Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich. Ich wünsche uns einen guten Morgen und mindestens ähnlich gute Beratungen im Rahmen unserer
heutigen Tagesordnung.
Auf der Ehrentribüne hat der Parlamentspräsident
von Kanada, der Speaker des House of Commons,
Peter Milliken, mit seiner Delegation Platz genommen.
Ich begrüße Sie, lieber Peter Milliken, und Ihre Kolleginnen und Kollegen ganz herzlich hier im Deutschen
Bundestag.
({0})
Die seit vielen Jahren enge und freundschaftliche Bezie-
hung zwischen unseren Ländern wird auch in der Zu-
sammenarbeit unserer beiden Parlamente deutlich und
hat sich nicht zuletzt im Rahmen der G-8-Parlamentsprä-
sidenten-Treffen bewährt. Für Ihren Aufenthalt in Ber-
lin, den anschließenden Aufenthalt in Dresden und Ihr
weiteres parlamentarisches Wirken begleiten Sie unsere
besten Wünsche.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a und 27 b auf:
a) - Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan ({2}) unter Führung der NATO auf Grundlage
der Resolutionen 1386 ({3}) vom 20. Dezember
2001, 1413 ({4}) vom 23. Mai 2002, 1444 ({5})
vom 27. November 2002, 1510 ({6}) vom
13. Oktober 2003, 1563 ({7}) vom 17. September 2004, 1623 ({8}) vom 13. September 2005,
1707 ({9}) vom 12. September 2006 und 1776
({10}) vom 19. September 2007 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
- Drucksachen 16/6460, 16/6612 Berichterstattung:
Abgeordnete Eckart von Klaeden
Dr. Werner Hoyer
Kerstin Müller ({11})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({12})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/6633 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Lothar Mark
Jürgen Koppelin
Dr. Gesine Lötzsch
Alexander Bonde
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({13}) zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Paul Schäfer ({14}), Monika Knoche,
Hüseyin-Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE zu der Beratung des
Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan ({15}) unter Führung der NATO auf Grundlage
der Resolutionen 1386 ({16}) vom 20. Dezember
2001, 1413 ({17}) vom 23. Mai 2002, 1444 ({18})
vom 27. November 2002, 1510 ({19}) vom
13. Oktober 2003, 1563 ({20}) vom 17. September 2004, 1623 ({21}) vom 13. September 2005,
1707 ({22}) vom 12. September 2006 und 1776
({23}) vom 19. September 2007 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
- Drucksachen 16/6460, 16/6461, 16/6613 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernd Schmidbauer
Dr. Werner Hoyer
Kerstin Müller ({24})
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
Zu dem Antrag der Bundesregierung liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP sowie ein weiterer Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke und
zwei Entschließungsanträge der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen vor. Über die Beschlussempfehlung zum
Antrag der Bundesregierung werden wir am Ende dieser
Debatte namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so vereinbart.
Ich eröffne die Aussprache. Als Erster erhält das Wort
der Kollege Detlef Dzembritzki für die SPD-Fraktion. Ich stelle fest, dass Sie ein bisschen verblüfft sind. Aber
ich folge wie immer den Empfehlungen, die die Geschäftsführer - sicher mit guten Gründen - ausgehandelt
haben.
Bitte schön, Herr Dzembritzki, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
gibt bösere Überraschungen als die, als Erster am Freitag
im Bundestag zu sprechen.
Diese Debatte ist ernst, diese Debatte ist wichtig. Wir
Sozialdemokraten haben nach der Diskussion im
Herbst 2006 die Konsequenz gezogen, eine Taskforce,
eine Arbeitsgruppe, einzurichten, der Kollegen angehören, die Mitglied im Auswärtigen Ausschuss, im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, im Verteidigungsausschuss, im Ausschuss für
Menschenrechte und humanitäre Hilfe und im Innenausschuss sind. Diese Taskforce setzt sich mit den besonderen Herausforderungen auseinander, die sich für uns in
Afghanistan stellen. Wir haben uns in jeder Sitzungswoche getroffen und intensiv gearbeitet. Wir haben uns
bemüht, aufzuarbeiten, was in den zurückliegenden Jahren in Afghanistan geschehen war. Wir haben die
aktuelle Arbeit begleitet, und wir haben natürlich intensive Gespräche in Afghanistan, in Washington und in Ottawa geführt.
Ich freue mich sehr, dass der Parlamentspräsident Kanadas hier ist; denn gerade unsere kanadischen Freunde
sind in Afghanistan sehr aktiv und haben ein großes Opfer gebracht. Unser Respekt, unsere Dankbarkeit und unsere Anerkennung gelten insbesondere Ihrem Land, Ihren Menschen, die sich so solidarisch in Afghanistan
einbringen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Kernerkenntnis dieser Arbeit von zwölf Monaten und dieser Gespräche mit Kollegen auch aus anderen nationalen Parlamenten ist, dass wir in Afghanistan alle sehr eng
zusammenarbeiten und uns dort inhaltlich nichts trennt.
Wir haben allerdings festgestellt, dass wir noch entschieden besser werden können; das ist auch bei einer Konferenz vor wenigen Tagen gemeinsam mit der FriedrichEbert-Stiftung und der kanadischen Botschaft deutlich
geworden, einem „international round table“ mit Experten aus den Vereinigten Staaten, aus europäischen Ländern, mit Kollegen aus nationalen Parlamenten. Wir
können durch mehr Kooperation, durch mehr Abstimmung und durch die Mittel, die wir im personellen wie
im materiellen Bereich zur Verfügung stellen, eine größere Wirkung für die Menschen in Afghanistan erreichen. Viele fragen sich dort: Wo bleiben eigentlich die
Milliarden, die die internationale Gemeinschaft einbringt? Wo kommen sie bei den Menschen an? - Wir
müssen tatsächlich noch mehr dafür sorgen, dass sie die
Menschen in Afghanistan direkt erreichen.
({1})
Die internationale Gemeinschaft hat einige Instrumente geschaffen. Im Afghanistan Compact haben wir
die Vereinbarung, dass sich die politischen Direktoren
der Außenministerien mit der afghanischen Regierung
regelmäßig treffen. Hier muss sehr schnell geprüft werden, ob nicht durch intensivere Treffen, durch häufigere
Zusammenkünfte eine bessere Abstimmung im internationalen Bereich erreicht werden kann.
Wir haben aber auch sehr deutlich erfahren, dass die
Entscheidungen, die wir hier im Haus treffen, nicht nur
für die Bundeswehr, nicht nur für unsere Menschen im
Land von entscheidender Bedeutung sind, sondern immer auch in unmittelbarer Wirkung zu unseren Partnern,
zu den Mitakteuren in Afghanistan stehen. Alle Länder,
die in Afghanistan aktiv sind, achten auch darauf, wie
der Bundestag entscheidet. Deswegen ist es umso wichtiger, zu erreichen, über diese Jahresentscheidung hinaus
eine Verbindlichkeit für unser Handeln festzustellen. Die
Mitakteure in Afghanistan, aber auch die Menschen dort
sollen wissen, dass wir uns nicht nur von Jahr zu Jahr
einbringen, sondern für einen längeren Zeitraum zur
Verfügung stehen. Das Günstigste wäre, den Afghanistan Compact, der eine Wirkung für den Zeitraum von
2006 bis 2011 haben soll, dafür als Instrument zu nutzen,
um vom Bundestag aus zu signalisieren: Das ist unsere
Richtschnur; das ist unsere verbindliche Aussage an die
Kanadier, Niederländer, Australier und all die anderen,
die in Afghanistan aktiv sind. - Diese solidarische Geste
ist notwendig. Sie brächte ein Stückchen Sicherheit für
unsere Menschen, für unsere Soldaten, für unsere Entwicklungshelfer in Afghanistan und würde uns nicht so
verwundbar machen, wie wir es im Augenblick sind, indem durch kriminelle Maßnahmen der Versuch unternommen wird, unsere Entscheidungen hier im Land zu
beeinflussen.
({2})
Wir müssen uns aber auch noch einmal intensiv mit
den Feldern beschäftigen, die in besonderer Weise dafür
entscheidend sind, dass - der Einsatz der internationalen
Gemeinschaft ist die Grundlage unserer Arbeit in Afghanistan - die afghanischen Verantwortungsträger, Regierung und Parlament, befähigt werden, die Sicherheit in
Afghanistan herzustellen. Das heißt, wir müssen uns intensiv anschauen: Was geschieht eigentlich beim Polizeiaufbau? Was passiert beim Armeeaufbau? Was ist mit
der Justiz? Da muss insgesamt noch ein Stückchen mehr
Professionalität erreicht werden. Wir müssen den Bedarf
kennen; er wird bei der Polizei auf 60 000, beim Militär
auf 70 000 geschätzt. Bei der Justiz ist bisher verhältnismäßig wenig Konkretes formuliert, was alles geschaffen
werden müsste.
Wenn wir uns Polizei und Armee anschauen, dann
stellen wir fest, dass der errechnete Bedarf bei weitem
unterschritten wird. Ich bin der Regierung für den offenen Bericht, den sie vorgelegt hat, und das Konzept sehr
dankbar. Sie schreibt selbst, dass zum Beispiel von den
30 000 ausgebildeten Soldaten maximal 17 000 zur Verfügung stehen. Wir müssen uns Gedanken machen: Wo
sind die anderen geblieben? Wir brauchen eine weitaus
größere Kapazität. Dabei spielt die Frage von Bezahlung
und von Zuverlässigkeit eine Rolle. Aber wir müssen
auch wissen: Wie viel Kapazität brauchen wir, braucht
die internationale Gemeinschaft, um die Armee zu befähigen, die Aufgaben selbstständig zu übernehmen? Das
Gleiche gilt für die Polizei. Das Gleiche gilt für die Justiz. Dann müssen die entsprechenden materiellen und
personellen Ressourcen so zur Verfügung gestellt werden, dass eine Chance besteht, bis zum Jahr 2011 das
Ziel von Afghanistan Compact, dieser internationalen
Vereinbarung, zu erreichen.
({3})
Erreichen wir es nicht, dann wird es nicht möglich sein,
unser Engagement schrittweise zurückzunehmen. Im
Augenblick müssen wir unser Engagement verstärken,
um dieses Ziel zu erreichen.
({4})
Das ist die Botschaft, die aus diesem Haus hinausgehen
muss.
Ich will abschließend noch sagen, dass die Besuche
dort und die Gespräche mit afghanischen Kollegen immer wieder zeigen: Die Menschen in Afghanistan wollen
Frieden, wollen Sicherheit, wollen Entwicklung.
Schauen Sie sich zum Beispiel die Ausstellung des Verteidigungsministeriums an! Ich habe gerade eine Ausstellung im Goethe-Institut in Washington erlebt. Da war
ein Workshop junger Afghanen. „Nichts als Leben“ war
die Überschrift. Sie müssen sich die Bilder anschauen.
Sie müssen sich vergegenwärtigen, welchen kulturellen
Anspruch die Menschen haben, welchen Wunsch nach
friedlichem Zusammenleben diese Bilder widerspiegeln.
Sehr schön fand ich auch ein Theaterfestival vor einigen
Wochen in Kabul: ohne Schüsse, ohne kriminelle Taten.
Hunderte, Tausende von Menschen sind zusammengekommen, haben dieses Theaterfestival gefeiert.
Es wird immer davon gesprochen, dass wir Leuchttürme schaffen wollen. Dabei geht es nicht nur um die
schnelle Realisierung von Krankenhausbauten zum Beispiel in Masar oder von Schulen, sondern auch darum,
dabei zu helfen, dass solche kulturellen Möglichkeiten
wahrgenommen werden können. Ich erinnere mich an
die Nachkriegszeit in Berlin. Jedes Theater, jede Oper,
jede Ausstellung, die es in den Nachkriegsjahren in Berlin gab, wurde mit Freude und in einer besonderen Weise
wahrgenommen. In Kabul ist das sicherlich in gleicher
Weise möglich. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, vielleicht auch noch ein Leuchtturmprojekt „Nationaltheater in Kabul“.
In diesem Sinne viel Erfolg für unsere Arbeit!
({5})
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Guido
Westerwelle für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag wird
dem Antrag der Bundesregierung auf Verlängerung des
Einsatzes in Afghanistan zustimmen. Wir stimmen diesem Antrag deshalb zu, weil er nicht nur gedacht ist, um
Afghanistan zu helfen, sondern weil es auch um uns und
unsere eigenen Interessen geht. Es geht nicht nur um einen Akt der Solidarität mit dem afghanischen Volk, es
geht auch ganz handfest um unsere eigene Sicherheit
und unsere eigene Freiheit auf dem europäischen Kontinent. Wir tun das für Afghanistan und noch mehr für uns
selbst.
({0})
In dem Augenblick, in dem sich die friedliche Völkergemeinschaft und diejenigen, die in Afghanistan für
Freiheit kämpfen und eintreten, aus Afghanistan zurückziehen, in dem Augenblick - am Tag danach - wird Kabul wieder zur Hauptstadt des Terrorismus der Welt. All
denen, die sagen, es sei nichts erreicht worden, denen
möchte ich entgegnen: Das ist eine ungewöhnlich ignorante und törichte Betrachtung. Es ist unglaublich viel
erreicht worden:
({1})
Die Kinder können wieder zur Schule gehen. Mädchen
können zur Schule gehen. Frauen, die vergewaltigt worden sind, wurden früher gesteinigt. Jetzt haben sie wieder Chancen auf ein einigermaßen erträgliches Leben.
Ja, die Armut ist immer noch groß. Ja, es gibt Drogenhandel. Ja, es gibt Korruption. Aber all das ist im Vergleich zu den vorherigen Barbareien der Taliban gar
nichts, meine sehr geehrten Damen und Herren. Auch
das muss einmal gesagt werden.
({2})
Manche meinen ja, das alles sei nun Schnee von gestern. Welches barbarische Potenzial in diesen Talibanterroristen steckt, das hat eine kleine, in Europa wenig
beachtete, aber, wie ich finde, unglaublich grausame
Nachricht gezeigt, die in der letzten Woche veröffentlicht worden ist: Da wird im Süden Afghanistans
ein 15-jähriger Junge mit ein paar Dollar, die er in der
Tasche gehabt hat, um sein karges Leben vielleicht etwas
wohlhabender - so könnte man sagen - organisieren zu
können, von den Taliban erwischt und anschließend aufgehängt. Die Schlinge wird dann noch langsam hochgezogen, damit der Weg in den Tod möglichst lange dauert.
Ich möchte nicht - ich bin fest davon überzeugt, das
gilt auch für die große Mehrheit des Deutschen Bundestages und für die große Mehrheit unseres Volkes -, dass
so etwas quasi organisiert in Afghanistan wieder passieren kann.
({3})
Deswegen kann ich der Bundesregierung nur anempfehlen, dass sie die Überlegungen, die sie uns im Kanzleramt und auch an anderer Stelle vorgetragen hat, weiterhin anstellt.
Ich denke, dass wir um unserer selbst willen gar nicht
anders können, als dort Erfolg zu erzielen. All denjenigen, die meinen, der Erfolg sei ausgeschlossen, möchte
ich energisch widersprechen, auch vor dem Hintergrund
und den Eindrücken meiner gerade stattgefundenen
Reise mit vielen Gesprächen dortselbst. Ein Erfolg für
die friedliche Völkergemeinschaft in Afghanistan ist
möglich, wenn wir bereit sind, dafür auch etwas zu tun,
und zwar mehr und anderes, als bisher getan wurde. Es
reicht für den Aufbau von Polizeistrukturen nicht aus,
eine Handvoll Polizeibeamte nach Afghanistan zu schicken und ein paar Handschellen und ein paar Gummiknüppel mitzuliefern. Wenn wir jemals wieder aus Afghanistan herauswollen, müssen wir dafür sorgen, dass
dort eigene staatliche Strukturen entstehen. Dazu zählt
auch eine funktionierende Polizeistruktur. Das muss zu
einem Schwerpunkt unserer Arbeit werden.
({4})
Wenn man mit den Leuten beispielsweise in Kunduz
spricht - Sie haben während Ihrer Amtszeit als Verteidigungsminister ähnlich gesprochen und einem das auch
anempfohlen -,
({5})
und zwar nicht nur mit den Dorf- bzw. Stammesältesten,
sondern auch mit den vielen Entwicklungshelfern, dann
kann es dazu kommen, so wie es Kollegin Homburger,
Kollegen van Essen und mir passiert ist, dass man plötzlich zwei deutschen Polizeibeamten gegenübersteht und
- es war meine erste Reise nach Afghanistan - erzählt
bekommt, was alles nötig ist. Dabei bekommt man auch
eine Ahnung von der Größe und von den Entfernungen,
die überwunden werden müssen. Afghanistan ist ja doppelt so groß wie die Bundesrepublik Deutschland. Als
ich dann die beiden fragte: „Was machen Sie hier?“, bekam ich zur Antwort: „Wir bauen hier den Polizeiapparat auf“. Ich fragte: „Wer hilft Ihnen denn?“ Die Antwort
lautete: „Nein, nein, wir sind die beiden Einzigen“. Dabei haben sie, wenn sie innerhalb des von ihnen betreuten Gebietes von einem Ende zum anderen gelangen
wollen, Fahrzeiten von ungefähr elf Stunden zu überwinden. Dass zwei Polizeibeamte Polizeistrukturen in
der gesamten Region Kunduz/Tachar, für die sie zuständig sind, aufbauen, ist schlechterdings unmöglich.
Nun muss der Deutsche Bundestag meines Erachtens
nicht nur A, sondern auch B sagen. Ich sage es ganz klar:
Wir wollen Erfolg in Afghanistan. Das heißt aber auch:
Wir müssen Geld für den Polizeiaufbau in die Hand nehmen. Das sollten wir hier alle gemeinsam beschließen.
({6})
Ich möchte etwas an diejenigen gerichtet sagen, die
vor Ort für uns arbeiten. Ich glaube, nur wenn man einmal dort gewesen ist, bekommt man eine Ahnung davon,
unter welchen Bedingungen die Menschen arbeiten: diejenigen, die als zivile Helfer Schulen aufbauen oder als
Polizeibeamte tätig sind, und auch unsere Soldatinnen
und Soldaten. Das anzusprechen, ist für mich ein wichtiges Anliegen, weil ich persönlich erlebt habe, unter welchen Bedingungen unsere Soldatinnen und Soldaten und
die Entwicklungshelfer und Aufbauhelfer Dienst tun.
Damit die Soldatinnen und Soldaten, die Bürgerinnen
und Bürger, die dort für Deutschland arbeiten, nicht den
Eindruck bekommen, dieses Land stünde nicht hinter ihnen, sage ich hier für meine Fraktion - und ich glaube,
auch für einen großen Teil dieses Hauses -: Wir sind
dankbar für die Arbeit unserer Soldatinnen und Soldaten. Ich füge hinzu: Ich bin geradezu stolz auf die Arbeit
der Soldatinnen und Soldaten und all der Aufbauhelfer
in Afghanistan vor Ort. Deren Arbeit ist gefährlich und
nötig zugleich.
({7})
Ich möchte mit zwei kurzen Bemerkungen an diejenigen, die den Antrag heute ablehnen werden, schließen.
Ich respektiere es, wenn Kolleginnen und Kollegen aufgrund von Überlegungen zu einem anderen Ergebnis
kommen. Zwei Dinge respektiere ich allerdings nicht:
erstens das, was in der letzten Debatte gesagt worden ist
- Herr Kollege Gysi, ich glaube, Sie waren es, der das
hier eingebracht hat -, nämlich dass nur 2 Millionen
Mädchen wieder in der Schule seien und dass es viel
mehr sein müssten. Das empfinde ich, offen gestanden,
als zynisch; denn Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt.
({8})
Zweitens. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen der
Linksfraktion darum, damit aufzuhören, zu behaupten,
dieser Einsatz sei durch Recht und Gesetz nicht gedeckt. Dieser Einsatz entspricht Recht und Gesetz, dem
internationalen Völkerrecht und ausdrücklich auch unserem nationalen Verfassungsrecht.
({9})
Unsere Soldatinnen und Soldaten arbeiten dort auf der
Basis unserer Verfassung. Jede andere Behauptung ist
Polemik und dient in Wahrheit nur der Attacke.
Ich möchte an die Kolleginnen und Kollegen der Grünen ein Schlusswort richten.
({10})
Wenn Sie zu dem Ergebnis kommen, dass Sie der Sache
nach dem Antrag nicht zustimmen wollen, dann ist das
Ihr gutes Recht. Aber eines finde ich persönlich nicht akzeptabel: Wenn Sie der Meinung sind, dass dieser Einsatz richtig ist, dann müssen Sie heute als Abgeordnete
für dieses Mandat stimmen. Für den Einsatz zu sein,
aber, weil ein Parteitag anders entschieden hat, hier gegen das eigene Gewissen zu entscheiden, entspricht
nicht dem Auftrag, den Sie nach der Verfassung haben.
({11})
Ich hoffe sehr, dass es eine große Mehrheit für den
Antrag in diesem Hause gibt. Wir als Oppositionsfraktion werden den Regierungsfraktionen jedenfalls beistehen, wenn dieser Einsatz heute mit großer Mehrheit beschlossen wird.
Vielen Dank.
({12})
Nächster Redner ist der Kollege Eckart von Klaeden
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!
In Afghanistan geht es in der Tat zunächst um unsere eigene Sicherheit; das hat der Kollege Westerwelle gerade
in seiner Rede überzeugend dargestellt. Das machen die
Bilder vom 11. September 2001 deutlich, aber auch die
Tatsache, dass glücklicherweise und mit großem Aufwand und beeindruckender Leistung unserer Sicherheitsbehörden die Anschläge haben vereitelt werden können,
die in Pakistan und dann im Sauerland vorbereitet worden sind. Wenn wir uns heute die Lage in Pakistan anschauen, in den Tribal Areas, wo die Situation der in Afghanistan vor 9/11 vergleichbar ist, wird deutlich: Wenn
es nicht gelingt, Afghanistan zu stabilisieren, dann ist
auch jede Lösung für Pakistan unmöglich.
({0})
Afghanistan ist ein Land von enormer geopolitischer
Bedeutung.
({1})
- Sie haben mit Ihrem Hinweis, dass Afghanistan für uns
schon seit längerem eine enorme geopolitische Bedeutung hat, völlig recht; denn dass die Wiedervereinigung
in Freiheit und die Einigung Europas stattfinden konnten, hat auch wesentlich mit Afghanistan zu tun. Die demokratischen Kräfte in Kabul - unter ihnen der Verteidigungsminister Wardak - sagen deutlich, dass es in
Afghanistan Enttäuschung über den Westen gibt. Afghanistan hat mit dem Widerstand gegen die Okkupation
durch die Sowjetunion mit dafür gesorgt, dass die
Sowjetunion ihren Hegemonialanspruch in Mittel- und
Osteuropa nicht mehr aufrechterhalten konnte. Der
Kampf der Afghanen gegen diese Besatzung hat also
auch dazu geführt, dass die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit und die Einigung Europas möglich geworden sind.
Das heißt, unser Land hat wesentlich von dem profitiert, was die Afghanen in der Vergangenheit geleistet
haben. Aber danach hat der Westen dieses Land vergessen. Das ist ein Grund dafür, dass es zu 9/11 hat kommen
können. Die terroristischen Aktivitäten, die heute die Sicherheit unseres Landes bedrohen, entstammen dem
Umfeld Afghanistans. Deswegen ist dieses Land für uns
von so großer geopolitischer Bedeutung. Es liegt daher
in erster Linie in unserem eigenen Interesse, dass wir bei
der Stabilisierung dieses Landes erfolgreich sind.
({2})
Herr Kollege von Klaeden, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gehrcke?
Gern.
Herr Kollege von Klaeden, da Sie eben auf den afghanischen Widerstand gegen die sowjetische Besatzung
abgehoben haben, möchte ich Sie fragen: Würden Sie
mir recht geben, dass ein wesentlicher Teil dieses Widerstandes, den Sie eben gelobt haben, von den Taliban, einer von Pakistan und der CIA aufgebauten Widerstandsorganisation, geleistet worden ist?
({0})
Herr Westerwelle hat zu Recht die menschenverachtende Politik der Taliban kritisiert. Man sollte sich daher
in der Argumentation nicht auf die Taliban berufen.
({1})
Herr Kollege Gehrcke, ich danke Ihnen herzlich, dass
Sie mir die Gelegenheit geben, auf diese Frage zu antworten. Sie wiederholen die in Deutschland weit verbreitete, aber dennoch falsche Propaganda, dass die Taliban eine Folge der Handlungen der CIA gewesen seien.
({0})
In Wirklichkeit sind die Taliban eine fundamentalistische islamistische Bewegung, die sowohl aus Afghanistan als auch aus Pakistan kommt und die insbesondere
vom pakistanischen Geheimdienst unterstützt worden
ist. Die Amerikaner haben sich vor allem um die Unterstützung der Mudschahedin gekümmert.
({1})
Einer ihrer Repräsentanten ist der Verteidigungsminister
Wardak, der heute als Mitglied der afghanischen Regierung mit uns gemeinsam für mehr Sicherheit in diesem
Land sorgen will.
({2})
Ich finde es bemerkenswert, dass Sie diesen Punkt
hier ansprechen; denn Ihre Partei hat, was die Herausforderung hinsichtlich unserer Sicherheitslage und der Verteidigung unserer Freiheit angeht, in allen drei Phasen
versagt. Als es in der ersten Phase während des Kalten
Krieges darum ging, in der NATO mit unseren Verbündeten gemeinsam dafür zu sorgen, die Freiheit und die
Sicherheit Deutschlands und Westeuropas zu gewährleisten, hat Ihre Partei auf der anderen Seite gestanden.
({3})
Als es in der zweiten Phase der NATO-Politik darum
ging, die Freiheit nach Mittel- und Osteuropa auszudehnen, die Staaten dort zu stabilisieren und ihnen die Möglichkeit zu geben, Rechtsstaaten zu werden und die
Marktwirtschaft einzuführen, und als es darum ging, den
Massenmord in Jugoslawien zu verhindern, hat Ihre Partei auf der anderen Seite gestanden. Herr Gysi ist sogar
nach Jugoslawien gefahren und hat Milošević umarmt.
Jetzt, wo es in der dritten Phase darum geht, Gefahren
von unserem Land abzuwenden, die von Extremisten
ausgehen und die weit außerhalb unserer Grenzen entstehen, steht Ihre Partei wieder auf der anderen Seite.
({4})
Als der Kollege von Herrn Blechschmidt - er ist glücklicherweise freigekommen - ermordet worden ist, war uns
allen bekannt, dass diese Tat keinen politischen, sondern
einen kriminellen Hintergrund hatte. Trotzdem hat Ihr
Fraktionsvorsitzender Gysi genauso wie die Taliban dieses feige Verbrechen zum Anlass genommen, zum Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan aufzurufen.
({5})
Damit hat er sich auf die Propaganda der Taliban eingelassen, die die Diskussion bei uns sehr genau beobachten
und versuchen, durch Anschläge - auch in den letzten
Tagen - die Entscheidung dieses Parlaments zu beeinflussen. Sie müssen sich einmal fragen, auf welcher
Seite Sie stehen.
({6})
In Afghanistan wegen seiner besonderen geopolitischen Bedeutung für Freiheit und Stabilität zu sorgen, ist
eine Aufgabe, die sich die freie Welt gemeinsam gestellt
hat. Deswegen will ich hier einmal darauf hinweisen,
dass das Ganze kein Engagement der Bundesrepublik
Deutschland allein ist, sondern sich 26 NATO-Staaten
im Bündnis gemeinsam in Afghanistan engagieren und
sich neben diesen 26 NATO-Staaten weitere 11 Staaten,
die nicht Mitglied der NATO sind, in Afghanistan beteiligen, um dort für Freiheit, Sicherheit und Stabilität zu
sorgen. Dazu gehören Länder wie Australien, Neuseeland, Österreich oder Schweden. All diese Länder könnten, wenn sie dem hier häufig gegen den AfghanistanEinsatz vorgetragenen Argument, Afghanistan sei doch
so weit weg, folgen würden, mit guten Gründen sagen,
dass sie sich nicht beteiligen. Diese Länder haben aber
erkannt, dass es für ihre eigene Sicherheit, aber auch für
die Glaubwürdigkeit der freien Welt erforderlich ist, ein
Land wie Afghanistan nicht wieder im Stich zu lassen.
Die Extremisten in der islamischen Welt versuchen
- das gilt für die Propaganda, die in Moscheen bei uns
oder in Zentralasien verbreitet wird -, die Auseinandersetzung immer als eine Auseinandersetzung zwischen
Morgenland und Abendland, zwischen Islam und Christentum darzustellen. Wenn wir uns auf eine solche Argumentation einlassen würden, wären wir schon auf die
Propaganda dieser Extremisten hereingefallen.
({7})
Es geht in Wirklichkeit darum, die moderaten Kräfte, die
demokratisch gesinnten Kräfte, die rechtsstaatlich gesinnten Kräfte in der islamischen Welt zu stärken und
mit ihnen gemeinsam die Extremisten zu isolieren und
zu bekämpfen. Darum geht es auch in Afghanistan.
In der Debatte in Deutschland hört man immer wieder
das Argument, da die Sowjetunion gescheitert sei, habe
auch die NATO keine Chance, in Afghanistan erfolgreich zu sein. Man muss sich immer wieder vor Augen
führen, dass wir nicht die Sowjetunion sind. Wir sind
nicht dort, um das Land zu okkupieren. Wir sind dort,
um die demokratisch gewählte Regierung zu unterstützen.
({8})
- Ich kann verstehen, dass Sie den Zeiten der Sowjetunion nachtrauern. - Deswegen ist es so, dass heute nach
wie vor über 80 Prozent der Menschen in Afghanistan
unser Engagement unterstützen und uns auffordern, im
Land zu bleiben.
Führen wir uns einmal vor Augen, welch beeindruckende Persönlichkeiten sich in Afghanistan für die Zukunft ihres Landes engagieren. Ich erinnere an Professor
Ashraf, ein Exilafghane, der in Karlsruhe Professor für
Bergbau war und eine Aufgabe in seinem Land übernommen hat. Er ist übrigens CDU-Mitglied. Ich erinnere
ferner an den Außenminister Spanta von den Grünen,
der 20 Jahre lang als politischer Flüchtling in Aachen
lebte, dort an der Universität gearbeitet hat und dann die
schwierige Aufgabe, den Aufbau seines Landes zu unterstützen, übernommen hat. Diese Menschen sorgen gemeinsam dafür, dass das Land nach und nach an Stabilität gewinnt. Diese beeindruckenden Persönlichkeiten
und alle anderen Menschen, die sich für den Aufbau ihres Landes einsetzen, dürfen wir nicht im Stich lassen,
wenn wir in der internationalen Politik unsere Glaubwürdigkeit nicht verlieren wollen.
({9})
Der Kollege Dzembritzki hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es in Afghanistan beeindruckende Fortschritte gibt. Auch der Kollege Westerwelle hat die beeindruckende Anzahl von Schulen genannt und über
Kinder gesprochen, die wieder den Unterricht besuchen
können.
Aber selbst bei den schwierigen Kapiteln, zum Beispiel beim Drogenanbau, gibt es bemerkenswerte Fortschritte.
({10})
Wir müssen zwar konstatieren, dass der Drogenanbau
auch in diesem Jahr wieder zugenommen hat;
({11})
gleichzeitig hat aber auch die Anzahl der Provinzen in
Afghanistan zugenommen, die mittlerweile drogenfrei
sind. Sie hat sich von 6 auf 13 Provinzen mehr als verdoppelt. Es gibt aber nach wie vor 21 Provinzen, in denen Drogen angebaut werden, in denen der Drogenanbau
sogar wesentlich zugenommen hat. Wenn man aber die
Provinzen, in denen der Drogenanbau abgenommen hat,
die heute als drogenfrei gelten können, mit den Provinzen vergleicht, in denen Sicherheit herrscht oder in denen sich die Sicherheitslage wesentlich verbessert hat,
dann findet man heraus, dass auch zur Bekämpfung des
Drogenanbaus der Aufbau von Sicherheit der entscheidende Schlüssel ist. Deswegen sorgen diejenigen, die
den Drogenanbau als Argument für den Rückzug verwenden, nur dafür, dass der Drogenanbau in ganz Afghanistan wieder zunimmt. Die Sicherheit in Afghanistan ist der Schlüssel zur Bekämpfung des Drogenanbaus.
({12})
Wir dürfen nicht wackeln, weil wir damit das Vertrauen derjenigen zerstören oder beeinträchtigen, die
sich in Afghanistan um den Aufbau ihres eigenen Landes bemühen. Wenn wir wackeln, wenn wir den Eindruck erwecken, dass die Aufgabe nicht zu meistern sei
- Kollege Westerwelle hat zu Recht darauf hingewiesen,
dass das falsch ist -, dass die größte Gefahr für Afghanistan nicht die schwierige Aufgabe selbst, sondern unsere eigene Halbherzigkeit ist, wenn wir den Eindruck
erwecken, dass wir uns aus Afghanistan, ohne die Aufgabe erfüllt zu haben, verabschieden wollen, dann werden wir diejenigen stärken oder werden dafür sorgen,
dass die Zahl derjenigen zunimmt, die man im NATODeutsch Fence-Sitters nennt. Das sind diejenigen, die
von einem imaginären Zaun die Entwicklung ihres Landes beobachten und sich sagen: Wir sind zwar nicht für
die Taliban, aber wenn die internationale Gemeinschaft
irgendwann einmal abzieht, und die Aufgabe ist nicht erfüllt, dann werden die Taliban zurückkommen. Deswegen wäre es jetzt für mich, weil ich das Land nicht verlassen kann, falsch, mich am Aufbau zu beteiligen. Ich
muss mich dann vielmehr auf eine Situation einstellen,
in der ich mich später einmal mit den Taliban wieder arrangieren kann.
Deswegen sorgen Wackeln, Zögern und fehlendes Engagement dafür, dass wir die Voraussetzung für unseren
eigenen Erfolg unterminieren. Deswegen darf es an unserem Engagement keinen Zweifel geben. Das gilt für
die ISAF-Debatte, aber insbesondere auch für den zivilen Aufbau. Wir müssen uns darauf einstellen, dass für
den Erfolg in Afghanistan auch im nächsten Jahr deutlich mehr getan werden muss.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Dr. Lothar Bisky ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Spiegel der vergangenen Woche lesen wir über das Kommando Spezialkräfte, KSK, in Afghanistan. Ich zitiere:
Im Verteidigungsausschuss … erfahren von den
Abgründen gerade einmal ein paar Dutzend der insgesamt 613 Bundestagsabgeordneten, die schon
bald über die Fortsetzung der Isaf und OEF-Mandate entscheiden müssen und damit auch über künftige Einsätze des KSK am Hindukusch.
Sie werden die Entscheidung auf der Basis von viel
Vertrauen und wenig Wissen treffen müssen.
({0})
Klar, Spiegel-Leser sollten eigentlich mehr wissen.
Dennoch frage ich mich, ob ich genug weiß, um eine
Entscheidung wissend fällen zu können, zumal ich nicht
automatisch - das werden Sie einsehen - Vertrauen in
die Regierung der Großen Koalition entwickeln kann.
Mein Vertrauen wird nicht größer, wenn ich mir ansehe,
dass der Herr Außenminister in seiner Rede zur ersten
Lesung sagte:
... in dieser Situation ist es notwendig, dass wir neben dem zivilen Engagement … auch unser militärisches Engagement aufrechterhalten.
Nun ist es nicht dem Außenminister anzulasten - das
will ich ausdrücklich sagen -, dass ich der Einsicht in die
Notwendigkeit vor längerer Zeit gelegentlich zu einfältig
Folge geleistet habe und deshalb gelernt habe, gründlich
nachzufragen. Deshalb frage ich heute nach den Erfahrungen der zivilen Kräfte und der Bundeswehr in Afghanistan. Ich will da keine Schwarz-Weiß-Malerei üben.
Da ist Positives zu berichten. Ich denke an Schulen, an
die Situation der Frauen, an Unterstützung humanitärer
Art und an Hilfe beim demokratischen Aufbau des Landes.
Zugleich dürfen wir nicht übersehen, dass nach sechsjährigem Engagement die Gewalt in Afghanistan wieder
deutlich zunimmt. Kurz: Die Ergebnisse sind widersprüchlich. Deshalb muss ich gründlicher prüfen, was
eine Verlängerung des Mandats bringen könnte.
({1})
In der Beantwortung dieser Frage unterscheidet uns
Folgendes grundlegend: Die Regierung meint, sie würde
mithilfe des Militärs den Terrorismus bekämpfen können.
Wir von der Linken sagen: Im Ergebnis des militärischen
Engagements ist der Terrorismus nicht entscheidend geschwächt worden. Tatsächlich stärken militärische Aktionen häufig Hass, in dessen Gefolge wieder terroristische Aktionen wachsen.
Wir bewerten also die gleichen Ereignisse und Prozesse unterschiedlich, auch wenn die Linke sich von terroristischen Anschlägen genauso distanziert, wie Sie es
tun, meine Damen und Herren.
({2})
- Ja, wir sind da unterschiedlicher Meinung: Sie sagen,
mit Militär, ich sage das nicht.
Herr von Klaeden, ich will eine Anmerkung machen.
Der Versuch, Herrn Gysi in irgendeine Nähe zu den Taliban zu schieben, ist völlig abwegig, und ich weise das
entschieden zurück.
({3})
Ich will Ihnen jetzt erläutern, warum ich von dem von
Ihnen in Aussicht gestellten Erfolg nicht überzeugt bin.
Nach unserer Analyse der Situation in Afghanistan ist
die UN-mandatierte und NATO-geführte Mission ISAF,
an ihren eigenen und nicht an irgendwelchen anderen
Zielen gemessen, gescheitert. Warum?
({4})
Was wir als Taliban bezeichnen, sind ja keine Fremdkörper in Afghanistan. Vielmehr handelt es sich bei ihnen um eine politische islamistische Gruppierung mit einem menschenverachtenden Weltbild. Aber - das ist
entscheidend - die Taliban rekrutieren sich aus den Völkern Afghanistans, vor allem den Paschtunen; sie werden dort anders wahrgenommen als im fernen Europa,
habe ich bei Scholl-Latour und anderen nachlesen können.
({5})
- Ja, man darf ja noch Bücher lesen.
({6})
Damit ist ganz offensichtlich eine gewisse Verankerung
in der afghanischen Gesellschaft gegeben, ob uns das gefällt oder nicht; dies ist nur eine Tatsachenbeschreibung.
Der Versuch, vielschichtige Wirklichkeiten auf ein einfaches Schwarz-Weiß-Bild zu reduzieren und dementsprechend politisch und militärisch zu handeln, muss Schiffbruch erleiden.
Aus diesen Gründen ist angesichts der komplexen
Konfliktsituation in Afghanistan Skepsis angebracht:
Die Politik der USA, nach der der Feind unseres Feindes
unser Freund ist, wurde in Afghanistan seit 1979 mit
dem Resultat praktiziert, dass die vermeintlichen
Freunde, die Mudschahedin, letztlich zum Nährboden
des Islamismus und Terrorismus wurden.
Ende 2001 praktizierten die USA diese Politik erneut:
Die unbotmäßigen Taliban wurden mithilfe anderer
Kriegsherren gestürzt, die gerne als moderate Islamisten
bezeichnet werden. Dazu möchte ich - mit Ihrer Genehmigung, Herr Präsident - Frau Malalai Joya, Abgeordnete des afghanischen Parlaments, zitieren:
... sechs Jahre nach den Angriffen auf Afghanistan
unter der Führung der USA liegt unser verwüstetes
Land noch immer in den Ketten der fundamentalistischen Warlords. Die Regierung Bush übergab die
Macht an Menschen, die sich in der Vergangenheit
als Mörder und Plünderer bewährt haben und genauso finster, böse und grausam wie die Taliban
sind.
({7})
Ich zitiere sie weiter:
Die westlichen Medien sprechen über Demokratie
und die Befreiung Afghanistans, aber die USA und
ihre Verbündeten fördern Warlords, Kriminalisierung und Drogenbarone in unserem … Land und
haben durch ihre massiven Militäroperationen bisher Tausende unschuldiger Zivilisten getötet, ohne
in ihrem Krieg gegen die brutalen Taliban wesentliche Fortschritte zu erzielen.
Dennoch tut die Bundesregierung so, als ob die ISAFMission Fortschritte erziele. Aber: ISAF mutiert von der
ursprünglichen Schutztruppe immer mehr zur Kampftruppe im Sinne der OEF. Das ist die Wirklichkeit,
({8})
und dies wird durch den deutschen Tornadoeinsatz auch
noch weiter befördert. Dies lehnen wir Linken entschieden ab.
({9})
Meine Damen und Herren, die ISAF-Mission läuft
aus dem Ruder. Wer die deutsche Beteiligung an dieser
Mission fortsetzen will, unterstützt die militärische Eskalationsstrategie der NATO. Dazu sagen wir entschieden Nein;
({10})
wir erwarten von der Regierung eine Exit-Strategie.
Schon in der Vergangenheit hat die Bundesregierung jeden Eskalationsschritt der NATO mitgetragen: von der
geografischen Ausweitung des ISAF-Mandats bis hin
zur Verlegung der Aufklärungstornados.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist offensichtlich:
Wer glaubt, dass die Beteiligung an ISAF und OEF auf
die militärische Vorgehensweise der Verbündeten einen
mäßigenden Einfluss hat, irrt. Im Gegenteil: Obschon
die Bundeswehr an allen Planungen und Durchführungen von ISAF und NATO beteiligt ist, ist der Strategiewechsel hin zu mehr ziviler Aufbauhilfe ausgeblieben.
({11})
Damit macht sich Deutschland an der humanitären Katastrophe mitschuldig.
Die Linke fordert einen sofortigen Strategiewechsel.
Damit stehen wir nicht allein. VENRO, der Verband Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen, dem über 100 kirchliche und private NGOs angehören, forderte Anfang dieser Woche eine neue Strategie
für Afghanistan. Ähnlich wie VENRO sind auch wir für
einen Strategiewechsel, obwohl wir, damit ich nicht
falsch verstanden werde, nicht alles gleich beurteilen.
Wir sind entschieden dafür, das Militär in seine Schranken zu weisen. Ähnlich wie VENRO sind auch wir für
eine strikte Trennung militärischer und ziviler Projekte.
Herr Kollege Bisky, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Nachtwei?
Ja, bitte.
Herr Kollege Bisky, Sie haben gerade die interessante
und bemerkenswerte Stellungnahme von VENRO angesprochen und sich der richtigen Forderung nach einem
Strategiewechsel angeschlossen. Haben Sie zur Kenntnis
genommen, dass VENRO wie auch Caritas international,
medico international und andere gleichzeitig festgestellt
hat, die Forderung nach einem Strategiewechsel ändere
nichts daran, dass ISAF weiterhin unverzichtbar ist?
({0})
Herr Nachtwei, das habe ich nicht in Abrede gestellt.
({0})
- Nein. - Ich habe nur gesagt: VENRO fordert einen
Strategiewechsel.
({1})
Das ist wahr, und das können Sie nachlesen. Ich habe erwähnt, dass wir zu anderen Schlussfolgerungen kommen.
({2})
Bei VENRO gibt es viele, die weiterhin die militärische
Unterstützung im Rahmen von ISAF wollen. Wir sagen
dazu Nein. Das ist ein Unterschied.
({3})
Einen Strategiewechsel wollen wir alle. Ich habe das ja
jetzt dank Ihrer Frage, Herr Nachtwei, eindeutig klarstellen können.
({4})
Wie ich sehe, können auch wir einer Meinung sein. Das,
was VENRO fordert, ist nicht unsere Position. Ich will
VENRO nicht instrumentalisieren. Dieser Verband will
auch uns nicht instrumentalisieren. Das ist korrekt.
Meine Damen und Herren, wir wollen weg von der
militärischen Besetzung und hin zur ausschließlich zivilen Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft. Wir sagen: Es gilt, jenseits militärischer Mittel
den Auf- und Ausbau einer zivilen Infrastruktur und die
Teilhabe aller Menschen in Afghanistan an politischen
Entscheidungen zu befördern. Diese Unterstützung kann
nur zivil geleistet werden. Das bisherige zivile Engagement der internationalen Staatengemeinschaft für
Afghanistan ist ungenügend. Daraus ziehen wir die richtigen Konsequenzen. Wir unterstützen Bestrebungen,
um in Afghanistan zu einem Waffenstillstand zu kommen,
({5})
wir wollen den dortigen Drogenhandel bekämpfen, und
wir wollen die Afghan Ownership mit allen zivilen Maßnahmen, die möglich sind, weiterentwickeln.
Angesichts der fortgeschrittenen Zeit komme ich zum
Schluss. Meine Damen und Herren, der gute Zweck heiligt auch in Afghanistan keine militärischen Mittel, sie
diskreditieren ihn eher.
