Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 9/21/2007

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a und 24 b auf: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuorganisation der Eisenbahnen des Bundes - Drucksache 16/6383 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothée Menzner, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Börsengang der Deutsche Bahn AG stoppen - Drucksachen 16/3801, 16/4110 Berichterstattung: Abgeordneter Enak Ferlemann Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister Wolfgang Tiefensee. ({2})

Wolfgang Tiefensee (Minister:in)

Politiker ID: 11004176

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Sehr verehrte Gäste! Während wir hier dieses Gesetz beraten, fahren 34 000 Züge, werden Millionen von Pendlern transportiert, werden Container von Nord nach Süd, von Ost nach West, von West nach Ost und von Süd nach Nord auf den Schienen bewegt. Die Deutsche Bahn AG ist das Mobilitäts- und Logistikunternehmen in Deutschland. Wir wollen es mit dieser Reform stärker machen. Wir setzen einen Weg fort, der bereits Anfang der 90er-Jahre beschritten wurde. ({0}) Die Privatisierung der Deutschen Bundesbahn - Anfang der 90er-Jahre wurde sie formell in eine Aktiengesellschaft umgewandelt - ist eine Erfolgsgeschichte. Die Deutsche Bahn AG ist ein starkes Dienstleistungsunternehmen. ({1}) Damals hat uns das Interesse geleitet, mehr Verkehr von der Straße auf die Schiene zu bringen. Wir wollen, dass dieses Unternehmen wirtschaftlich arbeitet, dass der Haushalt entlastet wird, dass wir den Wettbewerb in Europa, aber auch in Deutschland bestehen, und wir wollen - auch das treibt uns um - 230 000 Arbeitsplätze bei der Deutschen Bahn AG sichern. Das ist eine große Verantwortung, die wir haben. ({2}) Man kann sehen, wie die Dienstleistungsqualität gestiegen ist: 90 Prozent der Menschen in Deutschland haben weniger als zehn Minuten Distanz zu einer Haltestelle des öffentlichen Nahverkehrs zu überwinden; die Taktfrequenzen sind gut; die Fern- und Regionalverkehre sind gut organisiert, jeder hat Zugriff darauf, und die Güter werden abtransportiert. Das ist die Erfolgsgeschichte der formellen Privatisierung der DB AG. Jetzt stehen wir vor neuen Herausforderungen. Wir brauchen noch besseren Service. Wir müssen rollendes Material anschaffen, unsere Bahnhöfe renovieren und dafür sorgen, dass Lärm vermieden wird. Die Grenzen öffnen sich. Seit dem 1. Januar 2007 ist der internationale Güterverkehr liberalisiert. Ab dem 1. Januar 2010 Redetext wird der internationale Personenverkehr liberalisiert sein. Wettbewerb findet auf deutschen Schienen statt, und wir wollen, dass die offenen Märkte des Personenund Güterverkehrs in den neuen und alten EU-Mitgliedstaaten auch durch den Wettbewerber Deutsche Bahn AG bedient werden. Endlich öffnen sich die neuen EU-Mitgliedstaaten für Partner für ihre Eisenbahnunternehmen. Um diese Herausforderungen anzunehmen, braucht die Deutsche Bahn frisches Kapital. Es gibt zwei Wege. Zwischen diesen beiden Wegen hat man sich in den Jahren 2003/2004 entschieden. Entweder legt der Steuerzahler auf das Geld, das er bereits investiert - 2,5 Milliarden Euro pro Jahr zum Erhalt der Schiene - weiteres Geld drauf - das wird in dieser Haushaltssituation nicht möglich sein -, oder wir versichern uns privater Partner. Wir haben den zweiten Weg gewählt, weil wir uns sicher sind, dass wir mit diesen Partnern, mit dem Geld, das wir aus einer Teilkapitalprivatisierung der Deutschen Bahn AG erlösen, die Bahn in Deutschland stärker machen. Wir brauchen eine stärkere Bahn. Warum? Weil wir den Wettbewerb bestehen wollen; weil wir mehr Verkehr von der Straße auf die Schiene verlagern und damit einen Beitrag zum Klimaschutz leisten wollen; weil wir die Arbeitsplätze von 230 000 Menschen sichern wollen; ({3}) weil wir die Finanzmittel, die der Steuerzahler aufbringt, begrenzen und effektiv einsetzen wollen. Das sind die Ziele, die wir uns gestellt haben. Die Lösung, die wir gefunden haben, ist: Wir erhalten den integrierten Konzern; wir erhalten ein Unternehmen, das in den letzten Jahren in dieser Konstellation so erfolgreich gearbeitet hat wie kein zweites dieser Größenordnung in Europa. Darauf sind wir stolz. Deshalb erhalten wir es in dieser Art und Weise. Erstens. Wir werden das Netz, jeden Kilometer Schiene, im Eigentum des Volkes behalten. ({4}) Der Bund wird weiter mit starkem Zügel Einfluss darauf haben, was auf der Schiene passiert und wie die Qualität gewährleistet werden kann. Das ist das Entscheidende: Der Bund verschleudert kein Volksvermögen. Im Gegenteil: Das Eigentum an der Schiene, den Bahnhöfen und Stellwerken bleibt zu 100 Prozent in der Hand des Bundes. Der Bund bleibt Eigentümer des Netzes. ({5}) Mit dieser Vorgehensweise erreichen wir, dass wir für die nächsten Jahre ein stabiles, starkes Unternehmen - die Deutsche Bahn AG - fortentwickeln können. ({6}) Wir brauchen jetzt eine Auseinandersetzung um die beste Lösung. Ich weiß, dass in der Bevölkerung viel Unsicherheit besteht. ({7}) Daher rufe ich der Bevölkerung zu: Auch in der Zukunft werden die Länder Regionalverkehre wie bisher bestellen können. Die Regionalverkehre bleiben unangetastet. Die Fläche wird so wie bisher bedient. Das ist öffentliche Daseinsvorsorge. ({8}) Zweitens. Wir werden dafür Sorge tragen, dass die Qualität des Netzes noch besser wird. Transparenz wird durch einen sogenannten Netzentwicklungsbericht hergestellt. Wir wissen, dass das Netz an vielen Stellen noch zu verbessern ist. Nicht alles ist so gut, wie wir es uns vorstellen. ({9}) Wir werden dafür sorgen, dass die Qualität des deutschen Schienennetzes verbessert wird. Drittens. Wir werden dafür sorgen, dass wir uns auch in unseren EU-Nachbarstaaten stark aufstellen können. Denn nur wenn wir dort Marktanteile gewinnen, werden wir ein starkes Unternehmen mit starken Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland haben. Nur wenn wir über Transport- und Reiseketten reden, die auch über Deutschland hinausgehen, wenn wir unser Unternehmen also stark europäisch aufstellen, werden wir die Zukunft meistern. Auch das steckt in diesem Gesetzentwurf. Wir diskutieren darüber, was sein wird, wenn das Gesetz verabschiedet ist und die Aktien gehandelt werden. In meiner Partei wird klug und heftig darüber diskutiert. ({10}) Denn diese Frage ist wichtig. Wir werden eine Antwort darauf finden. Die Länder werden im Bundesrat beraten und Sorge dafür tragen, dass wir starke Unternehmen haben, die die regionalen Verkehre bedienen können. Ich freue mich auf eine interessante, spannende und konstruktive Diskussion. Ich bedanke mich bei Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass Sie es mit Ihren Beschlussfassungen, beispielsweise dem Entschließungsantrag vom November 2006 auf der Grundlage des Koalitionsvertrages, möglich gemacht haben, dass wir ein solches Gesetz auf solidem Fundament einbringen können, ein Gesetz, das unsere Deutsche Bahn AG stark macht. Vielen Dank. ({11})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Horst Friedrich, FDP-Fraktion. ({0})

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, Sie haben recht: Eigentlich müsste man froh sein, dass wir heute den letzten Schritt zur Vollendung der Bahnreform machen, die von dem Bundestag, der von 1990 bis 1994 gewählt war, richtigerweise auf den Weg gebracht worden ist. Das Wort „eigentlich“ bezieht sich darauf, dass Sie nach wie vor nicht begriffen haben, dass diese Reform nur dann für alle Beteiligten erfolgreich zum Abschluss gebracht werden kann, wenn Sie an der richtigen Stelle trennen. Der Gesetzentwurf, den die Koalitionsfraktionen vorlegen, ist nichts weiter als die Fortführung des Status quo eines Mischkonzerns. Die Deutsche Bahn als Aktiengesellschaft braucht den Steuerzahler, um ihre weltweiten Logistiktätigkeiten zu finanzieren. In genau diesem Maße wird sie auf das Netz und auf die Steuerzahler zugreifen. Was Sie vorlegen, ist ein schlechter Versuch, Markt und Marx miteinander zu kombinieren. ({0}) Schon bei Graf Lambsdorff konnten Sie nachlesen, dass diese Kombination - auch wenn man glaubt, dadurch eine bessere Marktwirtschaft zu erzielen - bestenfalls Murks produziert. ({1}) Das ist die Ausgangssituation, von der aus man diesen Gesetzentwurf beurteilen muss. Wo kommen wir her? Im Jahre 1994 haben wir eine Bahnreform beschlossen. Das geschah zu einem Zeitpunkt, zu dem die damalige Deutsche Bundesbahn einen Geschäftsbericht vorgelegt hat, der auswies, dass ihre Personalkosten höher als die Erlöse aus ihrer normalen Geschäftstätigkeit waren. Es war zwingend notwendig, dieses Problem zu lösen. Das war der erste Grund, aus dem wir die Bahnreform beschlossen haben. Der zweite Grund bestand darin, dass in Anbetracht der damaligen Konstruktion der Deutschen Bahn im Endeffekt jeder, auch die Politik, festlegen konnte, welche Leistungen die Bahn zu erbringen hat, dass er daraus aber keine finanziellen Konsequenzen ziehen musste. Aus genau diesem Grund hat der damalige Gesetzgeber - Gott sei Dank und richtigerweise - im Eisenbahnneuordnungsgesetz festgelegt, dass die Bahn an den Stellen entscheiden soll, an denen es für ein Wirtschaftsunternehmen notwendig und sinnvoll ist, und dass die Politik und damit die Steuerzahler dort entscheiden sollen, wo es für sie sinnvoll ist. Die Trennaufgabe ist völlig klar: Der Bund ist für die Eisenbahninfrastruktur zuständig. Transport war, ist und wird keine staatliche Aufgabe sein. Deswegen hat man festgelegt, dass die Länder in die Lage versetzt werden sollen, aus den Einnahmen aus dem Mineralölsteueraufkommen über den Bund Nahverkehr zu bestellen und damit in der Fläche Daseinsvorsorge zu betreiben. Für ein Staatsunternehmen besteht keine Notwendigkeit, weltweit als Logistikdienstleister aufzutreten und dadurch anderen, die in diesem Bereich schon tätig, aber keine Staatsunternehmen sind, Konkurrenz zu machen, allerdings unter besseren Ausgangsbedingungen, weil man als deutsches Staatsunternehmen immer auf den deutschen Steuerzahler zurückgreifen kann. Die Konstruktion, die Sie wählen, hat zur Folge, dass die Bundesrepublik Deutschland immer mit einem Anteil von mindestens 50,1 Prozent Eigentümer der DB AG sein muss, ob sie es will oder nicht. ({2}) Als Gegenleistung bekommt der deutsche Steuerzahler eine sensationelle Rechnung präsentiert: Ein Netz, das nach unterschiedlichen Schätzungen bereits in der Größenordnung eines dreistelligen Milliardenbetrags finanziert ist, wird mit dem Rest des Unternehmens an die Börse gebracht. Unter positiven Voraussetzungen wird der Erlös für den Finanzminister schätzungsweise einmalig 4 Milliarden Euro betragen. Weitere 4 Milliarden Euro müssen ebenfalls einmalig an die Deutsche Bahn gegeben werden. Man macht das Ganze schließlich, um die Deutsche Bahn mit einer besseren Finanzbasis auszustatten. Mit diesem Schritt verpflichten Sie den deutschen Steuerzahler und den Haushaltsgesetzgeber dauerhaft, nämlich mindestens 18 Jahre lang, jährlich 2,5 Milliarden Euro für die Pflege des Bestandsnetzes und weitere ungefähr 1,5 Milliarden Euro für Neubaumaßnahmen an die Deutsche Bahn auszureichen. ({3}) Bereits jetzt steht fest, dass dann, wenn der Bewirtschaftungszeitraum, den Sie für die Deutsche Bahn vorgeben, abgelaufen ist und wir das Netz dann zurückhaben wollen, um es vielleicht einem anderen Unternehmen zur Bewirtschaftung zu geben, ({4}) schätzungsweise weitere 8 Milliarden Euro fällig werden, um das Netz, das wir schon einmal bezahlt haben, zurückzukaufen. Das ist ein Geschäft, das ich als Kaufmann auch gerne machen würde. Doch als verantwortlicher Politiker werde ich mich dieser Lösung nicht anschließen, Herr Minister. ({5}) Sie behaupten, dadurch werde die Qualität des Netzes besser; wir könnten auf der Basis eines nachprüfbaren Netzzustandsberichtes eine Leistungs- und Finanzie12000 Horst Friedrich ({6}) rungsvereinbarung abschließen. Einen solchen Netzzustandsbericht verlangt der Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages seit Jahren; doch er liegt bis jetzt nicht vor. Schauen wir uns einmal die tatsächliche Situation an: Der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg hat im Auftrag des Verkehrsministers des Landes Brandenburg eine Bestandsaufnahme vorgenommen. Die Deutsche Bahn sagt: Im Bereich des Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg gibt es 35 Langsamfahrstellen. - Der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg hat nachgezählt und festgestellt: Es gibt 600 Langsamfahrstellen. Das ist eine kleine Differenz. An einer Strecke kann man beispielhaft nachweisen, wo das Problem liegt: Laut DB Netz AG gibt es auf der Strecke Berlin-Dresden keine Langsamfahrstelle. Dem Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg nach sind es insgesamt 18 Langsamfahrstellen. Wie kann das sein? Für die Deutsche Bahn gelten Langsamfahrstellen, die bereits seit mehreren Jahren existieren, nicht mehr als Langsamfahrstellen - sie sind in den Fahrplan eingerechnet. Das mag ja optisch ganz schön sein. Nur ist das Problem nicht gelöst. Denn Fakt ist: Diese Strecke ist auf 160 Stundenkilometer ausgelegt. ({7}) Ein Drittel der Strecke ist jedoch nicht mit dieser Geschwindigkeit zu befahren. Das ist das eigentliche Problem. ({8}) Man muss doch, bevor man Verpflichtungen eingeht, erst einmal klarstellen, was man bekommt. Hier kneift die Große Koalition, und das wird auch mit den Änderungsanträgen, die Sie vorgelegt haben, nicht besser, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es ist ja bezeichnend - hoffentlich ist es kein schlechtes Omen -, dass der Gesetzentwurf der Koalition, über den wir heute in erster Lesung beraten, vom Bundesverkehrsminister eingebracht wird. Das ist natürlich eins zu eins das, was er vorgelegt hat. Die Verfassungsrechtler - zumindest die große Mehrheit: mittlerweile sieben zu zwei ({9}) halten das, was der Bundesminister vorgelegt hat, für verfassungswidrig. Er behauptet jetzt, er hat ein Zertifikat - wahrscheinlich von der Justizministerin. ({10}) - Das hatten wir auch bei der Privatisierung der Deutschen Flugsicherung. Ich kann Ihnen nur empfehlen, in Ihrem Büro an der Wand schon ein bisschen Platz zu machen neben dem Zertifikat, das da schon hängt. Auf diesen Pfad würde ich mich an Ihrer Stelle nicht begeben. ({11}) Denn weder die Länder noch der Bundespräsident befinden sich nach dieser Diskussion noch im Zustand der Unschuld. Alle wissen, dass es einer der entscheidenden Punkte ist, ob die Fiktion, die der damalige Gesetzgeber ins Grundgesetz geschrieben hat - dass der Bund Mehrheitseigentümer eines Eisenbahninfrastrukturunternehmens sein muss -, mit dem Gesetzesvorschlag, den Sie vorgelegt haben, erfüllt ist oder nicht. Das ist eine relativ einfache Frage. Nun legen Sie ein abenteuerliches Konstrukt vor. ({12}) Sie splitten das Eigentum: Sie nehmen die DB Netz AG formal aus der Deutschen Bahn AG heraus. Das juristische Eigentum bleibt beim Bund, sagen Sie. ({13}) Gleichzeitig überlassen Sie die DB Netz AG als wirtschaftliches Eigentum der Deutschen Bahn AG, sie darf sie nämlich bilanzieren. Sie behaupten, ein privater Investor, der sich an der Holding, an der Hauptgesellschaft Deutsche Bahn AG, beteiligt, habe dann rechtlich keinen Zugriff auf das Netz. ({14}) Da muss man einmal einen Blick in das Aktiengesetz werfen! Sie können ja Beschränkungen beschließen. Aber eines habe ich nach 25 Jahren in der freien Wirtschaft gelernt: Ich habe keinen Investor gesehen, der sich an einer großen Gesellschaft beteiligt und der an einer Tochtergesellschaft, die in der Bilanz konsolidiert wird, nicht zumindest indirekt beteiligt ist. Genau das wird weiterhin passieren. Deswegen ist das, was Sie sagen, vielleicht Ihr Glaube, aber wahrscheinlich nicht die Realität. Das ist der entscheidende Punkt. ({15}) Herr Minister, Sie schneiden an der völlig falschen Stelle. Es gibt eigentlich nur eine klare Lösung: ({16}) Trennen Sie das Netz vom Betrieb! Machen Sie einen sauberen Schnitt! ({17}) Übertragen Sie die Infrastruktur einem eigenen Unternehmen, ({18}) das in Staatsbesitz bleibt! Jagen Sie den deutschen Steuerzahler mit Ihrer Gesetzgebung nicht in ein unkalkulierbares finanzielles Abenteuer, und bedenken Sie die verfassungsmäßigen Risiken! Horst Friedrich ({19}) Herr Minister, auch die Volksaktie, die Ihre Partei jetzt propagiert, wird das Problem nicht lösen. Deswegen kann ich Ihnen zum Schluss nur sagen: Etwas Dummes zu sagen, ist für einen Minister sogar gefährlicher, als etwas Dummes zu tun. - Denken Sie noch einmal nach! Der Spruch stammt nicht von mir, sondern von Kardinal de Retz. Er war im Kabinett Richelieu unter Ludwig XIV. Was schon damals gegolten hat, gilt auch heute noch. Danke sehr. ({20})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe dem Kollegen Dr. Hans-Peter Friedrich, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003124, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, der erste wichtige Erfolg, den wir heute verkünden können, ist, dass wir verhindert haben, dass das Schienennetz, die Infrastruktur, an die Börse geht, was sich einige im Bahnvorstand noch vor eineinhalb Jahren vorgestellt haben. Ich bedanke mich für die begleitende Kritik in der öffentlichen Auseinandersetzung auch bei der Opposition, bei den Grünen und bei der FDP. Ich glaube, auch Ihre Argumentation war sehr hilfreich. Die Bahnreform vollzieht sich in mehreren Stufen. Die erste Stufe hat der Minister beschrieben: von der Behördenbahn zur betriebswirtschaftlich wirtschaftenden Bahn. Wir gehen jetzt einen weiteren Zwischenschritt, ohne das Ziel, das wir von Anfang an im Auge hatten, aus den Augen zu verlieren. Das Ziel heißt: Wir wollen eine Trennung von Betrieb und Schiene, eine Trennung von Logistik und Infrastruktur. Sehr einleuchtend begründet hat das, so glaube ich, der Kollege von der FDP. Logistik auf der Schiene und auf der Straße - die Deutsche Bahn AG betreibt mit ihrer Tochter Schenker Logistik auch auf der Straße - findet heute schon im Wettbewerb statt. Das ist gut; denn nur wer sich dem Wettbewerb stellt, bleibt wettbewerbsfähig. Das ist für die Wettbewerbsfähigkeit des Verkehrsträgers Schiene wichtig. ({0}) Dieser Teil, der Betrieb auf der Schiene - es gibt viele Bahn- und Fuhrunternehmen -, kann eines Tages - das ist unser Ziel - vollständig privatisiert werden. Das, was nicht privatisiert werden kann, ist die Infrastruktur, das sind die Schienen, die Bahnhöfe und die Energieversorgung, all das, was notwendig ist, um den Wirtschaftsund Investitionsstandort Deutschland zu erschließen, um den ländlichen Raum zu erschließen, um die Chancen der Verkehrsdrehscheibe Deutschland, das in der Mitte Europas liegt, wahrzunehmen. Deswegen machen wir jetzt einen Zwischenschritt, der genau diese Trennung vorprogrammiert und in absehbarer Zeit zum Ziel führt. Wir haben uns mit unseren Freunden und Kollegen von der sozialdemokratischen Fraktion darauf geeinigt und im Deutschen Bundestag im November letzten Jahres beschlossen, dass das Eigentum an der Infrastruktur in der öffentlichen Hand, beim Bund, bleibt. Wir haben uns aber auch darauf geeinigt - der Minister hat das mit Blick auf die 230 000 Beschäftigten begründet -, dass zunächst für eine Übergangszeit die konzerninternen Arbeitsplätze bei der Deutschen Bahn AG erhalten bleiben. ({1}) Wir haben auch der Gewerkschaft Transnet in den letzten 13, 14 Jahren im Zusammenhang mit dem Umbau der Deutschen Bahn sehr viel zu verdanken. ({2}) Deswegen verstehe ich, dass wir jetzt bei diesem Zwischenschritt dieses Zugeständnis machen. Nur, das macht eine äußerst komplizierte juristische Konstruktion notwendig. Aber, lieber Herr Kollege Friedrich, nicht alles, was kompliziert ist, ist deswegen schon schlecht. ({3}) Was erreichen wir mit dieser Konstruktion? ({4}) Erstens. Das erste Mal seit 1994 wird die Infrastruktur - Schienen, Grundstücke, Energieversorgung und Bahnhöfe - in einer Gesellschaft konzentriert. Das gab es bisher noch nie. Bisher war die Infrastruktur irgendwo im Konzern verstreut, und man konnte es nicht überschauen. Jetzt wird sie in einer Gesellschaft konzentriert und vom übrigen Betrieb klar abgetrennt. ({5}) Wir übertragen diese Infrastruktur, die heute dem Konzern Deutsche Bahn AG gehört, in das Eigentum der Bundesrepublik Deutschland. Wir entreißen sie dem Konzern und geben sie in die Hand der Bundesrepublik Deutschland. ({6}) Jetzt kommt der zweite Schritt, der mit der Bilanzierung zusammenhängt. Damit die Bahn bilanzieren kann, müssen wir das Recht der Ausübung der Gesellschaftsrechte für einen kurzen Zeitraum von einigen Jahren auf die Bahn übertragen. Wir machen das im Wege einer Vollmacht. Wir bevollmächtigen die Deutsche Bahn AG für einige Jahre, unsere Rechte aus der InfrastrukturGesellschaft wahrzunehmen. Das ist der zweite wichtige Schritt.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003124, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Keine Zwischenfragen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Keine Zwischenfragen. Gut.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003124, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Deswegen darf die Bahn diese Infrastruktur jetzt auch noch eine gewisse Zeit lang bewirtschaften. Wir kontrollieren aber auch die Bahn. Herr Kollege Friedrich, ich sage Ihnen das nur. ({0}) Als Eigentümer der Infrastruktur muss der Bahnvorstand künftig jede Verschuldung des Netzes vom Bund genehmigen lassen. Er muss jede Kapitalveränderung vom Bund genehmigen lassen. Er muss eine Genehmigung einholen, wenn er im Netz in erheblichem Umfang Personalveränderungen vornimmt. Peter Ramsauer hat mit klarer Sprache gesagt: Wir nehmen die Bahn an die Kandare. Genau das ist der entscheidende Punkt. ({1}) Drittens. Wir legen in diesem Gesetz fest, dass die Bahn endlich einen Netzzustandsbericht vorlegen muss, und zwar nicht nur einmal, sondern Jahr für Jahr. Es muss Schluss sein mit der Geheimniskrämerei. Wir wollen wissen, wie die Qualität des Netzes in Deutschland ist. ({2}) Wir wollen wissen, wie die Qualität in jedem einzelnen Bundesland ist. Auch die Ministerpräsidenten der Länder haben ein Recht, zu wissen, welche Qualität das Netz in ihrem Bundesland hat. Das fordern wir, und das legen wir in diesem Gesetz fest. ({3}) Der Minister hat es richtig gesagt. Wir schließen eine klare Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung mit der DB ab, mit der sie verpflichtet wird, im Gegenzug für die Zuschüsse, die sie vom Bund weiterhin haben möchte, die Qualität zu sichern. Viertens. Wir werden verhindern, dass die Deutsche Bahn in Zukunft das tut, was ihr heute von vielen unterstellt wird; vielleicht ist da ja auch etwas - mit Blick auf die Berichte der Netzagentur sage ich das - dran. Wir verhindern, dass die Bahn die Wettbewerber diskriminiert. Denn Wettbewerb ist notwendig für die Stärkung des Verkehrsträgers Schiene. Wirtschaftsminister Michael Glos hat in den Ressortbesprechungen durchgesetzt, dass wir die Aufsichtsrechte der Regulierungsbehörde stärken. Für die CDU/CSU sage ich: Das steht noch nicht im Entwurf, aber wir wollen es im Entwurf haben. Wir wollen eine externe Preiskontrolle. Wir wollen es nicht zulassen, dass die Bahn die Höhe der Trassenpreise beliebig festlegen kann. Vielmehr wollen wir eine externe Kontrolle, damit alles seine Ordnung hat. ({4}) Fünftens. Am Ende der Laufzeit - der Minister spricht von 18 Jahren; wir wollen eine kürzere Laufzeit - entscheidet der Deutsche Bundestag darüber, ob die Bahn weiter bilanzieren soll oder ob sie die Vollmacht zurückgibt. Sobald die Vollmacht von der Bahn an den Bund zurückgegeben wird, ist das erreicht, was wir gemeinsam - der Kollege Friedrich und die Kollegen von den Grünen, wenn ich es richtig verstehe - immer gefordert haben: Dann ist die Trennung von Netz und Betrieb erreicht. ({5}) - Sie müssen erst einmal sehen, ob Sie in zehn Jahren noch etwas zu sagen haben. - Das ist die Entscheidung des Deutschen Bundestages am Ende der Laufzeit. ({6}) Im Übrigen: Wenn der Bundestag nicht entscheidet, fällt das wirtschaftliche Eigentum automatisch an den juristischen Eigentümer, die Bundesrepublik Deutschland, zurück. ({7}) Wir programmieren mit diesem Gesetz die Trennung von Netz und Betrieb. Es wird eine automatische Trennung geben. ({8}) Wenn ich höre, dass wir das Netz zurückkaufen müssen, dann kann ich nur sagen: Bitte erzählen Sie keine Märchen! ({9}) Wenn wir den Wert des Netzes, der in der Bilanz steht, eines Tages aus der Bilanz herausziehen, dann müssen wir genau diesen Wert - nicht mehr und nicht weniger - ersetzen, was im Übrigen kein Problem sein dürfte, da der Finanzminister bei einer Trennung von Netz und Betrieb in der Lage sein wird, den Betrieb sofort komplett zu privatisieren und dadurch schöne Einnahmen zu erzielen. Machen Sie sich also keine Sorgen! Das wird nicht das Problem sein. Jetzt sage ich an die Kollegen von der SPD: Aus Ihren Reihen kommt der Vorschlag „Volksaktie“. ({10}) Dr. Hans-Peter Friedrich ({11}) Gut, wenn Sie das so wollen, verschließen wir uns dieser Idee nicht. Wenn das mit diesem Modell, also der Proklamierung der Trennung von Netz und Betrieb durch die entsprechende Konstruktion, kombiniert wird, können wir im Laufe des Verfahrens über diese Dinge reden. Ich lade Sie von der Opposition ein, jetzt keine Fundamentalopposition zu betreiben ({12}) - ich habe Sie doch gelobt, lieber Kollege Friedrich; ich will Sie auch künftig loben können -, sondern konstruktiv mitzuarbeiten, damit wir in diesem Punkt eine saubere, zukunftsorientierte Lösung erreichen. Dann bin ich ganz optimistisch, dass wir alle in diesem Hohen Hause mit der zweiten Stufe der Bahnreform sehr zufrieden sein werden. Ich bedanke mich herzlich. ({13})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Oskar Lafontaine, Fraktion Die Linke. ({0})

