeht, liegt in der Tat
der Schluss nahe, dass ein Oligopol, das 90 Prozent des
Stroms erzeugt, Marktmissbrauch betreibt. Dieser
Marktmissbrauch muss beendet werden.
({2})
Er wird aber sicher nicht beendet, indem wir den
Marsch in die Planwirtschaft und in die Staatswirtschaft
antreten, aus der wir kommen. Das ist mit Sicherheit der
falsche Weg; die DDR wollen wir nicht zurückhaben.
Wohin dieser Weg dort geführt hat, war offensichtlich.
Auch die vielgelobte staatliche Tarifpreisfestsetzung
wäre absurd. So etwas haben wir gerade abgeschafft.
Das war eine Einladung zur Kostenverursachung und zur
Strompreiserhöhung. Das Ganze hat so funktioniert, dass
die Deckung aller nachgewiesenen, tatsächlich angefallenen Kosten - egal ob sie begründet waren oder nicht genehmigt werden musste. Hinzu kam ein Gewinnaufschlag. Das ist die Politik, die Sie wieder einfordern. Sie
versuchen wirklich, die Leute an der Nase herumzuführen. Würde man diesen Weg gehen, wären die Strompreise und die Kosten weit höher, als dies jetzt der Fall
ist.
Unsere Reaktion, die Reaktion der Union, auf den
bisher noch nicht in ausreichendem Maße funktionierenden Wettbewerb ist nicht, den Wettbewerb wieder abzuschaffen und durch ein staatliches Monopol - durch ein
Monopol der Kommune, des Landes, des Bundes oder
wessen auch immer - zu ersetzen, sondern, den Wettbewerb funktionsfähig zu machen. Ein konkreter weiterer
Schritt dazu ist die zügige Umsetzung der GWBNovelle, wodurch der Marktmissbrauch durch ein Oligopol ab 1. Januar 2008 abgestellt werden kann. Wir würden den entsprechenden Gesetzentwurf gern schon früher verabschieden. Wir alle können nur daran arbeiten,
dass dies zügig geschieht.
({3})
- Natürlich ist es logisch. Wir können es machen.
Auch das Ownership-Unbundling, das hier als Allheilmittel gefordert wird, würde in der Tat nicht morgen
wirken können. Es könnte eine Art Ultima Ratio sein;
aber jetzt muss gehandelt werden. Wir handeln jetzt mit
der GWB-Novelle, wir handeln jetzt mit der Kraftwerksanschlussverordnung, und wir handeln jetzt mit der Umsetzung der Anreizregulierung, die zu weiteren Netznutzungsentgeltsenkungen auf diesem Gebiet eines
natürlichen Monopols führt. Wir wollen auch aus dem
staatlichen Bereich den Bürgern wieder etwas zurückgeben; mithilfe der beim Emissionshandel erzielten Versteigerungserlöse können wir die Stromsteuer senken.
So wird ein Schuh daraus.
Alle können ihren Beitrag leisten. Wir müssen den
Wettbewerb stärken. Der Staat darf die staatlich administrierten Abgaben nicht weiter nach oben treiben, und
beim natürlichen Monopol „Netz“ muss Wettbewerb stimuliert bzw. geschaffen werden.
Kollege Pfeiffer, Sie müssen trotzdem zum Schluss
kommen.
Dann werden wir die Strompreise stabil halten bzw.
senken können. Das ist unser Ziel. Unser Konzept zur
Erreichung dieses Ziels habe ich dargelegt. Ich fordere
Sie auf, uns zu unterstützen und nicht den Leuten Sand
in die Augen zu streuen, etwa mit der Behauptung, dass
wir mit staatlicher Preissetzung hier weiterkommen würden.
({0})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Martin Burkert
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die angekündigten Preissteigerungen bei Eon und RWE von
10 Prozent sind für uns alle, glaube ich, nicht nachvollziehbar. Die Konzerne verschleiern ihre wahren Beweggründe und reden sich damit heraus, höhere Beschaffungskosten, größere Belastungen durch den Staat und
vor allem - das betrifft mich als Umweltpolitiker besonders - die Förderung der erneuerbaren Energien seien an
den Strompreiserhöhungen schuld. Diese Argumentation
ist schlichtweg falsch.
({0})
Übrigens ist auch das Bundeskartellamt sehr verärgert, was die angeführten Begründungen angeht. Als fadenscheinig und nicht nachvollziehbar werden sie heute
von den Wettbewerbshütern beurteilt. Die Sache ist jetzt
in der Prüfung. Es werden sicherlich Vorschläge für
Maßnahmen gegen die unverschämten Preiserhöhungen
auf den Tisch gelegt werden. Dann gilt es, zu handeln.
Dass es sich bei dem, was Eon und RWE vortragen,
um eine Milchmädchenrechnung handelt, will ich beispielhaft an der Förderung der erneuerbaren Energien
aufzeigen:
Nach aktuellen Berechnungen macht die Förderungsumlage nach dem EEG tatsächlich nur einen Bruchteil
der angekündigten Strompreissteigerung und nicht die
Hälfte aus, wie zum Teil behauptet wird. Die Preissteigerung bei Eon ist 15-mal so hoch wie der Anstieg der
EEG-bedingten Kosten. Die erneuerbaren Energien sollen offensichtlich wieder einmal als Sündenbock herhalten.
Die Förderung von erneuerbaren Energien macht für
einen Durchschnittshaushalt in unserem Land nur
0,7 Cent an Mehrkosten pro Kilowattstunde aus. Am
derzeitigen Strompreis von durchschnittlich 22 Cent pro
Kilowattstunde hat die Förderung der erneuerbaren
Energien also nur einen Anteil von 3,3 Prozent.
Im kommenden Jahr wird sich die EEG-Umlage um
etwa 0,1 Cent pro Kilowattstunde erhöhen. Das macht
für den Durchschnittshaushalt in Deutschland dann unter
dem Strich maximal - maximal! - 30 Cent im Monat zusätzlich aus. Die angekündigten Preiserhöhungen bedeuten aber für den Haushalt im Schnitt 5 Euro Mehrkosten
pro Monat. Da geht doch die Rechnung von RWE nicht
auf, wonach 50 Prozent der Anhebung allein auf die gestiegenen Kosten für die Einspeisung erneuerbarer Energien zurückgingen. Die 30 Cent an Mehrkosten, die im
nächsten Jahr dem EEG zuzuschreiben sind, können für
eine 5-Euro-Erhöhung also mit Sicherheit nicht herhalten.
Noch etwas möchte ich in diesem Zusammenhang
klar sagen: Tatsächlich führt das mittlerweile große An12480
gebot von rund 14 Prozent an Strom aus erneuerbaren
Energien sogar zu niedrigeren Großhandelspreisen für
Strom. Im Umweltministerium werden die preisdämpfenden Effekte des Erneuerbare-Energien-Gesetzes auf
5 Milliarden Euro im Jahr beziffert. Berücksichtigt man,
dass erneuerbare Energien Importkosten für fossile
Brennstoffe senken und Umweltschäden vermeiden, betrug der volkswirtschaftliche Nutzen im Jahr 2006 sage
und schreibe etwa 9 Milliarden Euro. Ich wiederhole:
Der volkswirtschaftliche Nutzen im Jahr 2006 betrug
etwa 9 Milliarden Euro. Aufgrund der höheren Einspeisungen von erneuerbaren Energien in diesem Jahr wird
der volkswirtschaftliche Gewinn 2008 sogar zweistellige
Milliardenwerte erreichen; etwa 10,7 Milliarden Euro
werden prognostiziert. Aber die Versorger haben diese
enormen Einsparungen bisher nicht an die Verbraucher
weitergegeben. Die Strompreise wurden nicht gesenkt.
Das Gegenteil ist der Fall.
In diesem Zusammenhang möchte ich die Erfolge des
Erneuerbare-Energien-Gesetzes noch einmal betonen.
Schließlich hat es den entscheidenden Beitrag dazu geleistet, dass wir in Deutschland unsere bis 2010 geplanten Ausbauziele bereits in diesem Jahr erreichen und
Ende 2007 mit mehr als 14 Prozent Anteil an erneuerbaren Energien das Ziel bereits übertreffen werden. Deshalb müssen wir an eine Novellierung des Gesetzes vorsichtig und sorgfältig herangehen. Wir dürfen dieses
erfolgreiche Gesetz nicht beschädigen, sondern müssen
es zukunftsfähig ausbauen.
({1})
Den kleinen Anteil des EEG am Strompreis, derzeit
weniger als 4 Prozent, halte ich hinsichtlich der zentralen Rolle der erneuerbaren Energien beim Kampf gegen
den Klimawandel für angemessen. Ich kann nur an die
Verbraucher appellieren, die Preise zu vergleichen und
gegebenenfalls den Anbieter zu wechseln. Diejenigen,
die sich nach einem neuen Anbieter umschauen, sollten
dabei die Gelegenheit nutzen, auf klimafreundlich erzeugten Strom umzusteigen. Wer seinen Strom von einem Ökostrom-Anbieter bezieht, handelt nicht nur umwelt-, sondern auch kostenbewusst; denn häufig sind die
heutigen alternativen Stromangebote nicht einmal teurer
als konventionell erzeugter Strom.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Julia Klöckner für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich darf als letzte Rednerin in dieser Runde jetzt das
nachholen, was heute bisher nicht zur Sprache kam,
nämlich das Lob für die Bundesregierung.
({0})
Ich kann Ihnen das Lob für unseren Bundeswirtschaftsminister Michael Glos auch begründen. Er hat nämlich auch
den Mittelstand und die Verbraucherinnen und Verbraucher im Blick, während es bei der Linksfraktion ja nur die
bösen Großkonzerne und die armen, machtlosen Verbraucher gibt. Ich möchte erwähnen, dass das Haus von Herrn
Glos den Verbraucherzentralen 7,1 Millionen Euro für
eine effektive Energieberatung zur Verfügung stellt.
({1})
Mein zweiter Hinweis betrifft den Verbraucherschutz.
Frau Heinen vom Verbraucherschutzministerium ist anwesend. Die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung haben zusammen eines erwirkt: Sie haben das
nachgebessert, was Frau Künast versäumt hat. Bei ihr
wäre 2007 der wirtschaftliche Verbraucherschutz ausgelaufen.
({2})
- Das ist Ihnen neu? - Das zeigt mal wieder, dass Sie
nicht richtig im Thema sind.
({3})
Wir werden den wirtschaftlichen Verbraucherschutz bei
den Verbraucherzentralen auch im kommenden Jahr mit
2,5 Millionen Euro mitfinanzieren.
({4})
Die Verbraucherzentralen sind bei den Menschen. Die
Menschen brauchen keine Diskussion auf hoher Ebene,
sondern eine Beratung unmittelbar vor Ort. Deshalb sind
wir für einen aktiven Verbraucherschutz.
Natürlich ist der Wechsel von einem Stromanbieter
zum anderen emotional und mental nicht so ganz einfach,
({5})
wenngleich der Wechsel des Stromanbieters einfacher ist
als der Wechsel des Mobilfunkanbieters. Wir haben aber
festgestellt, dass nach dem Aufruf durch die Verbraucherzentralen der Länder und des Bundes mittlerweile
schon 1,4 Millionen Haushalte den Anbieter gewechselt
haben, wenngleich man natürlich auch einräumen muss,
dass der Verbraucher machtlos ist, wenn alle marktbeherrschenden Anbieter gleichzeitig die Preise erhöhen.
Der Weg, den die Bundesregierung jetzt geht, ist richtig. Die Beweislast wird umgekehrt, und in Zukunft wird
man Preiserhöhungen wirklich begründen müssen. Diese
Regelung wird sofort greifen, und wir werden nicht erst
den langen Klageweg abwarten müssen.
({6})
Sie wird sofort greifen, auch wenn es die Linksfraktion
nicht kapiert und nicht glaubt. Das tut mir leid für Sie,
aber wir machen es halt.
({7})
Bei allem, was ich immer wieder von der Linksfraktion höre, habe ich den Eindruck, dass Ihnen die kommunalen Gegebenheiten nicht klar sind. Sie sagen immer
- auch in Interviews -, dass wir den Hartz-IV-Satz anheben müssen, weil die Energiekosten so stark gestiegen
sind. Es sind aber die Kommunen, die diese höheren
Kosten tragen müssen. Letztlich sind diejenigen gekniffen, die jeden Tag zur Arbeit gehen und deren Verdienst
über dem Hartz-IV-Satz liegt, weil sie doppelt zahlen:
zum einen die Steuerabgaben und zum anderen die höheren Preise. Es ist wichtig, das einmal zur Kenntnis zu
nehmen.
({8})
Wir müssen nach vorne schauen und uns fragen, was
wir unmittelbar tun können. Wir müssen Anreize schaffen, dass der Wettbewerb bei energiesparenden Geräten
auf den Weg gebracht wird.
({9})
Letztlich machen Waschmaschinen - Sie kennen sich
damit wahrscheinlich nicht aus, Herr Kollege -, Spülmaschinen und Kühlschränke 20 Prozent des gesamten
Energiebedarfs eines Durchschnittshaushaltes aus.
Energiekennzeichnung ist eine ganz wichtige Forderung von uns. Außerdem ist Transparenz wichtig. Denn
der Verbraucher soll einen Teil seines Energieverbrauchs
selber in der Hand haben. Uns geht es auch darum, Energieverluste zu minimieren. Es ist sehr ärgerlich, dass es
in Haushalten nach wie vor energiefressende Elektrogeräte gibt, deren Stand-by-Betrieb man nicht ausschalten
kann. Energiekennzeichnung und der Wettbewerb bei
der Energieeffizienz sind für uns also entscheidende
Punkte.
Zum Abschluss möchte ich das aufgreifen, was mein
Kollege Michael Fuchs zur Kernenergie vorhin gesagt
hat. Wir sollen die Quadratur des Kreises schaffen. Zum
einen wollen wir Energieeffizienz, und zum anderen soll
die Energiesicherheit gewährleistet sein. Außerdem soll
die Energie bezahlbar und gleichzeitig umweltverträglich sein.
({10})
Wenn man aufgrund mangelnder Umweltverträglichkeit Kohlekraftwerke und Atomkraftwerke abschalten
will, dann weiß ich nicht, wie man es schaffen kann,
abends nicht nur bei Kerzenlicht zu sitzen.
({11})
Dieser Herausforderung müssen wir uns stellen. Wettbewerb ist unserer Meinung nach der beste Verbraucherschutz.
({12})
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich bitte die Kollegen - insbesondere die Kollegen
der FDP -, die nicht an der folgenden Debatte teilnehmen wollen, die Gespräche draußen weiterzuführen, damit ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufen
kann.
({0})
- Kollege Niebel, Sie haben eine solch durchdringende
Stimme, dass ich Sie auch noch dann verstehe, wenn ich
rede.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 2 a und 2 b
auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes
zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze
- Drucksache 16/6741 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Dr. Gesine Lötzsch, Kornelia
Möller, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit zur
Vermeidung von Langzeitarbeitslosigkeit, für
mehr Qualifizierung und eine längere Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes verwenden
- Drucksache 16/6035 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren!
Der Abbau der Arbeitslosigkeit ist zentrale Verpflichtung unserer Regierungspolitik. Wir wollen
mehr Menschen die Chance auf Arbeit geben. Arbeit bedeutet nicht nur Sicherung des Lebensunterhalts, sondern ermöglicht Teilhabe und Teilnahme
am sozialen Leben. Wenn wieder mehr Menschen
Arbeit haben, verbessert dies auch die Lage der Finanz- und Sozialsysteme unseres Landes.
({0})
So haben wir es im Koalitionsvertrag vereinbart und
versprochen. Wir halten Wort. Das zeigt der Regierungsentwurf des Sechsten Gesetzes zur Änderung des Dritten
Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze, den wir
jetzt zu beraten haben, exemplarisch und deutlich.
Wir haben erreicht, dass mehr Menschen die Chance
auf Arbeit bekommen. Schon in der Regierungszeit von
Bundeskanzler Gerhard Schröder haben wir dafür das
Fundament gelegt. Die Lage am Arbeitsmarkt ist derzeit
so gut wie seit zwölf Jahren nicht mehr. Die Arbeitslosenzahl liegt nur knapp über 3,5 Millionen. Rund
1 Million Menschen weniger als vor zwei Jahren sind arbeitslos. Die Zahl der Beschäftigten ist auf Rekordniveau. Wir sind dabei, die Marke von 40 Millionen zu
knacken.
Das ist ein großer Erfolg und bestätigt die Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung. Die Reform der Bundesagentur greift, und der passgenaue Einsatz der arbeitsmarktpolitischen Instrumente zeigt Wirkung. Arbeit
und Teilhabechancen schaffen, das Wachstum stärken das ist der Weg, auf dem wir weitergehen; das haben wir
in Meseberg noch einmal bekräftigt. Das heißt auch: Wir
setzen die notwendigen Verbesserungen und Veränderungen, die uns auf diesem Weg weiterführen, ins Werk.
Wir können schon jetzt, an den Koalitionsvertrag anknüpfend, feststellen: Die Lage der Finanz- und der Sozialsysteme hat sich spürbar verbessert. So steigen die
Beitragseinnahmen der Bundesagentur für Arbeit, die
Ausgaben dagegen sinken. Der Haushalt der Bundesagentur konnte im letzten und in diesem Jahr Überschüsse erzielen. 2006 hat die Bundesagentur mit einem
Finanzierungsüberschuss von rund 11,2 Milliarden Euro
abgeschlossen. In den ersten acht Monaten dieses Jahres
hat die BA einen Überschuss in Höhe von etwa 2,5 Milliarden Euro erzielt. Bis zum Jahresende könnten es nach
Einschätzung der BA 6 oder 6,5 Milliarden Euro werden.
Vor diesem Hintergrund ist es selbstverständlich, dass
wir den Beitragssatz so weit wie möglich senken; ich betone: so weit wie möglich. Wir haben den Beitragssatz
schon zum 1. Januar 2007 um 2,3 Prozentpunkte gesenkt. Die Bundesregierung schlägt in dem vorliegenden
Gesetzentwurf vor, den Beitragssatz um weitere
0,3 Prozentpunkte auf dann 3,9 Prozent zu senken - beides in einem Jahr. Damit erreichen wir einen Beitragssatz wie zuletzt Anfang der 80er-Jahre; zur Erinnerung:
Da war Helmut Schmidt noch Bundeskanzler.
So wie es im Moment aussieht, ist sogar ein Satz von
3,5 Prozent erreichbar; die Koalitionsparteien haben sich
dazu in den vergangenen Tagen geäußert. Zu Beginn des
letzten Jahres lag der Beitrag bei 6,5 Prozent. Nun peilen
wir 3,5 Prozent an. Das alles zusammen bringt den Beitragszahlern eine Entlastung um 21 Milliarden Euro.
({1})
Weil kein Gesetzentwurf so aus dem parlamentarischen
Verfahren herauskommt, wie er eingebracht worden ist,
kann uns dies auch zeitnah gelingen.
Klar ist: Augenmaß, Verlässlichkeit und Nachhaltigkeit sind unsere Maximen. Die Bundesagentur muss
auch in den nächsten vier Jahren ohne zusätzliches Geld
aus dem Bundeshaushalt - das heißt, sie darf nicht mehr
erhalten als die Einnahmen, die sich aus der Mehrwertsteuererhöhung um 1 Prozentpunkt ergeben, der für die
Beitragssenkung vorgesehen war - und auch ohne Erhöhung der Beiträge auskommen können.
Wir wollen keinen Sturm im Wasserglas, sondern Rückenwind für den Arbeitsmarkt. Darum entlasten wir die
Beitragszahler, senken die Lohnnebenkosten und schaffen so Anreize für mehr sozialversicherungspflichtige
Beschäftigung in Deutschland. Ich warne alle diejenigen, die den Wettlauf um den niedrigsten Beitragssatz
immer weiter treiben wollen, um Stimmung zu machen
und Stimmen zu angeln.
({2})
Wenn wir den Beitrag jetzt, in einem konjunkturellen
Hoch, zu stark senken und dann in einer konjunkturellen
Schwächephase wieder anheben müssen, ist das kontraproduktiv. Dies streut den Menschen Sand in die Augen
und kostet Arbeitsplätze.
({3})
Eine nachhaltige und solide Finanzierung - das ist der
Weg für die Zukunft der Bundesagentur für Arbeit. Darum richten wir dort einen Versorgungsfonds ein, aus
dem die notwendigen Versorgungsleistungen der BA bestritten werden können. Bislang werden diese Versorgungsausgaben aus dem laufenden BA-Haushalt bezahlt.
Das hat die Konsequenz, dass die Pensionen der jetzt tätigen Beamten und der jetzigen Pensionäre den zukünftigen Beitragszahlern aufgelastet werden. Wir wollen hier
eine bessere und generationengerechte Lastenverteilung
schaffen. Gleichzeitig sichern wir durch die Bildung dieses Fonds die eigenständige Handlungsfähigkeit der BA.
Sollte sich die Konjunktur einmal abschwächen, kann
die BA die Versorgungsleistung auch ohne ein zinsloses
Darlehen des Bundes auf Kosten der Steuerzahler tragen.
Darüber hinaus will ich darauf hinweisen, dass wir
über ein Maßnahmenbündel zur Unterstützung von Menschen im Niedriglohnbereich beraten. Dieses Maßnahmenbündel kann finanzielle Auswirkungen auf den
Haushalt der BA haben. Auch dafür muss vorgesorgt
werden.
Trotz der erfreulichen Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt und obwohl wir die vorhandenen Spielräume nutzen, bleibt ein Problem erkennbar: Zwischen der Finanzentwicklung bei der Bundesagentur und den finanziellen
Belastungen durch die Leistungen der Grundsicherung
für Arbeitsuchende besteht ein deutliches Ungleichgewicht. Die Lastenverteilung zwischen dem Bund und der
Bundesagentur ist nicht ausbalanciert. An dieser Stelle
steuern wir nach, indem wir die Finanzverantwortung
zwischen Bund und Bundesagentur an der Schnittstelle
zwischen Arbeitsförderung und Grundsicherung für Arbeitsuchende neu regeln.
Wir führen einen Eingliederungsbeitrag ein, mit dem
die Bundesagentur an den Aufwendungen für Eingliederungsleistungen und den Verwaltungskosten, die im
Zusammenhang mit der Grundsicherung für Arbeitsuchende entstehen, zur Hälfte beteiligt wird. Im Gegenzug schaffen wir den Aussteuerungsbetrag ab. Die Bundesagentur wird also zugunsten der Langzeitarbeitslosen
stärker in die Pflicht genommen. Außerdem kann der
Haushalt des Bundes so um rund 3 Milliarden Euro jährlich entlastet werden.
Die Bundesagentur hat den gesetzlichen Auftrag zur
beruflichen Eingliederung von Arbeitslosen. Dieser Auftrag bezieht sich auf alle Arbeitslosen. Daran knüpfen
wir an; denn selbstverständlich haben auch Langzeitarbeitslose einen Anspruch auf aktive Arbeitsförderung.
All diese Punkte zeigen: Wir sind auf unserem Weg
schon ein ganzes Stück vorangekommen.
({4})
Mit unserer Arbeitsmarktpolitik - das gilt sowohl für die
aktiven als auch für die passiven Leistungen - haben wir
deutliche Erfolge erzielt. Wir sanieren die sozialen
Sicherungssysteme im Zuge dieses Aufschwungs. Wir
werden diesen Weg weitergehen und die Richtung halten: Chancen auf dem Arbeitsmarkt schaffen, die Sozialsysteme nachhaltig finanzieren und die Menschen am
Aufschwung beteiligen. Gehen Sie mit uns diesen Weg!
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Heinz-Peter Haustein für
die FDP-Fraktion.
({0})
Werte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Es ist Herbst. Die Bauern haben die Felder
abgeerntet. Überall in Deutschland werden Erntedankfeste gefeiert.
({0})
Die Kirchen sind festlich geschmückt, und die prallen
Feldfrüchte können sich sehen lassen; sie sind Symbol
für ein gutes Jahr. Die Felder sind vollständig abgeerntet.
Kein Bauer käme auf den Gedanken, Getreide stehen zu
lassen oder die Kartoffeln in der Erde verfaulen zu lassen. Das hätte auch keinen Sinn. Der Ertrag seiner Arbeit
würde ungenutzt verderben.
({1})
Der Bauer nutzt alle Chancen. Das ist natürlich; denn
das dadurch entstehende Kapital kann er im nächsten
Jahr verwenden.
({2})
Das war auch ein gutes Jahr für den Arbeitsmarkt:
Die Zahl der Arbeitslosen ist zurückgegangen, es gibt
mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse,
({3})
und es fließt endlich mehr Geld in die Sozialkassen.
({4})
Die boomende Weltkonjunktur und der Aufschwung haben nun endlich auch Deutschland erreicht, zwar nicht
wegen, sondern trotz dieser Regierung.
({5})
Aber das Ergebnis ist erfreulich.
({6})
Wir haben gute Chancen, das Land grundlegend zu
reformieren. Wir müssen alles tun, damit jetzt mehr Arbeitsplätze entstehen; denn die Abkühlung der Weltkonjunktur zeichnet sich schon ab. Der Sachverständigenrat
hat seine Wachstumsprognose für das nächste Jahr nach
unten korrigiert.
Weil infolge der guten Konjunkturlage unerwartete
Überschüsse bei der BA auflaufen, möchte die Regierung
die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung von 4,2 auf
3,9 Prozent senken.
({7})
Wie so oft bei der Regierung, ist das aber nur halbherzig,
mutlos und ohne Visionen.
({8})
Das Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler
hat in einer aktuellen Studie vorgerechnet: Wenn wir alle
Spielräume nutzen, können wir den Beitrag weiter absenken. Der Bauer macht es uns vor. Er nutzt alle seine
Chancen, um im nächsten Frühjahr bessere Chancen zu
haben. Es kann hier nur eine Antwort geben: Die Überschüsse gehören dem Beitragszahler und müssen jetzt
zurückgegeben werden.
({9})
Das heißt, Herr Andres, wir müssen die Versicherungsbeiträge so weit wie irgend möglich senken.
Mit dem Vorschlag der Regierung kann das aber nicht
gelingen. Denn ein anderer Mangel kommt hinzu: Die
BA sammelt über 54 Milliarden Euro von den Beitragszahlern ein. Das ist das Fünffache des Haushalts für Bildung und Forschung. Anstatt jedoch mit diesen riesigen
Summen wichtige Aufgaben wahrzunehmen und den
Beitrag zu senken, machen wir eines: Wir finanzieren
versicherungsfremde Leistungen, also Aufgaben, die
dem Staat im Allgemeinen zufallen und mit der Einnahmequelle nichts zu tun haben. An diesem grundlegenden
Fehler ändert sich nichts, egal ob Sie das jetzt Eingliederungsbeitrag oder Ausgliederungsbeitrag nennen.
({10})
Niedrigere Lohnnebenkosten sind nicht alles. Der
Bürokratieabbau und ein einfacheres, niedrigeres und
gerechteres Steuersystem gehören dazu. Wenn wir die
Lohnnebenkosten senken, stärken wir die Unternehmen.
Sie können mehr Arbeitsplätze schaffen, was wiederum
zu mehr Steuereinnahmen führt.
({11})
Diese Mittel müssen wir für unsere Kinder, für die Bildung, für die Forschung, für Investitionen in die Zukunft
verwenden.
Die FDP fordert erstens: Die abbaubaren versicherungsfremden Leistungen, die immerhin 8,2 Milliarden
Euro betragen, dürfen den Beitragszahlern nicht länger
aufgebürdet werden.
({12})
Zweitens. Die Arbeitsmarktinstrumente müssen endlich entsprechend ihrer Effektivität und Effizienz gebündelt werden.
({13})
Dass wir Geld für bekanntermaßen unwirksame Instrumente ausgeben, ist nicht hinnehmbar.
Drittens. Der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung
muss auf mindestens 3,5 Prozent gesenkt werden.
({14})
Ich würde mir mehr Mut wünschen. Ich sage: Strebt
3 Prozent als Ziel und Vision an.
({15})
Ich denke bei diesem Vorschlag an das Mädchen, das
über das Feld läuft, den Apfelbaum nicht schüttelt, die
Brote nicht aus dem Ofen zieht und so ihre Chancen
nicht nutzt. Das ist die Pechmarie. Machen Sie es nicht
wie im Märchen bei Frau Holle. Nutzen Sie alle Chancen!
In diesem Sinne ein herzliches Glückauf aus dem Erzgebirge.
({16})
Das Wort hat der Kollege Stefan Müller für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich will gleich zum Kollegen Haustein aus dem Erzgebirge etwas sagen.
({0})
Ganz offensichtlich ist eines: Die Kollegen von der
FDP haben die Studie des Bundes der Steuerzahler, die
schon zitiert worden ist, offensichtlich sehr aufmerksam
gelesen.
({1})
Sie haben sie so aufmerksam gelesen, dass sie den Inhalt
gleich abgeschrieben und daraus einen Antrag gemacht
haben.
({2})
Über diesen haben wir, glaube ich, schon in erster Lesung diskutiert. Ganz nebenbei gesagt: Ich meine nicht,
dass alles, was darin steht, falsch ist. Aber ich stelle fest,
dass Sie die Studie sehr aufmerksam gelesen haben, was
ich grundsätzlich begrüße. Information schadet ja prinzipiell nie.
Wir setzen mit dem vorliegenden SGB-III-Änderungsgesetz den konsequenten Kurs der Großen Koalition fort, die Lohnzusatzkosten nachhaltig zu senken.
Jahrelang ist über diesen Kurs nur geredet worden. Die
Große Koalition redet nicht nur, sondern jetzt folgen den
vielen Worten auch endlich Taten.
({3})
Wir beabsichtigen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf eine weitere Senkung des Beitrages zur Arbeitslosenversicherung. Ich darf Sie an Folgendes erinnern: Wir
haben ihn bereits von 6,5 Prozent auf aktuell 4,2 Prozent
gesenkt. Die Bundesregierung schlägt in diesem Gesetzentwurf vor, ihn auf 3,9 Prozent abzusenken. Es ist politisch schon verabredet, Herr Kollege Haustein, dass wir
diesen Beitrag auf 3,5 Prozent senken. Das wissen Sie.
({4})
Wir brauchen - das habe ich Ihnen in der letzten Debatte schon zugerufen - Ihre Nachhilfe nicht. Es ist natürlich sehr geschickt, dann, wenn etwas von den Regierungsfraktionen politisch schon verabredet worden ist, in
einem Antrag das Gleiche zu fordern. Wie gesagt: Ihre
Nachhilfe brauchen wir nicht. Ich weise darauf hin, dass
3,5 Prozent den niedrigsten Arbeitslosenversicherungsbeitrag seit 20 Jahren bedeuten. Herr Kollege Dr. Kolb,
weil Sie es immer wieder einmal kritisieren: Wir kommen damit unserem Ziel näher, die Sozialabgabenquote
auf unter 40 Prozent zu senken.
({5})
Kollege Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte sehr.
Frau Präsidentin, die Zwischenfrage war nicht bestellt. - Herr Kollege Müller, Sie senken den Arbeitslosenversicherungsbeitrag jetzt um 0,3 Prozentpunkte ab,
heben aber gleichzeitig den Pflegeversicherungsbeitrag
- das ist beschlossene Sache - um 0,25 Prozentpunkte
an. Würden Sie mir zustimmen, dass dies allenfalls ein
Trippelschrittchen hin zu Ihrem Ziel ist und wir nach wie
vor von dem im Koalitionsvertrag festgeschriebenen
Ziel deutlich entfernt sind, dass der Gesamtsozialversicherungsbeitrag dauerhaft unter 40 Prozent liegen soll,
und zwar auch dann, wenn man den Zusatzbeitrag zur
Krankenversicherung in Höhe von 0,9 Prozentpunkten
berücksichtigt?
Herr Kollege Dr. Kolb, ich bin über Ihre Zwischenfrage ganz erstaunt; ich hätte sie so nicht erwartet. Gott
sei Dank habe ich mir aber im Vorfeld einige Zahlen herausgesucht. Damit komme ich auch auf den Kollegen
Haustein zu sprechen. Adam Riese hat im Erzgebirge
gelebt; er ist übrigens in Franken geboren. Aber das nur
nebenbei.
Herr Dr. Kolb, vielleicht können wir dies einmal gemeinsam zusammenrechnen. Wenn wir zu dem auf
3,5 Prozent abgesenkten Beitrag in der Arbeitslosenversicherung die Rentenversicherung mit 19,9 Prozent, die
Pflegeversicherung mit 1,95 Prozent - die 0,25 Prozent,
die ebenfalls politisch verabredet waren, sind da also
schon eingepreist - und einen durchschnittlichen Beitragssatz zur Krankenversicherung von 15,1 Prozent addieren, dann komme ich auf 40,45 Prozent.
({0})
Wenn ich jetzt 40,45 Prozent mit den Beiträgen noch im
Jahr 2006 vergleiche - 6,5 Prozent Arbeitslosenversicherung, 19,5 Prozent Rentenversicherung, 1,7 Prozent
Pflegeversicherung und 14,25 Prozent bei der Krankenversicherung, zusammen also 41,95 Prozent -, dann sind
nach meinem Verständnis - Adam Riese würde mir recht
geben - 41,95 Prozent mehr als 40,45 Prozent.
({1})
Sie müssten mir also erst einmal erklären, warum die
von mir geschilderte Senkung eine Erhöhung sein soll.
Das habe ich nicht ganz verstanden.
Das darf Ihnen der Kollege Kolb jetzt nicht erklären.
Aber er darf Ihnen, wenn Sie es ihm gestatten, eine
zweite Zwischenfrage stellen.
Herr Kollege Dr. Kolb, ich schlage vor, dass wir uns
auf einen Kaffee treffen und dort unsere Zahlen vergleichen. Mal sehen, was Sie dann vorzuweisen haben.
({0})
- Dr. Ramsauer bietet an, dazuzukommen.
({1})
- Herr Dr. Kolb muss zahlen; das ist ein guter Vorschlag.
Auf diese Einladung, Herr Dr. Kolb, werde ich gern zurückkommen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, mit dieser
Beitragssatzsenkung entlasten wir die Beitragszahler um
insgesamt 23 Milliarden Euro. Die jährliche Entlastung
der Beitragszahler entspricht 23 Milliarden Euro. Dies
bedeutet einerseits für Arbeitnehmer, dass sie endlich
wieder mehr netto vom Brutto haben. Unser Problem ist
doch, dass das, was oben auf den Lohn- und Gehaltszetteln steht, erheblich von dem abweicht, was unten netto
steht, und die Differenz einfach so groß ist, dass das, was
letztlich herauskommt, zu wenig ist. Mit den Maßnahmen, die wir hier vereinbaren und beschließen, sorgen
wir dafür, dass der Aufschwung endlich auch bei den
Menschen ankommt.
({2})
Andererseits bedeutet dies für die Arbeitgeberseite,
dass wir die Lohnzusatzkosten weiter senken. Dies bedeutet mehr Wettbewerbsfähigkeit und weniger Einstellungshemmnisse. Nach einer Umfrage des DIHK unter
20 000 Unternehmen sind eines der größten Anstellungshemmnisse in der Tat die zu hohen Lohnzusatzkosten. Zwei Drittel der befragten Unternehmen würden
mehr Geringqualifizierte einstellen, wenn die Lohnzusatzkosten gesenkt werden könnten. Deswegen leisten
wir einen maßgeblichen Beitrag dazu, dass der Aufschwung endlich auch bei jenen ankommt, die bislang
noch nicht von ihm profitiert haben, und dass endlich
Impulse gegeben werden, damit auch Langzeitarbeitslose wieder eingestellt werden können.
Bei dieser Beitragssatzsenkung nutzen wir alle Spielräume, die sich in den letzten Jahren ergeben haben.
Grund dafür ist die positive Finanzentwicklung bei der
Bundesagentur für Arbeit. Ich erinnere daran, dass sie im
Jahr 2006 einen Überschuss von 7,5 Milliarden Euro erzielt hatte. Seinerzeit war davon ausgegangen worden,
dass die BA im Jahr 2007 aus dieser Rücklage etwas entnehmen müsse. Heute wissen wir, dass sie diese Rücklagen nicht anzugreifen braucht, sondern sogar einen weiteren Überschuss erwirtschaftet, obwohl wir den Beitrag
schon abgesenkt haben. Das spiegelt auch die positive
Entwicklung am Arbeitsmarkt wider. Das heißt, der
Aufschwung wirkt sich auf die Beschäftigung aus. Er resultiert daraus, dass weniger Arbeitslose, weniger Ausgaben, mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse und demzufolge mehr Einnahmen zu
verzeichnen sind.
Es findet ein Wettbewerb darum statt, wer für diesen
Aufschwung verantwortlich ist. Ohne Zweifel sind es
Stefan Müller ({3})
die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber. Ohne Zweifel ist
es auch die Politik der Großen Koalition; wir haben
maßgeblich dazu beigetragen, dass diese Entwicklung so
hat stattfinden können. Heute möchte ich aber noch eine
weitere Gruppe erwähnen, die auch einen Beitrag dazu
geleistet hat, dass sich der Arbeitsmarkt so positiv hat
entwickeln können, wie er es getan hat. Das ist letztlich
auch ein Erfolg der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der
Bundesagentur für Arbeit, die es in den vergangenen
Jahren geschafft haben, aus einer erstarrten Behörde einen modernen Dienstleister am Arbeitsmarkt zu machen.
Dafür möchte ich ihnen an dieser Stelle meinen herzlichen Dank sagen.
({4})
Das wird im Übrigen auch durch die Ergebnisse der
Kundenbefragungen, die regelmäßig durchgeführt werden, belegt. Die Gesamtzufriedenheit der 114 000 Kunden, die in den letzten zwei Jahren befragt wurden, hat
sich stetig erhöht. Auch die Kunden nehmen deutliche
Verbesserungen des Angebots der BA wahr; das bestätigen sowohl Arbeitsuchende als auch Arbeitgeber. Insofern kann ich an dieser Stelle nur sagen: Die Reformen
der vergangenen Jahre waren richtig. Wir wollen diese
Reformen fortsetzen, und wir werden selbstverständlich
auch die Bundesagentur für Arbeit mit aller Kraft unterstützen.
Ich möchte noch auf einen Punkt eingehen, der im
vorliegenden Gesetzentwurf zu finden ist. Die Bundesagentur für Arbeit wird zur Finanzierung der Pensionen
der Beamten, die heute noch bei ihr beschäftigt sind, einen Versorgungsfonds schaffen. Wie Sie wissen, müssen
diese Pensionen nach dem heutigen System aus den laufenden Beitragseinnahmen finanziert werden.
Künftig werden die Pensionen der BA-Beamten aus
diesem Versorgungsfonds finanziert. Dafür werden aus
der Rücklage bzw. aus den Überschüssen des vergangenen Jahres Mittel entnommen, es wird monatliche Zuweisungen an aktive Beamte geben, und es wird ein bestimmter Betrag aus dem beim Bund vorhandenen
Versorgungsfonds entnommen. Das bedeutet, dass künftige Beitragszahler mit diesen Pensionsverpflichtungen
nicht mehr belastet werden, wie es heute noch der Fall
ist.
Das ist ein wesentlicher Beitrag zu mehr Generationengerechtigkeit, weil wir dadurch letztendlich die Beitragszahler von morgen entlasten. Deswegen unterstützen wir diesen Weg ausdrücklich.
({5})
Nicht nur wir unterstützen ihn, sondern auch die Selbstverwaltungen. Insofern, denke ich, können sich dem
auch die Oppositionsfraktionen weitgehend anschließen.
Es liegt auch ein Antrag der Fraktion Die Linke vor;
auch dazu möchte ich gerne etwas Unfreundliches sagen.
({6})
Allerdings ist darin nicht sehr viel zu finden. Ihr Antrag
enthält insgesamt nicht gerade viel Neues. Es ist letztendlich immer das Gleiche.
({7})
Warum wir Ihren Antrag heute und nicht morgen behandeln - denn morgen befassen wir uns mit einem Sammelsurium verschiedener Anträge von Ihnen -, ist mir
übrigens ein Rätsel.
({8})
Dass Sie weitere Senkungen des Beitragssatzes ablehnen,
({9})
hat etwas damit zu tun, dass Sie diesen Kurs nicht unterstützen und dass Sie keinen Zusammenhang zwischen
Einstellungshemmnissen und zu hohen Lohnnebenkosten sehen.
({10})
Ich möchte behaupten: Selbst ich werde Sie in der heutigen Debatte nicht vom Gegenteil überzeugen können.
In einem Absatz Ihres Antrags schreiben Sie:
Weitere Beitragssatzsenkungen würden zu weiteren
Einschränkungen bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik führen.
({11})
Das ist falsch;
({12})
ich weiß nicht, ob Sie das wissen. Ein Blick in den Haushalt der Bundesagentur würde allerdings auch bei Ihnen
für eine gewisse Erleuchtung sorgen. Obwohl wir verabredet haben, den Beitragssatz auf 3,5 Prozent zu senken,
bleibt der Ansatz für die aktive Arbeitsmarktpolitik
gleich. Insofern führt diese Senkung des Beitragssatzes,
die wir vornehmen werden, zu keinen Einschränkungen.
Der gleiche Ansatz bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik
bei weniger Arbeitslosen bedeutet unterm Strich, dass
gerade für die Personengruppe, die bisher noch nicht
profitiert hat, mehr Geld zur Verfügung steht.
({13})
Es ist zumindest konsequent, dass Sie diesen Schritt ablehnen; allerdings ist das falsch. Deswegen sage ich
noch einmal: Die Entwicklung am Arbeitsmarkt gibt uns
recht. Alle sind aufgerufen, sich weiterhin mit aller Kraft
dafür einzusetzen, dass noch mehr Menschen in Beschäftigung kommen.
({14})
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Dr. Kolb
von der FDP-Fraktion das Wort.
Schönen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege
Müller, die Einladung zu einem Mittagessen oder zu einem Stück Torte
({0})
nehme ich natürlich gerne an. Ich bin auch bereit, die
Rechnung zu übernehmen, wenn Sie meinen nachfolgenden Erläuterungen zuhören und ihnen in Ihrer kurzen
Replik vielleicht auch zustimmen.
Sie haben hier vor den Augen und Ohren des Plenums
eingeräumt, dass der Gesamtversicherungsbeitrag derzeit bei 40,45 Prozent steht. Nach Adam Riese sind das
mehr als 40 Prozent. Sie müssen uns nachsehen, Herr
Kollege Müller, dass wir nicht nur die Veröffentlichungen des Bundes der Steuerzahler aufmerksam lesen, sondern auch die Veröffentlichungen der Bundesregierung.
Dazu gehört die Koalitionsvereinbarung, in der steht,
dass der Beitrag dauerhaft auf unter 40 Prozent gesenkt
werden soll. 40,45 Prozent sind mehr als 40 Prozent.
Deshalb meine Frage: Wie wollen Sie das Ziel, dauerhaft
unter 40 Prozent zu kommen - sie nicht nur anzukratzen -,
erreichen?
Sehen Sie uns bitte auch nach, dass wir noch auf Folgendes hinweisen: Wir kennen aus der Vergangenheit
- das haben wir damals gemeinsam kritisiert - den
„Ökosteuerbetrug“, wie ich ihn einmal nennen will. RotGrün hat mit der Begründung, dass dafür der Rentenversicherungsbeitrag gesenkt werden sollte, die Ökosteuer
eingeführt. Das Ergebnis: Die Ökosteuer war im Lande;
doch der Rentenversicherungsbeitrag ist trotzdem weiter
angestiegen. Die Absenkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrages haben Sie damit erkauft, dass die Mehrwertsteuer um insgesamt 3 Prozentpunkte angestiegen
ist.
({1})
Sie haben gesagt, die Absenkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrages um 0,3 Prozentpunkte bringt 21 Milliarden Euro. Doch allein die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte entspricht 24 Milliarden
Euro. Sie müssen uns also schon nachsehen, dass wir
hartnäckig an Ihren Fersen bleiben.
Wir freuen uns sehr - deswegen hat ja der Kollege
Haustein diesen ehrgeizigen Vorschlag gemacht -, wenn
Sie die 40 Prozent unterschreiten. Wenn Sie den Arbeitslosenversicherungsbeitrag auf 3,0 Prozent absenken,
kommen Sie beim Gesamtversicherungsbeitrag auf
39,95 Prozent - Ziel erreicht! Frage: Warum tun Sie es
nicht einfach? Der Weg wäre frei. Es fehlt nur noch der
Mut, entschieden zu handeln.
({2})
Herr Kollege Müller hat das Wort.
({0})
Herr Kollege Dr. Kolb, ich habe in meiner Rede nicht
behauptet, dass wir die 40 Prozent schon unterschritten
hätten - jedenfalls nicht insgesamt -, sondern ich habe
gesagt: Wir sind auf diesem Weg ein gutes Stück vorangekommen. Das muss auch die FDP akzeptieren. Trotz
notwendiger Beitragserhöhungen an anderer Stelle haben wir insgesamt eine Entlastung herbeigeführt; auch
das bitte ich Sie zur Kenntnis zu nehmen.
({0})
- Wir reden ja nun von den Sozialabgaben. - Insofern
sind wir fast bei 40 Prozent.
Ferner bitte ich Sie, zu bedenken, dass Arbeitnehmer
und Arbeitgeber unterschiedliche Sozialabgabenquoten
haben. Wenn man den Zusatzbeitrag zur Krankenversicherung, die 0,9 Prozentpunkte, die die Arbeitnehmer
aufbringen, berücksichtigt und anrechnet, dass ein Teil
der Pflegeversicherung durch den Wegfall des Buß- und
Bettages finanziert worden ist, kommt man, zumindest
bei den Arbeitgebern, in der Summe auf unter 40 Prozent bzw. auf unter 20 Prozent.
({1})
Wir sind da also ein gutes Stück vorangekommen,
und wir werden nicht nachlassen. Die Union hat immer
gesagt, dass finanzielle Spielräume, um Beiträge nachhaltig zu senken, genutzt werden. Dazu stehen wir weiterhin, zum Beispiel wenn der Arbeitslosenversicherungsbeitrag auf 3,5 Prozent gesenkt werden kann. Wir
freuen uns auf Ihre Unterstützung. Vielleicht beteiligen
Sie sich dann mit konstruktiven Beiträgen, eigenen Beiträgen, anstatt vom Bund der Steuerzahler abzuschreiben. Ansonsten schlage ich vor, wir treffen uns trotzdem;
aber ich übernehme die Rechnung.
({2})
Sie können uns ja in geeigneter Weise irgendwann unterrichten, wer die Rechnung tatsächlich übernommen
hat, und vor allen Dingen, zu welchen weiterführenden
Erkenntnissen Sie gekommen sind.
Aber jetzt hat die Kollegin Dr. Barbara Höll für die
Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Menschenwürdiges Dasein für Alle! Der obige Satz
ist uns mehr als etwa das Stichwort einer Schule
oder der Ruf einer Partei - er ist das einfache, na12488
turgemäße Resultat unseres Gerechtigkeitsgefühls,
fußend auf „dem Rechte, das mit uns geboren ist“,
unserer Humanität, die fern von allem schwungvollen Phrasentum ist.
So schrieb Louise Otto 1868 im Organ Neue Bahnen
des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins. Dem fühlen
wir uns verpflichtet. Frauen und Männer wollen ihren eigenen Lebensunterhalt verdienen, im richtigen Wechsel
von Arbeit und Erholung, Ruhe, Entwicklung ihrer
Kräfte und Anlagen, Betätigung der Fähigkeiten und
- endlich - Rechten der freien Selbstbestimmung. Dies
sagte Louise Otto. Heute sind davon in der Bundesrepublik Deutschland 3,543 Millionen Menschen ausgeschlossen. Das ist die Arbeitslosenzahl vom September.
Daran muss sich Ihr Gesetzentwurf messen lassen.
({0})
Wie gelingt es, das Geld, das die Versicherten aufgebracht haben, zur Vermeidung und Bekämpfung von
Arbeitslosigkeit - insbesondere von Landzeitarbeitslosigkeit - und zur Sicherung des erarbeiteten Lebensstandards einzusetzen? Liest man nach, dann kann man erfahren:
Ziel des Gesetzes ist es, die Beitragszahler … erneut zu entlasten sowie die Lastenverteilung zwischen Bund und Bundesagentur für Arbeit bei der
Grundsicherung für Arbeitsuchende nachhaltig und
ausgewogen zu regeln.
Entlastung - wie schön das klingt. Als Erstes haben
wir festzustellen - man kann es nicht oft genug in Erinnerung rufen -, dass Sie von der SPD und der CDU/CSU
die gesamte Bevölkerung durch die Mehrwertsteuererhöhung um drei Prozentpunkte belastet haben. Rentnerinnen und Rentner, Studentinnen und Studenten, Kinder
und Arbeitslose müssen für ihren Verbrauch mehr bezahlen.
Herr Müller hat gesagt, Sie gingen Ihren Weg konsequent fort. Das merkt man. Sie haben ja auch in aller
Deutlichkeit gesagt, dass Sie bei der Senkung der Lohnnebenkosten inzwischen offen von der paritätischen
Finanzierung abweichen. Ja, Sie tun immer nur etwas für
die Arbeitgeberseite. Die Unternehmen müssen entlastet
werden. Hier sind Sie sehr konsequent; das muss man
sagen. Es gibt die Unternehmensteuerreform, und für die
wirklich Vermögenden haben Sie den Spitzensteuersatz
gesenkt. Durch dieses Gesetz werden die Unternehmen
wieder um 1,1 Milliarden Euro entlastet. Dies ist die
Fortführung Ihres Weges der unsozialen Verteilung in
unserer Gesellschaft. Das lehnen wir ab.
({1})
Wir lehnen die weitere Senkung des Beitragssatzes
ab, weil die Probleme der abhängig Beschäftigten dadurch nicht gelöst werden und weil für sie daraus - das
muss man auch einmal im Klartext sagen - nur eine relativ geringe Entlastung resultiert. Nehmen wir doch einmal jemanden, der 2 000 Euro brutto monatlich verdient.