({6})
Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben nach Ihrem Treffen mit
dem südafrikanischen Friedensnobelpreisträger Nelson
Mandela gesagt - ich zitiere -:
Wir brauchen Frieden auf der Welt, und insbesondere die Konflikte in Afrika müssen friedlich gelöst
werden.
Sie bemerkten völlig zu Recht, Mandelas Beispiel habe
gezeigt, dass Gewaltlosigkeit am Ende der bessere Weg
sei. Dies sollte sich die Welt zu Herzen nehmen.
({7})
Wir tun es, Frau Dr. Merkel, und deshalb sagt die Linke
eindeutig Nein zur Verlängerung des Mandats.
Vielen Dank.
({8})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun
die Kollegin Renate Künast.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine
Fraktion ist mehrheitlich davon überzeugt, dass eine
weitere Beteiligung Deutschlands an ISAF nötig ist. Wir
sind davon überzeugt, dass ISAF in Afghanistan, in dieser Region nötig ist. Aber wir sind gleichermaßen besorgt, dass die bisherige, halbherzige Politik insgesamt
den Problemen in Afghanistan nicht gerecht wird.
({0})
Ich stehe hier und sage Ihnen: Wir können dieser
Bundesregierung bei der heutigen Abstimmung über
ISAF inklusive der Tornado-Einsätze nicht einfach Prokura geben für ein Weiter-so, weil wir in tiefer Sorge
über das Missverhältnis zwischen dem Militärischen
und dem Zivilen sind. Genau das werden wir bei der
heutigen Abstimmung zum Ausdruck bringen.
({1})
Wir haben darüber eine durchaus lange Debatte geführt - wie wir Grünen so sind. Wir zeigen das transparent und öffentlich, sodass Sie sich gerne daran delektieren können. Ich sage Ihnen: Wir haben es uns nicht
einfach gemacht. Wir wissen um unsere Verantwortung
als Fraktion. Wir haben uns lange Jahre mit Afghanistan
beschäftigt. Wir haben - darauf sind wir stolz - den
Petersberg-Prozess mit angeschoben und darauf hingewiesen, dass man auch einen zivil-militärischen Ansatz
erst entwickeln muss. Der Petersberg-Prozess war wichtig, um tatsächlich eine verfassunggebende Versammlung zu bekommen. Aber auch die anderen Schritte zur
Strukturierung des zivilen Aufbaus sind wichtig. An dieser Stelle stehen wir alle miteinander, steht die internationale Staatengemeinschaft allenfalls am Anfang.
({2})
Wir haben es uns nicht einfach gemacht; Sie wissen
um unseren Parteitag. Wir sitzen hier heute als Grüne
mit diesem Parteitagsbeschluss, wir sitzen hier aber auch
auf der Basis des Grundgesetzes, das uns sagt, wir sind
an Aufträge und Weisungen nicht gebunden. Wir sitzen
hier und sagen Ihnen ganz klar: Wir wollen Afghanistan
in seiner weiteren Entwicklung unterstützen. Deshalb
haben wir heute zwei Anträge eingebracht, die darauf
abzielen. Es darf hier nicht nur um das Militärische gehen, es muss auch darum gehen, was jetzt zivil in Afghanistan zu tun ist.
({3})
Ich denke, wir haben mit einigen in diesem Hause einen Konsens über die Problemanalyse. Wir wissen alle:
Militärisch ist der Aufstand dort nicht zu besiegen. Niemand sollte glauben, dass man militärisch siegen könnte.
Die internationale Staatengemeinschaft muss sich auch
zivil engagieren, und wir müssen die Eigenverantwortung Afghanistans stärken, insbesondere durch Strukturen im Sicherheitsbereich. Die Bundesregierung ist unseres Erachtens nicht hinreichend gewillt, die Konsequenzen zu ziehen, um auf allen Seiten - beim Militär,
bei den Entwicklungshelfern, bei der afghanischen Regierung - den Strategiewechsel einzuleiten. Diese Bundesregierung müsste die Kraft sein, die das international
antreibt. Es darf kein Weiter-so geben. Es muss ein Land
diese Veränderung der Praxis antreiben. Das müsste
diese Bundesregierung tun.
({4})
Ich höre hier aber auch heute noch viel zu viele
Durchhalteparolen. Wir alle wissen um das enge Zeitfenster. Ich sage aber an Herrn Bisky und seine Fraktion
gerichtet: Auch Ihre Abzugsparolen werden dem Ganzen
nicht gerecht. Sie müssen sich auch mit der Frage auseinandersetzen, was die Afghaninnen und Afghanen vor
Ort sagen. Wir hören jetzt - ich finde, das ist ein großer
Ausdruck von Respekt -, dass eine Schule im Norden
Afghanistans nach Michael Diebel benannt worden ist,
einem deutschen Soldaten, der dort im Mai umgebracht
wurde. Das drückt etwas aus, nämlich Respekt. Das ist
eine Schule, auf die Afghanen gehen. Sie wollen, dass
diese Schule so heißt. Was heißt das denn? Das passt
doch gar nicht zu den Argumenten von der Linken.
Mir passt auch nicht die Art und Weise - das kann ich
Ihnen auch von vielen weiblichen Abgeordneten aus Kabul mitteilen -, wie Sie die Abgeordnete Malalai Joya
hier als Kronzeugin anbieten.
({5})
Das löst gerade bei den weiblichen Abgeordneten in Afghanistan tiefes Entsetzen aus.
({6})
Sie sind entsetzt darüber, was diese Frau hier zum Besten gibt.
Die weiblichen Abgeordneten in Kabul sagen - daran
erkennen Sie schon, dass sich etwas verändert haben
muss -: Wir sind noch lange nicht dort, wo wir hinwollen; aber Steinigungen und den Zustand, dass überhaupt
niemand zur Schule gehen kann, gibt es nicht mehr. Deshalb haben sie ein Problem mit Malalai Joya, die
sich auch vor Ort selber ins Off katapultiert hat, indem
sie das Parlament als Stall beschimpft hat, in dem Esel
und Hunde sitzen. Machen Sie das einmal, einen Muslimen als Hund bezeichnen. Sie wissen, dass Sie dann jeRenate Künast
den Gesprächsfaden an dieser Stelle abgeschnitten haben.
({7})
Ich glaube, Sie haben eine zweifelhafte Kronzeugin hinsichtlich der Situation in Afghanistan und des Willens
nach Veränderung.
({8})
Ich will an dieser Stelle auf die Bundesregierung zurückkommen. Wir brauchen vor Ort in Afghanistan eine
Veränderung und hier in Deutschland eine breitere Debatte. Frau Bundeskanzlerin, deshalb haben wir hier
zwei Anträge eingebracht. Mit dem einen werden Sie,
Frau Merkel, aufgefordert, Ihrer Pflicht als Regierungschefin nachzukommen und nach Afghanistan zu reisen.
Ich glaube, dass dies die vornehmste Pflicht jedes Regierungschefs und jeder Regierungschefin ist - aus Respekt
vor den Polizeibeamten, Soldaten und Entwicklungshelfern, die dort eingesetzt sind, und um sich vor Ort selbst
ein Bild über die Situation zu machen. Ich meine, Sie
sollten sich vor Ort darüber informieren - so wie es viele
Abgeordnete schon getan haben -, welche Schäden
durch den OEF-Einsatz für den weiteren Friedensprozess dort verursacht wurden, unter welchen Umständen
die Soldaten ihren Dienst dort verrichten müssen und
was jetzt im zivilen Bereich getan werden muss.
Frau Kollegin, ich wollte nur vorsichtig fragen, ob Sie
eine Zwischenfrage der Kollegin Hänsel zulassen wollen.
Nein.
({0})
- Wir leben in einem freien Land. Selbst Abgeordnete
dürfen Ihre Zwischenfragen einmal nicht zulassen. Damit können Sie leben, weil Sie ja so demokratisch gesonnen sind, wie ich Ihren Zwischenrufen dort hinten unschwer entnehmen kann.
Zurück zur Bundesregierung und zum Ernsthaften.
Jetzt ist es meines Erachtens nötig, dass sich Frau
Merkel nach Afghanistan begibt und sich dort nicht nur
anschaut, was militärisch geschieht, sondern auch, welche zivilen Maßnahmen noch durchzuführen sind.
Die Ausgestaltung des Engagements in Afghanistan
wird national und international ja sehr kontrovers diskutiert. Wir alle wissen, dass auch britische Offiziere vor
Ort den Einsatz von OEF-Kräften kritisieren und einen
Stopp verlangen. Sie wissen, dass er vor Ort kontraproduktiv ist. Wir wissen, dass die afghanische Regierung
das Vorgehen, durch das unverhältnismäßig viele zivile
Opfer verursacht wurden, wiederholt kritisiert hat. Wir
wissen, dass circa 100 Entwicklungshilfe- und Hilfsorganisationen kritisiert haben, dass es dieses Missverhältnis zwischen dem Militärischen und dem Zivilen gibt.
Sie sagen im Übrigen auch: Bei allen Problemen brauchen wir ISAF, weil uns dadurch der zeitliche Spielraum
und räumliche Schutz gegeben wird, um überhaupt einen
zivilen Aufbau leisten zu können.
Ich sehe, dass diese Entwicklungshelfer die Realität
kennen. Sie machen keine naiven Vorschläge, wie man
in einem Land wie Afghanistan mit bewaffneten Aufständischen und Selbstmordattentätern einen zivilen
Aufbau organisieren kann.
({1})
Wir wollen, dass Deutschland als Steller der drittgrößten Truppe und als viertgrößte Gebernation in Afghanistan eine aktive Rolle übernimmt. Unsere Sorge
heute ist aber, dass die Bundesregierung die Chancen in
Afghanistan nicht erfolgreich verbessert. Sie müssten
sich jetzt nämlich kritisch zu OEF äußern, Sie müssten
die Mängel beim Polizei- und Armeeaufbau abbauen,
und Sie müssten dafür Sorge tragen, dass der Comprehensive Approach vor Ort weiterentwickelt wird, sodass
Polizei- und Justizaufbau tatsächlich voranschreiten.
Ich möchte Ihnen aber an einem Punkt, dem Aufbau
der Polizei, schildern, was diese Regierung tatsächlich
tut. Ich meine, beim Polizeiaufbau verhält sie sich wie
ein Juniorpartner.
Sie haben im Juni dieses Jahres die Federführung an
die EU abgegeben. Das Ziel war, dass die EU die Ressourcen bündelt, den Aufbau stärkt und das Ganze mit
dem EU-Programm Justizaufbau verzahnt. Und was sehen wir in der Praxis? In der Praxis sehen wir, dass man
vom Regen in die Traufe gekommen ist. Die Verzahnung
findet gar nicht statt. Faktisch ist es so, dass der Aufbau
stockt, nur knapp die Hälfte des Personals vor Ort ist.
Wir sehen vor Ort, dass die Europäische Kommission
ihre Finanzmittel quasi als Faustpfand benutzt, um die
Mitgliedstaaten zu erpressen, um mehr Zuständigkeit im
Sicherheitsbereich für die Europäische Kommission zu
bekommen.
Frau Merkel, an dieser Stelle wäre ein Punkt, an dem
Sie einmal auf den Tisch hauen und dafür Sorge tragen
müssen, dass EUPOL jetzt und nicht irgendwann im
nächsten Jahr tatsächlich personell, technisch und finanziell ausgestattet ist, obwohl selbst das eigentlich zu wenig ist.
({2})
Es kann doch nicht sein, dass wir am Ende in anderen
Interessen der Europäischen Kommission hängen bleiben, einmal ganz zu schweigen von der zögerlichen Bereitstellung von Beamten durch die Bundesländer. An
dieser Stelle - das muss ich sagen - ist es ein Armutszeugnis, dass die Polizeibeamten, die da sind, nicht einmal Fahrzeuge haben, um sich zu bewegen.
Wir wissen auch - das haben wir in unserem Antrag
angesprochen -, dass es noch mehr braucht, es braucht
nämlich ein Konzept für Pakistan. Wir vermissen, dass
dort mit einem sortierten Konzept ordentlich vorgegangen wird. Ein regionales Konzept hat diese Bundesregie12360
rung nicht. Sie vertritt eine meines Erachtens kurzfristige Außenpolitik, weil sie Pakistan und Indien aufrüstet,
was wir für unverantwortlich halten, weil es kein komplettes Konzept gibt, das auch dafür sorgt, dass diese
Grenzregion anders ausgestattet ist.
Wir sind in tiefer Sorge, ob das Zeitfenster für Afghanistan jetzt wirklich genutzt wird. Wir stimmen mehrheitlich nicht zu, aber ich sage ganz klar: Als Opposition
haben wir nicht jede Umsetzung in der Hand. Die mehrheitliche Enthaltung ist für uns der Ausdruck von Sorge,
ob in Afghanistan im zivilen Bereich genug getan wird.
Es ist der Ausdruck einer Aufforderung, jetzt hinzufahren, die Konzepte zu entwickeln, das Zivile zu stärken, es mehr zu koordinieren und kontraproduktive Militäreinsätze zu unterlassen.
({3})
Für eine Kurzintervention erhält die Kollegin Heike
Hänsel das Wort.
Frau Künast, was Sie hier über Malalai Joya gesagt
haben, kann ich so nicht stehen lassen. Diese Frau hat
eine Biografie. Sie hat in jüngsten Jahren bereits gegen
das Taliban-Regime gekämpft. Sie setzt sich aktiv genau
gegen diese Fundamentalisten in Afghanistan ein, die in
vielen wichtigen Positionen im Parlament und in den Regionen sitzen. Ich finde es ein Unding, dass Sie sie hier
in dieser Art und Weise als eine zweifelhafte Kronzeugin
bezeichnen. Das machen Taliban und Fundamentalisten
in Afghanistan genauso.
({0})
Ihre parlamentarischen Kolleginnen, die Sie zitiert
haben, haben dafür gestimmt, dass sie aus dem Parlament ausgeschlossen wird. Daran können Sie auch sehen, wie weit die Demokratisierung in dem Parlament
vorangeschritten ist. Wir haben versucht, dass sie eine
Möglichkeit bekommt, hier im Auswärtigen Ausschuss
zu sprechen. Das wurde ihr auch mit der Begründung
verwehrt, sie sei ja nicht Teil der offiziellen Delegation.
Also wurde ihre Ausgrenzung hier sogar noch fortgeführt.
({1})
In meinen Augen brauchen Sie nach dieser Rede das
Wort von Frauenrechten in Afghanistan und der Fortführung von ISAF nicht mehr in den Mund zu nehmen.
({2})
Sehr geehrte Frau Kollegin, ich will nicht in Zweifel
stellen, dass für die frühere Abgeordnete Malalai Joya
die Situation in Afghanistan schwer war
({0})
und dass sie sich dort unter Gefährdung ihres eigenen
Lebens engagiert hat. Ich glaube aber trotzdem, dass sie
als Kronzeugin für die Zustände in Afghanistan, als die
ihre Fraktion sie heranzieht, zweifelhaft ist.
({1})
Denn es gibt in Afghanistan - auch ich war dort und
habe mit Frauen und Männern geredet - viele Frauen,
die meinen, dass sie immerhin inzwischen auf einem
Weg sind, dessen Grundrichtung stimmt.
Wir alle wissen, wie extrem schwierig die Situation in
Afghanistan ist. Insofern nehme ich mir diese Meinung
heraus und weise darauf hin, wie viele Frauen in Afghanistan dem Parlament angehören oder in NGOs kämpfen
und wie viele Entwicklungshelfer und Hilfsorganisationen Frauen vor Ort helfen, ihren Lebensalltag zu gestalten, Geld zu verdienen, sich bewegen zu können und Bildung zu erleben.
Mit Verlaub, die Frage, ob ich für Frauenrechte
kämpfe, beantworten nicht Sie; das habe ich in meinen
51 Lebensjahren immer selbst entschieden. Das wird mit
Sicherheit so bleiben, und das ist gut so.
({2})
Das Wort erhält nun die Bundesministerin
Heidemarie Wieczorek-Zeul.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
alle sind erleichtert und froh, dass Rudolf Blechschmidt
endlich freigekommen ist. Wir haben mit ihm und seinen
Angehörigen mitgelitten und hoffen, dass er die schweren Belastungen während der Geiselnahme gesund übersteht. Wir fühlen mit ihm und hoffen, dass er die Konsequenzen gut überwinden kann. Ich denke, das kann ich
für uns alle sagen.
({0})
Ich war selbst im Dezember 2001 nach dem Sturz der
Taliban in Kabul. Alle Menschen dort haben es begrüßt,
dass wir gekommen sind; sie haben aber auch gefragt, ob
wir auch an ihrer Seite bleiben werden, wenn die Lage
schwieriger wird, oder ob sich wie 1989 nach dem Abzug der Sowjets die Welt wieder von Afghanistan abwenden wird.
({1})
Ich habe damals zugesagt - dieser Verpflichtung fühle
ich mich nach wie vor verbunden -: Wir werden an eurer
Seite bleiben.
Ich appelliere an alle Kolleginnen und Kollegen
- auch an die Kolleginnen und Kollegen der Grünen -,
die das im Jahr 2001 genauso gesehen haben: Bitte steBundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
hen Sie zu dieser Verpflichtung. Internationale Verpflichtungen können nicht alle fünf Jahre verändert werden. Bitte stehen Sie dazu! Ich fühle mich verpflichtet.
({2})
Es ist auch völlig falsch, die zivile und militärische
Unterstützung auseinanderzudividieren. Das geht an den
Realitäten Afghanistans völlig vorbei.
({3})
Ohne flankierende Unterstützung durch die Truppen der
internationalen Gemeinschaft steht der zivile Wiederaufbau auf verlorenem Posten. Das ist die Wahrheit.
Wenn Sie den Truppenabzug fordern, dann heißt das,
dass Sie auch den zivilen Wiederaufbau aufgeben. Das
kann nicht Ihre Position sein. Deshalb appelliere ich an
die Linkspartei: Denken Sie auch in dieser Frage um!
({4})
Die Konsequenz wäre, dass Frauen wieder unterdrückt werden. Die afghanische Frauenministerin hat
das deutlich geschildert. Sie war sechs Jahre lang im
Keller ihres eigenen Hauses eingesperrt, den sie nicht
verlassen konnte. Wollen Sie zulassen, dass Frauen wieder unterdrückt werden? Wollen Sie zulassen, dass es wieder zu massiven Menschenrechtsverletzungen kommt?
Nein, das dürfen wir nicht zulassen.
({5})
Ich erinnere in diesem Zusammenhang an das UNPrinzip der „Responsibility to protect“, das seit einigen Jahren besteht und vorsieht, denen zu helfen, die
sich nicht selbst helfen können oder deren jeweilige Regierung nicht selbst in der Lage dazu ist. Das heißt, wir
müssen der Regierung in Afghanistan heute auch deshalb beistehen, damit es nicht wieder zu massiven Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen kommt.
Es ist völlig klar, dass wir den zivilen, den wirtschaftlichen und den politischen Wiederaufbau voranbringen
müssen. Deshalb müssen wir der Verlängerung des
ISAF-Mandats zustimmen. Ich möchte an dieser Stelle
Tom Koenigs danken, der hervorragende Arbeit geleistet hat und der Ende dieses Jahres seine Arbeit dort beenden wird. Er hat wunderbare Worte an Ihre Adresse gesagt, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen.
Ich hoffe, dass Sie sie bei der Abstimmung beherzigen.
({6})
Es wurde bereits viel über die Erfolge gesagt. Deshalb
nur so viel: Als ich im Jahr 2001 in Afghanistan war,
konnte kein Mädchen in die Schule gehen. Heute gehen
etwa 3 Millionen Mädchen in die Schule. Das ist ein
wunderbares Ergebnis. Frauen sind zudem beim Zugang
zum Gesundheitswesen nicht mehr diskriminiert.
({7})
Ich bin mir sicher, dass niemand einen Rückfall akzeptieren wird; das würden wir auch nicht hinnehmen.
({8})
Liebe Kollegin Renate Künast, es geht nicht um ein
„Weiter so“, sondern um das Setzen besonderer Schwerpunkte, zum Beispiel bei der Ausdehnung der Rechtsstaatlichkeit und der guten Regierungsführung in alle
Regionen. Das bedeutet unter anderem, den Aufbau der
afghanischen Polizei in der Fläche voranzubringen. Ich
fordere die Europäische Union auf, dazu beizutragen,
dass endlich logistische Probleme überwunden werden
und volle Handlungsfähigkeit erreicht wird, damit die
Polizei in Afghanistan in vollem Umfang ausgebildet
werden kann und die Präsenz der europäischen Polizeimission wirkt; das reicht bisher nicht aus. Wir, die Bundesregierung, setzen einen besonderen Schwerpunkt bei
der Ausbildung der Polizei. Das gilt sowohl in Kabul als
auch - das ist neu - in Masar-i-Scharif. Wir unterstützen
zudem den Fonds, aus dem die Gehälter derjenigen, die
für den Rechtsstaat tätig sind, mitfinanziert werden.
Der Aufbau des Justizsektors, den wir unterstützen,
hängt eng damit zusammen. Hier geht es insbesondere
um die Unterstützung und die Hilfe für Frauen; das ist
ein besonderer Schwerpunkt. Ein weiterer ist die Einbeziehung der ländlichen Bevölkerung. Renate Künast, wir
reden nicht nur, sondern handeln auch praktisch. Wir ergreifen zum Beispiel Maßnahmen, die Einkommen schaffen.
Wir haben es im Rahmen eines Gemeinschaftsprojekts von
KfW-Entwicklungsbank und Aga-Khan-Stiftung geschafft,
dass seit 2005 rund 30 000 Kleinstkredite vergeben
wurden. Damit wurden 150 000 Haushalte erreicht. Das
Netz soll auf 21 Niederlassungen ausgebaut werden. Das
ist realer Wiederaufbau. Ihn wollen und werden wir voranbringen.
Im Zusammenhang damit steht ein weiterer Schwerpunkt, der mir ganz besonders am Herzen liegt. Rund
70 Prozent der Bevölkerung sind unter 25 Jahre. Wir
wollen durch Ausbau des Bildungswesens und vor allen
Dingen des Grundbildungsbereichs dazu beitragen, dass
Kinder und Jugendliche, gerade Mädchen, die Chance
haben, in die Schule zu gehen. Wir unterstützen den nationalen Bildungsplan des zuständigen Ministers mit
17 Millionen Euro. Damit können 1 000 Schulen neu gebaut werden und wird 8 000 Lehrerinnen und Lehrern
die Chance eröffnet, mit ihrer Ausbildung dazu beizutragen, dass Kinder eine gute Zukunft haben. Das ist realer
Wiederaufbau. Wir dürfen deshalb das Klima der Sicherheit nicht gefährden. Es ist wichtig, den zivilen Aufbau
voranzubringen und zugleich das ISAF-Mandat zu bestätigen.
({9})
Ich möchte mich noch einmal an die Adresse der
Linkspartei wenden. Ich finde, dass Sie die Augen vor
einer Situation verschließen, die sich qualitativ verändert
hat. Selbstmordattentate sind eine neue Entwicklung.
Dieser Entwicklung kann man nicht mit Gewaltfreiheit
begegnen. Was würden Sie denn sagen, wenn Selbstmordattentate in unserem Land begangen würden? Wohin ziehen Sie sich dann zurück?
({10})
Es ist nicht links, zu sagen, es dürfe keine militärische
Aktion stattfinden.
({11})
Das ist nicht links, sondern damit würden gerade die
Chancen der Menschen eingeschränkt werden, eigene
Entscheidungen zu treffen. Aus meiner Sicht heißt links
sein, dazu beizutragen, dass Menschen bessere Lebenschancen haben und dass sie selber und eigenständig entscheiden können.
({12})
Wer dazu beiträgt, das zu verhindern, der tut das genaue
Gegenteil dessen, was man von der Linken erwartet,
nämlich Menschen zu schützen und dazu beizutragen,
dass sie bessere Lebenschancen und bessere Möglichkeiten haben, ihr eigenes Leben zu gestalten.
({13})
Wer wie die Linkspartei sagt, die Bundeswehr müsse
raus aus Afghanistan, der versucht eigentlich, sich ganz
woanders anzubiedern. Darüber müssen Sie selbst noch
einmal nachdenken.
Letzter Punkt: Ich danke all denjenigen, die die Arbeit
vor Ort leisten. Ich bin ganz sicher, dass der Wiederaufbau in Afghanistan ein Erfolg für die Menschen, die so
lange gelitten haben, sein kann und dass der Erfolg auch
im Interesse unserer eigenen Sicherheit ist.
Ich danke Ihnen sehr herzlich.
({14})
Nächster Redner ist der Kollege Hellmut Königshaus,
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
heute Morgen schon sehr viel über die Erfolge, die in
Afghanistan erzielt wurden, gesprochen. Ja, die gibt es,
und es gibt sicherlich wesentlich mehr, als die Kollegen
von der Linksfraktion zuzugeben bereit sind. Würden
wir uns von dort zurückziehen, würde alles das, was wir
erreicht haben, zusammenbrechen. Deshalb müssen wir
diese Erfolge im wahrsten Sinne des Wortes verteidigen.
({0})
Wenn Sie, Herr Bisky, sagen, der gute Zweck heilige
nicht die militärischen Mittel, dann möchte ich wissen,
wann denn militärische Mittel überhaupt gerechtfertigt
sind, wenn nicht für einen guten Zweck.
({1})
Das ist der Grund, weshalb die FDP-Fraktion der Verlängerung des Mandats zustimmen wird. Ohne Sicherheit - das ist das Credo, das wir immer wieder von den
Entwicklungspolitikern, aber auch von anderen im
Hause gehört haben - gibt es keine Entwicklung. Das
müssen wir konkret umsetzen. Dazu dienen nicht solche
unwürdigen Wortwechsel, wie wir sie hier gerade erlebt
haben. Dazu ist das Thema viel zu wichtig. Frau Künast,
was nun eigentlich Ihre Empfehlung an Ihre Fraktion ist,
das ist, so glaube ich, niemandem hier im Raum klargeworden, Ihrer eigenen Fraktion wahrscheinlich auch
nicht.
Wir dürfen uns bei diesem Thema nicht in die Büsche
schlagen. Wenn wir unsere Bekenntnisse zu den Menschenrechten und zur weltweiten Entwicklung wirklich
ernst meinen, dann müssen wir uns zur Solidarität mit
Afghanistan bekennen. Dazu gehört, dass wir klare Bekenntnisse abgeben, wie wir tatsächlich weiter verfahren
wollen. Wir jedenfalls, die Liberalen, sagen Ja zum zivilen Aufbau und deshalb auch Ja zu den militärischen
Einsätzen; denn unter diesen konkreten Bedingungen
sind das zwei Seiten einer Medaille. Diejenigen, die auf
Fortschritte verweisen, haben völlig recht, aber auch diejenigen, die Zweifel anmelden, ob das schon reicht.
Wenn wir nicht durchhalten - das müssen wir sehen -,
werden wir keine Fortschritte machen, weder schnelle
noch langsame, sondern wir werden im Gegenteil alles
zerstören. Deshalb müssen wir zunächst einmal denen,
die vor Ort tätig sind, unsere Solidarität zeigen, unseren
Dank und unsere Anerkennung aussprechen und unsere
Unterstützung gewähren.
({2})
Das zentrale Problem in Afghanistan ist die ausufernde Drogenwirtschaft. Das ist hier viel zu wenig erörtert worden. Sie ist die wirtschaftliche Basis für den
Terror, der dort ausgeübt wird. Wir werden dem Problem
nicht begegnen können, wenn wir unsere Konzepte nicht
entschieden ändern. Wir haben bisher kein Konzept der
Bundesregierung zu diesem Thema gehört. Ein solches
fordern wir hier ein.
Es geht vor allem darum, dass unsere dort tätigen Helfer, die militärischen wie die zivilen, die notwendige Unterstützung bekommen, nicht nur unsere ideelle. Wohlfeile Worte werden ihnen da nicht helfen. Die Soldaten
brauchen Ausrüstung. Die zivilen Aufbauhelfer brauchen Konzepte und vor allem ein ausreichendes Budget.
Daran fehlt es nach wie vor.
Wenn wir einfach einmal vergleichen, wo wir wirklich Schwerpunkte in der Entwicklungszusammenarbeit
und beim Aufbau setzen, dann werden wir feststellen:
Der Schwerpunkt liegt noch immer nicht auf Afghanistan. Wir tun viel zu wenig für den zivilen Aufbau. Wenn
wir das, was wir tun, mit dem vergleichen, was die
Kanadier dort in diesem Bereich leisten - die Kollegen
des kanadischen Parlaments haben die Besuchertribüne
gerade verlassen -, dann stellen wir fest, dass wir immer
noch viel zu wenig tun.
({3})
Wie bereits angesprochen wurde, haben wir in vielen
Bereichen unsere Schulaufgaben noch nicht gemacht. In
den wesentlichen Fächern, für die wir die Verantwortung
übernommen hatten, haben wir noch nicht einmal angefangen, sie zu machen. Nehmen wir die Polizeiausbildung: Das ist doch eine Blamage sondergleichen, was
wir dort erleben. Ich bin froh, dass Sie, Herr Minister
Huber, hier sind. Auch die Länder haben dort eine Verpflichtung. Sie verfügen über die meisten Polizeikontingente. Auch sie müssen bereit sein, dort etwas mehr zu
tun, als sie bisher getan haben. Wir Deutsche können uns
nicht hinter Europa verstecken. Die Länder sind mit dabei.
({4})
Was die Drogen- und Korruptionsbekämpfung angeht, erleben wir eine klassische Kopf-in-den-Sand-Politik. Frau Bundeskanzlerin, dass besser koordiniert und
dass die Schwerpunktsetzung besser betrieben wird, hat
übrigens nichts mit Reisen zu tun, sondern mit Führung,
auch durch Sie. Sie müssen hier dafür sorgen, dass die
Menschen vor Ort tatsächlich eine Friedensdividende
spüren. Nur dann werden wir etwas erreichen.
({5})
Unsere Soldaten brauchen die erforderliche Ausrüstung. Das Trauerspiel um die Hubschrauber ist schlichtweg unverständlich. Auch Sie, Herr Struck, haben als
Verteidigungsminister über viele Jahre in Kenntnis dieses Problems nichts unternommen. Wir haben unsere
Probleme mit dem gegenwärtigen Verteidigungsminister; aber er war immerhin derjenige, der neue Beschaffungen veranlasst hat. Ich weise darauf hin, auch wenn
es uns noch viel zu lange dauert.
Ich komme zum Schluss. Wenn wir unsere Anstrengungen nicht massiv verstärken, werden wir nicht vorankommen, sondern zurückfallen. Rupert Neudeck hat
kürzlich bei einer Anhörung unserer Fraktion gesagt,
noch sei Afghanistan nicht verloren. Er hat das Wort
„noch“ betont. Noch ist nichts verloren, meine Damen
und Herren, aber die Zeit wird knapp. Darum müssen
wir zusammenstehen.
Ich danke Ihnen.
({6})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Ruprecht Polenz
für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Etwa 60 Prozent der Menschen in Deutschland antworten auf die Frage, ob die Bundeswehr in Afghanistan
bleiben soll: Holt sie nach Hause. Hingegen sagen
80 Prozent der Menschen in Afghanistan: Bitte, bleibt
bei uns; wir brauchen euch so lange, bis wir selber für
unsere eigene Sicherheit sorgen können. Diese unterschiedlichen Meinungsspiegel in den jeweiligen Bevölkerungen machen deutlich: Man hat in Afghanistan sehr
wohl verstanden, dass die Absicherung des zivilen
Aufbaus durch Streitkräfte - sie müssen noch aus dem
Ausland kommen, weil man selber nicht stark genug
ist - unabdingbar ist, während in Deutschland - gerade
unter dem Eindruck der Berichterstattung über den Irakkrieg - der Eindruck entsteht, dass es in Afghanistan so
ähnlich wie im Irak werden könnte und dass man sich
deshalb lieber früher als später zurückziehen müsse.
Es stellt sich die Frage: Warum sind wir dort? Das
müssen wir mit den Bürgerinnen und Bürgern hier in
Deutschland besprechen. Wenn die Talibanregierung Bin
Laden nach den Anschlägen vom 11. September an die
USA ausgeliefert hätte, dann wären unsere Truppen
wahrscheinlich nicht in diesem Land. Weil sie das aber
nicht getan haben, weil sie vielmehr den Eindruck erweckt
haben, entschlossen zu sein, weiterhin mit al-Qaida zusammenzuarbeiten und ihr einen Zufluchtsort zu gewähren, hat sich die Entwicklung dann so vollzogen, wie sie
sich vollziehen musste, im Interesse unserer eigenen Sicherheit.
Die Biografien der Attentäter vom 11. September, die
aus verschiedenen Ländern kamen und ganz unterschiedliche Personen waren, hatten eines gemeinsam, sie
waren alle für Wochen und Monate in Trainingscamps
der al-Qaida in Afghanistan gewesen. Wir wissen inzwischen, dass die Anschläge der al-Qaida europaweit,
weltweit Opfer gefordert haben - darunter auch Deutsche in anderen Teilen der Welt. Die Anschläge in London und Madrid und das, was im Sauerland geplant
wurde, gehen ebenfalls auf al-Qaida zurück.
Die Menschen bei uns fragen sich: Wie lange muss
die Bundeswehr in Afghanistan bleiben? Die Antwort ist
relativ einfach zu geben. Die Bundeswehr muss dort so
lange bleiben, bis von Afghanistan keine Gefahr mehr
für unsere Sicherheit ausgeht, bis Afghanistan selbst für
seine eigene Sicherheit sorgen kann. Denn der Satz:
„Ohne Frieden in Afghanistan gibt es keine Sicherheit
für uns“, ist richtig.
({0})
Zum Aufbau der eigenen Sicherheitsstrukturen
braucht Afghanistan Hilfe: zum Aufbau einer loyalen
Armee, der Polizei, eines funktionierenden Justizwesens
und einer funktionierenden Rechtsordnung. Dabei sind
sicherlich noch stärkere Anstrengungen als bisher nötig.
Insbesondere bei der Polizeiausbildung, bei der wir ursprünglich als Führungsnation eine besondere Verantwortung getragen haben - bei EUPOL stellen wir nach
wie vor einen starken Anteil -, müssen wir mehr tun.
Denn im Bewusstsein der Afghanen tritt ihnen ihr eigener Staat in den existenziellen Vorsorgevorkehrungen
gerade auch durch die Polizei gegenüber. Vor ihrer alten
Polizei hatten sie oft Angst. Sie war korrupt; sie war ein
Werkzeug von Warlords, von anderen. Deshalb ist es so
wichtig, eine zivile Bürgerpolizei aufzubauen, auf die
sich die Afghanen verlassen können. Das ist auch ein
Schlüssel für die Akzeptanz der afghanischen Regierung
in der afghanischen Bevölkerung.
({1})
Deshalb haben wir hier eine nachlaufende Verantwortung aus unserer früheren Position als Führungsnation.
Ich würde mir wünschen, dass wir hier verstärkt darüber
sprechen - trotz unserer föderalen Probleme bei der Polizeiausbildung -, wie wir hier mehr tun können.
({2})
Es gibt eine Zwischenfrage des Kollegen Nachtwei.
Ganz offenkundig möchten Sie sie zulassen. Bitte Herr
Kollege Nachtwei, Sie haben das Wort.
Kollege Polenz, Sie haben völlig zu Recht die Bedeutung des Polizeiaufbaus für eine nachhaltige Sicherheitsstruktur in Afghanistan angesprochen und woran es da
bisher so eklatant fehlt. Wir waren gemeinsam auf der
NATO-Parlamentarier-Versammlung in Reykjavík, bei
der glücklicherweise auch acht Länderinnenminister dabei waren. Ist Ihnen bei den Länderinnenministern, die
zum Polizeiaufbau in Afghanistan durch Polizisten auch
etwas beitragen, irgendein sonderliches Interesse an der
Afghanistan-Frage aufgefallen,
({0})
unter anderem des nordrhein-westfälischen Innenministers Wolf von der FDP?
({1})
Ich gehe davon aus, Herr Kollege Nachtwei, dass die
Innenminister von Bund und Ländern auf der einen Seite
das Problem haben, dass im Bewusstsein der deutschen
Bevölkerung die Präsenz der Polizei etwa auf der Straße,
an sozialen Brennpunkten stärker sein könnte, als sie es
ist. Von daher haben sie den Eindruck, sie hätten schon
in Deutschland an allen Ecken und Enden mit dem Polizeieinsatz zu knapsen. Andererseits wissen sie im Sinne
einer Sicherheitsvorsorge und Prävention, dass die Hilfe
für Afghanistan auch Vorkehrungen erleichtert, die sie
sonst im Hinblick auf Terroranschläge, Prävention vor
solchen Attentaten, hier leisten müssten. Von daher kann
man wohl die Innenminister davon überzeugen oder sie
sind davon überzeugt, dass ein Einsatz deutscher Polizeikräfte zu Ausbildungszwecken in Afghanistan der Sicherheit hier in Berlin auf dem Prenzlauer Berg oder in
München oder in Münster, wo wir beide herkommen, in
gleicher Weise dient.
({0})
Wir müssen natürlich darüber nachdenken, was wir machen können, um Polizeikräfte schneller verfügbar zu
haben, damit wir die Lücke, die zwischen Militäreinsatz
und ziviler Verwaltung beim Aufbau von sogenannten
Failed States entsteht, rascher und schneller schließen
können.
Lassen Sie mich etwas zur Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit sagen. Wir sind im Auftrag der Vereinten
Nationen in Afghanistan. Diejenigen, die heute sagen,
wir können der Verlängerung des Bundeswehrmandates
nicht zustimmen, oder die sich der Stimme enthalten, geben im Grunde den Vereinten Nationen diesen Auftrag
zurück. Wir sind auf Bitten der afghanischen Regierung
im Land. Wer sich heute der Stimme enthält oder dagegen stimmt, der sagt: Ihr habt uns vergebens gebeten,
seht zu, wir ihr klarkommt! Wir sind im Bündnis mit der
NATO in Afghanistan. Wer sich heute der Stimme enthält oder dagegen stimmt, der sagt: Es ist uns egal, wie
ihr dort weitermacht. Wir verabschieden uns jetzt.
Machen Sie es sich mit den Signalen nicht so einfach!
Das sage ich an die Adresse der Grünen. Sie können
vielleicht noch der deutschen Öffentlichkeit das komplizierte Verfahren erklären, wie Ihre Abstimmungen hier
stattfinden. In der Weltöffentlichkeit und in Afghanistan
wirkt eine mehrheitliche Enthaltung Ihrer Fraktion wie
der Einstieg zum Ausstieg. Daran führt überhaupt kein
Weg vorbei. Ich glaube, dass diese Verantwortung auf
manchen von Ihnen schwer lastet. Vielleicht führt dies ja
noch dazu, dass der eine oder andere sagt: Das Signal,
das von dieser Bundestagsabstimmung in Kabul ankommt, ist wichtiger als das, was bei meiner eigenen
Parteibasis vor Ort ankommt. Das ist die Frage, vor der
Sie stehen.
({1})
Wir stehen zu Afghanistan und unserer Rolle, dabei
mitzuhelfen, das Land zu befrieden und aufzubauen. Wir
brauchen nach 30 Jahren Krieg und Bürgerkrieg einen
politischen Versöhnungsprozess. Grundlage dafür muss
die demokratisch verabschiedete neue afghanische Verfassung sein.
Priorität hat der zivile Wiederaufbau. Die Erhöhung
der Mittel auf 125 Millionen Euro ist ein wichtiger
Schritt in diese Richtung, aber es müssen weitere folgen.
Es geht um Good Governance und um Arbeitsplätze in
Afghanistan. Die militärische Bekämpfung der Aufständischen muss gemeinsam mit unseren Bündnispartnern
fortgesetzt werden. Die Bundeswehr muss und wird so
lange bleiben, bis afghanische Sicherheitskräfte selbst
für die Sicherheit der Afghanen sorgen und gewährleisten können, dass von afghanischem Territorium keine
Gefahren mehr für uns und die internationale Gemeinschaft ausgehen.
({2})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ursula Mogg für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ehrt dieses Parlament und unsere Gesellschaft insgeUrsula Mogg
samt, dass wir über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte
immer wieder neu miteinander ringen. Das tun wir heute
einmal mehr. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass uns
nur eine absolut offene und intensive Diskussion vorwärtsbringt und letztlich auch eint.
Wir erwarten heute eine breite Mehrheit im Deutschen Bundestag zur Fortsetzung des militärischen Engagements in Afghanistan einschließlich des Einsatzes
der Tornados. Das ist das Ergebnis fortgesetzter Debatten - oft schwierig, zugegeben. Diese Debatten, liebe
Kolleginnen und Kollegen von den Linken, folgen keiner Kriegslogik; ganz im Gegenteil.
({0})
Unsere Medien berichten über jede einzelne Variante
unserer Diskussion, und das ist auch gut so. Wir tauschen uns mit afghanischen Kolleginnen und Kollegen
ebenso aus wie mit den Kolleginnen und Kollegen im
Bündnis. Als Fachpolitiker suchen wir das Gespräch mit
den Soldatinnen und Soldaten im Einsatz und selbstverständlich mit all denen, die in den unterschiedlichsten
Organisationen Verantwortung für den demokratischen
und zivilen Aufbau des Landes übernommen haben.
Uns erreichen in diesen Tagen viele Hinweise und
Ratschläge von Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes. Gerade heute Morgen haben Menschen vor diesem
Parlament ihre ablehnende Haltung gegenüber dem Einsatz zum Ausdruck gebracht. Ich möchte feststellen: Wir
wägen jedes einzelne Argument. Wir geben nicht einfach Prokura, liebe Kollegin Künast. Das sage ich in
Würdigung Ihres persönlichen Meinungsfindungsprozesses, aber auch des Meinungsfindungsprozesses Ihrer
Fraktion und Partei. Die Erfahrung lehrt, dass wir das
ganz ordentlich machen. Dafür ist die Debatte über den
Einsatz der Aufklärungs-Tornados ein gutes Beispiel.
Nach einer mehr als kritischen und intensiven Diskussion ist der Auftrag der Tornados klar: Sie leisten keine
militärische Luft-Boden-Unterstützung. Sie führen topografische Aufklärung durch. Das Lagebild, das nach der
Rückkehr erstellt wird, ist mehrere Stunden alt und somit untauglich für eine direkte Zieldatenübermittlung.
({1})
Vor dem Hintergrund einer erkennbar schwierigen
Lage wird der Ruf nach einem Strategiewechsel laut.
Welche Strategie aber ist notwendig und richtig? Viele
Kolleginnen und Kollegen haben sich in dieser Debatte
schon kritisch mit dieser Frage auseinandergesetzt. Ja, es
ist wahr, wir können und müssen noch mehr tun für den
zivilen Aufbau. Ja, wir können und müssen noch mehr
tun für Schulen und Bildung. Ja, wir können und müssen
noch mehr tun für den Aufbau und den Dialog mit der
Zivilgesellschaft. Ja, der Zugang zu medizinischer Basisversorgung ist noch nicht das Ende der Fahnenstange.
Aber stellt die Aufstockung von Mitteln für zusätzliche
Projekte allein schon einen Strategiewechsel dar? Ich
meine: Nein.
({2})
Notwendig und richtig aber ist es, die unterschiedlichen Ansätze und Akteure zu einem abgestimmten und
kohärenten Ansatz zusammenzuführen.
({3})
Ich möchte mit einem kleinen Beispiel arbeiten: Viele
fleißige Arbeiter haben sich vorgenommen, ein großes
schönes Haus zu bauen. Sie haben auch viele gute Ideen,
wie dieses Haus aussehen soll. Allerdings sind zu viele
Architekten am Werk. So ist an eine Realisierung der guten Idee nicht zu denken.
Der Kollege Bartels hat die unterschiedlichen Vorgehensweisen gestern in einem Beitrag in der Financial
Times Deutschland am Beispiel des Sicherheitssektors
beschrieben: Einheiten unter NATO-Kommando, Einheiten unter OEF-Kommando, nationale Kräfte, die keinem der beiden Kommandos unterstellt sind, und private
Sicherheitsfirmen, mit deren Arbeit sich aus guten Gründen derzeit der US-Kongress beschäftigt. Darüber hinaus gibt es die afghanische Armee und die afghanische
Polizei. Ich füge hinzu: Jeder dieser Akteure hat jenseits
der Kommandostruktur und des Auftrags gelegentlich
auch eine sehr spezielle Idee davon, wie der Auftrag,
Sicherheit für Land und Leute herzustellen, erreicht werden
kann. Zugegeben, das ist etwas vereinfacht. Aber es geht
im Kern in der Tat um ein Konzept für Afghanistan, das
die politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und
militärischen Aspekte des internationalen Engagements
auf einen gemeinsamen Nenner bringt. Nur so ist das
Ziel zu erreichen.