Oskar Lafontaine (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Deregulierung, Flexibilisierung und Privatisierung sind die Heilsbotschaften des Neoliberalismus, ({0}) eines Wirtschaftssystems, das ausläuft - das haben noch nicht alle gemerkt -, ({1}) das vielen Menschen auf der Welt keine Vorteile, sondern erhebliche Nachteile gebracht hat, das auf die Steigerung der Einkommen und Vermögen einer Minderheit gerichtet ist und im Gegenzug eine Verschlechterung der Lebensbedingungen für viele Menschen mit sich gebracht hat. Wenn man solche Absichten hat, muss man möglichst viele Fremdwörter gebrauchen; denn Fremdwörter sind stets dazu da, die wahren Absichten zu verschleiern. ({2}) Beginnen wir mit der Deregulierung. Hätte man vom Abbau des Kündigungsschutzes, von der Abschaffung der Tarifverträge oder von der Abschaffung langfristig gesicherter Arbeitsplätze gesprochen, dann hätte jeder verstanden, was da eigentlich beabsichtigt ist. Zur Flexibilisierung. Hätte man von Arbeitszeiten rund um die Uhr ohne Rücksicht auf die Familie und auf soziale Belange gesprochen oder zum Beispiel den Beschäftigten der Telekom gesagt, dass sie irgendwann Fahrten zum Arbeitsplatz von 200 Kilometern in Kauf nehmen müssen, dann hätten alle verstanden, was mit Flexibilisierung eigentlich gemeint ist. Das Wort Privatisierung hätte man schlicht und einfach übersetzen müssen: „privare“ heißt, ins Deutsche übersetzt, „berauben“. Bei der Privatisierung der Bahn geht es also schlicht und einfach um eine Beraubung oder Enteignung der Bevölkerung; denn fünf Generationen haben diese Bahn in Deutschland aufgebaut und mit ihrem Vermögen finanziert. Jetzt soll schlicht und einfach enteignet werden. ({3}) Es ist schon erstaunlich, wie die Technik der Verschleierung und der Darstellung falscher Zusammenhänge einfach weiter angewandt wird. Der Verkehrsminister stellt sich hier hin und spricht mit blauen oder vielleicht auch braunen Augen - ich erkenne das auf die Entfernung nicht ganz - von einer Erfolgsgeschichte. Da ist man doch wirklich platt. Diejenigen, die uns jetzt zuhören und das gehört haben, fragen sich sicherlich, wer da eigentlich redet. ({4}) - Freuen Sie sich ein bisschen! Gleich werden Sie sich nicht mehr freuen. Die Erfolgsgeschichte sieht so aus: Zwischen 1994 und 2004 wurden 5 000 Kilometer Schiene stillgelegt. Ist das wirklich eine Erfolgsgeschichte? ({5}) Die Zahl der Bahnhöfe ist um 400 gesunken. Ist das wirklich eine Erfolgsgeschichte? Macht sich ein Minister, der hier im Deutschen Bundestag so etwas erzählt, nicht zum Narren? ({6}) 100 000 Arbeitsplätze sind abgebaut worden. Hat man wirklich die Frechheit, so etwas als Erfolgsgeschichte zu bezeichnen? ({7}) Die in den letzten Jahren aufgehäuften Schulden sind weitaus höher als die, die vor der Privatisierung der Bahn aufgehäuft worden sind. ({8}) So etwas als Erfolgsgeschichte zu bezeichnen, ist schlicht und einfach Volksverdummung. Die Bevölkerung merkt die Absicht und ist verstimmt. ({9}) Wenn schon Hunderttausende von Arbeitsplätzen verloren gegangen sind, dann wissen die Menschen, was es zu bedeuten hat, wenn jemand verspricht, die Arbeitsplätze zu sichern. Das sind die üblichen Beschwichtigungsformeln, die immer wieder vorgetragen werden, wenn der Prozess so weitergehen wird. Die Bevölkerung und die Beschäftigten der Bahn müssen wissen: Wenn Renditedenken im Vordergrund steht, dann werden weiterhin Arbeitsplätze abgebaut, Strecken stillgelegt und Bahnhöfe verkauft oder was auch immer damit geschieht. ({10}) Wir haben bei der Post und bei der Telekom erlebt, was das für die Beschäftigten bedeutet. Wie kann man nur so blind sein und dies als großen Erfolg verkaufen? ({11}) Die Beschäftigten bei der Telekom und bei der Post haben große Nachteile in Kauf zu nehmen. Sie haben in großem Umfang ungesicherte Arbeitsplätze in Kauf nehmen müssen. Es kann nicht ernsthaft die Absicht bestehen, dies fortzusetzen. Die Lebensbedingungen der Menschen werden durch die Privatisierung der Bahn erheblich verschlechtert. ({12}) Dies gilt insbesondere für diejenigen in der Bevölkerung, die nicht in Ballungsgebieten wohnen. Es sind keine tiefgehenden Kenntnisse über die Funktionsweise des öffentlichen Nahverkehrs nötig, um zu wissen, was passiert, wenn die Strecken privat betrieben werden. ({13}) Private betreiben Strecken, wenn sie damit wirtschaftliche Gewinne erzielen können. Wenn sich die Strecken nicht rentieren, dann werden sie schlicht und einfach aufgegeben. Das war in den vergangenen Jahrzehnten immer der Fall und wird auch in Zukunft so sein. ({14}) Es ist eine besondere Tragik, dass Sie dieses Programm ankündigen, Herr Bundesverkehrsminister; denn die Stilllegung von Strecken wird in erster Linie in Ostdeutschland erfolgen. Was Sie vorgestellt haben, ist ein Abbauprogramm Ost, um dies in aller Klarheit zu sagen. ({15}) Diese Maßnahme ist im Grunde genommen auch gegen die ökologischen Erfordernisse gerichtet. Es ist eine Tatsache, dass das Schienensystem effizienter und auch unter Energiegesichtspunkten jeder anderen Verkehrsart vorzuziehen ist. Wenn man das Renditedenken in den Vordergrund stellt und wie in den vergangenen Jahren darauf abzielt, möglichst große Gewinne zu erwirtschaften, dann geht das zulasten einer umweltfreundlichen Gestaltung des öffentlichen Nahverkehrs und des Umweltschutzes. ({16}) Diese Logik, die Sie übersehen, veranlasst uns, diese Maßnahme abzulehnen. Wir könnten Sie zwar im Sinne der Parteienkonkurrenz ermuntern, so weiterzumachen - im Sinne der Parteienkonkurrenz freuen wir uns, wenn Sie einen Fehler nach dem anderen begehen -, aber leider trifft das in großem Umfang die Bevölkerung. Das ist der Nachteil. Warum beschließen Sie immer wieder Maßnahmen, die von der großen Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt werden? Sie sind doch Volksvertreter. ({17}) Volksvertretung heißt, dass man den mehrheitlichen Willen der Bevölkerung respektiert, statt ihn systematisch zu ignorieren. ({18}) Auch zwei Drittel der Anhängerschaft von Union und SPD lehnen diese Maßnahme ab. Das alles interessiert Sie aber nicht. Die Gründe, die Sie vortragen, sind mehr als zweifelhaft. ({19}) Diejenigen in der Bevölkerung, die sich mit der Bahnprivatisierung befasst haben, sind als Kunden sicherlich genauso sachkundig wie Sie alle hier; denn sie erleben täglich, was Bahnprivatisierung heißt. Sie erleben es als Beschäftigte und auch als Bewohnerinnen und Bewohner strukturschwacher Gebiete. Die Bahnprivatisierung ist für die Menschen mit großen Nachteilen verbunden. ({20}) Es ist erstaunlich, dass Sie das alles ignorieren können und unbeirrt einen Weg weiterverfolgen wollen, der große Nachteile für die Bevölkerung mit sich bringt. ({21}) - Sie sagen: „ohne Sachverstand“. Der Zuruf zeigt Ihre Arroganz. Sie glauben, Sie hätten die Weisheit gepachtet, und die große Mehrheit der Bevölkerung wisse nicht, worum es geht. Aber Sie irren sich. Sie begehen die Fehler; die Bevölkerung hat in vielen Fragen mehr Durchblick als Sie. ({22}) Manchmal kann man auch von der Entwicklung in anderen Ländern lernen. Es gab schon in England eine Bahnprivatisierung ({23}) - ich kenne die Differenzen -, die vollständig war und bei der man noch blauäugiger in manche Fallen getappt ist, als Sie es nun tun. Aber Sie verkennen mit Ihrem Verweis auf die 49-Prozent-Regelung die Wirkungsweise der Privatisierung, die man schon jetzt im Unternehmen erkennen kann. Privatisierung bedeutet nun einmal Renditesteigerung, die wiederum zur Stilllegung von Strecken und Bahnhöfen sowie zum Abbau der Bedingungen für die Beschäftigten führt. Es ist doch kein Zufall, dass beispielsweise die Lokführer in Deutschland deutlich weniger verdienen als ihre Kollegen in anderen europäischen Ländern. Erklären Sie das doch einmal! Ich fasse zusammen: Wir lehnen die geplante Bahnprivatisierung ab, weil sie schlicht und einfach gegen die Bevölkerung und die Beschäftigten gerichtet ist. ({24})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Winfried Hermann, Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zurück zur Bahnreform. ({0}) Ich möchte an die Ziele der Bahnreform erinnern, wie wir sie 1993 gemeinsam im Bundestag formuliert und beschlossen haben. Der Minister hat eingangs darauf verwiesen, aber einige vergessen. Deswegen zähle ich sie vollständig auf: erstens mehr Verkehr auf die Schiene, zweitens Wahrung des Gemeinwohlauftrags bei Ausbau und Erhalt der Schieneninfrastruktur gemäß Art. 87 e des Grundgesetzes, drittens mehr Wettbewerb, Genosse Lafontaine, viertens Begrenzung der finanziellen Belastung des Bundeshaushaltes, fünftens Stärkung der Wirtschaftlichkeit der Bahn und sechstens klare Trennung von staatlich-hoheitlicher und unternehmerischer Verantwortung. ({1}) Das sind die gemeinsamen Ziele, die der Minister zum großen Teil vergessen hat zu erwähnen. Das ist kein Wunder; denn mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden diese Ziele gar nicht mehr verfolgt. ({2}) Im Gesetzentwurf heißt es unter „Problem und Ziel“: Teilweise Kapitalprivatisierung der Deutsche Bahn AG … So schrumpft das Reformprojekt der Neuorganisation des Eisenbahnwesens auf die teilweise Kapitalprivatisierung der Deutschen Bahn zusammen. Das ist die eigentliche Krux Ihres Vorgehens. ({3}) Ich komme auf die einzelnen Punkte zu sprechen. Mehr Verkehr auf die Schiene: In diesem Punkt muss ich meinen kritischen Vorrednern recht geben. Es handelt sich bei der Entwicklung in den letzten zwölf Jahren nicht nur um eine Erfolgsgeschichte. Vielmehr ist im ländlichen Raum ausgedünnt worden. Strecken und Bahnhöfe wurden stillgelegt. Die Bahn hat mächtig rationalisiert. Das, was nun angeschoben werden soll, hat also schon stattgefunden. Man müsste nun eigentlich vorsichtig sein und darüber nachdenken, wie man eine Bremse einbauen könnte. Wenn man die verschiedenen Strategiepapiere liest, zum Beispiel „Pro Netz“ der Deutschen Bahn, erkennt man, dass das Netz in Zukunft renditelogisch betrieben werden soll. Liebe Kollegen von der SPD, so viel verstehen doch auch Sie von der Marktwirtschaft, um einzusehen, dass, wenn privates Kapital reingeholt wird, auch die Logik des privaten Kapitals verfolgt wird. Sonst müsste man es gar nicht machen. Gerade darin besteht die Gefahr. Wahrung des Gemeinwohlauftrags: Kollege Friedrich hat wortreich ausgeführt, Sie hätten das Eigentum der Bahn entrissen - sie gehört uns übrigens noch -, um es dann für das Volk als Eigentum festzuhalten und den Gemeinwohlauftrag bei der Infrastruktur zu sichern. Alle Kritiker - auch in den Reihen von SPD und CDU/ CSU - sagen in Übereinstimmung mit allen Experten klipp und klar: Wer das Eigentum nur formal hält, es aber wirtschaftlich an die DB abgibt, genauso wie seine Aufsichtsratsposten, wer alle diese Einschränkungen vornimmt, hat nur noch eine leere Hülse in der Hand. Man hat kein Eigentum mehr und hat nichts mehr zu sagen. Das ist die Wahrheit. ({4}) Wörtlich heißt es in der Begründung Ihres Gesetzentwurfs zum wirtschaftlichen Eigentum bei der DB AG: Voraussetzung hierfür ist die Möglichkeit des Mutterunternehmens, - also der DB AG die Finanz- und Geschäftspolitik dieses Unternehmens zu bestimmen, um aus dessen Tätigkeit Nutzen zu ziehen. ({5}) Das ist der eigentliche Zweck dieses Gesetzes. Reden Sie nicht drum herum! Das ist die Wahrheit. Ich bedaure, dass Sie das schönreden wollen, Kollege Friedrich. ({6}) Im Übrigen: Man muss nicht jedem Juristen glauben. Wenn aber eine ganze Batterie von Juristen bei allen Anhörungen immer wieder das Gleiche sagt, dann sollten Sie das ernst nehmen. Mit diesem Entwurf widersprechen Sie den Aufträgen des Grundgesetzes. Wenn alle sagen, dass man es nicht so hinbiegen kann, wie Sie das wollen, dann sollten Sie zumindest anfangen, darüber nachzudenken. Aber das tun Sie nicht. Zur dritten Frage: mehr Wettbewerb auf der Schiene oder - wie man inzwischen sagen muss - National Champion? Ich zitiere aus dem Interview von Minister Tiefensee in Vanity Fair. Dort heißt es auf die Frage nach dem Gewinn der Privatisierung wörtlich: Es gibt … mehr Deutsche Bahn und weniger ausländische Anbieter. Da hat man doch glatt den Eindruck, dass das Ordnungsprinzip „Wettbewerb durch Marktwirtschaft“ zu einem chauvinistischen Begriff verkommt. Darum geht es doch gar nicht. Tatsächlich geht es darum, dass wir den Schienenbereich so organisieren, dass Wettbewerb möglich ist. Genau das wird durch dieses Gesetz völlig vermieden. Kollege Friedrich von der CSU, die formale Abtrennung des Eigentums am Netz ist keine hilfreiche Konstruktion, weil Sie dadurch das öffentliche Eigentum nicht bewahren und weil Sie keinen Wettbewerb im Markt organisieren. Damit führen Sie vielmehr ein verquastes Konstrukt ein. ({7}) Wir Grüne stehen eindeutig zu dem Prinzip „Wettbewerb auf der Schiene“. Wir sagen klipp und klar: Die Infrastruktur, die Schiene, muss in öffentlicher Hand bleiben. So will es auch das Grundgesetz. ({8}) Dort, wo es Wettbewerb gibt, ist man vorangekommen. Das gilt im Bereich des Güterverkehrs und im Bereich des Personennahverkehrs, aber eben genau dort und sonst nirgends. Kommen wir zu einem anderen Punkt, der uns allen wichtig ist, nämlich dem Haushalt. Man ist immer wieder in der Versuchung, zu fragen: Warum machen ausgerechnet Sozialdemokraten so einen miesen Deal? Man muss es noch einmal sagen: Ein Vermögen, das gemäß Ihrem eigenen Änderungsantrag einen Wert von 180 Milliarden Euro hat, verkaufen Sie zur Hälfte für gerade einmal 8 Milliarden Euro. Das reicht noch nicht aus: Zusätzlich versprechen Sie 15 Jahre lang einen jährlichen Beitrag von 2,5 Milliarden Euro. ({9}) Hinzu kommen 1 Milliarde Euro für den Ausbau sowie weitere Milliarden Regionalisierungsmittel. ({10}) Meine Damen und Herren Genossen, ({11}) der eine oder andere von Ihnen kennt noch das Märchen vom Hans im Glück. Wirklich aufgepasst haben Sie schon damals nicht; denn Hans im Glück hatte das Tauschwertprinzip der Marktwirtschaft nicht verstanden. Er hatte nach mehrfachem Tausch am Schluss nichts mehr in der Hand. Das ist sozusagen die Quintessenz des Märchens. - Sie geben auf einen Schlag alles weg. Sie tauschen es weg, schieben den Privaten die Milliarden noch hinterher - das hat Hans im Glück übrigens nicht gemacht - und sagen, das sei ein gutes Geschäft. Wem wollen Sie das eigentlich verkaufen? ({12}) Zum letzten Punkt, der Trennung der staatlich-hoheitlichen Verantwortung von der unternehmerischen Verantwortung. Was machen Sie? Statt einer Trennung machen Sie eine Vermischung. Statt Wahrnehmung der staatlich-hoheitlichen Verantwortung im Bereich Infrastruktur übergeben Sie die Verantwortung an Private und übergeben dies damit der Profitlogik. Sie vermischen konsequent unternehmerische Verantwortung und staatliche Verantwortung. Was ich als Politiker besonders schlimm finde, ist, dass Sie nicht nur dieses Unternehmen verkaufen, sondern die Schienenverkehrspolitik gleich mit. Fazit: Dieses Gesetz hat grundlegende, ja kapitale Mängel. Es ist ein verqueres, paradoxes, grundgesetzwidriges Konstrukt. Es ist ökonomisch und politisch unsinnig. Dadurch wird öffentliches Vermögen verschleudert und weiteres öffentliches Vermögen noch hinterhergeschoben. Das alles tun Sie angeblich im Geiste der Sicherung des Gemeinwohls und der Stärkung des German Champions, der Deutschen Bahn. Sie verpacken dies in schöne Worte. Tatsächlich aber ist das ein Ausverkauf von Politik und Wirtschaft. ({13}) Dieses Gesetz schadet dem Schienenverkehr, es schadet dem Kunden, es schadet der Wirtschaft, es schadet den Ländern und letztendlich auch der Politik. Wir Grünen werden dieser Art von Privatisierung nicht zustimmen. Wir sehen, dass es in den Koalitionsfraktionen erheblichen Widerspruch gibt. Wir freuen uns über diesen Widerspruch und hätten uns mit Ihnen, Kollege Friedrich, gerne auf einen kritisch-konstruktiven Diskurs eingelassen. So war es übrigens auch einmal angekündigt. Dann aber hat Minister Tiefensee mit seinem Haus in engem Schulterschluss mit Herrn Mehdorn einen Gesetzentwurf konstruiert, der der Debatte in diesem Haus überhaupt nicht entspricht. Dieser Gesetzentwurf, dieses verquaste Eigentumssicherungskonzept, ist bis zum heutigen Tag weitergeschoben und als Koalitionsentwurf in den Bundestag eingebracht worden, obwohl die Kritik in Ihren Reihen groß ist, obwohl es erhebliche Bedenken gibt. Wir sind immer noch bereit, konstruktiv mit Ihnen zusammenzuarbeiten und etwas anderes zu beschließen. Dann aber muss es substanzielle Änderungen geben.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Hermann, darf ich Sie an Ihre Redezeit erinnern?

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss. - Es muss sehr viel geändert werden; es geht nicht nur um einige Schönheitskorrekturen. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Klaas Hübner, SPD-Fraktion. ({0})

Klaas Hübner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003559, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn Die Linke in diesem Haus die Erfolgsgeschichte der Bahn platterdings nicht nur infrage stellt, sondern schlicht verleugnet, tut sie den 230 000 Beschäftigten, die exzellent gearbeitet haben in den letzten Jahren, absolut unrecht. Es ist nicht in Ordnung, was Sie machen. Wir sind stolz auf das, was die Beschäftigten geleistet haben. Es ist in der Tat eine Erfolgsgeschichte, die nur zusammen mit den Beschäftigten der Deutschen Bahn AG entstehen konnte. Wir sagen an dieser Stelle Dank an alle Beschäftigten! ({0}) Des Weiteren wird gesagt, wir würden das Schienennetz verkaufen. Das ist schlicht falsch. Dieser Gesetzentwurf besagt etwas anderes. Momentan ist die Situation so, dass wir Eigentum an der DB AG haben und die DB AG Eigentümerin des Schienennetzes ist. Kurzum: Der Bund hat mittelbares Eigentum. Mit diesem Gesetz verschaffen wir uns unmittelbares Eigentum, ({1}) indem der Bund die Eisenbahninfrastrukturunternehmungen direkt übernimmt. Da wir aber wissen, dass die Bewirtschaftung dieses Netzes nichts ist, was der Bund heute leisten kann, dass wir dafür Experten brauchen, die es bewirtschaften und betreiben, überlassen wir der DB AG die Bewirtschaftung. Das ist die Situation. Hören Sie also auf, so zu tun, als würden wir das Schienennetz verkaufen! Das ist schlicht nicht wahr. ({2}) Mit der sogenannten Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung leiten wir einen Paradigmenwechsel ein. Bisher ist es so, dass wir kontrollieren und festlegen, wo instand gehalten und wo ausgebaut wird. Aber wir haben keine Übersicht über die Qualität des Gesamtnetzes. Mit der neuen Konzeption werden wir eine outputorientierte Betrachtung einführen. Wir legen fest, dass die Bahn die Qualität des Netzes erhalten muss. Wir überprüfen das jedes Jahr durch entsprechende Messfahrten und werden die Bahn, wenn sie gefehlt hat, wenn sie bei Regionaloder Fernnetzen die entsprechende Qualität nicht erreicht hat, pönalisieren. Das heißt, sie muss eine Strafe dafür bezahlen. ({3}) Wir messen den Output, also ob die entsprechende Qualität vorhanden ist, und nicht mehr den Input. Es ist ein positiver Paradigmenwechsel, der in diesem Gesetzentwurf vorgesehen ist.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Frau Kollegin Menzner würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Klaas Hübner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003559, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, vielen Dank, keine Zwischenfrage. Außerdem war uns Sozialdemokraten ein starker, integrierter Konzern sehr wichtig; denn nur so ist es möglich, den konzerninternen Arbeitsmarkt zu erhalten. ({0}) Das ist eine ganz wichtige Forderung, die wir im Sinne der Beschäftigten der Deutschen Bahn AG in den Koalitionsverhandlungen durchgesetzt haben. Darauf sind wir stolz. Oft wird die Befürchtung geäußert, dass regionale Strecken stillgelegt werden könnten. Die Wahrheit ist aber, dass die Länder mit den Regionalisierungsmitteln, die der Bund ihnen zur Verfügung stellt, schon heute selber die Verkehre bestellen. Die regionalen Verkehre sind bereits regionalisiert. Mit der Privatisierung hat das gar nichts zu tun. Die Länder können selber entscheiden, wie und bei wem sie Verkehr bestellen: ob sie ausschreiben, ob sie sich an die DB AG oder an einen der anderen Anbieter wenden. Hören Sie doch auf, den Leuten hier etwas zu erzählen, was schlicht nicht wahr ist! Halten Sie sich doch einmal an den Gesetzestext! Zu einer seriösen Politik gehört es doch, den Gesetzestext zu lesen, oder nicht? ({1}) Ich möchte noch etwas zu den Streckenstilllegungen sagen. Schon heute ist es so, dass die DB AG selber gar keine Möglichkeit hat, eine Strecke stillzulegen. Wenn überhaupt etwas passiert, dann Folgendes: Wenn die DB AG eine Strecke nicht mehr befahren möchte, dann teilt sie das dem Eisenbahn-Bundesamt mit; sie meldet sich dort sozusagen ab. Das Eisenbahn-Bundesamt wird diese Strecke dann ausschreiben. Jeder Anbieter, der diese Strecke auf eigenes Risiko befahren will, bekommt die Möglichkeit, das zu tun. Wenn dann nur ein einziger Anbieter sein Interesse bekundet, darf diese Strecke - das gilt schon heute - gar nicht stillgelegt werden. Kurzum: Alles, was Sie bezüglich möglicher Streckenstilllegungen durch die Privatisierung sagen, ist blanker Unsinn. Das eine hat mit dem anderen überhaupt nichts zu tun. ({2}) Ich möchte noch auf das eingehen, was die Kollegen von der FDP und von den Grünen, die ja die Trennung favorisieren, gesagt haben. ({3}) Sie müssen konzedieren: Wenn man die Trennung schon heute vornehmen würde, dann wäre sofort ein Wertausgleich von 7,5 Milliarden Euro fällig. ({4}) Dabei geht es um in die Infrastruktur geflossene Gelder, die nicht aus Steuermitteln stammen, sondern von der DB AG erwirtschaftet worden sind; es sind also Eigenmittel der DB AG, die ihr ersetzt werden müssten. Auch das ist die Wahrheit. ({5}) - Selbstverständlich. Das sind die Gewinne der DB AG. Sprechen Sie also nicht nur davon, dass nach unserem Modell am Ende ein Wertausgleich fällig wird! Nach Ihrem Modell wäre er sofort fällig. ({6}) Die Teilprivatisierung der Deutschen Bahn ist meines Erachtens deswegen notwendig, weil wir es in Deutschland mit enorm wachsenden Logistikmärkten zu tun haben. Das ist insgesamt ein wichtiger Schlüssel für das wirtschaftliche Wachstum in Deutschland. Angesichts dessen, dass die Güterverkehrsmärkte seit dem 1. Januar dieses Jahres offen sind und dass die Personenverkehrsmärkte ab dem 1. Oktober 2010 europaweit geöffnet werden, sollten wir ein Interesse daran haben - egal was wir machen, wir werden immer Mehrheitseigentümer der Bahn sein -, dass die Deutsche Bahn AG in der Lage ist, mit den anderen Wettbewerbern mitzuhalten. Dazu muss sie investieren, auch in ihre Züge, in rollendes Material, und dazu braucht sie Mittel. Diese Mittel wollen wir ihr dadurch verschaffen, dass wir einen Teil der DB AG privatisieren. Damit versetzen wir die DB AG in die Lage, wettbewerbsfähig zu sein und mitzuwachsen. Das ist die Grundvoraussetzung dafür, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Linken, dass die Beschäftigungsverhältnisse gesichert bleiben. Eine nicht marktfähige DB AG wird ihren Beschäftigten keine Perspektive auf einen gesicherten Arbeitsplatz geben können. Darum ist das, was wir tun, im Sinne der Beschäftigten und nicht gegen sie gerichtet. ({7}) Ich glaube, wir haben eine riesige Chance, die DB AG deutlich zu stärken. Ich halte es für sinnvoll - übrigens auch unter ökonomischen Gesichtspunkten -, dass sie ein integrierter Konzern bleibt. Auf den wachsenden Logistikmärkten werden heute zum Beispiel von denjenigen, die Waren exportieren, Teilstrecken nicht mehr nachgefragt. Wenn etwa eine Firma aus Hamburg etwas exportieren will, dann wird sie nicht erst einen Schienenverkehr, dann einen Schiffsverkehr und danach einen Flugverkehr bestellen. Sie sucht sich vielmehr einen Spediteur, einen Logistiker, der die Ware abholt und zum Bestimmungsort bringt, selbst wenn der in China ist. ({8}) Dazu wird die Bahn als integrierter Konzern in der Lage sein. Das hat einen besonders positiven Effekt: Weil es ihr Kerngeschäft ist, wird die Bahn AG versuchen, die Ware auf der Schiene zu transportieren. Das ist ökologisch sinnvoll und von uns gewollt. ({9}) Darum brauchen wir eine starke, integrierte Deutsche Bahn AG. Sie wissen, dass der vorliegende Gesetzentwurf nicht festlegt, in welcher Form private Anleger zu beteiligen sind. Darüber gibt es auch in meiner Partei eine Diskussion. Wir werden darüber diskutieren, was sinnvoll ist. Es gibt verschiedene Möglichkeiten: Wir können private Anleger zum Beispiel über Stammaktien direkt beteiligen; uns ist auch das Modell der Volksaktie vorgelegt worden. Über all das wird unsere Fraktion sehr offen und ernsthaft diskutieren. Dabei werden wir uns an folgenden drei Kriterien orientieren: Erstens. Es muss sichergestellt sein, dass der Einfluss des Bundes auf die Bahn und vor allem auf das Schienennetz gesichert ist. Zweitens. Es muss gewährleistet sein, dass die Beschäftigten sichere Arbeitsplätze haben. Drittens. Gewährleistet muss auch sein, dass die DB AG finanziell gestärkt wird. Ich persönlich glaube, dass wir auf einem guten und richtigen Weg sind. Die Koalition weiß, was sie an dieser Stelle will. Wir wollen eine starke Bahn. ({10}) Wir wollen eine Bürgerbahn. Das heißt, wir wollen eine moderne Bahn. Ich kann Sie nur bitten, daran mitzuwirken. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort zu einer Kurzintervention der Kollegin Menzner. Sie, Herr Kollege Hübner, können dann darauf antworten.