Für ihn bedeutet die Senkung um 0,3 Prozentpunkte
36 Euro im Jahr. Haben oder Nichthaben - sicher, das ist
etwas, aber es ist nicht wirklich viel. Verdient er
3 000 Euro brutto monatlich, dann wird er im Jahr um
54 Euro entlastet. Setzt man dagegen einmal, was ihn die
Mehrwertsteuererhöhung, die Veränderungen bei der
Entfernungspauschale, die Nichtabsetzbarkeit des häuslichen Arbeitszimmers und die Verkürzung der Zahldauer des Kindergeldes gekostet hat, dann stellt man
fest, dass dies ein Vielfaches dieser kleinen Entlastung
ist.
({2})
Eine wirkliche Verbesserung der Lage der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist nur durch wirklich bessere Tarifabschlüsse möglich. Hier wäre es wichtig, dass
die Politik auch dahin gehend wirbt. Man kann natürlich
sowohl durch die eigenen Tarifgestaltungen als auch
durch ein bestimmtes Klima, das in der Gesellschaft befördert wird, darauf hinwirken.
Welche Erwartungen haben denn die Arbeitnehmer
und Arbeitnehmerinnen? Es geht ihnen wahrlich nicht
um 5 oder 10 Euro pro Monat mehr im Portemonnaie.
Sie wollen für den Fall der Arbeitslosigkeit geschützt
sein. Sie wollen Gewissheit haben, dass sie nicht gleich
in Armut geraten und dass Sie aktive Hilfe erhalten,
wenn sie von Arbeitslosigkeit bedroht sind.
Nehmen wir nur einmal die schöne Familienpolitik,
mit der Sie hier immer so toll agieren. Von der Bundesagentur für Arbeit gab es einmal Wiedereingliederungsprogramme für Frauen nach einer Familienphase. Diese
sind mit dem Übergang zu den Hartz-Gesetzen einfach
gestrichen worden.
({3})
Davon ist nichts wieder eingeführt worden. Daran müssen Sie sich messen lassen.
({4})
Aufgrund dieses Gesetzes wird die Bundesagentur für
Arbeit erstens durch die Einnahmeausfälle infolge der
Senkung um 2,2 Milliarden Euro und zweitens durch die
Verschiebung der Kosten vom Bund auf die Bundesagentur für Arbeit - das sind noch einmal 3 Milliarden
Euro - belastet. Wir meinen, dass dafür keine Notwendigkeit besteht und dass es falsch ist, weil wir Arbeitslosengeld I länger zahlen können, wenn das Geld da ist.
Dazu haben wir Ihnen unseren Antrag vorgelegt.
Nun kann man endlich wieder sagen, dass das Geld da
ist. Wir sind der Meinung, dass auf alle Fälle etwas verändert werden muss. Wir gratulieren der SPD, dass sie
inzwischen auch die Einsicht hat. Ich muss allerdings sagen, dass Herr Müntefering heute im Interview in der
Frankfurter Rundschau nicht gerade einen kämpferischen Eindruck macht. Er sagt: Warten wir doch erst einmal ab, was der Koalitionspartner dazu meint. Insofern
kann man nur zur Wachsamkeit aufrufen, denn dabei
klingt sehr stark die Vermutung durch, dass die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes vom
Koalitionspartner sowieso nicht so mitgetragen wird,
wie sich die SPD das vorstellt.
Es gibt viele Aufgaben. Dazu gehört auch die Aufgabe der beruflichen Weiterbildung. Sie haben vorhin
festgestellt, Herr Müller, dass die Ausgaben gleich bleiben. Ein Blick auf die letzten Jahre zeigt, dass im Jahr
2004 für die aktive Arbeitsförderung durch die Bundesagentur 18,7 Milliarden Euro ausgegeben wurden; 2006
waren es nur noch 11,1 Milliarden Euro. Die Zahlen für
dieses Jahr zeigen, dass bis August nur 47,9 Prozent der
verfügbaren Mittel - das ist weniger als die Hälfte - ausgegeben wurden. 990 Millionen Euro sind im ersten
Halbjahr nicht zielgerichtet eingesetzt worden. Vielleicht ist auch das eine Möglichkeit, Überschüsse zu erzeugen. Das machen wir aber nicht mit.
Wir haben weitere Probleme.
({5})
Wir haben das Problem, dass heute sehr viele Menschen,
insbesondere Frauen, gar nicht in Weiterbildungsmaßnahmen bzw. in Maßnahmen zur Heranführung an den
Arbeitsmarkt einbezogen werden, weil sie das Pech haben, dass ihr Partner so viel verdient, dass sie selber
keine Leistungen beziehen. Sie fallen de facto aus jeglichen Maßnahmen heraus. Dagegen muss man angehen.
({6})
Es gibt Jugendliche, die benachteiligt sind, und wir
haben immer noch zwei Regelkreise. Das muss überwunden werden.
Bei dem Gesetzentwurf, über den wir heute in erster
Beratung diskutieren und den Sie verabschieden wollen,
geht es um nicht mehr oder weniger als darum, dass sich
der Bund aus seiner Verantwortung zurückzieht. Das
machen wir nicht mit, insbesondere vor dem Hintergrund, dass nach Ihren Vorstellungen die Bundesagentur
ab dem Jahr 2011 ohne Zuschüsse auskommen soll. Wir
wissen, dass die Beitragsentwicklung insgesamt von der
Konjunktur abhängt. Es ist eine Mär, dass die derzeitigen Überschüsse ein Ergebnis Ihrer angeblich guten
Politik sind; sie beruhen vielmehr auf der konjunkturellen Lage. Wenn sie sich verschlechtert, gehen auch die
Überschüsse zurück.
Wir meinen, es geht nicht an, zu planen, dass die Bundesagentur ab 2011 ohne Zuschüsse auskommen soll,
und ihr vorher Aufgaben aufzubürden, die sie mit
5 Milliarden Euro zusätzlich finanziell belasten. Das machen wir nicht mit. Wir brauchen langfristige Maßnahmen für die Vermeidung von Arbeitslosigkeit und für
Arbeitsförderung.
Kollegin Höll, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. Louise Otto sagte:
Ein menschenwürdiges Dasein … ist es, was wir
für Alle fordern und was Allen, also auch den
Frauen, erringen zu helfen, wir als die Aufgabe aller Vorwärtsstrebenden und so auch speciell als die
unsere betrachten.
In dieser Tradition sehen wir uns.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Anja Hajduk für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine werten Kollegen! Ich ziehe das Fazit aus den letzten Wochen: Je besser die Kassenlage der Bundesagentur, desto schlechter
wird die Qualität der Arbeitsmarktpolitik.
({0})
Ich nehme davon die Spitze des Arbeitsministeriums
ausdrücklich aus. Aber sie steht auch nicht mehr mit der
Arbeitsmarktpolitik im Einklang, die sich bei der Großen Koalition anbahnt.
({1})
- Ich meine das ernst. Denn die Früchte, die man jetzt
bei der Bundesagentur im Sinne von positiven finanziellen Entwicklungen erntet, werden in der guten Konjunkturlage auf eine Weise verfrühstückt, die zeigt, dass man
nicht mehr darauf achtet, was man vorher richtig gemacht hat. Ich weiß, dass ich bei Ihnen nicht auf Zustimmung stoße, aber das muss man am Anfang dieser Debatte festhalten.
Ich habe den Presseberichten nicht entnommen, dass
es sachliche Gründe für die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I gibt. Es wird nur noch
unter dem Gesichtspunkt diskutiert, ob es der SPD nützt
und der CDU/CSU schadet.
({2})
Diese Ebene der Debatte haben wir erreicht. Das ist bei
einem so wichtigen Politikbereich traurig.
({3})
Ich komme jetzt zu dem von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf zur Änderung des SGB III. Sie schlagen
mehrere Änderungen vor, die insbesondere den Haushalt
der Bundesagentur treffen. Ich will zwei Punkte vorausschicken, die wir richtig finden: Die Bildung eines Versorgungsfonds halten wir für richtig - der Kollege
Müller von der CSU hat den Punkt angesprochen -; das
können wir mittragen. Wir können auch die Abschaffung
des Aussteuerungsbetrages mittragen, weil er sich als
nicht zielführend und nicht sachgerecht erwiesen hat.
Ich will Ihnen nur Folgendes sagen: Bei den weiteren
Änderungen, die Sie vorschlagen, den Beitrag der Bundesagentur für die Eingliederung der Langzeitarbeitslosen, die Beitragszahlungen des Bundes für Kindererziehungszeiten, die wieder von der Bundesagentur
übernommen werden, oder auch, worüber demnächst
diskutiert wird, den Erwerbstätigenzuschuss -, verquicken Sie wieder das SGB II und das SGB III miteinander. Alle diese Änderungen, die Sie vorschlagen,
führen wieder zu einer viel stärkeren Vermischung des
Haushaltes der Bundesagentur mit dem des Bundes. Ich
drücke es für Nichtexperten einmal wie folgt aus: Sie
schaffen wieder ein Gestrüpp aus Versicherungsleistungen und Steuerfinanzierungen, was unserer Überzeugung nach grundlegend falsch ist.
({4})
Wenn das nicht klar genug ist, dann machen Sie es
doch ganz einfach und streichen Sie der Bundesagentur
den Mehrwertsteuerzuschuss. Das sind etwas mehr als
7 Milliarden Euro. Nehmen Sie sie der Bundesagentur
weg. Das Geld kann zurück in den Bundeshaushalt.
Dann brauchen Sie sich auch nicht die vielen Maßnahmen auszudenken, die die Bundesagentur im Umkehrschluss jetzt zusätzlich durchführen soll, damit es
für den Haushalt ungefähr gleich ausgeht. Sie erfinden
zusätzliche Maßnahmen, deren Kosten - jetzt sind es
schon 6,4 Milliarden Euro plus Erwerbstätigenzuschuss zukünftig genau bei den 7,5 Milliarden Euro liegen, die
dieser Mehrwertsteuerpunkt etwa ausmacht. Schaffen
Sie doch klare Strukturen und klare Verhältnisse; denn
das ist auch wichtig für eine nachhaltige und transparente Finanzierung der Bundesagentur einerseits und des
Bundeshaushalts andererseits.
Wir haben ein Szenario durchgerechnet und dabei den
Trend der Arbeitsmarktzahlen in diesem Jahr zugrunde
gelegt. Wir haben der Bundesagentur den Mehrwertsteuerzuschuss in Höhe von etwa 7,5 Milliarden Euro
abgezogen. Wir haben den Aussteuerungsbetrag abgeschafft; wir haben aber nicht die zusätzlichen Belastungen eingerechnet. Dann haben wir den Beitragssatz auf
3,9 Prozent festgelegt. Und siehe da: Es geht auf. Sie
können es einfach machen. Sie müssen hier einmal die
Frage beantworten, warum Sie das nicht tun. Sie können
den Beitragssatz nach unseren Berechnungen auch auf
unter 3,9 Prozent senken; das ist ja Ihre Absicht. Ich
sage Ihnen: Sie haben keine klare Vorstellung von der
Zukunft der Arbeitsmarktpolitik. Sie haben nur ein erdenklich schlechtes Kompromissgebräu in der Großen
Koalition.
({5})
Ich will Ihnen noch etwas sagen. Wenn man den
Mehrwertsteuerzuschuss herausnimmt, dann kann man
damit auch etwas strukturell Wichtiges für den Arbeitsmarkt tun. Wir schlagen Folgendes vor: Nehmen wir
doch ungefähr 7 Milliarden Euro in die Hand, um im gesamten Niedriglohnbereich die Sozialversicherungsbeiträge zu subventionieren. Dann brauchen Sie auch nicht
mehr die diversen Mini- und Midijobs. Dann können Sie
mit einem Progressivmodell, bei dem die Sozialversicherungsbeiträge schrittweise auf die bekannte Größe,
die wir haben, ansteigen, den Niedriglohnbereich viel
wettbewerbsfähiger machen. Lesen Sie doch einmal die
Seiten, die Ihnen die Wirtschaftsexperten aufschreiben!
Sie sagen Ihnen, welche Maßnahmen den Niedriglohnbereich im Interesse der Arbeitgeber und Arbeitnehmer
stützen und ihn nicht falsch subventionieren. Diese
Möglichkeiten haben Sie; aber Sie nutzen sie nicht.
({6})
Die Politik, die Sie mit diesem Gesetzeswerk vorlegen, verschlimmbessern Sie noch mit der Verlängerung
der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I. Ich will folgende Nebenbemerkung machen: Wir Grünen leugnen
nicht, dass der Arbeitsmarkt für die älteren Arbeitslosen
angespannt und schwer zugänglich ist. Wir sind aber davon überzeugt, dass es besser ist, in die Lösungsperspektive des Wiedereinstiegs Älterer in den Arbeitsmarkt zu
investieren als in die Verlängerung der Bezugsdauer des
Arbeitslosengeldes I. Das will ich hier noch einmal festhalten.
({7})
Die zweite Verschlimmbesserung haben Sie mit dem
Erwerbstätigenzuschuss vor. Das ist im Grunde etwas
- das habe ich vorhin schon erwähnt -, womit Sie Leute
mit niedrigem Einkommen subventionieren wollen, wobei Sie das anscheinend - so habe ich den Minister verstanden - auch mit Geldern der Versichertengemeinschaft machen wollen. Auch das halte ich für eine
Verschlimmbesserung; denn wir haben noch ein Szenario durchgerechnet. Nehmen wir einmal den angepeilten
Beitragssatz von 3,5 Prozent - wir hätten auch 3,9 Prozent nehmen können -, und unterstellen wir einmal, dass
die Arbeitslosigkeit im nächsten Jahr nicht weiter zurückgeht, sondern stagniert. Unterstellen wir ferner, dass
es bei den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen keinen Einbruch, aber eine Stagnation auf dem derzeitigen Niveau gibt.
Unter Zugrundelegung all dessen haben wir einmal
gerechnet: Wir übertragen die Einstiegsqualifizierung
jüngerer Leute. Wir verlängern die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I; dafür haben wir 900 Millionen Euro
eingerechnet. Wir haben die zusätzlichen Belastungen,
die Sie in Ihrem Gesetz für die Bundesagentur vorsehen,
alle schön aufgenommen. Wir haben Ihre zu erwartenden arbeitsmarktpolitischen Entscheidungen berücksichtigt, allerdings ohne Erwerbstätigenzuschuss; denn
diesen kennen wir noch nicht genau. Unter diesen Bedingungen - es gibt weder eine Verschlechterung noch
eine Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt - macht die
Bundesagentur für Arbeit aufgrund Ihrer arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen nächstes Jahr wieder 4 Milliarden Euro Miese. Das ist Ihre Politik. Sie ist nicht nachhaltig und nicht intelligent.
Ich kann Ihnen nur zurufen: Streiten Sie lieber über
den Mindestlohn! Hier kann noch etwas Vernünftiges
herauskommen. Aber das, was Sie sich nun vorgenommen haben, tut weder dem Arbeitsmarkt noch der gesamten Gesellschaft gut. Also korrigieren Sie sich!
Danke schön.
({8})
Das Wort hat der Kollege Klaus Brandner für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Seit Beginn der Arbeitsmarktreform
freuen wir uns über 1,6 Millionen weniger Arbeitslose in
diesem Land. Seit Beginn der Arbeitsmarktreform ist die
Zahl der Erwerbstätigen im Jahresvergleich um
637 000 Menschen gestiegen. Seit Beginn der Arbeitsmarktreform hat die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisse zugenommen, beispielsweise
im letzten Jahr um 550 000. Das alles hat natürlich Auswirkungen auf die finanzielle Situation der Bundesagentur für Arbeit und die Finanzierung nach dem SGB II.
Im Unterschied zu Frau Hajduk bin ich der Meinung,
dass die Finanzsituation der Bundesagentur für Arbeit
erfreulich ist. Wir haben im letzten Jahr 11,5 Milliarden
Euro Überschuss erzielt. Wir wissen natürlich, dass sich
hier der besondere Effekt der Einmalleistung niedergeschlagen hat. Aber wir haben für dieses Jahr - das wissen Sie als Haushälterin - mit einem Minus von 4 Milliarden Euro kalkuliert. Nun wird ein Überschuss in
Höhe von 6,5 Milliarden erzielt.
({0})
Das ist das Ergebnis unserer erfolgreichen Politik, an der
Sie in der Vergangenheit mitgewirkt haben.
({1})
Sonst wären wir gar nicht so weit, um es deutlich zu sagen. Deshalb brauchen Sie Ihr Licht auf dem Gebiet
nicht unter den Scheffel zu stellen.
Die Finanzsituation war so gut, dass wir die Beiträge
zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 Prozent auf
4,2 Prozent senken konnten. Trotz dieses abgesenkten
Beitragssatzes gibt es in diesem Jahr nicht wie erwartet
4 Milliarden Euro Miese, sondern ein Plus in Höhe von
6,5 Milliarden Euro. Diese Ausgangssituation macht uns
Mut, die geplante Senkung auf 3,5 Prozent vorzunehmen. Damit entlasten wir Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Der Staatssekretär hat von gut 21 Milliarden Euro
Entlastung gesprochen. Das ist ein wesentlicher Punkt,
der erklärt, warum die Binnennachfrage in Deutschland
gestärkt ist und warum sich die Konjunktur zurzeit in erheblichem Maße auf die Binnennachfrage stützt. Das ist
der Grund, warum wir arbeitsmarktpolitisch - durch
mehr Beschäftigung - so erfolgreich sind.
({2})
Trotz der geplanten Entlastung bleibt Spielraum für
eine Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I.
({3})
- Hier wurden schon Zahlen genannt. Sie sollten Ihnen
als Orientierungshilfe dienen.
({4})
- Stellen Sie eine Zwischenfrage! Dann werde ich gerne
darauf eingehen, Herr Kolb.
Kollege Brandner, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Kolb?
Ja, bitte schön.
Bitte schön.
Herr Kollege Brandner, sind Sie bereit, dem Hohen
Haus mitzuteilen, wie viel eine Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I kosten wird? Liegen
die Kosten bei 800 Millionen bis 1 Milliarde Euro, oder
kostet eine solche Verlängerung bis zu 2,9 Milliarden
Euro, wie manche Experten behaupten?
Ich vertraue den Experten, die schon zu dem Zeitpunkt, als das Thema noch nicht politisch umstritten
war, Zahlen genannt haben. Damals ging man von
800 Millionen Euro aus; das ist die Orientierungsgröße.
Ich bin davon überzeugt: Wenn die konjunkturelle Entwicklung weiterhin gut verläuft, ist die Summe wahrscheinlich niedriger, weil Ältere dann mehr Chancen auf
Beschäftigung haben; das ist das eigentliche Ziel. Wir
wollen die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I nur
deshalb verlängern, weil wir vielen Menschen in diesem
Land die Angst nehmen wollen. Das Alter ist nach wie
vor ein hohes Arbeitsplatzrisiko. Wir müssen deshalb
eine Brücke für die Betroffenen bauen.
Frau Hajduk, eine Zwischenbemerkung: Wir haben in
der rot-grünen Regierung einen Gesetzentwurf beschlossen, der im Bundesrat - die CDU/CSU-regierten Länder
hatten die Mehrheit - hängen geblieben ist. Wenn dieses
Gesetz in Kraft getreten wäre, wäre die Bezugsdauer des
Arbeitslosengeldes I heute noch länger. Insofern muss
ich an Ihr Gedächtnis appellieren. Sie sollten wissen,
dass wir das in der Finanzplanung hätten berücksichtigen müssen.
({0})
Entscheidend für uns ist, dass wir Brücken bauen, solange das Risiko der Arbeitslosigkeit für Ältere groß ist.
Wir wollen aber nicht nur die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes verlängern, sondern wir wollen diesen Bezug mit Aktivierungsmaßnahmen verbinden. Wir wollen
sicherstellen, dass in erster Linie die Beschäftigung das
Ziel ist. Es kann schon gar nicht das Ziel sein, der Frühverrentung wieder Tür und Tor zu öffnen.
({1})
Für uns ist klar, dass es nicht infrage kommt, dass wir
die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I für einen besonders gefährdeten Personenkreis dadurch erkaufen, dass eine Verkürzung der Bezugsdauer
des Arbeitslosengeldes I für Jüngere oder für diejenigen,
die eine unterbrochene Erwerbsbiografie haben, beschlossen wird. Wir wollen keine Chancen nehmen, sondern wir wollen durch die Arbeitsmarktpolitik sicherstellen, dass für das Fördern ein ausreichender Zeitraum zur
Verfügung steht. Das ist nachhaltige Arbeitsmarktpolitik. Indem wir die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I
für besonders Gefährdete ausdehnen, helfen wir mit, das
Fordern zu legitimieren. Fördern und Fordern müssen in
einem gerechten Verhältnis zueinander stehen.
Von den Regelungen des SGB III sind zurzeit circa
1 Million Arbeitslose betroffen. Die Bundesagentur für
Arbeit hat ein ganz erhebliches Budget für Weiterbildungsmaßnahmen - das muss man auch den Kollegen
der Fraktion Die Linke sagen -, das nicht ausgeschöpft
wird.
({2})
Wir haben sichergestellt, dass trotz eines erheblichen
Rückgangs der Arbeitslosigkeit das Budget für Aktivierungsmaßnahmen nicht angetastet worden ist, sondern
auf einem hohen Niveau festgeschrieben worden ist,
weil für uns das Fördern und Unterstützen ein wesentlicher Punkt der Arbeitsmarktpolitik sind.
({3})
Wir wollen mithelfen, dass Menschen durch Qualifizierungsmaßnahmen unterstützt werden. Uns liegt etwas
an einer hochwertigen Arbeitsvermittlung. Arbeitsmarktpolitik ist für die Sozialdemokraten mehr als der
Versuch, die Beiträge so weit wie möglich zu senken und
die Langzeitarbeitslosen über Steuermittel zu finanzieren. Priorität haben deshalb Weiterbildung und Qualifizierung. Das sollte - das will ich ganz deutlich sagen nicht erst beim Eintritt in die Arbeitslosigkeit geschehen.
Auch die Unternehmen haben eine Weiterbildungsverantwortung. Nur 14 Prozent der 25- bis 64-jährigen Erwerbstätigen nehmen in Deutschland an berufsbezogener Weiterbildung teil. Das ist an sich ein Skandal,
zumal wenn man sich vor Augen hält, dass in Skandinavien 45 Prozent der Menschen regelmäßig an berufsbezogener Weiterbildung teilnehmen. Was die betriebliche
Weiterbildung angeht, ist Deutschland ein Entwicklungsland. Das muss sich ändern.
({4})
Bei der Weiterbildung haben wir viele Themenfelder
vor Augen. Ich nenne die Beratung in der Schule, insbesondere vor dem Eintritt in die Berufsausbildung, in der
Ausbildung, bei den Übergängen aus der Familienzeit
oder Pflegezeit.
({5})
Da gibt es ein großes Aufgabenfeld. Es geht nicht in erster Linie um Beitragssatzsenkung, sondern es geht um
eine Arbeitsmarktpolitik, die den veränderten Erwerbsbiografien ebenso Rechnung trägt wie den hohen Qualifikationsansprüchen infolge des internationalen Wettbewerbs.
Deshalb sage ich an dieser Stelle ganz klar: Die Qualität der Arbeitsmarktpolitik zeigt sich auch bei der Ausschreibung von Maßnahmen. Wir stehen dafür, dass bei
den Maßnahmen nicht der Preis, sondern die Qualität im
Vordergrund steht. Daher erinnern wir daran, dass zum
Beispiel die Tariftreue bei der Vergabe von Aufträgen
für uns ein wesentlicher Punkt ist. Die Weiterbildung
muss ein qualitativ hohes Niveau aufweisen. Deshalb
sollte es für uns selbstverständlich sein, dass in Weiterbildungseinrichtungen nicht für Dumpinglöhne gearbeitet wird. Nur qualifiziertes Personal sorgt dafür, dass
qualitative Weiterbildung geleistet wird.
Keinen Vorrang hat für uns die Senkung der Beitragssätze. Die allerhöchste Priorität hat der Abbau der Arbeitslosigkeit. Dieser gelingt am ehesten durch einen erweiterten Arbeitsmarkt. Die beste Arbeitsmarktpolitik,
die wir betreiben können, besteht darin, die 1 Million
freien Stellen, die wir zwischenzeitlich haben, durch
Qualifizierungs- und Unterstützungsmaßnahmen schneller zu besetzen. Dann können wir am Ende auch am
ehesten die Beiträge senken, weil das weniger Ausgaben
für passive Leistungen bedeutet.
({6})
Zum Umbau der Finanzstruktur ist hier heute eine
Menge gesagt worden, was ich nicht wiederholen will.
Wir finden es richtig, dass der Aussteuerungsbetrag abgeschafft wird, dass ein Versorgungsfonds eingerichtet
wird. Wir haben immer gesagt: Wir wollen keine Arbeitsmarktpolitik, die einen Beitrag zu Stop-and-go-Aktivitäten leistet. In diesem Zusammenhang müsste man
der FDP einen ganz besonderen Vortrag halten; denn die
Historie dieser Partei zeigt, dass sie mit dafür verantwortlich war, dass die Beiträge zur Sozialversicherung
während ihrer Regierungszeit am stärksten angehoben
wurden. Sie hat dabei immer Pate gestanden.
({7})
Aus diesem Grund - man betrachte die Zeit vor 1998, in
der sie mitregiert hat - steht es ihr am wenigsten zu, eine
Senkung der Lohnnebenkosten zu fordern.
({8})
Lassen Sie mich ein deutliches Wort dazu sagen, dass
die Arbeitsmarkterfolge langsam auch bei den Langzeitarbeitslosen ankommen. Im September gibt es 317 000
Langzeitarbeitslose weniger. Das ist ein Minus von
11 Prozent. Was uns dabei besonders berührt, ist, dass
sich viele Langzeitarbeitslose aufgrund der Lohndrückerei durch die Arbeitgeber in einer äußerst schlechten finanziellen Situation befinden. Das kann so nicht hingenommen werden. Immer mehr Menschen müssen als
Aufstocker Leistungen der Bundesagentur oder der Arbeitsgemeinschaften beanspruchen; in diesem Land sind
es über 1 Million Menschen, von denen über 500 000
quasi vollzeitbeschäftigt tätig sind.
Ich sage ganz deutlich: Ein wesentliches Element des
Einsparens finanzieller Mittel ist die Schaffung einer
Lohnunterschranke, also eines gesetzlichen Mindestlohns,
({9})
sodass nicht immer mehr Arbeitgeber dazu beitragen
können, die Löhne zu drücken und sich anschließend
beim Sozialamt oder bei der Bundesagentur zu bedienen.
({10})
Ich möchte an dieser Stelle ganz deutlich herausstellen: Der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes, das wir morgen früh einbringen werden, soll letztendlich dazu beitragen, dass
auch bei einer weiteren Branche, nämlich bei den Briefzustellern, eine Lohnunterschranke geschaffen wird. Das
ist ein Beitrag dazu, dass die Finanzgrundlagen der Bundesagentur auf einem guten Niveau bleiben. Das, was
ich gerade angesprochen habe - die Fantasie der Wettbewerber, die sich im Dumpingwettbewerb, beispielsweise
mit der Post, durchsetzen wollen -, ist so nicht hinnehmbar.
Zum Beispiel hat die Bild-Zeitung als Haupteigentümerin der PIN AG - übrigens mit Sitz in Luxemburg,
also in dem Land, in dem die höchsten Mindestlöhne in
Europa gezahlt werden - eine Kampagne gegen das
Post-Entsendegesetz betrieben. Daher müssen wir uns
Gedanken machen, wie wir mit dem Thema „Markt und
Medienmacht“ in diesem Land umgehen.
({11})
Für uns steht fest: Wir wollen eine qualitativ hochwertige und zuverlässige Post in München, in Chemnitz
und auch auf den Halligen. Deshalb brauchen wir vernünftig bezahlte Beschäftigte, die ihrer Arbeit nachgehen können. Wir brauchen baldmöglichst einen flächendeckenden Mindestlohn. Das ist kein Lippenbekenntnis.
Kollege Brandner, das müssen wir dann morgen früh
im Rahmen der Debatte über das Entsendegesetz fortsetzen.
Wir wollen das in diesem Parlament vielmehr zügig
umsetzen.
Deshalb: Die gute Finanzsituation ist eine Chance für
eine gute Arbeitsmarktpolitik. Das ist auch für diejenigen eine Chance, die vom Aufschwung ansonsten nicht
profitieren würden.
Herzlichen Dank.
({0})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Jörg Rohde
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Gestatten Sie mir zunächst einige Anmerkungen zu einigen Vorrednerinnen und Vorrednern.
Herr Staatssekretär Andres, es ist richtig, dass der
Beitrag zur Arbeitslosenversicherung gesenkt wurde. Sie
erwähnten die Zahl 21 Milliarden Euro. Richtig ist aber
auch, dass die Bundesregierung alle anderen Beiträge
erhöht hat: Rentenversicherungsbeitrag, Pflegeversicherungsbeitrag und Krankenversicherungsbeitrag sind
höher als vor zwei Jahren. Wenn man die Mehrwertsteuererhöhung für Bürger und Unternehmen hinzuzählt,
dann erkennt man, dass der Saldo negativ ist.
({0})
Die Regierung hat sich wie ein Hamster im Laufrad bewegt, ist also nicht vorangekommen.
Herr Kollege Müller, wir müssen den Bürgern natürlich schon eine vollständige Rechnung präsentieren.
Auch wenn die Sozialversicherungsbeiträge sinken,
steigt die Steuerlast der Einkommensteuerpflichtigen.
Das, was Sie vorgerechnet haben, kommt bei den Bürgern nicht im vollen Umfang an. Über die Mehrwertsteuer haben wir schon diskutiert. Die Leute brauchen
einfach mehr Geld, um sich das Notwendige leisten zu
können. Netto ist die Kaufkraft der Bürger eher gesunken.
({1})
Herr Brandner, vielleicht nur ein Wort: Die SPD regiert jetzt seit neun Jahren.
({2})
Die FDP hat 29 Jahre an der Regierung mitgewirkt. Sie
vergleichen da Äpfel mit Birnen. Das ist nicht zielführend. Da dürfen wir nicht einfach die Nettozahlen nehmen.
({3})
- Gern.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Sehr gern.
Bitte, Herr Kollege Brandner.
Herr Rohde, können Sie mir bestätigen, dass während
der Mitregierungszeit der FDP der Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung auf 6,5 Prozent erhöht worden
ist,
({0})
dass während der rot-grünen und jetzt der schwarz-roten
Koalition der Beitragsatz auf 4,2 Prozent gesenkt worden
ist, dass wir heute offiziell eine Senkung auf 3,9 Prozent
vorschlagen - es wird auf 3,5 Prozent gehen -, also ein regelmäßiges Absenken des Beitragssatzes stattgefunden
hat?
({1})
Herr Brandner, ich bestätige Ihnen gern, dass damals
der Beitragssatz aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung steigen musste.
({0})
Damals gab es die Ölkrise etc.; wir reden über einen sehr
langen Zeitraum. Wir bestreiten auch nicht, dass der Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung nach unten geht,
was wir auch begrüßen. Nur, wir stellen es in einen Kontext. Wenn wir dann den Strich darunter ziehen, kommen
wir leider zu einem negativen Ergebnis. Ich habe eben
nur die Regierungszeit verglichen.
({1})
Kommen wir zum eigentlichen Thema! Über eine
Beitragssatzsenkung brauchten wir eigentlich gar nicht
lange zu diskutieren; sie ergibt sich von selbst, wenn
sich die Bilanz einer Versicherung deutlich verbessert.
Dass wir dennoch strittig debattieren müssen, sehr geehrte Damen und Herren von Schwarz-Rot, liegt an Ihnen; denn Sie wollen den Beitragszahlern nicht alles zurückgeben, was ihnen gehört.
({2})
Ob 3,9 Prozent oder 3,5 Prozent, beides ist immer
noch zu hoch. Schon jetzt ist der Spielraum für eine Beitragssatzsenkung größer. Aber Sie, meine Damen und
Herren von Union und SPD, sind auf die Überschüsse
der Bundesagentur angewiesen und haben das Geld der
Beitragszahler längst für versicherungsfremde Zwecke
verplant. Satte 5 Milliarden Euro will der Noch-Arbeitsminister Müntefering in seine Kasse abzweigen 5 Milliarden Euro, die die Beitragszahler in die Arbeitslosenversicherung einbezahlt haben und die niemand
sonst als ebendiesen gehören. Wir Liberale nennen das
Beitragsklau.
({3})
Zu wundern braucht man sich ob dieser Praktiken allerdings nicht. Käpt’n Müntes Mannschaft meutert. Sein
Schiff ist in rauer See und droht zu sinken. Kein Wunder,
dass er sich verzweifelt ans Ruder klammert und die
heute zur Debatte stehende Minibeitragssatzsenkung als
Erfolg abfeiern will.
Kollege Rohde, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Müller?
Sehr gern.
Sie haben das Wort.
Herr Kollege Rohde, Sie kritisieren den Eingliederungsbeitrag. Muss ich davon ausgehen, dass die FDP im
Haushaltsausschuss beantragen wird, diesen Eingliederungsbeitrag, diese 5 Milliarden Euro, nicht zu erheben,
und gleichzeitig einen Vorschlag dafür unterbreiten wird,
wie das im Haushalt 2008 gegenfinanziert wird?
Ja, Sie können davon ausgehen. Ich weiß von meinen
Kollegen im Haushaltsausschuss auch, dass entsprechende Vorschläge gemacht werden.
({0})
Wir streiten intern noch über die Höhe der Einsparungsmaßnahmen, aber wir werden Vorschläge in genau der
Höhe machen. Seien Sie versichert: Der Haushaltsausschuss arbeitet, und die Liberalen dort nehmen ihre Aufgabe sehr wohl wahr.
({1})
Je mehr Zeit in dieser Legislaturperiode verstreicht,
umso deutlicher wird, dass Sie von Schwarz-Rot so gut
wie nichts von Ihren Zielen erreicht haben. Um Ihre Erinnerung aufzufrischen, lese ich Ihnen gern noch einmal
einige Zeilen aus Ihrem Koalitionsvertrag von 2005 vor,
und zwar aus dem Kapitel „Aktive Arbeitsmarktpolitik“:
CDU, CSU und SPD werden die aktive Arbeitsmarktpolitik in Zukunft fortsetzen und weiterentwickeln.
({2})
Die Vielzahl unterschiedlicher Förder-Instrumente
ist für die Menschen kaum noch überschaubar.
Ich hätte mich über einen Zwischenruf gefreut.
Vieles deutet darauf hin, dass einzelne Maßnahmen
und die damit verbundenen teilweise umfangreichen Mittel der Arbeitslosenversicherung zielgenauer, sparsamer und effizienter eingesetzt werden
können.
({3})
Das alles unterschreibe ich noch.
CDU, CSU und SPD werden daher alle arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen auf den Prüfstand
stellen.
({4})
Das, was sich als wirksam erweist und zur Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit oder zu Beschäftigung führt, wird fortgesetzt.
Das alles könnte noch FDP-Programm sein; das ist aber
aus Ihrem Koalitionsvertrag.
Das, was unwirksam und ineffizient ist, wird abgeschafft. Diese Überprüfung soll bis Ende kommenden Jahres abgeschlossen sein.
Das wäre Ende 2006 gewesen.
({5})
Auf der Grundlage dieser Wirksamkeitsanalyse
wird dann spätestens im Jahr 2007
- das ist fast herum die aktive Arbeitsmarktpolitik insgesamt grundlegend neu ausgerichtet und sichergestellt, dass die
Mittel der Beitrags- und Steuerzahler künftig so effektiv und effizient wie möglich eingesetzt werden.
Schöne Zeilen und Lyrik!
Meine Damen und Herren von der Koalition, glauben
Sie, dass Sie Ihre Ziele erreicht haben? Ich denke, nein;
im Gegenteil: Das Wirrwarr unzähliger Fördermaßnahmen ist bislang nicht auf die erfolgreichen Maßnahmen
reduziert worden.
({6})
Das Erfolgsmodell „Optionskommune“ erhält von Ihnen
keine Unterstützung. Stattdessen hört man immer öfter,
dass dort auch eingegriffen werden soll.
({7})
Statt einer schwerfälligen Mammutbehörde mit unzähligen Aufgaben fernab der Jobvermittlung brauchen
wir eine kompakte, leistungsfähige und kundenorientierte Versicherungsagentur. Trennen Sie die Auszahlung
der Versicherungsleistungen und die Aufgaben der Jobvermittlung! Bieten Sie Wahltarife an, die eine beitragsgünstige Grundversicherung ebenso zulassen wie eine
komfortable Langzeitabsicherung zu höheren Prämien!
Ich komme zum letzten Gedanken, Frau Präsidentin.
Mit der heutigen Debatte um die bloße Absenkung der
Beiträge zur Arbeitslosenversicherung lassen Sie erneut
eine Chance verstreichen, die Arbeitsmarktpolitik in
Deutschland grundsätzlich zu entrümpeln und so die Voraussetzungen für neue Arbeitsplätze zu schaffen. Anstatt Spielräume zu nutzen, die Ihnen die Entspannung
am Arbeitsmarkt bietet, verharren Sie im Klein-Klein
und versäumen die Chance für neue Weichenstellungen
am Arbeitsmarkt. Das ist sehr betrüblich für die vielen
Arbeitslosen in Deutschland.
Vielen Dank.
({8})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Wolfgang
Meckelburg das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich will mit einem Kurzbeitrag - ich gehe gleich noch
auf den Antrag der Linken ein - an Frau Höll beginnen:
Nach Ihrer Rede verstehe ich nun etwas, was auf der Internetseite der Linken steht, was ich bisher nicht so verstanden hatte. Meine Mitarbeiter haben mir gesagt, dass
dort wirklich steht:
Wir fordern, die Erfahrungen der DDR nicht kategorisch abzulehnen, sondern auf zukunftsfähige
Modelle hin zu überprüfen.
Jetzt verstehe ich endlich, warum Sie Woche für Woche
hier Anträge einbringen, die das alte System restituieren
wollen. Ich muss Ihnen dazu sagen: Die Zeit ist wirklich
vorbei. Sie müssen anfangen, umzudenken, um in der
neuen Zeit anzukommen.
({0})
Kollege Meckelburg, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Höll?
Ja, bitte schön. Ich bin immer bereit, zu helfen, damit
man etwas lernen kann.
Herr Kollege, ich bin auch gerne bereit, solche Einwände Ihrerseits zur Kenntnis zu nehmen, aber dieser
Einwand hat sich mir inhaltlich nicht ganz erschlossen.
Eine Arbeitslosenversicherung hatten wir in der DDR
nicht, weil wir keine Arbeitslosigkeit hatten.
({0})
Das können wir zunächst einmal festhalten. Das kann es
also nicht gewesen sein. Man könnte natürlich mal einfach darüber reden, dass wir in der DDR sehr wohl ein
Angebot für eine flächendeckende und bedarfsdeckende
Ganztagsbetreuung hatten. Hochqualifizierte Kräfte, vor
allem Frauen, haben im Krippenbereich, im Kindergartenbereich und im Hortbereich gearbeitet. Eine Versorgung der Kinder bis zum 10. Lebensjahr war also wirklich möglich und bezahlbar.
Wir hatten in der DDR ein System der Polikliniken,
und wenn ich mich recht entsinne, sind wir derzeit dabei,
das Hausarztprinzip zu stärken.
({1})
Wir sind dabei, Gesundheitszentren zu installieren. Mit
ein bisschen Nachdenken könnte man ja durchaus zu
dem Schluss kommen, an dem Satz, den Sie da gelesen
haben, könne etwas dran sein.
({2})
Frau Kollegin, ich sah gerade schon die Gefahr, dass
Sie das komplette Vokabular von der Internetseite der
Linken hier von A bis Z aufzählen wollten, und war
schon sehr gespannt.
Wir reden hier aber über den Arbeitsmarkt. Das ist
der Bereich, der uns im Ausschuss betrifft.
({0})
Das Gelächter des Parlaments auf Ihre Feststellung, in
der DDR habe es keine Arbeitslosigkeit gegeben, muss
Sie doch ein bisschen zum Überlegen bringen. Da Sie ja
viele Jahre Mitglied der SED waren und heute aus Ihrer
Fraktion so viel Beifall bekommen, muss ich wirklich
sagen: Sie sind in der neuen Zeit noch nicht angekommen. Sie haben noch eine Menge zu lernen.
({1})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
möchte ich unsere bisher erzielten Teilerfolge zusammenfassen. Wir haben die Arbeitslosigkeit auf jetzt
3,54 Millionen gesenkt; das sind fast 700 000 weniger
als im Vorjahr. Wir haben fast 40 Millionen Erwerbstätige, darunter fast 27 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Die Trendwende hat im April
letzten Jahres begonnen. Bis dahin hatten wir über fünf
Jahre jeweils einen Rückgang bei der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Die Zahl der Beschäftigten wächst nach wie vor; im September hatten wir
555 000 mehr als im Vorjahr. Das ist eine gute Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Die Zahl der offenen Stellen
liegt bei 1 Million.
Auch die Situation der älteren Arbeitslosen hat sich verbessert, auch hier ist ein stärkerer Rückgang zu verzeichnen. Inzwischen sind 50 Prozent der 55- bis 64-Jährigen in
Beschäftigung. Auch das ist eine Steigerung gegenüber der
letzten Zeit. In der Gruppe der 55- bis 60-Jährigen sind
zwei Drittel in Beschäftigung. Das heißt, überall gibt es
sehr positive Entwicklungen. Das ist das Ergebnis der
Politik der Großen Koalition.
Wir vermitteln schneller im Bereich der Empfänger
von Arbeitslosengeld I. Aber auch bei der Zahl der Empfänger von Arbeitslosengeld II gibt es inzwischen einen
deutlichen Rückgang. Dennoch gibt es an dieser Stelle
Probleme. Deshalb müssen wir über den Bereich des
Übergangs vom Arbeitslosengeld I zum Arbeitslosengeld II reden.
Mit dem vorliegenden Gesetz soll das Ziel verfolgt
werden - das muss man am Ende dieser heutigen Debatte verdeutlichen -, die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zu senken. Die Auswirkungen einer solchen
Maßnahme dürfen nicht unterschätzt werden. Im Antrag
der Linken konnte ich lesen, dass Sie das nicht wollen.
Also wollen Sie auch nicht die Effekte, die von einer
Senkung des Beitrages zur Arbeitslosenversicherung
ausgehen. Um es ganz deutlich zu sagen: Wir wollen sie.
({2})
Wir haben es geschafft, über die in einem ersten
Schritt geplante Senkung hinauszugehen. Der Beitrag
wird stärker als von 6,5 auf 4,5 Prozent gesenkt; seit
1. Januar beträgt er nämlich 4,2 Prozent. Im Gesetzentwurf steht, dass der Beitrag zum nächsten Januar noch
einmal, und zwar von 4,2 auf 3,9 Prozent, gesenkt wird.
Letzte Woche war ich mir relativ sicher, dass wir bei
3,5 Prozent landen werden. Inzwischen bin ich mir sicher.
Um es deutlich zu sagen: Vom 1. Januar dieses Jahres
bis zum 1. Januar des neuen Jahres, also innerhalb von
zwölf Monaten, haben wir eine Entlastung der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber in Höhe von 24 Milliarden
Euro hinbekommen. Diesen großen Erfolg hatte niemand erwartet. Damit leisten wir einen Beitrag für die
Schaffung von mehr Arbeitsplätzen in unserem Land,
und das ist notwendig.
({3})
Allein der letzte Schritt, den wir jetzt noch in der Planung haben, nämlich die Senkung von 3,9 auf 3,5 Prozent, entspricht einer Entlastung von Arbeitnehmern und
Arbeitgebern in Höhe von 5 Milliarden Euro. Genau
diese Summe haben wir bei der Unternehmensteuerreform in die Hand genommen. Ich sage dies, damit man
einmal die Größenordnung erkennt. Für die Arbeitnehmer bedeutet die Senkung um 3 Prozentpunkte aufs Jahr
gesehen 400 Euro mehr in der Tasche. Diese Entlastung
ist sehr wichtig.
Die Senkung der Lohnnebenkosten ist ein Beitrag zur
Schaffung von zusätzlichen Arbeitsplätzen. Die Union
will diesen Weg weitergehen. Sie von der Linken wollen
das nicht. Diesen Punkt muss man bei Ihnen kritisieren.
({4})
Ich spreche einen weiteren Punkt an, der im Gesetzentwurf vorgesehen ist und über den man sich in der Tat
streiten kann. Es geht um den sogenannten Aussteuerungsbetrag. Das ist der Betrag, den Arbeitslose, wenn
sie - in der Regel nach einem Jahr - vom Arbeitslosengeld I in das Arbeitslosengeld II wechseln, sozusagen
mitbekommen. Es handelt sich dabei um einen Betrag
von etwa 10 000 Euro. Da aber die Empfänger von Arbeitslosengeld I relativ schnell vermittelt werden, ist der
dafür benötigte Betrag kleiner geworden. Im Haushalt
waren einmal 4 Milliarden Euro dafür vorgesehen. Benötigt werden jetzt noch etwas mehr als 2,2 Milliarden
Euro. Diese Zahl zeigt, wie erfolgreich wir in diesem
Bereich sind.
Auch wenn ich mit einer Politik der Marktwirtschaft
konform gehe, bin ich bereit, darüber zu diskutieren, ob
man nicht eine Hilfe in Form eines sogenannten Eingliederungsbeitrages in diesem Bereich einrichten sollte.
Man kann lange darüber streiten, ob man den MehrwertWolfgang Meckelburg
steuerpunkt, den man für die Senkung des Beitrages zur
Arbeitslosenversicherung verwandt hat, wieder herausnehmen und dafür auf den Eingliederungsbeitrag verzichten sollte.
Ich finde die Lösung, die wir jetzt gefunden haben,
pfiffiger. Denn mit der Verwendung eines Prozentpunktes aus der Mehrwertsteuererhöhung konnten wir den
Beitrag zur Arbeitslosenversicherung deutlich senken.
Da gab es zwischen FDP und Union einen kleinen Streit.
Aber ohne diesen Prozentpunkt aus der Mehrwertsteuererhöhung wäre eine Senkung nicht möglich gewesen.
Jetzt wird der Beitrag noch einmal verringert.
Wir haben sicherlich im Bereich der ALG-II-Empfänger ein Problem. Um in diesem Bereich mehr Bewegung
zu schaffen, halte ich es für denkbar, einen Eingliederungsbeitrag in Höhe von 50 Prozent der Eingliederungsmittel zumindest für eine gewisse Zeit zu beschließen. Dabei handelt es sich nicht um ein großes Hin und
Her und auch nicht um ein Gestrüpp, wie vorhin gesagt
worden ist, sondern es ist eine sehr überschaubare Maßnahme. Man weiß nämlich genau, welche Mittel von wo
nach wo fließen. Bei einer Verbesserung der Lage können wir uns sicher noch anderes vorstellen.
Ich halte es jetzt aber für hilfreich, so vorzugehen.
Dies ist gesetzlich durch § 340 SGB III abgesichert. Das
heißt, die Arbeitslosenversicherungsbeiträge dürfen
nach diesem Paragrafen auch für die Arbeitsförderung
genutzt werden.
Ich will kurz auf die Bildung des Sonderfonds eingehen. Ich halte ihn für vertretbar, weil wir zurzeit bei der
Bundesagentur eine Rücklage haben. Aus dieser Rücklage nehmen wir 2,5 Milliarden Euro als Grundstock,
um eine Versorgungsbasis für die dort beschäftigten Beamten und Angestellten zu schaffen.
Zum Schluss möchte ich noch einmal auf den Antrag
der Linken eingehen; denn ich finde, man darf nicht
durchgehen lassen, dass die Linke Woche für Woche mit
einer bunten Tüte durch das Plenum läuft und fragt: Wer
hat noch nicht, wer will noch mal? Wo können wir noch
ein bisschen Geld ausgeben? Vor allen Dingen mache
ich Ihnen den Vorwurf, dass Sie immer wieder Anträge
schreiben mit dem Ziel, den Menschen mehr Sozialleistungen zu gewähren: Sie wollen die Rente ab 67 nicht,
Sie wollen das ALG II erhöhen, Sie wollen die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes bis zum Gehtnichtmehr
verlängern. Das alles hilft den Menschen nicht. Sie
orientieren Ihre Politik nicht im Geringsten an denjenigen Menschen, die als Normalfall zu sehen sind, nämlich
an denjenigen Menschen, die in Arbeit sind.
({5})
Es ist der Regelfall, dass man in Arbeit ist. Wir tragen so
weit wie möglich dazu bei, Menschen in Arbeit zu bringen. Das ist das Ziel unserer Politik. Daran orientieren
Sie sich nicht. Sie nehmen die 40 Millionen Erwerbstätigen nicht zur Kenntnis. Die stören Sie nicht, die interessieren Sie nicht.
({6})
Sie nehmen nicht zur Kenntnis, dass wir sozialversicherungspflichtig Beschäftigte haben. Sie wollen vielmehr
das, was diese Menschen erwirtschaften, wieder ausgeben. Das ist eine alte Methode. Daran ist die DDR kaputtgegangen; das muss ich einmal ganz deutlich sagen.
({7})
- Danke.
Hin und wieder sollte man den Blick darauf wenden,
was in der Politik bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der Schaffung von neuer Arbeit ganz und gar
nicht geht. Ich empfehle allen Kollegen, zwischendurch
einmal einen Antrag der Linken zu lesen. Sie werden
dann gehäuft all das lesen, was ganz und gar nicht hilft,
den Arbeitsmarkt nach vorne zu bringen. Im vorliegenden Antrag ist es wieder so. Sie wollen keine Beitragssenkung, obwohl erkennbar ist, dass die Beitragssenkungen dazu geführt haben, mehr Arbeit zu schaffen.
({8})
- Lesen Sie nicht nur Ihre linksgefärbten Bücher! Kaufen Sie sich einmal ein ordentliches Buch zu Weihnachten; das lohnt sich! - Sie wollen ein gestaffeltes ALG
mit einer so langen Bezugsdauer, dass man dazu nur
sagen kann: herzlichen Glückwunsch! Sie wollen Ausbildungsplätze schaffen - natürlich wieder außerbetriebliche. Sie wollen das SGB III für alles Mögliche einsetzen; alles soll weiter, höher und schneller kommen. In
dieser Olympiade haben Sie zwar längst gewonnen; die
Bürger in diesem Land werden Sie aber nicht linken
können.
Danke.