({4})
Als Verteidigungspolitikerin unterstreiche ich klar
und deutlich die Notwendigkeit, noch mehr in zivile Projekte zu investieren. Was sonst? Es ist jedoch meine
Aufgabe, insbesondere einen Blick auf das ebenso unbestritten notwendige militärische Engagement zur Absicherung der Gesamtentwicklung zu werfen. Ministerin
Wieczorek-Zeul unterstreicht zu Recht, dass eine rasche
Stabilisierung der Situation in Afghanistan durch Entwicklungshilfe allein nicht zu leisten ist. Was also ist zu
tun?
Aufgabe Nummer eins: alle Maßnahmen kritisch
überprüfen und, wenn notwendig, neu justieren.
Aufgabe Nummer zwei: afghanische Sicherheitskräfte,
Soldaten und Polizisten weiter ausbilden und damit in
die Lage versetzen, die Sicherheit des Landes selbst gewährleisten zu können. Dazu gehört auch, liebe Kolleginnen und Kollegen, sie so zu bezahlen, dass sie zur
Sicherung ihres Lebensunterhaltes nicht darauf angewiesen sind, zusätzliche Einnahmequellen zu erschließen.
({5})
Wenn der Tagelöhner im deutschen Feldlager mehr verdient als ein Polizist, darf man sich über nichts wundern.
Die aktuellen Berichte nach der Befreiung der deutschen
Geisel sind ein Beispiel dafür.
Aufgabe Nummer drei: Das PRT-Konzept muss weiter in die Fläche wirken können. Dazu sind kleine Teams
aus zivilen und militärischen Kräften zu bilden, die die
ländliche Bevölkerung in den oft weglosen Regionen erreichen. Ihre Aufgabe muss es sein, mit der Bevölkerung
vor Ort sinnvolle Projekte zu identifizieren und zu realisieren. Dabei geht es auch um die Stärkung der Afghan
Ownership. Dabei müssen die finanziellen Mittel, die
den PRTs zur Verfügung stehen, im Interesse einer
schnellen und flexiblen Hilfe aufgestockt werden.
({6})
Aufgabe Nummer vier: Kohärenz erarbeiten für alle
Bereiche. Das ist nicht nur naheliegend - siehe Beispiel
Sicherheitssektor -, sondern zwingend notwendig.
Last, not least Aufgabe Nummer fünf: Wir müssen
uns offen und ehrlich mit der Situation in Afghanistan
befassen. Das bedeutet auch, dass wir unseren eigenen
militärischen Beitrag kritisch an der Herausforderung
messen. Darauf hat unter anderem der ehemalige Bundeswehrgeneralinspekteur Kujat in einem Beitrag in der
Ausgabe des Tagesspiegel von vorgestern hingewiesen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Blick auf
ein Ereignis dieser Woche werfen: die Fotoausstellung
des Bundesministeriums der Verteidigung, nur einige
Meter von hier entfernt im Paul-Löbe-Haus. Es sind fantastische Bilder von grandiosen Landschaften, von Menschen, jungen, dynamischen Menschen, Kindern, zum
Beispiel einem Jungen, der sich mit seiner Jacke als Fan
des FC Bayern München präsentiert.
({7})
Ich rate Ihnen allen, diese Ausstellung anzusehen. Herr
Minister, ich schlage Ihnen vor, darüber nachzudenken,
diese Ausstellung auf Reisen gehen zu lassen, damit sie
überall im Land gesehen werden kann. Sie ist wirklich
absolut fantastisch.
Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ich
wünsche sehr, dass das Ergebnis der gemeinsamen Anstrengungen möglichst bald möglichst vielen Afghanen
viele neue Perspektiven bietet; denn im Kern geht es um
unser aller Sicherheit. Zur Fortsetzung des Mandates
gibt es derzeit keine Alternative.
Herzlichen Dank.
({8})
Bernd Schmidbauer ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ich will mit einem Zitat von Herrn
Naumann beginnen, der jüngst unter dem Titel „Bündnisfall im Bundestag“ zu der aktuellen Debatte über Afghanistan Stellung bezogen hat. Ich stimme ihm zu. Er
verweist auf eine Kommission des britischen Parlaments, die festgestellt hat:
Afghanistan braucht eine dauerhafte militärische
und finanzielle Verpflichtung der internationalen
Gemeinschaft. Wenn sie am Hindukusch Erfolg haben will, muss der Umfang ihres Engagements sehr
groß sein - wesentlich größer, als es die Weltgemeinschaft gegenwärtig wahrhaben will, geschweige denn zu leisten bereit ist.
Das ist eine Seite der Debatte über unseren Einsatz in
Afghanistan.
Zu Recht führt Herr Naumann aus, dass der Bundeswehreinsatz in Afghanistan keine Frage von Monaten,
sondern von Jahren ist. Ich teile auch die Ansicht, dass,
wenn sich die internationale Gemeinschaft aus Afghanistan zurückzieht, das Land zurück in die Hände der Taliban fällt und wieder eine Brutstätte des Terrorismus
wird. Die Gefahren würden von dort zu uns kommen,
und wir müssten ihnen auf unserem Boden begegnen.
Wer hier noch Anschauungsunterricht braucht, sollte
einmal die letzten terroristischen Angriffe in Europa
analysieren; dann sieht er, woher sie eigentlich gekommen sind. Wenn wir unser Engagement aufgeben, dann
hat nicht nur die NATO, sondern die ganze zivilisierte
Welt verloren.
Es wird mehrfach betont, dass Afghanistan eines der
ärmsten und am meisten geschundenen Länder dieser
Welt ist. 30 Jahre lang befindet sich Afghanistan im
Krieg. Die Menschen leben unter furchtbaren Umständen; sie haben viele Familienangehörige und Freunde
verloren, ebenso ihre Häuser, ihr Hab und Gut. Außerdem gibt es kaum Erwerbsmöglichkeiten in dieser Zeit.
Hinzu kommen schwierige Umweltbedingungen. Die
Wüste breitet sich immer stärker aus; die Menschen haben unter Dürreperioden zu leiden. Die Menschen fliehen, die Menschen werden vertrieben. Walter Kälin, der
Beauftragte des UN-Generalsekretärs für die Menschenrechte von Binnenflüchtlingen, hat aktuell darauf hingewiesen, dass es mindestens 80 000 Binnenflüchtlinge
gibt.
Wenn von humanitärer Leistung geredet wird, wird
oft vergessen, dass der Zugang zu dieser Hilfe ein großes
Problem darstellt. Sie ist kaum mehr möglich, da Mitarbeiter von Hilfsorganisationen angegriffen oder sogar
getötet werden. Diesen Umstand nicht zu beachten, ist
ein Schwachpunkt in der Argumentation vieler. Ich bin
dafür, dass wir humanitäre Hilfe leisten. Aber es kann
nicht angehen, dass gleichzeitig der militärische Einsatz
verteufelt wird. Dabei wird nämlich vergessen, dass das
eine ohne das andere völlig unmöglich ist.
({0})
Seit sechs Jahren unternimmt die Weltgemeinschaft
den Versuch, aus Afghanistan, einem - um es vornehm
auszudrücken - sehr instabilen Land, in dem zum Teil
katastrophale Zustände herrschen und das zum Teil Brutstätte des Terrorismus war und noch immer ist, ein Land
mit Perspektiven für die Bevölkerung zu entwickeln. Eines ist aber klar: Wunder sind nicht zu erwarten. Viele
Dinge - das wird deutlich - laufen gut; viele Dinge laufen schlecht oder nur sehr schleppend. Viele Fragen und
Probleme sind nicht gelöst. Ich nenne beispielsweise den
Drogenanbau, Drogenhandel, Korruption, fehlende oder
kaum belastbare Sicherheitsstrukturen sowie die Ausbildung der Polizei- und der Armeekräfte. Hier muss es
Druck auf die Karzai-Regierung geben.
Lieber Herr Kollege Nachtwei, ich möchte noch etwas zu Ihrer Argumentation von vorhin bezüglich der
Länder sagen. Ich glaube, wir können feststellen, dass
der Innensenator von Berlin, Herr Dr. Hanning und andere mehrfach in Afghanistan waren und sich um diese
Dinge gekümmert haben. Es ist nicht so, dass man alles
schleifen lässt. Trotzdem gehört zur Wahrheit, dass sich
die internationale Gemeinschaft, insbesondere Europa,
intensiver um diese Fragen kümmern muss und dafür
eintreten muss, dass bürokratische Hemmnisse abgebaut
werden. Es darf letztendlich nicht über Reisekosten debattiert werden, sondern man muss über die Probleme
vor Ort wie den Aufbau von Sicherheitsstrukturen reden.
({1})
Eine Bemerkung noch zum Thema Drogenanbau,
das schon ein Kollege angesprochen hat. Es ist wahr,
dass 92 Prozent des Rohopiums aus diesem Land kommen und damit überall Unheil angerichtet wird. Es ist
aber auch wahr - der Kollege von Klaeden hat darauf
hingewiesen -, dass in einigen Provinzen kein Opium
mehr produziert wird. Es gibt also einen leichten Rückgang bei der Opiumproduktion. Was heißt aber schon
leichter Rückgang? Dies sind nur sehr kleine Fortschritte. Aber sie gehören zur Beschreibung der Realität
dazu.
Es muss deutlich werden, dass wir nicht nur den militärischen Aspekt in den Vordergrund stellen und nur
über die Fortsetzung unseres militärischen Engagements
reden. Auch der zivile Wiederaufbau ist von ganz entscheidender Bedeutung. Es muss hier ein Zusammenspiel von Sicherheits- und Entwicklungspolitik geben.
Das ist die Forderung, die an uns herangetragen wird
und die sich in der Konzeption der Bundesregierung niederschlägt. Auch die NGOs können ihre Arbeit nicht
ohne den Schutz des Militärs leisten.
Ich will noch auf einen weiteren Punkt hinweisen,
nämlich auf die Nachbarländer. Wenn wir über Afghanistan reden, verkennen wir oft die Situation im Iran und
in Pakistan. Dieser Mangel soll jetzt mithilfe der Vorschläge der G 8 behoben werden. Herr Bundesaußenminister, eine wichtige Bitte: Lassen Sie an dieser Stelle
nicht locker! Pakistan ist der Schlüssel für die Befriedung Afghanistans.
({2})
Wer anderes erzählt, verkennt die Wirklichkeit. Er sieht
nicht, welche Kämpfe sich in den Provinzen im Grenzgebiet zu Pakistan abspielen. Dieses Gebiet ist ein Rückzugsgebiet der Taliban, wo sie sich mit al-Qaida-Kämpfern treffen, um Anschläge vorzubereiten und um
Menschen auszubilden, die dann in unser Land zurückkehren.
Ich muss nicht besonders darauf hinweisen, wie sensibel derzeit der Dialog mit dem Iran ist. Denn auch der
Iran leidet unter der Bedrohung, die von Afghanistan
ausgeht.
Sicherlich geht es mit dem Fortschritt nur langsam
voran. Aber es geht voran. Es gibt keine Alternative zu
unserer Politik. Ich will, ohne alles aufzuzählen, auf folgende Fortschritte hinweisen: 50 Prozent der schulpflichtigen Kinder haben Zugang zu Schuleinrichtungen.
Vor einigen Jahren waren es nur 20 Prozent. Insgesamt
wurden 3 500 Schulen, allein 300 von der Bundesrepublik Deutschland, gebaut. Es besteht eine medizinische Grundversorgung in weiten Teilen des Landes. All
diese Dinge sind nicht zu übersehen.
Herr Kollege.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss.
Bei aller Kritik dürfen wir jetzt das kleine Pflänzchen
Hoffnung, dass wir angebaut haben, nicht der Zerstörung
preisgeben. Wenn wir jetzt aufgeben und kapitulieren,
dann haben die Gegner der zivilisierten Welt gewonnen.
Das wollen wir nicht zulassen. Wir werden den Menschen in Afghanistan zur Seite stehen und helfen, den
eingeschlagenen Weg fortzusetzen. Gehen Sie mit!
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Gert Weisskirchen für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Warum wird die SPD dem Antrag der Bundesregierung
zustimmen?
({0})
Mit unserem Ja werden wir deutlich machen und dazu
beitragen, dass die afghanische Bevölkerung ihre Lebensbedingungen durch ihr eigenes Handeln verbessern
kann. Damit die afghanische Bevölkerung dies tun kann,
braucht sie ein Mindestmaß an Sicherheit. Deshalb ist es
nötig, dass wir die Mandate verlängern, und deshalb ist
es nötig, dass ISAF gestärkt wird.
ISAF hat kein zentral militärisches Ziel; das wissen
alle, die sich intensiv mit der Sache befassen, lieber Kollege Gehrcke. ISAF hat das Ziel, politisch dazu beizutragen, die Institutionen - den gewählten Präsidenten, das
gewählte Parlament und die Provinzräte - und die Zivilgesellschaft in Afghanistan zu stärken. Die Menschen in
Afghanistan sollen die Chance erhalten, ihr Leben in die
Gert Weisskirchen ({1})
eigene Hand zu nehmen. Deshalb brauchen wir die Verlängerung des Mandats. Das wissen alle, die sich mit Afghanistan im Detail befassen.
({2})
Ich empfehle denjenigen, die in ihrer Entscheidung
noch schwanken, sich zu überlegen, ob sie nicht einmal
in dieses Land fahren sollten, um den Menschen vor Ort
zu begegnen.
({3})
Versperren Sie doch nicht die Augen vor der Realität in
Afghanistan! Manchmal habe ich das Gefühl, dass Sie
sich die Ohren zustopfen, weil Sie die Klagen der Menschen in Afghanistan nicht hören wollen.
({4})
Die Menschen in Afghanistan wollen, dass wir dort sind.
Sie wollen, dass wir uns nicht wieder abwenden, und sie
wollen sich gemeinsam mit uns auf einen neuen Weg begeben.
Gibt es irgendeinen Zweifel daran, was geschehen
würde, wenn wir heute mit Nein stimmen würden? Lieber Kollege Ströbele, Sie werden das ja gleich tun. Meinen Sie nicht, dass Ihr Nein dazu führen könnte, dass die
Tweede Kamer, die in den Niederlanden im nächsten
November über die Verlängerung entscheiden wird, das
Mandat beendet? Meinen Sie nicht, dass dann auch die
Kollegen im Abgeordnetenhaus in Ottawa mit Nein
stimmen und sich dem Mandat verweigern werden?
Was wäre denn die Konsequenz? Afghanistan würde
wieder in die Hände der Taliban fallen. Lieber Kollege
Ströbele, wollen Sie das etwa? Das kann ich mir nicht
vorstellen. Deswegen bitte ich Sie, noch einmal sehr genau darüber nachzudenken, ob ein Nein nicht vielleicht
doch dem Terrorismus die Chance böte, sich weiter einzunisten, den Menschen zu beleidigen und Frauen zu unterdrücken. Das wollen wir beenden, und deswegen
brauchen wir die Verlängerung des ISAF-Mandats.
({5})
Lieber Kollege Ströbele und alle anderen, die noch nachdenken: Stimmen Sie mit Ja, damit ISAF mithelfen
kann, dafür zu sorgen, dass Afghanistan eine Chance
hat, sich gut und friedlich zu entwickeln.
({6})
Frau Kollegin Mogg hat darauf hingewiesen, dass
man sich im Paul-Löbe-Haus gegenwärtig eine Ausstellung über Afghanistan anschauen kann. Ich bitte
Sie herzlich, sich diese Ausstellung anzuschauen. Die
Bilder, die Sie dort sehen können, zeigen Menschen aus
Afghanistan, die, wenn wir mit Nein stimmen würden,
ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft verlieren würden.
Schauen Sie sich das eindrucksvolle Bild an, das eine
Witwe zeigt! Sie heißt Sakina. Dort steht in der Dokumentation, dass sie mit ihren drei Kindern in einer Felshöhle lebt. Sie hat eine ganz kleine Tür, die sie vor Eindringlingen schützt. Diese Tür hat aber nicht vor den
Taliban geschützt, die gekommen sind und ihren Mann
vor ihren Augen erschossen haben. Sakina sagt - auch
das können Sie in der Dokumentation lesen -: Alle Tränen habe ich schon vergossen.
Ich hoffe sehr, dass wir alle bei unseren Entscheidungen, die wir hier treffen, genau solche Menschen vor Augen haben, die ihre Hoffnung darauf setzen, dass sie von
dieser Schreckensherrschaft befreit werden. Unser Ja
dient dazu, dass diese Menschen wissen: Es gibt weit
weg von ihnen, in Europa, in Deutschland und anderswo, gewählte Frauen und Männer in den Parlamenten, die ihr Schicksal sehr genau kennen und mit ihnen
gemeinsam versuchen, Elend, Hunger und Not abzuwenden. Das brauchen diese Menschen. Unser Ja ist ein Ja
zu ihrer guten Zukunft.
Deshalb bitte ich Sie alle, dem Antrag der Bundesregierung zuzustimmen.
({7})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Gysi das
Wort.
({0})
Herr Weisskirchen, ich habe Ihnen und auch Frau
Wieczorek- Zeul sehr genau zugehört. Ich möchte kurz
darauf erwidern.
Erstens. Es gibt viele zivile Aufbauhelfer - das erwähnen Sie nie -, die sagen, dass sie überhaupt nur aktiv
in Afghanistan tätig sein können, wenn der erste Soldat
zehn Kilometer entfernt ist. Das widerlegt Ihre These,
dass sie die Soldaten dringend benötigen, um Aufbauhilfe zu leisten.
({0})
Zweitens. Sie setzen sich nicht mit der Frage auseinander, dass wir nur ein Fünftel der Mittel für Entwicklungshilfe und vier Fünftel der Mittel für die Bundeswehr zur Verfügung stellen. Das Verhältnis ist grob
falsch.
({1})
Drittens. Sie haben mich hier das letzte Mal ausgelacht, als ich von Selbstbefreiung gesprochen habe.
Herr Weisskirchen, worauf hoffen wir beide in Birma?
Wir hoffen auf Selbstbefreiung und nicht darauf, dass
die Bundeswehr das regelt.
({2})
Wir müssen die Mönche und die Zivilbevölkerung unterstützen, damit es dort eine Selbstbefreiung gibt. Allerdings weise ich darauf hin: Anschließend darf der Westen sich nicht die Reichtümer des Landes aneignen.
Auch das ist wichtig, damit es eine Selbstbefreiung wird.
({3})
Lassen Sie mir meine Logik. Sie haben Ihre Logik,
aber auch ich habe eine. Versuchen Sie doch einmal, sie
zu verstehen. Es gibt entsetzliche terroristische Akte.
Darüber sind wir uns völlig einig. Wie reagiert der Westen? Mit Bomben. Wir führen Krieg. Bomben führen immer zu Kollateralschäden, auch in Afghanistan. Dort
wurden zum Beispiel eine Geburtsfeier und eine Hochzeitsgesellschaft bombardiert. Es gibt also unter Unbeteiligten Tote. Was ist die Folge? Als Folge entsteht
Hass. Dann findet sich jemand wie Bin Laden, der den
Hass dieser Leute nutzt und aus ihnen Terroristen macht.
Dann erleben wir die nächsten Anschläge in Madrid und
London. Daraufhin kommen von uns wieder Bomben.
Verstehen Sie nicht, dass wir aus dieser Spirale der Gewalt herausmüssen? Das ist unser Anliegen.
({4})
Lieber Kollege Gysi, offenbar hat es das, was im September 2001 geschehen ist, nicht gegeben. Haben Sie
vergessen, dass die Brutstätte jener Terroristen in Afghanistan war?
({0})
Haben Sie vergessen, dass al-Qaida dort ihren Mordzug
begonnen hat? Haben Sie vergessen, dass es Bin Laden
war, der unsere eigene Zivilisation zum Ziel gemacht
hat, um seine instrumentelle Sicht, seinen Terrorismus
durchzusetzen? Haben Sie das alles vergessen, lieber
Kollege Gysi? Ich habe es nicht vergessen.
({1})
Wenn Sie den Eindruck erwecken, dass die Antwort,
die die UNO gibt - sie ist völkerrechtlich gesichert, steht
auf dem Boden unserer nationalen Rechte und wird
durch das Bundesverfassungsgericht unterstützt -, völkerrechtlich fragwürdig ist, dann muss ich Ihnen sagen:
Sie sind Jurist. Was für ein Jurist sind Sie denn? Was ist
denn das für eine völkerrechtliche Argumentation?
({2})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Hans
Raidel für die CDU/CSU-Fraktion. Dann wird es noch
eine Erklärung zur Abstimmung geben, Herr Kollege
Ströbele, die nach unserer Geschäftsordnung am Schluss
der Aussprache erfolgt. - Kollege Raidel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vor wenigen Monaten saßen Parlamentarierinnen aus Afghanistan hier auf der Tribüne; damals haben
alle Fraktionen weitere Unterstützung zugesagt. Heute
besteht die Möglichkeit, dieses Versprechen einzulösen.
Deswegen bitten wir um Zustimmung zu diesem Mandat. Die Regierung in Afghanistan, die Bevölkerung, das
Parlament, sie alle bitten uns um weitere Unterstützung,
vor allem um deutsche Unterstützung, weil sie um die
Qualität unseres Engagements im zivilen und im militärischen Bereich wissen.
Niemand bestreitet Rückschläge, niemand bestreitet
Schwierigkeiten, aber insgesamt gibt es eine positive
Entwicklung, die doch nicht aufs Spiel gesetzt werden
darf. Das wurde auch heute wieder in allen Beiträgen
deutlich.
Die Bundeswehr leistet einen hervorragenden, einen
entscheidenden Sicherheitsbeitrag; darauf sollten wir
stolz sein, statt diesen Beitrag kleinzureden.
({0})
Ich wünschte mir, dass wir manchmal mehr Zivilcourage
hätten, hier im Parlament und auch draußen bei öffentlichen Diskussionen.
({1})
Ich danke allen, die sich dort in Afghanistan im zivilen und vor allem im militärischen Bereich für diese gute
Sache einsetzen, in erster Linie unserer Bundeswehr. Sie
hat hierbei sicherlich den schwierigsten und gefährlichsten Part zu leisten. Deshalb - das muss hier ebenfalls betont werden - steht der Schutz unserer Soldaten für uns
an oberster Stelle.
Nach meiner Überzeugung leistet die Bundeswehr
auch den wichtigsten Part in dem gesamten Wiederaufbauszenario, weil jeder Kundige weiß: Ohne Sicherheit
gibt es keinen Wiederaufbau. - Dieses Zitat von Ihnen,
Herr Struck, stimmt in vollem Umfang.
({2})
Wir sind im Norden des Landes eingesetzt, meine Damen und Herren, und wir erledigen unsere Aufgaben
umsichtig und vor allem effektiv. Nach meiner Auffassung sollten wir es dabei belassen. Wir sollten keine inhaltliche Ausweitung des Mandates beschließen, weil
wir die Bundeswehr damit personell und materiell überfordern könnten und dadurch die Erfüllung des jetzigen
Auftrages möglicherweise an Qualität einbüßte. Umfangreiche Nothilfe für andere Partner leisten wir ohnehin, materiell und auch personell.
Damit hier nichts falsch verstanden wird: Wir sind für
jede konstruktive Kritik dankbar. Aber Kritik, ohne Besseres anzubieten, kann doch keine Beachtung finden.
Das gilt für NGOs, und das gilt auch hier im Parlament,
meine Damen und Herren. Es kann doch nun wirklich
keine Alternative sein, aus Afghanistan herauszugehen,
denn das würde das bisher Erreichte auf allen Gebieten
gefährden.
Unser Ziel bleibt auch weiterhin: Wir wollen die Herzen der afghanischen Bevölkerung gewinnen und sie auf
dem Weg in eine gute Zukunft unterstützen. Unsere eigene Bevölkerung wollen wir weiter davon überzeugen,
dass unser Engagement auch unserer Sicherheit dient.
Wir kennen alle Probleme in Afghanistan: Wir kennen
unsere dortigen Probleme, wir kennen diejenigen der
Regierung und die der Bevölkerung. Die Bundesregie12370
rung hat deshalb dankenswerterweise einen neuen Afghanistan-Plan beschlossen. Die Erhöhung der Sicherheit und die Fortsetzung des zivilen Aufbaus werden neu
bewertet und verbessert. Wir begrüßen diesen Fortschritt
und unterstützen alle Einzelmaßnahmen.
Meine Damen und Herren, mit dem heutigen Beschluss zur Verlängerung dieses Mandats stehen unsere
Glaubwürdigkeit und unsere Zuverlässigkeit bei der
Bevölkerung in Afghanistan auf dem Prüfstand. Wir dürfen nicht nur Staub aufwirbeln, sondern wir müssen dort
auch Spuren hinterlassen. Deswegen bitte ich Sie alle:
Geben Sie unseren Soldaten mit Ihrer Zustimmung den
notwendigen parlamentarischen Rückhalt! Setzen wir
für Afghanistan ein weiteres Zeichen der Hoffnung!
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Druck-
sache 16/6612 zu dem Antrag der Bundesregierung zur
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicher-
heitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter Führung
der NATO.
Hierzu liegen zahlreiche Erklärungen zur Abstim-
mung von Mitgliedern des Hauses vor, die dem Proto-
koll beigefügt werden.1)
Bevor wir mit der Abstimmung beginnen, erhält nach
§ 30 unserer Geschäftsordnung der Kollege Ströbele die
Gelegenheit, eine Erklärung zur Aussprache abzugeben,
in der die Möglichkeit besteht, Äußerungen klarzustellen, die sich auf die eigene Person bezogen haben. Diese
Erklärung erfolgt nach unserer Geschäftsordnung nach
Schluss der Aussprache, also jetzt. Sie müssen sich daher noch einen kleinen Augenblick gedulden. Ich
schlage vor, dass Sie das im Sitzen tun.
Bitte schön, Herr Kollege Ströbele.
Danke, Herr Präsident. - Ich habe mich zu Wort ge-
meldet, weil mich der Kollege Weisskirchen in seiner
Rede mehrfach angesprochen und aufgefordert hat, statt
mit Nein mit Ja zu stimmen. Er hat einige Gründe vorge-
tragen, zu denen ich etwas sagen möchte.
Herr Kollege Weisskirchen, ich hatte den Eindruck,
Sie haben Ihre Rede von vor drei Jahren gehalten. Die-
sen Eindruck hatte ich auch bei der Rede der Ministerin
und bei einigen Reden aus den Reihen der Koalition,
weil keiner von Ihnen - auch Sie nicht, Herr
Weisskirchen - mit einer einzigen Silbe dazu Stellung
1) Anlagen 2 bis 10
genommen hat, dass sich die Situation in Afghanistan in
den letzten drei Jahren dramatisch verändert hat.
Sie sagten, Sie wollen die Herzen der Menschen in
Afghanistan gewinnen. Wir sind immer weiter davon
entfernt, die Herzen der Menschen zu gewinnen.
({0})
Ich will mich jetzt nicht mit Ihnen darüber streiten, ob es
überhaupt noch viele Leute in Afghanistan gibt, die sagen: Die Militärs sollen bleiben. Aber eines ist klar: Die
OEF-Einsätze, die im Süden Afghanistans stattfinden,
tragen dazu bei, das Hass gesät wird und den Taliban
neue Kämpfer zugetrieben werden.
Sie können doch nicht heute Ihre Rede von damals
halten, ohne darauf einzugehen, dass sich die Sicherheitslage in Afghanistan dramatisch verschärft hat, dass
die Zahl der Gewalttaten um 30 Prozent gestiegen ist
und dass allein in den ersten neun Monaten dieses Jahres
viel mehr Menschen in Afghanistan im Krieg umgekommen sind als im ganzen letzten Jahr. Sie müssen zur
Kenntnis nehmen, dass diese Art der Kriegsführung in
die Irre führt, dass ein Strategiewechsel dringend erforderlich ist, dass man der Fortsetzung des ISAF-Mandats
nicht zustimmen kann, wenn kein Strategiewechsel stattfindet,
({1})
und dass die Bundesregierung zu einem Strategiewechsel verpflichtet ist.
Sie haben hier behauptet, ISAF hat lediglich die Aufgabe, den Aufbau sicherzustellen und die Bevölkerung
zu schützen. Das war das ursprüngliche Mandat von
ISAF. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass heute jeden Tag,
jede Woche ISAF-Soldaten an dem Offensivkrieg im Süden Afghanistans beteiligt sind, dass sie genauso wie die
OEF-Soldaten an der offensiven Kriegführung schuld
sind, bei der immer wieder Dutzende, Hunderte von Zivilisten umkommen. Wenn Sie mir das nicht glauben,
dann glauben Sie das Herrn Generalmajor Kasdorf, der
vorgestern in der FAZ erklärt hat: 90 Prozent der Spezialeinsätze von OEF geschehen mit Unterstützung
durch ISAF-Einsätze, sind überhaupt nicht denkbar ohne
die Unterstützung durch ISAF-Einsätze.
Wer das alles zur Kenntnis nimmt, der muss einen
Strategiewechsel fordern. Ohne einen Strategiewechsel
führt das in die Irre. Auch die Bedrohung, in Deutschland, in Europa durch terroristische Anschläge getroffen
zu werden, bomben Sie und andere in Afghanistan geradezu herbei. Deshalb werde ich dabei bleiben, hier mit
Nein zu stimmen.
({2})
Nun mache ich noch einmal darauf aufmerksam, dass
es zu diesem Antrag der Bundesregierung eine Be-
schlussempfehlung gibt. Diese Beschlussempfehlung
Präsident Dr. Norbert Lammert
auf der Drucksache 16/6612 hat zum Inhalt, diesem An-
trag zuzustimmen.
Es ist hier namentliche Abstimmung verlangt. Ich
bitte noch einmal, bei der Stimmabgabe darauf zu ach-
ten, dass die Stimmkarten, die Sie verwenden, Ihren Na-
men tragen. Ich nehme an, dass die Schriftführerinnen
und Schriftführer an den vorgesehenen Stellen ihre
Plätze eingenommen haben. - Das scheint der Fall zu
sein. Ich eröffne die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimmkarte nicht abgegeben hat? - Das scheint nicht der
Fall zu sein. Dann schließe ich die Abstimmung und
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der
Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung
werden wir später bekanntgeben.1)
Ich komme jetzt zur Beschlussempfehlung des Aus-
wärtigen Ausschusses auf Drucksache 16/6613 zu dem
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke zu dem
Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteili-
gung bewaffneter deutscher Streitkräfte in Afghanistan.
Der Ausschuss empfiehlt, den Entschließungsantrag auf
Drucksache 16/6461 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung des gan-
zen Hauses gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke
angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die weiteren Ent-
schließungsanträge:
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion der FDP auf Drucksache 16/6663? - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist
bei Zustimmung der FDP und Ablehnung des übrigen
Hauses abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 16/6660? - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist
bei Zustimmung der Fraktion Die Linke und Gegenstim-
men des übrigen Hauses ebenfalls abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/6661? -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungs-
antrag ist bei Zustimmung von Bündnis 90/Die Grünen
und Gegenstimmen des übrigen Hauses ebenfalls abge-
lehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/6662? -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungs-
antrag ist mit dem gleichen Ergebnis wie vorher abge-
lehnt.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Sibylle Laurischk, Rainer Brüderle, Dirk Niebel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
1) Ergebnis Seite 12373 C
Konsequenzen der Auswanderung Hochqualifizierter aus Deutschland
- Drucksachen 16/3210, 16/5417 Hierzu ist verabredet, eineinhalb Stunden zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der
Kollegin Sibylle Laurischk für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nachdem in dieser Woche verkündet wurde, dass zwei deutsche Naturwissenschaftler den Nobelpreis erhalten,
könnten wir vielleicht der Meinung sein, dass die Auswanderung Hochqualifizierter in Deutschland keine
Rolle spielt.
Tatsächlich verlassen jährlich jedoch Zehntausende
das Land. Die Zahl steigt um rund 10 000 im Jahr. Insgesamt verlassen offiziell 155 000 Menschen im Jahr
Deutschland. Dabei werden aber nur diejenigen als Auswanderer gezählt, die sich bei den Meldeämtern abmelden. Die eigentliche Zahl dürfte höher liegen. Wir gehen
davon aus, dass sich 100 000 Menschen nicht abmelden,
sondern bei Freunden und Verwandten gemeldet bleiben.
Insofern muss man wohl davon ausgehen, dass pro Jahr
rund eine viertel Million Menschen aus Deutschland
auswandern.
Es ist nicht verwunderlich, dass das Phänomen Auswanderung einen immer breiteren Raum in der öffentlichen Diskussion einnimmt. In etlichen Medienberichten
und mittlerweile auch Fernsehsendungen beschäftigt
man sich mit dieser Thematik.
({0})
Es fällt auf, dass der Impuls, sein Glück in einem fremden Land zu suchen, nur zu einem geringen Teil von
Abenteuerlust und Suche nach Selbstverwirklichung geprägt ist. Viele Auswanderer treffen keine Entscheidung
pro Auswanderung, sondern gegen die hiesigen Verhältnisse. Es erfolgt eine Abstimmung mit den Füßen.
({1})
Hierbei sind die Gründe vielfältig, sie haben aber den
gemeinsamen Nenner, dass bekannte Strukturprobleme
in Deutschland seit Jahren nicht systematisch beseitigt
werden. Zu nennen sind unter anderem bürokratische
Hemmnisse für Selbstständige und Existenzgründer,
eine mangelhaft ausgestattete Forschungslandschaft und
bessere und offenere Forschungsbedingungen in anderen
Ländern.
({2})
- Sie haben etwas nicht verstanden, Herr Tauss. - Ärzte
haben im Ausland neben einem höheren Salär auch geordnete Arbeitszeiten. Die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf ist bei uns mangels klarer Kinderbetreuungsangebote nicht gegeben. Junge Menschen aus den neuen
Bundesländern sind einfach gezwungen, wegzugehen,
um überhaupt Arbeit zu finden. Die Steuerquote ist in
Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern zu hoch.
Die FDP fordert seit Jahren eine Steuerreform. Die
Mehrwertsteuererhöhung mit den entsprechenden Preissteigerungen tut ein Übriges.
({3})
Die Auffassung der Bundesregierung in der Antwort
auf unsere Große Anfrage, dass eine isolierte Betrachtung der Auswanderung zu kurz greife, da die Rückkehrerquote doch hoch sei, teile ich überhaupt nicht. Bei der
Betrachtung der Auswanderung geht es in erster Linie
nicht um diejenigen, die gezielt eine Tätigkeit im Ausland suchen, um ihre Karriere zu forcieren und dann hier
wieder fortzusetzen, sondern um diejenigen, die talentiert und qualifiziert, aber dennoch in Deutschland
perspektivlos sind und deren Chancen im Ausland,
selbst auf kurze Zeit gesehen, erheblich besser sind. Ich
erinnere hier auch an die Generation Praktikum, die sich
ausgenutzt fühlt und aus solchen Erfahrungen heraus bereit ist zu gehen.
Die Auswanderung spielt international zunehmend
eine Rolle und ist eine Folge der Globalisierung von
Wirtschaft und Wissenschaft. Dabei kommt es zu einem
Wettbewerb um die besten Köpfe. Durch ihn entscheidet
sich, wer bei den Zukunftstechnologien, aber auch in
entscheidenden Wirtschaftsbereichen erfolgreich mithalten kann.
({4})
Für Deutschland kommt es darauf an, in diesem Wettbewerb nicht auf der Verliererseite zu stehen.
({5})
Gravierende ökonomische Gründe lassen es Arbeitnehmern lohnend erscheinen, ins Ausland zu gehen.
1982, also vor 25 Jahren, stand Deutschland immerhin
beim Pro-Kopf-Einkommen weltweit auf Platz 3. Heute
ist Deutschland beim Pro-Kopf-Einkommen weltweit
auf Platz 18 abgesackt. Dies zeigt, dass es nicht nur
handfeste ökonomische Gründe für die Entscheidung zur
Auswanderung gibt, sondern zugleich auch gute Gründe
dafür, dass es aus der Sicht Hochqualifizierter wenig
sinnvoll erscheint, den Weg der Einwanderung nach
Deutschland zu suchen.
Für den deutschen Arbeitsmarkt werden aber dringend Fachkräfte benötigt. Beispielsweise fehlen schon
heute 50 000 Ingenieure, deren Stellenbesetzung die
Schaffung neuer Arbeitsstellen im nachgeordneten Bereich bewirken würde. Somit ist die qualifizierte
Zuwanderung nicht nur notwendig, um die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Deutschlands zu erhalten, sondern auch ein aktiver Beitrag, um die Arbeitslosigkeit zu
verringern.
Es ist für uns wichtig, dass Talente hier verbleiben
bzw. ins Land kommen, denn sie sind gut ausgebildet
und hochmotiviert. Der Wandel weg vom produzierenden Gewerbe hin zum Dienstleistungssektor, der sich
seit Jahrzehnten vollzieht, ist darauf angewiesen, dass
die Arbeitnehmer über einen hohen Bildungsgrad verfügen.
({6})
Der Bedarf an Fach- und Hochschulabsolventen
steigt ständig, während die Zahl der Studierenden sinkt.
Deutschland ist neben Japan, Tschechien, Ungarn und
Italien das einzige OECD-Land,
({7})
in dem bereits heute die Erwerbsbevölkerung schrumpft,
wenn keine Zuwanderung stattfindet. Da wir gerade das
Stichwort Studiengebühren hören: Wir sollten uns
wirklich überlegen, was es das Land kostet, wenn gut
ausgebildete und weitgehend auf Kosten der Öffentlichkeit ausgebildete Leute gehen. Das ist volkswirtschaftlicher Unsinn.
({8})
Die Freizügigkeit ist eine der Errungenschaften des
Grundgesetzes, und die Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der EU ist eine Errungenschaft der EU. Aufgabe
der Politik ist es allerdings, Tendenzen zu erkennen, die
schädlich für die deutsche Volkswirtschaft sind. Ein Beispiel habe ich gerade genannt.
Ein Land wie Russland, das bislang ein Auswanderungsland war, hat erkannt, dass der Staat aktiv gegen
den eigenen Bevölkerungsschwund vorgehen muss.
Russlanddeutsche werden wieder eine Perspektive in
Russland haben und fühlen sich dort zunehmend akzeptiert. Der russische Staat hat sogar ein Rückkehrprogramm für im Ausland lebende Russen aufgelegt.
({9})
Obwohl es mittlerweile einen Minimalkonsens zwischen den Parteien gibt, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und aufgrund des demografischen
Wandels die weitere Einwanderung Hochqualifizierter
notwendig ist, um die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit
zu halten bzw. auszubauen, sind die Strukturen nicht darauf ausgerichtet. Dies müssen wir endlich ändern.
Für mich war es daher geradezu sensationell, dass die
Bundesregierung bei der Beantwortung der Großen Anfrage zur Auswanderung Hochqualifizierter einräumte,
dass eine Zuwanderungssteuerung über ein sogenanntes Punktesystem sinnvoll sein könnte. Dies hätte auch
aus FDP-Sicht den Vorteil, dass die Zuwanderung über
passgenaue Profile relativ genau gesteuert werden
könnte.
({10})
Ein solches System würde mit gleichzeitigen wirtschaftlichen Strukturreformen Deutschland wieder einen
großen Schritt voranbringen. Die deutsche Wirtschaft
begrüßt ein solches positives Zuwanderungssignal ausdrücklich. Wirtschaftlich erfolgreiche Einwanderungsländer wie Kanada haben ein solches Punktesystem. Es
ist sicherlich eine verpasste Chance der jüngsten Reform
des Zuwanderungsrechts, dass wir diese qualifizierte Zuwanderung nicht in die Diskussion und auch nicht in die
Gesetzgebung aufgenommen haben.
({11})
- Sie sind doch in der Regierung, oder täusche ich mich
da?
({12})
Das Integrationsklima in Deutschland muss sich noch
weiter verbessern; denn eine gute Integrationspolitik ist
ein Standortvorteil. Das sage ich insbesondere mit Blick
auf die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung.
Die FDP will Reformen; das habe ich bereits ausgeführt.
Die Auswanderung würde damit abgebaut werden. Wir
würden ein positives Klima für qualifizierte Zuwanderung schaffen und damit den negativen Blick auf die
Einwanderung hin zu den Chancen lenken, die sie bietet.
({13})
Ich komme zurück zum letzten Tagesordnungspunkt
und gebe Ihnen das Ergebnis der namentlichen
Abstimmung bekannt: Abgegebene Stimmen 581. Mit
Ja haben gestimmt 454, mit Nein haben gestimmt 79,
und enthalten haben sich 48 Abgeordnete. Damit ist die
Beschlussempfehlung angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 581;
davon
ja: 454
nein: 79
enthalten: 48
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Veronika Bellmann
Otto Bernhardt
Clemens Binninger
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Maria Eichhorn
Dr. Stephan Eisel
Anke Eymer ({1})
Georg Fahrenschon
Ilse Falk
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({2})
Dirk Fischer ({3})
Axel E. Fischer ({4})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({5})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Michael Glos
Ralf Göbel
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Olav Gutting
Holger Haibach
Gerda Hasselfeldt
Ursula Heinen
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Susanne Jaffke
Dr. Peter Jahr
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({6})
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({7})
Volker Kauder
Julia Klöckner
Jens Koeppen
Kristina Köhler ({8})
Norbert Königshofen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Johann-Henrich
Krummacher
Dr. Karl A. Lamers
({9})
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Stephan Mayer ({10})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Friedrich Merz
Laurenz Meyer ({11})
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Marlene Mortler
Hildegard Müller
Carsten Müller
({12})
Stefan Müller ({13})
Bernward Müller ({14})
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Daniela Raab
Thomas Rachel
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({15})
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Johannes Röring
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht ({16})
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({17})
Hermann-Josef Scharf
Hartmut Schauerte
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({18})
Andreas Schmidt ({19})
Ingo Schmitt ({20})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Horst Seehofer
Kurt Segner
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Thomas Strobl ({21})
Hans Peter Thul
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß ({22})
Gerald Weiß ({23})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Gerd Andres
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr ({24})
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Ute Berg
Petra Bierwirth
Lothar Binding ({25})
Volker Blumentritt
Kurt Bodewig
Clemens Bollen
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({26})
Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Karl Diller
Martin Dörmann
Dr. Carl-Christian Dressel
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Sigmar Gabriel
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Angelika Graf ({27})
Dieter Grasedieck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
({28})
Nina Hauer
Hubertus Heil
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Iris Hoffmann ({29})
Frank Hofmann ({30})
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Johannes Jung ({31})
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Angelika Krüger-Leißner
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christian Lange ({32})
Dr. Karl Lauterbach
Waltraud Lehn
Gabriele Lösekrug-Möller
Lothar Mark
Caren Marks
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Petra Merkel ({33})
Dr. Matthias Miersch
Detlef Müller ({34})
Michael Müller ({35})
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Steffen Reiche ({36})
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel RiemannHanewinckel
Walter Riester
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({37})
Michael Roth ({38})
Ortwin Runde
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({39})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
Otto Schily
Dr. Frank Schmidt
Ulla Schmidt ({40})
Silvia Schmidt ({41})
Renate Schmidt ({42})
Olaf Scholz
Reinhard Schultz
({43})
Swen Schulz ({44})
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Dieter Steinecke
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Jella Teuchner
Jörn Thießen
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Gunter Weißgerber
({45})
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Dr. Dieter Wiefelspütz
Engelbert Wistuba
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Dr. Karl Addicks
Christian Ahrendt
Daniel Bahr ({46})
Ernst Burgbacher
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({47})
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Miriam Gruß
Elke Hoff
Birgit Homburger
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Dr. Werner Hoyer
Gudrun Kopp
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Michael Link ({48})
Markus Löning
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({49})
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg Rohde
Frank Schäffler
Dr. Konrad Schily
Marina Schuster
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Christoph Waitz
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({50})
Martin Zeil
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({51})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Priska Hinz ({52})
Fritz Kuhn
Anna Lührmann
Nicole Maisch
Omid Nouripour
Krista Sager
Margareta Wolf ({53})
Nein
CDU/CSU
Wolfgang Börnsen
({54})
Norbert Schindler
Willy Wimmer ({55})
SPD
Dr. Lale Akgün
Gregor Amann
Klaus Barthel
Marco Bülow
Reinhold Hemker
Petra Hinz ({56})
Jürgen Kucharczyk
Sönke Rix
Heinz Schmitt ({57})
Andreas Steppuhn
Dr. Wolfgang Wodarg
Waltraud Wolff
({58})
FDP
Joachim Günther ({59})
Heinz-Peter Haustein
Jürgen Koppelin
DIE LINKE
Hüseyin-Kenan Aydin
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Klaus Ernst
Diana Golze
Heike Hänsel
Lutz Heilmann
Cornelia Hirsch
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Hakki Keskin
Katja Kipping
Monika Knoche
Jan Korte
Katrin Kunert
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Kornelia Möller
Kersten Naumann
Wolfgang Nešković
Dr. Norman Paech
Petra Pau
Bodo Ramelow
Elke Reinke
Paul Schäfer ({60})
Volker Schneider
({61})
Dr. Herbert Schui
Dr. Ilja Seifert
Frank Spieth
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Dr. Anton Hofreiter
Sylvia Kotting-Uhl
Monika Lazar
Dr. Harald Terpe
Fraktionsloser
Abgeordneter
Gert Winkelmeier1)
Enthalten
CDU/CSU
Peter Albach
Dr. Wolf Bauer
Manfred Kolbe
SPD
Dr. Axel Berg
Martin Burkert
Dr. Peter Danckert
Christian Kleiminger
Christine Lambrecht
Dirk Manzewski
Marko Mühlstein
Maik Reichel
Ottmar Schreiner
Ewald Schurer
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Dr. Rainer Tabillion
FDP
Dr. Edmund Peter Geisen
Michael Kauch
Dr. Heinrich L. Kolb
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Volker Beck ({62})
Grietje Bettin
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Ulrike Höfken
Thilo Hoppe
Ute Koczy
Markus Kurth
Undine Kurth ({63})
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({64})
Brigitte Pothmer
Claudia Roth ({65})
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Jürgen Trittin
Josef Philip Winkler
1) Korrektur gegenüber der Fassung vom 12. Oktober 2007
Ich komme zurück zu unserer Redeliste und gebe das
Wort dem Herrn Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
für die CDU/CSU-Fraktion.