Dorothee Menzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003808, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Kollege Hübner, Sie haben eben ausführlich dargelegt, wieso Sie glauben, dass die Teilprivatisierung uns als Parlament mehr Möglichkeiten gibt, zu kontrollieren, in welchem Zustand das Schienennetz ist. Damit haben Sie implizit auch deutlich gemacht, dass wir als Vertreter des Eigentümers schon jetzt nur minimale Möglichkeiten haben, das Ganze zu kontrollieren. Ich möchte einmal wissen, woher Sie die Hoffnung nehmen, dass wir mehr Einfluss und mehr Kontrollmöglichkeiten haben, wenn uns nur noch die Hälfte gehört. Sie haben dann ausgeführt, dass die Bahn investieren müsse. Insofern haben wir noch nicht einmal einen Dissens. Wenn wir uns die Zahlen und die Geschäftspraktiken der letzten Jahre anschauen, stellen wir fest: Die DB AG hat im Wesentlichen nicht in Wagen, nicht in Güterwagen, nicht ins Netz in Deutschland investiert. Zu nennen sind statt dessen Bax Global, Aufrüstung der Transsib, chinesische Containerterminals etc. Das ist nicht das, was der Steuerzahler, der Bürger von der Bahn erwartet. ({0}) Er will hier von A nach B kommen - zu vernünftigen Preisen, in einem vernünftigen Takt. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Hübner.

Klaas Hübner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003559, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Menzner, noch einmal: Was Sie sagen, ist doch schlicht falsch. Das Schienennetz wird nicht verkauft, ({0}) sondern verbleibt beim Bund. Nehmen Sie das doch einfach einmal zur Kenntnis! Lesen Sie das Gesetz! Lektüre hilft manchmal. Lesen bildet. Das macht Sinn. ({1}) Richtig ist auch, dass die DB AG in den letzten Jahren sehr viel investiert hat, gerade in das rollende Material. Denken Sie an die modernen ICE-Züge! Warum ist die Qualität besser geworden? Warum hat sich die Qualität für Fahrer und Fahrgäste verbessert? ({2}) Weil dort investiert worden ist! Das können Sie doch nicht einfach negieren. Die Realität ist auch: Die Märkte werden weiter wachsen. Meine Fraktion und ich möchten gern, dass die DB AG mitwachsen kann und dass wir sie dafür entsprechend ausstatten können. Das ist in meinen Augen auch im Sinne der Beschäftigten und im nationalen Interesse. Für die Öffentlichkeit sage ich noch einmal ganz klar: Erstens. Das Schienennetz wird nicht verkauft. Es bleibt dauerhaft beim Bund. Zweitens. Wir wollen eine starke Bahn haben. Dazu müssen wir sie finanziell so ausstatten, dass sie mitwachsen kann. Darum sind wir hiermit auf einem sehr guten Weg. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Dirk Fischer, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Gesetzentwurf zur Neuordnung der Eisenbahnen des Bundes wird das wichtigste verkehrspolitische Gesetzgebungsvorhaben der Großen Koalition auf den Weg gebracht. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion will die Kapitalprivatisierung der Deutschen Bahn AG, aber unter akzeptablen Rahmenbedingungen. ({0}) Entscheidend ist, dass der Bund auf Dauer Eigentümer der Infrastruktur bleibt. Dazu gehören völlig unstreitig: Netz, Bahnhöfe und Energieversorgung. Nur so wird der Bund seiner Infrastrukturverantwortung gerecht, und der Gesetzgeber behält für die Zukunft Gestaltungsoptionen. Der Deutsche Bundestag hat am 24. November 2006 beschlossen, dass die Infrastruktur nicht an den Kapitalmarkt gebracht wird, sondern frei von juristischen Risiken dauerhaft im Eigentum des Bundes verbleibt. Der Gesetzentwurf sieht nunmehr ein Modell vor, in dem das juristische und wirtschaftliche Eigentum für einen befristeten Bewirtschaftungszeitraum aufgespalten wird und dem Bund für diesen Zeitraum die Gesellschaftsanteile an den Eisenbahninfrastrukturunternehmen zur Sicherheit übereignet werden müssen. Die Union ist bereit, das vorliegende Modell als Übergangsmodell zu akzeptieren. Dieses Sicherungseigentum ohne eigentumsrechtliche Gestaltungsbefugnis des Eigentümers endet nach Ablauf des im Gesetz geregelten Bewirtschaftungszeitraums. Danach hat der Bund das uneingeschränkte Eigentum und ist völlig frei, per Gesetz über die weitere Zukunft der Infrastruktur zu entscheiden. Der Bund ist dann verpflichtet, der DB AG ei12010 Dirk Fischer ({1}) nen Wertausgleich in Höhe des bilanziellen Eigenkapitals der Infrastrukturgesellschaften zu zahlen; das wären per 31. Dezember 2006 etwa 7,5 Milliarden Euro gewesen. Aus der Sicht der CDU/CSU-Fraktion müssen im Gesetzgebungsverfahren aber noch einige Änderungen und Ergänzungen im Gesetzentwurf erfolgen. Dem Gesetzgeber dürfen keinerlei Vorgaben gemacht werden, wie er nach Ablauf des Bewirtschaftungszeitraums mit seinem Eigentum verfährt. Deswegen sind die in Art. 2 § 5 des Gesetzentwurfs enthaltenen Handlungsalternativen ersatzlos zu streichen. Die Infrastrukturverantwortung des Staates muss im Gesetzentwurf gestärkt werden. Der Bund muss für die vom Gesetzgeber beschlossenen vordringlichen Bedarfsplanmaßnahmen ein Durchsetzungsrecht erhalten. Das haben wir übrigens schon im letzten November beschlossen; es steht nur noch nicht im Gesetzentwurf. ({2}) Hier müssen Konflikte zwischen der Infrastrukturverantwortung des Staates sowie den betriebswirtschaftlichen Interessen der DB AG einerseits und ihrer Wettbewerber andererseits verhindert werden. Die heutige Netzqualität, für die der Bund teuer bezahlt, muss gesichert werden. In einem fortzuschreibenden Netzzustandsbericht muss diese objektiv, das heißt extern, evaluiert werden. ({3}) Auch das haben wir übrigens im letzten November beschlossen; es steht aber noch nicht im Gesetzentwurf. ({4}) Vor der Verabschiedung des Gesetzes muss dem Deutschen Bundestag eine unterschriftsreife Leistungsund Finanzierungsvereinbarung vorliegen. ({5}) Diese muss vor einer materiellen Privatisierung, wie vom PRIMON-Gutachten empfohlen, in einem einjährigen Echtbetrieb erprobt und gegebenenfalls an die Erfahrungen angepasst werden. ({6}) Denn nur so hat der Bund die nötigen Informationen und Möglichkeiten, um Änderungen an der LuFV tatsächlich durchzusetzen, und zwar bevor die Kapitalprivatisierung stattfindet. ({7}) Die LuFV regelt die gegenseitigen Rechte und Pflichten zur Aufrechterhaltung eines betriebsbereiten Schienennetzes und dessen Finanzierung über einen sehr langen Zeitraum. Sie ist daher von entscheidender Bedeutung für den Erfolg der Privatisierung und die Sicherung der Infrastrukturqualität. Die im Gesetzentwurf vorgesehene Laufzeit des Bewirtschaftungszeitraums - der Kollege Hans-Peter Friedrich hat es schon gesagt - und damit der Sicherungsübertragung von 18 Jahren ist zu lang und muss verkürzt werden. Der Bund muss in einem überschaubaren Zeitraum ohne Wenn und Aber über sein Eigentum verfügen können. Für mehr Wettbewerb auf der Schiene müssen die Rechte der Regulierungsbehörde gestärkt werden. Die Bundesnetzagentur muss in der Lage sein, Trassenentgelte zu verhindern, die einseitig die Wettbewerber der DB AG belasten und die sich nicht an den Kosten einer effizienten Leistungserstellung orientieren. ({8}) Auch sollte eine Anreizregulierung eingeführt werden. Bei all diesen Punkten handelt es sich aus der Sicht der Union um unverzichtbare Kernforderungen. ({9}) Mit der jetzigen Reform werden die Kontroll-, Zustimmungs- und Genehmigungsrechte des Bundes gegenüber der DB AG deutlich verbessert. Das ist erfreulich. Aber es bringt in der Sache nur etwas, wenn der ernsthafte Wille zu einer effizienteren Wahrnehmung der Rechte des Bundes, an der es in der Vergangenheit oft gemangelt hat, besteht. Das ist nur mit einer Personalausstattung möglich, die nach Zahl und Qualifikation der der DB AG ebenbürtig ist. Bundesminister Tiefensee hat für die Bundesregierung in unseren Verhandlungen dem Deutschen Bundestag zugesagt, dass das ausgehandelte Privatisierungskonzept vor dem konkreten Kapitalmarkteintritt dem Deutschen Bundestag zur Prüfung und Zustimmung vorgelegt werden muss. Das haben wir bereits in unseren Beschlüssen vom letzten November in der Form festgelegt, dass das Konzept dem Parlament darzulegen ist, damit es entscheiden kann, ob das konkrete Geschäft aus seiner Sicht vernünftig und verantwortbar sowie aus der Sicht des Bundes auch werthaltig ist. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, mit diesen Prämissen tritt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion konstruktiv in das Gesetzgebungsverfahren ein. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Uwe Beckmeyer, SPD-Fraktion. ({0})

Uwe Beckmeyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003498, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir sind mitten in der Debatte; sie hat nicht erst gestern angefangen, sondern hat bereits einen Vorlauf von einigen Jahren. Diejenigen, die sich mit dem Thema Bahnreform näher beschäftigt haben, wissen, dass wir von Positionen unterschiedlicher Art kommen, die sehr weit auseinanderliegen. Die unterschiedlichen Positionen kann man folgendermaßen kennzeichnen: Erstens. Es gibt Kräfte in der Republik, die die Lasten, die bei der Bahn entstehen, möglichst der Bundesrepublik Deutschland auferlegen wollen, während sie den anderen Teil, mit dem man Geld verdienen kann, privatisieren möchten. Dies ist für die Sozialdemokratie nicht akzeptabel. Daher haben wir uns in den vergangenen Jahren sehr intensiv darum bemüht, festzustellen, in welcher Form es gelingen kann, einen solchen Anspruch abzuwehren. Als ich vorhin dazwischengerufen habe, es gebe hier in diesem Hause einige Ackermann-Jünger, meinte ich damit diejenigen, die genau dieses Modell praktizieren wollen: Sie wollen bis zu 100 Prozent der Eisenbahnunternehmen, die die Infrastruktur nutzen, privatisieren, um das Geld zu verdienen, das wir dringend brauchen, um Eisenbahn in Deutschland überhaupt möglich werden zu lassen. Daher muss man aufpassen, dass man bei der jetzigen Debatte nicht in alte Schablonen und alte Ziele verfällt. Warum hat dieses Gesetz einen wichtigen Teil, der „Sicherungsübertragung“ heißt? Mit der Sicherungsübertragung wird in diesem Gesetz ein wichtiges Ziel umgesetzt, nämlich den Zugriff von privaten Investoren auf die Infrastruktur der Eisenbahnen in Deutschland zu verhindern. Die Sicherungsübertragung ist also das zentrale Element, mit dem wir ein wesentliches Ziel dieses Gesetzes erreichen. Zweitens. Wir haben es bei der DB AG seit der ersten Bahnreform mit einer Aktiengesellschaft zu tun. Trotz der hundertprozentigen Eigentümerschaft des Bundes an den Aktien gilt für diese Gesellschaft das Aktienrecht, und dieses Recht schlägt durch. Darum ist das, was Klaas Hübner vorhin gesagt hat, richtig: Bei einer Trennung ist sofort eine entsprechende Zahlung fällig. Wenn Sie darauf verzichten, entsteht eine Aktiengesellschaft ohne Eigenkapital, die sofort umfällt. Dies bedeutet, der Finanzminister müsste sofort zahlen. Das hätte zur Konsequenz, dass alle in diesem Hause bestehenden Trennungsideen sofort ein enormes Haushaltsdesaster auslösen würden. ({0}) - Doch, das stimmt. Drittens. Was treibt die sozialdemokratische Partei und Fraktion aktuell in der Diskussion an? Wir müssen und wollen den Bürgerinnen und Bürgern deutlich machen, dass wir kein Interesse daran haben, dass „Gasproms“, irgendwelche russischen Staatsbahnen, Scheichs oder Ähnliche Zugriff auf die Deutsche Bahn bzw. auf ihre Infrastruktur bekommen. Das wollen und das werden wir vermeiden; das sage ich an dieser Stelle ganz deutlich. ({1}) Wir haben Diskussionen zu führen, und der Kollege Fischer von der christdemokratischen Union hat hier ebenfalls deutlich gemacht, dass in dieser Angelegenheit im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens beide Fraktionen der Koalition einen Diskussionsbedarf sehen. Bei uns gibt es einen solchen Diskussionsbedarf. Sie wissen, dass innerhalb des SPD-Parteivorstandes das Volksaktienmodell angesprochen worden ist. Wir müssen uns darüber unterhalten, wie ein solches Volksaktienmodell auszugestalten ist, ob man entsprechende Renditegarantien geben kann und ob das ökonomisch sinnvoll ist. ({2}) - Es gibt auch noch andere Modelle für Volksaktien, die durchaus denkbar sind. Sie haben aber alle einen Kern, und zwar die Sicherung von Infrastrukturen. Ich glaube, das ist ernst zu nehmen. Wir werden im Laufe des Beratungsgangs sehr ausführlich und intensiv diskutieren, um unser Ziel zu erreichen. Das private Kapital soll dorthin fließen, wo es sinnvoll ist, und zwar zu den Eisenbahnverkehrsunternehmen, die ihren Betrieb auf der vorhandenen Infrastruktur vornehmen und die keinen Zugriff auf die 130 oder 180 Milliarden Euro Volksvermögen des Netzes haben. Die Operation ist doch deswegen zur Jahresmitte erfolgt, damit sämtliche Immobilien, die bei der Holding lagen, auf die Eisenbahninfrastrukturunternehmen konzentriert werden. ({3}) Bei der Holding ist so gut wie nichts mehr übriggeblieben, abgesehen vom Kaiserbahnhof in Potsdam, in dem sich eine Schulungsstätte befindet. Alles andere ist auf die Infrastrukturunternehmen verteilt worden und in ihr Eigentum übergegangen. ({4}) Das ist Inhalt des Gründungsgesetzes. Endlich ist es vollzogen worden. Die Koalitionsfraktionen haben großen Wert darauf gelegt, dass das geschieht. Ein weiterer Punkt: In diesem Gesetz ist zum ersten Mal in Deutschland eine Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung gesetzlich verankert. Der Bund zahlt aufgrund des grundgesetzlichen Auftrags Geld an die Länder, und zwar 6,7 Milliarden Euro, aufwachsend 2009 um 1,5 Prozent, für Regionalverkehre. Damit bestellen die Länder in der Fläche eigenverantwortlich, das heißt, sie müssen den Bund nicht fragen. Darüber hinaus geben wir jährlich 2,5 Milliarden Euro direkt für die Sicherung und für den Unterhalt des Netzes aus. Das wird der Bund aufgrund der grundgesetzlichen Bestimmungen auch zukünftig leisten müssen. Dabei handelt es sich nicht um eine Morgengabe an die DB AG; das Grundgesetz verpflichtet den Bund vielmehr zur Versorgung der Schienenverkehre in Deutschland. Die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung beschreibt die Leistungen, die wir von der Bahn erwarten, sowie den Finanzierungsanteil des Bundes. Dieser Finanzierungsanteil wird durch einen Netzzustandsbericht, den wir jährlich im Plenum oder in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages diskutieren werden, zum ersten Mal überprüfbar. So etwas gab es bisher nicht in Deutschland. Eine solche Überprüfbarkeit wird zukünftig aufgrund dieses Gesetzes bestehen. Das ist ein Umstand, der uns zum ersten Mal in die Lage versetzt, nachzuprüfen, was denn mit dem vielen Geld, das die DB AG vom Bund erhält, passiert. Wir verbessern die Situation der parlamentarischen Kontrolle von null auf hundert; darauf muss an dieser Stelle einmal hingewiesen werden. ({5}) Zum Wettbewerb: Zurzeit sind in Deutschland für die 36 000 Kilometer Netz, die es 2006 gab, 361 Eisenbahnverkehrsunternehmen eingetragen. In der Tat sind nach der Wende in erheblichem Umfang Streckenstilllegungen erfolgt. Das lag aber auch daran, dass es in der DDR keine andere Nahverkehrsversorgung gab. Aber von 2005 auf 2006 sind in Deutschland nach Absprache mit den Ländern und mit dem Eisenbahn-Bundesamt lediglich 100 Kilometer stillgelegt worden. Dazu haben alle Beteiligten genickt.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege!

Uwe Beckmeyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003498, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Beckmeyer, Ihre Redezeit ist zwar überschritten, aber Herr Kollege Seifert hatte schon vor Ende Ihrer Redezeit eine Zwischenfrage angemeldet. Ich würde sie gerne zulassen, wenn Sie dazu bereit sind.

Uwe Beckmeyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003498, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der Kollege Seifert ist sehr geschätzt, aber ich möchte meinen Gedanken zu Ende bringen und schlage ihm vor, dass er mit mir im Verkehrsausschuss über sein Anliegen spricht. Ich komme zu meinem letzten Punkt. Wir haben bei den Eisenbahnversorgungsunternehmen den Wettbewerb klar im Auge. Gemeinsam mit der Regulierungsbehörde und dem Netzbeirat werden wir den Wettbewerb stärken. Vieles wird in Zukunft aufgrund dieses Gesetzes besser: Die Sicherheit wird erhöht, es erfolgt eine Sicherungsübertragung der Immobilien und der entsprechenden Infrastruktur, es wird auch zukünftig eine klare Aussage hinsichtlich der Regionalisierungsmittel getroffen, und darüber hinaus haben wir einen verbesserten Wettbewerb zu erwarten.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, jetzt müssen Sie aber zum Schluss kommen.

Uwe Beckmeyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003498, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. - Wenn ich das alles resümiere, kann ich nur Folgendes sagen: Die Vorteile des Gesetzes sind augenscheinlich vorhanden. Wir werden es in den Beratungen bis zur zweiten und dritten Lesung mit den Vorschlägen der SPD und der CDU/CSU noch weiter verbessern können. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich erteile das Wort dem Kollegen Döring zu einer Kurzintervention.

Patrick Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003748, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Lieber, geschätzter Kollege Beckmeyer, ich will auf zwei Punkte eingehen. Sie haben zunächst behauptet, das Trennungsmodell sei sofort haushaltswirksam. Diese Aussage impliziert Ihre Bewertung, dass ein Teilverkauf von Schenker, Bax Global, Railion und anderen Unternehmensteilen - all diese sind ja zurzeit zu 100 Prozent Eigentum des Bundes - zu geringeren Erlösen als 7,5 Milliarden Euro führen würde. Wenn das Ihre Annahme ist, dann wird die Vorstellung umso skurriler, dass der Bund, wenn ein Anteil von 49 Prozent an allen Unternehmensteilen veräußert würde, noch weniger - dies wird im Gesetzentwurf so angenommen - erlösen wird. Deshalb werden diese 7,5 Milliarden Euro bei einer sofortigen Trennung zwar fällig, aber nicht im Rahmen des Bundeshaushaltes, sondern im Rahmen der Erlöse, die der Eigentümer Bund deshalb erhalten kann, weil er bestimmte Anteile an einzelnen Unternehmen, die ihm heute zu 100 Prozent gehören, verkauft. Das ist der Privatisierungsweg, den der Kollege Friedrich angesprochen hat. ({0}) Eine zweite Bemerkung. Sie haben gesagt: Die Sozialdemokraten wollten verhindern, dass russische Staatsfonds und russische Staatsbahnen Teileigentümer der DB AG werden. Sie sollten sich einmal überlegen, was Sie wollen. Der Bundesverkehrsminister möchte - auch Herr Hübner hat dies angesprochen - eine international erfolgreiche, wettbewerbsfähige Bahn. Ich frage mich, wie man als Mitglied dieses Hauses sagen kann: Wir wollen auf der einen Seite weiter mit 51 Prozent an einem Unternehmen beteiligt sein, das sich bei der Bahn in Schottland und in Slowenien einkauft und in Prag den Nahverkehr organisiert, und wir wollen auf der anderen Seite Unternehmen in der Welt verbieten, sich an unserer Bahn zu beteiligen. - Das, geschätzter Kollege, passt nicht zusammen. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Beckmeyer, Sie haben das Wort.

Uwe Beckmeyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003498, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin, herzlichen Dank. ({0}) - Nein, sprachlos bin ich überhaupt nicht, nur ein bisschen nachdenklich hinsichtlich des Gehaltes dieser Kurzintervention. ({1}) Erstens. Bei einer entsprechenden sofortigen Aufspaltung des Unternehmens hätten Sie eine DB AG ohne Eigenkapital. Eine DB AG ohne Eigenkapital fällt sofort um. Das bedeutet, der Bund als 100-prozentiger Gesellschafter ist gehalten, sofort Geld nachzuschießen. Das bedeutet, bei einer Trennung fließt sofort Geld, und zwar in der Höhe des Eigenkapitals, das notwendig ist, um die Bilanz im Gleichgewicht zu halten. Das heißt, 7,5 Milliarden Euro werden fällig. Da können Sie die Wurst drehen, wie Sie wollen. Sie bekommen das dritte Ende nicht in die Hand. ({2}) - Es gibt kein drittes Ende. Das haben jetzt auch Sie gemerkt. Sie sind ja ein Schnellmerker, Herr Friedrich. ({3}) Zweitens zu dem, was wir im Zusammenhang mit einer Beteiligung erreichen können. Es geht hier um einen Börsengang - entweder in Form einer Volksaktie oder in Form einer Variante der Volksaktie; darüber muss man nachdenken. Es geht aus meiner Sicht zum einen nicht darum, irgendwelche Strategen zu uns zu bitten. Die werden nämlich versuchen, uns in die Suppe zu spucken; da kommt kein Geldfluss zustande. Zum anderen sollten an der DB keine Unternehmen beteiligt werden, von denen das deutsche Volk glaubt, dass sie am Ende die Deutsche Bahn majorisieren und diese fremdbestimmt wird. Der zentrale Punkt ist: Wir wollen eine ganz normale börsenorientierte Öffnung derjenigen Unternehmen, die zur Bahn gehören. Dafür ist, so denke ich, die Holding geeignet. Es gibt inzwischen börsenorientierte Gesellschaften, die dies durchaus im Auge haben. Insofern sollten wir das Projekt in der Öffentlichkeit nicht mit bestimmten Begrifflichkeiten dämonisieren. Ein solcher Börsengang ist ein ganz normales Geschäft. Wichtig ist nur, dass wir das Gesetz im Hinblick auf die Sicherung unseres Volksvermögens so ausgestalten, dass daran keiner rütteln kann. Ich möchte keinen Zugriff von Investoren auf die Infrastruktur der Bahn. Der Gesetzentwurf in der vorliegenden Form ist ein Garant dafür. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Friedrich, ich würde gerne das Wort dem Kollegen Enak Ferlemann geben, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Enak Ferlemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003525, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank. - Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte den Eindruck, das könnte ein recht langweiliger Vormittag werden. Herr Friedrich, ich war ganz enttäuscht, wie wenig Kritik Sie für die FDP geäußert haben. Ich hatte den Eindruck, die FDP könnte am Ende der Debatte noch zustimmen. Der Kollege Döring hat diesen Eindruck aber ein wenig aufgelockert. Von daher ist es nun doch noch eine recht spannende Debatte geworden. Ich bin dem Kollegen Hübner dankbar dafür, dass er einiges von dem, was in den letzten Tagen an Irrungen und Wirrungen durch die Medien gegeistert ist, klargestellt hat. Warum machen wir eine Privatisierung der Deutschen Bahn? Wir machen das, weil wir eine Europäisierung des Eisenbahnverkehrs haben, und zwar schon seit dem 1. Januar dieses Jahres. Der Güterfernverkehr in ganz Europa wurde freigegeben. Die Bürgerinnen und Bürger merken, dass deutlich mehr Güterfernverkehr auf den Gleisen ist. Das werden wir ab dem 1. Januar 2010 auch im Personenfernverkehr erleben. Die Bahn AG braucht Geld für Investitionen, um, Herr Kollege Döring, ein europäischer Player werden zu können. Die Bahn AG soll auf diesem Feld nicht nur ein Global Player, sondern auch ein europäischer Player sein. Darauf sind wir stolz. Wir möchten das aber nicht mit Staatskapital finanzieren, sondern mit Privatkapital. Es stellt sich die Frage, wie man das organisiert. Einige sind für ein striktes Trennungsmodell. Sie sagen, dass Netz und Betrieb ganz klar getrennt werden müssen, weil der Wettbewerb so am besten zu organisieren sei. Dieser Auffassung bin ich dem Grundsatz nach auch. ({0}) Einige bevorzugen ein Integrationsmodell. Sie sagen, dass nur ein integrierter Konzern das Maximum an Leistung aus dem Netz herausholen kann. Der Minister hat uns einen Kompromiss vorgeschlagen, das sogenannte Eigentumssicherungsmodell: Das Netz bleibt juristisch beim Bund - das ist die Forderung derjenigen, die trennen wollen -, das wirtschaftliche Eigentum geht aber auf die Bahn über, die 15 Jahre in einem integrierten Betrieb wirtschaften kann. ({1}) Nun müssen wir schauen, ob dieses Modell erstens dem EU-Recht standhält - darüber ist hier überhaupt noch nicht diskutiert worden; dass die Europäische Kommission unser Modell befürwortet, ist aber die Grundvoraussetzung -, zweitens verfassungskonform ist und drittens das internationale Bilanzrecht einhält. ({2}) Das, was wir machen, ist ein Versuch. Das ist eine - so sage ich es einmal - Rechtskonstruktion sui generis, die es in dieser Form in Deutschland und, soweit ich weiß, in Europa noch nicht gibt. Wir probieren hier etwas aus, was innovativ ist; das kann man anders nicht beschreiben. ({3}) Gleichwohl gibt es seitens der Bundesländer erhebliche Kritik. Ich kenne das Protokoll der Länderministerkonferenz, in dem erhebliche Bedenken zu vielen verschiedenen Bereichen geäußert werden. Wir werden uns dazu äußern müssen. Es gibt Kritik von Verbänden, von Bürgerinnen und Bürgern, und natürlich wird auf den Parteitagen Kritik geäußert werden; da bin ich mir recht sicher. Aus diesen Bedenken ergibt sich ein Forderungskatalog. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat einen solchen Forderungskatalog aufgestellt. Der Kollege Dirk Fischer hat in beeindruckender Weise die Kernvoraussetzungen dargestellt, die unseres Erachtens erfüllt sein müssen, damit dieses innovative Eigentumssicherungsmodell zum Erfolg geführt werden kann. ({4}) Sehr verehrter Herr Minister, ich kann Ihnen nicht ersparen, zu sagen, dass ich enttäuscht darüber bin, dass Sie zu Beginn dieser Debatte weder einen vernünftigen Netzzustandsbericht, geschweige denn einen Netzentwicklungsbericht vorgelegt haben und es keine Sicherungsübereignung gibt. Wir brauchen diesen Vertrag, von dem eben schon die Rede war. Er ist die Voraussetzung dafür, dass wir unser Eigentum sichern können. ({5}) Außerdem - das ist wohl der größte Mangel - liegt keine Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung vor. Ich weiß, dass Ihr Haus seit zweieinhalb Jahren mit der DB AG darüber verhandelt, wie diese Vereinbarung ausgestaltet werden soll. Sie erwarten von uns, dass wir diesem Gesetzentwurf zustimmen, obwohl wir einen wesentlichen Bestandteil, die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung, noch gar nicht kennen. ({6}) Insofern kann ich nur feststellen: Wir stehen ganz am Anfang des Gesetzgebungsverfahrens, und wir werden eine Menge zu beraten haben. ({7}) Ich freue mich auf eine engagierte Debatte. Herr Kollege Burkert, mit Ihnen - Sie sind ja auch ein Fachmann wird das wohl funktionieren. ({8}) Wir dürfen uns allerdings nicht unter Zeitdruck setzen lassen. Ich habe den Medien entnommen, dass das Gesetz noch in diesem Jahr im Bundestag in zweiter und dritter Lesung beschlossen werden soll. ({9}) Angesichts dessen, was aus dem Hause des Ministers Tiefensee alles noch fehlt - ich habe das vorgetragen -, kann man eine substanzielle Beratung bis zum Ende dieses Jahres nicht abschließen. Das muss man ganz eindeutig sagen. ({10}) Insofern wage ich die Prognose, dass wir hier Anfang nächsten Jahres in aller Ruhe darüber beraten werden. Dann werden wir alle Belange aus den verschiedenen Organisationen und Verbänden, aus den verschiedenen Fraktionen, aus dem Hause des Ministers und den anderen Ministerien berücksichtigen. Wir werden das ganz in Ruhe machen und zu einer vernünftigen Bahnreform kommen, wie Deutschland sie verdient hat und wie wir sie brauchen. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Hermann Scheer.