({9})
Zu einer Kurzintervention hat nun die Kollegin
Dr. Barbara Höll das Wort.
Herr Mecklenburg,
({0})
wir haben sicher nicht die Zeit - dies ist auch nicht der
Platz -, eine Geschichtsstunde zu halten. Das Wirtschaftssystem der DDR ist klar gescheitert. Das weiß ich
vielleicht besser als Sie; ich war DDR-Bürgerin.
({1})
Es ist aus verschiedenen Gründen gescheitert. Die DDR
hatte ganz andere Startbedingungen als die Bundesrepublik. Sie war nicht frei in ihrer Entwicklung. Sie war in12498
effektiv. Es gab auch in der DDR viel Bürokratie usw.
usf.
Aber eines hatten wir in der DDR wirklich nicht: Wir
hatten de facto keine Arbeitslosen.
({2})
Es ist ein Riesenunterschied, ob die Menschen in Arbeit
sind oder ob wie heute immer noch 3,5 Millionen Menschen davon ausgeschlossen sind, sich ihren Lebensunterhalt selber erwerben zu können. Die Wirtschaft ist
nicht dazu da - daran halten wir fest; Sie können ruhig
sagen, das sei nach hinten gewandt -, dass die Gewinne
bzw. die Einkommen der Manager steigen und immer
nur die Rendite gesehen wird. Die Wirtschaft sollte sich
um alle Menschen in unserer Gesellschaft kümmern; darum geht es uns.
Lesen Sie unsere Anträge bitte richtig. Wir lesen Ihre
übrigens auch; denn sonst könnten wir hier ja nicht Politik machen. Wir setzen uns durchaus damit auseinander.
Sie haben nur die Senkung der sogenannten Lohnnebenkosten im Kopf.
({3})
Sie zielen dabei nur darauf ab, die Aufwendungen der
Unternehmen zu senken. Deswegen sind Sie von der paritätischen Finanzierung abgewichen. Ihnen ist die Belastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer doch
egal. Sie haben das Prinzip der paritätischen Finanzierung aufgegeben. Schauen wir uns doch einmal Ihre Reformen im Gesundheitswesen an!
Sie haben uns pauschal vorgeworfen, wir würden nur
verteilen wollen. Das stimmt nicht. Sie verschließen sich
vielmehr unseren Umverteilungsvorschlägen. Wir haben
verschiedene Vorschläge zur Vermögensteuer, zur Erbschaftsteuer und zum Zuständigkeitsbereich der Bundesagentur für Arbeit gemacht. Wir haben zum Beispiel
vorgeschlagen, dass Weiterbildungsmaßnahmen länger
als drei oder sechs Monate dauern können. Die Bundesagentur weiß, dass Leute, die ALG I beziehen, nach
zwölf Monaten aus der Förderung herausfallen. Es geht
um langfristige Maßnahmen. All dem müssen Sie sich
endlich stellen. Sie müssen vor allen Dingen die Leute,
die heute langzeitarbeitslos sind, wieder fördern. Das ist
Ihre Aufgabe.
Es ist einfach lächerlich, uns hier vorzuwerfen, wir
würden uns nicht für die Leute interessieren. Die Leute
wissen, dass wir für sie kämpfen. Wir haben auch schon
einiges erreicht.
({4})
Der Kollege Meckelburg hat die Möglichkeit, zu erwidern.
Ich mache jetzt nicht den Fehler, Ihren Namen falsch
auszusprechen, Frau Höll.
({0})
Das ist verzeihbar. Wenn man Meckelburg heißt, sagt
mancher „Mecklenburg“ oder „Vorpommern“.
({1})
Ich will Ihnen erstens ganz deutlich sagen: Sie hatten
in der DDR keine Arbeit, allerdings Beschäftigung. Bei
mehreren Besuchen habe ich selbst gesehen, dass die
Leute alle etwas zu tun hatten. Gegen Mittag war die Arbeit aber aus. Sie können uns nicht weismachen, es hätte
Arbeit und Beschäftigung wirklich gegeben. Genau daran ist die DDR nämlich kaputtgegangen.
({2})
In der Landwirtschaft zum Beispiel waren in der DDR
siebenmal so viele Menschen beschäftigt wie in Westdeutschland, ohne dasselbe zu erreichen. Dieses Einzelbeispiel zeigt, was da wirklich los war. Das war keine
produktive Arbeit. Da ist nichts bei rumgekommen.
({3})
Da Sie offensichtlich vieles nicht richtig gesehen haben, möchte ich als letzten Satz sagen: Sie hatten offensichtlich auch keine politischen Gefangenen in der DDR.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/6741 und 16/6035 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Rita
Pawelski, Wolfgang Börnsen ({1}),
Laurenz Meyer ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der
Abgeordneten Siegmund Ehrmann, Martin
Dörmann, Monika Griefahn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Kulturwirtschaft als Motor für Wachstum
und Beschäftigung stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten HansJoachim Otto ({3}), Christoph Waitz,
Vizepräsidentin Petra Pau
Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Die Kulturwirtschaft als Zukunfts- und
Wachstumsbranche in Europa stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin
Göring-Eckardt, Kerstin Andreae, Grietje
Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Bedeutung der Kulturwirtschaft anerkennen und ihren Stellenwert auf Bundesebene nachhaltig fördern
- Drucksachen 16/5110, 16/5101, 16/5104,
16/6742 Berichterstattung:
Abgeordnete Rita Pawelski
Hans-Joachim Otto ({4})
Dr. Lukrezia Jochimsen
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Günter Krings, Wolfgang Börnsen
({6}), Steffen Kampeter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der
Abgeordneten Monika Griefahn, Siegmund
Ehrmann, Petra Merkel ({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Populäre Musik als wichtigen Bestandteil des
kulturellen Lebens stärken
- Drucksachen 16/5111, 16/6731 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Günter Krings
Hans-Joachim Otto ({8})
Dr. Lukrezia Jochimsen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Auch dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Wolfgang Börnsen für die Unionsfraktion.
({9})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Kultur ist Brot für die Seele. Doch Kultur kann
mehr: Gekoppelt mit der Wirtschaft war sie in den letzten zehn Jahren der zuverlässigste Jobmotor in unserem
Land.
({0})
Jahr für Jahr gab es bei den Arbeitsplätzen eine Steigerung um 3 Prozent. Das sind 30 Prozent in zehn Jahren.
Wenige Branchen in unserem Land sind so erfolgreich
wie die Kulturwirtschaft.
({1})
Man zählt 825 000 Beschäftigte dazu. Mit dem Bereich
Chemie hat man gleichgezogen, die Automobilwirtschaft sogar bereits um 200 000 Arbeitsplätze übertrumpft. Diese Entwicklung wollen wir von der Union
nicht nur stabilisieren, sondern ihr auch eine zusätzliche
Dynamik geben.
Deshalb diese Initiative. Sie geht davon aus, dass der
eigentliche Treibriemen für diese eindrucksvolle Aufwärtsentwicklung der Kulturwirtschaft die Kreativität
ist. Die schöpferischen Prozesse führen zu neuen Ideen
und Initiativen. Kreativität ist der eigentliche Rohstoff
für den Erfolg des Standortes Deutschland.
({2})
Das gilt für viele wirtschaftliche Abläufe und so manche
unternehmerische Entscheidung.
Darüber hinaus sind die Creative Industries ein bedeutender Wirtschaftsfaktor geworden. Musikwirtschaft,
Theaterhäuser, Verlagsgewerbe, Literatur-, Buch- und
Pressemarkt, Film, Kunstmarkt, Video, Rundfunk, Design, Architektur, Museen, Kunstausstellungen, der Werbemarkt und die Spieleindustrie - sie alle gehören zu den
Kernbranchen der Kulturwirtschaft. In der Kulturwirtschaft ist die Produktion künstlerischer und kultureller
Güter die gemeinsame Grundlage. Sie ist das Herzstück
der Kreativwirtschaft. Sie wird noch um die Bereiche
Werbung und Multimedia ergänzt. In der Kreativwirtschaft verbinden sich kulturelle Ideen mit technologischer oder wissenschaftlicher Kreativität. Ohne Kreativität gibt es keine Ideen, keine Innovationen und keine
Entwicklung.
Im harten ökonomischen Wettbewerb wird nur der
Standort gewinnen, an dem die kreativsten Köpfe am
meisten gefördert werden.
({3})
Das gilt von der Forschung bis hin zur Wirtschaft und
Wissenschaft; das gilt auch im internationalen Wettbewerb. Deutschland muss in Zukunft verstärkt auf die
Kreativität setzen. Dann haben wir weiterhin großartige
Chancen auf dem Weltmarkt.
({4})
Diese Förderung der Kreativ- und Kulturwirtschaft
stärkt die Innovationsfähigkeit unseres Landes, wie auch
alle Wissenschaften es tun. Ohne Kreativität können wir
keine Zukunftsperspektiven entwickeln. „Deutschland Land der Ideen“, diese Initiative setzt auf schöpferisches
Tun. Dieses gute Beispiel sollte in jeder Stadt, an jedem
Ort Schule machen.
Diese Ausrichtung bezweckt auch die Berliner Erklärung der Staats- und Regierungschefs vom 25. März dieses Jahres. Sie schreiben gemeinsam:
Europas Reichtum liegt im Wissen und Können seiner Menschen; dies ist der Schlüssel zu Wachstum,
Beschäftigung und sozialem Zusammenhalt.
Wolfgang Börnsen ({5})
Wissen, Können und Kreativität, diese Ressourcen
haben wir weiterzuentwickeln und auszubauen.
({6})
Diese Botschaft müssen wir noch mehr als bisher in das
Bewusstsein aller Bürger rücken.
Eine weitere Klarstellung gehört in diesen Zusammenhang: Kultur ist wahrlich keine brotlose Kunst. Sie
ist ein bedeutender Standortfaktor. Wenn es überall in
Europa saubere Luft, niedrige Steuern, die gleichen Lebensmittel und ordentliche Schulen gibt bzw. geben
sollte, dann spielt es für die Ansiedlung von Wirtschaftsunternehmen eine große Rolle, wenn diese in einer Stadt,
in einer Region auf eine Kulturszene treffen, die bunt,
vielfältig und hochwertig ist. Das ist ein Standortfaktor
für die Zukunft.
({7})
Eine lebendige Kulturwirtschaft zieht Musiker,
Schriftsteller, Theaterleute, Maler oder Bildhauer an.
Diese Entwicklung kommt der Kulturwirtschaft zugute
und löst wieder neue Prozesse aus. Dies ist ein Teufelskreis - diesmal ein positiver -, der bei der Entwicklung
ganzer Regionen eine Rolle spielt.
Die Kulturwirtschaft nimmt vielerorts Einfluss auf
den Strukturwandel. Wo die alten Industrien weichen
mussten, haben Investitionen in die Kulturwirtschaft den
Charakter von Regionen verändert. Prominentes Beispiel in Deutschland ist das Ruhrgebiet, für das die Zeche Zollverein zum Symbol des Wandels geworden ist.
Zu Recht findet die Leistung, die dort von den Menschen
vollzogen worden ist, internationale Anerkennung durch
die Auszeichnung Essens und seiner Region als Kulturhauptstadt 2010. Das ist auch eine Anerkennung der
Kulturwirtschaft selbst.
Wo ein kreatives Klima gefördert wird, entsteht
Wachstum, werden hochwertige Arbeitsplätze geschaffen, entwickeln sich der Erfindungsreichtum und die
Leistungskraft einer Region ungewöhnlich stark. Grund
dafür ist auch die Struktur der Kulturberufe. Besonders
die Selbstständigen sorgen für eine neue Wachstumsdynamik: Designer, Grafiker, Film- und Bühnenausstatter, Ton- und Bildingenieure, Journalisten, Übersetzer,
Schriftsteller und viele andere mehr. Ihre Anzahl hat in
den vergangen zehn Jahren einen Anstieg von
50 Prozent erreicht. Die Gruppe der Selbstständigen in
den Kulturberufen wächst viermal schneller als die Gesamtgruppe aller Selbstständigen in unserem Land. Jeder
Dritte in der Kulturwirtschaft steht auf eigenen Beinen.
Gerade diesen Einzelkämpfern muss unsere besondere
Aufmerksamkeit dienen. Sie sind eine entscheidende
Triebfeder und sorgen für Initiative, Dynamik und Zukunft.
Mit der heutigen Initiative stellen wir uns dieser Aufgabe. Dass es dazu fraktionsübergreifend kommt, verdeutlicht die Ernsthaftigkeit dieses gemeinsamen Anliegens. Meinen kooperativen Kolleginnen und Kollegen
- ganz besonders nenne ich Rita Pawelski, Sigi
Ehrmann, Joachim Otto, Grietje Bettin und Lukrezia
Jochimsen - danke ich dafür.
({8})
Mein Dank gilt auch den beteiligten Häusern von Staatsminister Bernd Neumann, der eine prima Voraussetzung
geschaffen hat, und Wirtschaftsminister Michel Glos.
Die Kulturwirtschaft hat Augenhöhe erreicht.
({9})
Vergessen wir eines nicht: Kultur ist auch Heimat; sie
stiftet gerade in Zeiten der Globalisierung Orientierung
und Zusammenarbeit. Kulturwirtschaft bedeutet daher
nicht die Reduzierung von Kultur auf ein reines Wirtschaftsgut. Kultur steht immer zuerst als Wert für sich.
Wo sie sich lebendig und attraktiv entwickeln kann, dort
lassen sich Menschen nieder. Sorgen wir gemeinsam dafür, dass es dazu überall in unserem Land kommt!
Danke schön.
({10})
Das Wort hat der Kollege Hans-Joachim Otto für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst ein Lob.
({0})
- Sie wissen doch gar nicht, was kommt.
({1})
Ich habe es in meinem parlamentarischen Leben recht
selten erlebt, dass die Inhalte verschiedener - partiell sogar etwas gegenläufiger - Anträge von den Regierungsfraktionen so unvoreingenommen geprüft und zum Teil
übernommen worden sind wie in diesem Fall. Dies muss
man wirklich lobend hervorheben. Ausdrücklich sage
ich der Kollegin Pawelski Dank - hier spreche ich sicherlich nicht nur in meinem eigenen Namen, sondern
auch in dem der übrigen Fraktionen und des Ausschusses für Kultur und Medien -, die dieses vorbildliche
Verfahren koordiniert hat und deren ganz persönliches
Verdienst es ist, dass die drei Anträge der Koalitionsfraktionen, von Bündnis 90/Die Grünen und der FDP so
erfolgreich zusammengeführt worden sind.
({2})
Es ist gut, dass wir bei diesem wichtigen Thema, das
nach meiner Kenntnis erstmals im Deutschen Bundestag
eingehend gewürdigt wird, mit einer Stimme sprechen.
Ich habe die berechtigte Hoffnung, dass von dieser DeHans-Joachim Otto ({3})
batte, diesem gemeinsamen Beschluss des Deutschen
Bundestages und natürlich auch dem Bericht der Enquete-Kommission, den wir im Dezember entgegennehmen werden, ein Impuls ausgeht, der auch noch den letzten Entscheidungsträger davon überzeugt, dass die
Kultur- und Kreativwirtschaft keine Liebhaberei und
keine Nischenwirtschaft ist, sondern ein zentraler Wirtschaftsbereich, in dem allein in Deutschland 117 Milliarden Euro Umsatz erzielt werden und 815 000 Beschäftigte einen Arbeitsplatz finden.
({4})
Aber die Kultur- und Kreativwirtschaft - das ist das
Besondere - ist nicht nur ein wichtiger Wirtschaftsfaktor
für unser Land, sondern auch eine Branche mit einem
gesellschaftlichen Mehrwert, weil sie mit Waren und
Dienstleistungen umgeht, die einen Doppelcharakter haben: zum einen Wirtschaftsgut, zum anderen Kulturgut.
({5})
Deswegen ist auch die geplante Zusammenarbeit von
BKM und Wirtschaftsministerium im Kern sicherlich
sinnvoll.
Ich hebe einen Aspekt der Kulturwirtschaft, den wir
Liberale zu dem gemeinsamen Antrag beigesteuert haben, in wenigen Sätzen hervor, nämlich die europäische
Dimension. Während wir in Deutschland seit Jahren auf
den ersten bundesweiten Kulturwirtschaftsbericht warten, hat die Europäische Kommission bereits vor einem
Jahr die Studie The Economy of Culture in Europe vorgelegt, die ein beeindruckendes Bild der Kultur- und
Kreativwirtschaft gezeichnet hat: 654 Milliarden Euro
Umsatz im Jahr 2003, 5,8 Millionen Beschäftigte und
beträchtliche Wachstumsraten, die - Kollege Börnsen
hat darauf hingewiesen - in diesem Bereich immer höher
als in der Gesamtwirtschaft sind. Dies beweist für jeden
sichtbar die wirtschaftliche Bedeutung dieser Branche.
Daher haben wir uns in dem vorliegenden Antrag dafür ausgesprochen, dass die Kreativwirtschaft Teil der
Lissabon-Strategie wird, die sich zum Ziel gesetzt hat,
die EU bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Vor diesem Hintergrund müssen wir vor allem auf das Potenzial
der kleinen Unternehmen setzen und Fördermaßnahmen
auf diese abstimmen, da sie gerade in dieser Branche die
treibende Kraft für Wachstum, Beschäftigung und Innovationen sind.
Meine Damen und Herren, im Hinblick auf die europäischen Aspekte der Kulturwirtschaft möchte ich es mir
an dieser Stelle nicht verkneifen, auf die hochkarätig besetzte Kulturwirtschaftskonferenz hinzuweisen, die im
Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im Mai
dieses Jahres stattgefunden hat. Viele der hier Anwesenden haben daran teilgenommen. Diese Tagung mit dem
Titel „Kultur- und Kreativwirtschaft in Europa - Kohärente Politik in einer globalisierten Welt“ war im
Übrigen keine Veranstaltung der Bundesregierung, sondern es handelte sich um die mittlerweile immerhin
vierte Jahrestagung der Friedrich-Naumann-Stiftung für
die Freiheit, die gemeinsam mit dem Büro für Kulturpolitik und Kulturwirtschaft durchgeführt wurde.
Der fraktionsübergreifende Antrag zur Kulturwirtschaft ist aber nicht der einzige Gegenstand dieser Debatte.
({6})
Bei einem weiteren Antrag, der heute auf der Tagesordnung steht, ist die Bilanz bei weitem nicht so rosig; ich
ahne, dass dies auch der eine oder die andere Abgeordnete aus den Reihen der Koalitionsfraktionen, wenn er
bzw. sie ehrlich ist, so sieht. Ich meine den Antrag
„Populäre Musik als wichtigen Bestandteil des kulturellen Lebens stärken“ mit seinem zentralen Bestandteil,
der „Initiative Musik“.
Sie alle erinnern sich wahrscheinlich noch an die Geburtsstunde der „Initiative Musik“ - ihre Zeugung, um
bei diesem Bild zu bleiben, liegt gänzlich im Dunkeln -:
Ihre Geburtsstunde erlebte die „Initiative Musik“ bei den
Beratungen des Bundeshaushalts 2007, nachdem der Kulturausschuss seine diesbezüglichen Beratungen längst abgeschlossen hatte. Erst in der Bereinigungssitzung des
Haushaltsausschusses erfuhren die überraschten Kulturpolitiker - ich habe den leisen Verdacht, dass es nicht nur
den Mitgliedern der Oppositionsfraktionen so ging -, dass
der Etat der Kulturstiftung des Bundes mal eben um
3 Millionen Euro gekürzt worden war und dass 1 Million
Euro davon in eine „Initiative Musik“ gesteckt werden
sollte, von der damals niemand wusste, was genau sich
dahinter eigentlich verbirgt;
({7})
bei vielen ist das bis zum heutigen Tage so geblieben.
Es fällt sicherlich schwer, gegen eine Initiative zu
sein, die der betroffenen Branche nicht zum Nachteil gereichen wird - das hoffe ich jedenfalls.
({8})
Ich frage mich und Sie aber ernsthaft, ob diese Initiative,
nachdem das Projekt „German Sounds“ ein Misserfolg
wurde, konzeptionell auf einem festen und soliden Fundament steht. Die nicht allzu intensive Beteiligung der
Musikwirtschaft an diesem Projekt scheint mir ein Indiz
dafür zu sein, dass die „Initiative Musik“ nicht alle zu
überzeugen vermag.
Auch frage ich mich, ob die deutsche Musikwirtschaft
wirklich so unterstützungsbedürftig ist bzw. ob der Musikbranche nicht viel mehr geholfen wäre, wenn die allgemeine Wirtschaftspolitik der Regierung besser wäre
und Steuererhöhungen unterlassen worden wären.
({9})
Wir Freien Demokraten jedenfalls haben gestern beschlossen, eine Kleine Anfrage zu stellen, die eine Fülle
von Fragen zur „Initiative Musik“ beinhalten wird. Vielleicht wäre es sinnvoller, anderen Branchen, die zu Unrecht weniger öffentliche Wahrnehmung als die Popmusik genießen, mehr Aufmerksamkeit zu widmen, zum
Beispiel der Designbranche.
Hans-Joachim Otto ({10})
Ich komme zu meinem letzten Punkt zur Kulturwirtschaft. Ich würde mich freuen, lieber Herr Staatsminister
- wie ich sehe, schenkt er mir im Moment nicht sein Ohr -,
wenn wir in diesem Hause demnächst wieder einmal
über die Filmpolitik der Bundesregierung diskutieren
würden. Bei allem Respekt vor den und allem Lob für
die beachtlichen Leistungen des Kulturstaatsministers in
diesem Bereich gibt es insbesondere im Hinblick auf den
Deutschen Filmförderfonds durchaus Anlass, über die
Vergabebedingungen hier im Parlament im Einzelnen zu
diskutieren und zu erörtern, ob bzw. inwieweit die von
uns gemeinsam entwickelten Förderziele mit der derzeitigen Konstruktion optimal erreicht werden können.
({11})
Das Wichtigste an der Debatte des heutigen Tages ist
aber zweifellos, dass die Politik an die Kultur- und Kreativwirtschaft in großer Einmütigkeit das deutliche Signal
sendet, dass sie mit verstärkter Aufmerksamkeit und Unterstützung der Politik rechnen kann und wir die hervorragenden und weltweit konkurrenzfähigen Leistungen
der deutschen Kultur- und Kreativwirtschaft noch mehr
als bisher zu würdigen wissen.
Vielen Dank.
({12})
Nächster Redner ist der Kollege Siegmund Ehrmann,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Es ist in der Tat sehr erfreulich, dass es uns gelungen ist,
die unterschiedlichen Anträge zusammenzuführen und
zu einem gemeinsamen Antrag zu kommen. Allen, die
dabei mitgewirkt haben, möchte ich herzlich danken.
Insbesondere aber möchte ich für die sehr fachkundige,
außerordentlich liebenswürdige Moderation und Initiative Frau Pawelski danken.
({0})
- Frau Pawelski, das mache ich nachher Face to Face; es
war nur Gutes.
Das Thema Kulturwirtschaft scheint ein richtiges
Trendthema zu sein. Es gibt eine Fülle von Foren und
Tagungen. Allein im deutschsprachigen Sektor von
Google findet man etwa 400 000 Einträge. Es gibt eine
Fülle nationaler, regionaler, lokaler Aktivitäten. Dass das
nicht nur oberflächlich ist, stellt man fest, wenn man dahinter schaut; vieles davon hat Substanz.
Ich möchte mich in meinen Bewertungen auf zwei
Themenfelder konzentrieren. Denn trotz all der Euphorie, die mit der Kulturwirtschaft verbunden ist, gibt es
zumindest in einem bestimmten Sektor unserer Öffentlichkeit sehr kritische Einwände derart, dass die von uns
diskutierten Konzepte der Kultur- und Kreativwirtschaft
letztendlich ein Einfallstor seien, um marktradikale Konzepte durchzusetzen
({1})
- in der Tat, Herr Otto, so etwas soll es geben -, und
letztendlich eine Blaupause bildeten, um auch andere
Arbeitsmärkte und Branchen neu zu gestalten, umzustrukturieren. Der zweite Gedanke, auf den es mir ankommt, ist: Wie kann es uns gemeinsam gelingen, die
weitere parlamentarische Arbeit so zu gestalten, dass wir
dieses komplexe, fachübergreifende Thema vernünftig
begleiten?
Zum Ersten. Angelehnt an den Sozialwissenschaftler
Florida und all die Heroen, die ihm gefolgt sind,
({2})
ist die Analyse - auch Wolfgang Börnsen hat das vorhin
dargestellt -: Die Globalisierung führt in den alten Industriegesellschaften zu starken Veränderungen. Der
wirtschaftliche Wohlstand kann nicht mehr vollkommen
von der Industrie und dem ungeheuren Engagement des
mittelständischen Handwerks erbracht werden. Aber die
Wissensindustrie und der Dienstleistungssektor sind Felder, auf denen neue Dynamik entsteht. Die Kreativität ist
der entscheidende Wirtschaftsfaktor der Zukunft. - Insofern, so die Forderung vieler, die das seit vielen Jahren
begleitend analysieren, ist es wichtig, dass wir uns den
Akteuren im Bereich von Kunst und Kultur und, etwas
weiter gefasst, den sogenannten Kreativen zuwenden.
({3})
Die Gegenthese wird von der kritischen Gegenöffentlichkeit in Medien wie Freitag, der Jungen Welt, aber
auch der Zeit vertreten und mündet, grob umrissen, in
dem Vorwurf, die Kultur- und Kreativwirtschaft sei letztendlich das Versuchsfeld ebendieser veränderten, hochflexiblen, marktradikalen Politik. Ein Zitat von Thomas
Wagner aus der Jungen Welt vom 5. Mai 2007:
Mit dem schillernden Begriff der „Kreativität“
werben Exlinke … für die restlose Zerstörung des
Sozialstaates.
Als Beleg wird angeführt, dass in der Kulturwirtschaft
Prototypen prekärer Beschäftigungsverhältnisse dominieren:
({4})
atypische Beschäftigungsverhältnisse, unregelmäßige Arbeitszeiten, kurzzeitige Anstellungen, Mehrfachanstellungen.
({5})
Der hohe Prozentsatz der Selbstständigen wurde erwähnt: Etwa 25 Prozent der auf diesen Feldern Tätigen
sind selbstständig, die Mehrheit allerdings Kleinst- und
Kleinunternehmer mit geringem Einkommen. In der Argumentation derjenigen, die das kritisch betrachten, erhebt die Politik mit der positiven Bewertung der Kulturund Kreativwirtschaft ebendiese ausgeformten Beschäftigungsverhältnisse zum Vorbild und verbrämt sie letztendlich in einem modischen Gewand.
({6})
Auch wenn wir uns hier einig sind, liegt mir sehr daran, zumindest einige der kritischen Einwände, mit denen wir uns auseinanderzusetzen haben, anzuführen. So
ganz von der Hand zu weisen ist das alles ja nicht. Die
wirtschaftliche Situation insbesondere der Künstlerinnen
und Künstler ist in der Tat sehr problematisch.
(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das ist
deprimierend!
Wir wissen das auch aufgrund anderer Arbeiten, zum
Beispiel aus den Daten der KSK.
({7})
- Der Künstlersozialkasse, schönen Dank. Es ist immer
gut, wenn man einen Stichwortgeber hat. - Danach verdienen sie im Durchschnitt etwa 11 000 Euro im Jahr.
Allerdings gibt es starke Schwankungen; es gibt natürlich Felder, in denen ein Vielfaches erzielt wird.
Trotzdem besitzen Kulturberufe eine große Anziehungskraft. Die Entwicklung der Beschäftigtenzahl
wurde kurz umrissen: In den letzten zehn Jahren sind
dort etwa 200 000 Beschäftigte hinzugekommen. Das
Wachstum beträgt 3,6 Prozent. Ich nenne nur eine Berufsgruppe: In diesen zehn Jahren hat sich alleine im
Sektor der Designer und Grafiker die Zahl der Beschäftigten verdoppelt. 25 Prozent sind selbstständig.
Wenn dies alles so problematisch ist, dann ist es doch
ganz interessant, zu fragen, was eigentlich die Motive
dafür sind, dass sich die Menschen auf diesen Feldern in
die Selbstständigkeit begeben. Ich zitiere das Institut für
Medienforschung in München - das sieht gar nicht so
depressiv aus -:
({8})
58 Prozent derjenigen, die sich bewusst für diesen Beruf
entschieden haben, sind froh, dass sie die Inhalte ihrer
Arbeit und auch die Arbeitszeit sehr stark selbst bestimmen können.
({9})
Allerdings ist auch zur Kenntnis zu nehmen, dass
32,5 Prozent der Selbstständigen aussagen, dass sie deshalb selbstständig sind, weil sie keine Anstellung finden.
Diese Zahl ist zu hoch. Trotzdem ist zu erkennen: Etwa
60 Prozent wählen mit voller Inbrunst und Überzeugung
die Selbstständigkeit in diesen Berufen.
Natürlich sind nicht alle Menschen für die Anforderungen und Herausforderungen in diesen Berufsfeldern
geeignet. Allerdings werden die künstlerisch-kreativen
Berufe immer beliebter. Viele Menschen entscheiden
sich bewusst für den Beruf und sehen die Arbeitsbedingungen auch als Vorteil an.
Insofern gibt es ein großes Spannungsfeld: auf der einen Seite interessante Märkte mit großen Potenzialen,
auf der anderen Seite häufig problematische Arbeitsund Lebensverhältnisse der Beschäftigten. Aus diesem
Spannungsverhältnis folgt das Politikkonzept, das wir
hier gemeinsam erarbeitet haben. Wir wollen diesen Zustand nicht sich selbst überlassen, sondern zu einer gestaltenden Politik kommen. Auf der einen Seite wollen
wir im Sinne einer dynamischen Wirtschaftsentwicklung
die Sektoren der Kultur- und Kreativwirtschaft dynamisieren; auf der anderen Seite wollen und müssen wir den
dort Beschäftigten aber auch faire Bedingungen eröffnen. Diese Aufgabe müssen wir anpacken.
({10})
Hier setzen wir an, indem wir mindestens drei Punkte
ansprechen und mit konkreten Anregungen hinterlegen:
Es geht um Existenzförderung, um Existenzsicherung
und letztendlich auch um die soziale Absicherung der
unterschiedlichen Lebensrisiken. Die Künstlersozialkasse wurde genannt. Das ist ein ganz wichtiger Ansatz.
Es ist aber auch zu prüfen, inwieweit wir dort mit den
Instrumenten der Arbeitsmarktpolitik - SGB II und
SGB III - flankierend tätig werden können.
Insofern bin ich davon überzeugt - die kritische Gegenöffentlichkeit nicht ignorierend, sondern ihr gegenüber argumentierend -, dass wir den positiven Aspekten
mit diesem Politikkonzept, das dem Antrag zugrunde
liegt, in vollem Umfang Rechnung tragen. Wir sitzen
hier nicht einem Hype auf, sondern wir packen das
Ganze an, indem wir versuchen, kultur-, wirtschafts- und
sozialpolitische Ordnungsrahmen zu schaffen, um den
Menschen in diesen Feldern Perspektiven zu bieten und
insbesondere unserer Ökonomie Zukunftsfelder zu eröffnen.
({11})
Zum Abschluss noch ein Gedanke zum Thema politische Gestaltung. Die politische Gestaltung bedarf der
Institutionalisierung. Kultur- und Kreativwirtschaft bedeuten einerseits Kunst und Kultur und andererseits sehr
komplexe Wertschöpfungsketten. Vom Doppelcharakter
der kulturellen Güter und Dienstleistungen wurde bereits
gesprochen. Sie sind auf der einen Seite Träger von
Ideen und Wertvorstellungen, auf der anderen Seite aber
auch Waren auf Märkten; hier geht es um Eigenwert und
Wirtschaftsgut. Diese starken wechselseitigen Beziehungen finden sich in den Feldern, die wir unter dem Aspekt
öffentlich geförderter Kulturpolitik betreiben, aber auch
in den Feldern der Wirtschaftsförderung wieder. Weil
Kultur- und Kreativwirtschaft unter diesem Betrachtungswinkel eine Querschnittsaufgabe ist, müssen wir
auch im Parlament darüber nachdenken, wie wir diese
Aktivitäten in der Zukunft begleiten.
Die Bundesregierung hat sich darauf eingestellt, diese
Themen in den betroffenen Häusern - wie heißt das so
schön? - seriell zu bearbeiten, indem man Vorlagen und
Berichte durch die Fachausschüsse jagt. Ich finde, gerade die gemeinsame Erarbeitung dieses Themas durch
die Kultur- und Wirtschaftspolitiker der Fraktion hat gezeigt, dass auch die direkte Kommunikation einen hohen
Wert hat. Wir haben ein Feld, das sehr stark und unstreitig der Kultur- und Kreativwirtschaft zuzuordnen ist: den
Unterausschuss Neue Medien.
({12})
Meine Anregung ist, ob wir uns nicht darauf verständigen können, die koordinierenden Aufgaben unterhalb
der Ebene der Fachausschüsse diesem Ausschuss zuzuordnen, um eine fachlich breite, intensive und direkte
Kommunikation in einem sehr anspruchsvollen Thema
zu ermöglichen und unserem eigenen Anspruch Nachhaltigkeit zu vermitteln.
Insofern haben wir gemeinsam etwas Vernünftiges
auf den Weg gebracht. Jetzt liegt es auch an uns, das mit
Leben zu füllen, damit wir vielleicht in einigen Jahren
eine sehr gute Bilanz ziehen können. Es kommt auch
darauf an, dass wir die unterschiedlichen Politikebenen
der Länder, aber auch auf Europa blickend, miteinander
verknüpfen, um unserem Anspruch gerecht zu werden.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Dieter Dehm,
Fraktion Die Linke.
({0})
Meine Damen und Herren! Um es vorwegzunehmen:
Wir stimmen weder gegen den Antrag zur Popmusik
noch gegen den zur Kulturwirtschaft. Es geht uns um humanistische Kreativitätsentfaltung.
Mit die bedeutendsten Musiker Deutschlands von
Kunze bis Lindenberg fordern seit langem eine Rundfunkquote für deutsche Songs. Die Franzosen erleben
seit dieser Quote ein Aufblühen ihrer Popszene. Unsere
Rockmusiker fordern dies nicht, um Deutschtümelei zu
betreiben oder Musik aus Afrika oder Lateinamerika zu
behindern, sondern um die US-Übermacht am Weltmarkt wenigstens etwas einzudämmen.
Einige Kolleginnen und Kollegen wissen, dass ich mit
US-Künstlern und deutschen Bands arbeite. Lassen Sie
mich daher einige Beispiele nennen. Die niedersächsische Tonträgerfirma SPV. Sie gilt als das mittelständische Paradebeispiel und steht im Ranking sogar vor
US-Majors.
({0})
Aber auch SPV kann bei der Preisdrückerei von Ketten
wie Saturn und Media-Markt oft nicht mithalten, weil ihr
kreativer Kostenanteil von 2,40 Euro an einem Händlerabgabepreis von 3 bis 4 Euro zu hoch ist.
Wohl bemerkt: Auch ich liebe Springsteen, Cat
Stevens, Yusuf Islam und Billy Talent - das ist jetzt der
Werbeblock -; aber durch die angloamerikanische
Weltsprache im Pop verteilen sich die Kreativkosten der
US-Konzerne über den gesamten Globus auf wenige
Cent pro CD. Deutsche Firmen wie SPV zahlen aber das
30- bis 300-Fache. Wenn eine Plattenfirma hierzulande
also nicht nur als Importagentur, sondern auch als
Talentförderin agiert, gerät sie in die existenzielle Kostenzange zwischen CD-Piraterie und Media-Markt-Erpressung.
In seiner gegenwärtigen Gestalt bedroht der internationale Unterhaltungsmarkt die regionalen kulturellen
Wurzeln nicht nur bei uns. Ich danke für die diesbezüglichen Hinweise des Kollegen Ehrmann.
Die Kölner Band „Brings“ oder die deutschsprachigen Rapper der Band „Microphone-Mafia“, die aus Türken und Italienern besteht, gehören rein handwerklich
zur Weltspitze, bleiben aber im Rheinland hängen. Sie
können sich dort einigermaßen reproduzieren, weil das
Rheinland kaufkraftstark ist. Ganz anders sieht es aber
bei der Thüringer Band „Emma“ aus dem Eichsfeld aus,
wo eine immense Arbeitslosigkeit und eine ganz geringe
Kaufkraft zu verzeichnen sind, auch an der Kartenkasse.
Jedes Bandmitglied muss täglich zehn Stunden - etwa
am Bau - arbeiten und daneben proben und auftreten.
Für diese Bands wäre es wichtig, etwa in einer bundesweiten Messe der regionalen Popmusik zusammenzukommen und vor neuem, überregionalem Publikum zu
spielen, mitgetragen von Rundfunkanstalten, Bund und
Ländern.
Wie sind denn die Grönemeyers, Niedeckens, Lages,
Karats oder Kunzes aufgestiegen? Damals gab es das
„Haus der jungen Talente“ und eine große Zahl von
Folkclubs und soziokulturellen Zentren, in denen sie
noch als Liedermacher oder in ganz kleiner Besetzung
Aug’ in Aug’ mit dem Publikum ihre Pointen, Lyrik und
Gitarrenriffs wie in einem Laboratorium abprüfen konnten.
Mit dem Kaputtkürzen des Sozialstaats wurden dann
aber auch Clubs und Musikschulen zugemacht. Heute ist
Musikerausbildung oft nur dickeren Portemonnaies vorbehalten. Gleichzeitig wurden Fernsehplätze für kritische Lieder - ich denke an den Liederzirkus mit Michael
Heltau, an Lieder und Leute und anderes - gestrichen.
Was aber heute groß da steht, sagt der Liedermacher
Maurenbrecher, hat stets winzig angefangen. Der kleine
„Club Voltaire“ zwischen den Frankfurter Bankhochhäusern und das kleine „Gartenhaus“ oder der „Jazz-Club“
in Hannover standen zwar an der Wiege großer Künstlerentwicklungen, aber ihre Existenzangst ist bis heute
geblieben. Neben den Linken in Niedersachsen und Hessen sind auch Sie alle aufgerufen, hier konkret zu helfen.
Ich bin als Texter, Komponist und Verleger jeweils
Vollmitglied der GEMA. Lassen Sie mich aber auch von
hier aus an die GEMA appellieren. Dass die GEMA unser Urheberrecht schützt, ist gut. Dass die GEMA kleinen Vereinen im Sport, im Karneval oder im Kleingarten
horrende Strafsummen aufbrummt, wenn diese mal Musik einspielen, ist jedoch grundfalsch.
({1})
Ohne unsere Vereine ist Kulturleistung, auch die der
GEMA, in Deutschland nicht überlebensfähig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist ein Fehler
- Herr Kollege Börnsen hat vorhin meine Kollegin
Lukrezia Jochimsen ausdrücklich gelobt; aber bei der
Einbringung des Antrags waren wir plötzlich draußen -,
dass Sie die Linke als einzige Partei aus der Einbringung
Ihres Antrags ausgegrenzt haben, auch wegen des
großen Potenzials an Rockmusikern, Theaterleuten,
Kabarettisten, Autoren, die uns Linke und andere bei außerparlamentarischen Aktivitäten, etwa von Gewerkschaften, Greenpeace und der Friedensbewegung, unterstützen.
Ihre Anträge müssen noch mit konkretem Leben gefüllt werden. Warum nicht bei mehr offiziellen Feierlichkeiten Popmusik aus den Regionen mit einbeziehen? Der
„Starclub“ der Beatles in Hamburg ist abgerissen. Aber
die Burg Waldeck gibt es noch, wo viele ihren Anfang
nahmen, wie Katja Ebstein, Hannes Wader, Konstantin
Wecker und Reinhard Mey. Oder können wir nicht die
ersten Auftritts- und Probenräume unserer großen Songkünstler, wie Gundermann und Nina Hagen, durch
Denkmalschutz finanziell stabilisieren und gleichzeitig
die Probenräume, Studios und Vermarktungsmöglichkeiten junger Bands fördern?
Warum generieren wir nicht auch Gedenktage völlig
neuer Art, zum Beispiel den Todestag von Rio Reiser,
oder im Juni 2009 zum 30. Jahrestag des Bestehens von
Rock gegen Rechts, das 1979 in Frankfurt immerhin einen NPD-Bundesparteitag verhindert hat? Oder zum
25. Jahrestag der großen Friedenskundgebung mit Willy
Brandt und vielen Künstlern im Bonner Hofgarten? Es
gäbe auch offizielle Möglichkeiten, sich solch großartiger Volkskünstler wie Karl Valentin und Wolfgang
Neuss gemeinsam mit jungen Kabarettisten zu erinnern
und in diesem Zusammenhang endlich den politischen
Rundfunkboykott gegen die Altmeister des deutschen
Chansons Franz Josef Degenhardt und Dieter Süverkrüp
oder gegen den mutigen Hannoveraner Kabarettisten
Dietrich Kittner nach 30 Jahren zu beenden.
({2})
- Auch der wird zu wenig im Radio gespielt. Ich erwähne ihn gerne, wenn du mich darauf ansprichst.
Lassen Sie uns also diese Anträge nur als Anfang verstehen, in einen Prozess einzutreten, bei dem wir zuhören, vor allem den Künstlerinnen und Künstlern, auch
dort, wo diese ihre sozialen Arbeitsbedingungen und die
Lohnsituation ihrer potenziellen Kunden in ihren Liedern und Interviews problematisieren. Hören Sie auf,
auch dort, wo Sie in Aufsichtsräten sitzen, Linke und
linke Künstler aus dem Rundfunk, aus dem Kulturdiskurs oder aus solchen Anträgen wie heute auszugrenzen!
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({3})
Ich gebe der Kollegin Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Es gehört immer dazu, dass erst einmal davon geredet wird, wer ausgegrenzt ist. Ich finde, an dieser Stelle
muss man ganz klar sagen: Diejenigen, die einen Antrag
zum Thema Kulturwirtschaft gestellt haben, haben sich
zusammengetan und überlegt, ob sie einen gemeinsamen
Antrag zustande bringen. Von der Linken gab es keinen
Antrag. Deswegen kann da von Ausgrenzung nicht die
Rede sein.
({0})
Insofern ist dieser Vorwurf wirklich völlig verfehlt.
Wir haben schon in der letzten Legislaturperiode
- leider nicht mit Ihrer Beteiligung - über eine Quote für
deutsche Musik diskutiert.
({1})
Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Es geht hier um die
Freiheit,
({2})
darum, dass wir in einer multikulturellen Gesellschaft leben und dass wir mit einer Quote ganz bestimmt nicht
weiterkommen; das ist von vorgestern.
({3})
Eine Quote hatten wir in der DDR.
({4})
Aufgrund meiner persönlichen Erfahrung darf ich Ihnen
sagen: Ich fand das als Jugendliche furchtbar, schrecklich. Das brauchen wir nicht wieder.
({5})
Sie haben die soziale Situation der Künstlerinnen und
Künstler angesprochen, gerade der kleinen. Wir streiten
mit unserem Kulturwirtschaftsantrag für eine Verbesserung der sozialen Situation. Ich finde, hier gibt es ein
großes Feld politischer Betätigung, um das wir uns dringend kümmern müssen. Gerade die kleinen Künstler und
Künstlerinnen, die kleinen Kreativen in der Kreativwirtschaft brauchen mehr Unterstützung, und zwar auf allen
Ebenen, sowohl in der Kulturwirtschaft als auch in der
Arbeitsmarktpolitik.
Vor ungefähr einem Jahr begann die Kulturwirtschaft,
im Bundestag eine Rolle zu spielen. Wir haben eine
Kleine Anfrage zu diesem Thema an die Bundesregierung gerichtet. Damals war von Regierungsseite zu diesem Thema noch nicht sehr viel zu hören. Mittlerweile
gibt es einen kreativen Wettbewerb zwischen Kulturstaatsminister und Wirtschaftsminister. Ich finde das gut.
Ich nehme an, dass die Kulturpolitikerinnen und Kulturpolitiker am Ende eine Jury benennen werden, die dem
Kreativsten der beiden einen Orden verleihen wird. Dieser Wettbewerb ist auf jeden Fall gut und sorgt dafür,
dass bei der Förderung der Kulturwirtschaft mehr passiert.
({6})
Die lange Zeit etwas undurchsichtige Initiative „Kultur und Kreativwirtschaft“ des Wirtschaftsministeriums,
die kürzlich öffentlich gemacht wurde, enthält zum großen Teil Punkte, die im Kulturausschuss von den Fraktionen erarbeitet wurden. Als Kulturpolitiker können wir
sagen: Liebes Wirtschaftsministerium, ihr dürft gern
weiter von uns abschreiben; das ist sehr fundiert und
macht viel Spaß in der Zusammenarbeit.
({7})
In den nächsten Wochen wird sich zeigen, ob diese
Initiative mehr als nur Round Tables und Tagungen hervorbringt. Wir werden sehr genau darauf achten, ob Tatsachen geschaffen werden und ob mehr passiert als während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, bei der viel
diskutiert, aber wenig gehandelt wurde. Die Zeit ist reif,
zu handeln.
Uns geht es vor allem um die Klein- und Kleinstunternehmen; darauf wurde schon hingewiesen. Die von
uns in Auftrag gegebene Studie „Kultur- und Kreativwirtschaft - aktuelle Trends unter besonderer Berücksichtigung der Kreativszene“ zeigt, dass gerade die
Kleinen maßgebliche Ideen- und Impulsgeber für die
Kreativwirtschaft sind. Da ist das Potenzial; da passiert
das Neue; da wird ausgedacht und ausprobiert. Das ist
nicht nur für die Kulturwirtschaft wichtig, sondern auch
für viele gesellschaftliche Prozesse, die dort ausprobiert
werden können.
({8})
- Auch für politische Prozesse. - Darauf können wir
stolz sein. Aber das müssen wir auch unterstützen. Gerade hier entstehen auf experimentelle Weise kulturelle
Erzeugnisse. Hier werden Prototypen der Kultur- und
Kreativproduktion entwickelt. Die Anzahl solcher
Mikrounternehmen steigt zwar, wie wir gelernt haben;
ihre Umsätze nehmen allerdings ab. Das zeigt, dass hier
ein Missverhältnis besteht. Dem müssen wir begegnen.
Diese Klein- und Kleinstunternehmen besitzen oftmals ein schwach entwickeltes wirtschaftliches Potenzial und tragen nur selten zur Schaffung sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze bei. Deswegen fallen sie
häufig aus der Arbeitsmarktförderung heraus. Wir müssen Rahmenbedingungen schaffen, die an die Existenzund Arbeitsbedingungen dieser Mikrounternehmen angepasst sind. Wir müssen etwas Neues schaffen, damit
hier die Kreativität weiter wirken kann, damit wir etwas
davon haben und damit die gesellschaftlichen Impulse
weitergehen können.
Ein weiterer wichtiger Punkt. Künstlerinnen und
Künstler dürfen nicht nur als Unternehmerinnen und Unternehmer verstanden werden. Wir dürfen Kultur nicht
nur nach ihrer Verwertbarkeit beurteilen. Kultur hat eben
auch jenseits dieser Verwertbarkeit einen Wert, und
Künstlerinnen und Künstler müssen, sollen, dürfen Unnützes und Überflüssiges produzieren. Nur dann können
sie weiter kreativ sein. Auch das muss in dieser wirtschaftlich geprägten Debatte sehr deutlich gesagt werden.
({9})
Es kommt gleichzeitig darauf an, Kunst- und Kulturschaffenden zu ermöglichen, von der Kunst leben zu
können. Auch das hat etwas mit der Wertschätzung ihrer
Arbeit zu tun. Ich will deutlich machen, dass gerade die
Kleinen und Kreativen von Fördermöglichkeiten wissen
müssen, dass sie Erstinformationen über kulturrelevante
europäische Förderfonds und über die Förderprogramme
bekommen, die wir haben. Oftmals haben sie nicht die
Möglichkeit, sich an jemanden zu wenden, der tatsächlich weiterhelfen kann. Hier brauchen wir mehr Transparenz.
Zum Thema Popmusik einige wenige Worte an dieser
Stelle. Wir werden uns bei dem Antrag enthalten.
({10})
Warum? Wir finden, es macht keinen Sinn, wieder nur
die Majorfirmen an den Tisch zu bitten. Es fehlen die
kleinen Independent Labels, die kleinen Unternehmen,
die innovative Stile entwickeln. Auch inzwischen so bekannte Musiker und Bands wie Clueso oder Tocotronic
haben ihre ersten Veröffentlichungen bei unabhängigen
Labels herausgebracht. Clueso tut das noch heute mit
seiner Hausagentur Zughafen. Berliner Techno, der inzwischen auch von der CDU als Standortfaktor gefeiert
wird, wurde auch nicht von den Majorlabels erfunden,
sondern von kleinen, unabhängigen Produzenten und
Vertrieben. Sie sollten noch einmal darüber nachdenken,
ob Sie die nicht mit an den Tisch holen, wenn es um die
Initiative zur Popmusik geht.
({11})
Letzter Satz: Ich möchte mich ganz herzlich für die
Initiative von Frau Pawelski bedanken. Die Zusammenarbeit war wirklich sehr fair und sehr gut. Sie haben das
sehr kompetent gemacht. Ich freue mich jetzt sehr auf
Ihre Rede.
({12})
Damit gebe ich das Wort der Kollegin Rita Pawelski,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Erst einmal ganz herzlichen
Dank für die netten Worte. Es ist selten, dass man hier
von allen Seiten gelobt wird.
({0})
- Herr Tauss, jetzt sagen Sie doch auch einmal etwas
Nettes.
({1})
Es hat mir Spaß gemacht, mit Ihnen gemeinsam Ideen zu
entwickeln. Für uns stand ganz oben auf der Agenda die
Idee, der Kultur- und Kreativwirtschaft den Stellenwert
einzuräumen, den sie wirklich verdient.
({2})
Es war die Idee, alle Kreativen und Kulturschaffenden
unter einem Dach zu vereinen, sie stark zu machen und
sie endlich aus dem Schattendasein herauszuholen. Die
Kulturwirtschaft befindet sich zurzeit in einem Dornröschenschlaf. Sie ist stark. Die Zahlen beweisen es doch,
sie wurden genannt. Der Umsatz der Kulturwirtschaft
hat längst die Grenze von 100 Milliarden Euro überschritten, sie hat mit über 815 000 Mitarbeitern mehr Beschäftigte als das Kreditgewerbe und schon mehr als die
Automobilindustrie. Das sind doch unglaublich beeindruckende Daten.