({66})
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Das Thema Auswanderung ist bekanntermaßen nicht neu. In früheren Zeiten waren es eher Armut
und Verfolgung, die Menschen dazu bewegten, in eine
ungewisse neue Welt zu reisen. Heute, in der globalisierten und immer enger zusammenwachsenden Welt, sind
die Motive vielfältiger. Die Bandbreite reicht von Rentnern, die das Klima südlicher Länder schätzen, über
Menschen, die zu einem Lebenspartner ziehen, den sie
irgendwann kennengelernt haben, bis zu Berufstätigen,
die von ihrem Arbeitgeber ins Ausland geschickt
werden, und Wissenschaftlern, die an internationalen
Instituten arbeiten oder Lehr- und Forschungsaufträge
außerhalb Deutschlands als willkommene Gelegenheit
wahrnehmen, ihr Wissen zu erweitern.
Die Motive für Auswanderung gehen aus unserer
Statistik so wenig hervor wie die Antwort auf die Frage,
ob ein registrierter Fortzug eine dauerhafte oder nur eine
befristete Ausreise ist. Deswegen, Frau Kollegin
Laurischk, ist es angesichts des vorhandenen statistischen Materials zumindest fragwürdig, ob Ihre Schlussfolgerungen belastbar sind.
({0})
Nach einer Studie der Deutschen Bundesbank vom
Dezember 2006 ist Deutschland noch vor Japan, den
Vereinigten Staaten von Amerika und China die real und
finanziell offenste Volkswirtschaft. Die deutsche Wirtschaft lebt vor allem vom Export. Auch der gegenwärtige Aufschwung ist von der Weltnachfrage nach
deutschen Investitionsgütern getragen. Wir sind wirtschaftlich stärker als jedes andere Land in die Globalisierung eingebunden, und der überwiegende Teil der
Mitarbeiter großer deutscher Unternehmen - Ausländer
und Deutsche - arbeitet im Ausland. Man muss schon in
die Statistik hineinschauen; dann kommt man nämlich
auf die eigentlichen Gründe. Vielleicht ist es deshalb
eher selbstverständlich als überraschend, dass in einer so
stark exportorientierten Volkswirtschaft die Menschen
bereit sind, ihr Land auch einmal aus beruflichen Gründen zu verlassen. Für unsere bedeutende Stellung als Exportland auf den internationalen Handelsmärkten ist das
eine notwendige Voraussetzung für den Erfolg.
Übrigens gibt es auch in meinem Haus immer mehr
Beamte, die für mehrere Jahre ins Ausland ziehen, um
dort Aufgaben wahrzunehmen. Sie werden zwar auch in
der Statistik berücksichtigt, sind aber keine Auswanderer.
Diese Entwicklung - das ist genauso wichtig, Frau
Kollegin Laurischk - beschränkt sich nicht auf Deutschland. In unseren europäischen Nachbarländern - in England, Dänemark und Finnland - ist es ähnlich. In Frankreich und Österreich nimmt man - ähnlich wie Sie es
darstellen - die Auswanderung teilweise als Bedrohung
wahr. Die Schweizer, bei denen auch mehr Menschen
auswandern als einwandern, sehen diese Entwicklung
- wie anderes auch - viel gelassener.
Die gegenseitigen Wanderungsströme werden sich
nicht regelmäßig ausgleichen. Dieses Phänomen gilt für
alle europäischen Länder. Es ist Ausdruck der Globalisierung. Das heißt nicht, dass man das Phänomen steigender Wanderungsbewegungen ignorieren und nicht
versuchen sollte, zu eruieren, was die Gründe sind. Insofern greift die Große Anfrage, die wir heute beraten, ein
wichtiges Thema auf. Aber es ist falsch - wie es gelegentlich geschieht -, in den gestiegenen Zahlen reflexartig eine Bedrohung oder geradezu einen Beweis für den
Niedergang unseres Landes zu sehen. Die Ursachen und
die Auswirkungen sind einfach viel zu komplex. Man
muss unbefangen und dafür genauer hinschauen.
({1})
Problematisch wird Auswanderung dann, wenn Menschen Deutschland den Rücken kehren, nicht weil sie
eine besondere, vielleicht eine einmalige Chance im
Ausland wahrnehmen oder Auslandserfahrung sammeln
wollen, sondern weil sie hier schlicht keine Chancen für
sich sehen. Deswegen muss unser Ziel - auch das Ziel
weiterer Reformen - sein, die Bedingungen in unserem
Staat so zu gestalten, dass alle eine Chance haben, dass
Leistung sich lohnt, also zum Erfolg führt. Aber hier
sind wir seit zwei Jahren auf einem guten Weg, wie jede
Statistik belegt.
Im Übrigen stimmt die Bundesregierung mit den Fragestellern überein, dass es im Zuge der Globalisierung
auch um einen Wettbewerb um die besten Köpfe geht;
das ist zwangsläufig so. Wir müssen natürlich darauf
achten, dass wir in diesem Wettbewerb attraktiv bleiben.
Also müssen wir Standortbedingungen erhalten oder
schaffen, damit deutsche Hochqualifizierte nicht auf
Dauer weggehen, sondern dass sie bleiben oder mit internationaler Erfahrung ausgerüstet zurückkommen. Dafür sind die beiden diesjährigen Nobelpreisträger Peter
Grünberg und Gerhard Ertl, denen ich im Namen aller
meiner Kollegen meinen Glückwunsch aussprechen
möchte,
({2})
interessante Beispiele. Peter Grünberg verbrachte drei
Jahre an der Carleton-Universität in Kanada. Gerhard
Ertl studierte in den 50er-Jahren an der Pariser Sorbonne
und übernahm später verschiedene Gastprofessuren in
den USA. Frau Kollegin Laurischk, nach Ihrer Argumentation hätte jede dieser Auswanderungen zu größten
Sorgen Anlass geben müssen. Beide haben nun den Nobelpreis und arbeiten in Deutschland.
({3})
- Jedenfalls sind sie hier. Beide Nobelpreisträger haben
im Ausland gearbeitet und beide sind zurückgekommen.
Beide haben übrigens gesagt, dass die Bedingungen in
Deutschland gar nicht so schlecht seien.
({4})
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist eine der Grundfreiheiten in der Europäischen Union; auch das fließt in
die Statistik ein. Die Wanderung von Arbeitnehmern ist
ein notwendiger und - ich sage auch - gewünschter Prozess für das Zusammenwachsen. Wir sollten also nicht
allzu sehr Angst davor haben, dass Hochqualifizierte ins
Ausland gehen. Wir sollten besser Verbindung mit ihnen
halten, damit sie eines Tages zurückkehren. Vielleicht
sollten wir uns über eine bessere Betreuung der Deutschen im Ausland Gedanken machen. Je enger unsere
Verbindung zu Deutschen im Ausland ist, desto mehr
profitieren wir alle von den Erfahrungen, die sie im Ausland machen, und desto eher können wir ihnen den Weg
zurück ebnen.
({5})
Es ist unstreitig, dass wir Nachwuchskräfte aus der
ganzen Welt für den Wissenschafts- und ForschungsBundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
standort Deutschland gewinnen und möglichst hier halten möchten und müssen. Das ist eine gemeinsame Aufgabe von Bund und Ländern, die sie zusammen mit den
Hochschulen und den außeruniversitären Forschungseinrichtungen wahrnehmen müssen. Nur so bekommen wir
ein attraktives, konkurrenzfähiges Wissenschaftssystem,
das dem wissenschaftlichen Nachwuchs berechenbare
Karrierewege bietet. Das bedarf dauerhafter Anstrengung. Aber so schlecht, wie es manchmal dargestellt
wird, sind wir auch nicht, wenn man der Meinung des
Nobelpreisträgers Ertl Glauben schenken darf.
({6})
Die Bundesregierung fördert im Übrigen den wissenschaftlichen Nachwuchs durch eine Vielzahl von Maßnahmen im Rahmen der Programm- und Projektförderung, zum Beispiel durch die Förderung der
universitären Spitzenforschung im Rahmen der Exzellenzinitiative, und in erheblichem Umfang auch indirekt
durch die institutionelle Förderung der Wissenschaftsund Mittlerorganisationen.
Mit der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes
wurden Regelungen in Kraft gesetzt, die im weltweiten
Wettbewerb um die besten Köpfe die Zuwanderung
Hochqualifizierter nach Deutschland erleichtern.
({7})
Gänzlich neu und mit den Zuwanderungsregelungen anderer Staaten der Europäischen Union nicht vergleichbar
ist, dass wir Hochqualifizierten in Forschung und Lehre
von Anfang an und ohne jede Gehaltsgrenze ein Daueraufenthaltsrecht bieten. Das haben andere Staaten in Europa gar nicht; das muss man einmal sagen.
({8})
Nur für den Bereich der Wirtschaft haben wir eine Gehaltsgrenze festgelegt, weil andere Qualifikationsmerkmale in diesem Bereich nicht zielführend sind. Bedenkt
man, dass auch dort von Anfang an ein Daueraufenthaltsrecht eingeräumt wird, dann halte ich die Gehaltsgrenze insoweit für durchaus gerechtfertigt. Insgesamt
bieten die neuen Bestimmungen zur Arbeitsmigration
weitaus mehr Flexibilität als frühere Regelungen. Es
empfiehlt sich allerdings, sie zu kennen, bevor man sie
kritisiert.
({9})
Mit den neuen Regeln im gerade geänderten Zuwanderungs- und Bleiberecht haben wir auch die Hürden für
Ausländer, die in Deutschland investieren und Arbeitsplätze schaffen wollen, weiter gesenkt. Die Mindestinvestitionssumme ist auf eine halbe Million Euro und die
Zahl der zu schaffenden Arbeitsplätze auf fünf halbiert
worden. Auch das in der Richtlinie der EU vorgesehene
vereinfachte Verfahren zur Zulassung von Forschern ist
bereits in der Gesetzesänderung berücksichtigt, die am
28. August dieses Jahres in Kraft getreten ist.
({10})
- Natürlich sind wir offen. Herr Tauss, wenn man aber
gucken will, muss man zuerst einmal wissen, was ist;
das empfiehlt sich immer. Deswegen habe ich vorgetragen, was wir gerade verabschiedet haben.
({11})
Jetzt haben wir uns auf der Kabinettsklausur in Meseberg darauf verständigt, kurzfristig weitere Maßnahmen
in Kraft zu setzen. Um aktuelle Engpässe in Ingenieurberufen auszugleichen, wird die Bundesagentur für Arbeit ab Mitte Oktober - das ist schon bald; heute ist bereits der 12. Oktober - bei Bewerbern aus den neuen
zwölf Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf die
individuelle Vorrangprüfung verzichten. Ebenso werden
wir bei ausländischen Absolventen deutscher Hochschulen auf die individuelle Vorrangprüfung verzichten, um
ihren Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt zu erleichtern. Der dazu erforderlichen Verordnung hat das Kabinett bereits zugestimmt.
({12})
Es ist natürlich richtig, zunächst möglichst das eigene
Potenzial auszuschöpfen. Auch das muss man dabei bedenken.
({13})
Die künftige Arbeitsmarktentwicklung und der durch
den demografischen Wandel zu erwartende wachsende
Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften können es aber
notwendig machen, weitere Öffnungen des Arbeitsmarkts vorzunehmen. Deswegen haben wir in Meseberg
im Hinblick auf mittel- und langfristige Perspektiven beschlossen, dass die zuständigen Ressorts zügig einen
Vorschlag für ein systematisches Monitoring zur Ermittlung des Bedarfs entwickeln werden, um eine verlässliche Grundlage für Entscheidungen zu schaffen. Die
Bundesregierung will eine arbeitsmarktadäquate Steuerung der Zuwanderung hochqualifizierter Fachkräfte erreichen und so die Position unseres Landes im Wettbewerb um die Besten weiter stärken.
({14})
Dabei kommt übrigens auch den deutschen Auslandsschulen eine wichtige Rolle zu.
Wir werden ein Zuwanderungskonzept entwickeln,
das den Interessen unseres Landes auch im nächsten
Jahrzehnt Rechnung trägt, und wir werden quantitative
und qualitative Instrumente einsetzen. Wir werden die
Erfahrungen auch anderer Länder bei der arbeitsmarktbezogenen Steuerung von Zuwanderung einbeziehen.
Schließlich werden wir aufmerksam beobachten, wie
sich die Zuwanderungsregelungen im europäischen Rahmen entwickeln. Die Kommission will in Kürze eine
Richtlinie zur Zuwanderung von Hochqualifizierten vorlegen, die wir einer genauen Prüfung unterziehen wollen
und bei der wir in manchen Punkten ein wenig Grund
zur Skepsis haben; um auch dies nicht zu verschweigen.
Jedenfalls ist es gut, dass wir uns nicht verschließen,
sondern aktiv am internationalen Austausch teilnehmen.
Es ist erfreulich, dass die deutsche Expertise international gefragt ist. So bin ich zuversichtlich, dass es uns
auch in der Zukunft gelingt, die Balance zwischen Weltoffenheit und Heimatbindung in Deutschland zu halten.
Noch einmal in einem Satz: Es ist wichtig, dass wir uns
mit diesen Fragen beschäftigen, aber ich warne vor falschen Schlussfolgerungen aus statistischem Material.
Wir wissen, dass Zuwanderung jedenfalls in der Art, die
wir statistisch erfassen, in der globalisierten Welt eine
notwendige Voraussetzung dafür ist, dass Deutschland
seine Position auf den Weltmärkten erhalten kann.
Herzlichen Dank.
({15})
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt die Kollegin
Dr. Petra Sitte.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bis jetzt
läuft die Debatte so, wie ich es mir schon gedacht hatte:
Unter dem Titel „Konsequenzen der Auswanderung
Hochqualifizierter aus Deutschland“ wird darüber geredet, ob Deutschland nun einen positiven oder negativen
Wanderungssaldo hat. Es werden die Berufsperspektiven
Hochqualifizierter in Wissenschaft und Wirtschaft thematisiert. Hochqualifizierte werden sozusagen nach
Nützlichkeit abgecheckt. Es werden Verluste der Wirtschaft infolge des Fachkräftemangels thematisiert. Es
werden Änderungen des Aufenthaltsgesetzes und die
Einführung eines Punktesystems zur Steuerung von Zuwanderung gefordert, und letztlich wird über die Lockerung von Freizügigkeitsregelungen für EU-Arbeitnehmerinnen und -Arbeitnehmer diskutiert. Das alles ist
nachzulesen und ist hier zum Teil schon angesprochen
worden.
Es ist unter den gegebenen Bedingungen und aus Ihrer Sicht durchaus richtig, das zu thematisieren. Wir aber
kritisieren genau dieses Herangehen an dieses Thema.
Sie doktern damit nämlich nur an den Symptomen herum. Noch viel schlimmer ist: Sie verlieren die Ursachen
für diese Misere aus den Augen. Insofern nutze ich die
heutige Debatte sehr gern, um einiges Grundsätzliches
zu sagen und um auch auf diese Ursachen aufmerksam
zu machen. Auf den Punkt gebracht: Es geht in Ihrem
Ansatz um die Kapitalisierung von Wissen. Wissen ist
zur Hauptquelle von Wertschöpfung und Profit geworden. Was bedeutet das für unsere Debatte ganz grundsätzlich?
Erstens. Menschen werden mit all ihren Fähigkeiten
und mit ihrer hohen Qualifizierung, also mit ihrem lebendigen Wissen, als ökonomischer Bestandteil dieses
Systems betrachtet.
({0})
- Sie sind weit mehr, Herr Barth. Darauf bestehe ich in
dieser Debatte.
Zweitens. Auch Wissen, das bereits vorhanden ist,
das viel früher gewonnen wurde, das als verfügbare Erkenntnis vorliegt, das man nachschlagen kann, soll umfassend kommerzialisiert werden.
Beides, hochqualifizierte Menschen und Wissen, darf
nach Ihrer Logik aber nur exklusiv verfügbar sein.
({1})
Exklusivität heißt dann eben auch: Es bekommt nicht
mehr jede und jeder Zugang zu diesen Ressourcen. Einerseits müssen Unternehmen Know-how für innovative
Verfahren, Produkte und Dienstleistungen kaufen bzw.
entwickeln können. Andererseits müssen Menschen sich
den Zugang zu Wissen und Bildung leisten können. Wer
dazu in der Lage ist, der realisiert natürlich den Wettbewerbsvorteil, von dem Sie sprechen. Wissen und Bildung werden dadurch quasi über Monopolstellungen
künstlich verknappt. Das heißt, Wissen und Bildung begegnen uns dann auf einem Markt als Ware. Das halten
wir für außerordentlich problematisch, weil genau diese
Zugangsbeschränkungen letztlich dazu geführt haben,
dass es in dieser Gesellschaft einen Mangel an Bildung
gibt.
({2})
Deshalb fehlen hochqualifizierte Menschen.
Beredte Zeugnisse dafür sind die Sozialerhebungen
des Deutschen Studentenwerkes, die PISA-Studie und
die jüngste OECD-Studie zur Bildungsbeteiligung.
Nicht zuletzt der Bericht der Bundesregierung zur technologischen Leistungsfähigkeit konstatiert eklatante
Probleme in Bildungs- und Weiterbildungssystemen sowie einen gravierenden Fachkräftemangel. In diesem
Land bekommen also viel zu wenige eine reale Chance
auf Bildung. Das kritisieren wir; das wollen wir nicht
hinnehmen.
({3})
Frau Sitte, möchten Sie eine Zwischenfrage von Frau
Laurischk zulassen?
Bitte schön.
Bitte schön.
Frau Kollegin Sitte, ist Ihnen bewusst, dass das politische System, das Sie immer noch vertreten, nämlich das
der DDR, nicht zuletzt deshalb untergegangen ist, weil
die Hochqualifizierten dort nicht mehr bleiben wollten,
da sie in ihrem Land keine Perspektive mehr gesehen haben? Sie haben das System, das Sie vertreten, als gescheitert erachtet. Letztendlich hielten zu viele Menschen die DDR nicht mehr für erhaltbar. Es geht hier
nicht um ein ökonomisches Prinzip, sondern um Entwicklungschancen der Menschen sowie der Volkswirtschaften, in denen sie leben.
({0})
Frau Kollegin, es geht um eine sehr differenzierte Betrachtung. Ich würde gern wissen, wie Sie zu der Behauptung kommen, dass ich die DDR vertrete. Auch darüber sollte eine differenzierte Debatte geführt werden.
An einem ist die DDR ganz bestimmt nicht zugrunde
gegangen: am Bildungssystem.
({0})
Das Bildungssystem der DDR war Vorbild für die finnische Reform. Die Finnen sind derzeit in allen Studien
weltweit ganz oben.
Wir kommen mit pauschalen Vorwürfen nicht weiter.
Lassen Sie uns eine differenzierte Debatte führen! Ich
versuche, meinen Beitrag dazu zu leisten.
({1})
Ich rede über die Vermittlung von Wissen und Bildung
vor allem im öffentlichen Raum. Darüber haben Sie so
gut wie kein Wort verloren.
({2})
Wir sagen - das haben wir hier schon mehrfach betont -: Wissen und Bildung soll sich jeder und jede unabhängig von seiner und ihrer sozialen Situation leisten
können. Die Zahl der Verlierer in dieser Gesellschaft
wiegt doch wohl weit schwerer als der Profit einzelner
Menschen und Unternehmen. Wer unter diesen Bedingungen in dem Bewusstsein, dass es in dieser Gesellschaft einen Mangel an Bildung gibt - das muss offengelegt werden -, von Wissensgesellschaft spricht, führt in
die Irre - es sei denn, er wollte Ihre Wettbewerbslogik,
Ihren ökonomisierten Ansatz verlassen. Wir wollen das
ganz ausdrücklich.
({3})
Ich will Ihnen das gern begründen. Seinem Wesen
nach eignet sich Wissen überhaupt nicht, als Ware behandelt zu werden. Denn man kann es gar nicht exakt
messen. Wer will bestimmen, wo erfinderische Wissensarbeit in der Gesellschaft angefangen hat und wie viele
Stunden für den Wissensgewinn aufgewendet wurden?
Zählen zu den Orten der Wissensbildung nicht auch Kindertagesstätten, Schulen, Hochschulen, Wissenschaftseinrichtungen, Weiterbildungsstätten? Gerade diese Einrichtungen werden aber vor allem von der Gesellschaft
getragen und finanziert. Das sind sehr schöne Beispiele
dafür, dass Wissen durch Weitergabe und Teilen vermehrt wird. Die Nobelpreisträger sind angesprochen
worden: Beide sind von Wissenschaftseinrichtungen gekommen, die aus öffentlichen Mitteln finanziert werden,
und haben ihre Ideen dort maßgeblich entwickelt.
Wir halten es prinzipiell für falsch, dieses System
konsequent Ihrer Wettbewerbslogik zu unterwerfen.
Diese Logik heißt am Ende nichts weiter, als dass sich
die Gesellschaft, nachdem sie diese Finanzierung ermöglicht hat, selber enteignet. Deshalb ist die Linke gegen Privatisierung und Kommerzialisierung von Wissen
und Wissensproduktion im öffentlichen Raum. Wir wollen nicht, dass damit verbundene Einrichtungen und Akteure Teile eines ökonomisierten Systems von Wissenschaft und Bildung werden. Für uns ist das ein
zivilisatorischer Rückschritt. Die Gesellschaft war schon
einmal weiter.
Aus diesem Grunde kritisieren wir die bildungs- und
wissenschaftspolitische Weichenstellung der Bundesregierung. Sie ändern mit den derzeitigen Maßnahmen
nicht wirklich etwas an der Unterfinanzierung des Bildungs- und Forschungssystems in der Breite. Ihre Exzellenz- und Eliteprogramme sind nämlich Ausdruck dieser
Wettbewerbslogik. Am Ende erreichen Sie nur wenige
Einrichtungen und nur wenige Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler.
Hochschulen müssen sich seit mehreren Jahren an unternehmerischen Kriterien messen lassen. Studierende
werden in der Diktion zu Kunden. Sie sollen für das Studium bezahlen. Wer es sich nicht leisten kann, den rettet
am Ende auch das BAföG nicht. Wenn er für sein Studium Kredite aufnehmen muss, verlässt er die Hochschule hochverschuldet. All das betrachten wir nicht als
Schritte, um Bildung und Wissen viel mehr Menschen
zugänglich zu machen.
({4})
Sie haben selber festgestellt, von jenen, die als Hochqualifizierte aus den Bildungseinrichtungen kommen,
sind immer mehr bereit, die Heimatregionen zu verlassen. Das tun sie nicht einfach, um einmal die Nase in die
Welt zu stecken. Das sind vielmehr Reaktionen auf eine
globalisierte Arbeitswelt. Der globalisierte Arbeitsmarkt entwurzelt Menschen. Sie müssen praktisch immer und überall flexibel und verfügbar sein. Diese Art
von Flexibilität - das kann mir keiner erzählen - wird
nicht freiwillig gewählt; sie entwurzelt Familien. Die
Betroffenen verlieren permanent ihren Freundeskreis
oder müssen sich diesen ständig neu aufbauen. Länder
und Regionen müssen trotz bester persönlicher Voraussetzungen verlassen werden. Die Menschen haben keine
Chance, sich im eigenen Land selbstbestimmt und auf
eigener Leistung beruhend etwas aufzubauen.
Wir haben aber nicht nur - das will ich betonen - ein
Stellenproblem im Wissenschafts- und Wirtschaftssystem. Viele Nachwuchsforscher und -forscherinnen kritisieren das deutsche Wissenschaftssystem als zu unattraktiv für Berufs- und Familienplanung. Das deutsche
System wird quasi als Closed Shop wahrgenommen, und
die Netzwerkbildung, die infolge persönlicher Abhängigkeiten möglich ist, ist kontraproduktiv für eine selbstbestimmte wissenschaftliche Arbeit.
In diesem System bleibt das intellektuelle Potenzial
von Frauen dramatisch ungenutzt. Viele Länder sind
deutlich weiter, indem sie ausdrücklich sagen: Beide
Partner sollen eine Chance bekommen. In den Einstellungsgesprächen wird nach dem familiären Kontext gefragt und darauf Rücksicht genommen.
Weitere Gründe für die Abwanderung von Hochqualifizierten liegen in arbeitsmarkpolitischen Versäumnis12380
sen. Nun versucht man durch kurzfristige Maßnahmen,
den Fachkräftemangel auszugleichen. Rückhol- und Abwerbungsinitiativen laufen. Grundsätzlich habe ich überhaupt nichts dagegen, dass versucht wird, Hochqualifizierte, die wir ausgebildet haben, wieder zurückzuholen.
Schließlich haben wir als Gesellschaft unseren Beitrag
dazu geleistet. Warum soll die Gesellschaft daraus nicht
ihren Nutzen ziehen? Das ist in Ordnung. Alles andere
wäre eine falsche Interpretation.
Abschied und Wiederkehr sind in einer globalisierten
Welt, für Wissenschaft und Forschung natürlich erst
recht, völlig normale Vorgänge - dass wir uns an dieser
Stelle nicht missverstehen. Wenn sich aber globale Einbahnstraßen bilden, wenn reichere Länder sozusagen die
Hauptadressaten von Hochqualifizierten sind, dann habe
ich damit ein Problem.
({5})
Natürlich haben die reicheren Länder viel attraktivere
Lebensbedingungen zu bieten; das ist völlig klar. Deshalb verläuft dieser Wettbewerb unfair, deshalb muss an
dieser Stelle die Politik ihrer Aufgabe nachkommen;
auch dort müssen wir gewissermaßen für einen Klimawandel sorgen. Für uns ist es nicht hinnehmbar, dass den
ärmeren Ländern durch den Verlust an Wissen und Bildung Chancen auf kulturelle und Chancen auf demokratische Entwicklungen verloren gehen.
Was glauben Sie denn, wie lange es noch dauern wird,
bis die katastrophalen Folgen aus globaler Ungleichverteilung von Reichtum und Produktivität, aus ungerechten
Welthandelsstrukturen, aus kriegerischen Auseinandersetzungen um Rohstoffe und aus dem Bildungskolonialismus der reichen gegenüber den ärmeren Ländern dieser Welt auf uns zurückfallen? Die Erde ist nun einmal
keine Scheibe. Wir haben es doch erlebt: Die Welle, die
wir vorn auslösen, holt uns hinten wieder ein. Bitter ist
diese Erfahrung im Bereich der Lohnentwicklung gewesen. Das Lohndumping ist ein aktuelles Thema in
Deutschland. Wir haben es selber mit verursacht.
({6})
Die Antwort der Linken besteht nicht in einer Ablehnung der Zuwanderung. Aber wir kritisieren ihre Selektivität nach nationalstaatlichen Nützlichkeitskriterien.
Nichts anderes wäre im Übrigen das Punktesystem, von
dem die Grünen und auch Sie sprechen. Mit der Einführung dieses Punktesystem will man nichts anderes, als
dessen Nützlichkeit für Deutschland herauszufinden.
Wir kritisieren außerdem die soziale Selektivität und
Ungerechtigkeit des deutschen Bildungs- und Wissenschaftssystems. Vor diesem Hintergrund ist beides reformbedürftig.
Abschließend will ich sagen, meine Damen und Herren: Wissen und Bildung sind humane Grundwerte. Darauf haben alle Menschen ein Anrecht - hier wie anderswo.
Danke schön.
({7})
Es gibt eine Kurzintervention des Kollegen Barth.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kollegin Sitte,
wie Sie wissen, habe ich genau wie Sie eine DDR-Sozialisation. Ich habe das DDR-Bildungssystem durchlaufen.
Es hat mich immerhin bis in den Deutschen Bundestag
gebracht,
({0})
was auch ökonomisch nicht gänzlich nachteilig ist. Daher weiß ich aber, dass pauschale Kritik genauso wenig
tauglich ist wie pauschales Lob.
Liebe Frau Kollegin, wenn Sie das DDR-Bildungssystem quasi in Gänze als Vorbild für die freie Welt, die
restliche Welt, darstellen, dann sage ich Ihnen Folgendes:
Punkt eins. Ein wesentlicher Grund für den Bau der
Mauer 1961 war das massenhafte Davonlaufen von damals gut Ausgebildeten aus der DDR, die sich dort nämlich gedanklich wie materiell eingemauert gefühlt
haben - vorher schon und nachher im Ergebnis eingemauert wurden.
Punkt zwei. Wenn Sie dieses System hier so pauschal
loben, müssen Sie auch dazusagen, dass Teil dieses Systems eine Auswahl gewesen ist, und zwar nach politischen Kriterien, nach Haltungskriterien. Wer mit dem
System nicht zumindest in gewissem Maße mitgegangen
ist, durfte kein Abitur machen und durfte auch nicht studieren. Das ist Teil der Wahrheit.
Ich glaube, dass insbesondere die Finnen sich sehr
wehren würden, würden sie Ihre Aussage hören, dass sie
das Bildungssystem der DDR sozusagen als Vorbild genommen haben und deshalb das Bildungssystem der
DDR zu loben ist.
Vielen Dank.
({1})
Frau Sitte.
Herr Kollege Barth, zum Ersten: So wenig wie ich die
DDR pauschal verteidige, kritisiere ich pauschal die
Wissenschafts- und Forschungspolitik von Frau Ministerin Schavan. Sie werden sicherlich im Ausschuss schon
gemerkt haben, dass ich da sehr genau hinschaue.
({0})
Zum Zweiten: Ich will überhaupt nicht in Abrede stellen, dass die DDR vor allem deshalb verlassen worden
ist, weil die Leute unzufrieden waren. Die Gemengelage
der Gründe für diese Unzufriedenheit ist aber sehr breit.
Drittens möchte ich sagen: Die Delegationen aus
Finnland, die bei Margot Honecker vorgesprochen und
letztlich dann doch DDR-Schulen besucht haben, sind so
heimlich nicht vonstatten gegangen. Es geht überhaupt
nicht darum, alles pauschal schönzureden. Ich habe es
auch nicht gemacht. Ich habe ausdrücklich gesagt, dass
ich mir wünsche, dass wir differenziert darüber diskutieren. Ich kann Ihnen ziemlich genau sagen, was ich an
meiner Schulbildung klasse fand und was ich nicht so
toll fand.
({1})
Was ich ganz klasse fand, war beispielsweise die naturwissenschaftliche Ausbildung zu DDR-Zeiten. Das
wirkt bis heute nach. Nicht umsonst habe ich mich ja für
die Politikbereiche Forschung und Technologie entschieden.
Zum Schluss möchte ich sagen: Reden wir nicht aneinander vorbei. Ich habe ausdrücklich gesagt, dass ich
über die Ursachen für die gegenwärtige Misere sprechen
wollte. Von den Ursachen der gegenwärtigen Misere zu
sprechen, heißt, auch von den Nachteilen des bundesdeutschen Bildungs- und Wissenschaftssystems zu sprechen. Alle anderen Probleme leiten sich für mich derzeit
davon ab, beispielsweise der Fachkräftemangel in der
Wirtschaft. Das alles gehört in diese Debatte hinein. Ich
habe dies als Schwerpunkt herausgegriffen. Das ist legitim.
Danke schön.
({2})
Jetzt hat der Kollege Michael Bürsch das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich will in der Tat versuchen, wieder zu dem Thema
des heutigen Tages zurückzukommen, nämlich den Wanderungsbewegungen von Hochqualifizierten im 21. Jahrhundert.
Das Positive am Anfang: Ich finde es wie der Innenminister sehr gut, dass wir uns diesem Thema widmen
und darauf schauen, was die Gründe für die Wanderungsbewegungen von Fachkräften und Hochqualifizierten sind. Die Debatte verdient allerdings, seriös und differenziert geführt zu werden. Insofern muss ich an die
Adresse der FDP sagen: Wenn man so einseitig wie Sie
vorgeht, kommt man nicht weiter. Das war zum Teil
maßlos übertrieben und klang ein bisschen, zugespitzt
gesagt, wie das Horrorszenario „Deutschland: akademikerfreie Zone“.
({0})
- Mit solcher Schwarzmalerei, Frau Kollegin Laurischk,
kommen wir wirklich nicht weiter.
Das FDP-Szenario ist einseitig, weil Wanderungsbewegungen ein relativ normaler Vorgang in einer freien
Gesellschaft sind. Zuwanderung und Abwanderung hat
es immer gegeben. In den 50 Jahren seit dem Zweiten
Weltkrieg - das hat die Zuwanderungskommission
schon vor ein paar Jahren festgestellt - sind circa
31 Millionen Menschen zu uns gekommen, 22 Millionen
haben in dieser Zeit Deutschland verlassen. Nach den
vier Grundrechenarten können wir einen Wanderungsgewinn von 9 Millionen Menschen feststellen. Deutschland ist also - das kann man an dieser Stelle auch einmal
betonen - ein Zuwanderungsland.
Gerade in einer globalisierten Welt gehört der Umzug
von Spitzenkräften - das bedeutet einerseits Weggang,
aber andererseits auch Zuzug - inzwischen zum Alltag.
Die Bundesregierung hat hierzu in ihrer Antwort auf die
Große Anfrage der FDP aus meiner Sicht drei schlichte
Wahrheiten ausgesprochen. Diese noch einmal zu nennen, trägt vielleicht zur Wahrheitsfindung bei, Frau Kollegin.
Erstens. Hochqualifizierte haben ein Recht darauf,
ihre Chancen zu nutzen und ins Ausland zu gehen.
({1})
Das ist ein vollkommen natürlicher Prozess, der dem
Streben von Menschen nach Veränderung, nach neuen
Herausforderungen und neuen Entwicklungsmöglichkeiten entspricht.
Zweitens. Die Wissenschaft ist inzwischen längst internationalisiert. Das sieht man beispielsweise an den
Lebensläufen der Nobelpreisträger, die dieser Tage gekürt werden. Das gilt auch für den akademischen Arbeitsmarkt.
Drittens. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist eine
Grundfreiheit der Europäischen Union, auf die wir stolz
sind und die wir angestrebt haben, damit nationale Grenzen an Bedeutung verlieren und die Welt weiter zusammenwachsen kann.
Es ist schon einigermaßen erstaunlich, dass ausgerechnet die FDP an dieser Stelle nach mehr Staat ruft.
Dieser vehemente Ruf nach mehr Staat, der bitte schön
alles Mögliche verhindern, beschränken und schützen
soll, ist schon einigermaßen überraschend für die liberale Welt, Frau Kollegin. Das passt irgendwie nicht zusammen.
({2})
Es spricht einiges für die Annahme, dass ein Großteil
der deutschen Auswanderer sich nur eine Zeit lang im
Ausland aufhält, um ihren Horizont zu erweitern, neue
Erfahrungen zu sammeln und damit auch ihre Chancen
hierzulande zu verbessern. Ich habe gerade zusammen
mit dem Innenausschuss die baltischen Länder besucht.
Dort gibt es einen enormen Zug von Hochqualifizierten
und Fachkräften nach Irland, Großbritannien, Spanien
usw. Aber man stellt schon jetzt, drei Jahre nach dem
Beitritt zur Europäischen Union, fest, dass diese Menschen zurückkommen, dass sie den Bezug zu ihrem Heimatland durchaus behalten haben und dass sie jetzt das
Wissen und die Erfahrungen, die sie gesammelt haben,
nach Lettland, Estland und Litauen bringen.
Es geht also um einen Kreislauf des Wissens. Das ist
ein Begriff, den der französische Migrationsforscher
Ladame schon 1970 prägte. Er spricht von einer „circulation des élites“. Das ist diesem Thema angemessen.
({3})
- Wir reden ja am heutigen Tage über Internationalität;
dann können wir auch etwas Französisches aufnehmen.
Völlig realitätsfern ist aus meiner Sicht, wenn die
ganze Wanderungs- und Exzellenzdiskussion auf eine
reine Wirtschaftsfrage reduziert wird. An dieser Stelle
- und nur an dieser Stelle - bin ich bei Frau Sitte. Die
heute weltweite Wanderbewegung von Hochqualifizierten in Wissenschaft und Wirtschaft kann man doch
wahrhaftig nicht nur ökonomisch betrachten. Vielmehr
geht es um individuelle Perspektiven der Selbstbestimmung von Menschen, und es geht um kulturelle Aspekte.
Deutschland will ja nicht nur im internationalen Wettbewerb spitze sein; es will auch ein Land mit einer internationalen Kultur und einer pluralistischen Gesellschaft
sein. Diese Aspekte müsste die FDP in ihre Überlegungen zum Standort Deutschland dringend einbeziehen.
({4})
So viel zur Lagebeurteilung in Bezug auf das, was die
FDP sehr einseitig und einäugig in die heutige Debatte
eingeführt hat. Die Diskussion bietet aber, wenn wir sie
ernsthaft führen, doch Gelegenheit, einige Dinge zu nennen, die verändert werden können und sollten,
({5})
auch wenn - es ist schon erwähnt worden - unsere beiden Nobelpreisträger, auf die wir sehr stolz sind, in diesen Tagen bestätigt haben, wie hervorragend der Wissenschaftsstandort Deutschland zu beurteilen ist; auch das
muss man als Rückmeldung aus der Praxis im Auge haben.
({6})
Verbesserungswürdig sind - zugegeben - zum Beispiel die Karriereperspektiven für Hochschullehrerinnen
und Hochschullehrer, ebenso wie das gewaltige Thema
der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Da sind wir
noch nicht am Ende dessen angelangt, was wir erreichen
können. Auf Dauer ist aus meiner Sicht auch nicht hinnehmbar, dass viele hochqualifizierte Ärzte in Deutschland im internationalen Vergleich offensichtlich deutlich
weniger verdienen als in anderen Ländern.
({7})
Das sind nur einige wenige Beispiele, die man wiederum differenziert betrachten muss, nicht nur immer
durch dieselbe Brille, Frau Kollegin. Zahlreiche Rahmenbedingungen wurden in den letzten Jahren verbessert. Das kann man vielleicht auch als Opposition einmal
feststellen. Man muss es nicht loben, aber man kann die
Wahrheit durchaus zur Kenntnis nehmen. Es geht darum,
diese Dinge kontinuierlich weiterzuentwickeln und zu
verbessern. Das ist auch das Ziel dieser Bundesregierung; das sage ich an dieser Stelle mit voller Überzeugung.
Die andere Seite der Medaille der Wanderbewegung
von Hochqualifizierten ist die Zuwanderung. Darauf ist
schon hingewiesen worden. Ich meine, wir müssen uns
im Wettbewerb um die besten Köpfe noch besser positionieren. Wenn wir die Bedingungen künftig nicht verbessern, werden wir in Konkurrenz mit Großbritannien,
Irland und anderen Ländern wie Tschechien und den baltischen Ländern ins Hintertreffen geraten. Estland zum
Beispiel ist in der IT-Technik sehr weit voraus.
({8})
Wir können uns eine Scheibe abschneiden mit Blick darauf, wie viele Dienstleistungen man dort inzwischen
über das Internet abrufen kann, dass man in diesem kleinen Land mit den Möglichkeiten des Internets sogar
wählen kann.
Kluge Köpfe gehen da hin, wo sie gute Bedingungen
finden,
({9})
wo sie willkommen sind, wo man ihnen eine langfristige
Aufenthaltsperspektive bietet, wo man ihnen auf derselben Augenhöhe begegnet. Da sehe ich durchaus noch
Verbesserungsbedarf.
({10})
Wir haben mit der Reform des Aufenthaltsgesetzes
in diesem Sommer Schritte in die richtige Richtung gemacht. Das hat der Herr Innenminister erwähnt. Dem begrenzten Lob für das, was wir dort erreicht haben,
schließe ich mich ausdrücklich an, ob es um die Möglichkeiten von Studierenden oder um die Möglichkeiten
von Selbstständigen geht.
Aber aus meiner Sicht reichen diese Schritte noch
nicht aus.
({11})
Es bedarf auch aus psychologischen Gründen durchaus
noch einer weiteren Öffnung und meiner Meinung nach
auch des Mutes, Weltoffenheit zu zeigen und deutlich zu
machen, dass wir Zuwanderung akzeptieren und wollen,
dass unser Land wirklich ein Land der offenen Grenzen
ist.
Was wir insofern brauchen, ist eine langfristige Steuerung der Zuwanderung. An der Stelle sage ich ausdrücklich - das habe ich an dieser Stelle mindestens schon
fünf- oder sechsmal gesagt -: Wir brauchen eine Punkteregelung,
({12})
aber nicht, Frau Kollegin, aus ökonomischen Gründen,
sondern aus den genannten gesellschaftlichen Gründen.
So ist die globalisierte Welt aus meiner Sicht. Wir brauchen die Zuwanderung von Menschen aus allen Ländern
dieser Welt. Dafür kann die Punkteregelung durchaus
eine gute Methode sein. Wir brauchen ein Auswahlverfahren für Ausländer, das sich nicht an dem kurz- oder
mittelfristigen Arbeitsmarktbedarf orientiert, sondern
langfristig ausgerichtet ist.
({13})
Ich habe Länder wie Australien, Kanada und Neuseeland besucht und mir die Regelungen in diesen Ländern
angesehen. Es geht dabei ausdrücklich nicht nur um die
ökonomische Seite. Da würden Sie mich völlig falsch
verstehen, Frau Kollegin. Es geht vielmehr auch um die
gesellschaftliche Mitwirkung und um die gesellschaftliche Öffnung. Einen solchen Effekt erhoffe ich mir von
der Punkteregelung. Eine entsprechende Auswahl wird
anhand verschiedener Kriterien wie Alter, Qualifikation
und Sprachkenntnisse getroffen. Das Wichtigste ist:
Diese Menschen bekommen sofort eine Niederlassungserlaubnis und damit ein Recht auf Aufenthalt und ein
Recht auf Arbeit. Dieses Signal der Weltoffenheit brauchen wir.
({14})
Wenn wir die großen Chancen nutzen wollen, die unser Land und unsere Gesellschaft bieten, dann brauchen
wir eine noch besser gesteuerte Zuwanderungspolitik.
Nach Verabschiedung des Aufenthaltsgesetzes stelle ich
fest, dass sich die beiden großen Volksparteien inzwischen einig sind, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist.
({15})
Insofern sollten wir daraus die Konsequenzen ziehen.
Ich habe den Innenminister so verstanden, dass wir
uns diesem Thema Punkteregelung nunmehr sehr wohlwollend und offen zuwenden werden. Ich habe die Hoffnung, dass sich noch mehr aus diesem Hause an einem
solchen Vorstoß für eine Punkteregelung beteiligen. Wir
wollen keine Gruppen gegeneinander ausspielen. Es
geht nicht darum, die Arbeitnehmer in Deutschland zu
benachteiligen. Es geht nicht um die Frage: entweder
Ausländer oder Deutsche, die eine Arbeit suchen. Die
Interessen beider Gruppen sollen berücksichtigt werden.
Das wäre für mich die beste Lösung.
Das Thema ist wichtig. Wir sollten weiter darüber
diskutieren.
Danke schön.
({16})
Jetzt hat die Kollegin Dr. Thea Dückert das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich schließe mich gerne den Glückwünschen an unsere
beiden Nobelpreisträger von ganzem Herzen an.