Dr. Hermann Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001950, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin dem Kollegen Ferlemann sehr dankbar - darauf möchte ich mich jetzt beziehen -, dass er deutlich gemacht hat, dass innerhalb der CDU/CSU-Fraktion eine sehr intensive, offen geführte Debatte stattfindet, die zeigt, dass eine Modifizierung des vorliegenden Entwurfs der Bahnreform durch wesentliche Ergänzungen durchaus beabsichtigt ist und eingeleitet werden soll. Ich will aus diesem Grund darauf hinweisen, dass das Gleiche in der SPD-Fraktion stattfindet; denn das wurde in den bisherigen Reden nicht so deutlich. ({0}) - Es ist aus nachvollziehbaren Gründen - Kollegen engagieren sich für ein bestimmtes Konzept und vertreten es dann hier - nicht so richtig deutlich geworden. Es gibt in der SPD-Fraktion sehr breit vorgetragene schwerwiegende Bedenken bezüglich eines Punktes der Bahnreform. Eine Kapitalprivatisierung unter Einbeziehung privater Kapitalgruppen ist vorgesehen, und zwar vor dem Hintergrund der sehr künstlichen Unterscheidung zwischen wirtschaftlichem und juristischem Eigentum. Dies sehen viele aus verfassungsrechtlichen und auch aus sachlichen Gründen sowie Praktikabilitätsgründen als nicht tragbar an. Die Frage, wer Kapitaleigner ist, ist für die Ausrichtung der Unternehmensstrategie unter Umständen von zentraler Bedeutung. ({1}) Es ist keineswegs egal, wer Kapitaleigner ist, auch wenn es um die private Seite geht. Deswegen gibt es eine Ablehnung dieses Konzeptes, die, wie die Öffentlichkeit weiß, in der SPD breit vertreten wird. Es gibt den Versuch eines Brückenbaus: ein Volksaktienkonzept, das wir in der SPD-Fraktion ernsthaft prüfen werden. Ich bin dem Kollegen Friedrich sehr dankbar, dass er das durchaus in den Erwägungskatalog der CDU/CSU-Fraktion einbezogen hat. Ich glaube, dass wir - ich will bestätigen, was Herr Ferlemann gesagt hat - in der Tat eine offene Diskussion unter Prüfung aller kritischen Aspekte, die immer noch gegeben sind, brauchen, um zu einer konsistenten Bahnreform kommen zu können. Danke schön. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Ferlemann, Sie haben das Wort.

Enak Ferlemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003525, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Scheer, ich bin froh, dass ich Ihnen Anlass zu einer Kurzintervention geben konnte, um Ihre Position darzustellen. Auch diese wird natürlich von uns geprüft werden müssen. Es ist nun einmal so: Über das Gesetz entscheidet weder eine Regierung noch die DB AG, sondern dieses Parlament. ({0}) Deswegen, glaube ich, ist es klug, dass wir, bevor wir so eine für die Verkehrspolitik der Bundesrepublik Deutschland sehr wesentliche Entscheidung fällen, alle Modelle, Varianten und Ideen sammeln, um das Beste daraus zu machen. Insofern kann es sicherlich eine Sternstunde des Parlaments werden, wenn wir im nächsten Frühjahr zu einer abschließenden Beratung kommen. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/6383 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 24 b. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Bör- sengang der Deutsche Bahn AG stoppen“. Der Aus- schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4110, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3801 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/ CSU und FDP bei Gegenstimmen der Linken angenom- men. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 e auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung von Preismissbrauch im Bereich der Energieversorgung und des Lebensmittelhandels - Drucksache 16/5847 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Finanzierung der Beendigung des subventionierten Steinkohlenbergbaus zum Jahr 2018 ({1}) - Drucksache 16/6384 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul K. Friedhoff, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Ausstieg aus der Steinkohle zügig und zukunftsgerichtet gestalten - RAG-Börsengang an marktwirtschaftlichen Grundsätzen ausrichten - Drucksache 16/5422 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3}) Haushaltsausschuss Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Lötzer, Hans-Kurt Hill, Dr. Barbara Höll, Dr. Gesine Lötzsch und der Fraktion DIE LINKE Ruhrkohle AG in eine Stiftung öffentlichen Rechts überführen - Börsengang verhindern - Drucksache 16/6392 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer, Hans-Kurt Hill, Eva Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Kein Börsengang der Ruhrkohle AG - Bei der Zukunft des Steinkohlenbergbaus soziale und ökologische Aspekte berücksichtigen - Drucksachen 16/3695, 16/5947 Berichterstattung: Abgeordnete Kerstin Andreae Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich gebe das Wort dem Bundesminister Michael Glos. ({6})

Michael Glos (Minister:in)

Politiker ID: 11000691

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind uns alle einig: Wir brauchen eine Energieversorgung, die klimafreundlich, sicher und zuverlässig ist und gleichzeitig wettbewerbsfähige Preise bietet. ({0}) Es geht nicht darum, ob sich die Manager einzelner Energieunternehmen selbst den Strom leisten können, sondern es geht um die Verbraucher und vor allen Dingen darum, dass unsere produzierende Wirtschaft mit preiswertem Strom versorgt wird. ({1}) Zu diesem Zweck bringt die Bundesregierung jetzt den Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Preismissbrauch ein. Ich verstehe mich grundsätzlich als Minister für Wirtschaft, also für alle Menschen, nicht als Minister der Wirtschaft. Deswegen ist es mir immer ein Anliegen, darauf zu achten, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher nicht stärker belastet werden, als es sein muss. ({2}) Die steigenden Strom- und Energiepreise, insbesondere allerdings die steigenden Preise für Strom - beim Gas hat das andere Ursachen -, beweisen, dass dieses Anliegen ungeheuer wichtig ist. Trotz der Marktöffnung haben sich die Strom- und Gaspreise in Deutschland leider weiter erhöht. Eine Ursache dafür ist, dass der Wettbewerb nicht so funktioniert, wie wir es alle gerne hätten. Ich unterstelle niemandem Preisabsprachen, aber man muss feststellen: Wir haben nur wenige große Unternehmen, die Energieversorgung anbieten. Diese haben historisch abgegrenzte Absatzgebiete. Die Marktkräfte sind offensichtlich noch zu schwach, ({3}) um Preiserhöhungen gerade beim Strom entgegenzuwirken. Hier greift die Missbrauchsaufsicht, die ein Bestandteil des vorliegenden Gesetzentwurfes ist. ({4}) Dieses Instrument wollen wir stärken durch Beweislastumkehr, durch bessere Vergleichsmöglichkeiten und durch sofortigen Vollzug. Wir schärfen also ein vorhandenes Schwert. Für mich ist die Missbrauchsaufsicht der Knüppel im Sack. Dieser Knüppel muss aber nicht unbedingt wie im Märchen aus dem Sack kommen. Niemand, der sich marktgerecht verhält, muss dieses Gesetz fürchten. ({5}) Eine erfreuliche Wirkung zeichnet sich bereits im Vorfeld ab. An den zusätzlichen Konkurrenzangeboten wird deutlich, dass es ein gemeinsames Verständnis von Wettbewerb gibt. Manche fürchten eine ständige Kostenkontrolle, andere, dass die Preise so niedrig gehalten werden, dass weniger neue Anbieter auf den Markt kommen. Letzteres würde aber im Umkehrschluss bedeuten, dass ein Unternehmen nur dann neu auf den Markt kommt und nur dann Strom produzieren will, wenn übermäßig große Preisspannen möglich sind. Gegen maßvolle Preisspannen haben wir überhaupt nichts einzuwenden. Genau hier greift dieses Instrument. Wir haben dieses Gesetz bis zum Jahr 2012 befristet, weil wir hoffen, dass es auf dem EU-Strommarkt zu mehr Wettbewerb kommt. Es wird bei diesem Gesetz also ein Modell angewandt, das erst vor wenigen Tagen für die Ehe vorgeschlagen wurde: Es läuft automatisch aus. ({6}) Falls man das Gesetz dann, wenn es ausläuft, noch will, muss man gemeinsam vereinbaren, es zu verlängern. ({7}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will nur wenige Worte zu den Vorschlägen aus Brüssel sagen. Sie gehen in die richtige Richtung. Wir müssen allerdings aufpassen, dass wir unsere Energiekonzerne nicht durch Regelungen, die in Brüssel getroffen werden, so sehr knebeln, dass sie gegenüber französischen und anderen europäischen Großanbietern nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Vor allen Dingen brauchen wir genug Investitionen in die Netze. Da wir die erneuerbaren Energien stärker integrieren wollen - darin sind wir uns einig -, ist ein Ausbau der Netze notwendig. Dieser Ausbau wird uns noch vor schwierige Aufgaben stellen. Auch hier kann es sein, dass wir ein neues Gesetz brauchen. ({8}) Wir setzen mit dem zweiten Teil des Gesetzes - das gehört dazu - die Koalitionsvereinbarung um; dazu ist der Wirtschaftsminister beauftragt, auch wenn ihm nicht alles dabei gefällt. Wir wollen die kleinen und mittleren Einzelhändler vor der Marktmacht der Großen schützen. ({9}) Auch Tante-Emma-Läden gehören zur Vielfalt des Marktes. Mit der neuen Regelung in § 20 GWB wird das geltende Verbot von Verkäufen unter Einstandspreis erweitert. Der Bundesrat hat bisher signalisiert, dass er diese Gesetzentwürfe so, wie sie vorliegen, unterstützt. Ich komme zu einem weiteren Gesetzentwurf, den wir aus Rationalisierungsgründen mit einbringen und der eine große Bedeutung für die Zukunft hat. Das ist das Steinkohlefinanzierungsgesetz, das dazu führen soll, dass die Subventionen für den Steinkohlenbergbau auslaufen. Deswegen muss nicht gleichzeitig der Steinkohlenbergbau auslaufen. Wenn sich Kohle marktgerecht fördern lässt - in einzelnen Gruben oder wenn die Nachfrage entsprechend steigt -, dann soll das so sein. Ich bedanke mich bei allen, insbesondere bei meinem Kollegen Finanzminister, der neben vielen anderen wie der IGBE daran beteiligt war, hier zu Regelungen zu kommen, die die Grundsatzentscheidung für alle Beteiligten zwar nicht leicht, aber doch erträglich gemacht haben. Das war ein zähes Ringen; aber das liegt im Wesen der Sache. Wir haben versucht, die Bedenken aus dem parlamentarischen Raum, insbesondere aus den Koalitionsfraktionen, schon im Vorfeld zu berücksichtigen. Das heißt, wenn wir die Subventionen wie geplant abbauen - ich bin sehr zuversichtlich, weil das gut vorbesprochen worden ist -, muss niemand Arbeitslosigkeit fürchten. Der Abbau der Beschäftigten geht sozialverträglich vor sich. Er kann zwischenzeitlich überprüft werden, und selbstverständlich hat jede Regierung ihre eigene Dispositionsgewalt. Wir zeigen damit auch in der Energiepolitik, dass uns Zukunft vor Vergangenheit geht. Das hat mit Undankbarkeit gegenüber all den Kumpels und den Verantwortlichen, die uns über viele Jahrzehnte, ja Jahrhunderte mit deutscher Steinkohle versorgt haben, nichts zu tun. ({10}) Ich bin der Meinung, Politik bedeutet immer Zukunftsgestaltung. Dieser Gesetzentwurf bietet große Chancen, gerade für Nordrhein-Westfalen. Die Firma Evonik - das ist der neue Name für den verbliebenen RAG-Konzern - wird jetzt in die Freiheit der Börse entlassen, allerdings nicht so, dass es zu einer feindlichen Übernahme kommen könnte. Wie gesagt, es gibt sehr große Chancen für dieses Gebiet. Das Ganze zeigt auch unsere Handlungsfähigkeit. Die können Sie noch stärker unter Beweis stellen, indem Sie die Gesetzentwürfe zügig beraten. Ich freue mich schon auf die Verabschiedung. Danke schön. ({11})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Gudrun Kopp, FDP-Fraktion. ({0})

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! Es ist schwierig, nachzuvollziehen, weshalb wir heute zwei so wichtige Punkte wie die Beendigung der Subventionierung des Steinkohlenbergbaus und die Novelle zum Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen als einen Tagesordnungspunkt beraten. Ich finde, beide Themen sind so wichtig, dass sie separat diskutiert werden müssten. Ich hoffe, dass dieses Manko mit einer Trennung in der zweiten und dritten Lesung behoben wird. Sehr geehrter Herr Minister Glos, zur GWB-Novelle gibt es viel zu sagen. Auf der einen Seite meinen Sie, Sie müssten in den Markt eingreifen und ein Sonderkartellrecht für den Energiebereich schaffen. Selbstverständlich sind wir uns darüber einig, Herr Minister, dass wir alles tun müssen, um die Wettbewerbsstrukturen in Deutschland weiterzuentwickeln. Dort gibt es immer noch Defizite. Ich finde es schon bemerkenswert, dass Sie an dieser Stelle zwar einige Punkte nennen - das eine oder andere ist nachvollziehbar und richtig -, dass Sie aber beispielsweise völlig vergessen, was Sie selbst zu der Höhe der Strompreise beitragen. Sie wissen, dass Steuern und Abgaben fast 42 Prozent der Strompreise ausmachen. Das heißt, auch die Politik muss aufgefordert werden, die Abgaben- und Steuerschraube nicht weiter anzuziehen, sondern Abgaben und Steuern zu senken. ({0}) Im Lebensmittelsektor ist es ähnlich. Sie sagen, Sie möchten mit der GWB-Novelle dazu beitragen, dass auch der gelegentliche Verkauf von Lebensmitteln unter Einstandspreisen verboten sein soll. Sie erhoffen sich davon einen besseren Schutz für kleine und mittelgroße Händler vor Preisdumping der größeren Händler, und sie erhoffen sich davon eine größere Produktqualität; Stichwort: Vermeidung des Verkaufs von Gammelfleisch. Ich glaube, dass Sie mit beiden Anliegen scheitern werden. Den kleinen und mittleren Händlern ist eher daran gelegen, dass man sie von der überbordenden Bürokratie entlastet. Das, was Sie mit Ihrem Gesetzentwurf wollen, ist nicht hilfreich. Ich zitiere aus dem Tätigkeitsbericht des Bundeskartellamts, das zum Bereich der Lebensmittel in der Novelle ausführt, das Gesetz würde vielmehr den fairen Leistungswettbewerb unter Umständen sogar zu Lasten der Verbraucher einschränken oder wäre angesichts der zu erwartenden Vielzahl von Beschwerdefällen im Hinblick auf die knappen Ressourcen des Bundeskartellamts kaum umzusetzen. Das Bundeskartellamt, Wettbewerbshüter Nummer eins, fürchtet, dass das, was Sie wollen, gar nicht in die Realität umgesetzt werden kann. Das Gesetz trägt nicht dazu bei, dass die Qualität von Lebensmitteln in Deutschland zunimmt. Insofern lautet das Urteil der FDP-Bundestagsfraktion: Dieses Gesetz ist eher ein Placebogesetz, als dass es tatsächlich die Verhältnisse verändert. ({1}) Nun zur Steinkohlesubventionierung. Mit Blick auf die Vergangenheit und fast drei Jahrzehnte Steinkohleförderung und Subventionierung des Steinkohlebergbaus sind 128 Milliarden Euro tatsächlich genug. Wir als FDP haben im Land NRW, aber auch hier im Bund seit Jahren, zum Teil seit zwei Jahrzehnten dagegen gekämpft, dass ein Wirtschaftsbereich, der im internationalen Vergleich nachweislich nicht wettbewerbsfähig ist, weiterhin mit Steuergeldern subventioniert wird. Die Förderkosten der deutschen Steinkohle sind um etwa 200 Prozent höher als im internationalen Vergleich. Wir wissen das alle. Es liegt an den geologischen Gegebenheiten. Daher ist es zwingend notwendig, zu einem Ende zu kommen. Es gibt wenigstens einen positiven Punkt, nämlich den, dass endlich eine Entscheidung getroffen werden soll, die einen Schlussstrich unter die fortgesetzte Subventionierung zieht. Wenn ich Schlussstrich sage, dann heißt das - das können sich die Leute draußen wahrscheinlich kaum vorstellen -, dass die Subventionierung des Bergbaus trotzdem noch bis 2018 weitergehen soll. ({2}) Das ist unser Kritikpunkt Nummer eins. Vom heutigen Zeitpunkt an bis 2018 werden noch einmal fast 40 Milliarden Euro in dunkle Schächte und nicht in helle Köpfe investiert. Können wir uns das leisten? ({3}) In dem Sektor sind 35 000 Arbeitnehmer beschäftigt, Techniker und Ingenieure, die sehr gut ausgebildet und hochqualifiziert sind und die mit Sicherheit auf dem Arbeitsmarkt eine alternative Beschäftigung fänden bzw. innerhalb des weißen Konzerns, der neu strukturiert wird, unterkommen könnten. Umgerechnet auf 35 000 Bergleute betragen die Ausgaben 1,1 Millionen Euro pro Kopf. Beim Anpassungsgeld, bei den Anreizen zur Frühverrentung und bei allem, was dazukommt, frage ich mich schon, ob das noch sozial gerecht ist. Eine große Tageszeitung hat vor kurzem errechnet, dass ein Hartz-IVEmpfänger 274 Jahre lang von einer solchen staatlichen Unterstützung leben könnte, wenn man diese Leistungen auf Hartz-IV-Empfänger umlegen würde. ({4}) Deshalb muss man schon fragen, ob diese Förderung tatsächlich angebracht ist, ob sie so richtig ist. Das ist ein Ausstieg de luxe, aber nicht zielführend. Wir wollen auch einen sozial verträglichen Ausstieg, aber wir wollen Anreize zur Beschäftigung und nicht Anreize zur Frühverrentung geben. Der Kritikpunkt Nummer zwei: Der Gesetzentwurf enthält doch tatsächlich eine Revisionsklausel. Sie sprechen davon, dass der Beschluss, der über das Auslaufen der Subventionierung des Steinkohlebergbaus gefasst werden soll, 2012 noch einmal überprüft werden soll. In meinem Bundesland Nordrhein-Westfalen läuft gerade Frau Kraft von der SPD herum und sagt, es sei alles nicht so tragisch, man brauche sich nicht aufzuregen, die Subventionierung, die jetzt zum Abschluss gebracht werden soll, werde unter Umständen aufrechterhalten. Ich halte das für verantwortungslos. ({5}) Gerade aus Achtung und Respekt vor den Bergleuten ist es unsere Pflicht, ihnen reinen Wein einzuschenken und ihnen zu sagen, wie die Lage ist, dass wir uns für die Zukunft ausrichten müssen und nicht länger die Vergangenheit finanzieren dürfen. Eine solche Ehrlichkeit sind wir gerade den Beschäftigten und deren Familien schuldig. ({6}) Der dritte Kritikpunkt richtet sich an unseren Bundesfinanzminister Steinbrück. Ihn frage ich: Können Sie eigentlich beruhigt sein, wenn Sie diesen Gesetzentwurf sehen, mit dem die Bundesregierung einen Blankoscheck für die Übernahme von etwa einem Drittel der Kosten ausstellt, die sich aus den Zahlungsverpflichtungen der Stiftung ergeben, sofern das Stiftungsvermögen auf Dauer nicht ausreichen sollte, um alle Risiken abzudecken und alle Verpflichtungen zu erfüllen? Sie wissen, es gibt Altlasten und Ewigkeitslasten. Sollte das Geld dafür nicht ausreichen, muss der Bund einspringen. Das ist ein Blankoscheck für die Zukunft. Das empfinde ich als problematisch. Ich bin mit meiner Fraktion auch der Ansicht, dass das Anpassungsgeld nicht zielführend ist, das dem Bergmann, der unter Tage gearbeitet hat, die Möglichkeit gibt, mit 50 Jahren Übergangsgeld zu beziehen und anschließend in Rente zu gehen. Den Börsengang unterstützen wir grundsätzlich. Gerade im Ruhrgebiet ist ein DAX-Unternehmen ein positives Zeichen für die Zukunft. Wir halten es auch für richtig, dass ein Ende der Subventionierung des Steinkohlebergbaus nun endlich in Sicht ist. Ich bitte Sie aber alle, noch einmal in sich zu gehen und umsichtig zu prüfen, ob Sie das, was jetzt im Gesetzentwurf steht, so stehen lassen können oder ob Sie mit Blick auf mögliche Mehrinvestitionen in Wissenschaft und Bildung weniger Subventionen zahlen, ob Sie also die Subventionen nicht bis 2018, sondern nur bis 2012 weiterlaufen lassen, um 12 Milliarden Euro einsparen zu können. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin!

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Schluss. - Die SPD hat sich hier kaum bewegt, aber auch die Grünen haben in Ihrer früheren Regierungszeit dazu leider keinen Beitrag geleistet. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Rolf Hempelmann, SPD-Fraktion. ({0})

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! In der Tat behandeln wir heute zwei wichtige Themen in verbundener Debatte. ({0}) Ich habe keine Einwände dagegen, sie bei der abschließenden Lesung zu trennen. Beide Themen verdienen unsere Aufmerksamkeit. Schon im Koalitionsvertrag hat diese Koalition Eckpfeiler zum Thema Steinkohlefinanzierung verankert. Es ging um zwei wesentliche Punkte: Zum einen ging es darum - das stand schon im Vertrag -, den Anpassungsprozess weiterhin sozialverträglich zu gestalten. Damit ist das Entscheidende zur Kritik an dem weiteren Subventionsverlauf eigentlich schon gesagt. Zum Zweiten haben wir uns auf eine Unterstützung des Börsengangs des weißen Bereichs der RAG Aktiengesellschaft verständigt. Warum haben wir das getan? Wir haben das vor allen Dingen getan, weil wir von Anfang erkannt haben, dass Nichthandeln, Abwarten und „Weiter so“ keine Optionen gewesen wären. Aufgrund des nordrhein-westfälischen Koalitionsvertrages, in dem ein Ausstieg bis 2010 gefordert wird, hätte das bedeutet: Die RAG hätte kurzfristig allein für den Bergbau geradestehen müssen. ({1}) Das hätte den Selbstverzehr des Unternehmens bedeutet und den Verlust von Wertschöpfung und Beschäftigung im Lande Nordrhein-Westfalen zur Folge gehabt. Am Ende - das muss auch gesagt werden - wären die noch existierenden Altlasten letztlich bei der öffentlichen Hand - beim Bund, bei den Gebietskörperschaften und in der Folge beim Gewährsträger, dem Land NordrheinWestfalen - verblieben. Insofern war es richtig und wichtig, dass gehandelt wurde. Ich denke, wir können zufrieden sein, dass es bei solch heterogenen Ausgangspositionen - der Minister hat eben auch schon darauf angespielt - letztlich gelungen ist, die Positionen zu einem vernünftigen Ergebnis zusammenzuführen, auch wenn wir ein bisschen Zeit investieren mussten. ({2}) Als erstes wichtiges Thema sind in dem Gesetzentwurf ein Auslaufen des subventionierten deutschen Steinkohlebergbaus bis zum Jahre 2018 und eine Überprüfung dieser Entscheidung im Jahre 2012 vorgesehen. Allen heute auch noch einmal wiederholten Forderungen eines sehr frühzeitigen Endes des deutschen Steinkohlebergbaus - ich habe erwähnt, dass selbst das Jahr 2010 genannt worden ist - wird eine Absage erteilt. Das sorgt dafür, dass das Auslaufen, wenn es denn dazu kommt, sozial verträglich erfolgen kann. Ich glaube, das sind wir den Kumpels schuldig, die nicht gerade die leichteste Arbeit in diesem Land und für unser Land verrichten. ({3}) Ich weiß, dass Bergleute keine Bergsteiger sind, und ich habe sie auch schon persönlich bei der Arbeit beobachten können. Ich kann Ihnen versichern, dass das sogar helle Köpfe sind. Deswegen hat es sich gelohnt, in sie zu investieren und das auch weiterhin zu tun. ({4}) Der Anpassungsprozess wird auch durch das Anpassungsgeld für die Arbeitnehmer im Steinkohlebergbau abgefedert. Ich denke, dass die Arbeitsteilung zwischen Bund und Land, wie sie hier entschieden wurde, angemessen ist. Ich will dazusagen, dass das Land Nordrhein-Westfalen auch in der Pflicht ist, für die Steinkohlereviere - dort, wo die Zechenschließungen anstehen - eine geeignete Politik zu entwickeln. Dazu wird mein Kollege Rolf Stöckel gleich sicherlich das Notwendige sagen. Die Revisionsklausel im Jahre 2012 wird sich, so denke ich, Dieter Grasedieck zum Thema machen. Der Börsengang des weißen Bereichs der RAG - jetzt: Evonik Industries AG - ist ebenfalls ein Projekt, das unsere besondere Unterstützung verdient, wie wir das im Koalitionsvertrag ja auch festgelegt haben. Das Unternehmen mit einem Umsatzvolumen von jetzt etwa 14,8 Milliarden Euro erhält damit die Möglichkeit, am Sitz Nordrhein-Westfalen als erfolgreiches börsennotiertes Unternehmen tätig zu werden. Die ursprünglich auch diskutierte Filetierung, die letztlich die Vorstufe einer Auflösung im Zuge von Marktbereinigungsprozessen gewesen wäre, ist vermieden worden. Dem Unternehmen wird jetzt der Zugang zum Kapitalmarkt mit den entsprechenden Wachstumsperspektiven geöffnet. Wie eben schon angedeutet, wurde der drohende Selbstverzehr des Unternehmens abgewendet. Das ist gerade auch für das Land Nordrhein-Westfalen die beste Nachricht, dessen Landesregierung sich am längsten geziert, am Ende aber Gott sei Dank auch im Sinne der eigenen Bürgerinnen und Bürger die Kurve bekommen hat. ({5}) Das zweite wichtige Thema ist die GWB-Novelle. Mir ist es wichtig, festzustellen, dass sich diese Gesetzesnovelle in ein ganzes Paket von Maßnahmen zur Verbesserung des Wettbewerbs bei den leitungsgebundenen Energien Strom und Gas einordnet. Schon die rotgrüne Bundesregierung hat diesen Weg eingeschlagen. Sie hat im Jahr 2005 das Energiewirtschaftsgesetz novelliert, den Ordnungsrahmen grundlegend modernisiert und Entflechtungsvorschriften auf der Basis einer europäischen Richtlinie erlassen, die sich gerade in der Implementierungsphase befinden. Das heißt, die Bundesnetzagentur ist dabei, die rechtliche, operationelle, informatorische und buchhalterische Entflechtung des Netzbetriebs von der Erzeugung umzusetzen. Sie ist zuversichtlich, dass sie auf diese Art und Weise den diskriminierungsfreien Netzzugang sichern kann. Ich denke, wir sollten ihr die notwendige Zeit geben, unabhängig davon, dass die Europäische Kommission mittlerweile schon weitergehende Vorstellungen veröffentlicht hat. Klar ist, dass eine eigentumsrechtliche Entflechtung nur Ultima Ratio sein kann. Klar ist auch, dass ein Independent System Operator zwar eine prüfenswerte Option ist, die sich aber auch die Überprüfung im Hinblick auf das Kriterium gefallen lassen muss, dass wir eine möglichst geringe Eingriffstiefe in bestehende Eigentumsrechte sichergestellt sehen wollen. ({6}) Ich habe die Bundesnetzagentur erwähnt. Wir haben sie vor zwei Jahren gegründet. Sie hat mittlerweile erhebliche Fortschritte erzielt und insgesamt im Netzbereich Kosten- und Entgeltkürzungen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro beim Strom und 600 Millionen Euro beim Gas durchgesetzt. Ich denke, sie hat auch erhebliche Fortschritte bei der Durchsetzung eines diskriminierungsfreien Netzzugangs erreicht. Die neue Bundesregierung hat - auch das war schon durch das Energiewirtschaftsgesetz 2005 vorgeprägt eine Anreizregulierungsverordnung erlassen, mit der wir sicherlich weitere Fortschritte im Wettbewerb in den Netzen erreichen werden. Wichtig ist parallel dazu auch die jetzt erlassene Kraftwerksanschlussverordnung. Dabei geht es letztlich um den diskriminierungsfreien Netzzugang für Stromerzeuger. Ich glaube, dass gerade die temporäre Bevorzugung von Neuanbietern den Neuen eine echte Chance bietet, Zugang zum Wettbewerb zu finden. Durch eine gesteigerte Liquidität am Markt und ein Mehr an Angebot ergibt sich eine gewisse Chance auf sinkende Preise. Allerdings muss der Ehrlichkeit halber darauf hingewiesen werden, dass objektive Tendenzen zu möglichen Kosten- und damit letzten Endes auch Preissteigerungen in den nächsten Jahren erkennbar sind. Beispielsweise können die Primärenergiekosten und auch die Netzkosten beim notwendigen Netzausbau - den wir alle, etwa im Norden unseres Landes für den Ausbau der Offshore-Windenergie, befürworten - steigen. Letztlich soll auch das, was wir im Zusammenhang mit dem Emissionshandel entschieden haben, über Anreize zu Investitionen in einen breiten Kraftwerksmix dazu beitragen, dass mehr Kraftwerke entstehen und damit mehr Strom erzeugt wird und mehr Wettbewerb am Strommarkt und die Chance auf zumindest tendenziell preisdämpfende Effekte entstehen. Dennoch gibt es den Vorschlag des Bundeswirtschaftsministers zu einer Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, und dieser Vorschlag ist auch sinnvoll, weil in der Tat gerade auch im Erzeugungsbereich zurzeit eine oligopolistische Struktur besteht. Der Wettbewerb konnte sich noch nicht in dem Maße entfalten, wie wir es uns gewünscht haben. Deswegen ist eine befristete Regelung im Sinne einer Brückenfunktion zu einem verbesserten Wettbewerb, wie sie in dem Gesetzentwurf vorgesehen ist, sinnvoll. Als Instrumente sind im Gesetzentwurf eine veränderte Kostenkontrolle - der Minister hat es bereits erwähnt -, eine Beweislastumkehr und der Sofortvollzug kartellbehördlicher Verfügungen vorgesehen. Dieses Instrument ist im Vergleich zu den anderen von mir erwähnten Möglichkeiten eher systemfremd, weil es nicht unmittelbar wettbewerbsfördernd wirkt, sondern eher einen Eingriff in den Wettbewerb durch den Staat bedeutet, weil der Wettbewerb an bestimmten Stellen noch nicht ausreichend funktioniert. Deswegen muss man besonders sorgfältig darauf achten, dass mit der Ausgestaltung dieser Novelle tatsächlich wettbewerbsförderliche Effekte erreicht werden, die geschilderte Brückenfunktion tatsächlich erfüllt wird und dass nicht etwa die erkennbaren wettbewerblichen Ansätze von Markt, internationalem Strom- und Gashandel sowie Börsenhandel erstickt werden. Ich bin aber ganz sicher, dass wir es nach konstruktiver Debatte schaffen werden, dass das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen seinen Namen verdient. Herr Minister, Sie haben eben die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung herausgestellt. Sie haben innerhalb von zwei Jahren diese beiden Gesetzentwürfe vorgelegt. Ich verspreche Ihnen: Wir werden die Handlungsfähigkeit des Parlaments nachweisen und nach zügiger und konstruktiver Beratung - möglicherweise nicht in zwei Monaten, aber in kurzer Zeit - ein gutes Ergebnis erzielen. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Ulla Lötzer, Fraktion Die Linke. ({0})