Die Kultur- und Kreativwirtschaft steht jetzt wieder
häufiger im Fokus von Kongressen und Konferenzen.
Die Berichterstattung in den letzten Monaten hat zugenommen. Kultur ist ein beliebter Werbeträger für Länder, für Städte, aber auch für Unternehmen. Vor kurzem
las ich in einem Magazin: Investieren Sie in Kultur! Sie
gewinnen Sympathie, Kunden, neue Märkte. - Das belegt diesen positiven Trend und zeigt, Kultur und Wirtschaft sind keine Gegensätze; im Gegenteil, sie ziehen
sich an, sie brauchen sich gegenseitig.
({3})
Für die Wirtschaft ist Kultur doch eine äußerst interessante Plattform. Wirtschaft verdient nicht nur mit oder
an Kultur, Wirtschaft fördert auch Kultur. 40 Prozent der
Unternehmen fördern Kunst und Kultur; für sie ist Sponsoring eine Investition in die Zukunft.
({4})
Das ist gut, aber wir müssen die enormen Potenziale dieser Branche noch besser nutzen. Unser Antrag soll helfen, die Kräfte zu entfalten, und er soll dazu beitragen,
das Bewusstsein in der Öffentlichkeit zu schärfen.
Jedes Buch hat einen Titel, jede Marke ihr Zeichen,
jedes Ding hat einen Namen, nur die Branche der Künstler und Kreativen bislang nicht. Weder auf nationaler
noch auf internationaler Ebene gibt es eine einheitliche
offizielle Bezeichnung. Überall benutzt man für Kreativwirtschaft oder für Kulturwirtschaft ein anderes Wort; es
gibt keinen einheitlichen Begriff. Das haben wir gemeinsam geändert. Diese große kreative Branche soll sich
künftig unter dem Begriff „Kultur- und Kreativwirtschaft“ darstellen. Das ist ein erster wichtiger Schritt;
denn wer keinen richtigen Namen hat, kann nicht richtig
werben.
Wir wollen, dass dazu auch die Werbe- und Softwareunternehmen gehören. Ohne diesen riesigen Wachstumsmarkt wäre die Kultur- und Kreativwirtschaft ein
Torso, ein amputierter Riese. Diese Unternehmen gehören dazu!
({5})
Aber die vielen kleinen bunten Steine, die das große
Mosaik oder das große Bild der Kultur- und Kreativwirtschaft zum Leuchten bringen, sind die vielen Freiberufler, die Klein- und Kleinstunternehmen. Darauf haben
schon fast alle Redner hingewiesen. Diese Unternehmen
erzeugen - oft auf experimentelle Weise - Kultur und
Kreativität. Sie nehmen kulturelle Trends auf und entwickeln sie erst. Sie entwickeln Prototypen. Sie sind die
zentrale Triebkraft. Sie wollen etwas bewegen. Doch gerade sie werden oft blockiert. Sie scheitern allzu oft - an
Bürokratie, an nicht vorhandenen finanziellen Mitteln.
Herr Dehm, Sie haben eben deutlich gemacht, dass es
sich häufig um brotlose Kunst handelt. Dieser Begriff ist
durchaus zutreffend, gerade für die Kleinstunternehmen.
Es fehlt an Beratung und an mangelnder ideeller Unterstützung.
Mit unserem Antrag schaffen wir für sie bessere Rahmenbedingungen. Wir stärken sie. Wir geben ihnen den
Schwung, den sie brauchen, um schöpferisch und kreativ
tätig zu sein, um sich zu entwickeln. Wir wollen, dass
Existenzgründer, dass Klein- und Kleinstunternehmer
der Kultur- und Kreativwirtschaft stärker unterstützt und
gefördert werden: Sei es durch die Überprüfung und Anpassung der Förderinstrumente auf nationaler und europäischer Ebene. Sei es durch bessere Beratungs- und
Finanzierungsangebote - da muss viel nachgebessert
werden. Sei es durch die Schaffung von Kompetenzagenturen. Oder sei es durch die Auslobung eines Gründerwettbewerbs „Kultur- und Kreativwirtschaft“.
Wir wollen den Dialog zwischen Kultur und Politik
intensivieren. Die unter Vorsitz von Gitta Connemann
tagende Enquete-Kommission ist da schon auf dem richtigen Weg.
({6})
Der Bericht dieser Kommission wird im nächsten Monat
vorgestellt. Wir dürfen nicht lockerlassen. Wir müssen
weiter miteinander reden.
Wir wollen, dass die Bundesregierung ein Querschnittsreferat „Kultur- und Kreativwirtschaft“ einrichtet. Es ist gut, dass Kulturstaatsminister Bernd Neumann
und Wirtschaftsminister Michael Glos eine gemeinsame
Initiative „Kultur- und Kreativwirtschaft“ starten. Vielen
Dank dafür!
({7})
Ich bin mir sicher: Alles, was wir hier heute beschließen, ist nicht nur Rückenwind für die Kreativen, für die
Kulturschaffenden. Wir schaffen damit auch zusätzlich
Wachstum und Beschäftigung.
2009 ist das europäische „Jahr der Kreativität“ geplant. Wir möchten, dass die Bundesregierung zusammen mit den Ländern einen nationalen Aktionsplan
„Kultur- und Kreativwirtschaft“ erarbeitet.
({8})
Denn dieses Ereignis soll auch in unserem Land mit Leben erfüllt werden. Es soll hier Wirkung zeigen.
Frau Kollegin!
Der Theatermanager August Everding hat einmal gesagt:
Kultur ist keine Zutat, Kultur ist der Sauerstoff einer Nation.
Lassen Sie uns diesen Sauerstoff genießen - gemeinsam!
Ich danke Ihnen ganz herzlich.
({0})
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem
Kollegen Koppelin.
Bei dieser Debatte fällt mir auf, dass trotz der großen
Einigkeit, die bei dem Thema quer über die Fraktionen
hier herrscht, sich beide Redner der Union anscheinend
ein bisschen genieren, was den Antrag zur populären
Musik angeht.
({0})
Das kann man eigentlich auch verstehen. In beiden Beiträgen wurde nichts dazu gesagt. Der Punkt steht aber
mit auf der Tagesordnung.
({1})
Deswegen möchte ich gern ein paar Anmerkungen machen; Sie können nachher vielleicht noch darauf eingehen.
Richtig ist, dass die Initiative von einem Kollegen aus
dem Haushaltsausschuss gekommen ist. Nun sind Initiativen aus dem Haushaltsausschuss eigentlich grundsätzlich nicht falsch.
({2})
- Der Haushaltsausschuss tagt. Ich bin extra wegen dieses Punktes hierhergekommen.
({3})
- Lassen Sie mich das doch einfach sagen! Sie haben die
Möglichkeit, zu antworten. Sie sind ja bekannt dafür,
dass Sie gern dazwischenrufen.
Vielleicht mal in aller Ruhe: Der Antrag hat erhebliche Mängel, weil er in keiner Weise auf die Verantwortung derjenigen eingeht, die mit Musik, auch mit populärer Musik, Geld verdienen.
({4})
Das ist die GEMA, und das sind die Musik-Companys.
Die sind überhaupt nicht eingebunden. Deswegen hat
dieser Antrag nach meiner Auffassung einen großen
Fehler.
Der dritte Bereich ist ebenfalls nicht eindeutig erwähnt. Die Debatte haben wir hier auch schon einmal
geführt. Wo ist eigentlich der öffentlich-rechtliche Rundfunk und sein Kulturauftrag?
({5})
Es darf nicht sein, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk nur eine Abspielstation für irgendwelche Hits ist;
das wäre verhältnismäßig einfach. Er hat den Kulturauftrag, auch junge Talente zu fördern.
({6})
Wenn wir alle insofern Druck machen würden, könnten
wir für junge Talente etwas erreichen.
({7})
Das war meine Bitte.
Insofern ist dieser Antrag der Union mit erheblichen
Mängeln behaftet.
({8})
Frau Kollegin Pawelski, Sie können antworten.
Verehrter Herr Kollege, ich kann Ihre Ungeduld verstehen, aber wir haben drei Redner auf der Liste. Ein
Blick auf die Rednerliste hätte gereicht, um zu sehen,
dass der Kollege Günter Krings noch reden wird, und
zwar genau zu dem Thema, das Sie angesprochen haben.
Man kann abwarten. Man muss sich einfach in Geduld
üben und zuhören. Ich will an der Stelle zu dem Thema
jetzt nichts mehr sagen, weil wir einen sehr kompetenten
Kollegen haben, der Ihnen das alles gleich erzählen
wird.
({0})
Ich gebe das Wort der Kollegin Monika Griefahn,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es geht mir genauso: Wir haben uns das auch aufgeteilt. Der Kollege Ehrmann hat zu den kulturwirtschaftlichen Anträgen gesprochen, und ich werde jetzt
etwas zum musikwirtschaftlichen Antrag sagen.
Kollege Koppelin, wenn Sie den Antrag gelesen hätten, wüssten Sie: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk
kommt explizit darin vor: Wir wollen neue Formate mit
ihm gemeinsam entwickeln und fördern.
Herr Kollege Otto, Sie haben, um das gleich vorwegzunehmen, gesagt, dass Sie Steuervergünstigungen für
die Musiker besser fänden als ein solches Förderkonzept.
({0})
Dazu kann ich nur sagen: Bei den Musikern, die 11 000
Euro im Jahr verdienen, sind Steuererleichterungen nicht
so hilfreich. Da braucht man praktische Dinge.
({1})
Deutschland ist nicht nur bekannt als Land der Dichter und Denker, sondern wir haben auch große Musiker
und Komponisten. Ich finde es toll, dass wir das Erbe
von Bach bis Schönberg heute immer noch aktiv erleben
können. Wir haben gestern gerade den Genuss erlebt,
({2})
in Weimar eine Barockoper von 1774, Alceste, wiederaufgeführt zu sehen. Es ist sehr gut, dass sich jemand
dessen annimmt.
({3})
- Das ist nicht von dem Antrag gefördert, nein; aber
ohne die öffentliche Förderung von Orchestern, von
Konzert- und Opernhäusern würde die musikalische
Ausbildung nicht stattfinden können und würde auch die
Kenntnis davon nicht vorhanden sein.
({4})
Deswegen ist es ganz wichtig, dass wir diese Förderung
betreiben.
Wenn wir genau hinschauen, stellen wir fest, dass gerade die Förderung von Bundesseite bislang vorwiegend
in den Bereich der etwas älteren Musik geflossen ist.
15 Millionen Euro gehen ausschließlich in Projekte der
klassischen Musik, und nur 500 000 Euro sind im Moment ausschließlich für Projekte im Rock-, Pop- und
Jazzbereich vorgesehen. Wir sind uns einig, dass wir uns
für populäre Musik noch mehr engagieren müssen, weil
wir sonst große kulturelle und wirtschaftliche Chancen
verpassen, weil wir jungen Leuten eine Chance geben
wollen, weil wir auch Bands eine Chance geben wollen.
Frau Göring-Eckhardt, Sie haben gesagt, gerade die
Kleinen kämen nicht vor. Das wollen wir gerade mit der
„Initiative Musik“ ändern. Wir wollen uns ganz konkret
Maßnahmen vornehmen, und ich werde sie gleich aufzählen.
Stellen wir uns einmal vor, wie das vor einigen Jahren
noch war! Adorno hat populäre Musik Ende der 40erJahre noch geringschätzig als kommerzielle Massenware
abgekanzelt. Heute sind Rock, Pop und Jazz für unsere
Kultur und für unsere Gesellschaft eben nicht zu leugnen. In den letzten hundert Jahren hat jede Zeit und jede
Generation ihren kulturellen Ausdruck gerade auch in
Musik gefunden. Ich nenne nur Charlie Parker, Jimi
Hendrix, die Beatles und Kraftwerk, oder man muss sich
die elektronische Musik und die heutige Vielfalt von
Techno bis hin zu Soul anschauen. Diese große Vielfalt
ist genauso Bestandteil unseres kulturellen Lebens wie
Wagner oder Brahms.
Deswegen bin ich froh darüber, dass auch für das Jahr
2008 wieder 1 Million Euro für die „Initiative Musik“
zur Verfügung stehen. Ob dieser Betrag ausreicht oder
erhöht werden muss, müssen wir abwarten. Die „Initiative Musik“ muss sich erst einmal beweisen und die notwendigen Instrumente entwickeln. Die Szene ist höchst
lebendig und kreativ. Sie ist unheimlich schnell und vielfältig. Deswegen brauchen wir auch clevere Ansätze, um
mit dem Geld die richtigen Anreize zu setzen.
Ich möchte zum Beispiel keine Projekte unterstützen,
in denen Bands und Musikern im Internet eine Plattform
gegeben wird. Das können die selber, da sind sie meistens besser und schneller als wir, und das müssen wir daher nicht fördern. Aber bei vielen anderen Dingen brauchen die jungen Musiker wirklich Hilfe. Ich will als
Beispiel das Radio erwähnen. Es gibt einen Unterschied
zwischen Livemusik und Rundfunk. Die Konzerte vieler
deutscher Bands sind regelmäßig ausverkauft, die CDVerkäufe erreichen einen hohen Stand, sie sind häufig in
den „Top 20“, aber im Radio werden sie nicht gespielt.
Es geht hier eben nicht nur um die Altvorderen wie Grönemeyer oder Marius Müller-Westernhagen, sondern
hier geht es um junge Bands, die in Konzertsälen hier in
Berlin oder auch auf dem flachen Land erfolgreich sind.
Deswegen wollen wir mit dem Rundfunk neue Formate
auf die Beine stellen, um Nachwuchsgruppen eine Plattform zu bieten, um sie zu unterstützen.
Eine andere Idee ist die Tourbusförderung. Junge
Bands erzählen mir immer wieder, sie würden gern viel
mehr durch Deutschland und Europa fahren, um Konzerte zu spielen. Gerade Nachwuchsgruppen wollen damit gar nicht das große Geld verdienen, sondern sich bekannt machen. Das scheitert aber meistens an den
Reisekosten und nicht daran, dass sie kein großes Auftrittsgeld kriegen. Oft wissen sie gar nicht, wie sie überhaupt dahin kommen sollen, und wenn sie sich vor Ort
dann noch teuer einmieten müssen, ist das ein weiterer
Hinderungsgrund. Hier gibt es die Möglichkeit, Kleinbusse zum Selbstkostenpreis zur Verfügung zu stellen.
Damit hätten wir ein Instrument der Exportförderung,
das preiswerter und näher an der Szene kaum sein kann.
Ein paar Worte noch zur Jazzszene in Deutschland. Es
gibt eben nicht nur Till Brönner oder Klaus Doldinger,
den ja viele durch den Tatort-Einspieler kennen, sondern
es gibt auch eine Vielzahl ganz wunderbarer junger und
innovativer Gruppen, von denen viele weltweit ohne
Probleme in der Konkurrenz bestehen können, die es
aber trotzdem in Deutschland schwer haben, weil es nur
wenige Aufführungsmöglichkeiten gibt. Herr Dehm hat
den „Jazz-Club“ in Hannover erwähnt, eine der wenigen
Spielstätten, in denen kontinuierlich auch Bands auftreten. Aber viele Clubs können sich so etwas nicht leisten,
weil sie etwas brauchen, das Kasse macht, und Jazz lebt
nun einmal durch den Liveauftritt.
Deswegen ist es ganz wichtig, zum Beispiel einen
Spielstättenpreis für die Spielstätten auszuloben, die solche Bands zur Aufführung bringen und unterstützen, damit sie auch im nächsten Jahr wieder die Möglichkeit haben, neue Bands einzuladen und ihnen Liveauftritte zu
ermöglichen.
Wir haben eine reichhaltige Jazzkultur, die der Bund
ja auch ein Stück weit unterstützt. Ich nenne als Beispiel
das Jazzfest Berlin, das durch den Bund gefördert wird.
Es gibt inzwischen zwar wenige, aber doch schon ganz
tolle Projekte. Bei dem in einer Woche beginnenden
Jazzfest soll ein Orchester aus 40 jüdischen und muslimischen Künstlern über politische und ideologische
Grenzen hinweg gemeinsam Musik spielen, die sie
„Chaabi“ nennen. Das ist hochaktuell, spannend und fördert den Dialog. Ich glaube, die Förderung und Unterstützung eines solchen Jazzfestes durch den Bund ist ein
gutes Vehikel.
In der „Initiative Musik“ arbeiten zahlreiche wichtige
und einflussreiche Experten mit. Mein Wunsch ist, dass
diese Experten wirklich zielgenaue Förderinstrumente
schaffen, dass sie evaluieren und sich dabei beraten lassen. Ich nehme alle Anregungen hier auf. Neben den
zwölf Experten im Aufsichtsrat sollten wir einen Beirat
einrichten, in dem die Aktiven, also die Musiker und die
Kleinkünstler, beteiligt werden, um herauszufinden, wie
die Instrumente sinnvoll eingesetzt, überarbeitet und
evaluiert werden können. Ich glaube, da könnten der
Jazz und die jungen Bands eine wichtige Stimme sein
und dem Aufsichtsrat, der ja dann die Entscheidungen
trifft, mit Rat und Tat zur Seite stehen.
Mit dem heutigen Antrag zur Popmusik und mit dem
gemeinsamen Antrag zur Kulturwirtschaft unterstreichen wir die wirtschaftliche Bedeutung von Kultur. Wir
machen aber auch deutlich, dass populäre Musik ein entscheidender Beitrag für die kulturelle Vielfalt ist. Wir
wollen alle kulturellen Bereiche unterstützen.
Ich freue mich auf die weitere Zusammenarbeit und
sehe diese Diskussion nicht als einen Endpunkt, sondern
als einen Zwischenschritt an.
Herzlichen Dank.
({5})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Dr. Günter Krings, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Jetzt also kommt meine offenbar von den Kollegen der FDP so lang erwartete
({0})
und, wie ich höre, ersehnte Rede, die ihren Schwerpunkt
auf den Antrag zur Popmusik legt, den ich mir in der Tat
vorher als Thema ausgewählt hatte.
Die vier Anträge machen deutlich, welchen Stellenwert die Kulturwirtschaft nicht nur für die Unionsfraktion, sondern auch für das gesamte Haus hat. Es ist gut,
dass wir in dieser verkürzten Sitzungswoche eine Stunde
darüber debattieren können.
({1})
Ich glaube, dass uns der Antrag zur Popmusik zur
Ehre gereichen wird. Es wäre vielleicht hilfreich gewesen, wenn Sie sich einzelne Passagen einmal näher angeschaut hätten, Herr Kollege Koppelin. Denn viele Ihrer
Fragen lassen sich durch die Lektüre des Antrages beantworten.
({2})
Bei dem Kollegen der FDP besteht noch eine gewisse
Unwissenheit, was denn die „Initiative Musik“ im Einzelnen genau bewirken soll. Was wollen wir mit diesem
Antrag erreichen? Er soll spezifizieren sowie Zweck und
Zielsetzung dieser Initiative präzisieren. Wenn das Parlament dafür einen Betrag von 1 Million Euro - das ist
zwar nicht viel, aber doch eine nennenswerte Summe in den Haushalt einstellt, dann sind wir als Parlamentarier gut beraten, nähere Aussagen zum Zweck und zur
Zielsetzung zu treffen.
({3})
Es kann natürlich nicht darum gehen, das in der Popmusik zu kopieren, was wir in Deutschland Gott sei
Dank in der klassischen Musik haben, nämlich eine
weltweit einzigartige Orchesterlandschaft. Dieses Ziel
wird niemand mit 1 Million Euro ernsthaft anstreben
können. Aber es geht um eine Initialzündung, damit kreatives Potenzial im musikalischen Bereich in Deutschland
freigesetzt werden kann. Musik ist zwar auch ein Wirtschaftsgut, aber nicht nur.
Aus diesem Grunde basiert die Initiative auf drei Säulen. Es geht um das Thema Nachwuchsförderung, um
die Förderung und Verbesserung der Exportchancen sowie um Identitätsstiftung und Integration durch Musik.
({4})
Zur Nachwuchsförderung ist schon einiges gesagt
worden. Ich will betonen, dass es darum geht, insbesondere für junge Musiker Plattformen zu schaffen. Zigtausende von Bands meist junger Menschen spielen in
Deutschland. Nicht alle haben das Zeug zum Star. Aber
die Beliebtheit von Fernsehformaten wie „Deutschland
sucht den Superstar“ zeigt, dass es ein Bedarf für Plattformen gibt, um sich einem breiteren Publikum vorzustellen. Das TV macht es auf diese Weise. Aber im Radio fehlen entsprechende Sendeformate.
Ich war in den 80er-Jahren öfter bei meinen Verwandten in Norddeutschland. Selbst in der von Ihnen, Herr
Koppelin, moderierten Sendung konnte ich nicht feststellen, dass da allzu viel deutsche oder in Deutschland
produzierte Musik gespielt worden ist.
({5})
Wir brauchen also neue Sendeformate, und dafür setzen
wir uns ein. Die Einführung neuer Formate ist allemal
besser, als eine starre Musikquote einzuführen. Eine
starre Regulierung würde, so glaube ich, auf Dauer wenig bewirken und würde bei vielen Konsumenten, bei
vielen Hörerinnen und Hörern eher eine Abwehrhaltung
hervorrufen.
({6})
Wir wollen im Zusammenhang mit der Nachwuchsförderung betonen, dass Musik nicht nur via Fernsehen,
Internet oder Radio verbreitet wird. Musik gerade im
Jazzbereich und im Bereich der improvisierten Musik
lebt von der Liveaufführung. Das heißt, wir brauchen
Spielstätten, die jungen Künstlern in engagierter Weise
Auftrittschancen geben. Hierzu passt der Vorschlag sehr
gut, einen Spielstättenpreis einzurichten. Damit sollen
Spielstätten prämiert werden, die im Bereich der Jazzmusik und der improvisierten Musik besonders engagiert
sind.
Es geht aber auch um die Förderung des Musikexports. Ich gebe zu, dass die Ansätze des Projekts „German Sounds“ noch nicht so vielversprechend waren.
Aber das ist für uns kein Grund zur Resignation. Im Gegenteil: Wir müssen einen neuen Anlauf wagen und neue
Strukturen schaffen. Die großen und die kleinen Unternehmen in der Musikwirtschaft müssen daran beteiligt
sein, damit sie in der Lage sind - das geht nicht nur
durch Geld -, stärker zu koordinieren und zu kooperieren. Ich glaube, im Antrag finden sich dazu sehr gute
Ansätze.
Diesen Export sehe ich aber nicht nur unter dem Gesichtspunkt „Export eines Wirtschaftsgutes“, damit in
Deutschland Arbeitsplätze geschaffen und gesichert
werden. Export von Musik hat auch etwas mit dem - im
positiven Sinne - Zurschaustellen der deutschen Kultur
zu tun. Junge Menschen interessieren sich oft zum ersten
Mal für ein anderes Land, indem sie die Musik dieses
Landes wahrnehmen. Dass Englisch beispielsweise als
Sprache beliebt ist und junge Menschen in Deutschland
motiviert sind, Englisch zu lernen, hat auch damit zu tun,
dass Englisch für die meisten die Sprache ihrer Lieblingsmusik ist. Umgekehrt hört man jetzt, dass die Zahlen der Deutschkurse an den Schulen in Frankreich steigen. Ein Erklärungsversuch sei die Beliebtheit der
Gruppe Tokio Hotel.
({7})
Wir sehen also: Das, was von jungen Leuten am ehesten
wahrgenommen wird, ist die Musik. Diese Chance sollten wir nicht vergeben.
({8})
Damit komme ich zur dritten Säule, zu Integration
und Identität. Insbesondere für junge Menschen gibt es
keine kulturelle Ausdrucksform, die identitätsstiftender
ist als die Musik. Das ist eine große Chance, auch eine
Chance für Integration. Wir alle wissen, wie gut die Integration von jungen Migranten, aber auch von sozialen
Randgruppen etwa über Fußballvereine und sonstige
Sportvereine funktionieren kann. Aber dies funktioniert
auch über Bands. Musik zu machen, ist eine Möglichkeit
und eine gute Chance für Integration. Auch hierzu haben
wir in unseren Antrag einige Punkte aufgenommen, wo12512
bei es wichtig ist, sie mit Leben zu erfüllen, damit die Integrationskraft der Musik allgemein und der Popmusik
im Besonderen wahrgenommen wird.
Unsere beiden Anträge zur Kulturwirtschaft und zur
Popmusik zeigen, wie wichtig dieses Themenfeld für die
Bundesregierung ist. Es gab, so glaube ich, noch keine
andere Phase, in der Kulturstaatsminister und Wirtschaftsminister so gut in dieser Frage zusammengearbeitet haben. Dafür meinen herzlichen Dank an Bernd
Neumann und Michel Glos.
({9})
- Genau, das Parlament hat eine hervorragende Vorarbeit
geleistet. - Ich will ausdrücklich auch den Kollegen
Steffen Kampeter loben, der diesen Ansatz gehabt hat.
Mir ist vollkommen egal, in welchem Ausschuss eine
solche Idee geboren wird. Hauptsache, sie wird geboren
und funktioniert dann auch.
({10})
Dank an die Kollegin Monika Griefahn für die gemeinsame Erarbeitung unseres Antrages.
Eine allerletzte Bemerkung. Natürlich ist für Künstlerinnen und Künstler die Anerkennung wichtig. Sie wollen aber auch von etwas leben. Dafür brauchen sie eine
rechtliche und wirtschaftliche Grundlage. Deswegen der
dringende Appell an alle Seiten dieses Hauses: Das Urheberrecht ist sozusagen das Brot und die Beschäftigungsgrundlage für Künstler. Wenn wir dort nachlassen
und kein starkes Urheberrecht schaffen, dann nützen unsere Anträge nichts. In Korb II haben wir einige Verbesserungen zugunsten der Künstlerinnen und Künstler sowie der Autoren herbeigeführt. Den nächsten Korb
haben wir vor der Brust. Da müssen wir, angefangen
beim Verbot intelligenter Aufnahmetechniken bis hin zu
vielen anderen Detailfragen, noch einiges erreichen.
Die Unionsfraktion steht bei diesem und anderen
Themen der Kulturwirtschaft Gewehr bei Fuß. Wir sind
bereit, einiges zu machen, wobei wir uns der Unterstützung der SPD sicher sind. Wir hoffen aber auch auf die
Unterstützung der anderen Fraktionen dieses Hauses.
Herzlichen Dank.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Kultur und Medien auf Drucksache 16/6742. Der
Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussemp-
fehlung, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
der SPD auf Drucksache 16/5110 mit dem Titel „Kul-
turwirtschaft als Motor für Wachstum und Beschäfti-
gung stärken“ in der Ausschussfassung anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses ange-
nommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der
Fraktion der FDP auf Drucksache 16/5101 mit dem Titel
„Die Kulturwirtschaft als Zukunfts- und Wachstums-
branche in Europa stärken“ sowie den Antrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/5104
mit dem Titel „Die Bedeutung der Kulturwirtschaft aner-
kennen und ihren Stellenwert auf Bundesebene nachhal-
tig fördern“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist ebenfalls
mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 3 b: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Kultur und Medien zu dem Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD mit dem Titel
„Populäre Musik als wichtigen Bestandteil des kulturel-
len Lebens stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/6731, den An-
trag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf
Drucksache 16/5111 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalition bei Enthaltung der Opposition ange-
nommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b sowie
Zusatzpunkt 2 auf:
4 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Birgit
Homburger, Jörg van Essen, Dr. Werner Hoyer,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes über die parlamentarische Beteiligung bei der Entscheidung über
den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland
- Drucksache 16/3342 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul
Schäfer ({1}), Inge Höger, Monika Knoche,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Stärkung der parlamentarischen Beteiligung
bei der Entscheidung über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland ({2})
- Drucksache 16/6646 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Nachtwei, Volker Beck ({4}), Kerstin Müller
({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Prüfkriterien für Auslandseinsätze der Bundeswehr entwickeln - Unterrichtung und Evaluation verbessern
- Drucksache 16/6770 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Kollegen
Jörg van Essen, FDP-Fraktion, das Wort. - Bitte schön,
Herr Kollege.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Es ist der FDP zu verdanken, dass wir
heute im Deutschen Bundestag über dieses Thema reden. Wir haben damals in Karlsruhe geklagt und damit
das Urteil herbeigeführt, das deutlich macht, dass der
Deutsche Bundestag an Entscheidungen über Auslandseinsätze der Bundeswehr beteiligt sein muss. Ich bin
heute noch froh, dass wir damals nach Karlsruhe gegangen sind. Das hat uns damals zwar viel Kritik eingebracht, aber das hat dazu geführt, dass der Deutsche
Bundestag heute für die Auslandseinsätze mitverantwortlich ist, was wiederum zeigt - das wollen wir -, dass
die Bundeswehr eine Parlamentsarmee ist.
({0})
Die FDP hat als erste Fraktion einen Entwurf eines
Parlamentsbeteiligungsgesetzes vorgelegt. Wir waren
der Auffassung, dass es aufgrund der Erfahrungen, die
wir mit den ersten Auslandseinsätzen gesammelt haben,
angezeigt war, dem Ganzen eine gesetzliche Form zu geben. Die damalige rot-grüne Koalition hat nach einiger
Zeit mit einem Gesetzentwurf nachgezogen. Er ist im
Wesentlichen in der Form verabschiedet worden, wie er
von Rot-Grün eingebracht worden ist.
({1})
Wir haben damals nicht zugestimmt, obwohl viele
Punkte aus unserem Gesetzentwurf übernommen worden sind. Das ist ein typisches Beispiel dafür, dass man
auch aus der Opposition heraus Politik gestalten kann.
({2})
- Vielen Dank für den Hinweis. Diese Hoffnung werden
wir nicht erfüllen, Herr Kollege. Dafür wird Ihre Fraktion schon sorgen.
({3})
Wir haben dem Gesetzentwurf damals nicht zugestimmt, weil eine Frage uns als nicht gelöst erschien: die
Frage der geheimen Einsätze, insbesondere des Kommandos Spezialkräfte. Bisher ist es der Bundesregierung
immer gelungen - das gilt sowohl für die rot-grüne als
auch für die jetzige Bundesregierung -, die jeweiligen
Einsätze des Kommandos Spezialkräfte in einem anderen Auftrag unterzubringen, ohne dass gesondert über
den Einsatz des Kommandos Spezialkräfte entschieden
werden musste.
Wir wissen aus den Untersuchungen des 1. Untersuchungsausschusses beispielsweise, dass das Kommando
Spezialkräfte im Rahmen der Operation „Enduring Freedom“ in Afghanistan eingesetzt war. Der Deutsche Bundestag hat sich mit dieser Frage nicht gesondert befasst,
sondern nur allgemein mit dem Einsatz der Bundeswehr
im Rahmen dieser NATO-geführten, von der UNO mandatierten Operation.
Wir sind der Auffassung, dass das nicht immer so sein
wird. Es wird auch separate Einsätze des Kommandos
Spezialkräfte geben. Es muss ein Verfahren entwickelt
werden, das auf der einen Seite die Beteiligung des Parlaments sicherstellt und auf der anderen Seite sicherstellt, dass die Geheimhaltungsinteressen berücksichtigt
werden. Das ist auch eine Frage der Sicherheit der eingesetzten Soldaten. Deshalb haben wir schon damals vorgeschlagen, einen besonderen Ausschuss des Deutschen
Bundestages einzurichten. Ich glaube, dass dieser Vorschlag weiterhin richtig ist. Deshalb hat die FDP-Bundestagsfraktion ihn erneut eingebracht.
Mit dem Verfahren, das im letzten Jahr zwischen der
Bundesregierung und den Fraktionsvorsitzenden vereinbart worden ist - verstärkte Unterrichtung der Obleute;
die Obleute sind im Gegensatz zur damaligen Praxis ermächtigt, die Fraktionsvorsitzenden zu unterrichten,
ohne dadurch gegen Geheimhaltungsvorschriften zu verstoßen -, wird der Kontrollaufgabe des Parlaments bei
solchen Einsätzen nicht Genüge getan.
({4})
Die Obleute, die unterrichtet werden, sind zwar von ihren Fraktionen gewählt worden, gegenüber der Bundesregierung aber nicht erklärungsfähig. Nicht alle Obleute
gehören dem Fraktionsvorstand an. Deshalb muss es
nach unserer Auffassung einen Ausschuss geben, der
mandatiert ist, der gewählt ist, in dem die Fachleute aus
dem Auswärtigen Ausschuss und auch die Fachleute aus
dem Verteidigungsausschuss vertreten sind.
Das gleiche Verfahren haben wir im Übrigen bezüglich der Kontrolle der Nachrichtendienste. Es hat sich
bewährt. Es ist interessant, dass wir inzwischen einige
politikwissenschaftliche und juristische Abhandlungen
über das Parlamentsbeteiligungsgesetz vorliegen haben.
Interessant ist auch, dass in all diesen Abhandlungen die
Frage eines Sonderausschusses angesprochen wird. In
all diesen Abhandlungen gibt es eine Unterstützung für
den Vorschlag der FDP zu einem solchen Ausschuss und
damit zu einer besseren Kontrolle durch das Parlament
bei Auslandseinsätzen.
Ich will zum Schluss eine Anregung zur Diskussion
geben. Es findet im Augenblick eine verstärkte Diskussion über den Einsatz der Polizei im Rahmen von Konfliktlösungen im Ausland statt. Ich finde, dass es notwendig ist. Je schneller Polizei dort zum Einsatz kommt,
desto schneller wird ein Konflikt zivilisiert und wird er
ziviler. Deshalb müssen wir uns mit dieser Frage befassen. Wenn wir in Zukunft verstärkt zu polizeilichen Auslandseinsätzen kommen wollen, dann muss nach meiner
Auffassung die Frage der parlamentarischen Kontrolle in
diesem Zusammenhang angesprochen werden. Ich finde,
wir sollten uns zusammensetzen - wir werden als FDPFraktion in diesem Zusammenhang sicherlich Vorschläge machen - und überlegen, ob wir nicht auch in
dieser Beziehung ein Parlamentsbeteiligungsgesetz
brauchen.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Bernhard Kaster,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Die Entscheidung, Soldaten der Bundeswehr in einen Einsatz zu schicken, gehört immer zu den
schwierigsten Entscheidungen, die wir hier im Parlament zu treffen haben. Jeder von uns will vor solchen
Entscheidungen natürlich über die Ziele, die Risiken und
mögliche Alternativen informiert sein. Genauso möchten wir über die laufenden Einsätze informiert sein. Dies
geschieht im Parlament und in den Fachausschüssen.
Man muss dafür Verständnis haben, dass über die
Form der Parlamentsbeteiligung bei Auslandseinsätzen
immer wieder diskutiert wird. Im Mittelpunkt stehen
meines Erachtens zwei Fragen.
Erstens: Wie weit muss die parlamentarische Beteiligung reichen, damit wir der uns im Grundgesetz auferlegten Verantwortung und Kontrollfunktion gerecht
werden?
Zweitens: In welcher Form und in welchem Umfang
sollen wir die Informationen über die laufenden Einsätze
erhalten?
Eine Grundregel dürfen wir hierbei nie außer Acht
lassen. Wir als Deutscher Bundestag entscheiden über
und tragen die Verantwortung für das Ob von Bundeswehreinsätzen. Die Bundesregierung trägt die Verantwortung für und entscheidet über das Wie, also über die
Ausgestaltung der Einsätze. Unsere Informationswünsche, so verständlich und wichtig sie sind, berühren immer - das liegt in der Natur der Sache - die Sicherheit
unserer Soldaten. Das dürfen wir nie vergessen.
Die parlamentarische Beteiligung darf die zwingend
notwendige Entscheidungsfähigkeit der Bundesregierung im konkreten Einsatz weder verhindern noch behindern. Letztlich liegt die Exekutivverantwortung für den
gesamten Einsatz und die Gewährung einer höchstmöglichen Sicherheit für unsere Soldaten bei der Bundesregierung.
In diesem politisch höchst sensiblen Bereich wird es
immer eine schwierige Gratwanderung sein, den richtigen Weg zu finden und die richtigen Abwägungen zwischen einerseits der Form der Parlamentsbeteiligung und
den Informationen an das Parlament und andererseits
den notwendigen Handlungsspielräumen der Bundesregierung bei der Ausgestaltung der Einsätze zu treffen.
Der FDP-Antrag versucht, Antworten auf diese
schwierigen Fragen zu finden. Wir, die Unionsfraktion,
haben bei diesem Antrag allerdings erhebliche Bedenken. Es sind im Übrigen die gleichen Bedenken, die wir
schon vor zwei Jahren geäußert haben, als Sie einen fast
inhaltsgleichen Antrag vorgelegt haben, den der Bundestag mit Recht abgelehnt hat.
Seitens der Fraktion der Grünen wurde gestern noch
ein Antrag nachgeliefert; das war ein kleiner Schnellschuss.
({0})
Der Antrag der FDP-Fraktion lag schon länger vor. Ich
denke, beim Lesen dieses Antrags wird angesichts mancher Passagen deutlich, dass Sie die Zeit der Regierungsverantwortung zum Teil verdrängt oder vergessen haben.
Über den Antrag der Linken will ich nicht länger diskutieren. Vor dem Hintergrund so mancher Debattenbeiträge ist dieser Antrag ohnehin von einem ganz anderen
Geist geprägt.
({1})
Ich sehe in den vorliegenden Anträgen die begründete
Gefahr, dass eine Entscheidung des gesamten Deutschen
Bundestages über die Frage eines Auslandseinsatzes
nicht mehr sichergestellt ist und dass das Wie der Einsätze von der Exekutive in die Legislative verschoben
wird. Hier müssen wir sehr aufpassen. Herr Kollege van
Essen, die FDP will die Möglichkeit plenarersetzender
Beschlüsse durch einen Ausschuss. Ihr Gesetzentwurf
sieht dies zwar nur für einige konkret bestimmte Fälle
vor; aber faktisch könnten letztlich alle Auslandseinsätze
unter diese Kriterien fallen, sodass der Ausschuss allein
über diese Einsätze entscheidet. Diese Gefahr ist hier
eindeutig gegeben. Das muss ausgeschlossen sein, um
der Bedeutung der Bundeswehr als Parlamentsarmee gerecht zu werden.
Nach unserer Auffassung ist bereits jede Delegation
von Zustimmungsrechten auf einen solchen Ausschuss
verfassungsrechtlich höchst bedenklich. Der Charakter
der Ausschüsse als vorbereitende Gremien änderte sich
fundamental. Wir kennen im Prinzip eine solche Möglichkeit eigentlich nur im Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union. Der große Unterschied ist
aber, dass dies für diesen Ausschuss in der Verfassung,
im Grundgesetz, festgelegt worden ist. Das aber ist hier
nicht der Fall.
Ferner sollte bedacht werden, dass die Delegation von
Entscheidungen auf einen kleinen Ausschuss - hier sind
es elf Personen - letztlich auch die Rechte aller Abgeordneten entscheidend einschränkt. Die vom Parlament
und damit von jedem einzelnen Abgeordneten zu tragende Verantwortung kann von den Kollegen und Kolleginnen eines elfköpfigen Ausschusses überhaupt nicht
mehr wahrgenommen werden.
({2})
Die Verfassungsregeln beim Europaausschuss belegen
zudem, dass man das nicht mit einem einfachen Gesetz
machen kann. Ich hatte bereits gesagt: Für den Europaausschuss ist es in der Verfassung geregelt. Aber die
Mitwirkungsrechte eines jeden Abgeordneten dürfen
nicht so gravierend eingeschränkt werden. Dies können
wir jedenfalls in dieser Form nicht mitmachen.
({3})
Auch die von der FDP angesprochenen und gewünschten Neuregelungen für den Fall von Gefahr im
Verzug sind nach unserer Einschätzung weder notwendig noch in dieser Form durchführbar. In der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, auf das Sie selbst
verwiesen haben, heißt es in diesem Zusammenhang:
Die Bundesregierung ist bei Gefahr im Verzug berechtigt, vorläufig den Einsatz von Streitkräften zu
beschließen und an entsprechenden Beschlüssen in
den Bündnissen oder internationalen Organisationen ohne vorherige Einzelermächtigung durch das
Parlament mitzuwirken und diese vorläufig zu vollziehen. Die Bundesregierung muss jedoch in jedem
Falle das Parlament umgehend mit dem so beschlossenen Einsatz befassen.
Das Bundesverfassungsgericht sieht also eine solche
Sonderregelung für Fälle von Gefahr im Verzug ausdrücklich als nicht notwendig an.
Mit den Anträgen sollen ferner die Informationspflichten der Bundesregierung stark ausgedehnt werden.
Die Formulierungen gehen so weit, dass sogar von einsatzbezogenen Unterlagen und von der Anhörung von
Mitarbeitern gesprochen wird. Verehrte Kolleginnen und
Kollegen, damit geht es in den direkten exekutiven Bereich der Bundesregierung hinein. Hier müssen wir uns
einfach bewusst machen, dass sich die von uns auszuübende parlamentarische Kontrolle immer auf das Handeln der gesamten Bundesregierung bezieht; sie ist nie
eine Kontrolle im Sinne einer Dienst- oder Fachaufsicht
und kann folglich nicht in solche Details hineinreichen.
Das Bundesverfassungsgericht hat auch zu dieser
Frage der parlamentarischen Mitwirkung eine Aussage
getroffen:
Ein Mitentscheidungsrecht über die Einsatzmodalitäten steht dem Bundestag indes unter keinem verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt zu.
Lassen Sie mich noch auf einen anderen Aspekt zu
sprechen kommen: Sowohl der von Ihnen vorgeschlagene neue Ausschuss als auch der Verteidigungsausschuss bekämen bei einer solchen Regelung faktisch die
Funktion eines ständigen Untersuchungsausschusses.
Auch dafür fehlt jede verfassungsrechtliche Grundlage,
anders als es bei einem Untersuchungsausschuss oder
beim Petitionsausschuss der Fall ist. Bereits heute besteht eine umfassende und frühzeitige Information des
Parlaments darüber, wie die Auslandseinsätze derzeit gehandhabt werden; Sie haben es eben zum Teil selbst ausgeführt. Hier könnte man einige Regelungen anführen,
was etwa turnusmäßige Besprechungen und die Information in den Ausschüssen angeht. Auch ist das Verfahren
mit den Obleuten bereits angesprochen worden, die ihrerseits die Fraktionsvorsitzenden unterrichten. Wir
handhaben hier also ein vielfältiges Instrumentarium,
wie man überhaupt in Anträgen hätte darauf eingehen
können, welche Erfahrungen wir in den letzten Jahren
mit dem Parlamentsbeteiligungsgesetz gemacht haben.
({4})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir müssen den
gesamten Bereich der parlamentarischen Zuständigkeiten jetzt offen beraten.
({5})
Ich denke, wenn wir im Parlament über solch wichtige
Fragen wie die Verfahren der Parlamentsbeteiligung
sprechen, dann sollten wir immer anstreben, dass wir einen Konsens finden
({6})
und dass nach Möglichkeit alle Fraktionen zu einer
Übereinkunft kommen. Neben den Rechten des Parlaments, die uns natürlich wichtig sind, sollten hierbei
auch die Handlungsmöglichkeiten der Bundesregierung
und vor allem unsere Verantwortung für die Sicherheit
unserer Soldaten im Vordergrund stehen.
Vielen Dank.
({7})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Paul Schäfer, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ende 2001 hat unser Kollege Wolfgang Gehrcke hier für
viel Aufregung gesorgt, als er den Bundestag und die
Öffentlichkeit davon in Kenntnis setzte, mit welchem
Auftrag die 100 KSK-Soldaten nach Afghanistan geschickt werden sollten. Es wurde gesagt: Das ist ein
Skandal! Das ist Geheimnisverrat!
({0})
Bestand der eigentliche Skandal nicht darin, dass das
Parlament über etwas entscheiden sollte, das es gar nicht
beurteilen konnte? Wenn der Auftrag nicht bekannt ist,
man aber Soldaten entsendet, dann hat man keinerlei
Grundlage, um sagen zu können, dass das ein parlamentarisch-demokratischer Vorgang ist. Das war doch der eigentliche Stein des Anstoßes.
Wenn all das wirklich so geheim war, lieber Kollege
van Essen, warum steht dann der Satz, der damals als
einziger in die Öffentlichkeit gebracht wurde, heute in
jedem Mandat? Dieser Satz lautet, dass es darum geht,
Terroristen zu jagen, gefangen zu nehmen und vor Gericht zu bringen. Dass das gesagt wurde, sollte ein Skandal sein. Heute steht das, wie gesagt, in jedem Mandat.
({1})
- Zum damaligen Zeitpunkt noch nicht.
({2})
Man könnte jetzt zur Tagesordnung übergehen. Die
Geschichte geht aber weiter. Sie haben die Frage gestellt,
welche Erfahrungen wir inzwischen gemacht haben.
Zurzeit gibt es einen Untersuchungsausschuss, der sich
mit dem Kommando Spezialkräfte beschäftigt. Weil
Murat Kurnaz bestimmte Vorwürfe erhoben hat, sind wir
zum Beispiel zum ersten Mal mit der Tatsache konfrontiert worden, dass Bundeswehrsoldaten an Wachdiensten
beteiligt waren. Das wusste vorher niemand.
({3})
Wir wissen bis heute nicht genau: Was ist mit den Gefangenen gemacht worden? Wurden Gefangene gemacht? Wir wissen nur von der Problematik, dass man
sie an die USA überstellt hat bzw. überstellen wollte,
was übrigens nicht im Einklang mit dem Mandat war.
Wie geht man damit um? Offensichtlich ist es doch so,
dass wir darüber keine genauen Informationen hatten
und haben und dass deshalb dieser Untersuchungsausschuss eingesetzt wurde. Außerdem haben wir einiges
über die Zustände in diesem Kontingent erfahren. Ich
möchte jetzt nicht über Details sprechen; der Ausschuss
wird sich hierzu in seinem Abschlussbericht äußern. Jedenfalls ist all das ein eindeutiges Zeichen, dass wir eine
verbesserte Praxis der Unterrichtung des Parlaments
brauchen.
({4})
Sie werden sagen, dass schon vieles geschieht. In der
Tat hat es unter dem Druck des Parlaments und der Öffentlichkeit einige Korrekturen gegeben. Die Kolleginnen und Kollegen, die als Mitglieder des Untersuchungsausschusses die besondere Unterrichtung erleben, sagen
aber: 95 Prozent dessen, was wir dort hören, sind in der
Öffentlichkeit ohnehin bekannt. - Das ist doch der
Punkt.
({5})
Unser Ausgangspunkt ist: Die Bundeswehr ist eine
Parlamentsarmee.
({6})
Die Entscheidungen über Auslandseinsätze müssen in
diesem Hause getroffen werden. Um diese Entscheidungen treffen zu können, braucht man präzise Informationen. Wir brauchen eine Entscheidungsgrundlage.
({7})
Diese Entscheidungsgrundlage gilt natürlich vor allem
im Hinblick auf den Einsatz von Spezialkräften.
Wenn man sagt, der Einsatz von Spezialkräften sei ein
exponiertes Instrument der Außenpolitik, und darauf
hinweist, gerade diese Truppenteile hätten ein besonderes Verständnis ihrer Arbeit - ich habe das vorsichtig
formuliert; man könnte auch sagen: ein elitäres Verständnis -, auch im Sinne von Abschottung, dann muss
gerade in diesem Fall verschärft über parlamentarische
Kontrolle nachgedacht werden.
({8})
In diesem Zusammenhang sind natürlich die Schutzerfordernisse der Soldaten unmittelbar vor dem Einsatz
und während des Einsatzes zu respektieren; das tun wir
auch, das steht überhaupt nicht zur Disposition. Aber es
geht um die Entscheidungsgrundlagen vor der Entsendung von Soldaten, und es geht um eine genaue Auswertung dieser Militärmissionen. Das ist das, was wir an
dieser Stelle einfordern: substanzielle und regelmäßige
Berichte über die Einsätze der Spezialkräfte, damit darüber in den Ausschüssen und im Plenum diskutiert werden kann. Wir müssen darüber diskutieren, wie
§ 6 Parlamentsbeteiligungsgesetz - die Unterrichtungspflicht der Bundesregierung - tatsächlich umgesetzt
wird.
Das hängt auch damit zusammen, wie Dokumente
eingestuft sind. Wie ich gesagt habe: Vieles ist der Öffentlichkeit bekannt; doch wenn es darum geht, über bestimmte Dinge, die die Öffentlichkeit wissen müsste, im
Parlament und in der Öffentlichkeit zu reden, wird ein
Mordsbrimborium gemacht, eine unheimliche Geheimniskrämerei, die uns behindert. Auch über Einsätze des
KSK im Rahmen von anderen Kontingenten - sei es im
Libanon, im Tschad oder im Kongo - müsste das Parlament, denke ich, informiert werden.
Paul Schäfer ({9})
({10})
Das sind die Punkte, die uns vor allem interessieren. Wir
werden die Anträge der FDP und der Grünen in den Ausschüssen noch im Einzelnen zu bewerten haben. Ich
glaube, es macht wenig Sinn, eine neue Blackbox zu
schaffen.
Herr Kollege!
Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin. - Dass wir
auch einen BND-Untersuchungsausschuss haben, obwohl es ein entsprechendes Kontrollgremium gibt,
spricht ja eigentlich nicht dafür, dass man sagen könnte,
ein solches Gremium sei ausreichend. Wir haben also
eine Menge Fragen und auch Skepsis. Uns geht es darum, dass die Regierung das Parlament in der Praxis
Herr Kollege, Sie wollten zum Ende kommen.
- wirklich unterrichtet. Darauf werden wir bestehen.
Danke.
({0})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Carl-Christian
Dressel, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu Beginn möchte ich gern feststellen, dass sowohl der Gesetzentwurf der FDP als auch die beiden vorliegenden
Anträge durchaus, zumindest von außen gesehen, die
richtigen Zielsetzungen haben. Das ist begrüßungswert.