({0})
Dennoch möchte ich in diesem Zusammenhang ganz
nüchtern feststellen, dass diese Forschungsergebnisse
schon 20 Jahre zurückliegen.
({1})
Ich möchte ferner feststellen, dass die Umsetzung dieser
in Deutschland erzielten Forschungsergebnisse, also die
Erlangung der Marktreife, im Ausland erfolgt ist. Ich
denke schon, dass wir darüber nachdenken müssen.
({2})
Klar ist: Wir brauchen die besten Köpfe. Das Problem
ist aber: Sie rauchen viel zu oft an anderen Orten dieser
Welt. Es ist schon so, dass dem Land der Dichter und Denker die Denker abhanden kommen. Das zeigen die Zahlen,
so lückenhaft sie auch sind: Im Jahre 2005 sind etwa
150 000 Deutsche ausgewandert, ungefähr 100 000 sind
zurückgekommen. Da klafft schon eine große Lücke. Man
kann sie nun kleinreden, wie Sie, Herr Schäuble, es versucht haben. Aber ich denke, man kommt weiter, wenn
man dieses Problem ernst nimmt.
Sie haben ja gesagt, wir sollten die Gelassenheit anderer Länder wie zum Beispiel England zur Kenntnis nehmen. Es ist immer hilfreich, einen Blick von außen auf
die Situation im eigenen Land zu werfen. Im Sommer
hat die britische Tageszeitung The Independent darauf
hingewiesen, dass wir in Deutschland den größten Massenexodus an Hochqualifizierten in den letzten
60 Jahren zu verzeichnen haben. Unsere qualifizierten
Bürgerinnen und Bürger gingen lieber ins Ausland, weil
ihnen die Bedingungen hier nicht attraktiv genug seien.
Nun muss man diesem Alarmismus nicht unbedingt
folgen. Aber ich glaube, dadurch wird ein Finger in die
Wunde gelegt. Es kann uns nicht egal sein - wir dürfen
dieses Problem nicht kleinreden -, wenn ein Missverhältnis zwischen der Anzahl derjenigen, die unser Land
verlassen, und der Anzahl derjenigen, die zurückkommen bzw. die neu in unser Land kommen - ich spreche
von der Zuwanderung -, besteht.
Wir müssen das ernst nehmen, weil der Fachkräftemangel bei uns ganz eklatant ist. Herr Minister, Sie haben gesagt, wir sollten unbefangen hinschauen. Das
Wirtschaftsministerium hat eine Studie gemacht und die
Zahlen untersucht. Ich denke, das ist ein Beispiel für unbefangenes Hinschauen. Es wurde festgestellt, dass gegenwärtig 100 000 Facharbeiterstellen zu spät oder gar
nicht besetzt werden, was einem Wertschöpfungsverlust
von 20 Milliarden Euro pro Jahr entspricht. Das ist pro12384
blematisch. Deutschland steht, was die Ausbildung von
Fachkräften und Hochqualifizierten und das Konkurrieren mit dem Ausland um Fachkräfte und Hochqualifizierte anbelangt, nicht an der Spitze. Das ist einfach so.
Herr Schäuble, die deutsche Wirtschaft ist überhaupt
nicht ruhig. Es ist festzustellen, dass 60 Prozent der Betriebe in der I- und K-Branche mit zwischen 50 und
250 Beschäftigten Fachkräftemangel als großes Problem
beschreiben. Das Gleiche gilt für 40 Prozent der großen
Betriebe.
Die Situation zeichnet sich also dadurch aus, dass wir
zu wenig Fachkräfte ausbilden, wir gute ins Ausland gehen lassen, die Bedingungen in Deutschland nicht attraktiv genug sind, damit sie hierbleiben wollen, wir diejenigen, die hier sind, nicht ausreichend weiterqualifizieren
- wir müssten sie lebenslang weiterqualifizieren, damit
sich ihre Qualifikation nicht entwertet -, und vor allen
Dingen dadurch, dass wir es den ausländischen Fachkräften unglaublich schwer machen, hierherzukommen.
({3})
Wir brauchen ein umfassendes Konzept. Wir brauchen eine bessere Ausbildung der jungen Leute, die hier
sind, insbesondere der Frauen. Wir brauchen die Qualifizierung derjenigen, die hier sind. Wir brauchen aber
auch die Zuwanderung. Wir müssen das zusammen betrachten.
({4})
Ich halte überhaupt nichts davon, so eine Art Rückholprogramm aufzulegen. Die FDP hat so etwas vorgeschlagen und auf Russland verwiesen. Ich glaube, für
Deutschland besteht die Aufgabe darin, die Arbeitsbedingungen für Hochqualifizierte, auch für Fachkräfte
und insbesondere Frauen, so zu gestalten, dass sie gerne
hier arbeiten. Das betrifft Fragen der Kindererziehung,
der Betreuungseinrichtungen, der Weiterqualifizierung
und der Entlohnung. Wir müssen denjenigen, die hier
sind, gute Möglichkeiten bieten, aber auch junge Leute
aus dem Ausland hierherkommen lassen.
Das Problem ist nicht, dass unsere jungen Leute aus
Deutschland rausgehen - das sollen sie ruhig tun, um
ihre Qualifikationen zu erweitern -, das Problem ist vielmehr, dass sich diese Regierung sozusagen auf die
Bremse stellt und Deutschland gegenüber denjenigen abschottet, die aus dem Ausland kommen wollen.
({5})
In Ihrer Antwort haben Sie zu Recht darauf hingewiesen, dass die Erfahrung lehrt - Stichwort „Greencard“ -,
dass jede ausländische hochqualifizierte Kraft, die nach
Deutschland gekommen ist, im Durchschnitt 2,5 Arbeitsplätze geschaffen hat. In Ihrer Antwort auf die
Frage 49 schreiben Sie auch - Herr Minister, das haben
Sie eben auch hier gesagt -, dass es üblich und produktivitätssteigernd sei, wenn unsere gut Ausgebildeten das
Land verlassen. Das mag ja sein. Es ist aber auch produktivitätssteigernd, wenn gut Ausgebildete zu uns kommen. Das ist auch üblich, nicht bei uns, aber in den
Nachbarländern. Daran müssen wir etwas ändern.
({6})
Sie haben nicht auf die Probleme hingewiesen. Auf
das Punktesystem sind Sie nicht ausführlich eingegangen. In der Antwort wird es genamedropt; es kommt vor.
({7})
Ich nehme an, dass an dieser Stelle die Probleme des Arbeitsministeriums durchschlagen. Ich glaube - auch das
muss man einmal sagen -, dass wir von der Idee, dass
ausländische Arbeitskräfte Arbeit in Deutschland vernichten, angesichts der Realität endlich Abstand nehmen
sollten. Diese Einsicht müsste auch in der Regierung angekommen sein.
({8})
Frau Dr. Dückert, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. - Wir müssen die Einkommensschwelle für diejenigen, die nach Deutschland
kommen wollen, senken. Es ist ein Witz, dass Frau
Schavan erst viel dafür getan hat, dass sie nicht gesenkt
wurde, im Sommer aber in der Presse eine Senkung gefordert hat.
Ich sage: Jammern Sie nicht! Wenden Sie sich nicht
an die Presse! Sie sitzen doch am Ruder. Sie können die
Zuzugsschwellen senken. Wenn Sie das machen, haben
vielleicht auch die jungen Leute aus dem Ausland die
gleichen guten Chancen, hierher zu kommen, wie unsere
jungen Leute sie haben, ins Ausland zu gehen. Dann bekommen wir vielleicht eine gute Balance.
Danke schön.
({0})
Jetzt hat Stephan Mayer das Wort für die CDU/CSUFraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Ich bin froh, dass die FDPFraktion diese Große Anfrage zur Abwanderung Hochqualifizierter aus Deutschland gestellt hat. Denn mit der
Antwort der Bundesregierung wird Gott sei Dank mit einigen Vorurteilen und Unterstellungen aufgeräumt, die
einfach nicht zutreffen.
({0})
Es ist eine Mär, dass es eine massenhafte Abwanderung und einen flächendeckenden Braindrain aus Deutschland gibt. Natürlich gibt es Abwanderung aus Deutschland, aber es gibt auch eine nicht zu vernachlässigende
Stephan Mayer ({1})
Zuwanderung. Die Abwanderung ist mitnichten steigend. Die höchsten Zahlen der Abwanderung aus
Deutschland liegen bereits einige Jahre zurück, zum Beispiel 1993 mit 815 000 und 1998 mit 755 000.
({2})
In den letzten Jahren beläuft sich die gesamte Abwanderung aus Deutschland immer auf zwischen 600 000 und
700 000 Menschen und ist relativ konstant.
Es trifft zu, dass die Abwanderung deutscher Staatsangehöriger tendenziell steigend ist; aber auch nicht in
dem Maße, wie es teilweise in der Öffentlichkeit dargestellt wird. Zum Beispiel haben im Jahr 1991 98 900
deutsche Staatsangehörige Deutschland verlassen. Im
Jahr 2005 waren es 144 800. Sehr interessant ist, dass
von diesen knapp 145 000 allein 42 Prozent in EU-Länder und 14 400 - das sind ungefähr 10 Prozent - in die
Schweiz ausgewandert sind.
({3})
Das heißt, dass allein über die Hälfte der deutschen
Staatsangehörigen, die Deutschland verlassen haben, in
die Europäische Union - das wird naturgemäß durch die
Arbeitnehmerfreizügigkeit erleichtert, die eine der vier
Grundfreiheiten ist, auf die wir sehr stolz sind - und in
die Schweiz ausgewandert ist.
Sehr interessant ist auch, dass es durchaus eine sehr
nennenswerte Zuwanderung aus dem EU-Ausland
nach Deutschland gibt. Zum Beispiel ist für französische
Akademiker Deutschland das Hauptauswanderungsland. Dieses Thema sollte man hier einmal differenziert
darstellen.
({4})
Deutschland ist ein Land, in das Zuwanderung stattgefunden hat und auch immer stattfinden wird. Ich bin
aber der Meinung, dass es verfehlt wäre, Deutschland als
klassisches Zuwanderungs- oder Einwanderungsland zu
bezeichnen. Deutschland ist kein Zuwanderungsland wie
Kanada, Australien und Neuseeland es sind oder die
USA es einmal waren.
(Jörg Tauss [SPD]: Jetzt aber keine Rolle rückwärts! Darauf haben wir uns gerade geeinigt!
Es gibt Zuwanderung, und Deutschland braucht Zuwanderung. Dies wird mitnichten bestritten.
({5})
Ich möchte nur daran erinnern, dass nach dem Zweiten Weltkrieg 12 Millionen Flüchtlinge und Heimatvertriebene in die Bundesrepublik Deutschland gekommen
sind und maßgeblich dazu beigetragen haben, Deutschland wirtschaftlich aufzubauen und die neue deutsche
Gesellschaft zu formieren und mitzuentwickeln.
({6})
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs - dies gilt es,
an dieser Stelle zu erwähnen - sind insgesamt 3,2 Millionen Aussiedler und Spätaussiedler nach Deutschland
gekommen und haben sich hier größtenteils erfolgreich
und hervorragend integriert.
({7})
An dieser Stelle gilt es auch, festzuhalten, dass, wenn
im Einzelfall Bedarf vorhanden ist, wenn in bestimmten
Wirtschaftszweigen oder bestimmten Berufsgruppen
konkreter Bedarf nach Zuwanderung besteht, diese Zuwanderung schon heute im gesetzlich vorhandenen Rahmen möglich ist.
({8})
Ich möchte an dieser Stelle zum Beispiel an die Novellierung des Zuwanderungsrechts erinnern. Wir haben in diesem Jahr beschlossen, den Schwellenwert
deutlich zu reduzieren: Selbstständige, die nicht aus dem
EU-Ausland kommen, müssen nicht mehr wie bisher
1 Million Euro, sondern nur noch 500 000 Euro investieren. Das Erfordernis, zehn Arbeitsplätze zu schaffen,
wurde auf fünf Arbeitsplätze reduziert.
Es ist schon nach der ersten Novellierung des Zuwanderungsrechts, die zum 1. Januar 2005 in Kraft getreten
ist, zum Beispiel möglich, dass ausländische Studenten,
die in Deutschland ihren Hochschulabschluss erworben
haben, ein Jahr in Deutschland bleiben können, um sich
hier eine dauerhafte Anstellung zu suchen. Das ist meines Erachtens ebenfalls ein sehr wichtiger Aspekt, den
es in diesem Zusammenhang differenziert herauszustellen gilt.
Ich bin auch sehr froh, dass die Bundesregierung bei
ihrer Klausurtagung in Meseberg weitere, durchaus
sachgerechte und notwendige detaillierte Erweiterungen
der Zuwanderungsmöglichkeiten beschlossen hat, indem
zum Beispiel in Zukunft, schon in wenigen Tagen, auf
die individuelle Vorrangprüfung bei ganz bestimmten
Ingenieuren verzichtet wird, an denen in Deutschland
ein konkreter, zugegebenermaßen teilweise auch eklatanter Bedarf vorhanden ist, so bei Elektroingenieuren
und bei Ingenieuren des Fahrzeug- und des Maschinenbaus. Für sie besteht ab sofort - das gilt auch in Bezug
auf die zwölf Mitgliedsländer, die jüngst zur Europäischen Union hinzugekommen sind - die Möglichkeit,
auf die individuelle Vorrangprüfung seitens der Bundesagentur für Arbeit zu verzichten. Ebenso ist es nach
den Beschlüssen von Meseberg möglich, dass Studenten,
die in Deutschland ihren Hochschulabschluss erworben
und damit ein erhöhtes Interesse an Deutschland, an der
deutschen Gesellschaft und am deutschen Arbeitsmarkt
zum Ausdruck gebracht haben, nicht der individuellen
Vorrangprüfung durch die Bundesagentur für Arbeit unterzogen werden.
({9})
Meines Erachtens ist in der breiten Öffentlichkeit
ebenfalls zu wenig bekannt, dass die Bundesagentur für
Arbeit nach § 39 Abs. 2 Nr. 2 des Aufenthaltsgesetzes
Stephan Mayer ({10})
schon heute die Möglichkeit hat, auf die individuelle
Vorrangprüfung zu verzichten, wenn in einem ganz konkreten Wirtschaftszweig, in einer ganz bestimmten Berufsgruppe ein Bedarf an ausländischen Arbeitskräften
besteht und dieser Arbeitskräftebedarf zudem - das sage
ich auch in aller Deutlichkeit - durch inländische Arbeitskräfte und Arbeitsuchende nicht gedeckt werden
kann. Von dieser schon heute bestehenden Möglichkeit
wird vielleicht da und dort zu wenig Gebrauch gemacht.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die heiß diskutierte Mindesteinkommensgrenze von 85 500 Euro
brutto wird meines Erachtens insgesamt überschätzt. Sie
gilt zum Beispiel nicht für Forscher und für Wissenschaftler, also in einem Bereich, in dem wir uns selbstverständlich stärker aufstellen wollen. Es ist hinlänglich
darauf hingewiesen worden, dass wir als deutsche Volkswirtschaft, aber ebenso als deutscher Wissenschaftsstandort in einem weltweiten Wettbewerb um die besten
und qualifiziertesten Köpfe gerade im Bereich der Forschung und der Wissenschaft stehen. Für sie gilt schon
heute diese Mindesteinkommensgrenze von 85 500 Euro
nicht.
Aber ich sage auch ganz deutlich, dass wir nach wie
vor in Deutschland Arbeitslosigkeit haben. Auch wenn
sie heute Gott sei Dank und insbesondere dank der wegweisenden und zielgerichteten Reformen der Bundesregierung so niedrig ist wie seit zwölf Jahren nicht mehr,
muss man doch zur Kenntnis nehmen: In Deutschland
sind immerhin noch 3,6 Millionen Menschen offiziell als
arbeitslos registriert. Bei solchen Gelegenheiten muss
man immer wieder darauf hinweisen, dass es in Deutschland an die 5 Millionen Menschen gibt, die gern arbeiten
würden, denen dazu aber keine Gelegenheit gegeben
wird. Auch dies gilt es zu berücksichtigen, wenn sehr
vorschnell - teilweise leider Gottes auch seitens der
Wirtschaft - gefordert wird, die Schleusen zu öffnen und
noch mehr ausländische Arbeitskräfte nach Deutschland
zu lassen.
Vor diesem Hintergrund möchte ich schon beleuchten, dass die aktuellen Vorschläge des EU-Kommissars
Franco Frattini, die er am 13. September geäußert hat,
durchaus mit einer gewissen Skepsis und auch mit Sorge
zu bedenken und zu betrachten sind.
({11})
Franco Frattini hat angekündigt, dass er am 23. Oktober
zwei Richtlinienvorschläge zum Thema Hochqualifizierte und eine Rahmenrichtlinie zum Rechtsstatus von
Arbeitsmigranten insgesamt erlassen wird. Ich weise
sehr deutlich und entschieden darauf hin und bitte die
Bundesregierung, sehr geehrter Herr Bundesinnenminister Schäuble, in Zukunft bei den Verhandlungen im
JI-Rat darauf einzuwirken und die Klarstellung zu fordern, dass die Kompetenz für die legale Zuwanderung in
den Arbeitsmarkt weiterhin in der Kompetenz der EUNationalländer liegen muss.
({12})
Hierin sehe ich die große Gefahr, dass seitens der EU
und der EU-Kommission, insbesondere seitens des zuständigen EU-Kommissars Frattini, eine gewisse Salamitaktik dahin gehend angewandt wird, dass sich die EU
immer mehr Kompetenzen im Bereich der legalen Migration einzuverleiben versucht; es ist ganz klar, dass es
dem entgegenzuwirken gilt. Meines Erachtens gilt es
diesen Bemühungen vor allem deshalb zu begegnen,
weil es in Europa, so integriert es mittlerweile auch ist,
nach wie vor 27 verschiedene Arbeitsmärkte gibt. Die
Situation in Portugal und Zypern unterscheidet sich von
der in Finnland und auch von der Situation in Deutschland. Deutschland ist nun einmal das größte, das bevölkerungsreichste Land innerhalb der Europäischen Union
und demzufolge auch der größte Arbeitsmarkt. Deswegen gilt es auf dieser Ebene nachdrücklich klarzustellen,
dass die Kompetenz für die legale Arbeitsmigration weiterhin in den Händen der Nationalstaaten verbleiben
muss.
Ich möchte betonen: Hier sehe ich auch die Wirtschaft
in der Verantwortung. So wirtschaftsfreundlich ich persönlich gesinnt bin und so positiv ich insbesondere der
mittelständischen Wirtschaft gegenüberstehe, so deutlich
muss ich darauf hinweisen, dass sich die Wirtschaft, was
die Aus- und Fortbildung junger Menschen anbelangt,
nicht aus der Verantwortung stehlen darf.
({13})
Deswegen gilt es, den meines Erachtens teilweise etwas
vorschnellen Verlautbarungen der Wirtschaft, es gebe einen eklatanten Fachkräftemangel, der nur durch eine
Ausweitung der Arbeitsmigration aus dem Nicht-EUAusland zu beheben sei, entgegenzutreten.
({14})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt
nicht nur innerhalb der Europäischen Union unterschiedliche Arbeitsmärkte, sondern auch in Deutschland. Im
Agenturbezirk Ingolstadt beträgt die Arbeitslosigkeit
1,5 Prozent, in Görlitz 21 Prozent. In meinem Wahlkreis,
in Altötting, sind die Arbeitslosenzahlen andere als in
Hamburg oder Berlin. Hier muss man wirklich ins Detail
gehen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird peinlich genau darauf achten, dass beim Zuzug von NichtEU-Ausländern weiterhin generell an der individuellen
Vorrangprüfung festgehalten wird. Wir lehnen eine wie
auch immer geartete Punkteregelung und die Festlegung
bestimmter Zuwanderungsquoten für Deutschland kategorisch ab.
({15})
Abschließend möchte ich die FDP-Fraktion bitten -
Bitte wirklich abschließend.
Ich komme zum Abschluss, Frau Präsidentin. - Das
Zahlenmaterial, das in der Antwort der Bundesregierung
geliefert wurde, ist eine gute Basis für die zukünftige
Generation. Es besteht keine Veranlassung zu überhitzten und überzogenen Diskussionen. Lassen Sie uns zu
einer gewissen Gelassenheit und Sachlichkeit zurückkehren.
({0})
Jetzt spricht der Kollege Uwe Barth für die FDPFraktion.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Mayer, Sie haben
gerade eine bemerkenswerte Achterbahnfahrt gemacht.
({0})
Deutschland ist kein Zuwanderungsland, aber wir brauchen Zuwanderung. Wir brauchen keine neuen Überlegungen und keine neuen Gesetze. Der Minister sagt: So
ist es. Aber in seiner Rede und in der Antwort auf unsere
Große Anfrage kündigte er an, Monitoring durchführen
und ein entsprechendes Konzept vorlegen zu wollen. Immerhin haben Sie die Forscher und Wissenschaftler in
Ihren sehr allgemeinen Ausführungen zur Zuwanderung
einmal erwähnt. Ich sage das deshalb, weil wir über die
Auswanderung Hochqualifizierter sprechen. Forscher
und Wissenschaftler gehören zweifellos zu dieser Zielgruppe.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie alle kennen das
Lied „Die Gedanken sind frei“, welches im Wesentlichen zum Inhalt hat, dass sich Gedanken nicht verbieten
lassen. Wissenschaftler und Forscher sind von Gedanken
getrieben. Sie lassen sich nicht einsperren, in einer globalisierten Welt schon gar nicht. Denkverbote, Gängelung, aber auch finanzielle Unterausstattung - an dieser
Stelle möge Herr Staatssekretär Rachel einmal genau zuhören - schrecken Wissenschaftler und Forscher ab und
vertreiben sie, und zwar dorthin, wo sie bessere Rahmenbedingungen vorfinden.
({1})
Dass wir gerade zwei deutsche Nobelpreisträger, die
ausnahmsweise sogar in Deutschland tätig sind, bejubeln
dürfen, bedeutet keine Trendwende. Aber das zeigt immerhin - das ist die gute Nachricht -, dass Spitzenforschung möglich ist, wenn man sie das tun lässt und wenn
sie das tun dürfen. Die Regel ist leider, dass viele deutsche Spitzenforscher in Deutschland keine geeigneten
Rahmenbedingungen mehr vorfinden. Demzufolge findet Spitzenforschung nicht im gewünschten Umfang in
Deutschland statt. Spitzenforscher, die auf sehr wichtigen Zukunftsfeldern tätig sind, verlassen unser Land,
weil wir sie in ihren Möglichkeiten einschränken, in finanzieller und inhaltlicher Hinsicht.
Das ist in anderen Ländern ganz anders. Warum waren denn gerade die amerikanischen Research Universities in den letzten Jahren Heimstatt für viele deutsche
Nobelpreisträger, und warum bringen sie regelmäßig
Nobelpreisträger hervor? Das ist deshalb der Fall, weil
dort Forschungsfreiheit herrscht, weil die Wissenschaftler und Forscher dort nicht durch bürokratische Monster
belästigt werden,
({2})
weil sie von fachfremden Aufgaben befreit sind
({3})
und weil ihre Tätigkeit dort angemessen honoriert wird;
auch dieser Aspekt spielt für Wissenschaftler bzw.
Hochqualifizierte eine Rolle.
Da die Bundesregierung zu Recht festgestellt hat,
dass der Bedarf an gut ausgebildeten Menschen in den
nächsten Jahren steigen wird, wundert es mich ein bisschen, dass in ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage
von Themen wie der Verlängerung der Lebensarbeitszeit, der Initiative „50 plus“ und dem Kindergeld die
Rede ist. Das sind keine geeigneten Mittel, um Wissenschaftler wieder nach Deutschland zu holen.
Das Ergebnis ist eine langfristig negative Wanderungstendenz. Man muss konstatieren, dass wir den Sog,
den die internationalen Wissenschaftsleuchttürme auf die
Hochqualifizierten ausüben, nicht durch eigene Lockinstrumente kompensieren können. Wir sitzen in dem
Verliererzug namens Braindrain,
({4})
und die Endstation dieses Zuges hat - auch ohne Lokführerstreik - keinen Anschluss an die Weltspitze. Wir
haben diese Endstation noch nicht erreicht; das ist die
gute Botschaft. Es ist durchaus so, dass die mangelnde
politische Bereitschaft der vergangenen Jahre allmählich
zu schwinden scheint. Ich will in diesem Zusammenhang das Land Nordrhein-Westfalen erwähnen, das mit
dem Programm zur Förderung junger Spitzenwissenschaftlerinnen und Spitzenwissenschaftler aus dem Ausland einen Weg beschreitet, mit dem jungen Wissenschaftlern zum Beispiel mit der eigenständigen Leitung
von Forschungsgruppen, aber auch - Kollege Bürsch hat
es angesprochen - mit dem Tenure-Track Perspektiven
eröffnet werden. Das sind notwendige Dinge. Bedauerlich, dass es nur vier Länder sind - ich frage mich, was
die anderen zwölf machen und was die Bundesregierung
tut, um die Länder zu ermuntern.
({5})
Der Minister hat gesagt - damit komme ich zum
Schluss, Frau Präsidentin -, dass die Nobelpreisträger
geäußert hätten, die Bedingungen in Deutschland seien
gar nicht so schlecht.
({6})
Das ist ein relativ geringer Anspruch, das ist nicht der
Anspruch, den wir an unser Land als Wissenschafts- und
Forschungsstandort stellen sollten. Wenn die Große Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion dazu geführt hat, dass
wir hier über dieses Thema reden und dass die Bundesregierung erklärt, sie will ein Monitoring durchführen und
ein Konzept vorlegen, dann hat diese Große Anfrage etwas bewegt. Ich sage Ihnen für meine Fraktion zu, dass
wir an diesem Konzept entsprechend mitarbeiten.
Herzlichen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vielen Dank, Frau Präsidentin!
({7})
Jetzt ist die Kollegin Katja Mast für die SPD-Fraktion
an der Reihe.
({0})
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Zur Großen Anfrage der FDP muss ich sagen:
Wer wie Sie durch Ihre Frage implizit andeutet, das Arbeiten deutscher Fachkräfte im Ausland sei ein riesiges
Problem, ist auf dem Holzweg.
({0})
Die Exportwirtschaft - und wir sind nun einmal Exportweltmeister - braucht internationales Know-how und Ingenieure, die andere Kulturen und Europa kennen. So
entsteht hier in Deutschland kulturelle Vielfalt und Wertschöpfung.
({1})
Doch nun zum Kernanliegen. Der Aufschwung in
Deutschland soll anhalten. Wir wollen weiter am Abbau
der Arbeitslosigkeit arbeiten und alle am Aufschwung
teilhaben lassen. Das geht nur mit guten Löhnen und guter Arbeit, inklusive Mindestlohn, und dazu brauchen
wir Innovation und Qualität. Für Innovation und Qualität
wiederum brauchen wir Fachkräfte, Fachkräfte, Fachkräfte. Woher kommen denn Fachkräfte in einer alternden
Gesellschaft? Wir müssen qualifizieren und Qualifizierte
herholen. Nur so bekommen wir die Nobelpreisträger der
Zukunft und Fachkräfte, die täglich durch ihre Leistung
für kulturelle Vielfalt und Wertschöpfung sorgen - unsere Nobelpreisträger des Alltags.
({2})
Fordern und Fördern, das ist der Grundgedanke der
Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010. Fordern und
Fördern, das gilt aber auch im Hinblick auf den Fachkräftemangel. Fördern: Jeder in Deutschland soll als
Fachkraft am Arbeitsmarkt eine Chance haben. Fördern:
Wir wollen Unternehmen, die gut ausbilden, belohnen.
Fordern: Wir brauchen auch ausländische Fachkräfte in
Deutschland. Fordern: Unternehmen müssen bei Ausund Weiterbildung noch stärker zulegen.
({3})
Fachkräfte sind notwendig; daran besteht kein Zweifel. Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung macht allerdings klar, dass ein flächendeckender Fachkräftemangel noch nicht besteht, wohl aber
ein Fachkräftemangel in einzelnen Wirtschaftsbereichen
und Regionen, nämlich dort, wo die Arbeitslosigkeit gering ist, wie in Bayern und Baden-Württemberg. Gesucht werden insbesondere qualifizierte Fachkräfte und
Ingenieure.
Ich finde es bemerkenswert, dass die Zahl der arbeitslosen Ingenieure seit letztem Jahr schlagartig zurückgegangen ist. Anfang 2006 waren noch 50 000 Ingenieure
arbeitslos. 18 Monate danach sind es weniger als die
Hälfte. Wir können den eigenen Ingenieurbedarf also
nicht über unsere arbeitslosen Ingenieure decken. Deshalb sind alle Handelnden gefragt, hier anzusetzen.
Zur Gewinnung ausländischer Fachkräfte will ich Ihnen gerne ein Beispiel aus meiner Heimat schildern. Die
Hochschule der Goldstadt Pforzheim - bundesweit bekannt für Gestaltung, Technik, Wirtschaft und Recht hat die Zeichen der Zeit erkannt. Sie reagiert auf die demografische Entwicklung mit einer Globalisierungsstrategie. Der Kollege Tauss war gemeinsam mit mir dort
beim Rektor, sodass er weiß, was jetzt kommt.
({4})
- Du warst nicht zum ersten Mal an der Hochschule,
aber beim neuen Rektor, lieber Jörg. - Diese Globalisierungsstrategie wird zugunsten der Studenten und der
kleinen und mittelständischen Unternehmen durchgeführt; denn gerade die kleinen und mittelständischen Unternehmen schaffen in Baden-Württemberg Arbeitsplätze.
Trotz knapper Mittel hat diese Hochschule ein zusätzliches Büro für den Ausbau internationaler Hochschulkontakte eingerichtet,
({5})
obwohl schon vierzig solcher Kooperationen bestehen.
Man baut also auf einem großen Stamm auf. Das Ziel ist
ganz klar: Mehr ausländische Studenten in Pforzheim,
bessere Wirtschaftsbeziehungen für die gesamte Region
und damit mehr Arbeit für die Zukunft.
({6})
Aber auch die Große Koalition setzt Rahmenbedingungen für ausländische Fachkräfte; das haben viele
meiner Vorredner schon gesagt. Ausländer, die in
Deutschland ihr Studium abgeschlossen haben, können
hier nun leichter arbeiten. Das zieht weitere Arbeitskräfte an.
Politik wird am Beispiel konkret. Lassen Sie mich
deshalb ein weiteres hinzufügen: Firmen - gerade im
süddeutschen Raum - suchen händeringend nach Maschinenbau-, Fahrzeugbau- und Elektroingenieuren.
Deshalb erlauben wir, dass diese Ingenieure schon vor
Einführung der Freizügigkeit anderer Berufsgruppen aus
den neuen Mitgliedstaaten der Europäischen Union bei
uns arbeiten können. Das ist konkrete Politik und konkrete praktische Hilfe für den Arbeitsmarkt.
Ausländische Fachkräfte, die leichter nach Deutschland kommen, sind das eine. Mir geht es aber vor allem
darum, unsere Fachkräfte hier zu halten, sie zu qualifizieren und auszubilden. Es fehlen betriebliche Ausbildungsplätze, es gibt Schulabgänger ohne Ausbildungsfähigkeit, Frauen sind weniger erwerbstätig, weil sie
Familie und Beruf nicht vereinbaren können, und den
Kindern von Ausländern, die in zweiter oder dritter Generation hier sind, geben wir keine ehrlichen Chancen.
Wir schöpfen unsere eigenen Potenziale also nicht aus.
Auch wenn mein Vorredner gesagt hat, dass das nicht
ganz stimmt: Bildung und Betreuung sind zur Gewinnung von Fachkräften die richtige Antwort. Hier tut sich
viel in Deutschland: das Recht auf einen Kindergartenplatz, das Ganztagsschulprogramm der Schröder-Regierung und das Recht auf einen Krippenplatz ab 2013 von
der Großen Koalition: Das sind die richtigen Schritte zur
Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Ich habe gesagt, es gehe darum, Fachkräfte zu halten,
zu qualifizieren und auszubilden. Auch hierfür sind die
Beispiele unserer Politik noch lange nicht erschöpft;
denn Regieren geht über Debattieren. Deshalb trägt die
SPD diese Regierung gerne.
Wir haben bei den über 55-Jährigen eine Beschäftigungsquote, von der die FDP während ihrer Regierungsverantwortung geträumt hätte. Sie liegt heute bei
52 Prozent und lag zu Beginn der Schröder-Regierung
bei 38 Prozent. Dadurch werden Fachkräfte im Land und
im Erwerbsleben gehalten.
({7})
Doch wie machen wir die Jugend fit für die Qualifizierung als Fachkräfte? Wir haben hier im Bundestag
erst vor vier Monaten den Antrag „Junge Menschen fördern - Ausbildung schaffen und Qualifizierung sichern“
verabschiedet. Aus meiner Sicht hätte die Überschrift
genauso heißen können: Unser Beitrag zur Beseitigung
des Fachkräftemangels.
({8})
In diesem Antrag finden Sie eine Vielzahl an Maßnahmen zum Fördern und Fordern der Jugend. Wir brauchen ein Mehr an betrieblichen Ausbildungsplätzen.
Deshalb prüft das Arbeitsministerium, wie es Unternehmen fördern kann, die überdurchschnittlich ausbilden.
Denn wer mehr tut als andere, der soll aus Sicht der SPD
belohnt werden. Er soll weniger Arbeitslosenversicherung zahlen müssen. Denn wir wissen: Bildung ist die
beste Arbeitslosenversicherung und der beste Schlüssel
für mehr Fachkräfte in Deutschland.
({9})
Es gibt viele Jugendliche, die trotz Schulabschluss
nicht ausbildungsfähig sind. Jeder von uns kann ein Lied
davon singen, was ihm bei Betriebsbesuchen darüber berichtet wird. Mit dem EQJ, aber auch mit dem Qualifizierungszuschuss für jugendliche Langzeitarbeitslose
haben wir da Brücken gebaut. Auch das sind alles Einzelbeispiele für konkrete Hilfe zur Beseitigung des Fachkräftemangels und bei der Qualifizierung.
Das ist deshalb wichtig, weil nicht nur Abiturienten
Ingenieurwissenschaften studieren, sondern auch Facharbeiter- und Handwerkerkinder im zweiten Bildungsweg nach einer Berufsausbildung. Deshalb müssen wir
auch die Durchlässigkeit unserer Studiengänge ausbauen.
Eines ist doch unbestritten: Fachkräfte sind auf Dauer
unser zentraler Innovations- und Wachstumsmotor. Bei
dieser Entwicklung wollen wir Sozialdemokraten alle
Menschen mitnehmen, auch die zahllosen Talente im
Land, die sich bisher wegen Sprachproblemen und der
frühen Auslese im Schulsystem nicht entfalten konnten.
Wir brauchen gleiche Chancen durch gleiche Bildungschancen für alle. Nur so bekommen wir neben den
Nobelpreisträgern aus dem Aus- und Inland auch genügend Personen, die täglich durch ihre Leistung für kulturelle Vielfalt und Wertschöpfung sorgen: unsere Nobelpreisträger des Alltags.
({10})
Jetzt spricht Kollege Kai Gehring für Bündnis 90/Die
Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Überschrift der Debatte könnte zum Teil lauten:
Thema verfehlt! Denn beim Lesen der Großen Anfrage
entsteht der Eindruck, dass weder der Fragesteller FDP
noch der Antwortgeber Bundesregierung die Problematik richtig erfasst haben.
({0})
Die FDP beklagt mit einer fast schon nationalen Borniertheit einen Braindrain deutscher Fachkräfte. Die
Bundesregierung betont immerhin den möglichen Braingain, tut aber nichts dafür, dass auch wirklich mehr
Hochqualifizierte nach Deutschland kommen.
Worum es wirklich in dieser Debatte gehen muss, ist
Braincirculation.
({1})
Das heißt, wir müssen die internationale Mobilität
hochqualifizierter Menschen in allen Richtungen ermöglichen. Uns Grünen liegt dabei nicht allein der
Standort Deutschland am Herzen, sondern auch die Zukunftsperspektiven von Schwellen- und Entwicklungsländern. Nur durch den ständigen Austausch in alle
Richtungen der besten Köpfe in dieser globalisierten
Welt können alle Seiten profitieren. Das muss die zentrale Botschaft in dieser Debatte sein.
({2})
Die entscheidende Frage für Deutschland ist dabei:
Wie gewährleisten wir, dass hier genügend hochqualifizierte Fachkräfte zur Verfügung stehen? Wie erreichen
wir, dass angesichts des demografischen Wandels alle
vorhandenen Begabungen und Potenziale von Frauen,
Älteren und Migrantinnen und Migranten stärker als bislang genutzt werden, dass möglichst viele junge Menschen exzellent ausgebildet werden und das lebenslange
Lernen in diesem Land tatsächlich ernst genommen
wird? Wie schaffen wir es, dass sich genügend Hochqualifizierte - egal ob sie zugewandert sind oder nicht - für
ein Leben und Arbeiten in Deutschland entscheiden? Die
Beantwortung dieser Fragen ist zentral, da der Mangel
an qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein
immer stärkeres Hemmnis für technologischen Fortschritt und für nachhaltiges Wirtschaftswachstum wird.
Unser Bildungssystem ist in diesem Zusammenhang
von entscheidender Bedeutung. Es ist leider hochgradig
selektiv und zutiefst ungerecht. Dass wir damit Akademiker- und Fachkräftemangel ernten, haben uns die neue
OECD-Bildungsstudie und die DSW-Sozialerhebung
überdeutlich ins Stammbuch geschrieben. Das war eine
klare Ohrfeige für die Bildungs- und Qualifizierungspolitik von Schwarz-Rot.
({3})
Die Bundesregierung hat zu diesem Thema wenig Taten, aber reichlich schöne Worte produziert. „Nationale
Qualifizierungsoffensive“ hieß es in Meseberg, und so
heißt der schwarz-rote Versuch einer Brücke über die
Fachkräftelücke. Doch nach zwei Jahren Defensive in
diesem Bereich wird eine einzelne Offensive nicht ausreichen. Sie haben stattdessen mit einer ideologischen
Zuwanderungspolitik die Hürden für ausländische Fachkräfte, Studierende und Höchstqualifizierte beibehalten
und zum Teil sogar erhöht. Sie müssen die Hürden absenken, sonst bleibt die Internationalisierung eine hohle
Phrase.
({4})
Um die besten Köpfe zu gewinnen, brauchen wir
neben besseren Zuwanderungs- und Integrationsbedingungen vor allem einen Dreiklang aus attraktiven Studienbedingungen, Beschäftigungsbedingungen und Lebensbedingungen. Ich komme nun zu den einzelnen
Punkten.
Gute Studienbedingungen sind nötig, weil gegen das
Fachkräftetief nur ein Studierendenhoch auf Dauer wirken kann. Das heißt, Bund und Länder müssen genügend
ausfinanzierte Studienplätze bereithalten, um Zehntausenden zusätzlichen Abiturienten und Studienberechtigten den Weg in die Hörsäle zu ebnen.
({5})
Mehr Studienplätze alleine bringen aber nichts, wenn
sich junge Menschen ein Studium nicht mehr leisten
können.
Statt Große Anfragen einzubringen, sollten Sie von
der FDP lieber Ihren Länderkollegen und Landesministern die Studiengebühren ausreden.
({6})
Damit wäre viel mehr gegen den Fachkräftemangel getan als mit der Antwort der Bundesregierung.
({7})
Der nächste Punkt sind die attraktiven Beschäftigungsbedingungen. Sie bedeuten vor allen Dingen eine
bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, gute Berufseinstiegsperspektiven und angemessene Bezahlung
statt prekärer Praktika und Billiglohn sowie gerechtere
Karrierechancen für Frauen in diesem Land. Gerade im
Bereich Wissenschaft und Forschung, wo die Fachkräftelücke besonders eklatant ist, hat es die Bundesregierung bislang leider versäumt, attraktive und vor allem
verlässliche Arbeitsbedingungen zu schaffen.
Nicht zuletzt sind attraktive Lebensbedingungen notwendig. Denn auch wenn wir von Braindrain oder Braingain reden
({8})
- wunderbar, da ist ja bei der PDS/Linksfraktion etwas
hängen geblieben -:
({9})
Es geht bzw. kommt nicht nur das Gehirn, sondern der
ganze Mensch. Dieser Mensch ist kreativ und hochqualifiziert. Solche Menschen entscheiden sich in der globalisierten Welt für Regionen mit einer besonders hohen
Lebensqualität, in denen ein Klima der Toleranz und Offenheit herrscht. Dies gilt besonders für ausländische
Fach- und Kreativkräfte. Dementsprechend entwickeln
Unternehmen in Regionen mit hoher kultureller Vielfalt
deutlich erfolgreicher Produkte und melden mehr Patente an. Das hat die Studie des IAB bewiesen.
Das zeigt, dass die sogenannten weichen Standortfaktoren inzwischen knallhart sind. Toleranz ist eine
entscheidende Voraussetzung für Talente und Technologie. Soziale Stabilität, Familienfreundlichkeit, kulturelle
und gesellschaftliche Vielfalt sind zwingend für Kreativität und Innovationen in diesem Land.
Bekämpfen Sie deshalb keinen vermeintlichen Braindrain! Sorgen Sie lieber dafür, dass genügend Menschen
in diesem Land gut qualifiziert werden und gerne und erfolgreich in Deutschland leben und arbeiten, egal ob sie
hier ausgebildet, zugewandert oder hierher zurückgeKai Gehring
kehrt sind. Das ist die Aufgabe der Bundesregierung, die
sie dringend besser lösen muss.
Vielen Dank.
({10})
Als Nächste hat das Wort die Kollegin Anette
Hübinger für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vieles ist heute schon zu dem Thema Auswanderung und Zuwanderung gesagt worden. Dennoch erlaube ich mir, einiges zu wiederholen, weil es für mich
wichtig ist.
Wichtig ist für mich, dass es zur Normalität geworden
ist, dass wir mittlerweile in einer internationalen, global
vernetzten Welt leben. Dies wird von uns hingenommen,
ohne zu bedenken, was dafür geleistet wurde und was
dahintersteht. Der vielerorts beschriene Exodus der
Hochqualifizierten aus unserem Land kann allerdings
nicht empirisch festgestellt werden. Vielmehr kehren
laut einer Studie der Deutschen Forschungsgemeinschaft
unter Auslandsstipendiaten 85 Prozent der Wissenschaftler wieder nach Deutschland zurück. Untermauert
wird dies auch durch eine Studie des Bundesinstituts für
Bevölkerungsforschung. Danach steigt die Zahl der ausgewanderten hochqualifizierten Personen zwar etwas.
Jedoch ist der Auslandsaufenthalt zumeist zeitlich befristet. Vier Fünftel der deutschen Wissenschaftler halten
sich weniger als ein Jahr im Ausland auf. Die Studie
zeigt aber auch, dass es zu einer Europäisierung der Migration von Deutschen gekommen ist. Konstant über
60 Prozent der Abwanderer halten sich im europäischen
Ausland auf. Das ist die Folge eines geeinten Europas
und eines gemeinsamen Marktes, wie er von uns gewollt
wurde.
Die Mobilität von Hochqualifizierten ist nur zu begrüßen, für deutsche und ausländische Fachkräfte sowie
Wissenschaftler gleichermaßen. Es liegt doch in unserem eigenen Interesse, dass unsere Wissenschaftler und
Fachkräfte ins Ausland gehen, sich dort weiterbilden,
persönliche Erfahrungen sammeln und mit diesem Wissen wieder nach Hause zurückkehren. Genauso interessiert sind wir daran, international renommierte Wissenschaftler und Fachkräfte für eine Tätigkeit in unserem
Land zu gewinnen.
Künftig kommt der internationalen Ausrichtung
von Wissenschaft und Bildung in unserem Land eine
große Bedeutung zu.
({0})
Dem Wettbewerb um die klügsten Köpfe müssen wir uns
stellen. Für deutsche und ausländische Hochqualifizierte
muss eine Tätigkeit gerade in Deutschland interessant
werden. Netzwerke wie das Projekt GAIN helfen deutschen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen während eines Auslandsaufenthalts, Kontakte zu halten, und
zeigen Wege für eine mögliche Rückkehr an eine deutsche Hochschule oder Forschungseinrichtung auf. Entscheidend für die Attraktivität einer wissenschaftlichen
Tätigkeit in unserem Land sind aber die strukturellen
Bedingungen in diesen Einrichtungen. Unseren Nachwuchswissenschaftlern müssen eine Perspektive für eine
wissenschaftliche Laufbahn in Deutschland und gute
Rahmenbedingungen für sich und ihre Familien geboten
werden.