Ursula Lötzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003174, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die Bergleute haben dieses Land tatsächlich geprägt. Sie stehen für Solidarität, für gleichberechtigte Mitbestimmung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, ({0}) sie stehen für soziale Verantwortung von Unternehmen und - das muss man heute deutlich sagen - von Regierungen auch in Zeiten des Strukturwandels. Nun müssen sie genauso wie wir mit ansehen, wie Sie, Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, mit dem Börsengang der Ruhrkohle AG Wirtschaftsdemokratie und soziale Verantwortung auf dem Altar des Shareholder-Values opfern. ({1}) Sie verschachern die Zukunft der Menschen an der Börse. Das bedeutet nicht nur die Gefährdung Zehntausender Arbeitsplätze im Bergbau, bei den Zulieferern und anderen, die davon leben. Vielmehr sind akut 300 Ausbildungsplätze bei der Deutschen Steinkohle AG gefährdet. Insgesamt stehen fast 3 000 Ausbildungsplätze auf dem Prüfstand. Sie beklagen den Fachkräftemangel und hätten die Möglichkeit gehabt, die RAGStiftung zu verpflichten, diese hochwertigen Ausbildungsplätze zu erhalten. Aber was haben Sie getan? Nichts! Wir fordern Sie auf, gemeinsam mit dem Land Nordrhein-Westfalen eine Verbundlösung zur Erhaltung der Ausbildungsplätze zu schaffen. RAG-Stiftung und Evonik Industries müssen in die Pflicht genommen werden, aber auch andere Betriebe der Region. ({2}) Gewerkschaften, Handwerkskammern, regionale Industrie- und Handelskammern, die Agentur für Arbeit und die Kommunen sind an der Entwicklung einer solchen Lösung zu beteiligen. Auch der profitable Bereich von Evonik Industries ist unter der Renditeerwartung von Arbeitsplatzabbau bedroht. Einige Tausend hat schon die Vorbereitung des Börsengangs gekostet. Nun will sich die berüchtigte Heuschrecke Cerberus bei Evonik einkaufen. Was Sie hier vorhaben, ist auch ein dreistes Kapitel der Umverteilung von öffentlichem Vermögen in die privaten Hände von Aktionären. Dafür bitten Sie die Steuerzahlerinnen und -zahler auch noch mehrfach zur Kasse. Die öffentliche Hand trägt 20 Milliarden Euro und damit 95 Prozent der Kosten bei der Beendigung des Steinkohlenbergbaus. Ihre Entscheidungs- und Mitsprachemöglichkeiten dabei geben Sie an eine private Stiftung ab. Diese Stiftung wird für die Abwicklung des Bergbaus zuständig sein. Im Kuratorium der Stiftung haben Bundes- und Landesregierungen nur begrenzte Mitsprachemöglichkeiten, das Parlament gar keine. Der Bundesrechnungshof stellt - wie wir - fest: Die vorgesehene Anzahl der Mitglieder des Bundes im Kuratorium entspricht … nicht seinen finanziellen Verpflichtungen. ({3}) Die Stiftung soll den Börsengang organisieren. Es ist ihre Aufgabe, das Stiftungsvermögen so zu verwalten, dass es möglichst zur Regulierung aller auftretenden Altlasten und Ewigkeitskosten - die Kosten der Wasserhaltung, der Dauerbergschäden und der Grundwasserreinigung - ausreicht. Das Gutachten zur Ermittlung des Unternehmenswertes vom 1. Januar 2007 geht von Marktverhältnissen aus. Hören wir auch dazu den Bundesrechnungshof: Es ist nicht auszuschließen, dass es im Zeitraum bis zur tatsächlichen Verwertung zu erheblichen, auch ungünstigen Veränderungen des Marktes kommt. Und: Die Stiftungssatzung enthält weder Regelungen zur Verwertung, geschweige denn eine Mindestbeteiligung der Stiftung. Die gesamte Verwertung wird den drei Vorstandsmitgliedern überlassen. Die Folgekosten werden, falls die Erlöse nicht reichen, den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern überlassen. In einem Erblastenvertrag ist festgelegt, dass die betroffenen Länder Nordrhein-Westfalen und Saarland den nicht gedeckten Teil der Ewigkeitskosten zu zwei Dritteln und der Bund zu einem Drittel bezahlen werden. Es gibt keinerlei Haftungsobergrenze. Mit uns kritisiert auch hier der Bundesrechnungshof, das Gutachten für die Berechnung der Ewigkeitskosten stehe auf hohlen Fundamenten. Es stützt sich auf Zahlen, die der RAGKonzern selbst herausgegeben hat. Selbst dabei werden erhebliche Risiken beschrieben. Das Ausmaß dieser Risiken - so der Bundesrechnungshof weiter - könnten weder der Gutachter noch die RAG selber einschätzen. Diese Risiken wollen Sie der Öffentlichkeit aufbürden, damit sich private Investoren an den Gewinnen der Evonik Industries bereichern können. Das Steinkohlefinanzierungsgesetz, das Sie hier vorlegen, ist die letzte Möglichkeit, dies zu stoppen. Deshalb sagen wir Nein zu diesem Gesetz. ({4}) Frau Thoben, nordrhein-westfälische Wirtschaftsministerin der CDU, die nicht zu den Linken gehört, stellte unlängst fest, dass der Konzern eigentlich den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern gehöre, schließlich hätten sie seit 1949 etwa 128 Milliarden Euro für den Konzern bereitgestellt und ihn damit finanziert. Folgerichtig fordern wir Sie auf: Überführen Sie den gesamten Konzern in eine öffentlich-rechtliche statt in eine private Stiftung. ({5}) Der Haftungsverbund darf nicht aufgehoben werden. Die profitablen Teile dürfen nicht an die Börse. Stattdes12022 sen müssen ihre Erträge für die Folgen des Auslaufens des Bergbaus genutzt werden. Die Ewigkeitskosten müssen weiterhin damit gesichert werden. Die Aus- und Weiterbildung sowie die Beschäftigung sollen gefördert werden. Gleichzeitig können notwendige Entwicklungen angestoßen werden. Die RAG könnte faktisch Aufgaben im Ausbildungsbereich, im öffentlichen Beschäftigungssektor und von Wohnungsbauunternehmen übernehmen. Mit der STEAG wäre tatsächlich eine nachhaltige Entwicklung der Energieversorgung hin zu einer verstärkten Energieeffizienz und zu einer verstärkten Nutzung erneuerbarer Energien möglich. Es wäre ferner möglich, einen klimaschädlichen Ausbau von konventionellen Kohlekraftwerken zu bremsen. Da die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler die Hauptlasten tragen, sollten in den Stiftungsgremien mehrheitlich gemeinwohlorientierte Gruppen und gewählte Vertreterinnen und Vertreter des Bundestages und der Länder sitzen. Die Beschäftigten sollten weiterhin durch die Gewerkschaften angemessen beteiligt werden. Wir fordern Sie aber auch auf, in Nordrhein-Westfalen und im Saarland ein Strukturprogramm für die Bergbauregion aufzulegen. Wir halten eine Grundfördermenge an Steinkohle als Sockel tatsächlich für notwendig. Vor allem aber haben die Menschen im Ruhrgebiet und an der Saar ein Recht auf zukunftsfähige Industriearbeitsplätze. ({6}) Der Wandel hin zu einer nachhaltigen Energiepolitik, zu Energieeffizienz und zu erneuerbaren Energien bietet Chancen. ({7}) Es geht nicht darum, heimische Kohle durch billige Importkohle zu ersetzen, was Sie vorhaben. Wir brauchen eine gezielte Ansiedlungsstrategie in Richtung Anlagenbau und erneuerbare Energien. Hier haben die Bergbauregionen große Potenziale, die man nutzen muss. Für diese Ansiedlungsstrategie müssen der Bund und das Land Nordrhein-Westfalen finanzielle Mittel bereitstellen. ({8}) Der Bund und Nordrhein-Westfalen sparen bis 2019 insgesamt 8 Milliarden Euro an Subventionen ein. Wir sagen: So lange, bis ausreichende Ersatzarbeitsplätze geschaffen worden sind, fordern wir Sie auf, die frei werdenden Subventionen in ein Strukturprogramm für erneuerbare Energien, für Energieeffizienz und für Anlagenbau zu stecken, um für die Menschen an der Ruhr und an der Saar eine Zukunft zu schaffen. ({9}) Kolleginnen und Kollegen, Sie wollen die Gewinne des Konzerns und die Entscheidungen privatisieren und die Kosten sozialisieren. Wir wollen auch die Gewinne und die Entscheidungen sozialisieren, nicht nur die Kosten. ({10}) Kurz noch zum Gesetz zur Bekämpfung von Preismissbrauch: Wir werden uns in der zweiten Lesung ausführlich damit befassen. Aber schon heute möchte ich dazu sagen, dass es dem Namen, den es trägt, nicht gerecht wird. Es schützt die Verbraucherinnen und Verbraucher insbesondere im Energiesektor, aber auch im Lebensmittelbereich nicht. Gleichzeitig bekämpfen Sie die Entscheidung der EU-Kommission für eine wirkliche Entflechtung von Netz und Erzeugung. Wir fordern Sie auf, diesen Widerstand gegen die Entflechtung aufzugeben. Damit wäre tatsächlich ein Schritt für die Verbraucherinnen und Verbraucher im Kampf gegen die Energiemonopole und ihr Preiskartell getan. Wir fordern Sie ferner auf, die Netze dann in die öffentliche Hand zu überführen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Hans-Josef Fell, Bündnis 90/Die Grünen.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung und die Große Koalition setzen weiter auf die klima- und umweltschädliche Kohle. Bis 2018 soll der unwirtschaftliche deutsche Steinkohlebergbau mit 38 Milliarden Euro unterstützt werden - als ob dieses Fass ohne Boden nicht längst genug Geld bekommen hätte. Allein von 1998 bis 2006 wurden aus dem Bundeshaushalt fast 28 Milliarden Euro für den Steinkohlebergbau ausgegeben, was die SPD gegen den grünen Widerstand durchsetzte. Dies ist nichts anderes als eine hoch subventionierte Klimazerstörung und Geldverschwendung. ({0}) Die 38 Milliarden Euro werden fehlen, um erneuerbare Energien und Energieeinsparungen auszubauen und um so auch für die letzten Kohlekumpel neue, verlässliche und klimaschützende Arbeitsplätze zu schaffen. Doch wer nun glaubt, dass 2018 endgültig Schluss sei, täuscht sich. Denn im Entwurf des Steinkohlefinanzierungsgesetzes ist eine erneute Begutachtung und Überprüfung des Ausstiegsbeschlusses für das Jahr 2012 festgelegt. ({1}) Dabei war sogar das Land Nordrhein-Westfalen in den Verhandlungen bereit, die Kohlesubventionen bereits 2014 zu beenden. ({2}) Die Bundesregierung konnte die Kohleförderung bis 2018 aber nur durchsetzen, indem sie den Anteil des Landes Nordrhein-Westfalen an den Subventionen von 2015 bis 2018 übernommen hat. Ohne Not hat der Bund zusätzliche Belastungen übernommen, weil die SPD sich erneut als Schutzmacht der Kohle profilieren will. Das ist nicht akzeptabel. ({3}) Wir fordern die Große Koalition auf, in diesem Gesetzgebungsverfahren die gefundene Regelung noch einmal zu überarbeiten und bis 2012 aus der Kohlesubventionierung auszusteigen. ({4}) Das Festhalten der SPD und der Bundesregierung an der Kohlenutzung ({5}) wird immer absurder. Die Kohleverstromung gehört zu den größten Kohlendioxidschleudern in Deutschland. Daher wäre eine Beendigung der Kohlesubventionen gleichbedeutend mit Klimaschutz, nicht aber der Neubau von Kohlekraftwerken, wie die Bundesregierung ihn absurderweise als einen der Hauptpunkte in ihrem Klimaschutzpaket vorschlägt. Die ständige Behauptung von Umweltminister Gabriel und Wirtschaftsminister Glos, erneuerbare Energien und Energieeinsparungen könnten die zukünftige Stromversorgung nicht gewährleisten, ist schlicht falsch. ({6}) Die Wachstumsraten der letzten Jahre bei den erneuerbaren Energien im Strombereich zeigen dies auf. Wir Grünen haben in unserem Konzept Energie 2.0 eindrucksvoll nachgewiesen, dass Atomausstieg und Klimaschutz ohne neue Kohlekraftwerke möglich sind. Aber Umweltminister Gabriel und Wirtschaftsminister Glos tun nun alles, um die notwendigen Wachstumsraten bei den erneuerbaren Energien zurückzudrängen. ({7}) Erste scharfe Bremsspuren sind bereits erkennbar und werden schon bald junge Unternehmen aus der Branche der erneuerbaren Energien in den Konkurs treiben. So sind im ersten Halbjahr 2007 in Deutschland die neuen Investitionen in wichtigen Teilbranchen der erneuerbaren Energien bereits dramatisch eingebrochen. Schuld hat die Bundesregierung, die dagegen nichts tut. Bei der Windenergie gibt es einen Einbruch von 20 Prozent im Binnenmarkt, ({8}) bei der Biogasbranche gar von 50 Prozent. In Bezug auf Holzpelletheizungen gibt es ebenfalls einen Einbruch von 50 Prozent und bei Sonnenkollektoren von 35 Prozent. Wer so mit den - außer bei den Bioenergien - kostenlosen Energiequellen der erneuerbaren Energien umgeht, treibt Stromkunden immer schneller in eine teurer werdende konventionelle Energieversorgung hinein. Der aktuelle Ölpreishöchststand spricht für sich. Gerade im Kohlebereich ist dies doch deutlich sichtbar. Erste Investoren haben dies bereits erkannt und haben Entscheidungen, in neue Kohlekraftwerke zu investieren, zurückgezogen, etwa in München, Bremen oder Krefeld. ({9}) Die Begründungen sind immer gleich: Investitionen in Kohlekraft bergen unkalkulierbare Finanzrisiken. Die Anlagenpreise sind um 30 Prozent gestiegen ({10}) und verteuern so die Investitionen in Kohlekraftwerke. Wie hoch die CO2-Kosten ab 2012 sein werden, kann niemand vorhersagen. Nur eines ist klar: Aufgrund der rasant zunehmenden Klimaveränderung werden sie steigen und steigen. Die Agitation der Bundesregierung gegen die Wettbewerbsvorschläge der EU-Kommission wird ebenfalls die Strompreise steigen lassen. Meine Kollegin Bärbel Höhn wird auf die Wettbewerbspolitik noch näher eingehen. Selbst die Rohstoffpreise für Kraftwerkskohle sind in den letzten Jahren ständig gestiegen und werden weiter steigen, weil Verknappungen auch bei der Kraftwerkskohle bevorstehen. So warnte die deutsche Steinkohlewirtschaft im Mai dieses Jahres vor Verknappungen auf dem internationalen Kraftwerkskohlemarkt bereits ab 2009. Verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen, beispielsweise die von der Energy Watch Group, haben den Nachweis erbracht, dass die weltweiten Kohleressourcen viel geringer sind, als bisher geglaubt. Wer, wie diese Bundesregierung, die SPD und die großen Energiekonzerne, heute noch am Kohleinvestment festhält, wird die Bürgerinnen und Bürger in die Falle immer höherer Energiekosten stürzen und wird wohl die nächste Finanzkrise heraufbeschwören. Schon heute ist absehbar, dass Investitionen in neue Kohlekraftwerke niemals mehr rentabel sein können. ({11}) Wir können nur an die Große Koalition appellieren: Beenden Sie den Irrweg der Kohlesubventionen spätestens ab 2012 und werfen Sie wenigstens ab diesem Zeitpunkt kein Steuergeld mehr für die Unterstützung der Klimazerstörung aus dem Fenster! Wir Grünen werden die vielen Bürgerinitiativen gegen neue Kohlekraftwerke unterstützen. Unsere Unterstützung gilt auch den Menschen in der Lausitz, die gegen den Verlust ihrer Heimat durch das Abbaggern von 33 Dörfern wegen der Braunkohlevorkommen kämpfen. Sie alle werden unsere Unterstützung bekommen. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Albert Rupprecht, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Albert Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003620, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn wir die Verbraucher kurzfristig wirksam vor Monopolpreisen schützen wollen, dann gibt es zur Verschärfung der Missbrauchsaufsicht keine Alternative. Herr Minister, deswegen war die Initiative Ihres Ministeriums, das Wettbewerbsrecht entsprechend zu ändern, richtig, auch wenn es massiven Gegenwind von vielen Interessengruppen gibt. Die Novelle wurde von exzellenten Mitarbeitern des Wirtschaftsministeriums gemeinsam mit Mitarbeitern des Bundeskartellamtes vorbereitet; dafür vielen Dank. Die deutschen Verbraucher zahlen im Jahr unglaubliche 9,5 Milliarden Euro Monopolaufschlag auf ihre Stromrechnungen. Das sind die aktuellsten Werte der Europäischen Kommission. Das heißt: Ein Vier-Personen-Haushalt zahlt pro Jahr im Schnitt über 400 Euro Monopolaufschlag. Das sind eben keine Peanuts. Anders als Herr Bernotat behauptet, ist Strom in Deutschland eben nicht zu billig, sondern zu teuer. Solange es Monopolgewinne gibt, ist der Strompreis zu hoch. Unsere Vorstellung von Deutschland ist, dass sich Leistung lohnt. Das heißt aber auch, dass Leistung bezahlt wird und nicht Größe oder Macht bzw. Vermachtungsstrukturen. Das ist soziale Marktwirtschaft. Natürlich wollen wir einen Wettbewerb, der funktioniert; darüber sind wir uns in diesem Hause einig. Wir sind mit der Anreizregulierung, mit der Kraftwerksanschlussverordnung und anderen Maßnahmen einen großen Schritt vorangekommen. Jeder Realist hier im Hause weiß aber auch: Es wird Jahre dauern, bis die Ernte eingefahren wird. Wir gehen davon aus, dass es spätestens 2010 so weit ist. Bis dahin braucht es aber schnell zeitlich befristete Übergangslösungen. Deswegen gibt es kurzfristig keine Alternative: Das Kartellamt muss personell gestärkt werden, und es braucht insbesondere schärfere Waffen. Die Vorschläge, die nun vorliegen, kommen von Praktikern aus dem Kartellamt. Die Anwender selbst wissen am besten, wieso sie von den Konzernen an der Nase herumgeführt werden. Wie ist denn die Situation zurzeit? Zurzeit treiben die Konzerne ein absurdes Spiel. Auf der einen Seite gibt es sieben Mitarbeiter im Bundeskartellamt und auf der anderen Seite stehen international tätige und verflochtene Konzerne. Das Kartellamt wühlt sich durch Hunderte von Ordnern und muss überhöhte Preise nachweisen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Zeil von der FDP-Fraktion?

Albert Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003620, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gern.

Martin Zeil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003868, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Rupprecht, weil Sie gerade noch einmal über die Problematik im Kartellamt gesprochen haben, frage ich Sie: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, was der Wissenschaftliche Beirat des Ministers, den Sie gerade so gelobt haben, ({0}) gesagt hat? Er hat Bedenken gegen diese Novellierung und hat festgestellt - ich darf das kurz zitieren -: Das für marktbeherrschende Unternehmen der Energiewirtschaft vorgesehene Verbot der Forderung von Entgelten, die die Kosten „in unangemessener Weise“ überschreiten, ist ordnungspolitisch problematisch, schafft Rechtsunsicherheit, kann fatale Präzedenzwirkungen haben und - jetzt kommt das Entscheidende wird das Ausgangsproblem der hohen Preise für Strom und Gas nicht beheben. Wie bewerten Sie diese Kritik?