Die Zielrichtung - die Beteiligung des Parlaments bei
der Entscheidung über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland zu verbessern - ist, wenn wir die Bundeswehr weiter als Parlamentsarmee verstehen wollen
- und ich denke, dies tun wir alle -, geradezu der Auftrag von uns Parlamentariern. Ihre Vorschläge werden
wir zu gegebener Zeit ausgiebig zu diskutieren haben.
Ich finde allerdings, dass der Zeitpunkt für diese Debatte gerade im Hinblick auf die erwähnte Zielsetzung
schlecht gewählt ist.
({0})
Es besteht der starke Verdacht, dass diese Thematik von
einigen Handelnden aus einer populistischen Motivation
heraus instrumentalisiert werden soll. Das lehnen wir natürlich entschieden ab.
Das Parlamentsbeteiligungsgesetz wurde im Dezember 2004 verabschiedet. Damit wurde das parlamentarische Verfahren für den Einsatz bewaffneter deutscher
Streitkräfte im Ausland zum ersten Mal gesetzlich geregelt. Die SPD-geführte Bundesregierung hat mit diesem
Gesetz die Rechte des Parlaments definiert, maßgeblich
gestärkt und Rechtssicherheit hergestellt. Es wurde ein
demokratisches Kontroll- und Mitwirkungsrecht geschaffen, das international als ein Musterbeispiel für die
Kontrolle des Militärs durch das Parlament gilt. Der
Bundestag prüft jeden Einsatz bewaffneter Kräfte im
Ausland sorgfältig und berät, bevor er seine Zustimmung gibt. Er tut dies gerade vor dem Hintergrund, dass
der Einsatz bewaffneter Kräfte im Ausland kein normales Mittel der Politik ist, sondern immer ein besonders zu
prüfendes bleiben wird.
Man muss zusammenfassen - damit wende ich mich
vor allem an die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen -: Dieses demokratische Kontroll- und Mitwirkungsrecht des Deutschen Bundestages gilt als beispielhaft.
- Ich freue mich, bei Ihnen Nicken zu sehen; ich habe
schließlich aus Ihrem Antrag zitiert. - Wir können das
nicht häufig genug in Erinnerung rufen, wenn wir jetzt detailliert über die Auslegung von § 6 Parlamentsbeteiligungsgesetz reden. Ob diese Regelung im Sinne der Parlamentsbeteiligung angemessen oder ausreichend oder
vielleicht gar unangemessen ist, erscheint mir als auslegbar, wie so vieles in der Juristerei, und diskutabel. Bevor
wir eine Entscheidung treffen, müssen wir aber sämtliche
- ich sage das deutlich: sämtliche - Aspekte, Informationen und Erfahrungswerte heranziehen.
Ich halte es schon für abenteuerlich, dass die FDP in
ihrem Antrag apodiktisch feststellt: Die geltenden Vorschriften über die Unterrichtung des Deutschen Bundestages sind unzureichend.
({1})
Eine solche Antwort hier apodiktisch zu geben, halte ich
zu diesem Zeitpunkt für nicht möglich, und zwar vor allem deswegen nicht, weil die eigentliche Gretchenfrage
nicht beantwortet ist: Haben die bestehenden Regelungen im Zuge des Einsatzes bewaffneter Streitkräfte
nachweisbar versagt, ja oder nein?
Die Arbeit der beiden Untersuchungsausschüsse zu
diesem Thema ist noch nicht abgeschlossen. Wir brauchen eine Bewertung dieser Vorfälle durch den Ausschuss, damit wir überhaupt eine seriöse Bewertung des
Parlamentsbeteiligungsgesetzes und insbesondere des
§ 6 vornehmen können.
Meine Damen und Herren von der FDP, ich würde
mir wünschen, dass wir in dieser Frage Einigkeit erzielen. Sie selbst haben verschiedentlich die Position vertreten, dass die Sinnhaftigkeit eines Untersuchungsausschusses auch darin liegt, Vorschläge dafür zu machen,
wo etwas verändert und verbessert werden kann. Zum
Beispiel haben Sie, Herr Kollege van Essen, in der Debatte über die Ergänzung des Untersuchungsauftrages
des 1. Untersuchungsausschusses am 27. Oktober 2006
als Hauptziel genannt,
dass der Ausschuss einen Schwerpunkt seiner Arbeit darin sieht, uns gegebenenfalls Vorschläge zu
machen, wo Dinge zu verändern und zu verbessern
sind.
Damit hatten Sie recht.
({2})
Wir müssen den Kolleginnen und Kollegen, die mit
dieser Sache befasst sind, allerdings die notwendige Zeit
einräumen, um solche Vorschläge prüfen und solide unterbreiten zu können. Auch dies steht schon beim Prediger Salomo:
Ein Jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde.
({3})
Dieses Vorhaben Ihrerseits hat jetzt nicht seine Zeit.
Zu der Frage, ob wir einen besonderen Ausschuss für
Auslandseinsätze brauchen, hat Kollege Kaster ausgiebig Stellung genommen. Mich würde vor allem die Einschätzung des Untersuchungsausschusses interessieren,
wobei ich sage - ich bin sicher einer Meinung mit Kollegen Kaster -: Wir wollen die Bundeswehr als Parlamentsheer, wir wollen kein Ausschussheer,
({4})
und wir wollen kein PKG für die Bundeswehr, sodass
wir am Ende statt eines Parlamentsheeres eine ArkanArmee haben, die nur von einem kleinen Gremium anstelle vom Parlament - dem Plenum - überwacht wird.
({5})
Ich freue mich auf die Auseinandersetzung mit dem
Thema, nachdem die Feststellungen des Untersuchungsausschusses vorliegen.
Ich begrüße auch den Vorschlag der Grünen, die Hinzuziehung externen Sachverstandes in der öffentlichen
Anhörung zu ermöglichen.
({6})
Allerdings sehe ich zurzeit noch nicht die Möglichkeit,
damit ein vollständiges Bild zu zeichnen. Aber, wie gesagt: Wir werden Ihre detaillierten Vorschläge diskutieren, wenn die Feststellungen des Ausschusses vorliegen.
Meine Damen und Herren von der PDS, jetzt muss
ich Ihnen attestieren - ({7})
- Ja, wer weiß, wann Sie sich wieder umbenennen. Jetzt
heißen Sie Die Linke, davor hießen Sie PDS, davor
SED, davor KPD und davor Spartakus.
({8})
Wenn Sie sich morgen in Demokratische Front der
Schafe umbenennen, dann glaube ich auch nicht, dass
Sie zu Schafen mutieren.
({9})
Sie haben vor dem Bundesverfassungsgericht eine schallende Ohrfeige für Ihr Vorgehen bekommen. Jetzt schießen Sie sich mit diesem Antrag auf die Spezialkräfte der
Bundeswehr ein.
Wenn Sie mir jetzt sagen, dass ich die Schafe beleidigt habe, dann nehme ich das zur Kenntnis. Mir tun die
Schafe auch leid, wenn sie in einem Satz mit Ihnen erwähnt werden.
({10})
Aber wer hier beleidigt, sind Sie, meine Damen und Herren von der PDS. Wenn einer Ihrer Frontleute den Vergleich zwischen dem Bundeswehreinsatz und Terroristen
zieht wie Oskar Lafontaine nach Berichterstattung des
Focus vom 21. Mai 2007,
({11})
dann ist das nicht nur eine Unverschämtheit,
({12})
sondern dann zeigt das auch, dass Ihnen zur Diffamierung unserer Parlamentsarmee jedes Mittel recht ist.
({13})
Mit Ausnahme einer Fraktion werden wir hoffentlich
einvernehmlich zu einer Lösung kommen, die die Informationsrechte des Parlaments umfänglich gewährleistet.
Es geht um die Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten;
es geht um Menschenleben, wie auch der Spiegel in seiner aktuellen Ausgabe vom Montag dieser Woche ausführt.
Lassen Sie uns, wenn die Ergebnisse des 1. Untersuchungsausschusses und des aus dem Verteidigungsausschuss hervorgegangenen Untersuchungsausschusses
vorliegen, ausgiebig und ausführlich über die Inhalte
und Schlussfolgerungen diskutieren und feststellen, welche Änderungen des Parlamentsbeteiligungsgesetzes erforderlich sind. Auf einer soliden Grundlage können wir
dann in diesem Hause eine vernünftige Entscheidung
mit, wie ich hoffe, breiter Zustimmung treffen.
Ich danke Ihnen.
({14})
Das Wort hat der Kollege Volker Beck vom Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Dressel, trotz Gretchenfrage und Bibelzitat will
ich nicht mit der Frage „Wie hältst du es mit der Religion?“ einsteigen,
Volker Beck ({0})
({1})
sondern zunächst auf den Gesetzentwurf eingehen, den
die FDP-Fraktion vorgelegt hat.
Ich glaube, dass der gewählte Ansatz falsch ist. Wir
haben aus guten Gründen ein Parlamentsheer und wollen
kein Ausschussheer für bestimmte Einsätze, bei dem elf
Abgeordnete, die uns am Ende nicht einmal informieren
dürfen, legitimieren, dass und wie die Bundeswehr im
Ausland eingesetzt wird. Das wäre ein Bruch mit unserer
Verfassungstradition in der Bundesrepublik Deutschland.
({2})
- Es gibt eine Regelung in dem geltenden Parlamentsbeteiligungsgesetz zu den in der Tat problematischen
Punkten, die Sie in Ihrem Gesetzentwurf ansprechen.
({3})
- Dass das Ihre Überzeugung ist, wird schon daran deutlich, dass Sie einen Gesetzentwurf vorgelegt haben. Lassen Sie mich trotzdem in meinen Ausführungen fortfahren.
Wir haben die Philosophie, dass bei Gefahr in Verzug
die Bundesregierung durchaus ohne vorherige Zustimmung des Parlamentes handeln kann, diese aber unverzüglich einholen muss. Das heißt, in dieser Zeit trägt die
Bundesregierung die alleinige Verantwortung,
({4})
und das Parlament entscheidet dann, ob das Vorhaben
mitgetragen wird. Es ist aber keine Alternative dazu, elf
Abgeordneten die Verantwortung für das ganze Haus zu
übertragen, die sie dann irgendwie mit der Bundesregierung teilen müssen. Das ist ein Zwitter. Es ist nichts Halbes und nichts Ganzes, und am Ende weiß man nicht,
wer die Verantwortung trägt. Auch wenn das ganze Haus
die Entscheidung falsch finden sollte, kann sie von einem Teilorgan legitimiert werden, und die Regierung
kann darauf verweisen. Dann zeigen alle aufeinander,
und keiner will es gewesen sein, wenn gerade bei solchen hochgefährlichen Einsätzen etwas schiefgeht. Eine
solche unklare Verantwortungsstruktur können wir uns
gegenüber den Soldatinnen und Soldaten, die wir in Einsätze schicken, nicht leisten.
({5})
Es gibt aber ein Übel - dazu bitte ich Herrn Dressel,
vorher tätig zu werden und das Thema mit uns im Ausschuss zu beraten -, das wir, wie ich meine, unmittelbar
abstellen müssen, damit wir unsere Aufgabe als Parlament bei den zahlreichen aktuellen Einsätzen der Bundeswehr auch wirklich wahrnehmen können. Die Berichtspflichten der Bundesregierung werden von dieser
seit neuestem leider nicht mehr richtig ernst genommen.
Das hat sie frank und frei in ihrer Antwort auf eine
Kleine Anfrage unserer Fraktion am 5. Dezember 2006
festgestellt:
Der Gesetzgeber hat im ParlBetG selbst nicht konkretisiert, in welcher Form, in welchem Umfang
und in welchen Abständen die Bundesregierung ihren Unterrichtungspflichten nachzukommen hat.
({6})
- Danach kommt auch nicht viel zur konkreten Beantwortung der Punkte, nach denen wir gefragt haben.
({7})
Anders, als die Regierung hier meint, haben wir, und
zwar Sozialdemokraten und Grüne zusammen, damals in
die Begründung zu § 6 genau hineingeschrieben, was
wir mit Berichtspflicht meinen. Wir haben gesagt:
Die Vorschrift stellt die regelmäßige Unterrichtung
des Deutschen Bundestages durch die Bundesregierung sicher. … Über den Verlauf der Einsätze und
die Entwicklung im Einsatzgebiet unterrichtet die
Bundesregierung den Deutschen Bundestag schriftlich. Sie soll darüber hinaus dem Deutschen Bundestag jährlich einen bilanzierenden Gesamtbericht
über den jeweiligen Einsatz bewaffneter Streitkräfte
und die politische Gesamtentwicklung im Einsatzgebiet vorlegen.
Ferner heißt es in der Begründung:
Die Bundesregierung soll nach Beendigung des
Einsatzes einen Evaluierungsbericht erstellen, der
sowohl die militärischen als auch die politischen
Aspekte des Einsatzes darstellt und bewertet.
Wir als Gesetzgeber waren damals der Auffassung,
dass diese Interpretation des § 6 die Bundesregierung
tatsächlich bindet. Die Bundesregierung hat dieser Ansicht weder in Verhandlungen noch im Ausschuss widersprochen. Nun schert sie sich nicht darum.
({8})
Das ist in der Tat ein Problem. Deshalb haben wir diesen
Antrag gestellt, mit dem wir gemeinsam - hoffentlich
auch mit Ihnen; ich glaube, es ist auch Ihr Anliegen, Einsätze informiert zu verantworten - die Bundesregierung
daran erinnern wollen, dass sie diesen Verpflichtungen
nachzukommen hat, was wir gegebenenfalls durch entsprechende Beschlüsse des Deutschen Bundestages unterstreichen wollen.
Ich glaube, gerade wenn wir als Parlament sagen,
dass wir die Hoheit über die Entscheidungen über Militäreinsätze behalten wollen, dass wir sie gegenüber den
Soldatinnen und Soldaten sowie gegenüber der Völkergemeinschaft verantworten wollen, dann müssen wir
auch darauf dringen, dass wir die entsprechenden Informationen erhalten, um auch rückwirkend falsche Entscheidungen politisch bewerten und daraus Lehren ziehen zu können. Dazu brauchen wir aber eine sorgfältige
Berichtspraxis der Bundesregierung, bei der es sich nicht
Volker Beck ({9})
um eine freiwillige, sondern um eine verbindliche Leistung handelt. Ansonsten können wir unserer Verantwortung als Abgeordnete nicht gerecht werden.
({10})
Das Wort zum Abschluss dieser Debatte hat der Kollege Gert Winkelmeier.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Beim Lesen des FDP-Antrags fiel mir George Orwells
Farm der Tiere ein. Darin steht:
Alle Tiere sind gleich, aber manche Tiere sind gleicher.
- Das wäre nämlich das Ergebnis, wenn die von der FDP
vorgeschlagenen Änderungen des Parlamentsbeteiligungsgesetzes hier im Hause eine Mehrheit finden würden. Wir hätten dann endgültig eine Zweiklassengesellschaft im Parlament, nämlich jene Parlamentarier, die in
dem PKG und im Ausschuss für besondere Auslandseinsätze sitzen, und den Rest, der seiner normalen parlamentarischen Arbeit nachgeht. Wir hätten die Situation,
dass in einem zweiten hochsensiblen Bereich eine Geheiminstanz geschaffen würde,
({0})
eine Geheiminstanz, die von der Exekutive nach Belieben über den Tisch gezogen werden kann.
({1})
Mehr als ein verlängerter Arm der Regierung wäre dieser Ausschuss für besondere Auslandseinsätze nämlich
nicht. Er wäre geradezu eine Einladung an jede Regierung, Auslandseinsätze inflationär mit dem Stempel
„Geheim“ zu versehen. Dann gäbe es aus Sicht der Regierung endlich keine öffentliche Teilnahme an Bundestagsdebatten mehr. Das hat weniger Presseberichterstattung und damit weniger Informationen für die
Bevölkerung zur Folge.
Folgt man den FDP-Gedanken, dann will sie mit ihren
Änderungen das Parlamentsbeteiligungsgesetz und damit den Bundestag kastrieren. Sie will zukünftig lediglich einige wenige Abgeordnete über Auslandseinsätze
der Bundeswehr entscheiden lassen. Das darf nicht geschehen. Im Gegenteil: Der Verteidigungsausschuss als
1. Untersuchungsausschuss hat in der Sache Kurnaz und
KSK gezeigt, dass das Parlament nicht weniger, sondern
mehr Unterrichtung benötigt, auch Unterrichtung darüber, wie Einsätze der Spezialkräfte verlaufen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der FDP geht es darum, künftigen Regierungen Auslandseinsätze der Bundeswehr leichter zu machen.
({3})
Hierzu ein Beispiel: Die rot-grüne Regierung hat seinerzeit beim Gipfel in Prag 2002 ohne Not der Bildung der
Schnellen Eingreiftruppe der NATO zugestimmt. Im
vollen Wissen um die Parlamentsbeteiligung hat sie es
zugelassen, dass diese Truppe innerhalb von fünf Tagen
an jedem Punkt der Welt einsatzbereit sein soll, einmal
abgesehen davon, dass dieser Fünftageregelung offenkundig ziemlich absurde Krisenszenarien zugrunde liegen. Schon wegen unserer parlamentarischen Selbstachtung können wir in diesem Fall der Regierung nicht aus
der Misere heraushelfen; denn sie hat diese Situation
selbst herbeigeführt. Genau deshalb muss die Parlamentsbeteiligung erhalten bleiben. Sie muss auch auf die
Spezialkräfte ausgedehnt werden.
Hier geht es um Grundsätzliches. Deutschland hat
eine andere Vergangenheit als seine Verbündeten. Deshalb haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes
selbst im Kalten Krieg die Hürden für den Einsatz der
Bundeswehr zur Verteidigung sehr hoch gesetzt.
({4})
Das Bundesverfassungsgericht hat diese für die Auslandseinsätze quasi bestätigt. Auch wenn Herr Struck,
Herr Klose und der jetzige Innenminister im Verein mit
der Stiftung Wissenschaft und Politik noch so sehr für
das Gegenteil trommeln: Angesagt ist eine Verschärfung
der parlamentarischen Kontrolle und nicht ihre schleichende Suspendierung.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/3342, 16/6646 und 16/6770 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuordnung der Ressortforschung im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
- Drucksache 16/6124 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0})
- Drucksache 16/6759
Abgeordnete Dr. Max Lehmer
Dr. Christel Happach-Kasan
Cornelia Behm
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Dr. Hans-Heinrich Jordan
von der CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der schnelle Wandel ist ein Zeichen
unserer Zeit. Der Staat und damit die Politik müssen
zum Wohl der Gesellschaft ständig darauf reagieren sowie Antworten und Perspektiven durch Rahmensetzung
für die Zukunft geben. Dabei ist die Ressortforschung
ein unveräußerlicher Bestandteil für die Entscheidungsfindung. Die notwendige systematische Einbindung von
Erkenntnissen aus Wissenschaft und Forschung in staatliches Handeln hat in Deutschland Tradition. Ich möchte
deshalb ausdrücklich hervorheben, dass mit der Namensgebung bei den vier Bundesforschungsinstituten im
Agrar- und Ernährungsbereich ein erfreuliches Bekenntnis zu großen Forscherpersönlichkeiten abgegeben wird.
({0})
Was muss nun die Reform der Ressortforschung bringen? Natürlich unterliegt die Ressortforschung ebenso
wie die gesamte staatliche Verwaltung dem Gebot der
Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit. Bei auch zukünftig begrenzten öffentlichen Mitteln muss Ressortforschung hervorragende Qualität liefern, unter noch
stärkerer Einbindung des gesamten wissenschaftlichen
Systems. An der Schnittstelle von Wissenschaft und
Politik ist Ressortforschung als ein eigenständiger Typ
angewandter Forschung durch Besonderheit gekennzeichnet. Wir erwarten, dass sie Fragen der Gesellschaft
aufgreift und problemorientiert sowie praxisnah beantwortet.
({1})
Grundsätzliche Forderung des Wissenschaftsrates, der
auch die Ressortforschung evaluiert, war eine Verstärkung der Vernetzung mit anderen Forschungsbereichen
und Institutionen der Wirtschaft, der Hochschulforschung und der Lehre.
Somit muss die Ressortforschung aufgrund der Problemorientierung in der Regel interdisziplinär ausgelegt
werden sowie Nutzer und Anwender des Wissens einbinden. Ein Vorzug muss die Verbindung zwischen kurzfristig abrufbarer wissenschaftlicher Kompetenz und der
Fähigkeit, langfristig angelegte Fragestellungen kontinuierlich bearbeiten zu können, sein. Ich höre schon, dass
für viele die hierarchische Organisationsstruktur ein
Mangel ist, aber als Bindeglied zwischen Forschung und
Verwaltung muss die Führung der Institute in der heutigen Zeit die Probleme lösen und Freiheit und Wettbewerb sichern können.
({2})
Mit diesem Reformkonzept werden durch die Bundesregierung auch Chancen für eine weitere Schärfung des
Profils der Ressortforschung gegeben. Das schließt ein, so
meine ich, dass das Verhältnis zwischen Verwaltungs- und
Forschungsaufgaben zugunsten der Forschung verbessert
wird, dass bessere Rahmenbedingungen für kurz-, mittelund langfristige Forschungsprojekte gesetzt werden und
dass die Qualitätssicherung durch interne und externe
Evaluationen zum Leistungsstand ein wesentliches Merkmal für die zukunftsorientierte Ressortforschung sein
muss.
Neben der Einbindung Dritter im In- und Ausland ist
die Nutzung der Synergiepotenziale mehr als nur gewollt. Wichtig ist, dass Personalstrategien entwickelt
und angewendet werden, die den Nachwuchs fördern
und Spitzenforscher locken.
({3})
Dass in deutschen Einrichtungen die Arbeit von Nobelpreisträgern möglich ist, zeigen die Auszeichnungen unserer Preisträger 2007. Professor Grünberg, Professor
Ertl, auch an dieser Stelle nochmals herzlichste Gratulation!
({4})
Uns werden durch zukünftige Entwicklungen noch
stärker als heute neue Aufgaben und Ziele im Agrar- und
Ernährungsbereich antreiben. Die Land-, Forst-, Fischerei- und Ernährungswirtschaft sowie die Forschung in
diesen Bereichen können und werden dazu erhebliche
Beiträge leisten müssen. Die Herausforderungen im
Agrar- und Ernährungsbereich haben sich schon heute
entscheidend gewandelt. In früheren Jahren stand die
quantitative Versorgung mit Lebensmitteln im Vordergrund, heute haben Aspekte wie Qualität und Sicherheit
wie auch ökologische Ziele einen höheren Stellenwert.
Auf der zur Verfügung stehenden Fläche müssen zukünftig sowohl Nahrungsmittelerzeugung als auch Biomasseproduktion für energetische und stoffliche Zwecke erfolgen.
({5})
Gleichzeitig muss die biologische Vielfalt bewahrt werden. Die Haltungsbedingungen für Nutztiere sind im
Sinne des Tierschutzes weiterzuentwickeln. Die Forschung im ökologischen Landbau ist deshalb so zu intensivieren, dass Marktsegmente mit kontinuierlich wachsender Nachfrage zukünftig verstärkt mit ökologischen
Waren aus deutscher Produktion bedient werden können.
({6})
Die Voraussetzungen für eine nachhaltige Entwicklung
ländlicher Räume müssen in Zeiten der Globalisierung
und demografischer Veränderungen untersucht und Lösungswege entwickelt werden. Der Klimawandel muss
gebremst und die agrar- sowie forstwirtschaftlichen Nutzungssysteme müssen an die zukünftigen Veränderungen
angepasst werden. Verbraucherseitig sind ernährungsbedingte Gefahren frühzeitig zu erkennen und abzuwehren.
Verbraucherschutz geht heute weit über Ernährungsfragen
hinaus und muss alle Lebensbereiche vom Autokauf bis
hin zum Zahnersatz, von der Altersversorgung bis hin zur
Zertifizierung von Bildungsangeboten einschließen.
({7})
Nahezu unendlich ließe sich die Palette der Aufgaben erweitern.
Im Wissen um diese Anforderungen hält die Bundesregierung Wort. Das zeigen die diesbezüglichen Erhöhungen der Haushaltsmittel für 2008.
Mit dem Gesetz zur Neuordnung der Ressortforschung im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz werden die organisatorischen Voraussetzungen für eine exzellente und effiziente Ressortforschung geschaffen. Ich
erwarte, dass dadurch auch die inhaltlich-fachliche Qualität der wissenschaftlichen Arbeit verbessert wird.
In Ressortforschungseinrichtungen im Verantwortungsbereich des BMELV sind insgesamt rund 2 700 wissenschaftliche und nicht wissenschaftliche Bedienstete
beschäftigt, wobei seit 1996 annähernd 1 000 Stellen abgebaut wurden. Zusätzliche weitere Personaleinsparungen
dürfen dabei nicht zulasten der wissenschaftlichen Forschungsaktivitäten gehen, sondern müssen durch Effizienzsteigerung in der Verwaltung erbracht werden.
({8})
Der Wissenschaftsrat hat mehrere Empfehlungen, zuletzt im Januar 2007, zur Entwicklung der Rahmenbedingungen der Forschung in Ressortforschungseinrichtungen gegeben. Daraus hat die Bundesregierung mit
ihren im Januar 2007 veröffentlichten Leitlinien für eine
moderne Ressortforschung erste Schlussfolgerungen gezogen, denen auch für den Bereich „Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz“ in vollem Umfang
beizustimmen ist. Ich begrüße ein ressortübergreifendes
Gesamtkonzept für die Ressortforschung durch die Bundesregierung und verbinde das mit der Erwartung, dass
darin auch die Belange der agrar- und verbraucherwissenschaftlichen Forschung ausreichend gewahrt werden.
Das BMELV hat als eines der ersten Ministerien die
notwendigen Reformen für eine zukunftsfähige Ressortforschung vorgelegt.
({9})
Herr Kollege, denken Sie an die Zeit, bitte.
Ich komme gleich zum Schluss. - Die Entscheidung
wurde schon 1996 gefordert. Es war ein langer, ein viel
zu langer Weg bis zur heutigen Vorlage. Viel Effizienz
ist verloren gegangen. Das vorliegende Konzept und der
Gesetzentwurf des BMELV setzen den Rahmen für eine
erfolgreiche Ressortforschung und ermöglichen zukünftig dynamische Anpassungen an neue Entwicklungen
und Aufgaben.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Christel HappachKasan von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nicht immer gilt das Sprichwort „Was lange währt, wird
endlich gut“. Was lange währt, das kann auch voll danebengehen. Genau das ist bei diesem Konzept der Fall gewesen.
({0})
Mit der Verwirklichung der deutschen Einheit - HansDietrich Genscher hat einen entscheidenden Anteil daran
- musste die Ressortforschung von zwei Ländern zusammengeführt werden. Es ist nachvollziehbar, dass dies nicht
ohne Stellenkürzungen hat vonstatten gehen können. Dies
müssen wir akzeptieren. Aber wir müssen fragen: Sind die
Prioritäten wirklich richtig gesetzt worden?
Das 1996 erarbeitete Konzept wird jetzt umgesetzt.
Man muss sich wirklich fragen, ob die Bundesregierung
nicht bemerkt hat, dass wir in den letzten elf Jahren verschiedene Entwicklungen gehabt haben, die hätten berücksichtigt werden müssen.
({1})
Man muss dann auch einmal fragen, ob es richtig war,
die rot-grünen Fehlentscheidungen zu übernehmen.
({2})
Deutschland ist zwar das größte Land in der Europäischen Union - das ist richtig -, international gesehen ist
es aber relativ klein. Das heißt, wir müssen insbesondere
im Bereich der Forschung zu Clusterbildungen kommen.
Ressortforschung darf nicht isoliert betrachtet werden,
sondern muss im Zusammenhang mit den Universitäten,
den Instituten Leibniz, Max Planck, Helmholtz und
Fraunhofer betrachtet werden. Der Wissenschaftsrat hat
tiefgreifende Reformen der Agrarwissenschaften gefordert, zum Beispiel die Bildung von Clustern mit Instituten. Wir müssen feststellen, dass die Bundesregierung
die Chance vertan hat, mit der Neuordnung der Ressortforschung zu einer solchen Clusterbildung beizutragen.
({3})
Ein Ziel der Reform sollte sein, die wissenschaftliche
Exzellenz zu stärken. Wir müssen feststellen, dass die
Institute, die über eine besondere wissenschaftliche ExDr. Christel Happach-Kasan
zellenz verfügt haben, schon jetzt abgewickelt und woandershin verlagert werden. Das ist unterirdisch.
({4})
Warum orientieren Sie sich nicht an Dänemark oder
den Niederlanden? Eine Konzentration von Grundlagenforschung, Anwendungsprojekten und Lehre in breit
aufgestellten Universitätseinrichtungen ermöglicht heute
einen hocheffizienten Einsatz öffentlicher Mittel. Das
muss für unsere Forschungseinrichtungen in gleicher
Weise gelten. Dies entnehme ich einer Studie, die die
Milchwirtschaft in Auftrag gegeben hat. Leider haben
Sie sich daran nicht orientiert.
Wir müssen weiter feststellen, dass die Ernährung im
Vergleich zum Jahr 1996 einen ganz anderen Stellenwert
hat. Fehlernährung führt zu Kosten im Gesundheitssystem. Die ernährungsbedingten Krankheiten verursachen
80 Prozent der Morbidität und Invalidität der Bevölkerung. Die Kosten der Bekämpfung der Krankheiten belasten das Gesundheitssystem in hohem Maße. Diabetes ist
die teuerste Erkrankung, ihre Behandlung kostet jährlich
35 Milliarden Euro. Trotzdem entscheidet die Bundesregierung, dass das Max-Rubner-Institut, die ehemalige
Forschungsanstalt für Ernährung und Landwirtschaft, das
kleinste unter den vier großen Instituten werden soll. Das
ist einfach eine Fehlentscheidung. Dies wird den Aufgaben nicht gerecht.
({5})
Der Wissenschaftsrat empfiehlt zwei Standorte für
Ernährung: Karlsruhe und Kiel. Doch dann muss man
mit ansehen, wie Minister Seehofer nach Kulmbach
fährt und dort Extrastellen verspricht. Auch das ist nicht
in Ordnung. Das ist eine Schwächung der Ressortforschung.
({6})
Minister Seehofer hat in seiner Einbringungsrede zum
Gesetzentwurf dargestellt, dass alle Bundesländer damit
einverstanden sind. Dabei hat er offensichtlich nicht bemerkt, dass das nördlich der Elbe nicht gilt. Hamburg
und Schleswig-Holstein haben einen Bundesratsantrag
zur Ablehnung dieses Gesetzentwurfes zur Ressortforschung gestellt. Das sollte auch ein Minister Seehofer
zur Kenntnis nehmen.
Um auf die Studie der deutschen Milchindustrie zurückzukommen: Der Milchforschungsstandort Deutschland ist in Gefahr, seine internationale Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren; so das Fazit dieser Studie. Die
Milchwirtschaft - das wissen alle Kolleginnen und Kollegen aus dem Agrarausschuss - ist der umsatzstärkste
Sektor der deutschen Agrarwirtschaft. Dieser Sektor
wird in einer unvorstellbaren Weise geschwächt, was
Auswirkungen auf unsere Betriebe hat.
Sie haben eine Entschließung zu einem verfehlten
Gesetz beantragt. Darin steht eine Menge Lyrik; das ist
ganz nett. Es gibt einzelne Punkte, denen wir zustimmen
können. Aber was nützt uns die Lyrik, wenn in der Neuordnung der Ressortforschung letztlich derartig viele
Fehlentscheidungen getroffen werden, wie Sie sie hier
zu verantworten haben? Sie haben eine bedeutende
Chance vertan, Agrarwissenschaft und -forschung in
Deutschland besser aufzustellen, als es bisher der Fall
gewesen ist. Ich muss kritisieren, dass auch die Große
Koalition von CDU/CSU und SPD offensichtlich überhaupt kein Gefühl dafür hat, was Deutschland braucht.
Es ist ein schwarzer Tag für die Agrarwissenschaft in
Deutschland.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat der Kollege Dr. Wilhelm Priesmeier von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kann die
Kritik der Frau Kollegin Happach-Kasan in keiner Weise
nachvollziehen. Offensichtlich hat sie völlig vergessen,
dass das Ursprungsrahmenkonzept aus dem Jahr 1996
stammt.
({0})
Wenn ich mich recht erinnere, war 1996 die FDP mit in
der Regierungsverantwortung. Bis zum heutigen Tag ist
dieses Konzept weiterentwickelt worden.
({1})
Wir alle wissen natürlich, wie schwierig es ist, in dem
Zusammenhang Entscheidungen zu fällen, die letztendlich auch Standorte betreffen.
Der Kollege Jordan hat eben vorgetragen, welche Anforderungen an die Ressortforschung zu stellen sind. Ich
bedanke mich bei ihm dafür, dass er auch den Inhalt unseres Entschließungsantrags vorgetragen hat, der, wie
ich finde, einen adäquaten Rahmen darstellt, wie sich
Ressortforschung nach unserer Einschätzung zukünftig
entwickeln sollte. Zumindest in dem Zusammenhang
wird, was lange währt, doch endlich gut, Frau Kollegin.
Eines ist klar: Bei der Gesamtkonzeption stehen Exzellenz und Expertise im Vordergrund. Dem entspricht
auch die Umsetzung des Konzepts.
({2})
Wir haben damit die Grundlagen gelegt, um zukünftig
diesen Bereich entsprechend auszugestalten und zu erreichen, dass das geleistet wird, was wir tagtäglich in unserer Arbeit brauchen. Es geht darum, entweder in krisenhaften Situationen zu handeln oder hier im Parlament
vorausschauend Entscheidungen zu treffen. Das ist Aufgabe von Ressortforschung.
Wir müssen uns kritisch fragen, in welchem Zusammenhang sich verschiedene Aufgabenfelder verändert
haben. Dabei kommt natürlich auch die Frage nach Forschungsinhalten zum Tragen. Dort muss eine klare Entscheidung getroffen werden.
Das heute vorliegende Konzept basiert auf einem
Vier-Säulen-Modell, und zwar orientiert an Schutzgütern
- das ist das, was im Augenblick Stand der Wissenschaft
und auch der kritischen Beurteilung von Ressortforschung ist -, den Bereichen Pflanze, Ernährung, Tier,
tierische Lebensmittel, ländliche Räume, Wald und Fischerei.
Ich glaube, es wird uns gelingen, ein geschlossenes
Konzept darzustellen, auch wenn die Neuorientierung
und die Umgestaltung nicht ohne Abbau in verschiedenen Bereichen vonstatten gehen werden. Das Konzept
aus dem Jahr 1996 sieht vor, den Bereich der Agrarressortforschung auch personell zu reduzieren, und zwar
um 30 Prozent in der Zielrichtung bis 2014. Wir arbeiten
daran. Wir haben allerdings in verschiedenen Bereichen
Probleme, vor allen Dingen im unteren Bereich, im Bereich der Verwaltung, diesen Einsparvorgaben nachzukommen. Aus dem Grunde ist das Konzept so orientiert,
dass das Ziel über einen relativ langen Zeitraum sozialverträglich erreicht werden kann. Wir alle haben heute
Morgen in der Ausschusssitzung ein klares Bekenntnis
zur Größenordnung der finanziellen Förderung im Bereich der Ressortforschung abgelegt und beschlossen,
242,7 Millionen Euro dafür zur Verfügung zu stellen.
In diesem Zusammenhang noch einmal ein klares Bekenntnis zum weiteren Ausbau des Friedrich-LoefflerInstituts, der sinnvoll ist und dessen Notwendigkeit von
niemandem bestritten wird. Wir werden sicherlich in der
Lage sein, die zwischenzeitlich aufgetretenen Kostensteigerungen in den Haushalten zu finanzieren,
({3})
sodass dort ein weiterer Meilenstein für die Verbesserung von Forschungsqualität gesetzt wird. Das ist vor allen Dingen wichtig angesichts der hervorragenden Exzellenz, die sich schon heute in diesem Institut zeigt, und
der internationalen Anerkennung für die in diesem Institut geleistete Arbeit.
Die Aufgaben, vor denen wir stehen, sind recht vielfältig und haben sich natürlich im Laufe der letzten Jahre
gewandelt, vor allen Dingen seit den krisenhaften Erscheinungen zum Beispiel im Zusammenhang mit BSE
und auch vor dem Hintergrund der jetzigen Debatte zum
Klimaschutz. Ressortforschung muss darauf eine Antwort geben und in der Lage sein, uns Kriterien für die
Entwicklung politischer Konzepte und Grundlagen für
zukünftige Entscheidungen an die Hand zu geben.
Die Bereiche Qualitätssicherungsmaßnahmen und externe Evaluierung wurden übernommen und sind in dem
Konzept klar erkennbar. Alles resultiert aus den Erkenntnissen der Bewertung des Wissenschaftsrates, und in Bezug auf die Qualitätsverbesserung von Forschung in diesen
Bereichen sind dort entsprechende Schlussfolgerungen gezogen worden. In diesem Zusammenhang sind auch die
Schwächen relativ klar aufgedeckt worden. Mit dem
jetzt vorliegenden Konzept tun wir etwas, um die Vernetzung zu verbessern, um die Attraktivität zu verbessern, wenn es um Drittmitteleinwerbung geht, und vor
allen Dingen auch, um die Verantwortlichkeit in den verschiedenen Bereichen aus ihrer Struktur heraus zu verbessern.
Das Konzept einer präsidialen Struktur mit einer eigenen Verantwortung für Planstellen, Haushaltsstellen und
Budgets stärkt die Position und die Gestaltungsmöglichkeiten der jeweiligen Spitzen dieser Institute und führt
nachhaltig dazu, dass man adäquat und zeitnah auf Veränderungen in den verschiedenen Forschungsbereichen
reagieren kann. Dieses Konzept entspricht den Leitlinien
für eine moderne Ressortforschung, die die Bundesregierung im Januar 2007 vorgelegt hat. Insoweit ist überhaupt kein Bruch erkennbar.
Ich möchte hier noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen, dass es uns gelungen ist, das BMF davon zu
überzeugen, dass gerade der Bereich der Forschung zum
Ökolandbau in besonderer Weise zu würdigen ist. Das
hat man letztendlich auch im BMF erkannt, und es ist
gelungen, das Institut in Trenthorst langfristig zu sichern. Auch wir unterstützen das natürlich. Im Haushalt
2008 werden die Mittel für das Ökolandbauprogramm
konstant gehalten. Außerdem werden 3 Millionen Euro
für Forschungsaufgaben in diesem Bereich vorgesehen.
Das macht deutlich, wie wichtig für uns Sozialdemokraten die Forschung im Bereich des Ökolandbaus ist. In
dieser wachsenden Branche müssen wir zukünftig unsere Marktchancen wahren.
({4})
Lassen Sie mich noch auf einen weiteren Punkt eingehen. Ressortforschung darf man nicht solitär in der Forschungslandschaft sehen. Mir macht die Expertise des
Wissenschaftsrats zum gesamten Bereich der deutschen
Agrarforschung Sorge.
Der Bereich der Ressortforschung kann ein wichtiger
Katalysator sein. Aber wir beobachten hier Stellenkürzungen, Personalabbau und auch die Schließung von
Universitäts- und Fachhochschuleinrichtungen. Das
zeigt deutlich, dass unter dem Aspekt der Vernetzung
von Ressortforschung und Forschung in Unternehmen
die Forschung auf der Länderebene und im universitären
Bereich in besonderer Weise zu würdigen ist. Ich glaube,
dass mit dem Zur-Verfügung-Stellen von Projektmitteln
ein ganz entscheidender Beitrag geleistet werden kann,
um gerade die Ressortforschung in Deutschland voranzubringen und vor dem Hintergrund der Vernetzung der
verschiedenen Forschungseinrichtungen die Exzellenz
zu befördern.
Damit sind wir in der Lage, uns an internationalen
Programmen - ich nenne beispielsweise das 7. Forschungsrahmenprogramm der EU mit erheblich höheren
Mitteln für die Agrarforschung - adäquat zu beteiligen.
Wir müssen davon wegkommen, dass wir in Deutschland in diesem Bereich nur 10 Prozent der Projektmittel
nutzen können, während es in anderen Bereichen üblich
ist, dass deutsche Einrichtungen und Institute bis zu
20 Prozent der Mittel aus diesem Rahmenprogramm nutzen können.
Mit dieser Konzeption, die wir Sozialdemokraten
nachdrücklich unterstützen, ist uns ein guter Wurf gelungen. Die Abstimmung über die Standorte war nicht immer einfach. Wenn jemand vor Ort in seinem Wahlkreis
von einer Entscheidung negativ betroffen war, war es
schwierig, klarzumachen, warum die Entscheidung genau so getroffen werden musste. Wenn wir in zehn Jahren zurückblicken - die Reform soll ja in spätestens fünf
Jahren weitestgehend umgesetzt sein -, dann werden wir
sagen können, dass das ein guter Schritt für die deutsche
Ressortforschung war.
({5})
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Kirsten
Tackmann für die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Gäste! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Die Agrarressortforschung
ist eine Grundvoraussetzung für eine zukunftsfähige
Agrarwirtschaft. Darin sind wir uns, glaube ich, einig.
Aber der Gesetzentwurf zur Neuordnung ist eine Mogelpackung, mit der die wirklichen Ziele verschämt verborgen werden sollen.
Die angebliche Neuordnung setzt ohne wirkliches
fachliches Konzept die Arbeitsplatzvernichtung und die
Standortschließungen aller Regierungen seit 1996 fort.
Im Entschließungsantrag der Koalition steht die Bilanz
dieser Politik. In der Agrarressortforschung sind noch
rund 2 700 Bedienstete beschäftigt, wobei seit 1996
1 000 Stellen abgebaut wurden. Dies geschah übrigens
auf Grundlage eines Beschlusses von Schwarz-Gelb.
({0})
Die bereits entstandenen Fehlstellen sind von den Experten in der Anhörung deutlich benannt worden. Aber
diese Löcher jetzt mit vier Großinstituten und weiteren
Standortschließungen stopfen zu wollen, ist wirklich absurd.
({1})
Statt die Erfahrungen der Teilumsetzung des 96er-Rahmenkonzeptes ehrlich zu analysieren, sagt auch diese
Regierung einfach „Weiter so!“. Dabei sind die Herausforderungen an die Agrarressortforschung seit 1996
deutlich gestiegen.
Ich will drei neue Herausforderungen nennen: Wir
brauchen erstens Vermeidungs- und Anpassungsstrategien zum Klimawandel; wir müssen zweitens die Frage
beantworten, wie wir möglichst viel Energie pro Hektar
Fläche ökologisch und mit höchsten Klimaschutzeffekten erzeugen und dabei die Nahrungs- und Futtermittelerzeugung zu bezahlbaren Preisen sichern; wir müssen
drittens das infolge der Globalisierung deutlich gestiegene Infektionsrisiko der Nutztierbestände durch die
großen Personen- und Handelsströme im Blick behalten.
Statt weniger wird also eigentlich mehr agrarwissenschaftliche Kompetenz gebraucht.
({2})
Das Regierungskonzept gibt darauf die falschen Antworten. Ich möchte nur drei Sündenfälle nennen:
Erstens. Die neue Tierseuchenstrategie der EU fordert
die Verschiebung der Prioritäten hin zur Vorbeugung.
Völlig zu Recht! Wir schleppen uns seit Jahren von der
Schweinepest über BSE, MKS und Vogelgrippe zur
Blauzungenkrankheit. Als Fachpolitikerin unterstütze
ich daher ausdrücklich das Bekenntnis zum Neubau des
Instituts auf der Insel Riems, auch wenn meine Haushälter angesichts der Kostenexplosion natürlich die Stirn
runzeln. Der Neubau ist aber angesichts der schwierigen
Arbeitsbedingungen der Kolleginnen und Kollegen auf
der Insel Riems dringend notwendig. Nur, warum wird
die Verlagerung des Instituts für Epidemiologie von
Wusterhausen auf die Ostseeinsel Riems nicht überprüft,
obwohl damit ausgerechnet die Arbeitsfähigkeit des Instituts gefährdet wird, das die epidemiologischen Ausbruchsuntersuchungen und Risikobewertungen schultern
muss?
1996 hatte die SPD einen klugen Antrag zum Rahmenkonzept gestellt. Ich darf daraus zitieren:
Für die Arbeit des Tierseuchenzentrums in Wusterhausen ist sowohl die Nähe zum zweiten Dienstsitz
des BML in Berlin als auch die zentrale Lage in
Deutschland von Vorteil.
Die angespannte Tierseuchenlage, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der SPD, ist ein ausgezeichnetes Argument, diesen Antrag wieder aus der Schublade zu holen und ihn zumindest noch einmal zu prüfen; denn er ist
richtiger denn je.
({3})
Zweitens. Das Institut für Forstgenetik und Forstpflanzenzüchtung soll entgegen einer ausdrücklichen
Empfehlung der Evaluationsgruppe Forschung vom
April 2007 von Ostbrandenburg in die Nähe von Hamburg verlagert werden. Ich darf wieder zitieren:
Die Präsenz des Instituts an zwei Standorten … hat
… hinsichtlich der unterschiedlichen klimatischen
Bedingungen und der Betreuung spezifischer Feldversuche seine Berechtigung. … Zur Straffung der
Forschungsarbeiten wird empfohlen, alle züchtungsrelevanten Tätigkeiten enger als bisher mit
dem Standort Waldsieversdorf zu verknüpfen.
Trotzdem soll dieser Standort geschlossen werden.
Die Linke fordert angesichts dieser Fehlentscheidungen ein Moratorium für alle Standortschließungen, die
geplant sind. Die finanziellen, personellen, sozialen und
strukturpolitischen Folgen einer Standortschließung
müssen ehrlich analysiert werden. Für eine Neuentscheidung muss eine Kosten-Nutzen-Analyse vorgelegt werden. Das ist das Mindeste, was die betroffenen Kolleginnen und Kollegen sowie die Kommunen fordern können;
denn durch solche Standortschließungen werden meist
die letzten wissenschaftlichen Arbeitsplätze, die es in
diesen Regionen gibt, vernichtet. Liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD, Sie haben in Ihren Entschlie12526
ßungsantrag einen ähnlichen Prüfauftrag aufgenommen.
Vielleicht wäre es gut, diesen ernst zu nehmen.
Drittens. Wer Präsidenten eine solche Macht gibt, degradiert Institutsleiter zu besser bezahlten Sachbearbeitern. Auch das wird die Exzellenz in der Breite nicht
wirklich fördern.
({4})
Aus unserer Sicht werden weder der Gesetzentwurf
noch der Entschließungsantrag dazu beitragen, dass wir
eine leistungsfähige Agrarressortforschung haben. Deswegen müssen wir beides ablehnen. Aber wir sollten
weiter im Gespräch bleiben. Ich hoffe auf bessere Zeiten.
Danke schön.
({5})
Die Rede der Kollegin Cornelia Behm, die jetzt hier
oben neben mir Platz genommen hat, geht genau aus die-
sem Grund zu Protokoll.1)
({0})
- Sie könnten sie vielleicht vorlesen.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Neuordnung der Ressortforschung im Geschäftsbereich
des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz. Der Ausschuss für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/6759,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
16/6124 anzunehmen. Ich bitte jetzt diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetz-
entwurf mit den Stimmen der Koalition gegen die Stim-
men der Opposition angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer für diesen Gesetzentwurf
stimmen möchte, möge sich bitte erheben. - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf mit
dem gleichen Stimmenergebnis wie vorher angenom-
men.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU und der
Fraktion der SPD auf Drucksache 16/6777. Wer stimmt
für den Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit demsel-
ben Stimmenverhältnis wie der Gesetzentwurf angenom-
men.
1) Anlage 19
Ich rufe die Tagesordnungspunkt 6 a und 6 b sowie
Zusatzpunkt 3 auf:
6 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
Hirsch, Dr. Barbara Höll, Werner Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Praktika gesetzlich regeln
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
Grietje Bettin, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Perspektiven für die Generation Praktikum
schaffen
- Drucksachen 16/3349, 16/3544, 16/6762 Berichterstattung:
Abgeordnete Dorothee Bär
Swen Schulz ({2})
Cornelia Hirsch
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Cornelia Hirsch, Werner Dreibus, Dr. Gesine
Lötzsch, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Achtundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des
Berufsbildungsgesetzes
- Drucksache 16/6629 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Barth, Patrick Meinhardt, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Orientierung und verbesserte Berufsperspektiven durch Praktika schaffen
- Drucksache 16/6768 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({4})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der
Kollegin Dorothee Bär für die CDU/CSU-Fraktion.
({5})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich merke, dass ich zu dieser späten Stunde erst
einmal meine eigene Fraktion in Stimmung bringen
muss, damit das mit dem Applaus auch funktioniert.
({0})
- Ich habe zwar meine Fraktion gemeint, aber es klappt
auch bei der FDP wunderbar.
Wir sprechen heute über die sogenannte Generation
Praktikum. Wir beraten Anträge mit Titeln wie „Praktika
gesetzlich regeln“ oder - das klingt noch vollmundiger „Perspektiven für die Generation Praktikum schaffen“.
Wenn es diese Generation Praktikum wirklich gäbe und
dieser Begriff tatsächlich gerechtfertigt wäre, dann wäre
ich - ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass ich
Jahrgang 1978 bin - nicht nur Nachfahrin der
Generation X, vollwertiges Mitglied der Generation
Golf, sondern auch sogenannte Geschädigte der Generation Praktikum, also selbst Teil dieser Generation. Wie
viele Tausende Schüler, Studenten, Auszubildende und
Bundestagskollegen habe ich im Laufe meines Studiums
sehr viele Praktika absolviert. - Frau Präsidentin, hat es
eine Bedeutung, dass die Lampe vor mir blinkt?
- in Erinnerung rufen.
Genau.
Ich dachte, das wäre der Intelligenztest für Praktikanten.
({0})
Die ersten Praktika, die ich absolviert habe, waren unbezahlt, die folgenden wurden zumindest mit einer Aufwandsentschädigung abgegolten. Ich denke, so geht es
sehr vielen Praktikanten. Bei einem Praktikum lernt man
aber sehr viel, und sie sind für das weitere Leben äußerst
sinnvoll.
Das Wort „Praktikum“ lässt sich aus dem Mittellateinischen ableiten und bedeutet „Vollendung“ und „Ausübung“. Praktika sind zur Vollendung eines Studiums
bzw. zur Erlangung der Befähigung zur Ausübung eines
Berufes vonnöten; denn erst durch sie lernt man, was
hinter der Theorie, die an den Universitäten gelehrt wird,
steckt. Sie komplettieren also das Studium.