Neue Wege sind hier die Einführung von TenureTrack-Verfahren - das wurde schon angesprochen - sowie die weitere Etablierung von Dual-Career-Services
an Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Der
Wettbewerb um die klügsten Köpfe ist aber auch eine
Frage des Gehalts. Daher sollte der Vergaberahmen der
W-Besoldung für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler überdacht werden. Wir wollen, dass in Zukunft
noch mehr ausländische Spitzenforscher und Nachwuchswissenschaftler dem Ruf an eine deutsche Hochschule oder Forschungseinrichtung folgen.
({1})
Die vor wenigen Wochen von Frau Ministerin Schavan
vorgestellte Internationalisierungsinitiative zeigt den
Handlungsrahmen hierfür auf.
Vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels in manchen Branchen wird der Wirtschaftsstandort Deutschland darauf angewiesen sein, gezielt hochqualifizierte
Arbeitskräfte aus dem Ausland anzuwerben. Auf der
Klausurtagung der Bundesregierung in Meseberg wurde
hierfür die Entwicklung eines Konzeptes vereinbart. Die
Erleichterung des Zugangs ausländischer Absolventen
deutscher Hochschulen zum Arbeitsmarkt in bestimmten
Bereichen begrüßen wir.
({2})
Anmerken möchte ich an dieser Stelle aber auch, dass
unser Bedarf an Fachkräften nicht zu einem Exodus in
den Ländern der Dritten Welt führen darf. Vielmehr
sollte der zeitliche und gegenseitige Austausch von
Menschen und Wissen - mein Kollege nennt das BrainCirculation; das ist schon ein alter Begriff und kommt
vom französischen Ausdruck „circulation des élites“ das Ziel unserer Bemühungen sein.
Für die CDU/CSU-Fraktion ist ferner klar: Unser
Fachkräftemangel kann und wird nicht alleine durch eine
gesteuerte Zuwanderung behoben werden. Vielmehr
müssen wir unsere eigenen Fachkräfte ausbilden und
weiterbilden. Die Bundesregierung hat dies erkannt.
Noch im Herbst dieses Jahres soll eine Nationale Qualifizierungsinitiative verabschiedet werden. Die Qualität
des deutschen Ausbildungs- und Weiterbildungswesens
soll grundlegend verbessert werden. Es soll in der vorschulischen und schulischen Ausbildung angefangen
werden, in der es eine stärkere Zusammenarbeit geben
soll. Die Zahl der Schul- und Studienabbrecher soll deutlich gesenkt werden, und die Zahl der Studierenden soll
auf 40 Prozent ansteigen. Das setzt eine intensivere
Betreuung von Schülern und Studierenden voraus. Hierfür haben Bund und Länder mit dem Hochschulpakt die
Grundlage gelegt.
({3})
Nicht zuletzt soll der Zugang zum Hochschulstudium für
Absolventen der dualen Berufsausbildung erleichtert
werden. Aber auch das lebenslange Lernen soll verstärkt
gefördert werden. Hier sind auch die deutschen Unternehmen gefordert;
({4})
denn eine gute und fortwährende Weiterbildung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bedeutet eine Investition in den Wirtschaftsstandort Deutschland.
({5})
Wie Sie sehen, ist Deutschland durch unsere Politik, die
Politik der Großen Koalition, heute und in der Zukunft
für die Herausforderungen und Chancen der globalisierten Welt gut aufgestellt. Erfolgreich werden wir aber nur
sein, wenn sich unsere Gesellschaft ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern gegenüber öffnet.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({6})
Zum Abschluss der Debatte hat jetzt der Kollege Jörg
Tauss für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen des Präsidiums!
Ich bedanke mich sehr - das sage ich an die Innenpolitikerinnen und Innenpolitiker gerichtet - für die Möglichkeit, als Wissenschaftspolitiker etwas zu diesem Thema
sagen zu dürfen; denn im Grunde genommen - das haben alle Beiträge gezeigt - führen wir auch aufgrund der
Anfrage, die die FDP gestellt hat,
({0})
eine bildungspolitische Debatte. Insofern loben wir euch
jetzt einmal. Es waren nicht alle Fragen so furchtbar intelligent. Es sind, lieber Herr Minister, auch nicht alle
Fragen so beantwortet worden, wie wir als Wissenschaftspolitiker es uns gewünscht hätten. Sie hatten aber
gegenüber Frau Schavan angedeutet und haben es heute
angesprochen, dass wir in dem einen oder anderen Punkt
zu Verbesserungen kommen müssen. Die Beschlüsse
von Meseberg sind an vielen Stellen diskutiert worden.
Das Thema ist übrigens auch nicht neu. So neu, dass
Sie ausgerechnet jetzt eine Anfrage hätten stellen müssen, ist es nun weiß Gott nicht.
({1})
Man könnte schon fast biblisch werden. Schauen Sie
sich das Matthäus-Evangelium an. Da finden Sie bereits
den ersten Globalisierungsbefehl. Keine Sorge, ich habe
nur zehn Minuten Redezeit und will es abkürzen. Ich
will nicht den ganzen Zeitraum seit Matthäus abhandeln.
Matthäus sagte: Gehet hin in alle Welt!
({2})
Das war, wenn man so will, der Globalisierungsbefehl.
Seit diesem Globalisierungsbefehl gibt es Menschen, die
dieses tun. Darauf folgte eine jahrhundertelange Entwicklung.
1996 - das war zu Ihrer Regierungszeit - schrieb der
Spiegel: Wir verlieren Köpfe. - Das habe ich 1996 in einer Debatte angeführt. Damals waren wir tragischerweise noch in der Opposition. Das war die Zeit, in der
der Spiegel von der „Talfahrt in die Zukunft“ schrieb,
weil während Ihrer Regierungsverantwortung die Mittel
für Wissenschaft und Forschung deutlich gekürzt worden sind. Im Spiegel waren die dramatischen Folgen zu
lesen, nämlich dass deutsche Forscher gegangen sind,
weil sie hier keine Perspektive mehr hatten.
({3})
Ich glaube, das war einer der Gründe, warum Sie 1998
die Wahl verloren haben; denn die Leute haben gesagt:
Wir brauchen etwas Neues. - Dann regierte Rot-Grün.
Frau Kollegin Aigner schaut ganz unglücklich, weil ich
wieder Rot-Grün beschwöre. Jetzt kommen wir aber zu
Schwarz-Rot. Wir haben es ganz gut gemacht. Wir haben seinerzeit mit Rot-Grün den Trend gestoppt; dann
kam Schwarz-Rot. Immer dann, wenn Rot dabei ist, geht
es aufwärts. Das ist eine gute Botschaft, die uns natürlich
freut.
({4})
Das Thema ist ernst. Deswegen bedaure ich ein bisschen, dass sich die FDP an den Symptomen abarbeitet;
denn das Kurieren an Symptomen hilft nichts. Sie stellen
keine Diagnose und haben keine politische Therapie.
({5})
Die zentrale Frage betrifft die Geschwindigkeit und
Qualität des Innovationssystems in Deutschland. Das
ist das Spielfeld, auf dem wir uns bewegen. In dieser Beziehung haben wir etwas getan, und wir müssen noch
mehr tun. In diesem Punkt sind wir uns hier im Hause,
zumindest die Bildungs- und Wissenschaftspolitiker, einig. Was den Haushalt angeht, so sind wir uns ebenfalls
einig. Wir sind dabei, den Haushalt für 2008 aufzustellen, und wir wollen in ihm weitere bildungspolitische
Schwerpunkte setzen, die zu hervorragenden Arbeitsbedingungen für junge Wissenschaftler und Forscher führen werden.
Es ist in der Tat eine bildungspolitische Debatte, die
wir jetzt führen. Ich stimme allen zu, die das gesagt haben. Kollege Gehring und Kollegin Sitte, es ist richtig,
dass wir hier im Lande immer noch Bildungspotenziale
vergeuden. Das ist ein Fakt, keine Ideologie. Das ist
keine Frage von Rot, Grün, Schwarz oder Gelb. Es ist
ein Fakt in diesem Lande, dass wir immer noch Bildungspotenziale vergeuden. Darum müssen wir uns
kümmern.
Es stellt sich die Frage - auch der Arbeitsminister hat
das gestern angedeutet -, wie wir mit denjenigen Jugendlichen in Deutschland umgehen, die in den letzten
Jahren keine Lehrstelle gefunden haben. Ich verweise an
dieser Stelle auf die Qualifizierungsinitiative, die im
Herbst vorgelegt werden wird. Jugendliche, die keine
Ausbildung haben, haben noch nicht einmal die Perspektive, ins Ausland zu gehen. Sie haben überhaupt keine
Perspektive, weder bei uns noch anderswo. Qualifikation
ist also von zentraler Bedeutung.
Die Studierenden sind angesprochen worden. In der
Tat ist es notwendig, dass die Anzahl der Studierenden
steigt. Deswegen reden wir darüber, ob es sinnvoll ist,
das BAföG zu erhöhen.
({6})
Wir streiten mit unserem lieben Koalitionspartner gelegentlich - in den Ländern wird richtig heftig gestritten über die unsinnigen Studiengebühren. Wir, die SPD, setzen uns wie in der Vergangenheit dafür ein - ich glaube,
wir werden erfolgreich sein -, dass es in 2008 zu einer
10-prozentigen Steigerung der Bedarfssätze und zu einer
8-prozentigen Steigerung der Freibeträge kommt. Das ist
unser Ziel. Das haben wir auch entsprechend erklärt.
Auch hier habe ich den Eindruck, dass die Koalition auf
einem guten Weg ist.
Außerdem wollen wir die Weiterbildungsbeteiligung bis 2015 steigern; das ist ein klares Ergebnis der
Kabinettsklausur in Meseberg. - In diesem Bereich gibt
es also wirklich Erfreuliches zu vermelden. In anderen
Punkten sind wir noch nicht so weit.
Ich stimme Ihnen völlig zu: Es gibt unterschiedliche
Antworten auf die Frage, warum viele junge Wissenschaftler ins Ausland gehen. Beispielsweise hat mein
Neffe - ein fitter Kerl; mein Neffe! - in Australien studiert. Er ist dann in die USA gegangen - dafür kann ich
nichts; ich bin ja nur der stolze Onkel -, war zunächst an
der Ostküste und ist dann an die Westküste gezogen. Er
hat eine Amerikanerin geheiratet, eine Familie gegründet und wird in den deutschen Wissenschaftsbetrieb aller
Voraussicht nach nicht zurückkehren. So etwas kommt
vor. Jetzt müssen wir eben schauen, wie wir dafür sorgen
können, dass mehr amerikanische Wissenschaftler zu
uns kommen. Über genau diesen Punkt diskutieren wir
hier. Von mir aus kann man es „Brain-Circulation“ nennen. Mir ist vom Prinzip her wurscht, welchen Begriff
man benutzt.
Wir fragen junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, warum sie ins Ausland gegangen sind. Wir waren kürzlich in Kalifornien, Kollegin Aigner.
({7})
- Gut, es ist mittlerweile ein Jahr her. Da ich nicht so oft
verreise, war das für mich kürzlich. - Der Kollege
Schulz war in der Tat kürzlich in Kalifornien und hat mit
jungen Nachwuchswissenschaftlern diskutiert. Sie haben
gesagt, einer der Gründe, warum sie Deutschland verlassen haben, sei, dass es in Deutschland zu lange dauere,
um eine wissenschaftliche Karriere zu machen. Das ist
auch einer der Gründe, warum wir gesagt haben, dass
wir die Juniorprofessur brauchen. Wir müssen es jungen Menschen - Kollege Koppelin, wir beide kommen
nicht mehr in Betracht; aber das ist auch wurscht - ermöglichen, in Deutschland frühzeitiger als bisher eine
wissenschaftliche Karriere zu machen. Das ist ein ganz
wichtiger Punkt.
Diese Koalition ist nicht mehr ganz so ideologisch befrachtet.
({8})
Die alte Regelung, dass jemand erst habilitiert werden
kann, wenn er einem Professor so lange gedient hat, bis
er einen grauen Bart hat, ist schlecht. Hier müssen wir
etwas tun. Auch müssen wir ermöglichen, dass Frauen
früher eine wissenschaftliche Karriere machen können.
Wenn das der Fall ist, dann werden auch mehr junge
Frauen diesen Weg einschlagen.
({9})
Es gibt eine ganze Reihe weiterer Punkte. Liebe Kollegen von der FDP, wir sollten überlegen, was zu tun ist.
Internationale Preise sind zu erwähnen. Rot-Grün hat
zur Förderung internationaler Wissenschaftlerinnen den
Kovalevskaja-Preis initiiert. Das ist zwar ein schwieriger
Name, aber Sofja Kovalevskaja war eine tolle Frau. Dieser Preis ist hervorragend ausgestattet. Im Moment unterhalten wir uns mit Frau Ministerin Schavan und Herrn
Staatssekretär Rachel darüber, wie es mit dem „Research
in Germany Award“ weitergehen soll. „Germany Award“
ist ein klassischer neobadischer Begriff. Es ist ein Preis
unterhalb des Nobelpreises, dessen Verleihung darauf
abzielt, weitere internationale Spitzenleute hierher zu
holen. Tolle Geschichte, das wollen wir machen. Ich verweise auch auf die GAIN-Initiative - ich habe sie gerade
im Zusammenhang mit dem Kollegen Schulz indirekt
angesprochen - des DAAD, der Alexander-vonHumboldt-Stiftung und der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Das ist ein ganz wichtiges Angebot.
Übrigens hat die deutsche Wirtschaft, die immer über
Fachkräftemangel klagt, in den letzten Jahren geschlafen. Es gab in den USA, wohin viele qualifizierte Wissenschaftler gegangen sind, überhaupt keine Stellenangebote. Man hat überhaupt nicht systematisch überprüft,
wo sich die Fachkräfte aufhalten. Heute jammert man. In
diesem Bereich sind viele Versäumnisse begangen worden.
Ich erinnere an die Initiative eines Deutschen, der vor
kurzem aus den USA nach Deutschland zurückgekommen ist. Es handelt sich um Professor Eicke Weber, der
nun am Fraunhofer-Institut in Freiburg arbeitet. Eicke
Weber hat gesagt: So geht es nicht! Er selbst hat ehrenamtlich dafür gesorgt, dass deutsche Nachwuchswissenschaftler in den USA endlich Stellenangebote der deutschen Wirtschaft bekommen. Ich finde, das ist eine
hervorragende Geschichte. Initiativen wie diese brauchen wir.
Kurzum: Wir brauchen die Erfahrungen und die Fähigkeiten von jungen Menschen, auch von solchen, die
zu uns kommen wollen. Wir sollten aufhören, so zu tun
- liebe Kollegen von der Union, Sie bekommen in Bayern genug Stimmen; Sie brauchen also nicht jeden
Stammtisch zu erobern -, als stünden an den Grenzen
Zigtausende von Menschen, vor allem hochqualifizierte,
die nur ein Ziel haben, nämlich endlich nach Deutschland zu kommen. Das ist genauso eine Mär wie die Aussage, wir wären kein Einwanderungsland gewesen. Da
diese Mär vertreten wurde, haben wir uns um die Qualifizierung der Kinder derer, die in den letzten Jahren zu
uns gekommen sind, nicht gekümmert. Ich sage: Auch
wer nach Deutschland gekommen ist, verdient Respekt,
die Heimat verlassen zu haben. Sie haben auch ihre Beiträge geleistet und haben jetzt Kinder, für die wir etwas
tun müssen.
In den nächsten Jahren wird es einen Trendwechsel geben: Wir werden uns als Deutsche, als Europäer um die
besten Kräfte bewerben müssen. Damit sind wir bei dem
Punkt, den Sie angesprochen haben: Darf das zulasten anderer Länder gehen? Andere Staaten in Osteuropa hätten
sehr viel mehr Grund, den Weggang von qualifizierten
Spitzenkräften in Richtung Europa oder in Richtung USA
zu beklagen. Das ist in Rumänien und anderswo - wir hatten kürzlich eine Wissenschaftsdelegation da - ein echtes
Problem. Deshalb ist an dieser Stelle mehr Kooperation
von unserer Seite nötig, aber auch ein verstärktes Angebot, hierherzukommen. Gleichzeitig müssen wir ermöglichen, dass die Länder an dem, was sie bei uns machen,
partizipieren. Ich halte das für einen wichtigen Punkt, auf
den wir noch mehr Gedanken verwenden müssen. Ich bin
für diesen Hinweis außerordentlich dankbar. Nur zu sagen
„Seid umschlungen, kommt zu uns!“, reicht nicht.
Gleichwohl wurde hier schon das richtige Stichwort
gegeben. Ich wollte am Ende der Debatte ebenfalls in die
Freude einstimmen, die hier zum Ausdruck gekommen
ist. Ich halte es nicht für schlimm, dass Professor
Grünberg und Professor Ertl schon seit vielen Jahren in
verdienstvoller Weise im Wissenschaftssystem arbeiten.
Ganz im Gegenteil, jetzt ist ihre Leistung endlich honoriert worden. Beide kommen aus einer der viel geschmähten Forschungseinrichtungen, über die wir
lange Zeit diskutiert haben: Ist die deutsche Großforschung nur bürokratisch? Was haben wir etwa seit 1994
- seitdem bin ich im Bundestag - über Jülich für Diskussionen geführt! Es hat sich gezeigt, dass unser Forschungssystem innovativ ist; es kann innovativ sein. Wir
müssen alles tun, damit es auch innovativ bleibt.
In diesem Sinne ein schönes Wochenende, liebe Kolleginnen und Kollegen. Vielen Dank für eure nette Anfrage. Trotzdem fühlen wir uns ermuntert, an diesen
Stellen so weiterzumachen wie beschrieben.
Vielen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a und 29 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michaela
Noll, Antje Blumenthal, Thomas Bareiß, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Renate Gradistanac,
Clemens Bollen, Angelika Graf ({0}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Häusliche Gewalt gegen Frauen konsequent
weiter bekämpfen
- Drucksache 16/6429 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Aktionsplan II der Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen
- Drucksache 16/6584 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. - Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Michaela Noll, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({3})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der gefährlichste Ort für Frauen in
Deutschland ist nicht ein stillgelegtes Betriebsgelände
oder eine dunkle Bahnhofsunterführung; es ist leider ihr
Zuhause. Nirgendwo sonst werden Frauen so oft beleidigt, gedemütigt, geschlagen oder sogar getötet. Jede
vierte Frau hat körperliche oder sexuelle Gewalt durch
ihren Partner erlebt, also im unmittelbaren sozialen Umfeld. 50 000 Frauen flüchten jährlich in ein Frauenhaus.
- Das sind nur einige Ergebnisse einer Studie unseres
Bundesfamilienministeriums mit dem Titel „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in
Deutschland“.
Diese Zahlen sind ernüchternd. Das Ergebnis, dass
jede vierte Frau betroffen ist, ist für mich ein Armutszeugnis für ein zivilisiertes Land wie Deutschland.
({0})
Meist haben die Frauen einen langen Leidensweg hinter
sich, bevor sie überhaupt Anzeige erstatten. Oftmals sind
es auch nicht die Opfer, es sind Nachbarn oder Bekannte, die Alarm schlagen.
Frauen sind in Deutschland von häuslicher Gewalt
mehr bedroht als durch andere Gewaltdelikte wie Wohnungseinbruch, Raub oder Körperverletzung mit Waffen.
Was sind die Risikofaktoren? Risikofaktoren sind vor allem Trennung oder Trennungsabsicht sowie Gewalterfahrung in Kindheit und Jugend. Wir sollten uns auch
von der Ansicht verabschieden, dass Gewalt fast ausschließlich in bildungsfernen Schichten geschieht. Gewalt hat viele Gesichter. Schauen Sie sich einmal das Täterprofil eines Stalkers an! Sie kommen oftmals nicht
aus bildungsfernen Schichten. Gewalt findet in allen
Schichten statt.
Früher war das Gewaltthema ein Tabuthema; es war
Privatsache. Es wurde schlichtweg totgeschwiegen.
Viele Opfer hatten nicht den Mut, Anzeige zu erstatten.
Die Täter wurden nie zur Rechenschaft gezogen. Aber
das hat sich Gott sei Dank geändert. 1997 war es die
Union, die als Erste die Vergewaltigung in der Ehe - ein
absolutes Tabuthema - unter Strafe gestellt hat.
({1})
Zwei Jahre später hat die rot-grüne Bundesregierung ihren Aktionsplan auf den Weg gebracht. Das waren wichtige Schritte. Heute heißt es: Wer schlägt, der geht. Trotz
dieser Entwicklung haben wir noch immer erschreckend
hohe Zahlen. Gewalt gehört für Frauen nach wie vor zu
ihrem Alltag. Deshalb brauchen wir weitere Maßnahmen.
Ich möchte ganz kurz auf das Gesetz gegen die beharrliche Nachstellung eingehen, das am 31. März dieses
Jahres in Kraft trat. Ich brauche den Kolleginnen und
Kollegen, die hier sitzen, nicht mehr zu erläutern, welche Ausmaße und welche Folgen ein solcher Psychoterror für ein Opfer haben kann. Wir haben lang und
breit darüber diskutiert, auch in den Anhörungen. Es ist
kein Kavaliersdelikt mehr. In seiner schärfsten Form
können die Verfolgung, das Nachstellen und das Einschüchtern Leben bedrohen, wie gerade vor kurzem der
Fall der jungen Hamburgerin wieder einmal gezeigt hat.
Dieser Straftatbestand war wichtig, aber wir können
uns nicht darauf ausruhen. Wir müssen weitermachen.
Deswegen bin ich sehr dankbar, dass die Bundesregierung vor zwei Wochen beschlossen hat, den Aktionsplan
fortzuschreiben. Ich freue mich schon sehr auf das, was
die Ministerin uns gleich daraus schildern wird. Wir von
den beiden Koalitionsfraktionen wollen den Aktionsplan
mit einem Antrag begleiten. Deswegen komme ich auf
zwei Punkte zu sprechen, die mir sehr wichtig sind.
Erstens: Stalking. Ein Gesetz gegen Stalking ist wichtig, aber es muss sich auch in der Praxis bewähren.
({2})
Da sind die Länder und Kommunen gefragt. Bei einem
Round-Table-Gespräch in meinem Wahlkreis habe ich
festgestellt, wie wichtig Aufklärung, Information und
Vernetzung sind. Deshalb geht unser Appell an die Länder, es praxisnah umzusetzen. Genauso wichtig ist es,
anzuregen, die Zusammenarbeit mit Frauenhäusern und
Beratungsstellen zu intensivieren. Hamburg hat 100 Beamte abgestellt, die sich dem Problem der wachsenden
Beziehungsgewalt widmen.
Zweites wichtiges Thema: Gewalt gegen Migrantinnen. Die schon erwähnte Studie hat Hinweise darauf gegeben, dass die Quote extrem hoch ist. 46 Prozent der
befragten Migrantinnen gaben an, schon einmal Opfer
von sexueller oder körperlicher Gewalt gewesen zu sein;
das heißt, jede zweite Migrantin. Ich glaube, auch hier
können wir von einer hohen Dunkelziffer ausgehen.
({3})
Deswegen brauchen wir in diesem Bereich mehr Sensibilisierung, gerade bei der Aus- und Fortbildung von Juristinnen und Juristen, Ärztinnen und Ärzten. Sie müssen
sich mit dem Problem näher auseinandersetzen; denn
oftmals sind sie die ersten Ansprechpartner für die Opfer.
Wir brauchen niedrigschwellige Beratungsangebote
sowie mehrsprachige Informations- und Öffentlichkeitsarbeit. Einige Länder sind bereits auf einem guten Weg.
NRW hat gerade einen Zehn-Punkte-Plan gegen
Zwangsverheiratung verabschiedet. Dort gibt es Onlineberatung und spezielle Integrationskurse. Ich glaube, das
ist der richtige Weg.
Was müssen wir noch machen? Ich halte es für ausgesprochen wichtig, die Migrantenfamilien mit einzubeziehen. Wir müssen vor allem die männlichen Familienmitglieder ansprechen. Wir müssen Brückenbauer - ich
nenne sie gerne so - finden. Das sind Menschen mit Migrationshintergrund, die in die Migrantenfamilien gehen
und aufgrund ihrer hohen Akzeptanz dazu beitragen
können, die Täter anzusprechen, sie in die Verantwortung zu nehmen und auf eine Verhaltensänderung hinzuwirken. Ich weiß, dass das gelingen kann.
In Hilden, in meinem Wahlkreis, haben wir einen sogenannten interkulturellen Berater. Das ist ein Lehrer an
einer Grundschule im sozialen Brennpunkt, an der
80 Prozent der Kinder Ausländer sind; er selber ist
marokkanischer Herkunft. Er geht in die Familien, in denen Gewalt stattfindet, führt Gespräche, klärt auf und
weist auch auf die strafrechtlichen Folgen hin, die dem
Täter drohen, wenn er sein Verhalten nicht ändert. Er
macht ihm unmissverständlich klar, dass häusliche Gewalt in Deutschland nicht toleriert wird.
({4})
Ich denke, das sind gute und wichtige Beispiele. Ich
würde mir wünschen, dass noch weitere folgen und andere Bundesländer ähnliche Konzepte wie in NordrheinWestfalen in Angriff nehmen.
Außerdem plant die Bundesregierung, die Täter gezielter in Augenschein zu nehmen. Ich glaube, das ist
wichtig; denn 90 Prozent der Täter sind Männer. Gerade
in der Täterarbeit stehen wir noch am Anfang.
Alles in allem gibt es noch sehr viel zu tun. Ich bin
aber der festen Überzeugung: Wenn alle Ebenen, das
heißt Bund, Länder und Kommunen, eng und konstruktiv zusammenarbeiten, können wir viel dafür tun, Gewalt
in jeglicher Form zu verhindern. Denn: Jede geschlagene
Frau ist eine zu viel. Helfen Sie alle mit!
Danke schön.
({5})
Das Wort hat nun Kollegin Sibylle Laurischk, FDPFraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Frau Noll, ich kann Ihnen in jeder
Hinsicht nur zustimmen, wenn Sie sagen, jede geschlagene Frau sei eine zu viel. Das stimmt so. Ich bin sogar
der Meinung, dass sich Gewalterfahrungen nicht auf
jede vierte Frau in Deutschland beschränken. Vielen
Frauen ist nämlich gar nicht klar, in welcher Form sie
Gewalt erleben. Es gibt nicht nur die Gewalt, die körperlich ausgeübt wird. Es handelt sich ganz häufig auch um
psychische Gewaltausübung, also Missbrauch im seelischen Zusammenhang. Diese Form von Gewalt wird
nicht auf den ersten Blick deutlich, ist aber meiner Ansicht nach fast noch schlimmer als die physische Gewalt,
wenn man da überhaupt gewichten kann. Insofern ist es
gut und richtig und wichtig, dass sowohl ein entsprechender Antrag vorgelegt wurde, als auch, dass das Ministerium von Frau von der Leyen hier aktiv werden
wird. Ein Plan für das Vorgehen wurde uns hier ja schon
vorgestellt.
Ich bin der Meinung, dass wir die verschiedenen Bereiche, die angesprochen worden sind, intensiv weiter
beraten müssen. Ich hoffe, dass wir bei diesen Fragen im
Ausschuss sehr kooperativ vorgehen werden; denn das
Thema „Gewalt in der Familie“ eignet sich nicht für
kontroverse Auseinandersetzungen. Hier ist eine möglichst geschlossene Vorgehensweise angebracht.
({0})
Ich beginne mit dem Schutz von Migrantinnen. Wir
bleiben dabei, dass es für die Bewältigung des Themas
Zwangsheirat flankierende Maßnahmen wie Beratungsstellen braucht. Zugleich muss betroffenen Frauen, wenn
sie sich offenbaren, ein Bleiberecht eingeräumt werden,
damit sie dann nicht von Abschiebung bedroht sind oder
in irgendeiner Form aufenthaltsrechtliche Probleme befürchten müssen. Hier ist gerade auch im Zusammenhang mit Menschenhandel meiner Ansicht nach weitere
Aufklärung und Zusammenarbeit mit entsprechenden
Fachverbänden nötig.
Behinderte Frauen können sich, wenn sie Opfer von
Gewalt werden, oftmals nicht wehren, weil sie aufgrund
ihrer körperlichen Situation oder eben auch ihrer geistigen Behinderung gar nicht erfassen können, in was für
eine Situation sie geraten. Der jüngste Bericht hierzu im
Spiegel erschüttert, wie ich glaube, alle, die ihn lesen.
Ein Feld, das meiner Ansicht nach besonderer Aufmerksamkeit in einer alternden Gesellschaft bedarf, ist
Gewalt gegen Ältere. Hiervon sind insbesondere ältere
Frauen betroffen; denn das Alter ist weiblich. Gerade die
Angst, in Abhängigkeitsverhältnissen wie zum Beispiel
einer Pflegesituation nicht ausreichend geschützt zu
sein, ist groß. Hier ist, wie ich meine, weitere Aufklärung sowie genaues Hinschauen nötig; denn Gewalt findet dort statt, wo man nicht hinschaut, wo man meint, sie
gar nicht wahrnehmen zu können. Oftmals ist sie durchaus vorhanden, aber man schaut eben weg.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch auf eine
andere Form von Gewalt hinweisen, die in der Familie
stattfindet, auf die Gewalt gegen Kinder. Es handelt sich
häufig um eine indirekte Form von Gewalt. Man glaubt
vermeintlich, dass Kinder nichts davon mitbekommen,
wenn Mütter geschlagen, drangsaliert oder aus dem
Haus geschmissen werden und sich oftmals nachts in
haltloser Situation wiederfinden. Das ist ein großer Irrtum. Die Kinder spüren das. Sie sind hoch verunsichert
und verängstigt. Sie sind in dieser Situation indirekt Opfer von Gewalt.
({1})
Das ist ein Zusammenhang, der nach meinem Dafürhalten auch heute noch viel zu wenig berücksichtigt und in
der familiengerichtlichen Praxis leider noch immer zu
wenig gewürdigt wird.
({2})
Damit komme ich zu einem Bereich, Frau Ministerin,
auf den ich Ihr besonderes Augenmerk lenken möchte.
Im Zusammenhang mit der Familienrechtsreform, die im
Justizministerium vorbereitet wird und zum Teil schon
vorgestellt wurde, ist nach meinem Dafürhalten darauf
zu achten, dass die Umsetzung des Reformziels eines
verstärkten Umgangs zwischen Kindern und Vätern
- dieser ist sicherlich ein diskussionswürdiges Reformziel - nicht dazu führt, dass hier womöglich der Retraumatisierung von Kindern durch erzwungenen oder nachdrücklich verlangten Umgang mit ihren Vätern Tür und
Tor geöffnet wird.
({3})
Ich habe hier einen praktischen Anlass zur Sorge. Deswegen sage ich das an dieser Stelle so deutlich, gerade
Ihnen als Mutter vieler Kinder und als Medizinerin.
Wir haben in Deutschland zunehmend Schutzräume
für Opfer familiärer Gewalt geschaffen, Frauenhäuser
und Beratungsstellen. In dem Zusammenhang möchte
ich aber kurz ein ganz großes Manko anschneiden, und
zwar die unzureichende Finanzierung von Frauenhäusern. Sie ist auf Länderebene sehr unterschiedlich geregelt. In verschiedenen Bundesländern gibt es auf diesem
Feld Sparmaßnahmen. Insgesamt ist die Finanzierung
nach wie vor nicht nachhaltig gesichert. Wenn wir wirklich die Gewalt in der Familie beseitigen wollen, dann
müssen wir sicher finanzierte und professionell aufgestellte Schutzräume anbieten. Solange wir das nicht
schaffen und die Zuständigkeiten immer nur zwischen
den Ländern und dem Bund hin- und herschieben, kommen wir in einer ganz wesentlichen strukturellen Frage
nicht weiter. Dieses Defizit muss abgebaut werden. Das
ist ein Appell aus der Opposition an die Bundesregierung und an die Kollegen in der Koalition, hier vielleicht
doch einmal einen Weg zu finden.
Es gäbe noch vieles zum Thema „Gewalt in der Familie“ zu sagen. Meine Zeit ist leider schon um. Aber ich
glaube, das Wesentliche haben Sie gehört.
Danke schön.
({4})
Ich erteile das Wort Kollegin Renate Gradistanac,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Statistisch gesehen ist es für eine Frau tausendmal gefährlicher, verheiratet zu sein, als durch den Wald
zu joggen. Das sagt eine Kripochefin aus BadenWürttemberg, die eine 30-jährige Berufserfahrung hat.
Das eigene Zuhause ist leider immer noch der gefährlichste Ort für eine Frau. Häusliche Gewalt, so Amnesty
International, ist in Europa die größte Bedrohung für die
Gesundheit und das Leben von Frauen im Alter von
16 bis 44 Jahren. Sie stellt für Frauen ein größeres Risiko dar als Krebs oder Autounfälle.
Gewalt gegen Frauen wird überwiegend durch Männer verübt, von Männern, die Partner oder Ehemänner
sind. Es sind also den Frauen bekannte Männer. Das ist
schlimm, weil da natürlich ein besonderes Vertrauensverhältnis besteht. Einkommen, Bildung und Alter spielen dabei keine Rolle; es ist ein Gerücht, dass bestimmte
Bevölkerungsgruppen besonders gewalttätig sind. Jährlich suchen mehr als 40 000 Frauen in Deutschland mit
ihren Kindern Frauenhäuser auf. Gott sei Dank haben
wir Frauenhäuser. Sie brauchen jede Unterstützung der
Länder und der Kommunen.
Die Polizei registriert jährlich circa 300 Morde. Dazu
sehen wir immer dramatische Fernsehbilder. Außerdem
- das ist schwierig; ich bitte das richtig zu verstehen kostet die Gewalt gegen Frauen die Solidargemeinschaft
jährlich 14,8 Milliarden Euro. Die Kosten entstehen
durch Justiz, Polizei, ärztliche Behandlung und Arbeitsausfälle.
Werte Kolleginnen und Kollegen, wir haben in den
vergangenen Jahren viel erreicht und die Situation von
Opfern verbessert. Der Antrag von CDU/CSU und SPD
„Häusliche Gewalt gegen Frauen konsequent weiter bekämpfen“ spiegelt dies wider. 1999 hat die damalige rotgrüne Bundesregierung den Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen vorgelegt. Damit lag damals erstmals ein umfassendes und ressortübergreifendes Gesamtkonzept vor, das eine sehr nachhaltige
Bekämpfung in Gang gesetzt hat.
Der Aktionsplan ist erfolgreich umgesetzt. Hier kurz
zwei Punkte: Seit 2002 haben wir das Gewaltschutzgesetz. Durch den Platzverweis haben Opfer von Gewalt
erstmals eine echte Alternative: das Frauenhaus oder
Handeln nach dem Grundsatz - er wurde schon genannt - „Wer schlägt, muss gehen“.
Bei mir zu Hause im Schwarzwald hat diese Maßnahme, nämlich dass der „Herr des Hauses“ im Falle von
Gewaltanwendung gehen muss, schon zu einer gewissen
Erschütterung geführt; denn bislang war das Motto „Mir
gehören meine Frau, meine Kinder, mein Hund und
mein Haus“ selbstverständlich. Diese Männer fragen
sich nun, wie es sein kann, dass sie im Falle von Gewaltanwendung gehen müssen. Diese Regelung wurde aber
von jedermann verstanden, und es hat sich gezeigt, dass
das Gesetz weitgehend angewandt wird und die Täter
sich daran halten. Man müsste einmal prüfen, ob es noch
weitere Verbesserungen geben kann. Von den runden Tischen wird es hierzu sicherlich Vorschläge geben.
Mit dem zweiten Gesetz, dem sogenannten Stalkinggesetz, haben wir im Frühjahr weitere Gesetzeslücken
geschlossen. Damit sind Opfer von Nachstellungen besser geschützt.
({0})
Seit 2004 liegt nun die erste repräsentative Studie
über das Ausmaß von Gewalt gegen Frauen vor. Ich will
einige Zahlen nennen: 40 Prozent der befragten Frauen
haben seit dem 16. Lebensjahr körperliche oder sexuelle
Gewalt erlebt. Mehr als die Hälfte der Befragten hat unterschiedliche Formen von sexueller Belästigung erfahren. 42 Prozent aller Frauen waren Formen von psychischer Gewalt - diese Sorge kam vorhin zum Ausdruck ausgesetzt. Die ermittelten wissenschaftlichen und damit
repräsentativen Befunde bestätigen die Schätzungen der
Frauenbewegung und auch der Fachleute - das wurde
seit 40 Jahren vermutet -, dass jede vierte Frau in
Deutschland Gewalterfahrungen hat.
Diese Studie hat auch ergeben - Frau Noll, Sie haben
dies erwähnt -, dass Migrantinnen noch häufiger Gewalt
ausgesetzt sind als deutsche Frauen. Sie werden außerdem auch öfter und schwerer verletzt. Gerade Frauenhäuser und Beratungsstellen sind für diese Migrantinnen
wichtig. Der Anteil der Migrantinnen an den Hilfesuchenden in den Häusern ist uns bekannt. Sie nehmen die
Angebote in Form von Frauenhäusern und Beratungsstellen deutlich mehr in Anspruch als alle anderen
Hilfsangebote.
Voraussichtlich zum Jahresende wird die Studie zur
Kriminalität und Gewalt im Leben alter Menschen abgeschlossen sein. Die Zwischenergebnisse lassen darauf
schließen, dass auch ältere und pflegebedürftige Menschen Opfer von Gewalt werden: zu Hause und im Pflegeheim - und das nicht nur in Einzelfällen. Fachleute
wissen, dass auch ältere Frauen Opfer sexueller Gewalt
werden.
Über die Gewalterfahrungen von Frauen mit Behinderungen fehlen uns leider noch gesicherte Daten. Es
gibt allerdings Hinweise darauf, dass ein erhöhtes Gewaltrisiko besteht, besonders dann, wenn sie auf Pflegekräfte angewiesen sind. Wir fordern entsprechende Studien und zielgerichtete Maßnahmen.
Seit letzter Woche liegt der zweite Aktionsplan der
Bundesregierung vor. Frau Ministerin, dies ist eine unglaubliche Leistung angesichts der Tatsache, dass so
viele Maßnahmen wie zum Beispiel die Betreuung von
unter Dreijährigen auf den Weg gebracht werden. Mit
seinen 133 Einzelmaßnahmen ist dieser Aktionsplan ein
unglaublich ehrgeiziges Projekt. Ich freue mich, dass
sich die Maßnahmen in weiten Teilen mit unseren Forderungen decken.
({1})
Diese betreffen Frauen mit Behinderungen, Migrantinnen sowie ältere Frauen.
Ausdrücklich möchte ich begrüßen, Frau Ministerin,
dass man mit dem Schwerpunkt Prävention bereits bei
den Kindern ansetzt. Sie haben unter anderem den Nationalen Aktionsplan „Für ein kindergerechtes Deutschland 2005-2010“ aufgenommen. Darin wird aufgezeigt,
wie wichtig es ist, dass Kinder in einer gewaltarmen,
besser noch in einer gewaltfreien Umgebung aufwachsen. Wir haben dazu ein Gesetz verabschiedet, mit dem
die Gewalt gegen Kinder geächtet werden soll. Damit
wollen wir die Erziehungsberechtigten nicht stigmatisieren, sondern ihnen aufzeigen, dass sie sich an die Beratungsstellen wenden sollen, wenn sie Hilfe brauchen.
Die Tatsache, dass das aufgenommen wurde, stärkt die
Position der SPD-Bundestagsfraktion, die in dieser Woche einen Antrag mit der Forderung, Kinderrechte ins
Grundgesetz aufzunehmen, verabschiedet hat,
({2})
um dem originären Anspruch von Kindern auf persönliche Entwicklung und eine gewaltfreie Umgebung und
Erziehung Nachdruck zu verleihen.
Ich komme jetzt zum Schluss. Der Europarat hat die
Kampagne „Stoppt häusliche Gewalt gegen Frauen“ gestartet. Wir haben die Erklärung hier in einer feierlichen
Stunde bekräftigt. Ich freue mich darauf, an der zügigen
Umsetzung des zweiten Aktionsplans durch die Bundesregierung mitzuarbeiten. Ich glaube, diesbezüglich wird
im ganzen Deutschen Bundestag zum ersten Mal Einvernehmen bestehen. Das ist ein Beitrag, der den Familien
bei der Gestaltung eines guten Familienlebens hilft.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Kollegin Kirsten Tackmann, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Gäste! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Gewalt gegen Frauen und
Mädchen ist eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung. Darin sind wir uns einig. Deswegen begrüßt
meine Fraktion, Die Linke, ausdrücklich die zentralen
Forderungen des vorliegenden Koalitionsantrages: häusliche Gewalt gegen Frauen konsequent weiter bekämpfen und den nationalen Aktionsplan fortschreiben. Das
ist ja unterdessen erfolgt. Wir können das nur unterstützen.
In der heutigen Debatte möchte ich unseren Blick auf
eines der schwerwiegendsten Probleme lenken, mit denen Frauen auf der Flucht vor Gewalt konfrontiert werden. Im Koalitionsantrag steht, dass Frauenhäuser als
Zufluchtsstätten nach wie vor notwendig sind. Darin
sind wir uns einig. Es wird begrüßt, dass die Kostenerstattung zwischen den kommunalen Trägern nach
§ 36 a SGB II erfolgt. Das klingt zwar harmlos, ist aber
im Vergleich zur früheren Sozialhilfe eine deutliche
Verschlechterung. In 12 von 16 Bundesländern werden
Frauenhäuser heute nicht mehr pauschal, sondern nach
sogenannten Tagessätzen finanziert. Das heißt, dass für
Frauen ohne eigenes Einkommen die Kosten entsprechend SGB II übernommen werden. Das hat einige
schwerwiegende Konsequenzen:
Erstens. Wenn die Frauen nicht anspruchsberechtigt
sind, müssen sie für ihren Aufenthalt im Frauenhaus
selbst aufkommen. Das können aber viele oft nicht.
Diese Regelung trifft insbesondere Studentinnen und
Asylbewerberinnen.
Zweitens. Die Frauen müssen sofort, also in der unmittelbaren Fluchtsituation, einen Hartz-IV-Antrag stellen. Im Klartext heißt das: Die Frauen befinden sich in
einer extremen Notsituation. Statt die dringend benötigte
sozialpsychologische Betreuung zu erhalten, gehen sie
mit einer Mitarbeiterin des Frauenhauses erst einmal zur
Arge und stellen einen Hartz-IV-Antrag. Was das konkret bedeuten kann, hat mir eine Mitarbeiterin eines
Frauenhauses in Brandenburg berichtet: Die von Gewalt
betroffene Frau kam als „normale“ Kundin in einen
Raum, wo neben ihrer eigenen Fallmanagerin eine weitere Fallmanagerin saß, mit einem anderen Erwerbslosen
im Gespräch. Der Versuch, die Fallmanagerin auf die besondere Situation der von Gewalt betroffenen Frau hinzuweisen, scheiterte an der Insensibilität bzw. Unwissenheit der Fallmanagerin. Der Termin musste abgesagt
werden. Ein ALG-Anspruch besteht allerdings erst ab
Antragstellung. Das ist nur ein Beispiel für die unwürdige Situation, in die von Gewalt betroffene Frauen
durch die Regelung im SGB II gebracht werden, von der
katastrophalen datenschutzrechtlichen Situation einmal
ganz abgesehen.
Hinzu kommt, dass von der Antragstellung bis zur
ersten Auszahlung der Leistungen nach dem SGB II Wochen vergehen können. In dieser Zeit sind die Frauen oft
mittellos. Eine Zwischenfinanzierung über das SGB XII
ist gesetzlich leider ausgeschlossen. Einmalige Beihilfen
wie in der früheren Sozialhilfe gibt es nicht mehr. Hinzu
kommen Probleme bei der Bewilligung der Übernahme
der Kosten für die Unterkunft bzw. für die Fortzahlung
der Miete für die verlassene Wohnung usw.
Im neuen Aktionsplan steht:
Bei der Evaluation der Umsetzung des SGB II wird
auch die Gruppe der von Gewalt betroffenen
Frauen Berücksichtigung finden.
Angesichts der Armutssituation, in die viele Frauen im
Frauenhaus geraten, ist das in der Tat dringend erforderlich. Im Koalitionsantrag fehlt das „Fördern“ übrigens
völlig, um von Gewalt betroffenen Frauen eine Chance
auf dem Arbeitsmarkt zu bieten. Ich finde, das ist ein
großer Fehler.
({0})
In der Bundesrepublik gibt es etwa 400 Frauenhäuser,
in denen jährlich schätzungsweise 40 000 Frauen Zuflucht finden. Über die Tagessatzfinanzierung werden
die Frauenhäuser SGB-II-abhängig. Sie müssen ihren
Etat sogar bis zur Hälfte selbst einwerben. Dadurch werden die Frauenhausmitarbeiterinnen zu Geldbeschafferinnen. Ihnen fehlt dann die Zeit für die psychosoziale
Arbeit und die Begleitung der betroffenen Frauen.