Albert Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003620, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Zeil, Sie wissen, dass sich das Gutachten auf den Referentenentwurf bezieht. Der Referentenentwurf wurde wesentlich überarbeitet. Es gab zwei bedeutende Kritikpunkte, die im vorliegenden Gesetzentwurf nicht mehr enthalten sind; darauf werde ich nachher noch zu sprechen kommen. ({0}) Zurück zur Situation des Kartellamts. Das Kartellamt wühlt sich, wie gesagt, durch die Ordner, durch die Unterlagen und muss überhöhte Preise nachweisen. Das Ergebnis ist, dass es zu jahrelangen juristischen Auseinandersetzungen kommt. Am Schluss passiert überhaupt nichts, weil sich nach solchen jahrelangen juristischen Auseinandersetzungen der Sachverhalt längst geändert hat und die Preissenkung nicht mehr vollzogen wird. Die Konzerne führen das Kartellamt, die Politik und letztendlich auch die Verbraucher an der Nase herum. Die Bürger erwarten von uns zu Recht, dass wir diesem Treiben ein Ende bereiten. Die vorliegende Novelle leistet das. Im Zentrum stehen zwei Änderungen, zum einen die Beweislastumkehr - künftig müssen marktmächtige Unternehmen nachweisen, dass ihre Preise gerechtfertigt sind - und zum anderen der Sofortvollzug. Künftig bringt es nichts mehr, über juristische Tricks Zeit zu schinden, weil sofort vollzogen wird und die Preissenkung angeordnet wird. Um es nochmals klarzustellen: Es geht hier nicht um eine flächendeckende Preiskontrolle wie bei der Netzregulierung, es geht auch überhaupt nicht um eine staatliche Preissetzung, wie manche Propaganda glauben machen will, sondern es geht ausschließlich um eine nachträgliche, zügige und schlagkräftige Einzelfallprüfung. Es geht darum, ob Marktmacht missbraucht wurde Albert Rupprecht ({1}) und überhöhte Preise verlangt wurden. Es geht darum, dass wir vor internationalen Großkonzernen nicht einknicken. Es geht darum, dass eine staatliche Institution endlich in die Lage versetzt wird, ihren Auftrag zu erfüllen. Das muss doch wohl in unser aller Interesse sein. ({2}) Es gab in der Tat, Herr Kollege Zeil, in den vergangenen Monaten eine rege Debatte um die Reform. Daran waren durchaus ernst zu nehmende Institutionen und ernst zu nehmende Personen beteiligt. So gab es unter anderem das Gutachten, das Sie angesprochen haben, sowie ein Sondergutachten der Monopolkommission. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Die Kritik wurde auf der Basis des ersten Referentenentwurfs formuliert. In dem Gesetzentwurf, der heute eingebracht wird, ist diese berechtigte Kritik aufgenommen worden. Im Wesentlichen betrafen die Kritikpunkte zwei Stellen: Es wurde kritisiert, dass Investitionen verhindert werden, wenn die zulässigen Kosten die Investitionskosten nicht beinhalten. Deswegen wurde vorgeschlagen, klarzustellen, dass es sich bei den akzeptierten Kosten um „Preis gleich Grenzkosten“ handelt. Genau diese Formulierung ist in der Gesetzesbegründung nun umgesetzt. ({3}) Der zweite wesentliche Kritikpunkt betraf die Streichung des Erheblichkeitszuschlages. Zum Verständnis: Der Erheblichkeitszuschlag besagt, dass das Kartellamt bei Preisen, die um bis zu 10 Prozent höher sind als die der Konkurrenz, nicht ermittelt. In diesem Zusammenhang wurde die Sorge geäußert, dass bei Streichung des Erheblichkeitszuschlages alle Anbieter quasi dazu verdonnert würden, in Zukunft zu denselben Preisen anzubieten, weil sie sonst ein Verfahren des Kartellamtes befürchten müssten. Im Ergebnis hätte das dazu geführt, dass der Preiswettbewerb totgemacht worden wäre. Ich denke, diese Kritik war in der Tat berechtigt. Deswegen, Herr Minister, ist auf die Streichung des Erheblichkeitszuschlages im vorliegenden Gesetzentwurf zu Recht verzichtet worden. Ich glaube, dass damit den relevanten Anliegen der Fachwelt auf konstruktive Art und Weise Rechnung getragen wurde. Sehr geehrte Damen und Herren, die Strompreise sind zu hoch. Wir brauchen eine zeitlich befristete Stärkung des Kartellamtes, um gegen Machtmissbrauch vorzugehen, zumindest solange der Wettbewerb noch nicht funktioniert. Der vorliegende Gesetzentwurf stellt, wie ich meine, eine überzeugende Arbeit des Wirtschaftsministers und seines Teams dar und bietet uns eine gute Grundlage für die parlamentarische Debatte in den nächsten Wochen. Zufrieden können wir erst sein, wenn der Monopolaufschlag in Höhe von 9,5 Milliarden Euro jährlich wieder bei den Verbrauchern verbleibt, statt bei Oligopolen und Monopolisten zu landen. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Bärbel Höhn, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Minister legt uns einen Gesetzentwurf vor, mit dem er den Preismissbrauch auf den Energiemärkten bekämpfen will. Sie, Herr Minister Glos, haben hier sehr deutlich gesagt, worum es geht, als Sie ausführten - so habe ich es jedenfalls mitgeschrieben -: Der Wettbewerb funktioniert nicht so, wie Sie es gerne hätten. - Die gleiche Begründung wird ja auch, auf Beamtendeutsch, im Gesetzentwurf gegeben. Auf gut Deutsch heißt das: Es gibt keinen Wettbewerb. Die vier großen Energiekonzerne beherrschen den Markt und missbrauchen ihre Macht, um Wirtschaft und Verbraucher mit unfairen Preisen zu belasten. Das müssen wir stoppen, auch im Sinne der wirtschaftlichen Situation Deutschlands. ({0}) In der Situationsbeschreibung sind wir uns ja noch einig. Aber mit Ihrem Lösungsansatz, Herr Minister, werden Sie dem fehlenden Wettbewerb nicht beikommen. ({1}) Eine Missbrauchsaufsicht ist ein stumpfes Schwert. Damit werden Sie das Problem, das Sie hier zu Recht beklagen, nicht lösen können. ({2}) Ich sage Ihnen auch sehr deutlich, dass das nicht nur meine Meinung ist. Auch Professor Basedow, Vorsitzender der Monopolkommission, sagt in seiner Pressemitteilung ganz klar: Sinnvoller als eine Symptombekämpfung - wie Sie es jetzt machen ist das Ansetzen an den … Ursachen für den fehlenden Wettbewerb … ({3}) Das ist der Weg, den wir gehen müssen: Ansetzen an den Ursachen für den fehlenden Wettbewerb. Die EU-Kommission tut das. Sie hat nämlich den Vorschlag gemacht, zur Erreichung von mehr Wettbewerb eine klare eigentumsrechtliche Trennung von Netz und Produktion vorzunehmen. Und was machen Sie? Sie verwässern diesen Vorschlag. Deutschland und Frankreich haben so lange interveniert, bis die EU-Kommission als Alternative zu der eigentumsrechtlichen Trennung die zweit12026 beste Lösung vorgeschlagen hat, nämlich die Schaffung eines unabhängigen Systembetreibers. Das ist schon eine Verwässerung. Sie können nicht auf der einen Seite hier sagen, Sie seien der Hüter des Wettbewerbs, und auf der anderen Seite die Vorschläge der EU-Kommission verwässern, die für mehr Wettbewerb streitet. Das funktioniert nicht. ({4}) Hinzu kommt: Erst haben Sie sich für den verwässerten Vorschlag der Schaffung unabhängiger Systembetreiber eingesetzt. Aber jetzt, wo dieser vorgelegt worden ist, sagen Sie, das sei mit zu viel Bürokratie verbunden. Da gibt es eine ganz einfache Lösung, die überhaupt nicht bürokratisch ist: Machen wir einen Aktiensplit und sorgen wir damit dafür, dass Netzbetrieb und Stromproduktion getrennt werden. Das wäre die einfache, unbürokratische Lösung, die die EU-Kommission vorschlägt. Unterstützen Sie die EU-Kommission in diesem Vorhaben. Damit würden Sie etwas für den Wettbewerb tun. ({5}) - So einfach, wie Sie sich das vorstellen, ist es nicht. ({6}) Herr Glos, ich nehme Ihnen ab, dass Sie wirklich etwas für den Wettbewerb tun wollen; Sie haben das an vielen Punkten deutlich gemacht. Sie haben zu Recht gesagt, Sie sind Minister für die gesamte Wirtschaft, nicht nur für die Energiewirtschaft. Für die gesamte Wirtschaft aber sind zu hohe, unfaire Energiepreise nicht in Ordnung; sie gefährden den Standort. Aber Sie haben ein Ministerium, in das RWE und andere Energiekonzerne direkt hineinregieren. Am Ende sind Sie für das verantwortlich, was die Mitarbeiter Ihres Ministeriums Ihnen aufschreiben und Sie hier erzählen. Meines Erachtens müssten Sie an dieser Stelle etwas anderes tun; ansonsten werden Sie, gewollt oder ungewollt, zum verlängerten Arm der Energiekonzerne. Das kann nicht in Ihrem Sinne sein. ({7}) Meine Damen und Herren, als ich hier den Kollegen Hempelmann hörte, hatte ich den Eindruck, er versuche jetzt schon wieder, im Sinne von RWE Widerstand selbst gegen diese zweitbeste Lösung aufzubauen. ({8}) Das ist nicht in Ordnung. Wir haben die Verpflichtung, uns für alle Menschen in der Bundesrepublik Deutschland und für die gesamte Wirtschaft in diesem Land einzusetzen, nicht nur für die vier Energieriesen. Das wäre ein Vorgehen, das wir niemals unterstützen werden. Danke schön. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Dieter Grasedieck, SPD-Fraktion.

Dieter Grasedieck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002663, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Minister Glos, Sie sprachen vorhin von dem Vorschlag Ihrer Parteifreundin zur befristeten Ehe. Ich kann es Ihnen im Vertrauen sagen: Ich würde die Ehe nach Ablauf der Frist mit meiner Frau verlängern. ({0}) Dies will ich nun auf den Bergbau übertragen: Die Ehe soll auch über die Zeit nach 2018 verlängert werden. Der Sockelbergbau soll auch nach 2018 erhalten bleiben, ({1}) und zwar sowohl im Saarland als auch in NordrheinWestfalen. Das ist ein ganz wichtiges Ziel, darum müssen wir kämpfen. Meine Damen und Herren, wir müssen einfach über den Tellerrand hinweg, also auch in die Zeit nach 2018, schauen. Insofern begrüße ich den Beschluss der Bundesregierung zum Steinkohlefinanzierungsgesetz. Herr Hempelmann hat bereits ausführlich dargestellt, dass es möglich ist, im Kohlebereich wie auch in den Bereichen der Chemie, der Immobilien und der Kohlekraftwerke zu einer längerfristigen Lösung zu kommen. Wir Politiker müssen über den Tag, also auch über 2018, hinausdenken. Aufgrund der Zeitungsmeldungen der letzten Woche konnte man die Preissprünge im Ölbereich besonders deutlich wahrnehmen. In den letzten drei Jahren ist der Ölpreis von 30 Dollar pro Barrel auf gestern 82,5 Dollar pro Barrel gestiegen, und die Experten sagen, im nächsten Jahr werde die Schallgrenze von 100 Dollar pro Barrel überschritten werden. ({2}) Dies muss bei der gesamten Diskussion in Betracht gezogen werden, denn es ist eine Frage der Wirtschaftlichkeit. Der Süddeutschen Zeitung konnte man unter anderem entnehmen: Die Schwellenländer treiben die Ölpreise nach oben, aber natürlich auch - das steht außer Frage - die anderen Energiepreise. China und Indien sind auf dem Markt vertreten und kämpfen um die international angebotenen Ressourcen: Die Jagd nach Energiereserven hat längst begonnen. Eines muss man beachten, meine Damen und Herren: Die Vorräte an Öl und Gas neigen sich in 40 bis 60 Jahren dem Ende zu. Im Zusammenhang mit der zwischen Russland und China neu gebauten Pipeline müssen wir befürchten, dass in der kommenden Zeit Preissprünge stattfinden werden, und zwar nicht nur beim Gas, sondern natürlich auch im Kohlebereich. Die Importabhängigkeit wird von der FDP in ihren Anträgen immer deutlich angesprochen. ({3}) Gas kommt aus Norwegen und Russland, Öl kommt aus Saudi-Arabien und Libyen, in zehn Jahren vielleicht aus dem Iran und dem Irak. Ganz sicher sind dies nicht alles demokratische Staaten, ganz sicher nicht alles sichere Staaten; das müssen wir bei der Gesamtdiskussion ebenso berücksichtigen wie die Tatsache, dass die Kohlepreise bei weiterer Ressourcenverknappung selbstverständlich ebenfalls nach oben gehen werden. ({4}) All dies muss man mit Blick auf das Jahr 2012 in die Überlegung einbeziehen. Insofern ist die Überprüfungsklausel, die wir eingebaut haben, hervorragend. Wir werden die Weiterentwicklung der erneuerbaren Energien forcieren und unterstützen, aber wir brauchen auch im Jahr 2050 noch unsere Steinkohle, ({5}) vielleicht dann in Verbindung mit CO2-freien Kraftwerken, Herr Fell. Das sagt jeder Experte im Energiebereich. Das ist einfach wichtig, vor allem deshalb, weil wir die flankierenden Industrien berücksichtigen müssen, zum Beispiel die Hersteller von Bergmaschinen. Tausende von Arbeitsplätzen hängen davon ab. 40 Prozent der weltweit eingesetzten Bergmaschinen wurden in Deutschland produziert; auch in diesem Bereich ist Deutschland Exportweltmeister. Wir brauchen daher ein Übungsfeld, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({6}) Deshalb kommt es entscheidend darauf an, dass wir dieses Übungsfeld in der nächsten Zeit - auch nach 2018 erhalten. Einen Punkt will ich noch ansprechen, das ist der Bereich Ausbildung, der gerade für das Saarland und für Nordrhein-Westfalen ein entscheidendes Thema ist. Der Bergbau bildet an den zwei Standorten Saarland und Nordrhein-Westfalen in hervorragender Weise in modernen Berufen aus. Dort werden Zerspanungsmechaniker und Industriekaufleute ausbildet, ferner das gesamte Feld der Berufe im Elektronikbereich. Das sind modernste Berufe; die darin Ausgebildeten werden vom Markt aufgesogen. ({7}) Die jungen Leute bekommen so eine Chance, und diese Chance sollen sie auch in den kommenden Jahren haben. Im Jahre 2012 werden die Sozialdemokraten diese Argumente - steigende Energiekosten, Importabhängigkeit und Arbeitsplätze - gewichten. Deutschland braucht vor Ort einen heimischen Energiesockel. Die Lichter auf unseren wenigen Schachtanlagen dürfen auch nach 2018 nicht ausgehen. Glück auf! ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Joachim Pfeiffer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Einstieg in den Ausstieg aus dem dauersubventionierten Steinkohlebergbau in Deutschland, den der heute in erster Lesung zu behandelnde Gesetzentwurf und die in ihm enthaltene Vereinbarung darstellen, ist ordnungspolitisch richtig und wichtig und stellt den größten Subventionsabbau dar, der bisher in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland erfolgt ist. ({0}) Dies ist eine wichtige Entscheidung für den Standort Deutschland; sie zeigt nämlich, dass wir in der Lage sind, die Rahmenbedingungen für die Entwicklung moderner, zukunftsgerichteter Strukturen zu schaffen, und nicht an dem festhalten, was in der Vergangenheit vielleicht einmal richtig war, was aber heute weder unter weltwirtschaftlichen, noch national-volkswirtschaftlichen oder energiepolitischen und erst recht nicht unter arbeitsmarkt- oder strukturpolitischen Gesichtspunkten sinnvoll ist. Deswegen betone ich, dass wir mit der Entscheidung über die Beendigung der Dauersubventionen, die im Übrigen in einem sehr breiten Konsens - einschließlich der Gewerkschaften - erarbeitet wurde, eine zukunftsorientierte Entscheidung treffen. Im Folgenden möchte ich doch noch einmal auf die Argumente, die heute genannt wurden, eingehen, weil vieles nicht einfach so im Raum stehen bleiben kann. Vielleicht sollte man sich zunächst noch einmal die Historie vor Augen halten, um eine Antwort auf die Frage zu geben, warum sich der Bundestag überhaupt mit dem Thema Steinkohle beschäftigt. Anfang der 70erJahre, als das Thema Versorgungssicherheit auf einmal auf die Tagesordnung kam, haben wir gesagt, wir brauchen zwecks Versorgungssicherheit eine nationale Reserve, um national die Produktion von Strom, Wärme, Heizung und anderer Dinge mehr aufrechterhalten zu können. Das war damals, Anfang der 70er-Jahre, richtig. ({1}) Wie aber stellt sich die Situation heute dar? Heute ist die Situation eine andere. Das, was Sie betreiben, ist Schönfärberei der Vergangenheit; die Realitäten sind heute andere. Das gilt zum Beispiel hinsichtlich des Sockelbergbaus, wie Sie ihn fordern. Die Aufrechterhaltung von 6 bis 8 Millionen Tonnen Sockelbergbau würde angesichts der gegenwärtigen Weltmarktpreise 1,5 Milliarden Euro an staatlichen Beihilfen und Subventionen pro Jahr erfordern. ({2}) Sagen Sie den Bürgern einmal, wer dieses Geld aufbringt! Es wird nämlich vom Steuerzahler aufgebracht. 1,5 Milliarden Euro für 6 bis 8 Millionen Tonnen, bei einem Weltmarkt von 800 Millionen Tonnen Steinkohle, also für nicht einmal 1 Prozent der Weltproduktion von Steinkohle. Auch zur Deckung unseres Primärenergieverbrauchs trägt die nationale deutsche Steinkohleproduktion heute nur noch mit einem Anteil von 5 Prozent bei. Mit 6 bis 8 Millionen Tonnen betrüge der Anteil zur Deckung des Primärenergieverbrauchs nur noch 1 Pro-zent. Die Steinkohle hätte dann mit der Gewährleistung von Versorgungssicherheit überhaupt nichts mehr zu tun. Es ist Augenwischerei, was Sie da betreiben; denn der Steinkohlenbergbau ist mit dem Argument der Versorgungssicherheit in keiner Weise zu rechtfertigen. Ein Sockelbergbau ist für die deutsche Bergbauindustrie auch gar nicht notwendig, wie Sie teilweise versuchen, uns einzureden. ({3}) Diese ist nämlich schon heute im Ausland tätig und hat dort entsprechende Referenzen vorzuweisen. Einen Bergbau in über 800 oder 1 000 Meter Tiefe, wie er in Deutschland stattfindet, gibt es außer in Polen sonst nirgends weltweit. Das heißt, die Referenzanlagen, die man in Deutschland vorweisen kann, werden im Ausland gar nicht benötigt. Auch diese Argumentation läuft also ins Leere. Wir sollten auch noch einmal deutlich machen, welcher Herausforderung der Bund sich jetzt damit stellt, dass er sich noch einmal abschließend engagiert. Über dieses Engagement wurde ja ein Konsens erzielt. Das Argument der Versorgungssicherheit hat dabei keine Bedeutung; hier geht es um eine regionalwirtschaftliche Frage. Trotzdem haben wir uns darauf verständigt, dass der Bund von den 39 Milliarden Euro, die für den Steinkohlenbergbau noch aufzubringen sind, über 20 Milliarden Euro zur Verfügung stellt. Das ist ein einzigartiger Vorgang. In der gesamten Legislaturperiode wird damit, um die Dimension einmal deutlich zu machen - vorhin haben wir bei der Bahn-Debatte ja heftig darüber gestritten, wie wir die Bahn neu ausrichten -, weniger für den Ausbau und die Instandhaltung der deutschen Schienenwege ausgegeben, als der Bund für die Beendigung des subventionierten Steinkohlenbergbaus ausgibt. Diese Größenordnung sollte man sich vor Augen führen. ({4}) - Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. - Der Bund geht insofern mit seinem Engagement bis an die Schmerzgrenze. Trotzdem ist die gefundene Lösung sozialverträglich. Dass sie im Konsens erzielt wurde, ist, wie ich denke, ein wichtiges Ergebnis. Insofern ist ein Ende mit Schrecken in diesem Zusammenhang besser als ein Schrecken ohne Ende. ({5}) Jetzt möchte ich auf die Zukunft eingehen, darauf, was wir mit diesem Konsens schaffen; dies wurde ja von den Linken angesprochen, die sich für die besseren Unternehmer halten. Wir haben ja an der DDR gesehen, wohin das führt, wenn der Staat und die Linken die Unternehmer sind: in den Bankrott. Wahrscheinlich würden sie auch gerne den weißen Bereich der RAG in diesen führen. Was bedeutet denn jetzt diese Aufspaltung? Dies bedeutet, dass 43 000 Beschäftigte im weißen Bereich, in den Bereichen Chemie, Energie und Immobilien, aus einem Korsett befreit werden, eine zukunftsträchtige Entwicklung vor sich haben und der weiße Bereich einen Nukleus darstellen kann, der in dieser strukturschwachen Region auf dem Markt bestehen kann. ({6}) Mit dem Börsengang erhält der weiße Bereich nämlich Zugang zum Kapitalmarkt und kann notwendige Innovationen und Investitionen ohne das Korsett, mit dem schwarzen Bereich verbunden zu sein, und ohne das Damoklesschwert, dass sich angesichts dessen kein privater Investor engagieren würde, angehen. In diesem Bereich können damit langfristig zukunftsträchtige Arbeitsplätze geschaffen werden. ({7}) Der Umsatz in diesem Bereich betrug im letzten Jahr 15 Milliarden Euro. Dieser wird jetzt durch eine intelligente und zukunftsfähige Konstruktion gestärkt. Gleichzeitig schaffen wir eine Lösung, die die Ewigkeitslasten wie Bergbaudauerschäden, Wasserhaltung usw. dauerhaft und abschließend in Form eines Stiftungsmodells regelt. ({8}) In der Anhörung, die bevorsteht, werden wir sicher sehr genau hinterfragen müssen, ob die vorhandenen Mittel und die geplante Konstruktion für die Regelung dieser Fragen ausreichen. Alle Gutachten und alle bisher vorliegenden Zahlen und Fakten unterstreichen dies. Insofern, Frau Kopp, stellen wir keinen Blankoscheck für den schwarzen Bereich aus, der für den Bund oder andere Teile der öffentlichen Hand unbegrenzte Risiken mit sich bringen könnte. ({9}) Zum Schluss möchte ich die Grünen ansprechen. Es ist immer wieder erstaunlich, Herr Fell und Frau Höhn, was Sie hier vortragen. Sie versuchen Ihr Versagen in der Sache zu vertuschen. Sie waren sieben Jahre in der Regierung; da hätten Sie das Ganze doch angehen können. ({10}) Dann wären wir nicht erst 2018 ausgestiegen, sondern vielleicht 2012. Das hätten Sie machen können. Sie können heute nicht mit schriller Rhetorik überdecken, dass Sie als Raubkatze gestartet und als Bettvorleger gelandet sind. In dieser Angelegenheit haben Sie rein gar nichts erreicht. Es ist ziemlich dreist, uns heute vorzuwerfen, diesen Schritt nicht früher erreicht zu haben.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen jetzt zum Ende kommen.

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme jetzt definitiv zum Schluss, Herr Präsident. Die Große Koalition hat mit diesem historischen Beschluss wieder einmal Handlungsfähigkeit bewiesen. Für die betroffenen Regionen ist das der Startschuss für einen auf die Zukunft ausgerichteten Strukturwandel. Die Regionen können jetzt optimistisch in die Zukunft schauen, und die Große Koalition hat deutlich gemacht, dass sie energie- und wettbewerbspolitisch handlungsfähig ist. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich Kollegen Rolf Stöckel, SPD-Fraktion, das Wort. ({0})

Rolf Stöckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003240, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Steinkohlefinanzierungsgesetz ist in der Tat ein großer Erfolg der Großen Koalition, weil damit erstmals sowohl für das Unternehmen als auch für die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und ihre Familien Planungssicherheit geschaffen wird. Mangelnde Planungssicherheit war in den letzten Jahren ein großes Problem. Die Landesregierung von NRW, bestehend aus CDU und FDP, hat ja in den letzten Monaten, eigentlich seit Beginn ihrer Regierungstätigkeit, wesentlich zur sozialen Verunsicherung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land beigetragen. ({0}) - Ich komme dazu. Ich erkläre Ihnen das später. Ich möchte mich ausdrücklich bei Wirtschaftsminister Glos dafür bedanken, dass er in seinem Redebeitrag zur Einbringung dieser beiden Gesetze ausdrücklich auf die Verbraucher und die Bergleute eingegangen ist. In vielen Redebeiträgen, die ich gehört habe, ging es um Subventionen, darum, dass 40 Milliarden Euro in dunklen Schächten vergraben werden. Ich glaube, dass das den tatsächlichen Funktionen und Wirkungen dieser Subventionen nicht gerecht wird. Die Steinkohlesubventionen machen 2 Prozent der gesamten Subventionen des Bundes und der Länder aus. Wenn wir hier über Subventionen für die Bereiche Landwirtschaft, Pharmaindustrie oder regenerative Energien gesprochen hätten, hätten wir eine ganz andere Debattenlage gehabt. ({1}) Meine Partei und meine Fraktion unterstützen die Subventionen für die Landwirtschaft. In unserer Gesellschaft besteht ja wahrscheinlich dahin gehend Konsens, dass es sinnvoll ist, die Landschaft zu pflegen, und dahin gehend, dass wir einen Beitrag dazu leisten müssen. Das gilt sicherlich auch für den Bereich der Förderung der regenerativen Energien aus Gründen ökologischer Notwendigkeiten und der Nachhaltigkeit. Wer behauptet, dass die Subventionen völlig unnütz gewesen seien und man besser Hartz IV hätte auszahlen sollen, Frau Kopp, der zeigt, dass er von dem Thema überhaupt keine Ahnung hat. ({2}) Frau Kopp, Sie kommen aus Nordrhein-Westfalen. Da sollten Sie wissen, dass nicht nur Familien von dem Lohn eines Bergmanns abhängig sind, sondern auch die mittelständische Wirtschaft; die gesamte Region und nicht nur die Bergbauzulieferindustrie lebt also davon. ({3}) Deshalb ist es gut, dass das Steinkohlefinanzierungsgesetz, das ich in der Tat als Meilenstein betrachte, zustande gekommen ist. Dafür will ich ausdrücklich noch einmal allen danken, die daran beteiligt waren, sowohl aufseiten der Bundesregierung, insbesondere aber aufseiten der Gewerkschaften und des Unternehmens. Wir haben in Nordrhein-Westfalen ein vitales Interesse daran, dass es einen geordneten Rückzug und eine ernsthafte Überprüfung im Jahr 2012 gibt. Nordrhein-Westfalen ist ein Industrie-, ein Energieland. Wir haben ein starkes Interesse an einer börsennotierten RAG, die erfolgreich ist. Die Opposition ist sich - das haben wir gerade gehört - in der Ablehnung dieses Weges total einig. Ich kann Ihnen dazu nur sagen: Früher gab es die Haftung des weißen Bereichs für die Altlasten aus dem Abbau und für die sozialen Kosten des schwarzen Bereichs. Was wäre gewesen, wenn wir Börsengang und Stiftungsgründung nicht hinbekommen hätten? Aus Reihen der FDP, vor allen Dingen aber aus Reihen der CDU in Nordrhein-Westfalen wurde das ja lange Zeit torpediert. Das meinte ich übrigens, als ich vorhin gesagt habe, dass Sie die Bergarbeiter und die Beschäftigten im weißen Bereich über Monate hinweg zusätzlich verunsichert haben. Wir wissen, dass mit diesem Gesetz ein verantwortbarer Weg beschritten wird. Das liegt im Interesse der Steuerzahler, die weniger Risiken für Folgekosten - das sind soziale Kosten und Altlasten, die man in der Tat noch nicht abschätzen kann - tragen. Nordrhein-Westfalen hat aber auch ein großes Interesse an energiepolitischer Sicherheit. Deswegen wollen wir den Zugang zu den Lagerstätten wahren. In der Tat ist es so, dass überall auf der Welt noch lange Steinkohlevorräte vorhanden sein werden und diese Energieform genutzt werden wird. Wenn wir, wie das meine Kollegen Grasedieck und Hempelmann hier deutlich gemacht haben, die Bergbauzulieferer und -ausrüster dabei unterstützen, wenn sie überall auf der Welt bessere Kohlekraftwerke mit höheren Wirkungsgraden bauen, dann werden wir einen wesentlichen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Nordrhein-Westfalen haftet nach der heutigen Rechtslage für die Alt- und Ewigkeitslasten, die nicht durch den Haftungsverbund in der RAG gedeckt sind. Deswegen ist es auch im Landesinteresse, dieses Risiko zu begrenzen. Frau Kopp, Sie und einige Vorredner haben hier die Landesvorsitzende der nordrhein-westfälischen SPD, Hannelore Kraft, dafür kritisiert, dass sie gesagt hat, sie stehe an der Seite der Bergleute und hoffe auf Veränderungen der politischen Mehrheiten. Ich kann nur sagen: Die SPD in Nordrhein-Westfalen, aber auch im Bund steht zu den Bergleuten, und die Mehrheitsverhältnisse werden wir verändern. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/5847, 16/6384, 16/5422 und 16/6392 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel Kein Börsengang der Ruhrkohle AG - Bei der Zukunft des Steinkohlenbergbaus soziale und ökologische Aspekte berücksichtigen. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5947, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3695 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen aller Fraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Schneider ({0}), Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Die gesetzliche Rentenversicherung zur solidarischen Erwerbstätigenversicherung ausbauen - Drucksache 16/6440 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1}) Innenausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Volker Schneider, Fraktion Die Linke. ({2})