({1})
Ich finde es falsch, diesen Begriff schlechtzureden. Das
ist nicht nur falsch, sondern in vielfacher Hinsicht sogar
sehr gefährlich. Ohne Praktika fehlt ein entscheidender
Teil der Ausbildung. Praktika sind wichtig, um entscheiden zu können, in welchem Bereich man später einmal
arbeiten möchte.
Wenn man sich den Antrag der Linken anschaut, gewinnt man den Eindruck, dass Sie alle Praktika bzw. alle
Praktikanten mit einem Schlag abschaffen wollen.
({2})
Die Hürden, die Sie aufbauen wollen, sind derart hoch,
dass jedes vernünftig handelnde und wirtschaftlich denkende Unternehmen nur die Konsequenz ziehen könnte,
gar keine Praktikanten mehr zu nehmen. Schließlich ist
kein Unternehmen dazu verpflichtet. Aber vielleicht
wollen Sie im nächsten Schritt ja eine Praktikantenquote
für die Unternehmen einführen. Auch das würde ich Ihnen zutrauen.
({3})
Wer sich bewusst für Praktikanten entscheidet, entscheidet sich für einen enormen Arbeitsaufwand. Für die
Mitarbeiter eines Unternehmens sind Praktikanten oft
mit einem sehr hohen Arbeitsaufwand verbunden. An
dieser Stelle möchte ich, wenn es erlaubt ist, meinem eigenen Büro ganz herzlich danken. Meine Mitarbeiter geben sich mit den Praktikanten, die wir regelmäßig bezahlt einstellen, immer sehr viel Mühe.
({4})
- Alle, die geklatscht haben, gehen fair mit ihren Praktikanten um.
({5})
Ich kenne meine Kollegen. Auch sie haben einen Ehrenkodex. Ich nehme die FDP in Mithaftung, weil die FDPAbgeordneten mitgeklatscht haben.
({6})
Es bedeutet also einen hohen Arbeitsaufwand, wenn
Praktikanten beschäftigt werden. Es muss viel erklärt
und ein Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt werden; sehr
viel Betreuung geht damit einher. Denn wir möchten natürlich, dass unsere Praktikanten nach ihrem Praktikum
sagen können, dass es sich für sie gelohnt hat, dass sie
einen Mehrwert daraus ziehen können und dass sie zumindest einen Einblick haben, ob das ein Berufsfeld ist,
in dem sie sich später gerne betätigen wollen.
Deswegen machen Praktikanten in der Anfangszeit
selbstverständlich mehr Arbeit, als sie dem Unternehmen im ersten Moment nutzen. Wenn wir all diese Hürden, die die Linken verlangen, aufbauen, dann wird aus
der sogenannten Generation Praktikum eine Generation
Theorie.
Wir hatten schon bei der ersten Lesung zu diesem Gesetzentwurf über die Studie des Hochschulinformationssystems, HIS, gesprochen, bei der ermittelt werden
sollte, ob es überhaupt einen gesetzgeberischen Handlungsbedarf gibt. Das HIS hat 12 000 Absolventen befragt. Wir hatten damit erstmals die Möglichkeit, eine
fundierte wissenschaftliche Grundlage geliefert zu bekommen.
Das erfreuliche Ergebnis für mich bei dieser Studie
war, dass das Problem der sogenannten Kettenpraktika
bei weitem keine ganze Generation betrifft. Nur jeder
zehnte Fachhochschulabsolvent und jeder fünfte Universitätsabsolvent durchläuft nach seinem Abschluss zwei
oder mehr Praktika.
({7})
Auch die Dauer ist, denke ich, ganz entscheidend. Die
Hälfte der Praktikanten absolviert ein Praktikum für maximal drei Monate, ein weiteres Drittel für bis zu sechs
Monate; nur ganz wenige liegen mit ihrer Praktikumszeit
über einem Jahr. Vielmehr sind knapp drei Viertel der
Absolventen, die nach dem Abschluss ein Praktikum
machen, ein halbes Jahr nach dem Ende ihres Praktikums in regulärer Beschäftigung.
So liegt die Arbeitslosenquote von Absolventen mit
anschließendem Praktikum neun Monate nach Ende des
Praktikums bei 4 bis 6 Prozent. Das ist keine ganze Generation.
({8})
Schaut man auf die Motive für die Aufnahme, wird
deutlich, dass das Fehlen einer festen Anstellung für die
meisten nicht ausschlaggebend war. Der größte Wunsch
war die Weiterqualifizierung der Absolventen. Hinzu
kommt, dass zwei Drittel ein Praktikum im Nachhinein
als hilfreich für die berufliche Zukunft werten.
Interessant ist auch der Blick auf den Bereich, in dem
die Praktika angeboten werden. Denn man kann nicht
eine ganze Generation in Mithaftung nehmen, wenn dieses Problem nicht bei allen Berufssparten von A bis Z
auftaucht. Die meisten unbezahlten Praktikanten, die bereits über einen Hochschulabschluss verfügen, sind im
Medienbereich und im Verlagswesen zu finden. Ketzerisch könnte man jetzt die Frage stellen, ob die Artikel
über die Generation Praktikum von unbezahlten Praktikanten geschrieben wurden.
({9})
Aus meiner eigenen Erfahrung und der meiner ehemaligen Kommilitonen weiß ich, dass viele Absolventen
sehr leidensfähig sind, um an einen der begehrten Volontariatsplätze zu kommen. Selbstverständlich müssen wir
versuchen, für diese jungen Menschen eine Lösung zu
finden. Es kann ja nicht sein, dass immer, wenn irgendwo in Deutschland ein Problem auftaucht, sofort
danach geschrien wird, neue Gesetze zu erlassen und
wesentlich höhere bürokratische Hürden aufzubauen.
Denn damit helfen wir keinem einzigen Hochschulabsolventen.
({10})
Wir sollten also ganz vorsichtig sein, von diesem einen
Bereich auf den kompletten Arbeitsmarkt zu schließen,
wie es bei der Berichterstattung in den Medien oft der
Fall zu sein scheint.
Die Bundesregierung - auch das haben wir beim letzten Mal schon angesprochen - hat die Initiative „Fair
Company“ gegründet. Es gibt, seitdem wir das letzte
Mal hier darüber diskutiert haben - das war am
18. Januar 2007 -, die erfreuliche Entwicklung, dass sich
die Zahl der Unternehmen, die sich dieser Initiative angeschlossen haben, mehr als verdoppelt hat. Das zeigt
deutlich, dass unsere Unternehmen Verantwortungsbewusstsein beweisen und dass sich ein Hochschulstudium
in Deutschland lohnt.
Unser Fraktionsvorsitzender, Volker Kauder, hat dieser Tage angekündigt, dass das Thema „Zukunftschancen für junge Menschen“ in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode zentral behandelt wird. Das zeigt Ihnen,
dass sich die CDU/CSU-Fraktion massiv für die Ausbildung und den erfolgreichen Abschluss eines jeden einzelnen Studenten einsetzt.
({11})
- Zu Recht.
({12})
Wir werden deshalb Ihre Anträge ablehnen und uns
stattdessen um die Rahmenbedingungen kümmern, die
jungen Menschen wieder eine positive Zukunft bescheren werden. Wir benötigen ganz dringend junge, gut ausgebildete Menschen; aber noch dringender benötigen wir
junge Menschen, die optimistisch in die Zukunft blicken
können, weil sie sichere Perspektiven haben, und nicht
dauernd von den Schwarzmalern in unserem Land genötigt werden, sich selber schlechter zu fühlen, als sie tatsächlich sind. Wir brauchen selbstverständlich auch Unternehmer, die sich an einen Ehrenkodex halten. Aber
am allerwenigsten brauchen wir in diesem Land Politiker wie die der Linken, die jungen Menschen unter dem
Deckmäntelchen des Gutmenschentums ihre Zukunftschancen verbauen.
Vielen Dank.
({13})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Uwe Barth
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zum wiederholten Male sprechen wir heute über das
Thema Praktikum, und trotz beeindruckender Lateinkenntnisse besteht keine Klarheit darüber, was ein Praktikum ist, was es nicht ist und was es vor allen Dingen
nicht sein kann.
Schüler sollen mit einem Praktikum einen Einblick
erhalten, was im Berufsleben auf sie zukommt. Sie sollen sich orientieren, sollen Erfahrungen sammeln und
sollen auch in ihrer Lust am Lernen und am Erleben der
Realität des Berufslebens bestärkt werden. Bei manchem
ist der Blick ins Unternehmen durchaus ein Aha-Erlebnis, ein Schlüsselerlebnis; pädagogische Konzepte wie
„Praktisches Lernen“ setzen gerade darauf, dass durch
die Vernetzung von Schule und Wirtschaft Interesse geweckt und Begabung entdeckt werden kann. Ein Praktikum ist kein Ferienjob zur Aufbesserung der Sparbüchse.
({0})
Auch für Studentinnen und Studenten spielen
Praktika eine immer wichtigere Rolle. Praktika sind wesentlicher Bestandteil in vielen Studienfächern, und
praxisbezogene Elemente sind formal in vielen Studienordnungen eingebaut. Die Vorstellung, dass es ein aus
Studentinnen und Studenten bestehendes Arbeitsheer
gäbe, das in ausbeuterischer Weise zu unentgeltlicher
Tätigkeit genötigt oder herangezogen würde, geht
schlicht an der Realität vorbei.
({1})
Dass Unternehmen Schüler und Studenten aufnehmen, sich um sie kümmern und zur Kooperation mit
Schulen und Hochschulen bereit sind, ist grundsätzlich
positiv; denn tatsächlich stecken viel Zeit, Mühe und
nicht zuletzt auch Kosten dahinter, wenn man einem jungen Menschen eine sinnvolle und hilfreiche Erfahrung
bieten möchte.
({2})
Die zunehmend unverhohlen vorgetragenen Unterstellungen, die Betriebe seien primär darauf aus, kostengünstige Arbeitskräfte an Land zu ziehen, müssen in den
Ohren der verantwortlich handelnden Unternehmer wie
purer Hohn klingen.
({3})
Auch die überwiegende Mehrheit der ehemaligen
Praktikantinnen und Praktikanten ist mit den absolvierten Praktika zufrieden. Kollegin Bär hat dank ihrer längeren Redezeit
({4})
hier gerade zu Recht einige interessante Details aus entsprechenden Studien vorgetragen.
Es kommt natürlich vor, dass die Betreuung durch das
Unternehmen oder die Organisation zu wünschen übrig
lässt, dass die zu erfüllenden Aufgaben nicht den Erwartungen oder den Vereinbarungen entsprechen oder dass
Praktikanten missbräuchlich eingesetzt werden. Allerdings sind diese Fälle im Gegensatz zu dem in den vorliegenden Initiativen vermittelten Bild glücklicherweise
eher die Ausnahme als die Regel.
({5})
Wegen einiger schwarzer Schafe, liebe Kolleginnen und
Kollegen, alle verantwortlich Handelnden nicht nur unter Generalverdacht zu stellen, sondern auch in Generalhaftung zu nehmen, ist weder angemessen noch zielführend.
Es ist wie beim Fahrraddiebstahl, der ebenfalls verboten ist und trotzdem stattfindet.
({6})
Hieran sieht man zum einen, liebe Kollegin Hirsch, dass
gesetzliche Regelungen Grenzen haben, und zum anderen, dass es einen Bereich der Eigenverantwortung gibt.
({7})
Schlecht gesicherte Fahrräder werden öfter gestohlen als
gut gesicherte. In diesem Falle sollten schlecht beleumundete Praktikumsanbieter gemieden und gut beleumundete bevorzugt werden.
({8})
Hier haben die Schulen und Hochschulen eine Verantwortung für ihre Schüler und Studenten, diese aber auch
eine Verantwortung für sich selbst.
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die
Verbreitung des Mythos von der Generation Praktikum,
die ohne Hoffnung für die Zukunft ausgenutzt an den
Rand der Gesellschaft gedrängt wird, ebenso falsch wie
gefährlich.
({9})
Er negiert die Vorteile der Bildungsinvestitionen und
schürt unbegründete Ängste. Von blindem Aktionismus
angetrieben, versuchen insbesondere die Kollegen der
Linken, Generallösungen für Generalprobleme anzubieten, die es so in der Tat nicht gibt. In den vorliegenden
Initiativen schlagen Sie vor, Praktika generell mittels einer Vertragsniederschrift zu regulieren, einen Mindestlohn zu zahlen und bei Kündigung den Betriebsrat zu beteiligen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Betriebe klagen
über mangelnde Qualifikation, mangelnde Motivation
und fehlende Vorstellung vom Betriebsleben. Durch verstärkte Kooperation von Betrieben und Kammern mit
Schulen vor Ort, Beratungslehrer und vieles andere soll
sich dies bessern. Ihre Vorschläge werden nicht zu einer
Verbesserung beitragen. Sie sind in der Tat schlicht Unsinn, und sie sind populistisch.
({10})
In Wahrheit erreichen Sie damit genau zwei Ziele:
Zum Ersten. Die Zahl der Praktikumsplätze wird
drastisch sinken;
({11})
denn das wird sich niemand antun wollen.
Zum Zweiten. Praktikumsplätze werden zu genau
dem, wozu sie nicht werden sollen: zu Ersatzarbeitsplätzen und zu Konkurrenz für echte Arbeitsplätze.
({12})
Das ist der völlig falsche Weg.
({13})
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Die Fraktion der
FDP legt heute einen Antrag vor, in dem sie fordert, von
derartigen Regelungen abzusehen.
({14})
Wir können, was Praktika angeht, auf eine positive
Entwicklung zurückblicken. Die Praktikumsvergabe und
-begleitung durch Schulen und Hochschulen wird zunehmend professionalisiert. Es gibt zweifellos Nachholbedarf; das ist völlig klar. Das muss aber vor allem von
den Beteiligten geleistet werden. Hier wächst ein Problembewusstsein heran, und das ist auch gut so. Diesen
Trend müssen wir stärken. Deswegen bitte ich Sie, unseren Antrag zu unterstützen.
Herzlichen Dank.
({15})
Jetzt hat das Wort der Kollege Swen Schulz für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Diskussion über die sogenannte Generation Praktikum ist in
den letzten Monaten abgeflaut. Das hat unter anderem
mit einer Studie des HIS, des Hochschul-InformationsSystems, zu tun; darauf ist schon eingegangen worden.
Sie trägt den schönen Titel „Generation Praktikum Mythos oder Massenphänomen?“. Als Ergebnis blieb in
der Öffentlichkeit hängen: Leute, beruhigt euch; das alles ist gar nicht so schlimm. Es ist nicht so, dass eine
ganze Generation in Praktika ausgebeutet wird.
Ist also alles in Ordnung? Ist dieses Thema erledigt?
Die SPD-Fraktion sagt Nein. Gerade die HIS-Studie bestärkt uns darin. Denn es ist klar geworden, dass es sich
nicht um einen Mythos handelt. Das ist ein differenziert
zu betrachtendes Thema.
({0})
Wir haben nie gesagt, dass alle Praktika schlecht sind.
Im Gegenteil, die meisten sind sinnvolle Qualifikationen
und verschaffen Einblicke in die Arbeitswelt. Das sind
faire Praktika, die unsere volle Unterstützung finden.
({1})
Aber wir wissen - die HIS-Studie zeigt das klar auf -,
dass es auch eine ganze Reihe unfairer Praktika gibt:
Praktikanten werden für lange Zeit ohne oder gegen nur
geringe Bezahlung eingesetzt, reguläre Arbeitskräfte
werden ersetzt, und die Menschen werden schamlos ausgenutzt, indem sie zunächst mit dem Versprechen einer
regulären Stelle geködert und dann fallen gelassen werden. Das ist ungerecht. Das ist Ausbeutung. Das schadet
den Menschen, und das schadet der Gesellschaft. Genau
dagegen werden wir vorgehen.
({2})
Dieses Thema ist vor allem mit Blick auf Studierende
und Akademiker aufgekommen. Um diesen Personenkreis geht es auch in der HIS-Studie. Wir müssen aber
berücksichtigen, dass wir hier über ein Problem reden,
welches in ganz verschiedenen Bereichen des Berufseinstiegs eine Rolle spielt.
Auch die Handhabung von Praktika bei der Vermittlung von Arbeitsuchenden ist in der Öffentlichkeit thematisiert worden. Das Fernsehmagazin Report Mainz hat
darüber berichtet, sogenannte betriebliche Trainingsmaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit seien missbraucht worden. Ich halte es für gut möglich, dass es solche Probleme gibt. Hier muss man genauer hinsehen.
Von einem Berliner Bildungsträger wurde mir geschildert, dass ihm die Vermittlung in diese betrieblichen
Trainingsmaßnahmen jüngst generell untersagt wurde,
offenbar in Reaktion auf die öffentliche Debatte. Er darf
für seine Leute also keine Praktika in Unternehmen mehr
vermitteln, obwohl er dieses Instrument verantwortungsvoll und erfolgreich eingesetzt hat. Jetzt bricht seine
Quote der Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt ein.
Mit anderen Worten: Hier wird schlicht überreagiert.
({3})
Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie wir dieses Thema
handhaben müssen, nämlich mit Augenmaß. Das ist der
Punkt, um den es uns Sozialdemokraten geht. Wir sehen
klar, dass es Missbrauch gibt. Aber wir dürfen nicht das
Kind mit dem Bade ausschütten und alle Praktika plattmachen. Anschließend würden sich diejenigen, die wir
schützen wollen, bei uns beschweren, und das zu Recht.
Es bleibt dabei: Gut gemeint ist nicht gleich gut gemacht.
({4})
Was ist also zu tun? Die Vorschläge der Opposition
sind - das muss ich so sagen - unausgegoren. Die Linke
geht zu weit, wenn sie Praktika außerhalb von Ausbildung und Studium verbieten will. Bündnis 90/Die GrüSwen Schulz ({5})
nen sind mir persönlich zu zaghaft, wenn sie von Selbstverpflichtungen sprechen. Die FDP sieht, wie wir gerade
gehört haben, gar kein Problem.
({6})
- Herr Barth, als meine Mitarbeiterin heute früh Ihren
Antrag gelesen hat, hat sie spontan gelacht und gesagt,
das sei ja ein Antiantrag. Ich glaube, dem muss ich
nichts hinzufügen.
({7})
Was ist nun der Vorschlag der Koalition?
({8})
- Ich wusste, dass Sie das interessiert. Die Opposition
fragt danach, und es ist auch gut so, dass Sie sich an uns
orientieren wollen.
({9})
Ich erkläre es Ihnen noch einmal: Das Thema eignet sich
nicht für parteitaktische Manöver oder für Schnellschüsse. Wir haben das Bundesministerium für Arbeit
und Soziales gebeten, eine umfassende Studie in Auftrag
zu geben, damit wir zielgenauer vorgehen können. Die
Ergebnisse dieser Studie werden bald vorliegen. Wir
werden gemeinsam über sie diskutieren und dann zu klaren Schlussfolgerungen kommen. Ich sage Ihnen: Das
darf auch nicht bis weit ins nächste Jahr verluschert werden, und ich will das auch nicht zum Wahlkampfthema
machen, sondern ich will den Menschen helfen, konkret
und jetzt.
Ich habe dabei neben vielen Aspekten ganz besonders
zwei Dinge im Blick: Erstens geht es um Klarheit und
Wahrheit. Notwendig sind eine Definition und eine Vertraglichkeit für Praktika.
({10})
Zweitens ist da die Frage der zeitlichen Begrenzung.
({11})
Je länger ein Praktikum dauert, desto geringer wird der
Anteil des Lernens und desto größer der Anteil des Arbeitens. Mit anderen Worten: Je länger das Praktikum
dauert, desto größer wird die Gefahr, die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um Missbrauch handelt. Ich bin darum der festen Überzeugung, dass wir da ran müssen.
Wir brauchen noch ein bisschen Geduld - Qualität geht
vor Schnelligkeit -; aber Sie können sicher sein, dass die
SPD-Fraktion vernünftige Maßnahmen mit Augenmaß
vorantreiben wird.
Herzlichen Dank.
({12})
Jetzt hat Cornelia Hirsch das Wort für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist jetzt knapp ein Jahr her, dass wir hier im Plenum
das letzte Mal über die Generation Praktikum diskutiert
haben. Frau Bär, Herr Barth, ich muss sagen, dass ich es
wirklich schade finde, dass seit dieser ersten Debatte in
Ihren beiden Fraktionen deutliche Rückschritte erkennbar sind.
({0})
Ich hatte in der ersten Debatte den Eindruck, dass wir
fraktionsübergreifend darin einig waren - Frau Bär, das
geht jetzt vor allen Dingen in Ihre Richtung -, dass es
grundsätzlich gut und sinnvoll ist, dass Studierende und
Auszubildende im Rahmen ihres Studiums bzw. ihrer
Ausbildung Praktika machen und dass ihnen diese persönlich viel bringen können.
({1})
Einen klaren Konsens gab es auch darüber, dass das eigentliche Problem der Missbrauch von Praktika ist. Da
kamen aus Ihrer Fraktion Töne - auch die Fraktion der
FDP hat das zugegeben -, dass man überlegen muss, was
man gegen den Missbrauch von Praktika tun kann. Genau an dieser Stelle haben schon beim letzten Mal die
Anträge angesetzt, die von den Grünen und von uns vorgelegt wurden und mit denen wir die Bundesregierung
bzw. die Koalitionsfraktionen aufgefordert haben, etwas
vorzulegen und die Initiative zu ergreifen.
({2})
Wir von der Linken haben klar gesagt: Wir brauchen
eine gesetzliche Initiative. Nun sagen Sie, Herr Schulz,
Sie würden sich darum kümmern. Ich möchte darauf
hinweisen, dass Ihr Minister Franz Müntefering hier
schon vor weit über einem Jahr erklärt hat, er werde gegen den Missbrauch von Praktika, gegen die Ausbeutung
von Praktikantinnen und Praktikanten vorgehen.
({3})
Mittlerweile hat er die Schirmherrschaft der privatwirtschaftlichen Initiative „Fair Company“ inne.
({4})
Er fühlt sich da offensichtlich ganz wohl; denn er gibt
uns das jedes Mal zur Antwort, wenn wir nachfragen,
wie das weitere Vorgehen ist.
({5})
Doch es macht diese Initiative „Fair Company“ nicht gerade glaubwürdig, wenn er uns, wenn wir nachfragen,
wie in seinem eigenen Ministerium mit Praktikantinnen
und Praktikanten umgegangen wird,
({6})
zur Antwort gibt, dass man darüber diskutiert, ihnen Essensgutscheine zu geben, um ihnen ihren Aufwand ein
wenig zu vergüten. Das kann nun wirklich nicht die Perspektive sein. Das ist aus unserer Sicht eine Hinhaltetaktik, und das darf so nicht sein.
({7})
Aus unserer Sicht ist es nicht sehr von Bedeutung,
wie die Zahlen ganz konkret sind.
({8})
Ich möchte hier noch einmal darauf hinweisen, dass wir
alle gemeinsam eine öffentliche Anhörung durchgeführt
haben, die deshalb zustande kam, weil mehr als 100 000
junge Menschen eine Petition an den Deutschen Bundestag unterzeichnet haben, in der sie klar gefordert haben,
dass sie gesetzliche Regelungen für Praktika haben wollen. Das zeigt, dass ein Problem vorliegt.
({9})
Dass man hier jetzt so tut, als sei das alles gar nicht relevant und dass man noch eine Studie und noch eine
braucht, obwohl mittlerweile schon zwei Studien vorliegen, ist aus unserer Sicht ganz klar die falsche Antwort.
({10})
Ich würde mich sehr darüber freuen, wenn man nicht
nur die Anträge, die wir hier schon das letzte Mal diskutiert haben, sondern auch die Anträge zur Kenntnis nehmen würde, die hier neu vorgelegt worden sind. Die
Linke hat heute nämlich auch einen ganz konkreten Gesetzentwurf eingebracht, in dem es darum geht, Regelungslücken, die offensichtlich vorhanden sind, zu
schließen. Wir machen einen Vorschlag dafür, in § 26
des Berufsbildungsgesetzes, in dem es um andere Vertragsverhältnisse geht, worunter grundsätzlich auch die
Praktika fallen, eine Klarstellung zu treffen, sodass insbesondere Studierende und Auszubildende, die ein Praktikum machen, unter diese Regelung fallen und sichergestellt ist, dass eine Vertragsniederschrift erfolgt.
({11})
- Das alles ist geprüft. Wir haben das rechtlich und juristisch prüfen lassen. Das ist wasserfest. Wenn Sie das widerlegen wollen, dann können Sie das gerne versuchen.
Letzter Punkt. Die FDP hat hier das großartige Beispiel des Fahrraddiebstahls gebracht. Die Konsequenz
wäre wirklich: Selbst dann, wenn man hier offensichtliche Regelungslücken gefunden hat, sollte man sie besser
nicht schließen. Das heißt dann, dass es das alles nicht
braucht, weil es ja wiederum Verstöße dagegen geben
könnte. So etwas lehnt die Linke ganz definitiv ab.
Wir hoffen darauf, dass es in diesem Parlament
grundsätzlich noch eine Mehrheit dafür gibt, nicht einfach ungehindert das Faustrecht des Stärkeren gelten zu
lassen, sondern gegen Regelungslücken, wenn sie vorhanden sind - gerade hinsichtlich der Praktika -, vorzugehen und deshalb auch diesen Gesetzentwurf der Linken aufzugreifen und ihm zuzustimmen.
Besten Dank.
({12})
Jetzt hat Kai Gehring für Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Praktikaprobleme mit Augenmaß lösen - das ist sicher
ein gutes Motto für die heutige Debatte hier, Herr
Schulz.
({0})
Irgendwann müsste die Koalition aber auch wissen, ob
sie sich wenigstens auf eine gemeinsame Problemanalyse verständigen kann. Nach Frau Bärs Beitrag kann ich
Ihnen dafür nur sehr viel Erfolg wünschen.
({1})
Stellen Sie sich die Fachkräfte von morgen nur einen
Moment lang vor. Junge Absolventen unserer Hochschulen sind bereit, in die Berufslaufbahn einzubiegen, für
die sie qualifiziert und motiviert sind. Anstatt den Berufsstart jetzt erfolgreich hinlegen zu können, müssen sie
erst einmal in die Warteschleife. Mit einem akademischen Zeugnis in der Tasche geht es ins Praktikum. Sie
werden quasi Diplom-Praktikanten. Das Problem tritt
bei jungen Akademikern keineswegs massenhaft auf.
({2})
Das ist hier auch unstrittig. Es aber völlig in Abrede zu
stellen, wie es die Union und FDP mit ihren Beiträgen
nahelegen, ist absolut realitätsfern.
({3})
Unterhalten Sie sich einmal mit jungen Leuten über
Erfahrungen in unfairen Praktika. Dann können Sie
wirklich abendfüllende Geschichten hören. Reden Sie
einmal mit Absolventen, die keine andere Wahl als ein
Praktikum hatten. Denen hilft das Versprechen, durch
den Aufschwung werde das Praktika-Problem schon irgendwie gelöst, wie wir es in den letzten Monaten und
Wochen immer wieder gehört haben, überhaupt nicht.
({4})
- Jetzt hören Sie sich einmal die Zahlen an. Das könnte
diese Debatte ja auch versachlichen.
Von 100 Praktikanten mit Hochschulabschluss beginnen 40 ein Praktikum einzig und allein deshalb, um der
drohenden Arbeitslosigkeit zu entgehen. Wenn das Praktikum die letzte Rettung ist, dann ist der Missbrauch
durch schwarze Schafe unter den Arbeitgebern nicht
mehr fern. Es ist auch so: Jeder fünfte Absolvent im
Praktikum wird ausgenutzt. Besorgniserregend ist auch,
dass die Hälfte der Absolventenpraktika länger als drei
Monate dauert. Damit ist einfach die Gefahr gegeben,
dass reguläre Arbeitskräfte durch Praktikanten ersetzt
werden.
({5})
Ein Drittel der Uni-Absolventen im Praktikum erhält
keine Aufwandsentschädigung. All das sind Punkte, um
die wir uns kümmern müssen.
({6})
Sämtliche hier genannten Zahlen stammen aus der HISStudie, die im Auftrag der Bundesregierung durchgeführt und schon mehrfach angesprochen wurde.
Angesichts dieser Ergebnisse auf breiter Front Entwarnung zu geben, ist geradezu ein Holzweg.
({7})
Verharmlosung und Dramatisierung gehen nicht an. Die
Generation Praktikum ist kein Massenphänomen, aber
ganz sicher auch kein medialer Mythos. Prekäre Praktika
betreffen im Übrigen nicht nur Absolventen, sondern
auch Studierende und junge Menschen in anderen Ausbildungsphasen. Deshalb muss man sich dringend um
Fairness in Praktika bemühen und darf die Ausnutzung
nicht länger ignorieren. Darüber müsste es in diesem
Haus eigentlich Konsens geben.
({8})
Wo stehen wir in dieser Debatte? Die Debattenchronologie zeigt, dass die Bundesregierung das Problem
ignoriert und die Generation Praktikum von einer
schwarz-roten Warteschleife in die nächste schickt.
({9})
- Ich kann Ihnen das noch einmal in Erinnerung rufen.
Im September 2006 hat Arbeitsminister Müntefering im
Bundestag wirksame Schritte gegen die Ausnutzung von
Praktikanten versprochen. Im November 2006 haben wir
Grünen einen Antrag mit konkreten Maßnahmen für
faire Praktika vorgelegt. Im Januar 2007 haben wir im
Bundestag erstmals die Anträge der Opposition diskutiert. Wir waren gemeinsam fleißig und haben uns gute
Maßnahmen überlegt.
({10})
Wir haben auch über die Konzeptionslosigkeit der Regierung diskutiert. Im März 2007 - auch das ist schon
lange her - haben wir eine öffentliche Anhörung zu den
Petitionen für faire Praktika durchgeführt. Über 100 000
Menschen haben diese Petitionen unterschrieben.
({11})
Auch darauf muss hingewiesen werden. Das sind so
viele wie nie zuvor und hat die Koalition zum Handeln
aufgefordert.
Die HIS-Studie ist im April 2007 veröffentlicht worden. Sie wurde immer als ausreichende Handlungsgrundlage dargestellt. Das ist uns monatelang gesagt
worden, aber nichts ist geschehen. Stattdessen ist die
EU-Kommission weiter als wir: Sie hat eine QualitätsCharta für Praktika angekündigt. Die Bundesregierung
hat hingegen wieder einmal eine neue Studie angekündigt.
Wie lange wollen wir eigentlich noch warten? Warum
schöpfen Sie nicht wenigstens alles aus, was an untergesetzlichen Maßnahmen funktioniert, wenn Sie sich noch
nicht über gesetzliche Maßnahmen einigen können? Es
geht um die Perspektiven junger Menschen, die mitten in
der Rushhour des Lebens Berufseinstieg und Familiengründung vereinbaren müssen. Es geht im Übrigen auch
um die Attraktivität des Studiums und damit auch um
den Fachkräftenachwuchs für die Wissensgesellschaft.
In diesem Zusammenhang interessiert mich, wo Ihre
Konzepte bleiben und welchen Zeitplan Sie vorsehen.
Wir haben längst ein konkretes Maßnahmenpaket
vorgelegt. Sie können sich aus den besten Vorschlägen in
allen Anträgen bedienen. Dann wären Sie schon einen
großen Schritt weiter.
({12})
Die Linken haben noch einen Gesetzentwurf vorgelegt.
Jetzt wird es höchste Zeit, dass Schwarz und Rot Farbe
bekennen. Wann kümmern Sie sich endlich um die Perspektiven für den Fachkräftenachwuchs? Was sind Minister Münteferings warme Worte vor einem Jahr wirklich wert? Diese Fragen müssen Sie jetzt langsam
beantworten.
Vielen Dank.
({13})
Jetzt hat die Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller für
die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Vielleicht sitzen unter Ihnen
einige, die schon einmal Praktikanten waren oder sogar
noch sind. Sie erleben, wie sich dieses Haus - jedenfalls
in großen Teilen - um gute Lösungen für jene Lebensund Arbeitssachverhalte bemüht, die wir unter dem Begriff Praktika subsumieren und von denen wir zweifellos
nicht alle goutieren können.
Herzlichen Glückwunsch, Frau Bär, dass das bei Ihnen persönlich mit den Praktika - und auch mit den
Praktika in Ihren Büros - so gut funktioniert hat; das
finde ich lobenswert. Ich finde, dass wir immer gute Vorbilder sein sollten, aber wir sollten uns nicht darauf beschränken. Frau Hirsch, wenn ich Ihre Rede verfolge,
habe ich den Eindruck, dass Ihre Politik aus der Zeit
stammt, in der wir noch Schwarz-Weiß-Fernsehen hatten.
({0})
Ich finde, dass das Leben mehr Farben hat und eine größere Vielfalt bietet. Ihre Vorschläge kommen direkt aus
den 50er-Jahren.
({1})
Nun komme ich zu dem, was uns umtreibt. Es macht
nicht unbedingt Sinn, auf das einzugehen, was die FDP
hier vorgetragen hat.
({2})
Mir ist es ein besonderes Anliegen, deutlich zu machen,
dass wir nicht ausschließlich über Akademiker oder über
Hochschulabsolventen reden, sondern über viele junge
Menschen, die vielleicht nie studiert haben, die möglicherweise nicht einmal eine Berufsausbildung haben,
aber dennoch ein Praktikum brauchen, um den Einstieg
in eine gute Erwerbsbiografie zu finden.
An dieser Stelle möchte ich erhellend darauf hinweisen, dass dieses Haus nicht für Praktika im Zusammenhang mit einem Studiengang zuständig ist.
({3})
Darüber kann man sich ärgern, aber es ist ein Bestandteil
unserer föderalen Ordnung. Ich finde, das müssen wir
hier schon klarmachen.
Fragen wir zum Beispiel Mitglieder von fairwork
oder fragen wir die DGB-Jugend, dann sehen wir: Es
liegt einiges im Argen. Es ist eben nicht alles rosig, und
nicht jedes Praktikum ist ein gutes. Dass das inzwischen
auch in Brüssel erkannt wurde, wurde hier vorgetragen.
Ich finde, die besonnene Art, in der mein Kollege Swen
Schulz hier vorgetragen hat, zeigt, dass wir uns diesem
Thema sehr angemessen widmen.
Frau Kollegin, die Kollegin Cornelia Hirsch würde
gerne eine Zwischenfrage stellen. Möchten Sie sie zulassen?
Ja, selbstverständlich.
Bitte schön.
Besten Dank. - Ich will nicht auf die Schwarz-WeißDebatte eingehen, sondern mich interessiert, wieso Sie
so felsenfest behaupten, wir seien hier aufgrund der föderalen Ordnung nicht zuständig. Wie vereinbaren Sie
das mit der beruflichen Bildung, bei der auch völlig klar
ist, dass die Länder den Bereich der beruflichen Schulen
regeln und der Bund trotzdem die Festsetzungen für die
betriebliche Ausgestaltung trifft?
Frau Hirsch, ich helfe da gerne weiter; denn ich bin
mir ganz sicher, dass das Recht auf meiner Seite ist. Ich
habe darüber gesprochen - vielleicht ist Ihnen das entgangen -, dass wir für Studiencurricula wirklich nicht
zuständig sind. Sollten Sie das bisher nicht zur Kenntnis
genommen haben, dann haben Sie jetzt Gelegenheit, das
zur Kenntnis zu nehmen.
Ich fahre einmal fort, weil meine Redezeit knapp bemessen ist. Ich bin sehr dafür, dass wir auch gesetzlich
klarstellen, was ein Praktikum ist; denn immer wieder
- das zeigt leider der Alltag - zweifeln einige daran. Da
ist es löblich, dass das Ministerium ein Internetportal
dazu hatte. Da ist es richtig, dass wir Fair Company haben. Aber ich denke schon, dass wir deutlicher abgrenzen müssen, was ein Lernverhältnis und was ein Arbeitsverhältnis ist. Das schützt die jungen Menschen, die ein
Praktikum brauchen. Das müssen wir so regeln, dass wir
die Zahl guter Praktikanten und Praktikantinnen nicht
limitieren, indem wir ihnen keine Plätze geben. Ich bin
mir sicher, dass wir durch eine gesetzliche Klarstellung,
die die Dauer eines Praktikums anbelangt und die das
Praktikum an sich definiert, weiterhelfen.
Abschließend will ich sagen: Ich finde, die Frage, ob
diese Generation eine Generation Praktikum ist, ist müßig. Der Begriff ist entstanden, weil es offenbar mehr
Schwierigkeiten gibt, als das Teile dieses Hauses wahrhaben wollen. Offenkundig - da kann man sich bei vielen bei fairwork erkundigen - gibt es viele junge Menschen, die Sorge haben, dass sie die Rechte, die sie
bereits haben und die wir klarstellen müssen, nicht einfordern können, wenn sie im Praktikum sind; denn wenn
wir ehrlich sind, müssen wir zugeben: Möchte jemand in
eine gute Berufstätigkeit einsteigen, dann wird er sehr
vorsichtig sein, seine Rechte einzufordern. Umso stärker
müssen wir ihn schützen. Das ist ein Teil der Wahrheit.
Da müssen wir jungen Menschen helfen, auf den richtigen Weg zu finden.
Ich bin sicher, dass die Studie, deren Ergebnisse kurz
bevorstehen - sie wird nicht erst in Auftrag gegeben,
Frau Kollegin Hirsch, sondern wir erwarten sie in Kürze -,
uns dazu Klarheit gibt. Dann werden wir angemessen,
klug und weitsichtig Regelungen dafür finden.
Vielen Dank.
({0})
Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 16/6762.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3349 mit dem Titel
„Praktika gesetzlich regeln“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung
durch die Koalition und die FDP, Gegenstimmen bei der
Linken und Enthaltung durch Bündnis 90/Die Grünen
angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/3544 mit dem Titel „Perspektiven für die
Generation Praktikum schaffen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Stimmenthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit
den Stimmen der Koalition und der FDP bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der
Linken ebenfalls angenommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/6629 und 16/6768 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 7 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Ersten Gesetzes zur Änderung des Personalanpassungsgesetzes
- Drucksache 16/6123 Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses ({0})
- Drucksache 16/6727 Berichterstattung:
Abgeordnete Ernst-Reinhard Beck ({1})
Birgit Homburger
Winfried Nachtwei
- Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/6745 Berichterstattung:
Abgeordnete Susanne Jaffke
Johannes Kahrs
Dr. Gesine Lötzsch
Alexander Bonde
Hier ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Thomas
Kossendey für die Bundesregierung.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wie kein anderer Bereich des öffentlichen Dienstes sind
die Streitkräfte auf eine ausgewogene Altersstruktur angewiesen. Das hängt nicht zuletzt mit den körperlichen
Anforderungen vieler Aufgaben zusammen, die nur bis
zu einem bestimmten Alter erfüllt werden können.
Hinzu kommt, dass die Soldatinnen und Soldaten in einem sogenannten geschlossenen Personalkörper arbeiten, in dem bei Führungsverwendungen auf Quereinsteiger kaum zurückgegriffen werden kann. Das alles
bedingt letztendlich eine sehr klare Personalplanung mit
zielgerichtetem Personalaufbau auf der Grundlage eines
festgelegten Personalstrukturmodells.
In der Vergangenheit haben wir unter gänzlich anderen sicherheits- und verteidigungspolitischen Rahmenbedingungen eine große Zahl von Berufssoldaten in den
jeweiligen Geburtsjahrgängen übernommen, mehr als
wir heute qualifikationsgerecht einsetzen können. Ich
will das an ein paar Zahlen deutlich machen. 1992 lag
die Stärke der Bundeswehr bei rund 471 000 Soldaten.
Davon waren 71 000 Berufssoldaten. Nach den Planungen, die wir zuletzt unter Minister Struck erfahren haben, haben wir heute einen Umfang an militärischem
Personal von 252 000 Soldatinnen und Soldaten. Davon
sind nur noch 58 000 Berufssoldaten.
Wir haben damals ein Personalanpassungsgesetz beschlossen, das zum 1. Januar 2002 in Kraft getreten ist.
Damit konnten wir einen Teil des strukturellen Überhangs abmildern. Ein vollständiger Abbau war allerdings nicht möglich. Dieses Gesetz ist zeitlich befristet
gewesen. Es läuft aus und hilft uns heute nicht mehr.
Aber nach wie vor bestehen bei den Berufssoldaten über
die Dienstgradgruppen hinweg in einzelnen Geburtsjahrgängen erhebliche Überhänge. Bis 1992 haben wir pro
Jahr 1 600 Unteroffiziere als Berufssoldaten übernommen. Die Streitkräfte benötigen heute angesichts der geänderten Umfänge jedoch nur noch 1 300 Unteroffiziere
im Status eines Berufssoldaten.
Auf der Grundlage des aktuellen Personalstrukturmodells 2010 stellen wir fest, dass wir quer durch alle
Geburtsjahrgänge einen Überhang von 4 200 Berufssoldaten haben. Ein zielgerichteter Verwendungsaufbau
wird dadurch behindert. Bestimmte Dienstposten müssen trotz hoher körperlicher Anforderungen mit Soldatinnen und Soldaten besetzt bleiben, die das vorgesehene
Grenzalter überschritten haben. Die strukturgerechte Re12536
generation und Förderung junger Zeitsoldaten, die wir
für die Einsatzkontingente dringend brauchen, sind eingeschränkt. Das gilt insbesondere im Bereich der
Berufsunteroffiziere. Hier sind erhebliche strukturelle
Verwerfungen außerhalb des bisherigen Anwendungsbereichs des Personalanpassungsgesetzes vorhanden.
Angesichts dieser Lage ist es aus unserer Sicht zwingend erforderlich, eine Verlängerung der Geltungsdauer
des Personalanpassungsgesetzes vorzunehmen. Auf der
Grundlage des Ihnen vorliegenden Regierungsentwurfs
können in den Jahren 2007 bis 2011 bis zu
1 200 Berufssoldaten einvernehmlich vorzeitig in den
Ruhestand versetzt werden. Der Schwerpunkt wird bei
den Berufsunteroffizieren liegen. Dabei werden nur bestimmte, aufgrund ihrer Überbesetzung besonders belastete Geburtsjahrgänge erfasst. Wir werden damit zwar
nicht alle strukturellen Überhänge abbauen können, aber
Überalterung auf einsatzwichtigen Dienstposten verhindern. Eine strukturgerechte Regeneration mit jüngeren
Soldatinnen und Soldaten bleibt hierdurch gewährleistet.
Natürlich ist mir bewusst, dass unter dem Gesichtspunkt einer Grundentscheidung für eine generelle Verlängerung der Lebensarbeitszeit Einwände gegen diesen
Gesetzentwurf vorgebracht werden können. Ich will daher neben den militärischen Gesichtspunkten, die ich erwähnt habe, Ihr Augenmerk auf drei Aspekte lenken.
Erstens. Die Versetzung in den Ruhestand wird mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf im Vergleich zum bis vor
kurzem geltenden Personalanpassungsgesetz zusätzlich
an weitere Voraussetzungen geknüpft. So darf zum Beispiel keine adäquate anderweitige Verwendungsmöglichkeit im Bereich des Bundesministeriums der Verteidigung bestehen, und es muss geprüft werden, ob die
Umwandlung eines Dienstverhältnisses eines Berufssoldaten in das eines Soldaten auf Zeit möglich ist. Es muss
noch ein dritter Punkt erfüllt sein: Es darf in keiner anderen Bundesbehörde für die möglichen Kandidatinnen
und Kandidaten eine Verwendungsmöglichkeit vorhanden sein.
Damit wird die bisherige Regelung nicht lediglich
fortgeschrieben, sondern von neuen, einengenden Maßgaben abhängig gemacht. Das dokumentiert meines Erachtens sehr deutlich, dass die Zurruhesetzung nur eine
Ultima Ratio ist.
Zweitens. Die Verlängerung der Geltungsdauer des
Personalanpassungsgesetzes in dem genannten Rahmen
ist übrigens auch die kostengünstigste und effektivste
Möglichkeit, das Problem der personellen Überhänge in
den Griff zu bekommen. Würden wir heute nicht handeln und darauf hoffen, dass sich das Problem in den
nächsten 15 Jahren quasi von selber löst, dann würden
nicht nur die bereits dargestellten Folgen eintreten; vielmehr würden wegen der aktuellen Überalterung in einigen Jahren vermutlich mehr Soldaten aus dem Dienst
ausscheiden müssen, als strukturell vorgesehen. Wir
müssten dann für einen bestimmten Zeitraum jüngere
Soldaten erheblich früher als vorgesehen fördern und zugleich die Übernahmequoten zum Berufssoldaten zeitweise drastisch erhöhen. Damit wären die nächsten
strukturellen Überhänge vorprogrammiert. Mit nachhaltiger Personalplanung hätte das nichts zu tun.
({0})
- Darüber haben wir nachgedacht, Frau Kollegin
Homburger. Wir haben nicht nur nachgedacht, sondern
das auch durchgerechnet. Wir sind nach langen Abwägungen zum Ergebnis gekommen, dass das, was wir Ihnen heute vorschlagen, die beste Lösung ist. Ich bin auf
Ihre Vorschläge gespannt. Aber das, was wir im Ausschuss dazu gehört haben, war nicht sehr überzeugend.
Drittens. Die Streitkräfte werden von der grundsätzlich unvermeidlichen Erhöhung der Altersgrenzen im öffentlichen Dienst in keiner Weise ausgenommen. Die demografische Entwicklung, die höhere Lebenserwartung
bei gleichzeitig längerer Leistungsfähigkeit sowie die
hohen Belastungen der öffentlichen Haushalte durch die
Versorgungsausgaben machen eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit - daran kann es keinen Zweifel geben auch im militärischen Bereich unvermeidbar. Ich denke,
wir haben hier mit dem Innenminister eine vernünftige
Lösung gefunden. Im Ergebnis wird es darauf hinauslaufen, dass das durchschnittliche Zurruhesetzungsalter aller Berufssoldaten ab 2024 - das ist ungefähr zeitlich
kongruent mit dem erhöhten Renteneintrittsalter - um
mindestens zwei Jahre über dem des heutigen Alters liegen wird.
Damit ist klar: Wir beabsichtigen keinerlei ungerechtfertigte Privilegien für Soldaten oder gar einen goldenen
Handschlag, wie das einige vielleicht bezeichnen mögen. Ich will Ihnen das anhand der Bezüge, die ein
Stabsfeldwebel hat, der vorzeitig in den Ruhestand versetzt wird, deutlich machen. Dieser wird mit weniger als
2 000 Euro auskommen müssen, und das in einem Alter,
in dem wahrscheinlich seine Kinder in einer Phase sind,
in der sie besonderer Fürsorge und besonderer materieller Unterstützung der Eltern bedürfen. Wer das als goldenen Handschlag bezeichnet, der hat, so glaube ich, den
Bezug zur Realität verloren.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Wir benötigen
dringend für einen beschränkten Zeitraum für eine eng
begrenzte Zahl von Soldatinnen und Soldaten unter einschränkenden Bedingungen die Möglichkeit vorzeitiger
Zurruhesetzung im Interesse der Einsatzfähigkeit unserer Streitkräfte. Dafür bitte ich Sie heute um Ihre Zustimmung.
Schönen Dank.
({1})
Die Kollegin Birgit Homburger spricht jetzt für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir beraten heute über ein Personalanpassungsgesetz,
mit dem 1 200 Berufssoldatinnen und Berufssoldaten bis
2011 bereits mit Vollendung des 50. Lebensjahres in den
Ruhestand gehen können und sollen. Es ist im Übrigen
nicht das erste Personalanpassungsgesetz im Bereich der
Bundeswehr. Schon 1985, 1991 und 2001 gab es solche
Gesetze. Trotzdem hat sich an den Strukturproblemen in
der Bundeswehr nichts geändert.
Sinnvoll war das Gesetz im Jahre 1991. Damals ging
es nämlich um eine Reduzierung des Personalbestands
der Streitkräfte bis zum 31. Dezember 1994 auf 370 000.
Um einer verkleinerten Bundeswehr einen sinnvollen
Personalaufbau zu ermöglichen, war dieses Gesetz damals zwingend; denn damit gingen Einsparungen einher,
weil es zu einer Reduzierung des Personalbestandes
kam.
({0})
2001 war die Sachlage schon anders. Es ging nicht
um Personalreduzierung, sondern es ging damals schon
- wie heute im Übrigen auch - um die Verbesserung der
Altersstruktur der Offiziere und Unteroffiziere. Das haben wir schon damals kritisiert - ich zitiere den Kollegen
Nolting, der damals für die FDP gesprochen hat -:
Das Gesetz bringt nicht die überfällige Auflösung
struktureller Probleme. Die Neufassung des Personalanpassungsgesetzes bleibt weit hinter den Erwartungen und den objektiven Erfordernissen einer
modernen Bundeswehr zurück.
Das gilt auch heute noch.
({1})
Ich habe mir einmal angeschaut, welche weiteren Begründungen in dieser Debatte angeführt wurden. Es
wurde angeführt, dass Frühpensionierungsregelungen
zur Bewältigung personeller Strukturprobleme grundsätzlich ungeeignet seien. Es wurde angeführt, dass eine
Überalterung der Bundeswehr auch ohne Frühpensionierungen nicht stattfindet, weil die Berufssoldaten bereits
einer besonderen Altersgrenze unterliegen. Es wurde damals weiter ausgeführt, dass es der Bevölkerung nicht
vermittelbar sei, dass Berufssoldaten zu einem derart
frühen Zeitpunkt, nämlich mit 50 Jahren, in Pension gehen dürfen, und dass es nicht vermittelbar sei, dass die
Bundesregierung die Möglichkeit einer Frühpensionierung schaffen will, obwohl der Bundeswehr 12 000 länger dienende Soldaten fehlen.
In der damaligen Beschlussempfehlung des Ausschusses lässt sich noch etwas Weiteres nachlesen. Darin
steht nämlich, dass die Personalanpassungsmaßnahmen
nicht in den gesamtgesellschaftlichen Kontext einer notwendig werdenden Verlängerung der Lebensarbeitszeit
passen.