Niemand bestreitet heute ernsthaft die gesellschaftliche Realität. 25 Prozent der in Deutschland lebenden
Frauen - das ist hier heute schon mehrfach gesagt worden - machen Erfahrungen mit körperlicher und sexueller Gewalt. Die psychische Gewalt ist ebenfalls schon
angesprochen worden. Seit 30 Jahren fordern Frauenhäuser: Jede dieser Frauen soll unabhängig von ihrem
sozialen Status oder ihrer Nationalität Zuflucht und Hilfe
finden können. Mit Hartz IV haben wir uns von diesem
Ziel wieder weiter entfernt. Von Gewalt betroffene
Frauen brauchen dringend bundeseinheitlich finanziell
abgesicherte Frauen- und Schutzhäuser. Das ist heute
schon von anderen Rednern gefordert worden. Die Bundeskanzlerin hat das übrigens auch so gesehen; aber da
war sie noch Frauenministerin.
Liebe Kolleginnen und Kollegen vor allen Dingen
von der Koalition, liebe Ministerin, die Ernsthaftigkeit
unserer Bemühungen zum Thema Gewalt wird auch daran gemessen werden, ob wir die Probleme, die ich hier
aufgeführt habe, lösen.
({1})
Das geschieht zu Recht. Ich denke, wir müssen hier endlich handeln.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Ich erteile das Wort Kollegin Irmingard ScheweGerigk, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
helllichten Tag hier vorne zu stehen und über Frauenpolitik zu sprechen, ist in dieser Legislaturperiode eine
Seltenheit geworden. Die Große Koalition, aber auch die
FDP und die Linke trauen sich mit diesem Thema nur
äußerst selten ans Tageslicht.
({0})
Ich freue mich, dass das heute einmal anders ist. Im
Prinzip reden wir auch über ein Problem der inneren Sicherheit. Deshalb hätte Herr Schäuble eigentlich hierbleiben können.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD,
ich freue mich über den nachhaltigen Eindruck, den die
rot-grüne Bundesregierung offensichtlich mit ihrem ersten Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen
Frauen bei Ihnen gemacht hat. Denn der gesamte Feststellungsteil Ihres Antrages ist ein einziges Loblied auf
die unter Rot-Grün verabschiedeten Maßnahmen. Ich
nenne hier nur den ersten Aktionsplan gegen Gewalt und
das Gewaltschutzgesetz.
Ich finde es schön, dass Sie unsere damalige Politik
so ausführlich würdigen. Tatsächlich haben diese Maßnahmen und Gesetze zu einem Perspektivwechsel im
Umgang mit häuslicher Gewalt geführt. Heute heißt es:
Der Täter geht, das Opfer bleibt. Der Staat ist für den
Schutz vor Gewalt in der Familie verantwortlich, nicht
länger nur ein paar couragierte Frauenprojekte. Justiz
und Polizei halten sich nicht länger heraus, wie sie es
früher taten, um eine vermeintlich nicht zu störende Privatautonomie der Familie zu schützen.
Die Frauen nehmen das Gesetz an. Allein in Nordrhein-Westfalen wurde die Polizei im Jahr 2006 zu mehr
als 19 000 Fällen häuslicher Gewalt gerufen. In fast der
Hälfte der Fälle sprach sie einen Wohnungsverweis für
die Gewalttäter aus.
Leider gilt noch immer: Gewalt durch den aktuellen
oder ehemaligen Partner ist eine der ernsthaftesten Bedrohungen für Leib und Leben von Frauen. Es wurde bereits gesagt: Mehr als jede vierte Frau erleidet sie einmal
in ihrem Leben. Familie bleibt für Frauen der gefährlichste Ort; Familie ist kein Wert an sich. Das muss in
den Ohren der Betroffen wirklich zynisch klingen.
Es ist deshalb richtig, an den ersten Aktionsplan anzuknüpfen. Aber ich muss sagen, Frau Ministerin: Ihre
Verdienste in der Familienpolitik in Ehren, aber was Sie
hier in der Frauenpolitik abliefern, ist wirklich unbefriedigend. Denn gemessen an den Problemen, die Sie rich12400
tig analysieren, sind die Lösungsvorschläge als mickrig
zu bezeichnen.
Ich will ein Beispiel dafür nennen. Am deutlichsten
wird das bei dem, was Sie zum besseren Schutz von Migrantinnen vorschlagen. In Ihrem Antrag steht, dass Sie
diese Zielgruppe in den Blick nehmen wollen. Das hört
sich prima an. Aber all die Modellprojekte und Studien
werden den Migrantinnen wenig helfen. Was nützt zum
Beispiel eine Onlineberatung für zwangsverheiratete
Frauen - falls sie überhaupt einen Computer haben -,
wenn sie sich aufgrund ihres ungesicherten Aufenthaltsstatus gar nicht aus der Zwangsehe befreien können oder
wenn sie ins Ausland verschleppt wurden - das sind
viele - und ihnen nach Ablauf eines halben Jahres die
Rückkehr nach Deutschland und damit der nötige Schutz
verwehrt wird? Das ist so, als würden Sie einer Ertrinkenden sagen, dass das Ufer nahe ist, aber nicht den Rettungsring werfen. Ihnen Schutz zu gewähren, ist unsere
Aufgabe; das müssen wir tun. Sie haben das versäumt,
liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen. Ich nenne das unterlassene Hilfeleistung.
({2})
Ein sicherer Aufenthalt ist die Voraussetzung dafür,
dass andere Maßnahmen wirken können. Alle Expertinnen und Experten haben uns gesagt: Ein Rückkehrrecht
und ein eigenständiges Aufenthaltsrecht bei Zwangsverheiratung müssen in das Gesetz aufgenommen werden.
Das ist die allerwichtigste Hilfe für Zwangsverheiratete.
Die Bundesregierung ist auf diesem Ohr leider taub und
verschließt den Hilfesuchenden die rettende Tür.
({3})
- Doch, das stimmt.
Während wir uns hier über ein paar Modellprojekte
unterhalten, denken die unionsgeführten Bundesländer
bereits über weitere aufenthaltsrechtliche Verschlechterungen nach, konkret darüber, ob die Frist bis zu einem
eigenständigen Aufenthaltsrecht für ausländische Ehegattinnen nicht wieder auf drei Jahre erhöht werden
sollte.
Frau Noll, Sie haben vorhin das Zehn-Punkte-Programm der Landesregierung Nordrhein-Westfalens angesprochen; das hört sich wunderbar an. Aber warum
haben Sie nicht gesagt, dass die einzige Schutzeinrichtung für junge Mädchen in Bielefeld von ebendieser
Landesregierung geschlossen worden ist? Das ist die
Doppelbödigkeit Ihrer Politik: Sie versprechen etwas,
Sie machen Modelle und schreiben Broschüren; aber
diese Schutzeinrichtung, in der die erforderliche Hilfe
gewährt werden konnte, wird geschlossen. Das ist wirklich doppelzüngig.
Frau Ministerin, Ihr Aktionsplan mag gut gemeint
sein, aber für uns gilt auch hier: Gut gemeint ist nicht
immer gut. Die von Gewalt betroffenen Frauen im Land
haben mehr verdient als einen Aktionsplan mit warmen
Worten und wenigen Taten.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat nun Bundesministerin Ursula von der
Leyen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir
über das Thema Gewalt gegen Frauen und vor allem,
wie sich in der Debatte bereits deutlich herausgeschält
hat, über das Thema Gewalt im häuslichen Bereich sprechen, insbesondere, wenn wir den 130 Maßnahmen umfassenden Aktionsplan gegen Gewalt hier debattieren,
Maßnahmen, zu denen sich die Bundesregierung verpflichtet und die sie ausführen wird, wobei sie deutlich
macht, dass sie eng mit Aktivitäten in Ländern und
Kommunen verzahnt sein müssen, dann ist es meines Erachtens auch gegenüber den vielen Trägern und Organisationen, die hinter diesen Maßnahmen stehen und sie
mit unglaublich viel Einsatz voranbringen, nicht richtig,
jetzt in einen parteipolitischen Streit zu verfallen, ob dieser Aktionsplan so geschnitten ist, dass er jeder Fraktion
und jedem politisch Handelnden gefällt. Ich halte es für
wichtiger, wenn wir geschlossen, fraktionsübergreifend
dieses wirklich große Bündel an Maßnahmen, das nicht
nur die Bundesregierung, sondern viele andere Beteiligte
einbezieht, würdigen und dann auch tatkräftig umsetzen.
Wenn wir wissen, dass jede dritte Frau körperliche
Gewalt und jede siebte Frau in strafrechtlich relevanter
Form sexuelle Gewalt erlebt hat, dann ist deutlich, dass
Gewalt gegen Frauen kein Randproblem ist, sondern
mitten in unserer Gesellschaft stattfindet. Damit ist klar,
dass Gewalt aus der Mitte der Gesellschaft heraus in Zusammenarbeit aller Verantwortlichen verhindert oder abgewendet werden muss und dass wir uns nicht in einzelne Gebietskörperschaften oder in einzelne Parteien
spalten lassen dürfen.
Gewalt ist eine schwere Hypothek; sie hinterlässt
tiefe Spuren und Wunden. Sie ist eine schwere Hypothek
auch für die nachwachsende Generation. 60 Prozent der
Frauen, die Gewalt erlebt haben, sagen: Die Kinder sind
dabei im Haushalt gewesen und haben alles mit angehört. Jede zweite Frau sagt: Die Kinder haben alles mit
angesehen und alles mit angehört. Oft sind die Kinder in
den Streit mit hineingezogen worden, wenn sie versucht
haben, die Mutter zu verteidigen. Jedes zehnte Kind ist
dann auch selber körperlich angegriffen, misshandelt
und verletzt worden.
Diese Kinder erleben Gewalt als etwas, das zum Alltag dazugehört. Sie erleben Gewalt als etwas, womit der
Vater, der Stiefvater oder der Mann seinen Willen durchsetzt: Sie ist sein Argument in der Auseinandersetzung.
Also erleben sie Gewalt als etwas, was scheinbar eine
selbstverständliche und akzeptierte Verhaltensweise ist.
Daraus erklärt sich auch der deutlich erkennbare Zusammenhang, dass dann, wenn es in der Kindheit Gewalterfahrungen gab, das Risiko sehr viel höher ist, später
entweder selber zum Täter oder aber auch zum Opfer zu
werden, weil in der Kindheit folgende paradoxe Haltung
gelernt wurde: Vielleicht bin ja ich als Kind schuld, dass
der Vater so wütend wird, dass er die Mutter schlägt und
gegen sie ausfallend wird.
Das genaue Gegenteil muss die Grunderfahrung der
Kindheit sein: starke Frauen und starke Männer, die auf
Augenhöhe Beziehungen miteinander führen und vor allem Respekt vor der Integrität des anderen haben.
({0})
Aus solchen Beziehungen können starke Kinder erwachsen.
Deshalb, meine Damen und Herren, ist mir ein Teil
des Aktionsplans besonders wichtig - hier haben wir einen Schwerpunkt gesetzt -: Wir lenken den Blick auf die
Kinder und Jugendlichen, die zu Hause Gewalt erleben
und ganz spezifische Hilfe brauchen. Wir brauchen, was
dieses Thema angeht, mehr Kompetenzen im schulischen Bereich und eine Verknüpfung mit der Jugendhilfe.
Ich will das am Beispiel eines Modellprojekts präzisieren, das wir an einer Schule in der Stadt Berlin durchführen. Es wird getestet: Wie kann die Schule diese spezifische Thematik gemeinsam mit der Jugendhilfe so in
Angriff nehmen, dass den betroffenen Kindern, die dieses Thema ja nicht ohne Weiteres von sich aus ansprechen, in ihrer sehr schwierigen Lebenslage ganz gezielt
geholfen werden kann?
Die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen hat mit
Gleichstellungspolitik zu tun. Aber es geht dabei auch
um Familienpolitik und um Jugend- und Kinderpolitik.
Deshalb ist die Vernetzung von Jugendhilfe, schulischem Bereich und all den Trägern und Organisationen,
die Gewaltprävention betreiben oder von Gewalt Betroffenen Unterstützung und Hilfe bieten, so unendlich
wichtig.
Mehrfach ist hier zu Recht der große Fortschritt erwähnt worden, zu dem das Gewaltschutzgesetz geführt
hat. Es verfolgt die Grundhaltung: Wer schlägt, der muss
gehen. Ich finde, dass noch ein weiterer Aspekt aufgenommen werden sollte: Wenn nämlich der Täter gehen
muss, wenn er also des Hauses bzw. der Wohnung verwiesen wurde und die geschlagene und misshandelte
Frau mit den verängstigten Kindern zurückbleibt, dann
muss diesen Menschen Hilfe ins Haus geschickt werden.
({1})
Sie sind oft völlig traumatisiert und unfähig, aktiv zu
werden, und die Zeit, in der sie handeln müssen, ist auf
wenige Tage befristet.
Sehr wichtig ist hier die Zusammenarbeit mit den
Ländern und Kommunen, mit der Gerichtsbarkeit, mit
der Polizei, aber auch mit den Interventionsstellen - sie
haben in jedem Bundesland einen anderen Namen. Deren Mitarbeiter suchen die Frauen, Familien und Kinder
auf, um sie zu beraten, wo sie Hilfe erhalten, um wieder
auf die eigenen Füße zu kommen, wo sie Schutz finden
und vor allen Dingen wie ihr Leben weitergehen soll.
Ein zweiter Schwerpunkt, der im Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen gesetzt worden ist,
betrifft das Thema „Frauen mit Migrationshintergrund“.
Das ist ein sehr wichtiger Aspekt, der hier schon debattiert worden ist. Angesichts der Kürze meiner Redezeit
werde ich auf dieses Thema jetzt nicht weiter eingehen.
Ich möchte einen letzten Punkt ansprechen, der mir
im Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen
Frauen wichtig ist. Körperliche und sexuelle Gewalt bedeuten körperliche Verletzung. Daher müssen wir unseren Blick auf das Gesundheitswesen richten. Denn es
sind die Ärztinnen und Ärzte und die Krankenschwestern und -pfleger, die die betroffenen Frauen als Erste
und manchmal Einzige sehen. Es ist ganz entscheidend,
dass sie sensibilisiert sind, die Not zu erkennen und richtig zu reagieren, wenn um 2 oder 3 Uhr morgens eine
Frau mit Platzwunden zu ihnen kommt.
Sie müssen die richtigen Fragen stellen, die richtigen
Untersuchungen durchführen und die Ergebnisse richtig
dokumentieren, damit sie später für eventuelle Prozesse
genutzt werden können. Nachdem im Rahmen der Fortund Weiterbildung zu diesem Thema im Krankenhaus
erste Erfahrungen gesammelt wurden, ist es mir sehr
wichtig, jetzt den Blick auf die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte zu erweitern, um dieses Thema nicht aus
den Augen zu verlieren.
({2})
Meine Damen und Herren, im vorliegenden Aktionsplan wird deutlich, dass der Bund einiges in die Wege
geleitet hat. Alleine werden wir diesen Aktionsplan allerdings nicht umsetzen können. Wir brauchen eine enge
Zusammenarbeit der zuständigen Bundesministerien,
aber auch eine Kooperation von Bund, Ländern und vor
allen Dingen den verschiedenen Trägern der Hilfe. Vor
diesem Hintergrund findet der Antrag der Koalition
meine volle Zustimmung.
Vielen Dank.
({3})
Ich erteile nun das Wort Kollegin Angelika Graf,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist ein bisschen schwierig, in dieser Debatte den Faden
noch einmal aufzunehmen, weil vieles von dem, was
wichtig ist, bereits gesagt worden ist.
({0})
- Ich tue es aber.
Angelika Graf ({1})
({2})
Wir reden über ein Thema, bei dem man die Debatte
nicht abbrechen sollte. Man sollte vielmehr versuchen,
andere Punkte, die auch wichtig sind, herauszuarbeiten
und auf Punkte, die noch nicht angesprochen worden
sind, einzugehen.
Es ist angesprochen worden, dass wir diesen zweiten
Aktionsplan von seinen Ansätzen und Lösungen her begrüßen sollten.
({3})
Es ist angesprochen worden, dass es ein erschreckendes
Ausmaß von Gewalt gegen Frauen gibt und dass oft die
ihnen am nächsten stehenden Personen die Täter sind,
was das Thema so schwierig macht. Es ist auch angesprochen worden, dass es sehr unterschiedliche Lebenssituationen sind, in denen Gewalt gegen Frauen - insbesondere gegen Frauen, aber auch gegen Kinder ausgeübt wird und dass es sich sowohl um seelische als
auch um körperliche Gewalt handelt. Für mich ist wichtig: Nicht nur Brachialgewalt, auch Worte können gewalttätig sein, können Menschen sehr verletzen.
Gewalt gegen Frauen wird vor allem in Partnerschaften ausgeübt, und da insbesondere bei Trennung, bei
Pflegebedürftigkeit und bei Behinderung. Nicht zu vergessen: Frauen mit Migrationshintergrund - auch das ist
schon erwähnt worden - sind von Gewalt überdurchschnittlich häufig betroffen. Wir haben hier im Deutschen Bundestag schon einige Male über Zwangsverheiratung gesprochen und uns mit „Ehrenmorden“
beschäftigt. Wir hatten Anhörungen in den Ausschüssen,
in denen der Zusammenhang zwischen häuslicher Gewalt und diesen Formen der Gewalt, der Gewalt gegen
junge Frauen, die gegen ihren Willen verheiratet werden,
ganz klar herausgekommen ist.
Die Vielfältigkeit der Situationen, in denen Frauen
von Gewalt betroffen sein können, zeigt, dass Gewalt ein
gesamtgesellschaftliches Problem ist. Frau von der
Leyen, Sie haben gesagt: Das ist kein Randproblem. Ich
stimme Ihnen völlig zu: Das ist ein Problem, das mitten
in unserer Gesellschaft ist. Wir dürfen nicht vergessen,
dass wir in einer Zeit leben, in der Gewalt alltäglich ist.
Ich spreche jetzt nicht von den Abendnachrichten. Aber
wenn man zu etwas vorgerückter Stunde - zum Teil
kann man so etwas auch am Nachmittag beobachten im Fernsehen Sendungen ansieht oder wenn man sich
anschaut, was alles an Computerspielen verkauft wird,
muss man sagen: Es sind schlimme Dinge, die da laufen.
Ich spreche beispielsweise von Musikvideos und von
Ego-Shootern und solchen Dingen. Ich spreche aber
auch davon, dass in vielen Bereichen unserer Medien
Sexualität und Gewalt oder sexualisierte Gewalt öffentlich dargeboten werden. Diese medial gefütterte Gewaltverherrlichung lässt sich nur schlecht durch Gesetze
kontrollieren. Es gelten auch hier Angebot und Nachfrage, der Markt regelt das. In dem Moment, wo die
Menschen so etwas sehen wollen, werden sie es in der
heutigen Zeit auch sehen können. Das heißt, wir müssen
zu einem Bewusstsein kommen, dass gewaltverherrlichende Unterhaltung uns als Gesellschaft nicht mehr unterhält und dass wir diese Angebote nicht mehr nachfragen. Das muss das Ziel sein.
({4})
Wir bieten mit dem Aktionsplan zur Bekämpfung von
Gewalt gegen Frauen, mit dem Gewaltschutzgesetz aus
der rot-grünen Zeit und mit der Kampagne des Europarates, die auch schon angesprochen worden ist, Maßnahmen an, die greifen, wenn Frauen bereits von Gewalt betroffen sind. Genauso wichtig ist aber - auch das ist im
Aktionsplan berücksichtigt -, dass wir die Prävention
nicht vernachlässigen. Es ist wichtig, den potenziellen
Opfern von Gewalt den Rücken zu stärken. Viele Frauen
verbringen Jahre in Beziehungen, in denen sie massiver
psychischer und physischer Gewalt ausgesetzt sind. Sie
müssen die Kraft bekommen, sich aus dieser Beziehung
zu lösen. Sonst laufen alle unsere Anstrengungen ins
Leere. Daneben müssen wir sie fit dafür machen, dass
sie nicht aus einer Gewaltbeziehung in die nächste Gewaltbeziehung flüchten; denn auch das kommt relativ
häufig vor. Wir müssen uns auch über die Gründe für ein
solches Verhalten klar werden.
Eines dürfen wir nicht vergessen: Eltern sind immer
auch Vorbilder für ihre eigenen Kinder. Welche Hypothek dieses Verhalten ihrer Eltern für die Kinder bedeuten kann, können wir uns alle vorstellen. Es gibt inzwischen auch jede Menge Statistiken darüber. Menschen,
die in der Kindheit Gewalt erfahren haben, werden auch
im Erwachsenenalter überdurchschnittlich häufig zu Opfern von Gewalt - auch von sexueller Gewalt - oder
selbst zu Tätern oder Täterinnen.
Im Bereich der Prävention können wir noch viel tun auch für Ältere und Pflegebedürftige. Sie können sich
oftmals nicht mehr aus eigener Kraft wehren. Die für sie
Verantwortlichen können wir aber sehr wohl sensibilisieren. In Pflegeheimen sind die Heimbeiräte, das Pflegepersonal und die Ärzte gefordert, genauer hinzusehen.
Im privaten Bereich ist das jeder Einzelne, der mit betroffenen Pflegebedürftigen in Kontakt kommt.
Zum Schluss eine Bemerkung, die manchen von Ihnen aus meinem Mund erstaunen mag: Männer sind oft
Täter, können aber auch Opfer von Gewalt sein. Ich
denke, für sie ist die Hemmschwelle, sich Hilfe zu holen,
aufgrund der Tabuisierung des Themas immer noch sehr
hoch. Da Gewalt aber ein gesamtgesellschaftliches Problem ist, müssen wir die Männer in ihren verschiedenen
Rollen noch stärker in unsere Konzepte einbeziehen auch deshalb, weil Opfer zu Tätern werden können und
weil aus einem geprügelten oder missbrauchten kleinen
Jungen oft ein Gewalttäter wird.
Hier schließt sich der Kreis. Es geht darum, dieses
Thema gesamtgesellschaftlich in den Blick zu nehmen
und allen, die Opfer sein können, den Rücken zu stärken,
sodass sie sich gegen die Gewalt, die sie erfahren, wehren können.
Angelika Graf ({5})
({6})
Für alle Gruppen - vom Kind bis zum Greis - gilt:
Selbstbewusstsein und die Ergänzung durch professionelle Angebote und Beratungsstellen sind die beste Prävention.
Ich danke Ihnen.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/6429 und 16/6584 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Christian Ruck, Eckart von Klaeden, Dr. Wolf
Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Detlef
Dzembritzki, Gert Weisskirchen ({0}),
Niels Annen, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Deutsche Personalpräsenz in internationalen
Organisationen im nationalen Interesse konsequent stärken
- Drucksache 16/6602 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Re-
den zu Protokoll gegeben: Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg, Dr. Christian Ruck, Staatsminister Günter
Gloser, Detlef Dzembritzki, Marina Schuster, Wolfgang
Gehrcke und Dr. Uschi Eid.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/6602 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 31 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({2})
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gesine
Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, Karin Binder, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
1) Anlage 11
Verzicht der Bundesregierung auf Einnahmen
aus Sponsoring
- Drucksachen 16/4488, 16/5564 Berichterstattung:
Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
Norbert Barthle
Carsten Schneider ({3})
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Anja Hajduk
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Re-
den zu Protokoll gegeben: Norbert Barthle, Petra
Merkel, Dr. Claudia Winterstein, Dr. Gesine Lötzsch
und Anna Lührmann.2)
Wir kommen zur Beschlussfassung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel: „Verzicht der Bundesregierung auf Einnahmen aus
Sponsoring“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung der Drucksache 16/5564, den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/4488 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 32 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Künast, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, Sylvia
Kotting-Uhl und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Alte Atomkraftwerke jetzt vom Netz nehmen
- Drucksache 16/6319 Überweisungsvorschlag:
Auschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({4})
Innenausschuss
Auschuss für Wirtschaft und Technologie
Auschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich erteile Kollegin Bärbel Höhn, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Titel
dieses Antrags heißt nicht, alle Atomkraftwerke jetzt
vom Netz zu nehmen, obwohl das auch keine schlechte
Forderung wäre, sondern wir haben gefordert, alte
Atomkraftwerke jetzt vom Netz zu nehmen.
Sie haben Recht, Frau Kollegin, „t“ und „l“ in dieser
Schrift sind ähnlich.
2) Anlage 12
Genau, da ist nur dieser kleine Querstrich.
Der Antrag hat seinen Grund. Die Pannenserie in den
Atomkraftwerken Brunsbüttel und Krümmel hat eine
alte Einsicht bestätigt: Atomkraftwerke sind nicht sicher.
({0})
Technisches und menschliches Versagen können jederzeit zu Störfällen führen mit katastrophalen Folgen
für Mensch und Umwelt. Wir erinnern uns: vor einem
Jahr das Atomkraftwerk in Schweden. Wir dachten immer, Schweden hätte die sichersten Atomkraftwerke der
Welt. In Forsmark ist es dazu gekommen, dass wir
20 Minuten an einem der schwersten Reaktorunfälle auf
der Erde vorbeigeschrammt sind. Es hätte zum schwersten Reaktorunfall seit Tschernobyl kommen können.
Deshalb war es richtig, meine Damen und Herren,
dass die rot-grüne Regierung hier in Deutschland den
Ausstieg aus der Atomkraft beschlossen hat.
({1})
Deshalb bleibt es auch richtig, am Atomausstieg festzuhalten. Deshalb ist es ein Gebot der Vernunft, besonders
störanfällige alte Atomkraftwerke so schnell wie möglich abzuschalten. Deutschlands älteste AKWs, Brunsbüttel, Biblis A und Biblis B, führen die Pannenstatistik
an, dicht gefolgt von Krümmel. Die Zahl der Zwischenfälle lag in diesen Meilern in den letzten vier Jahren 50
bis 100 Prozent über dem Durchschnitt.
Daraus kann es nur eine Konsequenz geben: Diese
Pannenreaktoren müssen vom Netz.
({2})
Auch der Bundesminister Gabriel hat diesen Schluss gezogen - wo ist er denn eigentlich? Er sieht heute etwas
anders aus, aber das Ministerium ist da, sagen Sie es
Minister Gabriel weiter! - und Ende August in der Süddeutschen Zeitung die Abschaltung der ältesten AKWs
gefordert. Wörtlich hat er dort gesagt, eine solche Abschaltung bringe „einen hohen sicherheitstechnischen
Gewinn“. Recht hat er. In diesem Punkt unterstützen ihn
die Grünen.
Ich frage mich: Wo bleibt die Konsequenz? Diesen
Worten müssen auch Taten folgen. Es kann nicht sein,
dass man hier ein großes Risiko sieht und gleichzeitig
nichts dagegen macht.
({3})
Atomkraftwerke sind nicht sicher. Das gilt auch für
den Schutz gegen Terroranschläge. Einige Atomkraftwerke sind bautechnisch noch nicht einmal gegen den
Absturz leichter Sportmaschinen gesichert. Gegen einen
terroristischen Angriff mit einem Verkehrsflugzeug sind
alle Atomkraftwerke, die wir hier haben, nicht geschützt.
Auch eine Vernebelung der Anlagen würde in einem solchen Fall nichts helfen.
Doch was macht die Bundesregierung? Minister
Schäuble verängstigt die Menschen mit dem theoretischen Szenario einer „schmutzigen Bombe“. Minister
Jung redet über den verfassungswidrigen Abschuss von
Passagierflugzeugen. Wir Grünen haben einen wirksamen Vorschlag, meine Damen und Herren. Wir sagen:
Schalten Sie die besonders verwundbaren Atomkraftwerke ab! Denn das gibt mehr Sicherheit in diesem
Land.
({4})
Auch da hat Minister Gabriel das Richtige gesagt. In
der Berliner Zeitung erklärte er, durch eine Abschaltung
älterer AKWs könnte die innere Sicherheit sofort verbessert werden. Recht hat er. Aber auch hier muss man fragen: Wo bleiben die Taten? Wir möchten sehen, dass aus
diesen richtigen Analysen die entsprechenden Konsequenzen gezogen werden.
Gucken wir uns den nächsten Punkt an, die Versorgungssicherheit. Auch dazu ließe sich einiges sagen. Im
Sommer standen zeitweilig 7 der 17 deutschen Atomkraftwerke still. Von Versorgungsproblemen konnte da
keine Rede sein. Die gute Nachricht lautet: Wir haben die
abgeschalteten AKWs gar nicht vermisst. Nicht eine
Lampe hat geflackert. Es hat funktioniert - ohne sieben
AKWs.
Umso sicherer und wichtiger ist es, dass wir eine vorzeitige Abschaltung der unsicheren und besonders terrorgefährdeten Pannenreaktoren jetzt machen. Wir können es. Es gibt genug Energie, die wir hier erzeugen. Wir
brauchen diese Pannenreaktoren nicht in Deutschland.
({5})
Wir fordern von Ihnen den Willen zum Handeln. Lesen Sie unseren Antrag - er ist einfach gut - und stimmen Sie ihm zu, wenn er wieder zur Abstimmung steht!
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Kollege Georg Nüßlein, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Zum
x-ten Mal beschäftigt den Deutschen Bundestag ein Antrag der Grünen zum beschleunigten Ausstieg aus der
Kernenergie. Ob alte oder alle Atomkraftwerke sei ihr
ziemlich egal, hat Frau Höhn gerade eingeräumt. Zum
x-ten Mal legen Sie uns ein Sammelsurium von Vorbehalten, unhaltbaren Anwürfen und nicht belegbaren Behauptungen vor
({0})
und unterstreichen Ihre altbekannten Ressentiments gegenüber der Kernenergie, und dann wundern Sie sich,
wenn kaum jemand an der Debatte teilnimmt.
({1})
Für mich stellt sich die Frage, warum Sie das tun. Ein
Motiv einer Oppositionspartei könnte sein, die Uneinigkeit der Regierungskoalition in diesem Punkt zu demonstrieren. Das ist aber entbehrlich; denn wir haben
schon im Koalitionsvertrag festgehalten, dass wir uns in
dieser Frage nicht einig sind.
({2})
Im Übrigen meine ich, dass es auch gut ist, dass es auch
Punkte gibt, in denen wir uns nicht einig sind, weil sich
sonst der geschätzte Wähler darüber wundern würde,
dass man erst gegeneinander Wahlkampf führt, um dann
bei gleichen Mehrheitsverhältnissen in allen Punkten einig zu sein.
({3})
Das kann nicht sein. Dabei geht es auch um die Glaubwürdigkeit von Politik. Anders ist es bei Ihnen, liebe
Freunde von den Grünen: Was Sie machen, hat mit
Glaubwürdigkeit nichts zu tun. Ihnen geht es um nichts
anderes als Ihre Rehabilitierung als Ausstiegspartei. Sie
wollen sich aus der Verantwortung für den Ausstieg auf
Raten davonschleichen, nach dem Motto „Vielleicht
merken es unsere Wähler ja nicht“.
({4})
So einfach geht das aber nicht. Wer wie Sie im Zusammenhang mit der Kernenergie permanent den Teufel
an die Wand malt und das, was Sie über die Gefahren der
Kernenergie sagen, wirklich ernst meint, der hätte in der
alten Bundesregierung für den sofortigen und kompromisslosen Ausstieg eintreten müssen.
Offenkundig geht es den Grünen nur darum, immer
wieder Ängste zu schüren, um sich dann als weißer Ritter und Beschützer in der Not aufzuspielen und die paar
Prozentpunkte zu sammeln, die man braucht, um in den
Bundestag zu kommen und entweder in der Regierung
faule Kompromisse einzugehen oder dann, wenn man in
der Opposition ist, wieder dagegen zu sein.
({5})
- Es ärgert mich nicht nur, Frau Höhn, dass Sie dazwischenrufen. Insbesondere ärgert mich das, was Sie immer im Zusammenhang mit den Terrorgefahren an die
Wand malen.
({6})
Wir haben in geheimer Sitzung beraten - deshalb können wir hier nicht darüber reden -, aber offen gesagt ist
mir nicht klar geworden, woran man die Terrorgefahren
festmachen kann.
Wenn die alten Kernkraftwerke das höchste Gefahrenpotenzial im Zusammenhang mit Terrorangriffen aufwiesen,
({7})
dann würde ich von Ihnen immerhin so viel Verantwortungsbewusstsein erwarten, dass Sie nicht alle Terroristen dieser Erde auf diese Schwachstelle hinweisen würden, wenn es sie denn gäbe.
({8})
In dem Stil geht es weiter. Sie behaupten, die jüngsten
Störfälle in den Atomkraftwerken Krümmel und Brunsbüttel hätten erneut gezeigt, wie stark die Unfallwahrscheinlichkeit mit dem Alter der AKWs steigt.
({9})
Erstens sprechen Sie von Störfällen, obwohl es keine
Störfälle waren. Das ist der erneute Versuch, Nichtereignisse zu Störfällen hochzustilisieren.
({10})
- Aber ein Störfall war es mit Sicherheit nicht, Frau
Höhn. Das wissen Sie so präzise wie alle anderen Kollegen im Saal.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Wieland von den Grünen?
Gerne.
Vielen Dank, Herr Kollege. - Da Sie uns unterstellt
haben, wir wollten nur Ängste in der Bevölkerung schüren und Terroristen auf AKWs als Anschlagsziele aufmerksam machen, frage ich Sie, ob Sie das auch Ihrem
Verteidigungsminister unterstellen, der in der Hessenschau am 16. September dieses Jahres ausdrücklich die
Befugnis zum Abschießen von Flugzeugen gefordert
hat, und zwar auch und gerade dann, wenn ein solches
Flugzeug auf ein AKW zusteuert?
({0})
Herr Kollege, ich sehe keinen Unterschied zwischen
alten und neuen Kernkraftwerken an dieser Stelle. Ich
habe nicht gesagt, dass das, was Sie behaupten, stimmt,
sondern, dass das, was Sie behaupten, grundfalsch ist.
Ich gebe Ihnen recht: Es gibt insgesamt ein Risiko terroristischer Anschläge. Das gilt für jeden Bereich. Wir tun
gut daran, uns Gedanken darüber zu machen, wie wir mit
diesem Gefahrenpotenzial umgehen. Dazu hat Herr Jung
einen hier im Hause vieldiskutierten Beitrag geleistet.
Ich glaube nicht, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist,
noch einmal über die Äußerungen von Herrn Jung zu
diskutieren. Das haben wir in dieser Woche bereits getan.
({0})
Zweitens. Sie behaupten, die jüngsten Störfälle belegten insbesondere, dass die Unfallwahrscheinlichkeit mit
zunehmendem Alter der Atomanlagen steige. Abgesehen davon, dass es sich nicht um Störfälle handelt, ist es
zumindest ungeschickt, gerade Krümmel, das 1983 in
Betrieb gegangen ist, als Beispiel für ein altes Atomkraftwerk zu wählen.
Drittens. Anhand der Nettowirkungsgrade kann man
zeigen, dass ältere Anlagen nicht per se schlechter sind.
Viertens. Mit Ihrer rein auf Plausibilitäten basierenden Aussage stellen Sie das gesamte Wartungs- und Risikomanagement infrage. Das ist wohl Ihre Absicht.
Fünftens. In den USA zum Beispiel werden derzeit
bei 50 Kernkraftwerken die Laufzeiten von 40 auf
60 Jahre verlängert. Ich frage mich, warum deutsche
Technik Ihrer Meinung nach dafür keine Grundlage bieten kann.
Es geht aber noch abenteuerlicher weiter. Sie behaupten, Atomkraft sei kein wirksames Mittel im Kampf gegen den Klimawandel, insbesondere weil „Atomanlagen
über die gesamte Produktions- und Entsorgungskette erhebliche Mengen CO2“ produzierten. Ich stelle Ihnen anheim, dazu eine McKinsey-Studie zum Thema „Kosten
und Potenziale der Vermeidung von Treibhausgasemissionen in Deutschland“ zu lesen. Dann werden Sie feststellen, dass das Vermeidungspotenzial durch verlängerte Laufzeiten bei der Kernenergie erheblich größer ist
als alle anderen Maßnahmen im Energiesektor, die wir
treffen könnten, und das zu erheblich niedrigeren volkswirtschaftlichen Kosten.
Dann kommt das alte Argument, das Uran gehe uns
aus. Ich will nicht bestreiten, dass auch Uran endlich ist.
Aber Uran kommt zu einem erheblichen Teil aus politisch stabilen Regionen. Fast 50 Prozent unseres Natururans kommt zum Beispiel aus Kanada. So kann man natürlich einen Beitrag zur Versorgungssicherheit leisten.
Die Reichweiten sind zudem technisch verlängerbar. Im
Übrigen ist der Kostenanteil des Rohstoffes nicht sehr
hoch. Bei den Produktionskosten liegt der Anteil von
Natururan bei 3,5 Prozent, sodass sich preisliche Veränderungen nicht in starkem Maße auswirkten. Unter dem
Gesichtspunkt der Endlichkeit sagen wir von der Union
deutlich: Wir sehen die Kernenergie als Brücke in einen
neuen Energiemix, den wir in den nächsten Jahren mit
verstärkten gemeinsamen Anstrengungen entwickeln
müssen. 48 Prozent unseres Grundlaststroms kommt von
der Kernenergie. Ich weiß nicht, wie man diesen Anteil
ersetzen sollte. Vielleicht wissen Sie es. Ich bin gespannt, was die nachfolgenden Redner dazu sagen werden.
Der Gipfel dessen, was die Grünen behaupten und
meine Argumentation untermauert, ist folgende Einlassung zum Thema Endlagerung: „Hier ist der Staat gefragt, alles zu unternehmen, dieses Problem schnell zu
lösen.“ Meine Damen und Herren von den Grünen, Sie
haben in Ihrer Regierungszeit alles getan, um dieses Problem nicht und erst recht nicht schnell zu lösen.
Sie sind offenkundig da angekommen, wohin Sie immer gehört haben, nämlich auf der Oppositionsbank. Ich
appelliere aber auch an die Kollegen der Koalition, da
sich die Grünen wieder für eine zielorientierte Erkundung von Gorleben einsetzen: Lassen Sie uns einvernehmlich diesen Weg beschreiten. Dann hätte uns der
Antrag, den wir heute diskutieren, doch noch einen
Schritt vorangebracht.
Für mich bleiben allerdings unter dem Strich beim
Thema Kernenergie insgesamt einige wesentliche Fragen offen. Zum Beispiel: Wenn wir das ehrgeizige Ziel
schaffen, bis zum Jahr 2020 30 Prozent unseres Strombedarfs nach Effizienzgewinnen aus erneuerbaren Energien zu decken - wir von der Union werden uns dafür
einsetzen, dass uns das gelingt -, dann frage ich: Wo
kommen dann die übrigen 70 Prozent her? Aus dem europäischen Ausland? Da drängt sich mir die Frage auf,
was Kernkraftwerke im benachbarten Ausland ungefährlicher als inländische macht. Wer steht für den volkswirtschaftlichen Schaden gerade, den wir durch einen
schnellen Ausstieg provozieren? Wer bezahlt das alles?
Die Verbraucher? Darüber müssen wir reden. Wir müssen aber auch mit den Versorgern darüber reden, dass sie
uns zeitnah sagen, was Laufzeitverlängerungen am Ende
für die Verbraucherinnen und Verbraucher und für die
Strompreise bedeuten. Die Preise müssen nämlich sinken, wenn wir das tun wollen. Ich halte das für ein wichtiges Signal, das von den Versorgern als Unterstützung
unserer Politik kommen muss.
Vielen Dank.
Herr Kollege, wollen Sie Ihre Redezeit noch verlängern? Der Kollege Kelber wollte eine Zwischenfrage
stellen.
Wir zwei haben demnächst genügend Gelegenheit,
über viele Themen miteinander zu diskutieren.
({0})
Sie sehen, dass das Thema die Kolleginnen und Kollegen brennend interessiert und wie schnell die alle nach
Hause wollen. Deshalb diskutieren wir das später.
({1})
Deswegen erteile ich jetzt sofort Kollegin Angelika
Brunkhorst, FDP-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Höhn, ich schätze Sie wirklich sehr, und Sie
haben vieles auf den Weg gebracht, wofür ich Sympathie
habe. Aber jetzt muten Sie uns etwas zu. Der Herbst
steht vor der Tür, und der Winter naht. Sie holen das Eingemachte aus dem Keller und tischen uns die alten Argumente wieder auf. Es wird zwar neu angerichtet, aber
mein Appetit hält sich wirklich in Grenzen. Auch die
Bürger sind mittlerweile so weit, dass sie bei den typischen Argumenten nicht mehr reflexartig Angst bekommen und Kernkraftwerke ablehnen. Die Emnid-Umfrage
im Juni hat gezeigt, dass mittlerweile eine Mehrheit der
Bürger dafür ist, für eine Überbrückungszeit die Laufzeiten der Kernkraftwerke zu verlängern.
({0})
- Das kann ich Ihnen schriftlich geben. Ich habe sie dabei, Herr Kelber. Seien Sie ganz ruhig. - Ihr Bundesminister Gabriel und die Bundeskanzlerin, Frau Merkel,
haben die Klimaziele für 2020 festgelegt. Es soll
40 Prozent weniger CO2-Emissionen geben. Wir wollen
das schaffen. Das ist ein hehres Ziel. Aber wie wollen
Sie das erreichen, wenn Sie die Kernkraftwerke abschalten? Wir haben in 16 Jahren gerade einmal um 15 Prozent reduziert, wollen aber 40 Prozent einsparen. Sie
wollen CO2-Emissionen von 120 Millionen Tonnen einsparen. Wie wollen Sie das kompensieren? Die Frage haben Sie bis heute nicht beantwortet. Wir haben die Emissionen, die wir eingespart haben, hauptsächlich in den
ersten fünf Jahren eingespart. Das korrespondiert damit,
dass in dieser Zeit viele Industrien in der ehemaligen
DDR aufgegeben wurden.
Ich möchte zu einigen technischen Dingen Stellung
nehmen. In dem Antrag wird von den Gefahren gesprochen, die vom Alterungsprozess der Reaktoren und den
hochkomplexen Veränderungen in der atomaren Struktur
metallischer Werkstoffe ausgehen. Ich habe mich schlau
gemacht; denn auch ich bin keine Ingenieurin. Man hat
mir gesagt, dass es Tests und Laborverfahren gibt - zum
Beispiel noch intensiverer Neutronenbeschuss -, mit denen man erproben kann, wie die metallenen Werkstoffe
und Anlagenkomponenten reagieren. Es ist dabei herausgekommen, dass der durch den Neutronenbeschuss
bedingte Verschleiß deswegen nicht so hoch ist, wie es
bei anderen Kraftwerken der Fall ist, weil wir Wasserpuffer zwischen den Druckbehältern und den Reaktorkernen haben, die größer sind, als es zum Beispiel im
Ausland üblich ist. Sollte es trotzdem zu Versprödungen
kommen, dann besteht - selbst bei laufendem Betrieb immer noch die Möglichkeit, die spröden Materialien
durch eine sogenannte Erhitzung auszuheilen, zu glätten
und die Gitterstruktur neuwertig wiederherzustellen. Ich
bitte Sie, diese Anregung einfach einmal zur Kenntnis zu
nehmen.
An die Bürger in diesem Lande gerichtet, möchte ich
sagen: Natürlich haben wir hier bei uns in Deutschland
die höchsten Sicherheitsstandards. Es ist so, dass bestimmte Anlagenkomponenten nach einer bestimmten
Reihe von Jahren ausgetauscht werden müssen. Während seines Lebenszyklus wird ein Kernkraftwerk einmal runderneuert.
({1})
- Ja, Herr Hill. Da wird einfach nicht die ganze Wahrheit
gesagt. Auch darum geht es.
Die Grünen tun so, als wären sie der einzige Anwalt
für die Sicherheit der deutschen Bevölkerung.
({2})
Dem möchte ich doch widersprechen. Frau Höhn, Sie
verlangen in Ihrem Antrag, dass unvoreingenommene
Experten befragt werden. Gleichzeitig beantragen Sie,
atomkritische Experten zurate zu ziehen. Das ist ein bisschen widersinnig. Das verstehe ich nicht so ganz. Wir
haben immer noch hervorragende Wissenschaftler. Es
vergeht fast kein Tag, ohne dass Ihnen ein Experte sagt:
Wir können aus der Kernenergie nicht aussteigen, wenn
wir die Versorgungssicherheit und die günstigen Strompreise halten wollen.
({3})
- Ja, natürlich. Durch Ihre, durch die grüne, sehe ich garantiert nicht. Das kann ich Ihnen sofort unterschreiben.