Volker Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003843, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich mir die Berichterstattung über die Rentenpolitik der Bundesregierung und ihre Selbstdarstellung in diesem Bereich anschaue, dann fühle ich mich bisweilen an Helmut Kohl erinnert, der in einer seiner berühmt-berüchtigten, tiefenphilosophischen Betrachtungen einmal gesagt hat: „Die Wirklichkeit ist leider anders als die Realität.“ Sie werden nicht müde, die Erfolge Ihrer Rentenpolitik zu feiern. Ganz aktuell freut sich Kurt Beck, dass 2008 voraussichtlich mit einer Rentenerhöhung um 1,5 Prozent zu rechnen sei. Hätte er sich beim Kieler Institut für Weltwirtschaft erkundigt, hätte er erfahren, dass sogar mit 1,7 Prozent zu rechnen ist. Das ist ein toller Erfolg, aber nur, wenn man nicht in Betracht zieht, dass gleichzeitig mit einer Inflationsrate in Höhe von 2 Prozent zu rechnen ist. Das bedeutet, auch 2008 real weniger für die Rentnerinnen und Rentner in Deutschland, nämlich 0,3 Prozent. ({0}) - Herr Weiß, Sie können gerne eine Zwischenfrage stellen. - Das hatten wir in diesem und im letzten Jahr - beides Boomjahre - in Deutschland auch schon. In diesem Jahr gibt es real ein Minus von 1,2 bis 1,5 Prozent: nämlich bei einer geschätzten Inflationsrate von 1,7 bis 2 Prozent und einer Erhöhung der Rente um 0,54 Prozent. 2006 gab es real keine Erhöhung und eine Inflationsrate von 1,7 Prozent: Das machte ein Minus von 1,7 Prozent. Diese lange Reihe von Erhöhungen und Nullrunden hatte letztlich immer dasselbe Ergebnis: Die Rentnerinnen und Rentner haben real weniger Geld in der Tasche. Das sind die Erfolge Ihrer Politik. In AnbeVolker Schneider ({1}) tracht des vielgefeierten Aufschwungs ist dieses Ergebnis wahrlich keine überaus erfolgreiche Rentenpolitik. Auch an anderer Stelle werden Sie nicht müde, die Erfolge Ihrer Rentenpolitik zu feiern. Ihr Hauptargument lautet immer: Wir haben die Rente angesichts der Herausforderungen der Demografie zukunftsfest gemacht. Aber was meinen Sie, wenn Sie von Zukunftsfestigkeit reden, und was meinen Sie, was sich die Menschen draußen im Lande erhoffen, wenn sie an Zukunftsfestigkeit denken? Sicherlich nicht, dass sie ihren Lebensabend am Ende eines möglicherweise harten, hoffentlich aber langen und nicht durch Arbeitslosigkeit unterbrochenen Erwerbslebens auf dem nicht armutsfesten Niveau der Grundsicherung im Alter fristen müssen. Stellen Sie sich die Situation eines jungen Menschen vor, der heute 1 843 Euro brutto verdient und sein Arbeitsleben lang in dieser Gehaltsgruppe verbleibt, also nur in den Genuss hoffentlich regelmäßiger Lohnsteigerungen kommt. Wo findet sich dieser Mensch im Alter wieder? Selbst wenn ihm Arbeitslosigkeit ein Leben lang erspart bliebe, müsste er 48 Beitragsjahre nachweisen können, um sich dann auf dem Niveau der Grundsicherung - das entspricht heute rund 670 Euro - wiederzufinden. Ist das für Sie zukunftssicher? Sie wollen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer absichern, indem Sie sie „verriestern“ und „verrürupen“. Aber was heißt das für diesen jungen Menschen? Er bekommt ein Nettogehalt in Höhe von 1 200 Euro. Davon kann man längst nicht mehr all das bezahlen, was man braucht, wenn man gerade dabei ist, sich eine Existenz aufzubauen, eine Wohnung einzurichten, den eigenen Lebensunterhalt zu finanzieren und ein Auto zu unterhalten. Aber Sie wollen, dass dieser junge Mensch von seinem Geld noch rund 75 Euro pro Monat in die Riester-Rente einzahlt. Selbst Ihre Minister wissen, dass das nicht geht, und sind schnell mit schlauen Vorschlägen zur Stelle. Sie sagen, für die Altersvorsorge könne man ja auf den Urlaub oder auf das Auto verzichten. Sind das die Erfolge Ihrer Rentenpolitik? Immerhin lobt Sie die OECD für Ihre Erfolge. Aber was steht tatsächlich im Bericht der OECD? Dort steht nichts anderes, als dass ein Arbeitnehmer, der im Jahr 2004 im Alter von 20 Jahren zu arbeiten beginnt, bei voller Erwerbstätigkeit bis zum gesetzlichen Rentenalter und mit konstant 50 Prozent des Durchschnittseinkommens - das wären aktuell 1 229 Euro brutto - 39,9 Prozent seines Bruttoverdienstes als Rente bekommt. Damit nimmt Deutschland unter allen OECD-Staaten den letzten Platz ein. Dafür lassen Sie sich loben? ({2}) Das ist leider kein bedauerlicher Ausreißer. Im Schnitt befindet sich Deutschland auf dem sechstletzten Platz. An der Spitze stehen neben Luxemburg solche „Wirtschaftsgiganten“ wie Griechenland und die Türkei. Gestern haben wir hier über den Altenbericht der Bundesregierung diskutiert. Die große Koalition stellt in einer von ihr eingebrachten und verabschiedeten Entschließung zum Altenbericht hinsichtlich der Auswirkungen ihrer eigenen Rentenpolitik auf das Einkommens- und Vermögensniveau der zukünftigen älteren Generationen Erstaunliches fest: Berechnungen prognostizieren selbst unter der Annahme ununterbrochener Erwerbsverläufe und - jetzt müssen Sie aufpassen unter voller Ausnutzung der Fördermöglichkeiten ein sinkendes Niveau des Nettoeinkommens im Alter, sodass aufgrund einer zunehmenden Einkommensungleichheit ein steigendes Armutsrisiko im Alter befürchtet werden muss. Da kann ich Ihnen uneingeschränkt recht geben. Auch bei ununterbrochener Erwerbstätigkeit und bei voller Ausnutzung aller Fördermöglichkeiten werden zukünftige Rentner damit rechnen müssen, in zunehmendem Maße von Altersarmut betroffen zu sein. Das ist der Erfolg Ihrer Rentenpolitik. Genauso, wie Sie im Hinblick auf die Rentenpolitik Ihre ganz eigene Realität schaffen, versuchen Sie darüber hinaus, den Menschen draußen im Lande ein verzerrtes Bild von der Rentenpolitik der Linken wiederzugeben. Sie behaupten, dass die Linke den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mehr Geld für die Rente aus den Taschen ziehen will. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Schneider, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Spieth aus Ihrer Fraktion? Ich nehme an, das ist hilfreich für Sie. ({0})

Volker Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003843, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich lasse fast alle Zwischenfragen zu. ({0})

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Es ist interessant, wie die Mitglieder der anderen Fraktionen reagieren, wenn man einem Redner aus der eigenen Fraktion eine Frage stellen will; Sie machen das übrigens regelmäßig. Das ist aber nur eine Vorbemerkung. Zu meiner Frage. Herr Kollege Schneider, können Sie bestätigen, dass Bundestagsabgeordnete, die eine volle Legislaturperiode Mitglied des Deutschen Bundestages waren und in ihrer zweiten Legislaturperiode nach zwei Jahren ausscheiden, ab ihrem 65. Lebensjahr eine Rente von knapp 1 700 Euro erhalten, und das, ohne jemals Beiträge gezahlt zu haben? ({0})

Volker Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003843, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wenn die zweite Legislaturperiode aufgrund der vorzeitigen Auflösung des Bundestages verkürzt wäre, ja. Ansonsten muss man für diesen Anspruch beide Legislaturperioden vollständig haben, lieber Kollege Spieth. ({0}) Zu der Frage, ob wir den Arbeitnehmern mehr oder weniger Geld aus der Tasche ziehen. Nach unseren Vorschlägen wären zurzeit 22 Prozent in die Rentenversicherung einzuzahlen; das wären 11 Prozent für die Arbeitnehmer. Dank Ihrer Reformen gilt derzeit ein Satz von 19,5 Prozent; der Arbeitnehmeranteil beträgt also 9,75 Prozent. Hinzu kommen selbst nach Abzug der staatlichen Förderung - die immerhin ein Drittel der Riester-Sparer gar nicht in Anspruch nehmen - noch einmal 3 Prozentpunkte. Das macht 12,75 Prozent - und das bei einem niedrigeren Rentenniveau. Wollten Sie dieses auch noch ausgleichen, brauchten Sie weitere 3 Prozentpunkte für die private Vorsorge. Das macht 15,75 Prozent. Was liegt nun höher: 15,75 Prozent oder 11 Prozent? Um das zu beurteilen, reicht wohl die berühmt-berüchtigte Volksschule Sauerland. Das sind die „Erfolge“ Ihrer Rentenpolitik. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Peter Weiß, CDU/CSUFraktion. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben wieder einmal eine der üblichen Rentenbeschimpfungen und Lügenkampagnen der Linken mitbekommen, ({0}) aber keine einzige Antwort an die Rentnerinnen und Rentner und an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland auf die Frage, wie man es denn besser machen wollte. ({1}) Es ist festzustellen, dass die seit Mitte des vergangenen Jahres positive wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland und die Politik der Großen Koalition dazu führen, dass in Sachen Rente endlich nicht ständig neue Hiobsbotschaften verkündet werden müssen, sondern dass wir endlich einmal gute Nachrichten haben. Um es noch einmal für alle klarzustellen: Die gesetzliche Grundlage ist - das wird übrigens von den Linken nicht infrage gestellt: Sie haben nicht beantragt, das zu ändern -, dass sich die Rentenerhöhung danach bemisst, wie die Löhne im Vorjahr durchschnittlich gestiegen sind, nach nichts anderem. Wir haben dieses Jahr eine leichte Rentenerhöhung gehabt, und wir werden aller Voraussicht nach auch nächstes Jahr eine haben, von einem 1 Prozent oder mehr. Das ist deutlich mehr als die Nullrunden der vergangenen Jahre. Zweitens. Unsere Rentenkasse ist nicht mehr klamm. Sie kann jedes Jahr neue Rücklagen bilden, sodass wir in den kommenden Jahren relativ rasch wieder auf eine Rücklage von 1,5 Monatsausgaben kommen. Dann werden wir die Situation haben, dass wir den Rentenversicherungsbeitrag wieder senken können. Um die Entwicklung gerade des letzten Jahres noch einmal zusammenzufassen: Unter der Großen Koalition ist die Rente wieder sicherer geworden. Das ist eine gute Botschaft. ({2}) Mein Vorredner hat nicht davon geredet, dass die Linken zu dieser Debatte einen Antrag vorgelegt haben, ({3}) in dem vorgeschlagen wird, dass alle Rentenreformen der vergangenen Jahre zu beseitigen sind. Dann würde es den Menschen in Deutschland angeblich wieder besser gehen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, das ist eine glatte Lüge. Links lügt die Menschen in diesem Lande in einer schamlosen Weise an, was die Rente anbelangt. ({4}) Ich möchte noch einmal darauf aufmerksam machen, warum die Rentenreformen notwendig gewesen sind. War das Jux und Tollerei, oder war das eine Notwendigkeit? Wir stehen in Deutschland vor zwei wichtigen demografischen Herausforderungen. Die eine ist: Die sogenannten geburtenstarken Jahrgänge - diese Menschen sind heute zwischen 35 und 55 Jahre alt; übrigens ist der Jahrgang 1964 der geburtenstärkste im Nachkriegsdeutschland - werden in den kommenden Jahrzehnten sukzessive in Rente gehen. Ihnen folgen Jahrgänge, die ein Drittel weniger Männer und Frauen umfassen. Das zweite Problem ist: Die durchschnittliche Lebenserwartung steigt noch einmal deutlich an. Im Jahr 2030 werden 50 Rentnerinnen und Rentner auf 100 Erwerbstätige kommen, während heute das Verhältnis 32 Rentnerinnen und Rentner zu 100 Erwerbstätigen ist. Deswegen hat schon im Jahr 1987 die im Auftrag der Bundesregierung verfasste Prognos-Studie festgestellt, dass, wenn wir angesichts dieser demografischen Herausforderung - längere Lebenserwartung, die weiter ansteigt; mehr Ältere, die in Rente gehen; weniger Junge, die nachkommen - nicht handeln, der Rentenversicherungsbeitrag bis zum Jahr 2030 auf 36 oder sogar Peter Weiß ({5}) 41 Prozent ansteigen wird. Das ist für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine unvorstellbare Zahl. Deswegen ist gehandelt worden. ({6}) Von diesem Problem redet die Linke überhaupt nicht. Sie versteckt sich vor den Tatsachen und erzählt den Leuten schlichtweg etwas Falsches. ({7}) Worin besteht die Antwort im Zuge der Rentenreform der vergangenen Jahre? Wir lassen den Rentenversicherungsbeitrag für die jüngeren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht auf 41 Prozent hochschnellen - auch die wollen von dem leben, was sie in ihrem Beruf verdienen -, ({8}) sondern wir belassen ihn auf maximal 20 oder 22 Prozent. ({9}) Dafür sinkt langsam das Rentenniveau. Aber wir lassen die Rentnerinnen und Rentner der Zukunft mit diesem Problem nicht alleine und haben uns deswegen entschieden, das deutsche Alterssicherungssystem so umzubauen, dass es künftig nicht mehr nur auf einer Säule, der gesetzlichen Rentenversicherung, beruht, sondern auf drei Säulen. ({10}) Ergänzend zur gesetzlichen Rente gibt es eine betriebliche Altersvorsorge und eine kapitalgedeckte Altersvorsorge. Diesen Systemwandel haben die Deutschen verstanden; ({11}) denn Sie handeln entsprechend. Bereits heute haben 65 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland zusätzlich einen Betriebsrentenanspruch. Die Anzahl derer, die einen solchen Anspruch haben, ist in den letzten Jahren deutlich angewachsen. Es gibt bereits heute 8,5 Millionen Riester-Verträge in Deutschland. Allein vom letzten Jahr auf dieses Jahr wurden über 2 Millionen Riester-Verträge zusätzlich abgeschlossen. Die Menschen haben durchaus verstanden, dass es richtig ist, die Altersvorsorge der Zukunft nicht nur auf ein, sondern auf drei Standbeine zu stellen. Was machen wir in der Politik? Wir haben die Verpflichtung, die Menschen dabei zu unterstützen. Deswegen werden wir zum Beispiel noch in diesem Herbst im Deutschen Bundestag beschließen, dass die steuer- und sozialabgabenfreie Entgeltumwandlung zugunsten der Altersvorsorge über das Jahr 2008 hinaus verlängert wird. Das ist ein klares und eindeutiges Angebot an Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sowie an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, das sie auch in Anspruch nehmen. ({12}) Wir zahlen bei der Förderung der Riester-Rente eine relativ großzügige Zulage. Wir haben miteinander verabredet, dass ab dem nächsten Jahr diese Zulage auf 300 Euro pro Kind erhöht wird. Das ist bares Geld, das der Staat den Bürgerinnen und Bürgern schenkt, die einen Riester-Vertrag abschließen, und zwar jedes Jahr neu. ({13}) Der Altersvorsorgebericht der Bundesregierung stellt zusammenfassend fest, dass das Gesamtversorgungsniveau der Rentnerinnen und Rentner der Zukunft mit diesen drei Säulen nicht sinken und niemand in Altersarmut geraten wird; denn das Versorgungsniveau kann auch in Zukunft stabil gehalten werden. Das ist die eigentlich gute Nachricht. Der Wechsel in der deutschen Altersvorsorge von einer Säule auf drei Säulen funktioniert. Diejenigen, die noch nicht mitgemacht haben, kann ich nur auffordern: Bitte gehen Sie diesen Weg mit. Für die Jüngeren gilt: Nicht eine Säule, sondern drei Säulen sind notwendig, um im Alter einigermaßen auskömmlich leben zu können. Dann ist Altersarmut auch in Zukunft in Deutschland ein Fremdwort. Nun gibt es von den Linken noch eine Idee, die sie ganz großartig finden. Sie wollen die Probleme in der Rentenversicherung dadurch beseitigen, dass alle einzahlen müssen. Das hört sich zunächst einmal ganz gut an. Wenn aber alle einzahlen, bekommen auch alle etwas heraus. Ausgerechnet Personengruppen mit einem Anspruch auf eine hohe Rente und einer relativ hohen Lebenserwartung, die über dem Durchschnitt liegt, sollen in die Rentenkassen integriert werden. Das, was die Linken vorschlagen, ist für die Rentenversicherung kein Plusgeschäft, sondern ein Minusgeschäft. ({14}) Deswegen hat der Deutsche Bundestag die EnqueteKommission Demographischer Wandel eingesetzt. Prominente Wissenschaftler haben untersucht, was passieren würde, wenn man alle in die Rentenversicherung aufnehmen würde und es dadurch mehr Bezieher hoher Renten geben würde. Im Schlussbericht aus dem Jahre 2002 wurde festgestellt: Da sich bei einem versicherungsmäßig organisierten Rentensystem jede Ausweitung des Versichertenkreises zeitversetzt in ausgeweiteten Ansprüchen niederschlägt, ist - zumal Freiberufler, Selbständige und Beamte eine höhere ferne Lebenserwartung als der gegenwärtige Versichertenbestand haben dürften - eine Ausweitung des Versichertenkreises keine Antwort auf das demographische Problem. Peter Weiß ({15}) Offensichtlich können die Linken nicht lesen. Sie finden auch keine Bundestagsdrucksachen zu diesem Thema. Sonst müssten sie es wissen und würden hier keinen solchen Unsinn beantragen. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Sitte von der Linksfraktion?

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege, zu meiner Lesekompetenz will ich mich jetzt nicht äußern. ({0}) Wenn Sie sich mit unserem Konzept schon so auseinandersetzen, nehmen Sie doch bitte wenigstens zur Kenntnis, dass wir gerade bei dem letzten Beispiel ausdrücklich von einer Degression sprechen und davon, dass die Leistungen nach oben gedeckelt sind. Sie wissen natürlich ganz genau: Wenn es so wäre, wie Sie es beschreiben, würde uns die Rente von Herrn Ackermann tatsächlich nackt machen. ({1})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Sitte, ich empfehle Ihnen, einfach einmal die Rentengesetzgebung insgesamt durchzulesen. ({0}) - Ja, ich rede von Ihrem Vorschlag. ({1}) Selbstverständlich war es in der Rentenversicherung schon immer so und ist es auch heute noch, dass nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze Rentenversicherungsbeiträge gezahlt werden. Die Rente bemisst sich natürlich nach den Entgeltpunkten, die gesammelt wurden und nicht nach dem Supergehalt, das über der Beitragsbemessungsgrenze liegt. Das war schon immer so. Ich wiederhole: Ihr Vorschlag bedeutet, dass Personenkreise, die zurzeit durch ein eigenes Versicherungssystem abgesichert sind, dort relativ hohe Rentenansprüche erwerben, weil sie relativ gut verdienen, und die nach den Untersuchungen der Enquete-Kommission Demographischer Wandel im Durchschnitt eine höhere Lebenserwartung haben als andere und damit noch länger Rente beziehen, in die Rentenversicherung aufgenommen werden. Dann müssen diese hohen Renten aber auch relativ lange gezahlt werden. Auch Sie von der Linksfraktion können Adam Riese nicht außer Kraft setzen. ({2}) Unter dem Strich ist das schlichtweg ein Minusgeschäft für die deutsche Rentenversicherung. Das machen wir nicht mit. ({3}) Ich will gern Folgendes zugeben: Bei den künftigen Veränderungen, die wir im Rentensystem sicher noch erleben werden, werden wir noch einmal genau prüfen müssen, ob die Rentenversicherung auch eine Antwort darauf geben muss, dass sich die Lebenswirklichkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland verändert hat. Früher ist man Angestellter oder Arbeiter geworden, und das blieb man dann auch bis zur Rente; oder man ist Selbstständiger geworden, und das blieb man ebenfalls bis ins Alter. Heute erleben wir es, dass immer mehr Menschen zwischen den beiden Beschäftigungsformen „selbstständig“ und „nicht selbstständig“ wechseln. Deshalb muss die Rentenversicherung für die Zukunft ein Angebot machen, damit wir für diese Personenkreise eine durchgängige Alterssicherung aufbauen und auf diese sich verändernde gesellschaftliche Wirklichkeit reagieren können. Dieses Reformvorhaben liegt vor uns. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, zusammenfassend will ich noch einmal feststellen, dass die Große Koalition zu Recht stolz darauf sein kann, dass sie die Rente in Deutschland wieder auf ein sicheres Fundament gestellt hat. Wir können stolz darauf sein, dass die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land verstanden haben, dass sie eine zweite und dritte Säule der Alterssicherung brauchen. Wir werden sie durch unsere Gesetzgebungsmaßnahmen aktiv dabei unterstützen - auch mit nennenswerten finanziellen Förderbeträgen. Wir sollten diesen Weg einer zukunftsfesten Alterssicherung in Deutschland weitergehen und uns nicht durch Lügengeschichten und Märchenstunden von links verwirren lassen. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegen Heinrich Kolb, FDP-Fraktion, das Wort. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der heute hier zu diskutierende Antrag der Linken entspricht dem gängigen Muster nahezu aller Anträge dieser Fraktion: Erst werden vorgeblich oder tatsächlich bestehende ProDr. Heinrich L. Kolb bleme immer in dramatisierender Form, Herr Schneider, angesprochen, und dann werden - Geld spielt keine Rolle - allerlei Heilsversprechen zur Problemlösung angeboten. Bei dem, was wir heute hier beraten, ist mein Eindruck, dass „Wünsch dir was“ offensichtlich wieder der Leitgedanke bei der Abfassung des Antrags gewesen ist. Herr Weiß, das ist eben das Problem: Die Linken geben Antworten, aber sie geben nur einfache Antworten und gehen den Weg des geringsten Widerstandes. ({0}) Herr Schneider, was den Antrag besonders diskreditiert, ist, dass Sie - und das wider besseres Wissen; denn eigentlich wissen Sie, wie die gesetzliche Rente funktioniert - in der gesetzlichen Rentenversicherung, die bisher nach dem Äquivalenzprinzip funktioniert, künftig das Solidaritätsprinzip zur Maxime machen wollen. Das heißt im Klartext, ({1}) dass nicht mehr die Beitragsleistung eines Versicherten, sondern allein sein Bedarf leistungsbegründend sein soll. Das halten wir für falsch, und das ist auch nicht mehr die gesetzliche Rentenversicherung, die in den letzten fünf Jahrzehnten erfolgreich war und die Sie doch angeblich wieder stärken wollen. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schneider?

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Selbstverständlich, ja.

Volker Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003843, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Kolb, in unserem Antrag steht, dass wir solidarische Elemente in dieser Rentenversicherung wollen, aber es ist nicht das enthalten, was Sie jetzt beschrieben haben. Sehe ich das richtig? Oder können Sie das, was Sie ausgeführt haben, vielleicht anhand einer anderen Stelle belegen? Eine Anmerkung dazu: Es ist doch auch Ihnen bekannt, dass solche solidarischen Elemente in der Rentenversicherung zumindest nicht ganz neu wären; denn das System der Mindestentgeltpunkte hat auch früher schon dazu gedient, die ganz niedrigen Renten anzuheben. Ein Letztes. Spricht nach der grundgesetzlichen Auslegung des Äquivalenzprinzipis etwas dagegen, beispielsweise bei den hohen Einkommen die Kurve der Rente abzuflachen, um das, was man dort einspart, im unteren Bereich zu verteilen?

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Schneider, ich habe mir Ihren Antrag vorsichtshalber mit an das Rednerpult genommen. Unter Ziffer II.1 lese ich, dass der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auffordern soll, „die gesetzliche Rentenversicherung zu einer solidarischen Erwerbstätigenversicherung weiterzuentwickeln“. ({0}) - Das steht dort schwarz auf weiß. - Dort heißt es weiter: … in der alle Erwerbseinkommen rentenversicherungspflichtig sind, und so insbesondere dem Wandel in der Arbeitswelt und dem wachsenden Schutzbedürfnis der Erwerbstätigen … Rechnung zu tragen … Die Kernaussage ist also, dass die gesetzliche Rentenversicherung zu einer solidarischen Erwerbstätigenversicherung weiterentwickelt werden soll. Ich verstehe diesen Punkt so, wie ich es hier ausgeführt habe, ({1}) nämlich dass es nicht mehr darum geht, wer welchen Beitrag gezahlt hat, sondern dass geschaut werden soll, wer was braucht. Dann müssen alle mit ihren Beitragsgeldern solidarisch dazu beitragen, dass dieser Bedarf gedeckt wird. Wenn man das liest, dann kann man vielleicht auch zu anderen Ergebnissen kommen. Ich ziehe diesen Schluss aber für mich. Ich glaube, dass viele in diesem Hause, die das auch gelesen haben oder die die Debatte jetzt zum Anlass nehmen, das zu lesen, zu den gleichen Ergebnissen kommen werden. ({2}) Herr Kollege Schneider, da Sie von einem falschen Grundprinzip ausgehen, kommen Sie natürlich auch zu den falschen Ergebnissen; denn - das hat der Kollege Weiß schon gesagt - eine Ausdehnung des Kreises der Versicherten schafft nur kurzfristig finanziellen Spielraum. Schon mittelfristig - und langfristig sowieso - stehen den zusätzlichen Beiträgen auch zusätzliche Rentenzahlungen gegenüber. Was meinen Sie eigentlich mit Ihrer Forderung in Ziffer II.5 Ihres Antrages - vielleicht können Sie auch dazu eine Zwischenfrage stellen, Herr Schneider -, „Maßnahmen zu ergreifen, um den solidarischen Ausgleich in der Gesetzlichen Rentenversicherung zu stärken“? Zwischen welchen Gruppen soll denn konkret ein solidarischer Ausgleich gestärkt werden? Aus unserer Sicht muss es vor allem um einen gerechten Ausgleich zwischen den Generationen gehen. ({3}) Generationengerechtigkeit scheint aber für die Linken, die populistisch immer die nächste Wahl im Blick haben, kein Thema zu sein. ({4}) Sonst könnten Sie nicht ernsthaft die Streichung der Dämpfungsfaktoren in der Rente - Nachhaltigkeits-, Nachhol- und Riester-Faktor - fordern, durch die verhin12036 dert werden soll, dass die Beiträge für die kommenden Generationen auf ein unerträgliches Maß ansteigen. ({5}) Ich finde es im Übrigen putzig, Herr Schneider, wenn sich die Linken jetzt um die Zukunft der Selbstständigen in diesem Lande sorgen, ({6}) die angeblich nicht mehr genug Geld verdienen, um für ihr Alter vorzusorgen. Wenn das so wäre, Herr Schneider, wäre es dann nicht sinnvoller und konsequenter, nach Mindestlöhnen nun auch Mindestgewinne zu fordern? ({7}) Ich bin mir aber sicher, dass es der Linken gar nicht um den Schutz der betroffenen Selbstständigen, sondern um das ideologische Ziel der Gleichmacherei geht. ({8}) Die vielfältigen Formen der Altersvorsorge sollen reduziert und die Entscheidungs- und Wahlmöglichkeiten eingeschränkt werden. Wir wollen aber keine soziale Gerechtigkeit, die darin besteht, dass es allen gleich schlecht geht. Wer mehr für sein Einkommen im Alter tut - gerne auch im Wege einer kapitalgedeckten Vorsorge; deswegen sind wir mit Ihnen einer Meinung, dass die Förderung bei der Riester-Rente für alle geöffnet werden soll -, der soll und muss letzten Endes auch mehr haben. Man darf nicht übersehen, dass die Präferenzen der einzelnen Menschen unterschiedlich sind. Manch einer möchte während seiner Erwerbstätigkeit lieber sparen und in ein kleines Häuschen investieren. Er benötigt dann im Alter eine nicht so hohe Rente wie derjenige, der im Alter weiterhin Miete zahlen muss. Klar muss aus meiner Sicht allerdings sein: Wer in jungen Jahren sein Einkommen in den Konsum fließen lässt, der darf nicht im Alter der Gemeinschaft zur Last fallen. ({9}) Nach diesen Ausführungen wird es Sie nicht überraschen, dass wir Ihren Antrag ablehnen. Ich will aber - da wir in einem Punkt zumindest teilweise übereinstimmen; auch die FDP lehnt die Anhebung der starren Regelaltersgrenze auf 67, die die Koalition beschlossen hat, ab ({10}) die verbleibende Redezeit dazu nutzen, das FDP-Konzept zur Bewältigung der Herausforderungen, die auf die Rentenversicherung in Zukunft zukommen, zu skizzieren. Ich glaube, dass unser Konzept modern und innovativ ist und dass der Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand neu geregelt werden muss. ({11}) Notwendig ist nicht weniger als ein Paradigmenwechsel. Statt eines möglichst frühen Ausscheidens aus dem Arbeitsprozess muss eine möglichst lange Teilhabe am Erwerbsleben zum neuen gesellschaftlichen Leitbild werden. Ich will dieses Leitbild mit dem Konzept eines flexiblen Übergangs in die Rente ab 60 bei gleichzeitigem Wegfall aller Zuverdienstgrenzen umschreiben. Das schafft Anreize, möglichst lange zu arbeiten und bietet zugleich den Menschen die Möglichkeit, individueller als heute zu entscheiden, in welcher Lebensphase sie welchen Lebensstandard haben wollen. ({12}) Ich denke auch, dass ein solches Konzept der Lebenswirklichkeit besser gerecht wird als die Anhebung des starren Renteneintrittsalters auf 67. Heute erfolgen nur noch 22 Prozent der Rentenzugänge aus einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Nur 28 Prozent der über 60-Jährigen sind noch erwerbstätig. Insofern glaube ich, dass man mit den folgenden vier Punkten den Menschen besser gerecht werden kann: Erstens. Wie schon gesagt, sollte für alle Versicherten ab 60 Jahren die Möglichkeit bestehen, sich zu entscheiden, ob sie eine Voll- oder Teilrente beziehen wollen. Voraussetzung für den flexiblen Rentenzugang ist allein die Grundsicherungsfreiheit, also dass die Summe der gesetzlichen, betrieblichen und privaten Altersversorgungsansprüche ab dem Zeitpunkt des Rentenbezugs über dem Niveau der Grundsicherung liegt. Die Prüfung erfolgt für die Bedarfsgemeinschaft, sodass auch Frauen der flexible Rentenzugang ermöglicht wird. Wir gehen davon aus, dass 90 Prozent der Versicherten diese Möglichkeit nutzen könnten. Zweitens. Die Grenzen für Zuverdienst neben dem Rentenbezug werden aufgehoben. Die Versicherten entscheiden selbst, ob und in welchem Umfang sie neben einem Rentenbezug noch erwerbstätig sein wollen. Damit wird es möglich, den Lebensstandard auch bei einem vorzeitigen Rentenbezug zu halten. Für den Zuverdienst sind Sozialversicherungsbeiträge mit Ausnahme der Arbeitslosenversicherung zu zahlen. Die durch die Rentenbeiträge neu erworbenen Entgeltpunkte können dann von einem versicherten Arbeitnehmer zu einem von ihm wählbaren Zeitpunkt zur Erhöhung der eigenen Rente eingesetzt werden. Drittens. Mit einem individuellen Zugangsfaktor wird der Zeitpunkt des Rentenzugangs ab dem 60. Lebensjahr berücksichtigt. Je länger der Versicherte arbeitet, desto höher ist der Zugangsfaktor. Im aktuellen Rentenwert wird zudem für jede Alterskohorte die zu erwartende durchschnittliche Rentenbezugsdauer berücksichtigt. Dadurch wird eine gerechte Verteilung der Lasten auf die verschiedenen Jahrgänge erreicht. ({13}) Schließlich brauchen wir flankierende Reformen des Arbeitsmarktes, damit die Beschäftigung älterer Arbeitnehmer wieder begünstigt wird. Dass heutzutage über 50-Jährige schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, ist den geltenden Arbeitsmarktregelungen und -gesetzen geschuldet. Man kann diese Regelungen und Gesetze so anpassen, dass Ältere in den Unternehmen bessere Chancen auf Wiedereinstellung haben. ({14}) Wir haben ein modernes Konzept in die Beratungen über die Rente mit 67 eingebracht. Wir setzen damit auf die freie Entscheidung jedes Einzelnen, statt über die Köpfe der Menschen hinweg ein höheres Renteneintrittsalter anzuordnen. Mit unserem Konzept gibt es Anreize, länger zu arbeiten und später Rente zu beziehen. Das wird die Beschäftigungsquote bei den Älteren steigern. Wir freuen uns, Herr Kollege Amann, dass die SPD unseren Vorschlag aufgreift und über bessere Möglichkeiten der Flexibilisierung und der Inanspruchnahme einer Teilrente nachdenkt. Es wäre schön, wenn sich auch die Kollegen der Union auf diesen Weg begäben. Wenn ich mir Ihren Antrag anschaue, liebe Kollegen von der Linken, dann kann ich nur sagen: Bei Ihnen scheint Hopfen und Malz verloren zu sein. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Gabriele Hiller-Ohm, SPD-Fraktion.