({2})
Das waren die Gründe, die seinerzeit von der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion vorgetragen wurden, zwar nicht
vom Kollegen Kossendey, aber von einem seiner Kollegen aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion;
({3})
dennoch waren es die Argumente der CDU/CSU. Ich
hätte Sie gern ausführlich zitiert; aber ich habe gar nicht
so viel Redezeit, um auf all das einzugehen, womit Sie
damals begründet haben, dass das alles nicht richtig ist.
Es wundert uns deswegen schon, dass der heute vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung von einem
CDU-geführten Ministerium erarbeitet worden ist.
({4})
Die Argumente sind heute so richtig wie damals. Der
einzige Unterschied zu damals besteht darin, dass zwischenzeitlich die Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf
67 Jahre beschlossen worden ist. Deshalb ist es nicht
nachvollziehbar, dass dieser Gesetzentwurf heute so vorgelegt wird.
({5})
Die Bundesregierung vermittelt den Eindruck, dass
derjenige, der seinen Lebensabend möglichst früh beginnen will, zur Bundeswehr gehen sollte. Einerseits sorgt
sie dafür, dass die Lebensarbeitszeit auf 67 Jahre verlängert wird; andererseits werden mit dem Personalanpassungsgesetz Staatsdiener mit 50 Jahren in
Pension geschickt, und zwar ohne Abschläge bei den
Pensionsleistungen. Das Ganze kostet den Bundeshaushalt 110 Millionen Euro. Das sind reine Mehrausgaben,
weil dem überhaupt keine Reduzierung im Personalbestand gegenübersteht. Das ist nach unserer Auffassung
den Bürgerinnen und Bürgern nicht vermittelbar.
Wer die Bundeswehr attraktiv machen will, der muss
anders vorgehen. Darüber haben wir hier vielfach diskutiert. An dieser Stelle möchte ich sagen, dass dieses Berufsbild dann attraktiv und interessant ist, wenn Besoldung und Förderung leistungsgerecht sind. Wir haben
übrigens erst heute wieder Vorschläge für eine leistungsgerechte Besoldung gemacht. Sie haben diese Vorschläge im Ausschuss abgelehnt. Außerdem brauchen
wir familienfreundliche Versetzungspraktiken und auch
eine angemessene Versorgungsgesetzgebung. Diese Anforderungen müssen erfüllt sein, wenn sie die Attraktivität der Streitkräfte erhöhen wollen.
({6})
Ich sage abschließend: Die FDP lehnt diesen Gesetzentwurf ab. Wir sehen nicht ein, dass die Steuerzahler für
die über Jahrzehnte praktizierte verfehlte Personalpolitik
des Verteidigungsministeriums aufkommen sollen. Das,
liebe Kolleginnen und Kollegen und sehr verehrter Herr
Staatssekretär, müssen Sie bitte anders regeln.
Vielen Dank.
({7})
Jetzt hat Rolf Kramer das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit dem heute zu verabschiedenden Gesetzentwurf setzen wir - ich hoffe wirklich, zum letzten Mal eine Sonderregelung der Vorruhestandsregelung für wei12538
tere 1 200 Berufssoldatinnen und -soldaten um. Nach
dem bisherigen Personalanpassungsgesetz wurden zwischen 2002 und 2006 insgesamt 2 775 Soldaten in den
Ruhestand versetzt. Angesichts des nach Auskunft des
Verteidigungsministeriums weiterhin vorhandenen personellen Überhangs von bis zu 4 200 Berufssoldaten und
-soldatinnen ist allerdings eine Verlängerung der Geltungsdauer dieser Regelung aus Sicht der SPD-Fraktion
für die Jahre 2007 bis 2011 unverzichtbar. Aufgrund der
Bindung von Haushaltsmitteln können, wenn diese Regelung nicht kommt, kaum Berufsoldatinnen und -soldaten jüngerer Jahrgänge eingestellt werden. Wenn wir
diese Situation nicht verändern, wird es in Zukunft zu
weiteren Verwerfungen in der Personalstruktur der Bundeswehr kommen. Nicht zuletzt im Hinblick auf die
Auslandseinsätze benötigt die Bundeswehr eine ausgewogene Alters- und Fähigkeitsstruktur.
Die seit der Wiedervereinigung 1990 mehrfach vorgenommenen Änderungen an der Struktur und am Gesamtumfang der Streitkräfte hinterließen ihre Spuren. Insbesondere gibt es eine erhebliche Unwucht im
Altersaufbau der Bundeswehr. Ein Beförderungs- und
Verwendungsstau ist die Folge. Das bereits seit 1994
nicht mehr geltende Personalstärkegesetz und das von
2001 bis 2006 gültige Personalanpassungsgesetz reichten leider nicht aus, um eine gesunde Personalstruktur
bei der Bundeswehr zu erreichen.
Der in seinen Eckdaten im Jahre 2005 gebilligte
Übergang zum Personalstrukturmodell 2010 verstärkt
dabei nach Aussage des Bundeswehrplanes 2008 noch
die Strukturverwerfungen in der Alters- und Dienstgradschichtung der Berufssoldatinnen und -soldaten. Die in
der Gesamtbetrachtung der Laufbahnen vorhandenen
strukturellen Überhänge verzögern dabei einen an der
Einsatzorientierung ausgerichteten Personalaufwuchs.
Dies können und dürfen wir uns aber nicht weiter leisten; der eingeleitete Transformationsprozess der Bundeswehr erfordert es, und er ist auch nicht wieder rückgängig zu machen.
Nachdem die vorhergehende Regelung bis Ende 2006
zum Großteil Offiziere betraf, zielt die jetzt vorgesehene
Maßnahme im Wesentlichen auf ältere Portepeeunteroffiziere. Ihnen kann die Bundeswehr inzwischen kaum
mehr garantieren, dass sie ihre jeweilige Laufbahnperspektive erreichen. Die Auswirkungen auf Motivation
und Dienstzufriedenheit brauche ich hier nicht näher zu
schildern. Die Mitglieder des Verteidigungsausschusses
kennen diese Problematik von ihren Besuchen bei der
Truppe und den Gesprächen mit den Betroffenen. Hier
bestand also noch Handlungsbedarf. Insofern sieht der
Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD eine
entsprechende Vereinbarung vor, die nun umgesetzt
wird.
Ich kann Kritik an dieser Regelung durchaus nachvollziehen. Warum schon wieder eine Sonderregelung
für die Soldatinnen und Soldaten? Aber wie sieht die Alternative aus? Bisher habe ich noch keine umsetzbaren
Vorschläge gehört, die eine zeitnahe und nachhaltige
Verringerung der vorhandenen Strukturunwuchten ermöglichen. Ein Abbau der personellen Überhänge durch
die regulären Ruhestandsregelungen wäre erst in
15 Jahren zu erzielen. Auch die ressorteigenen Instrumentarien der Personalsteuerung würden eine dem Ziel
entsprechende Personalstruktur erst weit nach 2012 erreichen lassen.
Die jetzt gefundene Regelung, die nach der Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs in Kraft treten wird, ist
aus unserer Sicht keine übermäßige Bevorzugung der
Bundeswehr gegenüber anderen Berufsgruppen, sondern
eine mit Augenmaß gefundene Regelung zur Anpassung
unserer Streitkräfte an die neuen Herausforderungen.
({0})
Die Kosten werden nach Auskunft der Bundesregierung
rund 110 Millionen Euro betragen - eine Summe, die
aus meiner Sicht tragbar ist, um die Einsatzfähigkeit unserer Streitkräfte dauerhaft zu sichern.
Der Transformationsprozess der Bundeswehr hin zu
einer Armee im Einsatz ist noch nicht abgeschlossen.
Insbesondere die Auslandseinsätze erfordern von den
Soldatinnen und Soldaten weit überdurchschnittliche
Leistungen. Es sind Belastungen, die so in anderen Berufen nicht vorkommen. Das bleibt bei älteren Soldatinnen
und Soldaten nicht ohne Auswirkungen auf ihre Gesundheit. Auch daran müssen wir als Gesetzgeber denken im Interesse der Gesundheit und der Sicherheit der betroffenen Soldatinnen und Soldaten.
({1})
Es handelt sich hier um eine Verlängerung der Geltungsdauer einer Ausnahmeregelung, die zudem an enge
Voraussetzungen geknüpft wird. Ich darf wiederholen:
Diese Sonderregelung gilt nur für Berufssoldatinnen und
-soldaten, die das 50. Lebensjahr vollendet haben und
für die keine adäquaten Verwendungsmöglichkeiten im
Geschäftsbereich des Bundesverteidigungsministeriums
bestehen. Außerdem muss die Versetzung in den Ruhestand dazu dienen, Veränderungen der Strukturen im Altersaufbau zu erreichen, die die Einsatzbereitschaft der
Bundeswehr nachhaltig verbessern.
Mit diesen engen Grenzen soll sichergestellt werden,
dass vorzeitige Zurruhesetzungen nur als Ultima Ratio
erfolgen. Sie dürfen keine dauerhafte Einrichtung zur
Bereinigung struktureller Überhänge werden. In diesem
Sinne stimmt die SPD-Bundestagsfraktion für den vorgelegten Gesetzentwurf.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Jetzt spricht Inge Höger für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten sind heute in vielen Teilen der Welt im Einsatz. Dass diese Form der sogenannten Sicherheitspolitik zu mehr Stabilität auf dieser Welt
führt, bezweifelt die Fraktion Die Linke, und mit ihr bezweifeln es viele Menschen in diesem Lande.
Der hier diskutierte Gesetzentwurf zur Änderung des
Personalanpassungsgesetzes wurde allein deshalb auf
den Weg gebracht, weil die Bundeswehr zukünftig
Kriegs- und Besatzungseinsätze gerne mit jüngeren Offizieren durchführen möchte. Dass dabei an eine weitere
Ausweitung von Militäreinsätzen gedacht ist, hat Herr
Beck von der CDU/CSU-Fraktion bei der ersten Lesung
dieses Gesetzes deutlich gemacht. Er sprach von einer
„zukünftig weiter zunehmenden einsatzbezogenen Ausrichtung der Streitkräfte“. Diese Politik ist grundlegend
falsch. Kriege lösen keine Probleme; Kriege sind Teil
dieses Problems.
({0})
Nun verknüpft die Bundesregierung mit ihrem Gesetzentwurf ihre gefährliche Außenpolitik auch noch mit
einer verfehlten Beschäftigungspolitik. Die Bundesregierung will für mindestens 1 200 Soldatinnen und Soldaten die Rente mit 50 einführen, und zwar bei vollem
Lohnausgleich. Allein der Zeitpunkt für dieses Ansinnen
ist denkbar unsensibel. Für die große Mehrheit der Beschäftigten wurde erst kürzlich die Rente mit 67 beschlossen, und wer früher in den Ruhestand geht, muss
mit massiven Kürzungen rechnen.
Überlegen Sie doch bitte, welches Signal die hier debattierte Gesetzesvorlage für die Unternehmen in diesem
Lande haben wird. Viele Unternehmen wollen ebenfalls
gerne ihre Beschäftigten über 50 loswerden, da sie diese
für zu alt und nicht mehr hinreichend belastbar halten.
Unternehmen suchen und finden deswegen Mittel und
Wege, sich dieser Beschäftigten vorzeitig zu entledigen mit dem Ergebnis, dass schon heute die meisten Menschen nicht bis 65 arbeiten können. Die Rente mit 67
wird deshalb zu Altersabschlägen führen; Altersarmut
wird zunehmen.
({1})
Wie will die Bundesregierung glaubwürdig für längere Beschäftigung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eintreten, wenn sie selbst diese Altersgruppe
vorzeitig entsorgt? Ich fordere die Bundesregierung
- und auch Sie, Herr Kossendey, als Staatssekretär - deswegen auf: Geben Sie sich doch wenigstens die Mühe,
nach zivilen Verwendungen für Ihre überzähligen Soldatinnen und Soldaten zu suchen, anstatt diese so früh wie
möglich in den Ruhestand zu schicken.
({2})
- Ich habe das gelesen. - Unteroffiziere schon ab dem
Jahrgang 1957 nach Hause zu schicken, mag die Bundeswehr tauglicher für internationale Einsätze machen.
Es ist aber vollständig unnötig für eine auf territoriale
Verteidigung begrenzte Armee.
Die verfehlte Personalpolitik bei der Bundeswehr
wird teuer. 110 Millionen Euro will sich die Bundesregierung die Beseitigung des strukturellen Überhangs bei
den Bundeswehrangehörigen kosten lassen. Auch wenn
Herr Kramer eben meinte, das sei nicht so viel, das
könne man doch mal eben bezahlen, möchte ich daran
erinnern, dass dieselbe Regierung die Rentenbeiträge für
Hartz-IV-Beschäftigte im letzten Jahr halbiert hat.
Das Personalanpassungsgesetz zeigt eindrucksvoll,
dass die Politik der Bundesregierung grundlegend in die
falsche Richtung geht. Obwohl Beschäftigte längst vor
dem Erreichen des Rentenalters in den Betrieben häufig
nicht mehr erwünscht sind, erhöhen Sie das Renteneintrittsalter. Obwohl sich die Mehrheit der Menschen in
Deutschland gegen Bundeswehreinsätze ausspricht, finden diese statt. Und wenn die militärische Machtpolitik
mit der Beschäftigungspolitik in Konflikt gerät, dann
werden, wie im vorliegenden Fall, die Gesetze entsprechend geändert.
Das Personalanpassungsgesetz ist eine komplette
Bankrotterklärung. Die Fraktion Die Linke wird den
vorliegenden Gesetzentwurf deshalb ablehnen.
({3})
Jetzt hat Winfried Nachtwei das Wort für Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zum wiederholten Male beschäftigen wir uns mit einer
Operation Frühpensionierung von Berufssoldaten. Dass
die Pensionierungen Anfang der 90er-Jahre und 2002
zustande kamen, lag an dem erfreulichen Umstand, dass
in Europa eine enorme Reduzierung von Streitkräften
möglich war.
Heute soll es nun darum gehen, 1 200 Berufssoldaten,
vor allem Feldwebeldienstgrade, ab Vollendung des
50. Lebensjahres vorzeitig zu pensionieren. Bis jetzt
werden sie mit 54 Jahren in den Ruhestand versetzt. Der
Grund ist - dies wurde schon mehrfach angesprochen,
aber ich wiederhole es trotzdem - der existierende Beförderungsstau vor allem für ältere Feldwebeldienstgrade. Diese sind in Konkurrenz zu den im Rahmen des
Attraktivitätsprogramms angeworbenen und eingestellten Kräften geraten, die als Höherqualifizierte mit einem
höheren Dienstgrad eingestellt wurden. Wir konnten in
vielen Gesprächen mit älteren Feldwebeln, die oft die
Säule ihrer Kompanien und Staffeln sind, feststellen,
dass angesichts dieses Staus die Stimmung auf dem
Nullpunkt angelangt ist.
Streitkräfte brauchen grundsätzlich einen niedrigeren
Altersdurchschnitt als Behörden, als Unternehmen und
auch als der Bundestag. Daher ist eine solche Aktion
grundsätzlich plausibel. Das ist die eine Seite. Zugleich
sind solche Frühpensionierungen in Zeiten, in denen politisch gegen Frühpensionierungen und Frühverrentungen gehandelt wird und die Rente mit 67 beschlossen ist,
nur sehr schwer vermittelbar. Die Frühpensionierung
dieser Berufssoldaten kostet bis 2018 immerhin
110 Millionen Euro. Aber es geht nicht nur um die Kosten. Denn mit den Frühpensionierungen gehen dem Staat
auch erfahrene und qualifizierte Kräfte, die vielfach
Auslandserfahrung haben und in deren Ausbildung viel
investiert wurde, verloren. Für diese Soldaten gäbe es
aber vor dem sicherheitspolitischen Hintergrund einen
großen Bedarf.
Als wir im Oktober 2001 über das vorherige Frühpensionierungsprogramm im Verteidigungsausschuss diskutiert haben, habe ich einen Vorschlag gemacht, der von
der SPD, von der FDP und auch ansatzweise von der
CDU/CSU unterstützt wurde. Ich möchte ihn an dieser
Stelle wiederholen. Im Rahmen der internationalen Aufbaubemühungen in Krisengebieten nimmt der Bedarf an
lebenserfahrenen und berufserfahrenen Zivilexperten
immer mehr zu. Das Kernproblem ist, dass es viel zu
wenige von ihnen gibt. Die Bundesregierung beschwört
in der letzten Zeit immer sehr den vernetzten und umfassenden sicherheitspolitischen Ansatz. Meine Frage an
den Kollegen Kossendey, der die Bundesregierung hier
vertritt, lautet: Warum suchen Sie nicht endlich nach
Wegen, das große Erfahrungspotenzial von älteren Feldwebeldienstgraden besser zu nutzen? Diese Erfahrung
geht dem Staat durch die Frühpensionierungen, die auch
noch viel Geld kosten, verloren. Sie sollten sich endlich
einmal anstrengen.
({0})
Solange Sie in diesem Bereich nicht entsprechenden
Einsatz und entsprechende Fantasie zeigen, können wir
diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Wir werden uns
enthalten.
Danke schön.
({1})
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur
Änderung des Personalanpassungsgesetzes. Der Ver-
teidigungsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 16/6727, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 16/6123 anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Be-
ratung bei Zustimmung durch die Koalition, Gegenstim-
men der Fraktionen der FDP und der Linken und bei
Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange-
nommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zu-
stimmen möchte, möge sich bitte erheben. - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf mit
dem gleichen Ergebnis wie vorher in dritter Beratung an-
genommen.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Katrin Kunert, Petra Pau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Kommunales Wahlrecht für Drittstaatenangehörige einführen
- Drucksache 16/5904 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Volker Beck ({1}), Kai Gehring,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({2})
- Drucksache 16/6628 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Es ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren,
wobei die Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne jetzt die Aussprache und gebe das Wort
der Kollegin Sevim Dağdelen für die Linke.
({4})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Genau zur richtigen Zeit, heute, haben Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Organisationen, zum
Beispiel der Caritas, des Bundesausländerbeirates, von
Attac, der IG Metall, von Mehr Demokratie e. V. oder
auch Verdi, die Bundesregierung aufgefordert, ohne Verzögerung die verfassungsmäßigen Voraussetzungen zur
Einführung eines kommunalen Wahlrechts für die in der
Bundesrepublik Deutschland lebenden Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bürger zu schaffen.
Die Linke steht seit langem in Kontakt mit gesellschaftlichen Gruppen, Vereinen und Migrantenverbänden und will mit ihrer parlamentarischen Initiative diese
gesellschaftliche Debatte aufgreifen und befördern. Das
kommunale Wahlrecht für Drittstaatenangehörige ist als
Prüfauftrag in den Koalitionsvertrag aufgenommen worden. Die Bundesregierung hat es aber bislang versäumt,
mit konkreten Initiativen voranzuschreiten, und verfolgt
keinen konkreten Zeitplan - siehe dazu die Antwort der
Bundesregierung auf eine entsprechende Kleine Anfrage
von uns.
Wir möchten mit unserer Initiative der Bundesregierung Beine machen.
({0})
Wir wollen sie dazu bringen, dass sie endlich aktiv wird.
Seit 1992 gibt es ein kommunales Wahlrecht für EUBürgerinnen und -Bürger in Deutschland. Das Verwehren dieses Rechts für Drittstaatenangehörige ist eine unerträgliche Ungleichbehandlung. Dass diese sich hier
viel länger aufhalten - im Durchschnitt sind es über
17 Jahre -, ist noch einmal ein Indiz dafür, welche Ungleichbehandlung hier herrscht. Bereits in 16 Ländern
der EU gibt es ein solches kommunales Wahlrecht. Am
weitesten geht dabei Irland. Es ist vor allen Dingen nicht
zu verstehen, warum Deutschland, das für sich den Anspruch erhebt, Motor der europäischen Integration zu
sein, weiterhin ein Entwicklungsland in Sachen Demokratie ist.
Die parlamentarischen Kräfteverhältnisse sind unseres Erachtens im Moment besonders gut. Die Fraktion
Die Linke hat bereits am 4. Juli ihren Antrag zur Schaffung eines kommunalen Wahlrechtes für Drittstaatenangehörige eingereicht. Wir begrüßen es ausdrücklich,
dass jetzt auch die Grünen parlamentarisch initiativ geworden sind.
In der SPD gibt es viele prominente Unterstützerinnen und Unterstützer eines solchen kommunalen Wahlrechts. Dazu haben sich zum Beispiel der SPD-Vorsitzende Beck, Bundesminister Müntefering oder auch
mein Kollege Edathy geäußert. Auch in der CDU haben
wir mit der Oberbürgermeisterin Frau Roth in Frankfurt,
dem Oberbürgermeister Fritz Schramma in Köln, dem
Vorsitzenden des Deutsch-Türkischen Forums, Herrn
Bülent Arslan, oder auch mit der von mir sehr geschätzten Rita Süssmuth politisch starke Unterstützerinnen und
Unterstützer für ein solches kommunales Wahlrecht.
Die Realisierung dieses kommunalen Wahlrechts ist
so in greifbare Nähe gerückt. Nun müssen alle, denen
dies am Herzen liegt, handeln und ihren Worten Taten
folgen lassen, und das aus folgenden Gründen: Hier geht
es nämlich nicht nur um ein Wahlrecht. Es geht um einen
Schritt zur Förderung demokratischer Kultur und des
Konsenses in der Gesellschaft. Der Verein Mehr Demokratie e. V. stellt in dieser Frage nämlich ein erhebliches
Demokratiedefizit fest, wenn Menschen dort, wo sie leben, nicht wählen können und damit aus der Gesellschaft
ausgeschlossen sind. Man kann auch nicht ein stärkeres
Bekenntnis der Migrantinnen und Migranten zu den demokratischen Werten fordern, ihnen aber gleichzeitig
wichtigste Rechte vorenthalten.
({1})
Diese Ungleichbehandlung ist nicht nur skandalös und
ungerecht. Sie fördert geradezu die Entfremdung der Migrantinnen und Migranten von der Öffentlichkeit und der
hiesigen Gesellschaft.
({2})
Wenn immer mehr Migrantinnen und Migranten eine
immer größere Integrationsleistung erbringen sollen,
muss man auch bereit sein, rechtliche Missstände und
Benachteiligungen zu korrigieren. Integration ist eben
keine Einbahnstraße. Man kann nicht über Parallelgesellschaften meckern, wenn man ganze Bevölkerungsgruppen von der demokratischen Teilhabe ausschließt.
Deshalb hat die Linke diesen Antrag eingebracht. Wir
möchten in diesem Zusammenhang auch auf die Bundesratsinitiative hinweisen - eingebracht von RheinlandPfalz und unterstützt von Berlin -, mit der die Einführung des kommunalen Ausländerwahlrechts gefordert
wird.
Das Bundesverfassungsgericht - darauf werden Sie
sicherlich noch eingehen - hat in seinem Urteil von 1990
zwar einige negative Vorgaben gemacht, die das kommunale Ausländerwahlrecht aber eben nicht grundsätzlich ausschließen. Die Hauptbegründung war, dass mit
der Übernahme der Staatsbürgerschaft das Wahlrecht gewährleistet sei. Das löst aber nicht das grundsätzliche
Problem. Im Vergleich zu 1990 ist die Einbürgerungszahl heute nämlich sehr niedrig. Das Staatsangehörigkeitsgesetz wurde verschärft, zuletzt durch die Abschaffung der erleichterten Einbürgerung von unter 23-Jährigen.
2000 lag die Einbürgerungszahl bei 187 000. 2006 waren es nur noch 125 000 Einbürgerungen. Die Hälfte der
hier lebenden Menschen mit Migrationshintergrund
- das sind circa 7 Millionen Menschen - besitzt nicht die
deutsche Staatsbürgerschaft. Rund 5 Millionen davon
sind sogenannte Drittstaatenangehörige, also keine EUBürger.
In diesem Deutschen Bundestag ist eine programmatische Mehrheit für die Einführung des kommunalen
Ausländerwahlrechts vorhanden. Herr Edathy, weil Sie
sich für das kommunale Ausländerwahlrecht engagiert
haben, möchte ich Sie bitten, Ihrer Forderung nicht nur
in Ihrer Fraktion, sondern auch in der anderen Koalitionsfraktion Nachdruck zu verleihen.
Frau Kollegin, Sie sollten fünf und nicht sechs Minuten Redezeit bekommen.
Ich komme zum Schluss. - Lassen Sie uns diese Barriere aushebeln, um eine erfolgreiche Integration zu ermöglichen. Lassen Sie uns das gemeinsam auf den Weg
bringen.
Vielen Dank.
({0})
Jetzt ist der Kollege Stephan Mayer für die CDU/
CSU-Fraktion an der Reihe.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Vorweg eine Bemerkung: Frau Kollegin Dağdelen, es ist noch nicht so weit
gekommen, dass uns die Linke Beine machen müsste.
Ganz im Gegenteil: Die Bundesregierung weiß sehr
wohl, was sie zu tun hat. Sie nimmt den Prüfauftrag, den
wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben, durchaus
ernst. Einige Punkte sprechen aber - Sie haben einige
dankenswerterweise schon angesprochen - ganz eindeutig gegen die Einführung eines Ausländerwahlrechts im
kommunalen Bereich.
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
Stephan Mayer ({0})
({1})
Man kann mit Sicherheit grundsätzlich über alles reden. Die Argumente, die Sie, meine lieben Kollegen von
den Grünen und von der Linken, bringen, sind aber nicht
neu, und sie werden auch durch regelmäßiges Wiederholen nicht besser oder richtiger.
({2})
Der Gesetzentwurf, den die Grünen vorlegen, ist abgeschrieben. Er ist eins zu eins vom Land RheinlandPfalz übernommen worden.
({3})
Sie wissen, dass der Gesetzentwurf, den das Land Rheinland-Pfalz vorgelegt hat, am 12. Oktober dieses Jahres
von der Tagesordnung des Bundesrates abgesetzt worden ist, wohl deshalb, weil er wenig oder keine Aussicht
auf Erfolg hatte.
({4})
Entscheidend ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Oktober 1990. Frau Kollegin Dağdelen,
dieses Urteil hat keine negativen Vorgaben gemacht,
sondern klare Maßregeln für ein kommunales Ausländerwahlrecht aufgestellt. Es ist darauf hingewiesen worden - und das ist entscheidend -, dass Art. 20 Abs. 2 unseres Grundgesetzes besagt, dass alle Staatsgewalt vom
Volke ausgeht.
({5})
Damit ist gemeint: von den deutschen Staatsangehörigen.
({6})
Zur Ausübung der Staatsgewalt gehören unter anderem
die Wahl von kommunalen Gremien sowie die Durchführung und die Beteiligung an Landtags- und Bundestagswahlen. Es ist nun einmal einer der vornehmsten Bestandteile der Staatsangehörigkeit, sich an Wahlen zu
beteiligen.
An dieser Stelle gehört klar gesagt: Es geht nicht, dass
hier Rosinenpickerei betrieben wird. Es kann nicht sein,
dass ich mir aus einer Rechtsposition die angenehmen,
die positiven Aspekte herausnehme und die negativen
beiseite schiebe. Es ist genauso wie in einem Verein: Ich
kann mich nicht einfach so an einer Mitgliederversammlung eines Vereins beteiligen. Wenn ich in einem Verein
mitsprechen möchte, dann muss ich Mitglied des Vereins
werden. Gleiches gilt für das Staatsangehörigkeitsrecht.
({7})
Herr Kollege, zwei Zwischenfragen haben sich angehäuft. Daher bin ich sehr froh, dass Sie jetzt Luft holen.
Die beantworte ich sehr gerne.
Frau Dağdelen und Herr Montag würden gern Zwischenfragen stellen; vielleicht beide hintereinander, dann
können Sie beide gemeinsam beantworten.
({0})
Frau Dağdelen, bitte schön.
Vielen Dank für die Zulassung der Zwischenfrage. Herr Kollege Mayer, Sie haben kurz das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aufgegriffen und meinten, dass
eine Änderung deshalb nicht möglich wäre. Nehmen Sie
doch bitte Folgendes zur Kenntnis.
({0})
- Ich möchte wissen, wie er das bewertet. - In der Antwort auf unsere Kleine Anfrage äußert sich zumindest
die Bundesregierung dahin gehend - da müssen Sie ja
eine differenzierte Position haben -, dass die Änderung
des kommunalen Wahlrechts durch eine Verfassungsänderung möglich wäre. Es wird nicht argumentiert, dass
die Ewigkeitsklausel, Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz, wie es
immer wieder gesagt wird, einer Öffnung des Wahlrechts für Drittstaatenangehörige zwingend entgegensteht. Das heißt, es ist durch eine Verfassungsänderung
möglich.
Sie könnten mir doch zustimmen, dass, wenn der politische Wille da ist, die verfassungsmäßigen Voraussetzungen geschaffen werden können.
({1})
Herr Montag.
Danke, Frau Präsidentin. - Sehr geehrter Herr Kollege, ich habe mich mit dem Begehren, von Ihnen eine
Auskunft zu bekommen, zu Wort gemeldet, als Sie den
Begriff der Rosinenpickerei verwendet haben. Ich bitte
Sie herzlich, dass Sie zu folgendem Problem Stellung
nehmen, weil Sie den Vorwurf erheben, wir würden Rosinenpickerei betreiben.
Es geht um die Menschen, die in einer Kommune,
zum Beispiel in München, seit Jahren legal leben. Die
Kinder gehen dort in die Schule oder in den Kindergarten. Die Eltern arbeiten und zahlen Steuern. Sie nehmen
an dem sozialen Leben der Stadt mehr oder minder teil.
Sie sind Teil der Stadtgesellschaft. Die Lebenssituation
dieser Menschen unterscheidet sich nicht von Ihrer oder
meiner. Einen Unterschied gibt es aber: Die einen dürfen
über das Schicksal ihrer Kommune mitbestimmen, die
anderen dürfen es nicht.
Ich frage Sie, wieso Sie so etwas als Rosinenpickerei
bezeichnen. Das Gegenteil ist der Fall: Es ist Rosinenpickerei, zu sagen, dass diese Menschen alles tun müssen,
was man als Bürger einer Kommune tun muss, aber dass
sie nicht die gleichen Rechte wie alle anderen, wie die
deutschen Staatsangehörigen, haben, nämlich das Wahlrecht. Genau diese Diskrepanz wollen wir abschaffen.
({0})
Frau Kollegin Dağdelen, ich glaube, Sie haben mir
nicht richtig zugehört. Ich habe nicht behauptet, dass die
Ewigkeitsgarantie der Verfassung einem kommunalen
Wahlrecht entgegensteht. Ich habe das Urteil des Verfassungsgerichts vom 31. Oktober 1990 zitiert, in dem ganz
klar festgelegt wurde, dass sowohl Art. 20 Abs. 2 des
Grundgesetzes als auch Art. 28 Abs. 1 des Grundgesetzes den damaligen Regelungen in Schleswig-Holstein
und in Hamburg zur Einräumung eines kommunalen
Ausländerwahlrechts entgegenstanden.
Sie haben richtigerweise darauf hingewiesen, dass es
eine durchaus bemerkenswerte und breite Auffassung in
der rechtswissenschaftlichen Literatur gibt, die genau zu
dem Ergebnis kommt, das Sie auch angesprochen haben,
nämlich dass die Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes,
Art. 79 Abs. 3, dagegen spricht, Art. 20 anzurühren.
Zum Beispiel ist der berufene Rechtswissenschaftler
Professor Dr. Isensee dieser Auffassung. Ich räume ein,
dass es auch gegenteilige Auffassungen gibt. Aber Sie
haben mir insoweit ein weiteres Argument vorweggenommen, als in der Literatur durchaus die starke Auffassung vertreten wird, dass die Ewigkeitsgarantie in der
Verfassung gegen die Einräumung eines kommunales
Ausländerwahlrechts spricht.
Sehr verehrter Herr Kollege Montag, es gibt zwischen
uns Gott sei Dank gewisse Unterschiede insbesondere
hinsichtlich unserer Position zum kommunalen Ausländerwahlrecht. Wir sind als CDU/CSU sehr wohl der
Auffassung, dass Ausländer, die sich in den Kommunen
wohlfühlen und dort länger aufhalten, am kommunalen
Geschehen auch beteiligen sollen. Nach § 47 des Aufenthaltsgesetzes gibt es schon die Möglichkeit - sehr geehrter Kollege Ströbele, Sie werden es wahrscheinlich
nicht wissen -, dass man Ausländer in kommunale Ausländerbeiräte beruft und ihnen mit dieser Benennung die
Möglichkeit gibt, sich am kommunalen Geschehen stärker zu beteiligen.
({0})
Nur ist der entscheidende Unterschied zwischen Ausländern und deutschen Staatsangehörigen nun einmal,
dass sich die deutschen Staatsangehörigen dadurch, dass
sie entweder qua Geburt oder im Laufe ihres Lebens das
Staatangehörigkeitsrecht erworben haben, ganz klar zum
deutschen Staat, zur deutschen Gesellschaft bekennen.
Sie haben richtigerweise erwähnt, dass es viele Ausländer gibt, die in deutschen Städten wohnen und die gerade
auch in den letzten zehn Jahren die deutsche Staatangehörigkeit erworben haben. Nach unserer Auffassung bedarf es hoher Hürden, wenn man das Ziel erreichen
möchte, deutscher Staatangehöriger zu werden. Es wäre
ein Schlag ins Gesicht der ungefähr 800 000 vormaligen
Ausländer, die jetzt deutsche Staatsangehörige sind und
sich dieser nicht einfachen Prozedur unterzogen haben,
die deutsche Staatsangehörigkeit zu erwerben, würde anderen Ausländern, die dies noch nicht getan haben oder
vielleicht auch bewusst nicht wollen, trotzdem mir
nichts, dir nichts das kommunale Ausländerwahlrecht
eingeräumt. Da machen wir nicht mit.
({1})
Ich muss Ihnen da in einer Aussage recht geben, Herr
Montag: Als CDU/CSU sind wir der Auffassung, dass es
zu dieser Verfassungsänderung nicht kommen sollte.
({2})
Des Weiteren habe ich aus Ihrer Frage herausgehört,
dass Sie die Kommunalwahlen als Wahlen zweiter
Klasse definieren und als Testfeld sehen wollen, um
kommunales Ausländerwahlrecht als „Wahlrecht light“
auszuprobieren. Dies wäre eine Verunglimpfung der
Kommunalwahlen an sich.
({3})
Die Kommunalwahlen sind eine außerordentlich wichtige Prozedur, um in die kommunalen Gremien Frauen
und Männer zu wählen, die die Geschicke eines Ortes
oder Landkreises in Zukunft lenken sollen.
Frau Kollegin Dağdelen, Sie haben die Oberbürgermeisterin von Frankfurt und den Oberbürgermeister von
Köln erwähnt, die angeblich für ein kommunales Ausländerwahlrecht seien. Sie haben aber geflissentlich zu
erwähnen unterlassen, dass sich der Deutsche Städtetag,
also die Vereinigung aller größeren deutschen Städte und
Gemeinden, ganz dezidiert gegen die Einräumung eines
kommunalen Ausländerwahlrechts ausgesprochen hat.
Diese Aussage sollte man bei dieser Gelegenheit mit zu
Rate ziehen.
Der große Unterschied zwischen der CDU/CSU und
insbesondere denen, die die heute zur Debatte stehenden
Anträge gestellt haben, ist der, dass Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Linken und von den
Grünen, davon ausgehen, dass die Einräumung eines
kommunalen Ausländerwahlrechts ein Mittel zur Integration von in Deutschland lebenden Ausländern sein
kann. Das Gegenteil ist der Fall. Der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit kann immer erst am Ende ei12544
Stephan Mayer ({4})
nes gelungenen, erfolgreich geglückten Integrationsprozesses stehen.
({5})
Die Einräumung der deutschen Staatsangehörigkeit und
des damit verbundenen Wahlrechts kann aber niemals
Mittel zur Integration sein,
({6})
geschweige denn am Anfang eines Integrationsprozesses
stehen.
({7})
Deshalb träte genau das Gegenteil dessen ein, was Sie
proklamieren: Die Einräumung eines kommunalen Ausländerwahlrechts führte nicht dazu, dass wir eine bessere
Integration von in Deutschland lebenden Ausländern erleben; vielmehr träte genau das Gegenteil ein. Es wäre
kontraproduktiv und führte zu einer schlechteren Integration,
({8})
weil es überhaupt keine Veranlassung mehr für in
Deutschland lebende Ausländer gäbe, sich zu bemühen,
die deutsche Staatsangehörigkeit zu erwerben, deren Bestandteil dann auch das kommunale Wahlrecht ist. Das
würde zur Verfestigung und Verstetigung der schon vorhandenen Parallelgesellschaften führen.
({9})
Dies ist ein wesentlicher Grund, sich gegen die Einräumung eines kommunalen Ausländerwahlrechts auszusprechen.
Des Weiteren ist als Argument gegen die Einräumung
eines kommunalen Ausländerwahlrechts ein wichtiger
Grundsatz des Völkerrechts heranzuziehen. Es ist ein bekanntes und bewährtes Prinzip des Völkerrechts, dass
Rechtspositionen nur nach dem Grundsatz der Gegenseitigkeit eingeräumt werden.
({10})
Es kann nicht sein, dass wir auf der einen Seite in Vorlage gehen und vorpreschen,
({11})
dass aber auf der anderen Seite nicht klar ist, dass in den
Ländern, deren Staatsangehörigen wir das kommunale
Ausländerwahlrecht einräumen, im umgekehrten Fall
auch den deutschen Staatsangehörigen ein kommunales
Ausländerwahlrecht eingeräumt würde.
({12})
Kollegin Dağdelen, Sie haben darüber hinaus auf andere Länder in Europa hingewiesen, in denen bereits ein
kommunales Ausländerwahlrecht eingeführt wurde.
({13})
Auch an dieser Stelle haben Sie es geflissentlich unterlassen, auch zu erwähnen, dass die Wahlbeteiligung in
diesen Ländern desaströs ist.
({14})
So hat man beispielsweise in Finnland, Schweden und
Irland die Erfahrung gemacht, dass der Prozentsatz derjenigen, die vom kommunalen Ausländerwahlrecht Gebrauch machen, minimal ist und meistens im einstelligen
Bereich liegt.
({15})
Damit wird eines Ihrer Argumente ad absurdum geführt: dass ein kommunales Ausländerwahlrecht zu einer
verbesserten Integration und zu einer verstärkten Teilhabe und Teilnahme der Ausländer am gesellschaftlichen Leben führt.
({16})
Das Gegenteil ist der Fall: Erst durch den Erwerb der
deutschen Staatsangehörigkeit wird ein erfolgreicher Integrationsprozess abgeschlossen.
({17})
Natürlich ist der dann auch von der Einräumung eines
kommunalen Wahlrechts begleitet.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe einige Aspekte angeführt,
({18})
die meines Erachtens ganz deutlich gegen die Einführung eines kommunalen Ausländerwahlrechts sprechen.
Gleichwohl haben wir uns im Koalitionsvertrag verpflichtet, diesem Prüfauftrag Rechnung zu tragen. Deshalb werden wir diese Debatte pflichtschuldigst führen,
({19})
wenngleich ich prima facie der Meinung bin,
({20})
dass es Gründe gibt, die eklatant gegen die Einräumung
eines kommunalen Ausländerwahlrechts sprechen.
Abschließend möchte ich festhalten: Wir haben in
Deutschland gerade im Bereich der Integration beileibe
Stephan Mayer ({21})
andere Probleme, denen wir uns zuwenden sollten, als
eine Debatte über die Einführung eines kommunalen
Ausländerwahlrechts zu führen.
Herzlichen Dank.
({22})
Jetzt hat für die FDP-Fraktion der Kollege Hartfrid
Wolff das Wort.
({0})
Die FDP unterstützt die Forderungen nach Ausweitung der demokratischen Mitbestimmung und nach Verbesserung der politischen Teilhabe.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach Auffassung
der Linken und der Grünen sollen Menschen mit Daueraufenthalt in Deutschland das kommunale Wahlrecht
ausüben dürfen. Der Aufenthaltstitel soll demnach die
Staatsangehörigkeit, durch die das Wahlrecht eigentlich
verliehen wird, ersetzen. Wir Liberale teilen nicht die
Auffassung, dass staatsbürgerliche Rechte wie das Wahlrecht unkonditioniert und ohne Wenn und Aber vergeben
werden dürfen.
({1})
Wir verwahren uns gegen den Duktus des Antrags der
Linken, in dem von - ich zitiere - „dauerhaft einer bestimmten Herrschaft Unterworfenen“ die Rede ist. Diese
Wortwahl widerstrebt mir gewaltig. Was für ein Staatsverständnis liegt dieser Aussage zugrunde? Ein Staatsverständnis, das nicht vom Gedanken der Freiheit geprägt sein kann.
({2})
Wir Liberale stellen dieser reaktionären Staatsauffassung
aus dem 19. Jahrhundert
({3})
das Leitbild des mündigen Bürgers gegenüber, der sich
in die öffentlichen Belange einmischt und einmischen
darf.
({4})
Unseres Erachtens hat die sinnvolle Ausübung des
Wahlrechts die Voraussetzung, dass der Betreffende
grundsätzlich am gesellschaftlichen Diskurs teilnehmen
kann. Für eine Teilhabe am gesellschaftlichen Diskurs in
Deutschland sind Kenntnisse der deutschen Sprache eine
objektive Voraussetzung. Demokratie lebt von solcher
Teilhabe und damit von der Beherrschung der jeweiligen
Landessprache. Es ist also eine Integration erforderlich,
an deren Ende immer die Annahme der Staatsangehörigkeit stehen kann und muss.
Das kommunale Wahlrecht undifferenziert Menschen
einzuräumen, die in keiner Weise in unsere Gesellschaft
integriert sind, weil sie mental, sprachlich und vielleicht
auch wirtschaftlich nicht nur auf diese Gesellschaft nicht
vorbereitet sind, sondern womöglich auch nicht auf sie
vorbereitet sein wollen, das kann nicht unsere Zustimmung finden.
Herr Kollege, Frau Dağdelen würde Ihnen gerne eine
Zwischenfrage stellen. Möchten Sie diese zulassen?
Da wir das eben schon länger diskutiert haben, würde
ich das ungern machen.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass vor allem die Linken tatsächlich so naiv sind, zu glauben, dass alle Probleme bei der Integration von Zuwanderern dadurch gelöst werden, dass man ihnen einfach das Wahlrecht
einräumt und ansonsten so tut, als gäbe es keine Probleme.
({0})
Die Linken jedenfalls scheinen in der deutschen Staatsangehörigkeit kein wertvolles Gut zu sehen, wenn sie die
bürgerlichen Ehrenrechte auf kommunaler Ebene ohne
Hürden zugänglich machen wollen.
({1})
- Ich habe ihn sehr genau gelesen, Frau Kollegin.
Auch europapolitisch scheint es mir bedenklich, den
im gegenseitigen Verfahren eingeräumten Vorzug der
EU-Bürger im kommunalen Wahlrecht aufzugeben und
dieses zum Allgemeingut zu machen.
({2})
Gleichwohl kann sich die FDP durchaus vorstellen,
über ein Ausländerwahlrecht zu diskutieren,
({3})
das an bestimmte Bedingungen geknüpft ist. Wenn sich
ein Drittstaaten-Ausländer gut integriert hat und sich wenigstens fünf Jahre rechtmäßig in Deutschland aufhält,
könnte man darüber nachdenken, ihm das kommunale
Wahlrecht zu geben.
({4})
Die Entscheidung muss aber vor Ort gefällt werden.
({5})
Hartfrid Wolff ({6})
Es darf aber keine starre Vorschrift im Grundgesetz geben. Vielmehr ist über eine Öffnungsklausel nachzudenken, die es den Ländern in ihrer eigenen Hoheit ermöglicht, den Kommunen die Entscheidung über ein solches
Ausländerwahlrecht zu gestatten.
({7})
Auch hinsichtlich der Staatsangehörigkeit gilt: Die
Wahrung des Zusammenhangs von Rechten und Pflichten ist integrationspolitisch sinnvoll. Im Übrigen gibt es
- darauf soll an dieser Stelle noch einmal hingewiesen
werden - auch unterhalb des Wahlrechts politische Mitwirkungsmöglichkeiten: In Parteien, Vereinen, Verbänden - jedenfalls sind wir ein offener Verband - können
sich Menschen mit Migrationshintergrund in unsere Gesellschaft einbringen und mitwirken, und dies ist auch
hoch erwünscht.
({8})
Die einseitige Fokussierung auf das Wahlrecht scheint
mir den Chancen, die unsere Gesellschaft auch Migranten eröffnet, nicht gerecht zu werden.
Der Integration von Ausländern ist es nicht zuträglich, wenn eine Debatte nicht sachlich, sondern potenziell emotional, wie im Wahlkampf, geführt wird, was
zumindest seitens der Linken offensichtlich der Fall ist.
Vielen Dank.
({9})
Jetzt spricht Michael Hartmann für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Wolff, man kennt ja die Beschlusslage und die
Positionierung der FDP insgesamt. Lassen Sie mich deshalb dezent und zurückhaltend eines sagen: Diese Art
der Positionierung ist für mich neu und anders gewesen.
So habe ich die FDP beim Thema kommunales Wahlrecht für Drittstaatsangehörige noch nicht reden gehört.
({0})
Wie dem auch sei: Parteien verändern sich, jeder ist in
einer anderen Konstellation, vielleicht verändert man
sich auch selbst. Insofern mag es sein, dass Positionen
von einst heute nicht mehr gelten.
Gelten sollte aber eines, lieber Herr Mayer: das, was
wir einander in der Koalitionsvereinbarung versprochen
haben.
({1})
In ihr haben wir vereinbart, dass wir ernsthaft - nicht nur
rhetorisch oder formal - prüfen, ob ein kommunales
Wahlrecht für Drittstaatsangehörige eingeführt wird. Dabei sollten wir bleiben.
({2})
Nach Ihrer Rede habe ich den Eindruck, Sie haben die
Prüfung schon abgeschlossen, und zwar mit dem Ergebnis, das für uns zumindest diskussionswürdig ist.
Ich würde gerne den Vorschlag machen, dass wir für
einen kurzen Moment ein Gedankenspiel wagen: Nehmen wir einfach einmal an, es hätte im Deutschen Bundestag und im Bundesrat eine Zweidrittelmehrheit dafür
gegeben, Art. 28 Abs. 1 des Grundgesetzes so zu erweitern, dass nicht nur, wie seit 1992, EU-Mitbürgerinnen
und -Mitbürger das kommunale Wahlrecht haben, sondern dass auch sogenannte Drittstaatsangehörige dieses
Recht bekommen können. Nehmen wir weiter an, dass
eine Vielzahl der Länder - die immer noch frei wären,
das umzusetzen oder nicht - von dieser Chance Gebrauch gemacht und ein entsprechendes kommunales
Wahlrecht eingeführt hätten. Wie könnte, wie würde unsere kommunale Landschaft aussehen? Ich bin mir sicher, die Parteien und die Wählergruppierungen würden
nicht mehr nur über und mit Migrantinnen und Migranten, Menschen aus sogenannten Drittstaaten, sprechen,
sondern sie würden sich sehr aktiv darum bemühen,
diese auch auf ihren Listen wiederzufinden. Ich bin mir
sicher, alle Parteien würden sich kommunal darum bemühen. Übrigens würden jene Parteien, die Quotierungsregelungen beschlossen haben, beispielsweise auch eine
stattliche Zahl von Musliminnen und Muslimen auf ihren Listen repräsentieren.
({3})
Ich bin mir sicher, dass sich in den Städten, Gemeinden
und Landkreisen - wo auch immer - auch einige Ausländerlisten gegründet hätten, die ebenfalls integrativ agieren würden.
Das würde in der Konsequenz bedeuten - folgen Sie
mir noch ein wenig bei diesem Gedankenexperiment -,
dass es radikalen Scharfmachern, die meistens vor Ort in
den Kommunen agieren, schwerer fallen würde, mit dem
Argument der Ausgrenzung entsprechende Anhänger zu
finden.
({4})
Ich glaube, die ausländische Wohnbevölkerung wäre ihrerseits auch in der Verantwortung, bei allen kommunalen Fragen konstruktiv mitzuwirken und sich einzubringen: ob es um die Ausgestaltung des Angebots von
bestimmten Sprachkursen geht, ob es darum geht, dass
man in Kindergärten beispielsweise auch eine Spracherziehung für Mutter und Kind von sogenannten Drittstaatsangehörigen anbietet,
({5})
ob man in Schulen manches anders präsentiert, ob man
die kultursensible Altenpflege anders diskutiert, ob man
Michael Hartmann ({6})
mit randalierenden Jugendlichen in bestimmten Problemquartieren anders umgehen muss, ob das Wohnumfeld verbessert werden muss usw. usf. Ich bin mir sicher,
dass diese Beiträge gefordert wären. Die Gestaltungsmöglichkeiten wären auf jeden Fall gegeben.
({7})
Die Welt wäre damit nicht rosarot, sondern es gäbe
weiterhin genügend Probleme - keine Frage. Das will
hier niemand wegdiskutieren.
({8})
- In Altötting wird so schnell nichts rosa und auch nicht
rot - zumindest nicht offen, geschätzter Herr Kollege
Ströbele. - Der demokratische Ansatz, bestimmte Themen anders anzugehen, ist uns mehr als nur sympathisch. Nach unserer Prüfung wollen wir jene Initiativen
unterstützen, durch die ein kommunales Wahlrecht für
Ausländerinnen und Ausländer eingeführt werden soll.
({9})
Wir erwarten von den Menschen, die zu uns gekommen sind, dass sie ihre Pflichten als Steuerzahler erfüllen, wir erwarten selbstverständlich, dass sie Recht und
Gesetz einhalten - das dürfen wir auch - und dass die
deutsche Staatsgewalt anerkannt wird, und wir erwarten
von ihnen, dass Integration - auch sprachliche - tatsächlich stattfindet. Deshalb meine ich, dass wir diesen Erwartungen nach dem bewährten Prinzip des Förderns
und Forderns auch entsprechende Angebote gegenüberstellen müssen. Ein ernsteres Angebot als das der demokratischen Mitwirkung und Mitgestaltung gibt es nicht.
Deshalb sind wir für die Einführung des Kommunalwahlrechts für Drittstaatsangehörige.