({4})
Ich möchte noch einen Bogen schlagen. Liebe Frau
Höhn, auch Sie kennen Herr Dr. Moore von Greenpeace
und Herrn Professor Vahrenholt. Das sind nun wirklich
keine Personen, die im Verdacht stehen, unsere Politik
zu unterstützen.
({5})
Sie befinden sich eher auf Ihrer Politikschiene. Auch
diese beiden Experten sagen: Liebe Leute, kommt auf
den Boden der Realität zurück! Stellt euch den Realitäten! Wir kommen auch über 2020 hinaus nicht ohne die
Kernkraftwerke aus, soweit sie sicher sind. - Um Sicherheit geht es auch uns; das möchte ich hier wirklich betonen. Wir sind auf die Erkenntnisse aus den Ereignissen
rund um Krümmel und Brunsbüttel, die vorgelegt werden, gespannt. Wir werden das sehr kritisch begutachten.
Wir werden darüber noch diskutieren.
Ich möchte noch auf die Endlagerfrage eingehen
- Herr Nüßlein hat es hier schon thematisiert -: Es gibt
jede Menge Konzeptionen. Es war wirklich Ihr Minister,
Herr Trittin, der die Lösung des Problems verhindert hat.
Daher haben Sie nicht unbedingt das Recht, hier jetzt
eine schnellstmögliche Endlagerung einzufordern.
Danke.
({6})
Ich erteile das Wort Kollegen Christoph Pries, SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir
befassen uns heute zum wiederholten Mal in dieser
Legislaturperiode mit der Sicherheit unserer Atomkraftwerke. Im Grundsatz sind wir uns alle einig: Die Sicherheit muss beim Betrieb der deutschen Atomkraftwerke
allerhöchste Priorität haben. Sobald wir uns aber darüber
unterhalten, was als sicher gilt, ist es mit der Einigkeit
schnell vorbei. Denn das, was nach Stand von Wissenschaft und Forschung sicher ist, hängt ganz entscheidend
vom Standpunkt des Betrachters ab. Dementsprechend
sind die Positionen in der Frage der Reaktorsicherheit
ebenso festgefahren wie diejenigen, die den Atomausstieg betreffen.
Man muss allerdings feststellen, dass sich nach den
Störfällen in den Atomkraftwerken Krümmel und Brunsbüttel - Herr Nüßlein, ich empfehle Ihnen, an Ihrer Definition des Begriffs „Störfall“ zu arbeiten - gerade bei der
FDP eine gewisse Flexibilität in der Frage der Reaktorsicherheit gezeigt hat.
Kollege Kauch hat am 6. August im Tagesspiegel mit
Blick auf die Terrorgefährdung alter Atomkraftwerke
gefordert:
Aus unserer Sicht wäre es klug, die Reststrommengen auf besser geschützte Anlagen zu übertragen.
({0})
Den Antrag von Vattenfall auf Strommengenübertragung für das Atomkraftwerk Brunsbüttel bezeichnet
Herr Kauch als „keine gute Idee“. Da bin ich mit dem
Kollegen uneingeschränkt einer Meinung. Ob das allerdings für die übrigen Kollegen der FDP zutrifft, wage
ich nach dem, was Sie gerade gesagt haben, Frau
Brunkhorst, zu bezweifeln. Noch im Mai dieses Jahres
haben wir hier über einen Antrag der FDP zur Atomenergie debattiert. Darin fordern Sie eine Novelle des
Atomgesetzes mit dem Ziel, „die zulässige Betriebsdauer der Kernenergieanlagen zu verlängern“.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, was
wollen Sie jetzt? Wollen Sie den Energiekonzernen
nahelegen, die unsinnigen Anträge auf Strommengenübertragungen von neuen Atomkraftwerken auf störanfällige Altanlagen zurückzuziehen? Wollen Sie alte
Atomkraftwerke wegen ungenügenden Schutzes gegen
Terroranschläge schneller abschalten? Oder wollen Sie
den Energiekonzernen einen Freibrief für den Betrieb ihrer Anlagen bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag geben? Ich
bin schon sehr gespannt, wie Sie diesen Widerspruch in
Zukunft auflösen.
({1})
Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Gerne.
Herr Königshofen, bitte.
Der nicht - mit dem werde ich immer verwechselt -,
er würde wegen der Frage Ärger bekommen. Mein
Name ist Königshaus. Es ist halt später Freitagnachmittag. - Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir
über unterschiedliche Sachverhalte sprechen? Es geht
nicht um Restlaufzeitenübertragung. Der Antrag, über
den wir im Moment reden und über den die Kollegin gesprochen hat, lautet: Alte Atomkraftwerke jetzt vom
Netz nehmen. Das ist etwas anderes als die Frage der
Laufzeitenveränderung.
Herr Königshaus, diese Fragen hängen unmittelbar
miteinander zusammen. Wenn Sie Reststrommengen
von neuen Atomanlagen auf alte Atomanlagen übertragen wollen, hat das sehr wohl einen Aspekt, der die Sicherheitslage in Deutschland betrifft. Insofern ist das
Thema nicht verkehrt angesprochen worden.
Ich bin, wie gesagt, schon sehr gespannt, wie Sie diesen Widerspruch in Zukunft auflösen wollen. Kommen
Sie mir jetzt bitte nicht damit, dass natürlich nur Atomkraftwerke weiterbetrieben werden dürfen, die nach dem
Stand von Wissenschaft und Technik sicher sind! Die
Chefs der Energiekonzerne werden bei dieser Forderung
richtig zittern; ich sehe das schon vor mir. Ich sehe
schon, wie die FDP den Herren beim Thema Reaktorsicherheit die Daumenschrauben anlegen möchte, eine
Partei, die den Bürgerinnen und Bürgern seit Jahrzehnten erzählt: Deutsche Atomkraftwerke erfüllen höchste
Sicherheitsstandards und sind die sichersten der Welt.
({0})
- Wer ständig mit Superlativen wirbt, Frau Brunkhorst,
sollte nicht vergessen, dass man die nicht steigern kann.
Brunsbüttel und Krümmel haben wieder einmal offenbart, es ist nicht alles so rosig, wie es uns die Hochglanzbroschüren der Energiekonzerne glauben machen
wollen. Es ist auch dieses Mal wieder gut gegangen.
Aber das ist keine Entschuldigung für die gravierenden
Mängel im Sicherheitsmanagement und in der Sicherheitskultur, die in den Atomkraftwerken offenbar geworden sind. Das ist schon gar keine Entschuldigung für die
unzureichende Informationspolitik und die schleppende
Kooperation des Betreibers mit den Aufsichtsbehörden.
Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt aus diesem
Grund die Maßnahmen, die Bundesumweltminister
Sigmar Gabriel nach den Störfällen eingeleitet hat. Dazu
gehören: die Einführung von selbst lernenden Sicherheitsmanagementsystemen in den deutschen Atomkraftwerken; die Etablierung klarer und verbindlicher Kommunikationsregeln in den Anlagen; die Beschleunigung
der Bearbeitung von Erkenntnissen der periodischen Sicherheitsüberprüfungen und ein verbesserter Schutz der
Kraftwerkswarten gegen das Eindringen von Gasen.
Die zügige Umsetzung, die Kontrolle und die Weiterentwicklung dieser Maßnahmen sind ein wichtiger Beitrag, um eine größtmögliche Sicherheit beim Betrieb der
deutschen Atomkraftwerke während ihrer Restlaufzeit
zu gewährleisten.
({1})
Absolute Sicherheit, liebe Kolleginnen und Kollegen,
wird es bei einer komplexen Hochrisikotechnologie wie
der Atomenergie allerdings nie geben. Aus diesem
Grund unterstützt die SPD-Bundestagsfraktion die Initiative von Bundesumweltminister Gabriel zur Übertragung von Reststrommengen von den ältesten auf die
neueren Atomkraftwerke. Der Bundesumweltminister
hat den vier großen Energiekonzernen angeboten, durch
Strommengenübertragung die sieben ältesten Atomkraftwerke sofort bzw. bis zum Herbst 2009 vom Netz zu
nehmen.
Dafür hätten die verbleibenden Anlagen, die neueren
Baureihen angehören, entsprechend länger in Betrieb
bleiben können. Dies hätte das atomtechnische Risiko in
Deutschland verringert und zu einer erheblichen Klimaverbesserung zwischen Politik und Energiewirtschaft
beigetragen.
({2})
Der Vorschlag hätte auf der Grundlage des geltenden
Atomgesetzes umgesetzt werden können, das explizit
eine genehmigungsfreie Übertragung von Reststrommengen von alten auf neuere Anlagen erlaubt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ich
bin davon überzeugt, dass der Bundesumweltminister
das Notwendige und atomrechtlich Durchsetzbare veranlasst hat. Ihre wichtigsten Forderungen sind damit bereits hinfällig geworden. Dass Sie mit Ihrem Antrag
noch eine Schüppe drauflegen, Frau Höhn, ist mit Blick
auf die Pflege Ihrer Klientel erlaubt und auch verständlich.
Wie Sie wissen, haben die Energiekonzerne das Angebot des Bundesumweltministers ungenutzt gelassen.
Wieder wurde eine Chance vertan, Herr Rüttgers. Und
nicht nur das. Die Energiekonzerne haben gleichzeitig
angekündigt, an ihren Anträgen auf Übertragung von
Reststrommengen von neueren, besser gesicherten Anlagen auf ihre Uraltmeiler festzuhalten. So bedauerlich
diese Bunkermentalität ist, so sehr war sie doch zu erwarten. Interessant ist daher weniger die Ablehnung
selbst als deren ausschließlich atomrechtliche Begründung. Kein Konzern hat die Ablehnung des Vorschlags
von Sigmar Gabriel damit begründet, die gleichzeitige
oder zeitnahe Abschaltung von sieben Atomkraftwerken
werde die Versorgungssicherheit in Deutschland gefährden; Frau Höhn, Sie hatten es schon angesprochen. Warum das? Die Versorgungssicherheit zählt doch sonst zu
den Standardargumenten der Energiekonzerne. Die Antwort ist einfach. Die Abschaltung der sieben Uraltmeiler
hätte die Versorgungssicherheit in Deutschland mitnichten gefährdet.
({3})
Im Juli und August dieses Jahres waren zeitweise bis
zu sieben deutsche Atomkraftwerke gleichzeitig vom
Netz. Und? - Keine Preisexplosion an der Strombörse,
keine Stromausfälle, nichts; kurz: Keiner hat es gemerkt.
({4})
Überhaupt verliert das Argument, erneuerbare Energien seien nicht grundlastfähig, zunehmend an Überzeugungskraft. Am Dienstag haben drei Unternehmen aus
dem Bereich der erneuerbaren Energien ihr regeneratives
Kombikraftwerk vorgestellt. Sie haben damit eine Zusage eingehalten, die sie anlässlich des Energiegipfels im
vergangenen Jahr gemacht haben. Durch die zentrale
Steuerung von bundesweit 36 Windkraft-, Solar- und
Biogasanlagen sowie eines Pumpspeicherkraftwerkes
funktioniert das regenerative Kombikraftwerk wie ein
herkömmliches Kraftwerk. Es kann Schwankungen in
der Stromproduktion und im Stromverbrauch kompensieren und deckt den Strombedarf einer Kleinstadt mit
12 000 Haushalten - zu jeder Zeit und bei jedem Wetter.
In diesem Jahr werden bereits 15 Prozent des deutschen Stromverbrauchs durch erneuerbare Energien gedeckt. Zusammen mit unseren Anstrengungen im Bereich der Energieeinsparung und der Energieeffizienz ist
das der richtige Weg zu einer sicheren und nachhaltigen
Energieversorgung. Diesen Weg haben wir begonnen.
Diesen Weg werden wir weitergehen. Im Gegensatz
dazu ist die Atomenergie ein Auslaufmodell. Mit der
Novelle zum Atomgesetz haben wir dafür gesorgt, dass
das auch so bleibt. Gleichzeitig werden wir dafür sorgen,
dass beim Betrieb der Anlagen die größtmögliche Sicherheit gewährleistet wird.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Hans-Kurt
Hill, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was passiert, wenn unser Auto in die Jahre kommt? Es
beginnt zu klappern, schluckt mehr Sprit, und es geht
mit den großen Reparaturen los. Selbst wenn wir es zur
Inspektion in die Werkstatt bringen, irgendwann müssen
wir es ausmustern. Wenn wir es bis zum Gehtnichtmehr
oder, wie man im Saarland sagt, bis auf den Grutz fahren, dann hat die Karre nur noch Schrottwert, und wir
schauen uns nach den neuesten und effizientesten Modellen um. Im Grunde ist das mit allen Gebrauchssachen
so.
Wie ist das nun mit den Atomkraftwerken? Da gibt es
neue und alte Anlagen. Nun hören wir, die alten seien
genauso gut wie die neuen. Das wird jedenfalls von
Vattenfall und Co. so behauptet. Die Kolleginnen und
Kollegen von der CDU/CSU wie auch von der FDP stoßen natürlich ins gleiche Horn.
({0})
Ich sage Ihnen, meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen: Da werde ich stutzig und, wie ich glaube, auch
die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung. Herr Kollege Nüßlein und Frau Kollegin Brunkhorst, ich kann Ihnen nur empfehlen, sich einmal die neueste Emnid-Umfrage vom August anzusehen. Danach wollen sich zum
Beispiel 53 Prozent der CDU/CSU-Anhänger von den
AKWs verabschieden.
Nun, bei einem alten Auto bekomme ich eventuell
noch einen Kolbenfresser. Bei einem alten AKW geht
man das Risiko ein, ganze Lebensräume zu zerstören.
Die Wahrheit ist: Die Energieversorger machen pro
Atommeiler 300 Millionen Euro Gewinn pro Jahr. Das
bedeutet Profit auf Kosten und Risiko der Allgemeinheit.
({1})
Das ist der einzige Grund, Herr Nüßlein, warum die
Schrottmeiler noch weiter laufen sollen.
({2})
Was war denn im Sommer? In einer Sondersitzung
des Umweltausschusses hat uns der Umweltminister
über weitreichendste Probleme bei Atomanlagen unterrichtet. Dabei ist deutlich geworden, dass diese Technik
ebenso ist wie andere Technik: je älter, desto problematischer. Betrachten wir doch einmal die damaligen Vorgänge! Durch mangelhafte Überwachungsroutine und
vor allem durch die Verschleierungstaktik der mittlerweile schon ausgetauschten Betriebsführung ist eine
hochexplosive Mischung entstanden. Hinzu kommt die
Terrorgefahr, die eben angesprochen wurde. Dagegen
können vor allem alte Kraftwerke - dass das so ist, Herr
Nüßlein, wissen Sie genauso gut wie ich - nicht gesichert werden. Ich sage also: Alte Atommeiler sofort abschalten.
Geradezu zynisch finde ich das Verhalten der CDU/
CSU und auch der FDP, die all diese Fragen noch für so
unwichtig halten. Wer mir also eine alte Karre als neues
und sicheres Modell verkaufen will,
({3})
der will nur eines, nämlich seinen Vorteil sichern, und
zwar zu meinen Lasten bzw. in unserem Fall zulasten der
Bürgerinnen und Bürger. Da gehe ich lieber zu einem
ehrlichen Kaufmann. Das soll ganz einfach heißen:
Wechseln Sie den Stromanbieter
({4})
oder auch die Partei! Dann kommt der Atomausstieg von
selbst.
Ich wünsche Ihnen auf jeden Fall einen guten und sicheren Nachhauseweg.
Danke schön.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/6319 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 33 a und 33 b auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Dr. Uschi Eid, Marieluise Beck ({0}), Birgitt
Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Auswärtige Kulturpolitik
- Drucksachen 16/2233, 16/4024 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Uschi Eid, Marieluise Beck ({1}), Volker
Beck ({2}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Neujustierung der auswärtigen Kulturpolitik
- Drucksache 16/6604 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Uschi
Eid, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der
Stellenwert des Kulturaustausches und der auswärtigen
Kulturpolitik ist bei uns im Hohen Hause unumstritten.
Tragfähige internationale und gute nachbarschaftliche
Beziehungen benötigen ein kulturelles Fundament.
Nichts ist hierfür wichtiger als die Begegnungen von
Menschen, Künstlern, Kulturschaffenden, Studierenden
und Wissenschaftlern über gesellschaftliche und kulturelle Grenzen hinweg.
Ereignisse wie der Karikaturenstreit haben deutlich
gemacht, dass der auswärtigen Kulturpolitik als Medium
und Botschafter für Toleranz, Verständigung, aber auch
für Humor eine zunehmend wichtigere Rolle zukommt.
Dialog und Begegnung mit anderen Völkern und KultuDr. Uschi Eid
ren sind wichtige Grundlagen, um interkulturellen Missverständnissen und Konflikten vorzubeugen.
({0})
Auch deshalb muss die auswärtige Kulturpolitik fester Bestandteil der Außenpolitik sein. Dass wir dabei
durchaus unterschiedliche Bewertungen von Deutschlands Rolle in der Welt und in Europa vornehmen,
Deutschlands Selbstverständnis als Kulturnation anders
akzentuieren oder auch die Aufgabe kulturpolitischer Instrumente unterschiedlich sehen, ist eher ein Gewinn für
dieses Politikfeld. Eine kritische und konstruktive Begleitung aus dem Deutschen Bundestag ist gerade deswegen wünschenswert und notwendig.
Ich freue mich deshalb sehr, dass zum Beispiel die
Initiative meiner Fraktion erfolgreich war, jetzt wieder
einen Unterausschuss für auswärtige Kultur- und Bildungspolitik einzurichten, also einen parlamentarischen
Ort, wo diese Debatte intensiv geführt werden kann.
({1})
Das vergangene Jahr wurde vom Auswärtigen Amt
als Reflexionsphase zur konzeptionellen Ausrichtung
der auswärtigen Kulturpolitik angekündigt. Der grüne
Antrag heute ist ein Beitrag meiner Fraktion zu dieser
Reflexion und konzeptionellen Ausrichtung. Denn obwohl die Bundesregierung nicht müde wird, eine Trendwende in ihrer auswärtigen Kulturpolitik auszurufen,
sehe ich diese nicht. Unser Antrag könnte Hilfestellung
geben, um die Marschroute festzulegen.
Ich kann hier aus Zeitgründen nur vier der wichtigsten Anregungen aus unserem Antrag nennen. Erstens.
Eine zentrale Aufgabe der auswärtigen Kulturpolitik ist
es, die kulturelle Dimension der europäischen Integration zu stärken.
({2})
Das Argument, in Europa sei die kulturelle Basis zur
Schaffung der Union bereits ausreichend gelegt, halte
ich für wenig begründet. Das Zusammenwachsen Europas bedarf vielmehr eines dauerhaften kulturellen Austauschs, vor allem mit den neu aufgenommenen Staaten.
({3})
Zweitens. Die transatlantische Freundschaft und die
notwendige Kooperation mit den USA in wirtschafts-,
außen- und sicherheitspolitischer Hinsicht sollte auch
durch die auswärtige Kulturpolitik unterstützt werden,
um die Basis einer gemeinsamen Welt- und Wertesicht
zwischen Nordamerika und Europa zu festigen sowie
kulturelle und wertebezogene Differenzen abzubauen.
Drittens. Die regionalen Schwerpunktsetzungen bedürfen einer kritischen Überprüfung. Vor dem Hintergrund der weltpolitischen Entwicklungen ist es verständlich, dass die Schwerpunktsetzungen auf Mittel- und
Osteuropa, Asien und den Nahen Osten aufrechterhalten
bleiben sollen, um dynamischen Wachstumsregionen
auch kulturpolitisch Rechnung zu tragen. Verstärkte Medien-, Kultur- und Wissenschaftskooperationen sind aber
auch mit reformorientierten afrikanischen Staaten geboten. Eine Erhöhung der Präsenz der Mittlerorganisationen halte ich dort für dringend erforderlich.
({4})
Viertens. Eine besondere kulturelle Herausforderung
ist die Verhinderung von Konflikten. Durch den Aufbau
kulturpolitischer Dialog- und Begegnungsstrukturen,
durch gezielte Förderung des interkulturellen Verständnisses und freiheitlich-moderner Bildungssysteme kann
ein Beitrag geleistet werden, Feindbilder abzubauen,
eine Kultur der Toleranz zu fördern und Fähigkeiten zur
friedlichen Konfliktbearbeitung zu vermitteln.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist 30 Jahre her,
dass eine Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages eine Bestandsaufnahme des Politikfeldes auswärtige Kulturpolitik vornahm. Meiner Meinung nach und
nach Meinung meiner Fraktion ist es an der Zeit, eine erneute umfassende Analyse der Entwicklungen, Herausforderungen und Aufgaben der auswärtigen Kultur- und
Bildungspolitik vorzunehmen. Durch die erneute Einsetzung einer solchen Enquete-Kommission des Deutschen
Bundestages nach 30 Jahren könnte die Aufgabe sinnvoll erfüllt werden.
Herr Präsident, da wir unseren Antrag heute überweisen, würde ich mich freuen, wenn er im Laufe der Ausschussberatungen auch die Zustimmung der anderen
Fraktionen finden könnte. Ich freue mich auf eine konstruktive Beratung.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Kollege Peter Gauweiler für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir beraten heute nicht nur über eine Große Anfrage, sondern auch über eine große Antwort der Bundesregierung. Mit 99 Seiten zu Ihren 165 Fragen hat sie
Dissertationsniveau erreicht. Aber ich kann wirklich nur
jedem Abgeordneten - auch wenn wir uns heute zur auswärtigen Kulturpolitik, was vielleicht sogar angenehmer
ist, traditionsgemäß im kleinen Kreis versammeln empfehlen, das durchzulesen. Die Fragen und Antworten
sind ein wirklich gutes Kompendium für die Arbeit dieses Hauses.
({0})
- Die Zusammenfassung, die Sie, Herr Wieland einfordern, sehe ich darin, zunächst einmal der Kollegin
Dr. Uschi Eid für die Arbeit, die sie geleistet hat, herzlich zu danken.
({1})
Sie haben ganz richtig gesagt, dass sich die Große
Koalition rühmt, eine Wende zum Besseren geschafft zu
haben. Die Grünen sind der Meinung, dass dies noch
keine ausreichende Wende ist. Auch das ist richtig. Nach
dem Beitrag der Frau Kollegin Eid und angesichts der
Politik ihrer Fraktion können wir als Erstes feststellen,
dass es eine Wiederentdeckung der auswärtigen Kulturpolitik durch die Grünen gibt. Auch dieses Ergebnis ist
einer Erwähnung wert.
Es ist gut, was wir - ich nenne in diesem Zusammenhang Frau Griefahn, Frau Grütters und Frau Jochimsen in diesem Bereich in den letzten zwei Jahren fraktionsübergreifend haben erreichen können. Nehmen Sie nur
den gemeinsamen Antrag von Union und SPD zur Stärkung der Goethe-Institute, für die sich, ausgehend von
einer Krise, eine große Chance ergab. Nehmen Sie nur
- das möchte ich hier rühmen, Herr Staatsminister - die
Konferenz des Auswärtigen Amtes „Menschen bewegen Kultur und Bildung in der deutschen Außenpolitik“, die
nahezu von allen Feuilletons deutscher Zeitungen als
- diesen Ausdruck habe ich heute gelernt - „Leuchtfeuer“ herausgestellt worden ist.
Auch im finanziellen Bereich hat die Große Koalition
für die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik Beachtliches geleistet. Zwischen 1998 und 2005 sind die Haushaltsmittel für die auswärtige Kulturpolitik massiv gesunken. Im Jahr 2005 gab es den absoluten Tiefpunkt.
Mit einer Steigerung um 3,8 Prozent gegenüber 2006 haben wir eine Trendwende im jetzigen Haushalt eingeleitet. Frau Eid, wenn euch der Fischer jetzt zu sehr plagt,
dann halten Sie ihm einmal entgegen, dass er die Schließung von 17 Goethe-Instituten zwischen 1998 und 2002
zu verantworten hat.
({2})
Nun gibt es elf Neueröffnungen. Das kann sich doch sehen lassen.
({3})
Auch das ist eine Erwähnung wert: Es gibt wieder ein
großes Interesse an der deutschen Sprache. Das sehen die
offen Linken genauso wie die verschwiegen Rechten positiv. Die Zahl der ausländischen Studenten in Deutschland ist seit 2004 um 65 Prozent gestiegen. Deutschland
belegt zwischenzeitlich den dritten Platz bei den beliebtesten Studienstandorten in der Welt.
({4})
- Dazu melde ich schon einmal einen Redebeitrag für
die nächste Debatte an.
({5})
Natürlich müssen wir uns über die räumlichen Prioritäten unterhalten und darüber diskutieren, ob man in der
auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik Europa vernachlässigen darf. Ich finde es beachtlich, dass in Ihrer
Großen Anfrage die Frage nach den räumlichen Schwerpunkten - dies ist für Sie intern sicherlich ein unangenehmes Thema; das ist bei uns genauso der Fall - angesprochen worden ist. Frau Griefahn, wir waren uns einig,
dass eine Schwerpunktsetzung nicht unmittelbar zulasten Europas - Entschuldigung, dass ich in diesem Zusammenhang immer vom Abendland gesprochen habe -,
unseres kulturellen und wirtschaftlichen Umfeldes, gehen darf.
Wir müssen es als positive Tatsache erwähnen, dass in
der Zwischenzeit in Osteuropa neben dem Englischen
das Deutsche eine Lingua franca geworden ist. Das
Goethe-Institut teilt uns mit, dass in den USA 2,5 Prozent der Menschen deutsch sprechen. In den Staaten der
GUS liegt dieser Anteil bei über 38 Prozent. Das sind
Zahlen, an denen wir nicht einfach vorbeigehen können.
Auch im Sprachlichen gilt: Stammkundschaft geht vor
Laufkundschaft.
({6})
In der Antwort auf die Große Anfrage heißt es, dass
man sich bemühen werde, „das vorhandene Netz europäischer Institutsstandorte zu erhalten“. Damit ich hier
nicht nur Süßholz raspele, möchte ich sagen: „Bemühen“ klingt ein bisschen schwach. Wenn im Zeugnis
steht, er hat sich im Englischen sehr bemüht, dann weiß
die kundige Pädagogin, dass da noch einiges zugelegt
werden könnte.
({7})
- Danke, Frau Professor.
Ich finde es gut, dass Kulturpolitik zunehmend als Instrument der Konfliktverhütung verstanden wird,
({8})
und zwar nicht nur bei der abendlichen Diskussion am
Kamin unter Wohlerzogenen. Ich erinnere mich noch gut
an das, was mir Herr Barenboim auf die Frage „Herr
Professor, was sagen Sie, wenn eingewendet wird, dass
die Idee Ihres israelisch-arabischen Orchesters furchtbar
naiv ist?“ geantwortet hat. Er sagte: „Möglicherweise
stimmt das. Das, was wir machen, ist ziemlich naiv.
Aber zu erwarten, dass sich die Menschen besser vertragen, nachdem man erst ganze Stadtteile der jeweils anderen Seite dem Erdboden gleichgemacht hat und danach in die übliche Konferenzdiplomatie eingetreten ist,
halte ich für noch viel naiver.“
({9})
Vielleicht schaffen wir es ja irgendwann einmal, daraus
Konsequenzen für die praktische Politik zu ziehen.
Wir haben uns nicht ohne Grund schon im letzten Jahr
mit großer Hilfe des Auswärtigen Amtes darum bemüht,
im Libanon mit den Kulturattachés aus allen Ländern
dieser Region, aus Israel ebenso wie aus den arabischen
Ländern, zusammenzutreffen. Herr Präsident, ich habe
mich damals sehr darüber gefreut und war dankbar dafür, dass uns das Präsidium die Möglichkeit geboten
hatte, eine solche Konferenz in Beirut durchzuführen.
Aus Sicherheitsgründen musste diese Konferenz damals
leider kurzfristig abgesagt werden. Wir bemühen uns,
dass, Haushaltsmittel vorausgesetzt, zu einem geeigneten Zeitpunkt, den wir mit dem Präsidium abstimmen
werden, eine solche Konferenz nunmehr in Kairo durchgeführt wird.
Ich fand das, was Herr Gysi heute zum Thema Birma
gesagt hat, sehr gut. Er hat die Dynamik des kulturellen
Einsatzes aufgezeigt. Wir alle hoffen, dass die Kulturintervention, die von den Mönchen gestartet wurde, erfolgreich sein wird. Dieses Beispiel steht für viele. Es besteht die Möglichkeit, dass das irgendwann auch in den
Köpfen der Menschen ankommt.
Die Große Anfrage und die Antwort der Bundesregierung sind - ich sage das zum Schluss - ein wertvolles
Fundament, auf dem der Deutsche Bundestag die auswärtige Kulturpolitik, die eine Investition in die Zukunft
ist, entwickeln kann. Dafür möchte ich Ihnen herzlich
danken.
({10})
Ich erteile das Wort Kollegin Lukrezia Jochimsen,
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich habe bei diesen vielen Fragen und Antworten
viel gelernt, auch über die Anfänge unserer auswärtigen
Kulturpolitik. Ich habe zum Beispiel gelernt, dass es
noch 1975 eine große parlamentarische Debatte über die
Neudefinition der auswärtigen Kulturpolitik gegeben
hat. Die Kultur sollte die dritte Säule der Außenpolitik
- so hieß das damals - sein. Nicht nur wirtschaftliche
und politische Interessen Deutschlands sollten nach außen vertreten werden, sondern gleichberechtigt auch kulturelle, und zwar in Form einer friedlichen, partnerschaftlichen Verständigung mit anderen Ländern,
Völkern und Kulturen.
So weit, so fern; denn mittlerweile stützt sich die
deutsche Außenpolitik auch auf eine - um im Bild zu
bleiben - vierte Säule, die militärische Säule. Damit hat
sich aus meiner Sicht alles grundlegend geändert. An einem Tag wie heute, an dem wir eine große Debatte über
die Verlängerung des Mandats für den Militäreinsatz in
Afghanistan geführt haben, kann ich nicht über die Neujustierung der auswärtigen Kulturpolitik reden, ohne auf
Afghanistan und unsere militärische Außenpolitik einzugehen.
Was bedeutet ein Zuwachs im Etat für auswärtige
Kulturpolitik angesichts der Ausgaben für die militärische Außenpolitik, die die Regierung der Bevölkerung
aufnötigt? Und vor allem: Was kann unsere auswärtige
Kulturpolitik in einem Land, in dem wir Krieg führen,
leisten? In Afghanistan werden Schulen gebaut, es wird
Unterricht ermöglicht. Das ist gut. Aber unsere Militäreinsätze und die unserer Verbündeten zerstören Schulen
wieder, und gerade Kinder und Jugendliche werden täglich getötet und verletzt.
Dialogkultur und interkulturelle Verständigung gelten
als Ziele unserer auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. Ich frage Sie: Wie werden diese Ziele heute in
Afghanistan erreicht? Auch soll unsere auswärtige Kulturpolitik Kooperationsmöglichkeiten mit Mittlerorganisationen herstellen. Aber haben die Mittlerorganisationen in Afghanistan uns nicht gerade gebeten, sie im
militärfreien Raum operieren zu lassen, weil sie sonst
um das Leben ihrer Leute und die Akzeptanz ihrer Arbeit fürchten müssen?
Was also bewirkt unsere löbliche Investition in auswärtige Kulturpolitik tatsächlich? Zunächst einen schönen Schein, um nicht zu sagen einen Propagandavorhang, hinter dem ganz anderen politischen Interessen
nachgegangen wird: unserer Sicherheit - das haben wir
heute Morgen mehrfach gehört - und geopolitischen
Machtstrategien. So werden dann beim zweiten Blick
die Widersprüche deutlich zwischen dem, was wir als
unsere auswärtigen Kulturaufgaben angeben - Verständigung, Verantwortungsethik, Autonomie von Kunst und
Bildung, ja, Verhinderung von Konflikten -, und dem,
was sich tatsächlich abspielt: Krieg.
Die vierte Säule der auswärtigen Politik, die militärische, muss also weg. Solange sie Stützpfeiler unserer
Außenpolitik ist und bleibt, kann kulturelle Arbeit und
Unterstützung in einem Land wie Afghanistan nicht
wirklich Gutes bewirken und vor allem die militärische
Präsenz nicht rechtfertigen.
Das habe ich in der alten Bundesrepublik gelernt:
Keine Schule, kein Krankenhaus, auch keine Mädchenbildung konnte die sowjetische Militärherrschaft rechtfertigen. Kein Politiker und kein Journalist hat damals
solch einen Zusammenhang hergestellt. Wieso dies 2007
bei uns gang und gäbe ist, ist mir unverständlich. Es
käme einer besonderen Neujustierung der auswärtigen
Kulturpolitik gleich, wenn sich dies ändern würde.
Ja, wir als Fraktion Die Linke sind für eine Neujustierung der auswärtigen Kulturpolitik. Die Idee einer Enquete-Kommission unterstützen wir auch. Insofern werden wir dem Antrag der Grünen zustimmen. Aber für
uns geht Neujustierung auswärtiger Kulturpolitik mit
dem Verzicht auf militärische Mittel einher.
Ich danke Ihnen.
({0})
Nun hat als letzte Rednerin des heutigen Tages Kollegin Monika Griefahn, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Uschi Eid, wir diskutieren heute über die
Große Anfrage und über Ihren Antrag. Ich finde das Instrument der Kleinen und Großen Anfragen prinzipiell
gut, weil damit wichtige Aspekte dargestellt, aktuelle
Daten und auch Verbesserungsmöglichkeiten deutlich
gemacht werden. Aber ich muss sagen: Bei dieser Großen Anfrage, auch wenn alle Vorredner sie sehr positiv
bewertet haben, habe ich mich doch manchmal gefragt,
ob das alles wirklich notwendig war, liebe Uschi Eid.
Denn wir haben das Instrument des Unterausschusses
„Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik“, der viele Fragen aufgegriffen und Daten zur Verfügung gestellt hat.
Wir haben den jährlichen Bericht über die auswärtige
Kultur- und Bildungspolitik, über den wir intensiv diskutiert haben.
Ich finde, wir haben sehr viel auf den Weg gebracht,
sodass diejenigen, die davon betroffen sind, jetzt auch
arbeiten müssen. Als jemand, der sich damit beschäftigt,
wie die Leute die notwendigen Unterlagen zusammentragen müssen, muss ich ehrlich sagen: Manchmal hat es
ein bisschen an Beschäftigungstherapie für unsere Mittlerorganisationen erinnert, die in der Zeit Unterlagen zusammentragen mussten, in der sie eigentlich hätten arbeiten müssen, um die Konzepte umzusetzen, die wir
schon beschlossen haben, und zwar einvernehmlich.
Ich hätte mir gewünscht, dass Fragen wie zum Beispiel die, an welchen internationalen und europäischen
Tagungen Mitarbeiter aller Ressorts der Bundesregierung seit 1998 teilgenommen haben, in so einer Auflistung nicht vorkommen. Ich finde die Antwort der Bundesregierung auf diese Frage richtig. Sie schreibt: „Die
Bundesregierung führt hierzu keine umfassenden Übersichten.“
({0})
Das finde ich wirklich ein bisschen üppig.
Ich muss sagen: Wir arbeiten da immer gut zusammen, und vieles ist auf dem Weg; wir müssen es voranbringen.
Die erkennbare, in den vergangenen Monaten eingeleitete beeindruckende Trendwende in der auswärtigen
Kulturpolitik hängt auch mit den handelnden Personen
zusammen. Unser Minister hat sich dafür aktiv eingesetzt; bei Joschka Fischer habe ich dies manchmal sehr
vermisst. Liebe Uschi Eid, du warst damals auch in der
Regierung und hättest vieles davon auch mit anleiern
können. Es hat mir ein bisschen leidgetan, dass Lothar
Mark und ich, die wir hierfür schon viel früher aktiv waren, immer gepusht, aber nicht immer entsprechende Resonanz gefunden haben.
Nichtsdestotrotz konnten wir erreichen, dass das
Goethe-Institut als größte Mittlerorganisation bereits in
diesem Jahr gestärkt worden ist und dass mehr Mittel
vorhanden sind. Die Neukonzeption läuft auf Hochtouren. Auch für 2008 werden wir weitere Anstrengungen unternehmen und zum Beispiel Projektmittel um
10 Millionen Euro erhöhen. Das sind Gelder, die wirklich vor Ort ankommen.
Angesichts dessen, dass auch Einrichtungen, die uns
beiden wichtig sind, über zu wenig Mittel verfügen
konnten - zum Beispiel das Goethe-Institut in Addis
Abeba, das neben Nairobi das einzige Institut in MittelOst-Afrika ist, das bislang nur 43 600 Euro Projektmittel
im Jahr zur Verfügung hatte und davon auch noch
Spracharbeit und alle Anschaffungen für die Bibliothek
bezahlt hat -, ist klar, dass zu wenig Geld für die kulturellen Projekte übrig bleibt. Es ist eine gute Sache, dass
diese Einrichtung mehr Geld bekommt, wenn die Projektmittel für das Goethe-Institut erhöht werden; dafür
haben wir gemeinsam gestritten. Bei der Aufstockung
dieser Mittel liegt der Fokus auf dem neuen Schwerpunktprojekt: 20 Millionen Euro für die Initiative „Aktion Afrika“ fließen in einen Themenbereich, bei dem
wir die Hilfe von Ihnen, Frau Eid, wirklich brauchen
können, um die Initiative praktisch auszustatten. Mit den
Mitteln werden wir Schüleraustausche, Medienarbeit,
Stipendien, Künstleraustausche und Kulturprojekte
durchführen, um für den Kontinent, der vielleicht ein
Stück zu kurz gekommen ist, tatsächlich etwas auf den
Weg zu bringen.
Einen Aspekt der Großen Anfrage begrüße ich übrigens ausdrücklich. Mehrere Fragen zielen auf die Verbindung von auswärtiger Kulturpolitik und Entwicklungshilfe ab. Das halte ich für einen sehr wichtigen
Punkt. In der Antwort der Bundesregierung heißt es
dazu:
Eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg von
Entwicklungsprojekten besteht darin, dass sie mit
den kulturellen Rahmenbedingungen des jeweiligen
Landes kompatibel sind.
Genau diese Verbindung zeigt uns, wie wichtig es
auch für den Erfolg für Entwicklungshilfe ist, dass wir
die Kultur des Gastlandes nicht nur gut kennen, sondern
auch in den kulturellen Dialog eintreten. Die Trennung
von Kulturpolitik und Entwicklungshilfe ist meiner Meinung nach - das sage ich schon seit längerem - nicht
mehr zeitgemäß, gerade in Schwellenländern, wo die Instrumente der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik
und Bildung als solche sowie deren Verknüpfung zentrale Punkte sind, um vorankommen. Ich hoffe dabei natürlich auf die kompetente Kooperation und Hilfe, die
auch Uschi Eid dabei geben kann, weil sie sich damit
schon immer besonders beschäftigt hat.
Einen Schwerpunkt in der Großen Anfrage bilden
Fragen zum Einsatz von Evaluation. Hier passiert vieles,
und noch mehr ist geplant. Die Budgetierung des
Goethe-Institutes, die ich ebenfalls zusammen mit meinem Kollegen Lothar Mark seit 1998 einzuführen versucht habe und die endlich 2008 weltweit gelten wird,
bedeutet nicht nur den flexibleren und besseren Einsatz
finanzieller Mittel, sondern eben auch den Einsatz von
Evaluation. Um durch Ergebnisse von Evaluationsmaßnahmen die derzeitige Arbeit des Auswärtigen Amtes
und seiner Mittler noch weiter zu optimieren, werden
wir auch 2008 dafür rund 300 000 Euro zusätzlich in den
Haushalt einstellen.
({1})
An dieser Stelle muss ich aber auch dem heute vorliegenden Antrag der Grünen in zweierlei Hinsicht widersprechen. Erstens ist von der dort festgestellten HalbherMonika Griefahn
zigkeit unserer Maßnahmen nun wirklich nichts zu
erkennen, wenn man sieht, dass wir Evaluation durchführen. Zweitens bin ich dagegen, dass wir, wie es zurzeit Mode zu sein scheint, einem Evaluationswahn verfallen.
({2})
Das bringt nichts, kostet viel Geld und hindert an der Arbeit, die vor Ort gemacht werden muss. Wenn man immer nur Berichte schreibt, dann kommt man nicht mehr
dazu, die Dinge tatsächlich zu tun.
({3})
Ich kann davon ein Lied singen: Ich war Bildungsreferentin und musste immer irgendwelche Anträge und Berichte schreiben, während ich für die Maßnahmen an
sich die wenigste Zeit aufwenden konnte. Das müssen
wir wirklich dringend anders machen.
({4})
Im nächsten Jahr machen wir noch einen wichtigen
Schritt, auf den ich zum Schluss eingehe. Das ist die
Schulinitiative, für die wir 2008 zusätzliche 41,5 Millionen Euro aufbringen wollen; damit wollen wir das Netz
der deutschen Schulen im Ausland verstärken und ausbauen. Das ist wichtig - Herr Gauweiler hat darauf aufmerksam gemacht -, denn in den letzten Jahren ist immer klarer geworden, welch großen Beitrag Bildung für
die Entwicklung eines Landes und dessen Kultur leistet,
aber auch, welche Anbindung die deutsche Sprache dabei bietet. Ich werde mir wirklich merken, wie Sie das so
schön gesagt haben: Stammkundschaft vor Laufkundschaft. Das ist ganz richtig.
In den kommenden Jahren wollen wir das Schulnetz
auf 1 000 Partnerschulen ausbauen, insbesondere in der
Region Asien, aber auch im Nahen und Mittleren Osten
sowie in Mittel- und Osteuropa; denn dort sind wir nicht
hinreichend präsent. Das bedeutet nicht, dass wir überall
neue Schulen bauen müssen. Stattdessen können wir
auch an qualifizierten Schulen des Gastlandes die Angebote, Deutsch als Fremdsprache zu erlernen, ausbauen
und so eine Antwort auf die starke Nachfrage gerade in
Asien und Osteuropa geben.
({5})
Ich erlebe auf internationalen Konferenzen immer
wieder, dass wir gebeten werden, dafür zu sorgen, dass
auf diesen Konferenzen auch auf Deutsch übersetzt
wird. Denn viele unserer Kollegen, zum Beispiel solche
aus Osteuropa, können eher Deutsch als Englisch.
({6})
Wenn die Konferenzsprache nur Englisch oder Französisch ist, können sie nicht folgen. Hier haben wir, wie ich
glaube, eine Verantwortung. Wir müssen deutlich machen, dass Deutsch in der EU und auf vielen internationalen Konferenzen eine Amtssprache ist. Weil wir aber
immer klaglos hinnehmen, dass Englisch oder Französisch geredet wird, tragen wir mit dazu bei, dass unsere
osteuropäischen Kollegen häufig nicht mitreden können.
Das finde ich nicht gut.
({7})
Ein weiterer sehr wichtiger Aspekt ist die Schularbeit;
das wird mir immer wieder deutlich. Im Moment feiern
mehrere Schulen auf der ganzen Welt größere Jubiläen.
So feiert zum Beispiel die Deutsche Schule Montevideo
gerade ihr 150-jähriges Jubiläum. Die Anbindung Uruguays an Deutschland ist enorm. Viele Leute in diesem
Land, auch viele Entscheidungsträger, haben diese
Schule durchlaufen. Sie gilt als eine der besten Schulen
in Montevideo, und viele Leute gehen zum Studieren
dorthin. Ich glaube, dass unsere Anbindung an derartige
Länder sehr wichtig ist. Wir müssen sie ausbauen. Das
ist im Rahmen der Schulinitiative, die die Koalition mit
einem eigenen Antrag, den sie in den nächsten Wochen
einbringt, parlamentarisch begleiten wird, ein sehr wichtiger Punkt.
Wie Sie sehen, ist in der auswärtigen Kulturpolitik
eine ganze Menge im Fluss. Wir haben viel vor. Es
kommt auf die Taten an. Ich wünsche mir, dass wir über
unsere Taten diskutieren und konkrete Anträge stellen,
um das Außenministerium in seinen Aktivitäten zu unterstützen. Auf die Auswertung von Berichten sollten
wir nicht so viel Wert legen. Mehr Wert sollten wir darauf legen, dass etwas getan wird. Ich hoffe, dass wir in
diesem Sinne im Ausschuss weiterhin aktiv kooperieren.
Danke schön.
({8})
Der Kollege Harald Leibrecht von der FDP-Fraktion
hat seine Rede zu Protokoll gegeben. Ich schließe damit
die Aussprache.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/6604 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Der Ältestenrat hat in seiner gestrigen Sitzung vereinbart, dass in der kommenden Sitzungswoche keine Befragung der Bundesregierung und am Donnerstag keine
Aktuelle Stunde stattfinden soll. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist auch
das so beschlossen.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 24. Oktober 2007, 13 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.