({10})
Wir befinden uns damit übrigens nicht nur in guter,
sondern in bester Gesellschaft, und zwar auch mit vielen
kommunalen Praktikern der Union: dem Integrationsminister von Nordrhein-Westfalen, CDU, der bereits
mehrfach entsprechende Aussagen getroffen hat, und
- es wurde zitiert - der Vizepräsidentin des Deutschen
Städtetages, einer profilierten Christdemokratin, die an
der Spitze einer Stadt steht, die wahrhaftig auch große
Integrationsprobleme hat.
Seien Sie also so offen, die Diskussion vor diesem
Hintergrund so zu führen, wie wir das im Koalitionsvertrag vereinbart haben, und beharren Sie nicht einfach
durch das Abspulen alter Regeln und Ideologien auf Ihrem Standpunkt.
({11})
Die Einladung dazu liegt auf jeden Fall vor.
({12})
Weil ich das Argument kenne, erlaube ich mir auch
diese Anmerkung: Es gibt 16 EU-Staaten, die entsprechende Regelungen in ihren nationalen Gesetzen haben.
Keiner dieser Staaten ist in seiner staatlichen Substanz,
Autorität oder Gehorsamsverfolgung durch die Migrantinnen und Migranten bedroht.
({13})
Alle funktionieren hervorragend und fantastisch. Seid
also nicht so zögerlich, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Union.
({14})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, man kann
allerdings gelegentlich den Eindruck gewinnen, dass die
Angst vor einem möglichen Wahlverhalten derjenigen,
die dann kommunal mitbestimmen können, auch zu einer bestimmten Zurückhaltung führt. Allerdings sollte
niemand vor demokratischer Teilhabe Angst haben.
Vielmehr sollte die Chance, dass andere mitwählen dürfen, uns etablierte oder weniger etablierte Parteien dazu
bringen, dass wir unsere Positionen engagierter und offensiver vermitteln und durchsetzen und dass wir in dem
einen oder anderen Fall unsere Positionen auch umformulieren, also anders präsentieren, als wir das in der
Vergangenheit getan haben. Jedenfalls sollte niemand
Angst vor demokratischer Teilhabe haben und deshalb
Menschen vom Wahlrecht ausschließen.
Wir reden über eine Gruppe von Mitbürgerinnen und
Mitbürgern, die im Durchschnitt seit rund 17 Jahren in
Deutschland leben. Wir reden von einer Gruppe, die
rund 4,6 Millionen Menschen umfasst. Das ist eine stattliche Zahl. Sie entspricht über 68 Prozent aller Menschen aus anderen Staaten, die bei uns leben. Diese Menschen haben wir bisher von kommunaler Teilhabe - nur
darum geht es uns - ausgeschlossen.
Damit ich nicht missverstanden werde: Am besten ermöglichen wir diesen Menschen, mit den Angeboten, die
wir ihnen offerieren, schnell, zügig und erfolgreich die
deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen. Das ist das
ideale Ziel, das damit anzustreben ist; aber das kommunale Wahlrecht kann durchaus eine Zwischenstufe auf
dem Weg zu diesem Ziel darstellen.
Ich bin mir sicher, dass das Bollwerk der Ablehnung
nicht halten wird, weil ich erstens immer noch an die
Kraft der Vernunft glaube - viele rationale Argumente
sprechen dafür, das Wahlrecht zu ändern - und zweitens
unseren Koalitionsvertrag kenne. Drittens, Frau Staatsministerin Böhmer - sie war zumindest vorhin anwesend -,
ist auch in dem mit viel Aufwand erstellten Nationalen
Integrationsplan eine Selbstverpflichtung der Bundesregierung enthalten, was die Prüfung dieses Anliegens anbelangt.
({15})
Die nötigen Mehrheiten gibt es derzeit nicht - das
wissen wir -;
({16})
aber es gibt gute Gesetzentwürfe, beispielsweise von
meinem Heimatbundesland Rheinland-Pfalz. Dass die
Michael Hartmann ({17})
Mehrheiten durch Überzeugung gewonnen werden müssen, weiß ich sehr wohl. Denn es geht nicht nur darum,
formal eine Zweidrittelmehrheit herbeizuführen. Das ist
nicht der entscheidende Punkt. Vielmehr braucht jemand, der notwendigerweise ein so großes Rad drehen
will, breite und breiteste Übereinstimmung. Wir müssen
uns deshalb die nötige Zeit dafür lassen. Wer Integration
will, muss Teilhabe ermöglichen.
Denken Sie deshalb bitte noch einmal mit uns gemeinsam ergebnisoffen darüber nach, ob wir nicht das
Kommunalwahlrecht für Drittstaatenangehörige tatsächlich und sogar schon in dieser Wahlperiode einführen
sollten.
Vielen Dank.
({18})
Das Wort hat nun Kollege Josef Winkler, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Meine Partei fordert seit 30 Jahren - und damit seit ihrem Bestehen - die demokratische Mitbestimmung derjenigen, die dauerhaft in Deutschland leben. Denn Integration bedeutet Teilhabe und Partizipation, und sie
beginnt auf der lokalen Ebene und nicht im Deutschen
Bundestag - auch wenn die Integration so gut verläuft
wie bei Herrn Nouripour und mir zum Beispiel oder bei
Frau Dağdelen.
({0})
Im Gegensatz zu Herrn Mayer war ich schon einmal
Ausländer in Deutschland und traue mir daher zu, den
Integrationsprozess von Ausländern in Deutschland etwas anders und vielleicht sogar besser beurteilen zu können, als Sie das hier getan haben. Am Rande bemerkt ist
der Dialekt, den ich aus Koblenz mitgebracht habe, in
weiten Teilen Deutschlands - zumindest in Norddeutschland - dem deutschen Volke besser verständlich
als der, in dem Sie eben Ihre Argumente vorgetragen haben.
({1})
- Wir kriegen die Zweidrittelmehrheit auch bei Nordund Mitteldeutschland gegen Süddeutschland hin. Das
wäre einen Versuch wert.
In Deutschland lebende Franzosen, Polen und andere
EU-Ausländer dürfen bereits an Wahlen zu Stadt- und
Gemeinderäten teilnehmen. Wer aber einen türkischen,
indischen oder amerikanischen Pass hat, hat in der Kommunalpolitik bisher kein Stimmrecht. Über dem Eingang
zum Reichstag steht zwar „Dem deutschen Volke“ - das
hat der Kollege Mayer richtig erwähnt; wahrscheinlich
ist er einmal vor die Tür gegangen -;
({2})
aber im Innenhof dieses Hauses gibt es ein bedeutendes
Kunstwerk mit dem Titel „Der Bevölkerung“, das aus
gutem Grunde installiert worden ist.
({3})
Das wurde im Bundestag breit debattiert. Ich glaube, es
ist das einzige Kunstwerk, dessen Installation im Plenum
des Bundestages beschlossen wurde, weil man die Formulierung „Dem deutschen Volke“ zwar für richtig gehalten, aber erkannt hat, dass die Bundesrepublik
Deutschland seit vielen Jahren nicht mehr nur aus dem
deutschen Volk besteht, sondern zu der Gesamtbevölkerung auch viele Millionen Ausländer gehören, die in
Deutschland friedlich mit uns zusammenleben.
({4})
In Art. 3 des Grundgesetzes heißt es: „Alle Menschen
sind vor dem Gesetz gleich.“ In den weiteren Grundrechtsartikeln heißt es zwar: Deutsche haben das Recht,
sich zu versammeln oder Vereine zu gründen. Aber wegen des Art. 3 und weil die Menschenwürde unantastbar
ist und sich ebenfalls nicht nur auf Deutsche in Deutschland beschränkt, dürfen selbstverständlich auch ausländische Bürger in Deutschland Vereine gründen, obwohl
der Wortlaut der Grundrechte das nicht explizit vorsieht.
Insofern tragen Ihre Ausführungen nicht, dass mit
„deutsch“ nur volksdeutsch gemeint sein könne.
Um diese Ungleichbehandlung zu beseitigen, ist unserer Ansicht nach eine Änderung von Art. 28 des
Grundgesetzes notwendig. Eine solche ist auch sehr einfach möglich. Natürlich gibt es immer auch Juristen und
Staatswissenschaftler, die das Gegenteil behaupten. Aber
ich denke, Sie haben nicht ohne Grund in Ihrer Koalitionsvereinbarung einen entsprechenden Prüfauftrag vereinbart. Wenn Sie der Meinung gewesen wären, das sei
verfassungswidrig, hätten Sie es gar nicht aufnehmen
dürfen.
Insofern kann man eigentlich sagen: Der Antrag der
Linken hat sich fast erledigt, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, einen Gesetzentwurf vorzulegen.
Es liegt ja jetzt einer bei uns im Haus auf dem Tisch.
Den haben wir gerne aus dem Bundesrat übernommen.
Das ist kein Geheimnis. Rheinland-Pfalz unter Ministerpräsident Beck hat da einen Beschluss, den der Bundesrat schon 1997 gefasst hat, aufgegriffen. Den haben wir
jetzt wieder vorgelegt. Berlin unterstützt das, und ich
finde das auch richtig. Er wird hoffentlich seine Mehrheit finden.
Ich sage noch einmal: Die Leute vor Ort sollen mitentscheiden dürfen; denn die Kinder dieser Leute gehen
nicht in Kindergärten nur für Deutsche oder dergleichen.
Der Stadtrat entscheidet darüber, wo und wie die Kindergärten gebaut werden. Der Stadtrat entscheidet, wo die
Fahrradwege gebaut werden - für alle Bürger der Stadt
und nicht nur für die Deutschen. Es gibt - aus gutem
Grund - auch keine Schwimmbäder, in denen nur Deutsche schwimmen dürfen. Aber ein Ausländerbeirat hat
nichts zu vermelden. Deswegen ist auch die Wahlbeteiligung überall da, wo es Ausländerbeiräte gibt, so niedrig.
Sie haben nur eine beratende Stimme, was ich für eine
Unverschämtheit halte; denn die Leute zahlen Steuern,
und sie leben hier viele Jahre. Sie sind zu einem hohen
Prozentsatz gut integriert. Wir aber enthalten ihnen dieses klassische und grundlegende Bürgerrecht vor. Das
finde ich sehr bedauerlich.
Es wäre wirklich einfach, das zu ändern. Gehen Sie
diesen Schritt! Probieren Sie es doch auf der kommunalen Ebene aus!
({5})
Wir sagen ja nicht, dass es sofort für alle gelten soll, sondern dass man es da, wo es machbar ist, nämlich auf der
kommunalen Ebene, einführen sollte. Später können und
sollen die Leute, wenn sie sich noch besser integriert haben, auch die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben dürfen. Dafür setzen wir uns gemeinsam ein. Aber hier geht
es jetzt um den ersten Schritt. Ich bitte Sie noch einmal
herzlich, darüber nachzudenken.
({6})
Der Kollege Gert Winkelmeier hat seine Rede zu Pro-
tokoll gegeben1). Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/5904 und 16/6628 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes
- Drucksache 16/5100 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
- Drucksache 16/6780 Berichterstattung:
Abgeordnete Josef Göppel
Angelika Brunkhorst
Undine Kurth ({1})
Es liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion der
FDP sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion Die
Linke vor.
1) Anlage 20
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Damit eröffne ich die Aussprache und erteile der Parlamentarischen Staatssekretärin Astrid Klug das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
beschließen heute das Erste Gesetz zur Änderung des
Bundesnaturschutzgesetzes, nach dem Motto: Was lange
währt, wird endlich gut.
Das Änderungsgesetz war durch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes notwendig geworden. Der EuGH
war der Meinung, dass Deutschland die europäische
Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie nicht in allen Punkten
korrekt umgesetzt hat. Mit der vorliegenden Novelle haben wir das deutsche Naturschutzrecht angepasst. Wir
machen es europarechtskonform. Wir machen es naturschutz- und praxistauglicher.
Der Weg zum Änderungsgesetz war lang, und das
Zwangsgeld der EU war am Ende nicht fern. Wir haben
über viele Formulierungen diskutiert und teilweise auch
heftig gestritten. Ich will auf die einzelnen Formulierungen an dieser Stelle gar nicht mehr eingehen. Am Ende
konnten ohnehin nur noch sehr wenige nachvollziehen,
worüber wir überhaupt noch streiten.
Ich will auf den Kern der Auseinandersetzungen eingehen; denn im Kern geht es beim Naturschutzrecht immer wieder um die Fragen: Wie viel Naturschutz brauchen wir? Wie viel Naturschutz glauben wir uns leisten
zu müssen oder uns leisten zu können? Welchen ideellen
und materiellen Wert hat die biologische Vielfalt für
uns? Was sind die richtigen Instrumente, um Natur- und
Artenschutz durchzusetzen?
Deutschland befindet sich derzeit in einer ganz besonderen Verantwortung für den Schutz der biologischen
Vielfalt, und das weltweit. Wir sind im nächsten Jahr
Gastgeber der Weltnaturschutzkonferenz, der 9. Vertragsstaatenkonferenz der Konvention über die biologische Vielfalt. Im Mai 2008 diskutieren wir in Bonn mit
über 6 000 Repräsentanten aus der ganzen Welt über das
2010-Ziel der Weltgemeinschaft, den Verlust an biologischer Vielfalt bis 2010 weltweit zu bremsen und in Europa gar zu stoppen. Es ist die letzte Vertragsstaatenkonferenz vor 2010. Wir sind von diesem Ziel noch viel zu
weit entfernt.
Wir haben in diesem Jahr im Rahmen der deutschen
EU-Ratspräsidentschaft und der deutschen G-8-Präsidentschaft intensiv für ambitionierte Ziele bei der Weltnaturschutzkonferenz geworben. Wir werben derzeit im
Rahmen einer nationalen Kampagne bei den Menschen
in Deutschland für die Themen Naturschutz und Schutz
der biologischen Vielfalt. Wir machen zum Beispiel darauf aufmerksam, dass die Natur uns Menschen nicht
braucht. Sie kommt wunderbar ohne uns aus. Aber wir
Menschen brauchen die Natur für sauberes Wasser, saubere Luft, viele Rohstoffe, unsere Ernährung und viele
Medikamente, die ihren Ursprung in pflanzlichen Roh12550
stoffen haben. Wir sind auf die Natur angewiesen. Wir
wollen mit dieser Kampagne auch diejenigen, die sich
nicht jeden Tag mit dem Naturschutz befassen und für
die der Schutz von Tieren und Pflanzen nicht einen Wert
an sich bedeutet, motivieren und überzeugen, sich aus
durchaus egoistischen Motiven für mehr Naturschutz
und für funktionierende Ökosysteme einzusetzen;
({0})
denn wir brauchen die Natur zum Leben.
Funktionierende Ökosysteme und die biologische
Vielfalt sind unsere natürliche Lebensversicherung. Wir
zerstören aber weltweit die Festplatte, auf der die wertvollen Informationen der Vielfalt des Lebens liegen. Die
tatsächliche Aussterberate bei Tieren und Pflanzen liegt
zurzeit um das Hundert- bis Tausendfache über der natürlichen Aussterberate. Aber ohne Festplatte gibt es
kein Betriebssystem. Was beim Computer das Betriebssystem ist, sind im wahren Leben saubere Luft und sauberes Wasser.
Wir werden auf der CBD-Konferenz in Bonn erfolgreich sein, wenn wir viele Partner für die Themen gerechter Vorteilsausgleich, globales Schutzgebietsnetz,
Schutz der Wälder, Schutz der Meere, Biodiversität und
Klimaschutz finden. Diese Partner finden wir leichter,
wenn wir unsere eigenen Hausaufgaben gemacht haben.
Dann können wir glaubwürdig auftreten. Mit der nationalen Biodiversitätsstrategie, dem nationalen Naturerbe
und dem Umweltgesetzbuch haben wir dazu alle Möglichkeiten.
Ich werbe nach der schwierigen Debatte über die
kleine Novelle zum Bundesnaturschutzgesetz dafür, dass
wir die nächsten Monate in Deutschland, aber vor allem
in der Welt intensiv nutzen, um die Weichen konsequent
auf den Schutz der Vielfalt des Lebens zu stellen, damit
auch die nächsten Generationen die Chance auf ein gutes
Leben auf unserer Erde haben.
({1})
Ich erteile das Wort Kollegin Angelika Brunkhorst,
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach monatelangem Verwirrspiel finden wir heute einen
Änderungsantrag der Regierungsfraktionen vor, bei dem
noch nicht einmal versucht wird, den Anschein zu erwecken, als käme er aus der Mitte der Legislative. Frau
Klug, Sie haben es ganz hervorragend verstanden, das
große Ganze zu beschreiben, um auf keinen Fall auf die
Details des Werdegangs der Novelle eingehen zu müssen; das ist für Sie ja auch nicht besonders komfortabel.
Ich stelle fest, dass die Bundesregierung abschließend
nicht in der Lage war, eigenständig eine EU-konforme
Definition des Projektbegriffs zu finden. Sie musste
dazu die Hilfe der EU-Kommission in Anspruch nehmen
und folgt nun deren Empfehlung, auf den Projektbegriff
gänzlich zu verzichten. Damit hat man sich sicherlich
weitere Peinlichkeiten erspart.
({0})
Vergleiche ich nun die Zielrichtung des neuen Änderungsantrags 16({1})233 mit unserem Änderungsantrag 1, darf ich erfreut feststellen - das ist zumindest etwas -, dass die Position der Bundesregierung jetzt mit
dem, was wir wollen, nahezu deckungsgleich ist. Das
begrüßen wir grundsätzlich. Zumindest in der Begründung verweist die Regierung auf § 5 Abs. 4 bis 6 und die
dort genannten Anforderungen sowie die Regeln der guten fachlichen Praxis. Sie lässt somit erkennen, dass sie
an einer praxisnahen Regelung interessiert ist. Der neue
Änderungsantrag 1 von CDU/CSU und SPD findet nun
unsere Zustimmung. Wir ziehen daher unseren Änderungsantrag 1 zurück. Er hat seinen Zweck erfüllt.
Die Änderungsanträge 2, 3, 4, 6 und 8 der Regierungsfraktionen übernehmen die Vorschläge des Bundesrates, denen die Bundesregierung zugestimmt hat.
Des Weiteren geht der Änderungsantrag 7 auf das am
10. Mai gegen Österreich ergangene Urteil ein. Der Änderungsantrag 5 dient allgemein der Verfahrensvereinfachung. Somit können wir den Änderungsanträgen 2 bis 8
zustimmen, da sie den Gesetzentwurf insgesamt besser
machen.
Darüber hinaus - das ist schon etwas anderes - stellen
wir weitere Forderungen. Wir fordern in unserem Änderungsantrag 16({2})268, den § 42 Abs. 1 Nr. 2 neu zu fassen. Es geht um die FFH-Richtlinie und die Vogelschutzrichtlinie. Diese nennen unterschiedliche Zeiten, in
denen Störungen bei Vögeln besonders gravierend sind.
Diese Trennung wollen wir auch in dieser Novelle des
Bundesnaturschutzgesetzes beibehalten. Der Zusatz „lokal“ bei der Definition der Population soll unserer Meinung nach gestrichen werden. Dies steht auch im Einklang mit dem Guidance-Document der Kommission,
welches keine weitere Einschränkung vornimmt.
({3})
Im Zuge der Bewertung der zu erhaltenden Population unterliegt die Prüfung und Überwachung den Ländern. Sie sind für den Erhalt und die Entwicklung der
Gebiete und Arten verantwortlich. Ich kann Ihnen nur
sagen: Die FDP traut den Ländern das zu. Da die Rüge
des EuGH sich ausschließlich auf den Art. 12 der FFHRichtlinie stützt, wollen wir auch hier, dass die Zugriffsverbote sich nur auf die Arten des Anhangs IV der FFHRichtlinie beziehen. Die europäischen Vogelarten müssen demzufolge gestrichen werden. Die Bundesregierung hatte darauf verwiesen, dass sie eine Eins-zu-einsUmsetzung anstrebt. Also sollte dieser Zusatz unterbleiben. In § 42 Abs. 1 Nr. 4 muss ebenfalls der Zusatz
„lokal“ bei der Definition der Population gestrichen werden. Das begründen wir in unserem zweiten Änderungsantrag 16({4})269.
Uns ist insbesondere wichtig, dass der Eingriff in die
wirtschaftliche Praxis durch Bewirtschaftungsvorgaben
generell auf ein Minimum beschränkt bleibt. Wir meiAngelika Brunkhorst
nen, dass die Bewirtschaftungsvorgaben hinter freiwilligen Maßnahmen zurückstehen sollten, wo immer das
möglich ist. Es soll ausgeschlossen werden, dass eine behördliche Untätigkeit, zum Beispiel hinsichtlich der
Aufklärung oder des Angebots vertraglicher Vereinbarungen, zu einem Nachteil für den Bewirtschafter führt.
({5})
Insofern ist die Anordnungsbefugnis der Behörden zu
Bewirtschaftungsvorgaben auf erhebliche Verschlechterungen zu beschränken.
Zuletzt noch einmal zu der schwierigen Geburt dieser
Novelle. Die kurzfristige Aufsetzung auf die Tagesordnung des heutigen Plenums wurde mit einer Fristverletzung und Strafandrohungen der EU begründet; dies
sollte noch schnell abgewendet werden. Ich denke, das
war ein hausgemachtes Problem. Wir haben - das finde
ich schon erstaunlich - dieses Thema insgesamt siebenmal auf der Tagesordnung des Umweltausschusses gehabt. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, als Nächstes sitzt Ihnen das UGB im Nacken.
Sie haben ehrgeizige Pläne - auch Frau Klug hat eben einen weiten Bogen geschlagen - mit der großen Novelle
des Naturschutzrechts. Ich hoffe, es kommt ein bisschen
mehr Tempo in die Sache. Wir warten auf einen tollen
Wurf und sind ganz gespannt, was Sie uns präsentieren.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat nun Kollege Josef Göppel, CDU/CSUFraktion.
({0})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident! Das Gesetz, über das wir heute beraten, ist ein voll
ausgereifter Kompromiss.
({0})
Damit kann man wohl mit Fug und Recht sagen, dass es
seinen Zweck erfüllen wird. Ich bin der Überzeugung,
dass wir die beiden Urteile des Europäischen Gerichtshofes zu den Natura-2000-Gebieten damit sachgerecht
umsetzen. Ebenso bin ich der Meinung, dass wir damit
den Schutz der Arten in den Natura-2000-Gebieten verbessern.
Aus der Sicht der Union lautet der entscheidende Satz
dieses Kompromisses:
Die … der guten fachlichen Praxis … entsprechende land-, forst- und fischereiwirtschaftliche
Bodennutzung ist … kein Projekt im Sinne dieses
Gesetzes.
Das bedeutet, dass für die normale Bodennutzung nach
der guten fachlichen Praxis keine Umweltverträglichkeitsprüfung erforderlich ist.
Ich möchte den Blick auf die Perspektive der Grundeigentümer und der Nutzer in den Natura-2000-Gebieten
richten. Es wird immer wieder das Argument vorgebracht: Wenn unsere bisherige Nutzung nicht naturverträglich und nachhaltig gewesen wäre, dann wäre dieses
Gebiet gar nicht in die Liste der Natura-2000-Flächen
gekommen.
({1})
Dieses Argument muss man in der Tat ernst nehmen. Mir
geht es sehr darum, dass die Nutzer und die Eigentümer
dieser Flächen die Regelung gut akzeptieren; denn das
ist die beste Voraussetzung dafür, dass sie sich damit
auch identifizieren.
({2})
Nach meiner Erfahrung war die Bestimmung der Gebiete in vielen Bundesländern nicht gerade ein Ruhmesblatt. Es gibt allerdings ein paar, die das positiv begleitet
haben. Wir müssen unsere Anstrengungen darauf richten, dass die Menschen, die in diesen Gebieten Land nutzen, das als etwas Wertvolles und Positives ansehen. Ich
glaube schon, dass die gestrige mühsame Kompromisssuche diesem Ziel dient.
Auf der anderen Seite möchte ich mich namens der
Unionsfraktion klar von denen abgrenzen, die immer
wieder versuchen, den Naturschutz als etwas nicht so
Wichtiges oder als etwas darzustellen, was die Leute nur
gängelt. Wir haben als Politiker im Bund und in den
Ländern die Aufgabe, Rahmenbedingungen zu schaffen,
die das Tun der Menschen auf der Fläche wertvoll machen und ihnen das Gefühl geben, dass sie mit diesem
Tun einen konkreten Beitrag zur Pflege des großen Netzes der europäischen Schutzgebiete leisten.
({3})
Frau Staatssekretärin Astrid Klug hat meiner Meinung nach sehr treffend gesagt, dass wir in Deutschland
unsere Hausaufgaben machen müssen. Das hat viel mit
gefühlsmäßiger Einstellung zu tun. Naturschutz ist etwas, was die Herzen der Menschen anspricht. Es ist
möglich, die Grundeigentümer davon zu überzeugen,
dass sie eine wertvolle Arbeit tun, wenn sie diese Flächen behutsam behandeln. Der Artenschutz ist vom konkreten Tun auf der Fläche abhängig.
Ich möchte nun auf ein Argument eingehen, das in
dem Änderungsantrag der FDP, über den wir heute ebenfalls abstimmen, niedergeschrieben ist. Die FDP ist der
Meinung, dass dann eingegriffen werden muss, wenn
eine Population in ihrem Bestand insgesamt gefährdet
ist. Wir, die Koalition, sind hingegen der Meinung, dass
bereits dann eingegriffen werden muss, wenn eine Population in ihrem räumlichen, also örtlichen Bestand gefährdet ist. Eine Population kann sich über ganz
Deutschland erstrecken. Es kann nicht sein, dass erst der
letzte Brachvogel ausgerottet und damit der gesamte Bestand erloschen sein muss -, bevor wir eingreifen. Der
räumliche Zusammenhang bezieht sich auf ein einzelnes
zusammenhängendes Gebiet. Ich denke, dass die Formulierung im Gesetzentwurf den tatsächlichen naturschutzfachlichen Erfordernissen voll entspricht.
Ich fasse zusammen. Mit dieser Novelle beschreiten
wir einen guten Weg, auf dem wir die umfassende Erneuerung des Naturschutzgesetzes im Rahmen des UGB
vollziehen können. Wir brauchen sinnvolle Kompromisse zwischen den Landnutzern und denen, die den Artenschutz verfolgen. Das Ziel ist letztlich, dass wir alle
Nutzer motivieren, durch ihre Nutzung den Artenschutz
selber zu stärken und das zu erhalten, was seit Generationen vorhanden ist.
Ich möchte daran erinnern, dass die europäische
Richtlinie von der Philosophie her immer auch eine Nutzung der Natura-2000-Gebiete beinhaltet. Das sind keine
Reservate, die den Menschen ausschließen, sondern sie
schließen den Menschen, der sie nachhaltig und naturverträglich nutzt, ausdrücklich ein. In diesem Sinne
komme ich auf den Anfangssatz zurück: Der ausgereifte
Kompromiss ist nach meiner Meinung doch ein guter
Weg, um Deutschland zu einem Land zu machen, in dem
die Mitgeschöpfe des Menschen ihren Raum haben.
({4})
Ich erteile dem Kollegen Lutz Heilmann das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Staatssekretärin, Sie haben ein gewaltiges Stück
Selbstkritik an dem Verfahren mit der Novelle geübt, die
wir heute hier debattieren. Sie haben auch eine beachtliche Rede gehalten; aber ich muss ehrlich sagen: Beachtliche Reden sind wir aus dem Hause Gabriel mittlerweile
gewöhnt. Nur bei den Taten, die folgen sollten, sieht es
dann weniger gut aus.
({0})
Wie gesagt: Was die Koalition in den letzten Monaten
in Sachen kleine Novelle zum Bundesnaturschutzgesetz
abgeliefert hat, war - vorsichtig ausgedrückt - eine
Posse. Sage und schreibe elf Monate brauchten Sie, um
einen Gesetzentwurf vorzulegen. Wenn es um Mehrwertsteuererhöhung, Rente mit 67 und andere große oder
auch kleine Schweinereien geht, sind Sie dagegen sehr
viel fixer. Dabei hat der EuGH gerade einmal vier Vorschriften des Bundesnaturschutzgesetzes gerügt; deswegen heißt es im Übrigen auch kleine Novelle. Dass Ihr
Gesetzentwurf nicht viel taugte, wurde auch durch das
Urteil des EuGH gegen Österreich im Frühjahr dieses
Jahres deutlich. Die Situation dort war vergleichbar, und
das Urteil gibt es Ihnen noch einmal schwarz auf weiß:
Ihr Gesetz ist Murks.
Aber das war leider noch nicht alles. Mit allen Mitteln
versuchten Sie, eine von meiner Fraktion geforderte Anhörung zu verhindern. Klammheimlich wollten Sie ein
Gesetz verabschieden, das von vornherein europarechtswidrig gewesen wäre. Wir sollten doch kein Vertragsverletzungsverfahren mit Strafzahlungen für Deutschland
riskieren, war Ihr Argument.
Es ist schon ein starkes Stück, die eigene Untätigkeit,
das eigene Unvermögen anderen unterschieben zu wollen. Aber auch das war noch zu toppen. Nach der Anhörung kam zum Vorschein, wie uneins die Koalition war.
Fortan ging es frei nach dem Motto: rin in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln, rauf auf die Tagesordnung,
wieder runter von der Tagesordnung. Deshalb war ich einigermaßen skeptisch, als ich letzte Woche erfuhr, dass
wir über die Novelle heute endlich abschließend beraten
sollen. Vernünftige Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, sieht anders aus.
({1})
Aber zurück zu Ihrem Gesetzentwurf. Ist er denn das
ganze Theater überhaupt wert? Genügt er den Anforderungen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes? Nein. Auch mit den Änderungsanträgen, die Sie
heute eingebracht haben, wird es kein gutes Gesetz.
Einige Beispiele hierfür:
Erstens. Nach dem Gesetzentwurf sollen nur erhebliche Störungen von Ruhestätten von Arten untersagt werden. Die Richtlinie fordert aber, jede Beschädigung oder
Vernichtung dieser Stätten zu unterlassen.
Zweitens. Nach Ihrem Gesetzentwurf sollen nur erhebliche Störungen örtlicher Populationen untersagt
werden. Die Richtlinie besagt aber, dass alle Maßnahmen, die der Aufrechterhaltung eines günstigen Erhaltungszustandes einer Art zuwiderlaufen, unzulässig sind.
Drittens. Nach Ihrem Gesetzentwurf werden Arten
erster und zweiter Klasse geschaffen. Können Sie mir
sagen, warum der Seefrosch weniger geschützt sein soll
als der Kammmolch?
({2})
- Das konnten Sie jetzt nicht erkennen? - Ich kann die
Bilder gerne noch einmal hochhalten. Auf dem einen
Bild ist ein Seefrosch zu sehen, welcher auf der Roten
Liste steht. Das zweite Bild zeigt einen Kammmolch.
Der wird durch die FFH-Richtlinie geschützt.
Angesichts dessen fordert die Fraktion Die Linke erstens die Schaffung verbindlicher Vorgaben für die nur
national geschützten Arten, dazu gehört der Seefrosch.
({3})
Es kann nämlich nicht sein, dass es Arten erster und
zweiter Klasse gibt.
Zweitens fordern wir verbindliche Rechtsgrundlagen
für ein umfangreiches staatliches Monitoring im Sinne
der FFH-Richtlinie für alle geschützten Arten.
({4})
Drittens fordern wir, sich eng an den klaren Begriffsbestimmungen der Richtlinie zu orientieren und keine
unbestimmten Rechtsbegriffe zu verwenden, um Rechtssicherheit zu gewährleisten und Vollzugsprobleme zu
vermeiden.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Nur mit den von
mir genannten Maßnahmen könnten wir den Anforderungen eines effektiven, guten Artenschutzes gerecht
werden.
({5})
Das wären wirksame Maßnahmen zum Schutz der Artenvielfalt. Damit wäre Deutschland Vorbild für alle
Länder, deren Vertreter im nächsten Jahr nach Deutschland kommen, um an der 9. Vertragsstaatenkonferenz der
Konvention zum Schutze der biologischen Vielfalt teilzunehmen.
Mit der Novelle schaffen wir das nicht. Mit der Novelle sind wir kein Vorbild. Deshalb wird die Linke diesen Gesetzentwurf ablehnen, und wir werden im Rahmen der UGB-Diskussion und im Zusammenhang mit
der großen Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes Sie
ganz einfach wieder daran erinnern.
Danke schön.
({6})
Jetzt hat nun endlich Kollegin Undine Kurth von
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Das Seltsame an unserer Debatte ist ja, dass wir uns kaum Neues mitzuteilen
haben; denn hier sind die beieinander, jedenfalls zum
großen Teil, die auch heute früh schon ihre Argumente
ausgetauscht haben. So sind Sie, Herr Präsident, einer
der ganz wenigen, die hier eine neue Debatte hören.
Auch wenn ich Ihre Zuhörerschaft sehr schätze, finde
ich das in höchstem Maße bedauerlich, weil das Bundesnaturschutzgesetz ein ausgesprochen ernsthaftes Thema
ist. Die einzigen Mittel, Naturschutz vernünftig zu realisieren, sind die nationale und internationale Rahmengesetzgebung und deren Vollzug. Wir haben nur diese beiden Instrumente in der Hand, um Naturschutz ernsthaft
nach vorne zu bringen.
({0})
Deshalb ist es ausgesprochen bedauerlich, dass wir einen Prozess hinter uns haben, der vielleicht zu einem
ausgewogenen oder ausgereiften Kompromiss im Sinne
der Koalition geführt hat, die Art jedoch, wie er entstanden ist, finden wir ausgesprochen bedenklich. Wenn man
sich ein Jahr Zeit lässt, um eine Auflage des Europäischen Gerichtshofes umzusetzen, und dann alle, die mit
darüber beraten sollen, unter Druck setzt, indem man
sagt: „Jetzt ist gar keine Zeit mehr; ihr müsst schnell entscheiden“, dann kann man doch nicht davon reden, man
sei ernsthaft um eine gemeinsame Lösung bemüht.
Erst das Urteil des Europäischen Gerichtshofes gegen
Österreich vom 10. Mai dieses Jahres hat Sie dazu gebracht, die Bedenken, die wir längst vorgetragen hatten,
ernst zu nehmen und Ihren eigenen, im Bundesrat bereits
verabschiedeten Gesetzentwurf nachzubessern.
({1})
Nun ist klug werden ja nicht schlimm, aber es zeigt
doch: Die Art des Umgangs mit diesem Thema war einfach falsch und bleibt in unseren Augen auch falsch. Es
ist ein Armutszeugnis für ein parlamentarisches Verfahren, wenn man die Debatte überhaupt nicht ernst nimmt.
Was soll denn zwischen einer Anhörung und einer Aussprache im Ausschuss heute früh und einer letzten Debatte heute Abend hier im Haus passieren? Da nimmt
sich das Parlament doch selbst nicht ernst. Das ist ein
Armutszeugnis für dieses Verfahren, es ist aber auch ein
Armutszeugnis in der Sache.
Wir waren beauftragt, die FFH-Konformität unseres
Naturschutzgesetzes herzustellen. In den Reihen der Koalition gab es offensichtlich so große Widerstände, dass
man diese Veränderung, diese Ein-zu-eins-Umsetzung,
durch die Absenkung anderer Standards erkauft hat. Dadurch wird das Naturschutzrecht nicht wirklich verbessert; das wissen Sie. Dieses Trauerspiel findet jetzt ein
Ende darin, dass Sie den Begriff, auf den Sie sich absolut
nicht einigen konnten, weglassen. Da Sie sich nicht einigen konnten in der Frage: „Was ist ein Projekt, das einer
Prüfung unterzogen werden muss?“, folgen Sie jetzt dem
Rat des EU-Kommissars Dimas, der gesagt hat: Ehe Sie
eine unmögliche Definition wählen, lassen Sie sie ganz
weg. - Das ist jetzt passiert, aber damit befinden wir uns
auch in der Situation, dass es keine verbindliche Festschreibung gibt. Letztendlich muss jetzt jede genehmigende Behörde in den Ländern zusehen, mit welcher Definition sie zurechtkommt.
Der nicht mehr vorhandene Projektbegriff ist in unseren Augen keine Lösung und keine Verbesserung. Wir
glauben auch, dass die von Ihnen in dieses Gesetz eingebaute Fristenlösung nicht wirklich weiterhilft.
({2})
Denn dem SRU-Gutachten konnten wir entnehmen, in
welch katastrophalem Zustand die Umweltverwaltungen
in der Bundesrepublik sind, weil sie jahrelang nicht ausreichend unterstützt worden sind.
Die Mängel an diesem Gesetzentwurf, die ich jetzt
nicht im Einzelnen aufzählen will, bleiben. Für mich ist
aber viel entscheidender, dass der Umgang mit diesem
Thema so bedenklich ist. Wir als Gastgeber der 9. Vertragsstaatenkonferenz der Konvention über biologische
Vielfalt müssen glaubwürdig sein, wie es heute Staatssekretär Müller sagte. Vorhin zitierte Frau Klug Bundesumweltminister Gabriel: Wir löschen die Festplatte
der Natur im nie gekannten Tempo. - Wenn dem so ist,
dann müssen wir handeln. Es nützt doch nichts, wenn
wir uns in die Tasche lügen.
({3})
Undine Kurth ({4})
Man kann sich nicht verpflichten, den Artenschwund
zu stoppen, und man kann ihn nicht ständig beklagen,
wenn man die Instrumente, die man zur Verhinderung
hat, aus der Hand gibt. Deshalb sind wir der Überzeugung, dass man Ihrem Entwurf leider nicht zustimmen
kann.
({5})
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich dem
Kollegen Dirk Becker, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe Herrn Heilmann vorhin versprochen, mich
heute mit seiner Rede nicht auseinanderzusetzen, was
ich sonst leider immer tun muss.
({0})
Dieses Versprechen habe ich aber zu voreilig gegeben.
Ich konnte nicht ahnen, dass das, was er heute sagte,
schlimmer als üblich war.
({1})
Deshalb muss ich kurz auf seine Ausführungen eingehen.
Sie sagen, was wir tun, sei alles Theater. Sie reden
von Arten erster und zweiter Klasse. Ich akzeptiere, dass
die Opposition in Gänze anderer Auffassung ist. Ich
nehme auch die von Ihnen tief empfundene Ungerechtigkeit an manchen Punkten ernst. Aber Sie sind nicht bereit, zumindest einige Punkte anzuerkennen. Beispielsweise hat Herr Lütkes heute Morgen im Ausschuss
erklärt, dass es hier um den Schutz europäischer Arten
geht. Wir sind nach einem Urteil des EuGH in einem
Verfahren, die FFH-Richtlinie in deutsches Recht umzusetzen. Da geht es nun einmal um den Schutz europäischer Arten.
Sie können noch so viele Bilder zeigen; wir alle wissen, dass nationale Arten kein Bestandteil in diesem Verfahren sind. Tun Sie also nicht so, als sei heute etwas
völlig Neues präsentiert worden. Sie versuchen mit Dingen, die nichts mit der Sache zu tun haben, Stimmung zu
machen. Das finde ich nicht in Ordnung.
({2})
Ich will einen kurzen Abriss geben. Die Staatssekretärin hat deutlich gemacht, dass wir auf ein Urteil reagieren müssen. Wir haben versucht, mit dem Entwurf des
Fachressorts im Rahmen eines langfristigen Verfahrens
- es gab eine Anhörung des Bundesrates, eine Sachverständigenanhörung und Änderungsanträge der Koalition -,
eine europarechtskonforme Ausgestaltung hinzubekommen. Ich bitte Sie, uns das abzunehmen. Dem Kollegen
Göppel und mir können Sie abzunehmen, dass wir und
auch die Vertreter des Ministeriums an diesem Punkt
wirklich hart gearbeitet haben.
({3})
Dass es aus einigen Richtungen Querschüsse gab,
nachdem das gesamte Verfahren eigentlich durch war
und nachdem wir uns nach der Sachverständigenanhörung in allen Punkten einig waren, war höchst ärgerlich.
Was nach dieser Einigung erfolgte, war kein Ruhmesblatt der Großen Koalition. Ich sage auch, an manchen
Stellen hatte ich große Bedenken, ob wir das noch fristgemäß schaffen. Ich gehe einmal positiv heran: Die Tatsache, dass wir die Kurve gerade noch gekriegt haben,
zeigt, dass wir handlungsfähig sind. Aber es sollte uns
ermahnen, dass wir im anstehenden Verfahren beim Umweltgesetzbuch von Anfang an eine gemeinsame Linie
finden und dass wir dafür Sorge tragen, dass das, was
Kollege Göppel ausgeführt hat, Realität wird. Wir müssen nämlich an der Stelle auch über den Schutz nationaler Arten sprechen. Das ist vom Ministerium heute angedeutet worden.
({4})
- Dies sind nicht zwei Klassen. Kennen Sie den Unterschied zwischen Bundesliga und Champions League? Es
gibt nationale und europäische Klassen. Da Sie nicht bereit sind, das zu akzeptieren, gebe ich auf.
Wichtig ist unter dem Strich - das darf man heute resümieren -: Wir haben das Ziel erreicht.
Ich will noch drei, vier Punkte ansprechen. Zum Projektbegriff ist genug gesagt worden. Fakt ist, Frau Kurth,
dass die jetzige Formulierung EU-rechtskonform ist.
Das werden Sie nicht bestreiten.
({5})
Damit haben wir das Ziel erreicht. Ich gebe zu, dass es
mit dieser Formulierung in der praktischen Anwendung
natürlich problematischer wird; das will ich überhaupt
nicht schönreden.
({6})
- Nein, heute nicht mehr. Es ist spät genug.
Über das Thema der national geschützten Arten ist
hinreichend diskutiert worden. Zu der Zulässigkeit von
Eingriffen und den Fragen der lokalen Population hat
Josef Göppel eben hinreichend Stellung genommen. Wir
haben aus guten Gründen den Begriff der „lokalen Population“ gewählt. Das Abstellen auf die lokale Population
als Absicht des Gesetzentwurfs und der europäischen
Regelung ist eine Umentwicklung weg vom Schutz des
Individuums hin zum Artenschutz. Ich glaube, dass wir
mit dieser kleinen Novelle die Grundlage schaffen, den
Artenschutz in Deutschland zu stärken, und damit eine
gute Grundlage für die weiteren Beratungen bei der Erstellung des Umweltgesetzbuches liefern.
Frau Brunkhorst, ich habe eben etwas erschrocken
aufgemerkt, als Sie sagten, wir seien nun auf FDP-Linie
eingeschwenkt. An dieser Stelle habe ich wirklich gedacht, wir hätten etwas falsch gemacht.
({7})
Aber ich habe noch einmal genauer hingeschaut: Ihre
Änderungsanträge machen deutlich, wohin Sie wollen.
Ihnen geht das alles zu weit. Sie wollen Rückschritte
beim Artenschutz durchsetzen. Bei Ihnen hat der Naturschutz immer noch einen nachrangigen Wert. Das wird
mit uns nicht zu machen sein. Von daher: Bitte bringen
Sie uns nicht in den Verdacht, auf Ihre Linie einzuschwenken.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes. Der Ausschuss
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/6780,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
16/5100 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu
liegen Änderungsanträge vor, über die wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/6781? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den
Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen der FDPFraktion abgelehnt.
Änderungsantrag der Fraktion der FDP auf
Drucksache 16/6782. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag der FDP? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen
der Linken und der Grünen bei Stimmenthaltung der
FDP angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in der
zweiten Beratung angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/
6783. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU und
SPD gegen die Stimmen der Linken und der Grünen bei
Enthaltung der FDP abgelehnt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen nun zu
einer Reihe von Tagesordnungspunkten, zu denen die
Redebeiträge zu Protokoll gegeben worden sind. Ich
kann also wieder eine längere Orgie von Verlesungen
vornehmen. Ich bitte Sie, mich aufmerksam zu begleiten.
Tagesordnungspunkt 10:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Antrag der Abgeord-
neten Thilo Hoppe, Jürgen Trittin, Dr. Reinhard
Loske, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Deutsch-brasilianischen Atomvertrag durch
Erneuerbare-Energien-Vertrag ersetzen
- Drucksachen 16/4426, 16/6038 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Joachim Pfeiffer
Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll
gegeben: Joachim Pfeiffer1), Gabriele Groneberg, Rolf
Hempelmann, Angelika Brunkhorst, Hans-Kurt Hill und
Jürgen Trittin.2)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel
„Deutsch-brasilianischen Atomvertrag durch Erneuer-
bare-Energien-Vertrag ersetzen“. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/6038, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 16/4426 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP ge-
gen die Stimmen der Linken und der Grünen angenom-
men.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b so-
wie die Zusatzpunkte 4 und 5 auf:
11 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung von Jugendfreiwilligendiensten
- Drucksache 16/6519 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Sportausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung
Bericht der Bundesregierung zu Prüfaufträ-
gen zur Zukunft der Freiwilligendienste, Aus-
bau der Jugendfreiwilligendienste und der
generationsübergreifenden Freiwilligendienste
1) Der Redebeitrag wird im Plenarprotokoll der 121. Sitzung abge-
druckt.
2) Anlage 21
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
als zivilgesellschaftlicher Generationenvertrag für Deutschland
- Drucksache 16/6145 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Sportausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hellmut
Königshaus, Dr. Karl Addicks, Sibylle Laurischk,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Jugendfreiwilligendienste in einem gemeinsamen Gesetzesrahmen zusammenfassen
- Drucksache 16/6769 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3})
Sportausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Britta Haßelmann, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Jugendfreiwilligendienste ausbauen und
Gesamtkonzeption entwickeln
- Drucksache 16/6771 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({4})
Sportausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Die Kollegen Thomas Dörflinger, Sönke Rix, Sibylle
Laurischk, Elke Reinke und Kai Gehring haben ihre Re-
den zu Protokoll gegeben.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/6519, 16/6145, 16/6769 und 16/6771
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 sowie Zusatzpunkt 6 auf:
12 Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Klaus Ernst, Lutz
Heilmann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines
Dritten Gesetzes zur Änderung des BundesBodenschutzgesetzes ({5})
- Drucksache 16/3017 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({6})
- Drucksache 16/4963 -
1) Anlage 22
Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrich Petzold
Detlef Müller ({7})
Eva Bulling-Schröter
Sylvia Kotting-Uhl
ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({8}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Angelika Brunkhorst,
Michael Kauch, Horst Meierhofer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Bodenschutzrahmenrichtlinie aktiv mitgestalten - Subsidiarität sichern, Verhältnismäßigkeit wahren
- Drucksachen 16/4736, 16/5757 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrich Petzold
Detlef Müller ({9})
Eva Bulling-Schröter
Sylvia Kotting-Uhl
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Re-
den zu Protokoll gegeben: Ulrich Petzold, Detlef Müller,
Angelika Brunkhorst, Eva Bulling-Schröter und
Cornelia Behm.2)
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktion Die Linke zur Änderung des Bundes-
Bodenschutzgesetzes. Der Ausschuss für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/4963, den Gesetz-
entwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3017
abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen der CDU/CSU und
der SPD gegen die Stimmen der Linken und der Grünen
bei Stimmenthaltung der FDP abgelehnt. Damit entfällt
nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Zusatzpunkt 6: Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu
dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Boden-
schutzrahmenrichtlinie aktiv mitgestalten - Subsidiarität
sichern, Verhältnismäßigkeit wahren“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/5757, den Antrag der Fraktion der FDP auf
Drucksache 16/4736 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Fraktionen des Hauses gegen die Stimmen der
FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Änderung des Strafgesetzbuches - Strafzu-
2) Anlage 23
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
messung bei Aufklärungs- und Präventionshilfe ({10})
- Drucksache 16/6268 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({11})
Innenausschuss
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Re-
den zu Protokoll gegeben: Siegfried Kauder, Joachim
Stünker, Jörg van Essen, Wolfgang Nešković, Hans-
Christian Ströbele und der Parlamentarische Staatssekre-
tär Alfred Hartenbach.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 16/6268 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? - Das ist offensichtlich nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({12}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm,
Alexander Bonde, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Programm „Energiewende in Gewächshäusern“ auflegen
- Drucksachen 16/5969, 16/6725 Berichterstattung:
Abgeordnete Johannes Röring
Waltraud Wolff ({13})
Dr. Edmund Peter Geisen
Cornelia Behm
Zu Protokoll gegeben haben Ihre Reden die Kollegen
Johannes Röring, Waltraud Wolff, Christel Happach-
Kasan, Kirsten Tackmann und Cornelia Behm.2)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Programm ‚Energiewende in Ge-
wächshäusern‘ auflegen“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/6725,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/5969 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen
der Grünen bei Enthaltung der Fraktionen Die Linke und
der FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 15:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gitta
Connemann, Dr. Hans Georg Faust, Annette
Widmann-Mauz, weiterer Abgeordneter und der
1) Anlage 24
2) Anlage 25
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Mechthild Rawert, Dr. Carola Reimann, Peter
Friedrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Missbräuche im Bereich der Schönheitsoperationen gezielt verhindern - Verbraucher umfassend schützen
- Drucksache 16/6779 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({14})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden die Kollegin-
nen und Kollegen Gitta Connemann, Mechthild Rawert,
Konrad Schily, Frank Spieth und Birgitt Bender.3)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/6779 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 16:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 26. Juli 2007 zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten
von Amerika über die Verarbeitung von Fluggastdatensätzen ({15}) und deren Übermittlung durch die Fluggesellschaften an das United States Department of Homeland Security ({16}) ({17})
- Drucksache 16/6750 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({18})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden Beatrix
Philipp, Wolfgang Gunkel, Ernst Burgbacher, Jan Korte,
Silke Stokar von Neuforn und der fraktionslose Abge-
ordnete Gert Winkelmeier.4)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/6750 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist offensichtlich
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zum letzten Tagesordnungspunkt, zu
Tagesordnungspunkt 17:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines
3) Anlage 26
4) Anlage 27
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Dritten Gesetzes zur Änderung des Zweiten
Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 16/6774 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({19})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden folgende
Kollegen: Karl Schiewerling, Jürgen Rohde, Katja
Kipping, Markus Kurth und der Parlamentarische Staats-
sekretär Gerd Andres.1)
1) Anlage 28
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/6774 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 25. Oktober 2007,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.
Ich wünsche einen freundlichen Abend und eine geruhsame Nachtruhe.