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, wir mussten ziemlich lange auf Ihren Antrag warten. Gelohnt hat sich das Warten allerdings nicht. Sie wollen mit einem Sechspunkteprogramm eine Revolution im Rentensystem auslösen. Was Sie vorlegen, ist jedoch nur Stückwerk. ({0}) Richtig ist, dass die gesetzliche Rentenversicherung weiterentwickelt werden muss. Auch die SPD spricht sich für eine Erwerbstätigenversicherung aus, in die möglichst alle Beschäftigten und Arbeitslosengeldbezieher einbezogen werden sollen. Wir wollen das System auf eine breitere Basis stellen und möglichst alle Erwerbstätigen am Solidarsystem beteiligen. Uns ist aber ganz wichtig, dass wir bei einer Umgestaltung der gesetzlichen Rentenversicherung mehr Gerechtigkeit im System erreichen. Ihr Sechspunkteprogramm hilft uns hier allerdings nicht weiter. Es enthält keinen einzigen konkreten Vorschlag für einen solidarischen Ausgleich. Vielleicht sollten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, Ihren Antrag einmal daraufhin durchlesen. Konkret hingegen fordern Sie die ersatzlose Streichung der gesetzlichen Begrenzung des Beitragssatzes. Das scheint auf den ersten Blick eine griffige Gerechtigkeitsforderung zu sein. Wer viel Geld hat, soll entsprechend viel zahlen. Warum also nicht die Reichen prozentual genauso an den Einzahlungen beteiligen wie die Ärmeren? Das hört sich gut an. Leider blenden Sie aber bei Ihrer Forderung völlig aus, dass die gutbetuchten Einzahler, die Sie zur Kasse bitten wollen, natürlich auch komfortable Leistungsansprüche erwerben. Die Höhe der Ansprüche richtet sich nämlich nach dem, was eingezahlt wurde. Man nennt das Äquivalenzprinzip. Eine solidarische Erwerbstätigenversicherung nach unseren Vorstellungen muss garantieren, dass möglichst alle abgesichert sind. Sie muss aber auch gewährleisten, dass die erworbenen Ansprüche dann im Rentenalter zwischen den Bevölkerungsschichten gerecht verteilt werden. Hier liegt der Hase im Pfeffer; denn dies ist schon heute nicht gewährleistet. Ursache ist die unterschiedliche Lebenserwartung von armen und reichen Bevölkerungsschichten bzw. Beitragszahlern. Gutverdiener leben in unserer Gesellschaft statistisch gesehen etwa fünf Jahre länger als Menschen aus ärmeren Bevölkerungsschichten. Es ist ganz klar: Wer länger lebt, der bezieht auch länger Rente. Gutverdiener profitieren aufgrund ihrer längeren Lebenserwartung also deutlich länger vom Solidarsystem als Versicherte aus ärmeren Bevölkerungsschichten. Dies ist die heutige Situation. Durch die Streichung der Beitragsbemessungsgrenze verschärfen Sie diese ungerechte Verteilung noch, denn durch die Streichung kommen mehr Gutverdiener in das System, die zulasten von Geringverdienern überproportional profitieren. Fazit: Ihre Forderung hätte eine Verschärfung des Verteilungsproblems zulasten der kleinen Leute zur Folge, zu deren Anwalt Sie sich hier in diesem Haus so gern aufspielen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen deshalb die Ursachen dieses Verteilungsproblems bekämpfen; aber auch dazu finde ich in Ihrem Antrag nichts. Warum leben ärmere Menschen kürzer als reiche? Das hängt natürlich ganz wesentlich mit den unterschiedlichen Arbeitsbedingungen zusammen. Menschen mit geringen Einkommen sind im Arbeitsleben in der Regel körperlich stärker belastet. Sie werden eher krank und haben deshalb eine kürzere Lebenserwartung. Das ist in unserer Wohlfahrtsgesellschaft ein Skandal. Wir dürfen es nicht zulassen, dass Menschen durch ihre Arbeit im Alter von 50 oder 55 Jahren bereits verschlissen sind. Es kann nicht die Lösung sein, diese Menschen dann, wenn sie sich kaputt gearbeitet haben, in die Frühverrentung zu schicken. Nein, wir brauchen veränderte Arbeitsbedingungen. Wir brauchen eine Humanisierung der Arbeitswelt. In einem Hochtechnologieland wie Deutschland muss es doch möglich sein, gute Arbeitsbedingungen zu gestalten. ({1}) Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen eine reelle Chance haben, bis zur Rente gesund zu arbeiten und diese lange zu genießen. ({2}) Wir brauchen gute Arbeit. ({3}) Hierzu hat die SPD in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften einen umfangreichen Maßnahmenkatalog vorgelegt. Ein Blick darauf würde Ihnen vielleicht weiterhelfen. Natürlich wird es auch bei besten Arbeitsbedingungen immer Menschen geben, die aus körperlichen oder aus seelischen Gründen vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden müssen. Für diese Menschen wollen wir die Übergänge in die Rente erleichtern. Hierzu hat die SPDFraktion Lösungsvorschläge erarbeitet, die derzeit im Ministerium beraten werden. In Ihrem Antrag fordern Sie, dass der Lebensstandard aller Rentnerinnen und Rentner durch die gesetzliche Rentenversicherung abgesichert werden soll. Das ist eine gute Forderung. Leider sagen Sie aber nicht, wie sich die Umsetzung dieser Forderung auf die Beitragssätze auswirken würde. Meine Fraktion hat dies einmal errechnet. Im Jahr 2030 müssten 28 Prozent des Lohns allein in die gesetzliche Rentenversicherung fließen. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das grenzt fast schon an Lohnenteignung, denn die Menschen müssten diese hohe Belastung tragen, auch wenn sie sich ihre finanzielle Absicherung im Alter anders vorstellen. Sie haben darauf hingewiesen. ({5}) Diese Menschen wollen vielleicht lieber ihr Wohneigentum abbezahlen, damit sie im Alter mietfrei wohnen können. Andere Menschen würden vielleicht lieber anderweitig vorsorgen. Die hohen Rentenversicherungsbeiträge würden ihnen diese Entscheidungsfreiheit nehmen. Uns aber ist Entscheidungsfreiheit wichtig. Deshalb haben wir auch die von Ihnen so bekämpfte staatlich geförderte zusätzliche Altersvorsorge im Rahmen der Riester-Rente und der betrieblichen Altersvorsorge gestärkt. Die gesetzliche Rentenversicherung ist und bleibt für uns die wichtigste Säule der Altersabsicherung. Im Gegensatz zu Ihnen gehören für uns eine weiterentwickelte gesetzliche Rente und eine eigenverantwortliche Vorsorge der Menschen zusammen. Um es klar zu sagen: Unverantwortlich ist, dass Sie die private Vorsorge und deren staatliche Förderung als riskanten und teuren Irrweg bezeichnen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, damit verunsichern Sie die Menschen. ({6}) Immerhin haben sich von 2001 bis heute über 9 Millionen Bundesbürgerinnen und Bundesbürger auf diesen Weg begeben. ({7}) Wollen Sie diesen Menschen unterstellen, sie wüssten nicht, was sie tun? ({8}) Die Riester-Rente wird von Ihnen immer wieder so dargestellt, als wäre sie für Arbeitslose oder Menschen mit niedrigem Einkommen nicht finanzierbar. Das ist nicht nur falsch, sondern geradezu heuchlerisch. ({9}) Denn Ihre hier dargestellten Forderungen würden die Menschen zwingen, deutlich mehr von ihrem Einkommen in die gesetzliche Rentenversicherung einzuzahlen. Ich fasse zusammen: Sie wollen mit einem 13 Zeilen und sechs Punkte umfassenden Forderungskatalog die gesetzliche Rentenversicherung revolutionieren. Ihre unausgereiften Forderungen greifen aber viel zu kurz und helfen uns auf dem Weg zu einer solidarischen Erwerbstätigenversicherung nicht weiter. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Irmingard ScheweGerigk, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Schneider, der Titel Ihres Antrages hat mich zunächst neugierig gemacht. Wer nur den Titel kennt, könnte die Erwartung haben, dass uns ein Konzept vorgelegt wird, mit dem wir uns heute auseinandersetzen können. Aber bei näherer Betrachtung ist das, was die Linkspartei vorlegt, ein erneuter rentenpolitischer Rundumschlag nach dem Motto: Wenn wir nur alles zurücknehmen und allen alles versprechen, dann ist die Welt schon wieder in Ordnung. ({0}) Ich könnte es mir einfach machen und meine Rede, die ich Anfang Juli hier gehalten habe, einfach wiederholen. Denn bereits Anfang Juli lag uns ein ähnlicher Antrag vor: Alle Reformen zurücknehmen, die goldenen Zeiten unter Kohl und Blüm wiederbeleben - und die Rente ist sicher. ({1}) Das ist das, was Die Linke uns heute erneut als ihr rentenpolitisches Konzept verkaufen will. Das ist einfach zu mager, und ich frage mich, was Sie mit diesem erneuten Aufguss Ihrer alten Anträge wirklich bewirken wollen. Wollen Sie nur die SPD ärgern, oder warum stellen Sie immer wieder die gleichen Anträge? Ein grüner Tee wird bei erneutem Aufguss besser, von den Anträgen der Linken kann man das aber nicht behaupten. ({2}) Wir Bündnisgrünen stehen zu den Strukturreformen, die die Nachhaltigkeit des Rentensystems wesentlich verbessert haben. Wir stehen zur Abkehr von der Frühverrentungspolitik, die ältere Beschäftigte auf Kosten der Allgemeinheit aus dem Arbeitsmarkt ausgrenzt. Wir stehen zu den Verbesserungen für die Rentenanwartschaften von Frauen durch Anrechnung der Kindererziehungszeiten und der Angehörigenpflege in der Rente. Wir stehen auch zu den ersten Schritten auf dem Weg zu einer eigenständigen Alterssicherung von Frauen. Ferner stehen wir dazu, dass sich die gesetzliche Rente, die private und die betriebliche Altersvorsorge sinnvoll ergänzen. Ziel grüner Rentenpolitik ist es, jede und jeden individuell gegen Armut zu schützen. Auch künftige Rentnerrinnen und Rentner müssen am gesellschaftlichen Wohlstand teilhaben können. Deshalb wollen wir die Koppelung der Rente an die Entwicklung der Löhne und Gehälter beibehalten. Aber wir brauchen dringend Nachbesserungen an den Schwachstellen der aktuellen Arbeitsmarkt- und Rentenpolitik. Inzwischen mehren sich die Hinweise, dass Geringverdienende zukünftig nicht mehr vor Altersarmut geschützt sind. Bei einer zunehmenden Zahl von Beschäftigten sind die Löhne so niedrig, dass sie trotz einer Vollzeitstelle ergänzend Arbeitslosengeld II benötigen. Nicht alle nehmen das in Anspruch, aber nach Schätzungen betrifft es mindestens 1 Million Menschen. Diese Gruppe ist schon während der Erwerbsphase arm und wird es im Alter ebenso sein. Darum brauchen wir auch einen Mindestlohn. Es ist wichtig, dass schon während der Erwerbszeit eine entsprechende finanzielle Ausstattung vorhanden ist. ({3}) Die OECD und das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung haben kürzlich auf ein höheres Armutsrisiko von Geringverdienenden und Langzeitarbeitslosen hingewiesen und ein Nachjustieren gefordert. Als ersten wichtigen Schritt verlangen wir daher von der Bundesregierung und der Großen Koalition die Rücknahme der halbierten Rentenversicherungsbeiträge für Langzeitarbeitslose. Ein Rentenanspruch von 2,19 Euro pro Monat ist skandalös. Ich finde es beschämend, wenn trotz der guten Konjunktur gerade an dieser Stelle gespart wird. ({4}) Langzeitarbeitslose dürfen auch nicht zwangsweise mit Abschlägen vorzeitig in Rente geschickt werden. Sie, die Große Koalition, verhindern immer wieder, dass die vorliegenden Anträge auf die Tagesordnung kommen; denn das Ganze ist Ihnen peinlich. Sie wissen, dass Sie da etwas tun müssen. Aber wir werden Ihnen nicht ersparen, darüber zu diskutieren. Wir werden Sie immer wieder darauf hinweisen, dass Sie schlechte Vorschläge gemacht haben. Wir müssen in der Rentenpolitik aber auch neue Wege gehen, um Versicherte individuell besser vor Armut im Alter zu schützen. Das Berufsleben von immer weniger Bürgerinnen und Bürgern folgt heutzutage einer vorgezeichneten Bahn. Die Tätigkeiten abhängig Beschäftigter und Selbstständiger gehen ineinander über. Wir wissen, dass mehr als drei Viertel aller Selbstständigen in keinem Alterssicherungssystem obligatorisch versichert sind. Darum wollen wir Grüne eine obligatorische Absicherung in der Rentenversicherung für diejenigen Selbstständigen, die über keine Alterssicherung verfügen. So gewinnt die gesetzliche Rentenversicherung vermehrt die Funktion einer Erwerbstätigenversicherung. Aber anders als Sie, Herr Schneider und die Linke, wollen wir die Versorgungswerke von Selbstständigen und die landwirtschaftlichen Alterssicherungssysteme als rechtlich selbstständige Systeme erhalten. Der verfassungsrechtlich verbürgte Eigentumsschutz gilt nämlich auch für berufsständische Versorgungswerke. ({5}) Planwirtschaft ist hier nicht angesagt. Es könnte allenfalls sinnvoll sein, die Versorgungswerke mittelfristig unter das Dach der Rentenversicherung zu bringen, um Verwaltungskosten einzusparen. Gegen eine universelle Rentenversicherungspflicht, wie Sie von den Linken sie wollen, sprechen aber auch finanzielle und demografische Argumente. Es ist vorhin schon gesagt worden: Wir wissen, dass die Lebenserwartung in dieser Gesellschaft nicht gleich ist: Beamte und Selbstständige haben im Allgemeinen eine höhere Lebenserwartung als abhängig Beschäftigte. Da ist es eigentlich sehr kurzfristig gedacht, die Kassen jetzt erst einmal prall füllen zu wollen und nicht zu berücksichtigen, dass später eine vielfach höhere Rentenleistung ausgezahlt werden muss. Herr Schneider, wollen Sie den Rentenversicherten auch die ungedeckten Lasten und die hohen Kosten der Beamtenversorgung aufbürden? Wollen Sie den gesetzlich Versicherten die Lasten der fehlenden Alterssicherung von Selbstständigen aufhalsen? ({6}) Sie versprechen doch allen eine Alterssicherung, die den Lebensstandard sichern soll. Die Fraktion Die Linke hat mit ihrem Antrag viele Fragen aufgeworfen, aber auf die heiklen Fragen keine überzeugenden Antworten gegeben. Deshalb finde ich, dass Ihr Anliegen hier billiger Populismus ist. Sie wollen es allen recht machen, drücken sich aber davor, die Konsequenzen beim Namen zu nennen. Noch eines ist mir aufgefallen: Weder in Ihrer Analyse noch in Ihren vermeintlichen Lösungen kommen die dauerhaft niedrigen Rentenanwartschaften von Frauen vor. Diese Anwartschaften ignorieren Sie einfach. Da liegt der Verdacht nahe, dass Sie die Frauen nur als Zuverdienerinnen sehen, deren eigentliche Bestimmung in der häuslichen Sorge liegt, so wie es auch Ihr Vorsitzender Lafontaine propagiert. Das werden sich die Frauen nicht bieten lassen. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Max Straubinger, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute wiederum einen Antrag der Fraktion der Linken zur Rentenpolitik. Man bemüht sich, dafür zu sorgen, dass wir uns in einem ständigen Austausch befinden. Wie meine Vorrednerinnen und Vorredner bereits kundgetan haben, steht in diesem Antrag nichts Neues. Bei den Linken ist letztendlich bemerkenswert, dass sie, wenn sie die Begründungen ihrer Anträge niederschreiben, die Wirklichkeit nicht mehr wahrnehmen wollen. Ich habe diesen Antrag da; er befindet sich auf Drucksache 16/6440 vom 19. September 2007. Wenn man sich die Einleitung dieses Antrags durchgelesen hat, versteht man, warum die im Antrag gezogenen Schlussfolgerungen falsch sein müssen. Ich möchte den zweiten Satz dieser Einleitung zitieren: Hohe Erwerbslosigkeit, die Ausweitung prekärer Beschäftigung und der damit einhergehende Rückgang der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse, die Ausweitung prekärer Selbstständigkeit und sinkende Löhne und Gehälter, reißen Löcher in die Alterssicherung der Menschen und senken erheblich die Einnahmebasis der gesetzlichen Rentenversicherung. ({0}) - Was Sie schreiben, ist völlig falsch. Die Arbeitslosigkeit sinkt. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse steigt. ({1}) Wir haben mittlerweile den höchsten Stand der Erwerbstätigkeit in Deutschland seit der Wiedervereinigung erreicht. Das ist letztendlich der Erfolg der Bundesregierung und darüber hinaus natürlich auch der Erfolg der vielen wieder in Arbeit stehenden Menschen, ({2}) die damit ihren Beitrag dazu leisten, dass unser bewährtes Rentenversicherungssystem auch in Zukunft die nötige finanzielle Grundlage hat. ({3}) Es ist schon bemerkenswert, dass sich die Linke letztendlich nur noch in Zerrbildern über unser soziales Sicherungssystem auslässt und nicht mehr wahrnehmen möchte, dass wir verschiedene Säulen der sozialen Sicherung für die Menschen in unserem Land haben. Es wurde von der Kollegin Schewe-Gerigk bereits darauf hingewiesen: Wir haben nicht nur die gesetzliche Rentenversicherung. Wir haben berufsständische Versorgungswerke. Wir haben die Landwirtschaftliche Alterskasse. Wir haben zudem natürlich eine solide Beamtenversorgung. Wir haben darüber hinaus eine breite betriebliche Altersvorsorge für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland - mit zunehmender Tendenz der Inanspruchnahme. Wir haben die zusätzliche Möglichkeit, privat Riester-Verträge abzuschließen, für die es staatliche Förderung gibt. Daneben haben wir noch die Lebensversicherungsverträge. 80 Millionen Lebensversicherungsverträge sind ein Beweis für den Sparwillen der Bevölkerung und dafür, dass sie weiß, dass die gesetzliche Rentenversicherung zwar die Grundsicherung für die Menschen in Deutschland bedeutet, aber dass sie zusätzlich Eigenvorsorge betreiben müssen, um für das Alter vorzusorgen. Dies ist immer auch staatlich unterstützt worden. Ich glaube, gerade mit diesem bewährten System - gesetzliche Rentenversicherung, betriebliche Altersvorsorge und private Vorsorge - sind wir in der Vergangenheit gut gefahren. Wir werden damit auch in der Zukunft die Alterssicherung für die Menschen gewährleisten.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Spieth?

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Straubinger, sind Sie bereit, mir zu bestätigen, dass der Deutsche Bundestag am 9. November 1989 eine große Rentenreform beschlossen hat, in der festgelegt wurde, einen Beitragssatz von bis zu 28 Prozent zu akzeptieren, paritätisch finanziert, also von Arbeitgebern und Versicherten finanziert, um eine lebensstandardsichernde Rente zu gewährleisten? ({0}) Sind Sie bereit, zuzugeben, dass das von Ihnen präferierte neue Modell der Rentenabsicherung - neben der gesetzlichen Mindestabsicherung, die nicht mehr den Lebensstandard sichert, werden zusätzliche private Systeme aufgebaut, die, wenn auch mit staatlichen ZuschüsFrank Spieth sen, von den Versicherten allein bezahlt werden - dazu führt, dass der Versicherte am Ende der Entwicklung 17 Prozent zahlen muss, um seinen Lebensstandard zu sichern, während der Arbeitgeber nur noch mit 11 Prozent beteiligt ist, oder ist das falsch? ({1})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das muss ich zurückweisen, Herr Kollege Spieth. Es ist Folgendes: Wir haben in staatlicher Verantwortung Zukunftsperspektiven zur Sicherung und nachhaltigen Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung eröffnet, und zwar in erträglichem Rahmen, was die Belastung der Generationen angeht. ({0}) - Letztendlich muss alles erwirtschaftet werden, Herr Kollege. ({1}) Wenn wir eine gute wirtschaftliche Entwicklung haben, dann sind wir auch in der Lage, die private Vorsorge mit staatlichen Zuschüssen zu unterstützen. Wohlgemerkt: Das gilt für alle Bevölkerungsgruppen in unserem Land. Sie haben sich in Ihrem Antrag auch auf Hartz IV bezogen. Gerade Hartz-IV-Empfänger haben damit die Möglichkeit, neu in das Rentenversicherungssystem aufgenommen zu werden und damit eine zusätzliche soziale Absicherung über die Rentenversicherung zu erlangen. ({2}) Das gilt nicht nur im Alter. Zu erwähnen sind auch die zusätzlichen Leistungen wie Rehamaßnahmen und Sonstiges, die die Rentenversicherung gewährt. Das ist die Errungenschaft, die wir gemeinsam erreicht haben. ({3}) Das zeigt sehr deutlich: Die Linken in unserem Hause wollen das bewährte Rentenversicherungssystem letztendlich abschaffen. ({4}) Unter Erwerbstätigenversicherung verstehen Sie, dass alle gezwungen werden, in ein staatliches System einzuzahlen; möglicherweise müssen dann alle privaten Formen aufgelöst werden. Sie halten auch nichts von grundrechtlich verbürgten Ansprüchen und Ähnlichem, gerade aus berufsständischen Versorgungswerken. Ich bin überzeugt, dass Sie bereit sind, auch die Rücklagen zu verwenden. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, und zwar der Kollegin Reinke von der Fraktion Die Linke?

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein; wir müssen ja irgendwann auch einmal weiterkommen. ({0}) Ich bin überzeugt, dass Sie erneut einen solchen Antrag, den immerwährenden Antrag, stellen werden, weil Sie nicht bereit sind, wahrzunehmen, dass gerade wir in Deutschland für die Rentnerinnen und Rentner eine gute Versorgung im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten und der verschiedensten Systeme geschaffen haben. Es wäre gut, wenn Sie mehr Realismus einkehren lassen und das entsprechend aufnehmen würden. Wir können feststellen: Wir haben in Deutschland keine Altersarmut. ({1}) Das ist eine große Errungenschaft unseres Sozialstaates. ({2}) Darüber hinaus wird von der OECD bescheinigt, dass in Deutschland 11,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für die Altersversorgung aufgewendet werden. Der Durchschnitt in den von der OECD verglichenen Ländern liegt bei 7,7 Prozent. Das zeigt sehr deutlich, dass wir in Deutschland besonders viel für die Altersversorgung der Menschen tun und die entsprechende Unterstützung geben. Das wird mit fast 80 Milliarden Euro Bundeszuschuss für die gesetzlichen Rentenversicherungssysteme auch im Bundeshaushalt dokumentiert. ({3}) Unser Rentenversicherungssystem ist eine große und gute Errungenschaft. Werte Damen und Herren, das Entscheidende ist aber, unabhängig von dem Streit über Systeme: Wer eine gute Altersversorgung für die Menschen in Deutschland haben möchte, der braucht entsprechendes wirtschaftliches Wachstum. Mit wirtschaftlichem Wachstum schaffen wir auch eine bessere Grundlage für eine langfristige Unterstützung der Rentenversicherung, auch unter finanziellen Gesichtspunkten, sowie dafür, dass die Rücklagen sich erhöhen und dass möglicherweise bis 2011 die volle Rücklage, die unter den gesetzlichen Vorgaben notwendig ist, geschaffen worden ist. Das ist ein Erfolg dieser Bundesregierung, den man nicht kleinreden, sondern im Gegenteil anerkennen sollte. Ich bin überzeugt, dass die Menschen in Deutschland das erkennen. Ich möchte aber noch eines ausführen, weil die Linken in unserem Hause mit der privaten Altersvorsorge offensichtlich überhaupt nichts anzufangen wissen. Gerade durch die Riester-Verträge können sich auch Geringstverdiener, ALG-II-Bezieher, eine privat gestützte Altersvorsorge leisten. Mit 5 Euro Monatsaufwand, also 60 Euro Jahresaufwand, kann man die höchste staatliche Förderung bekommen. ({4}) Das zeigt sehr deutlich, dass wir ein gutes System geschaffen haben, durch das jeder in die Lage versetzt worden ist, für sein Alter vorzusorgen. ({5}) Der Antrag der Linken begründet sich auch dadurch, dass man unsere Beschlüsse zur Rente mit 67 infrage stellen möchte. ({6}) Aber die Linken bleiben die Antwort schuldig. Wie wollen Sie die aus der steigenden Lebenserwartung, die zu begrüßen ist, erwachsenden Lasten, nämlich die längere Rentenbezugsdauer, schultern? Natürlich mit höheren Beiträgen. Sie stellen ja den Antrag, dass die Begrenzung des gesetzlichen Beitrags ersatzlos gestrichen wird. Ich ersehe daraus, dass dann die Beiträge weiter steigen sollen. Es ist immer wieder die Politik der Linken, die Menschen besonders stark zu belasten, aber an Nachhaltigkeit und die zukünftigen Generationen nicht zu denken. ({7}) Das ist letztendlich die Politik der Linken hier in diesem Hause, und es zeigt sehr deutlich: Die Linken haben kein Konzept, um die zukünftigen Herausforderungen an unsere Alterssicherungssysteme zu bewältigen. In diesem Sinne werden wir den Antrag ablehnen. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort Kollegin Reinke, Fraktion Die Linke.

Elke Reinke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003829, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Kollege Straubinger, für Sie als Versicherungsfachmann nur zur Information - Sie haben ja keine Frage zugelassen -: Bei einem Regelsatz von 347 Euro für einen Alleinstehenden sind 5 Euro eine Menge Geld. Glauben Sie mir, die sind nicht übrig. Selbst wenn man die Möglichkeit nutzen wollte, ginge es davon nicht. Auch die Leute, die im Niedriglohnsektor arbeiten, haben diese Möglichkeit nicht. Also erzählen Sie hier nicht, dass jeder Bürger privat vorsorgen könne! Sie können es nicht, selbst wenn sie wollten. Danke schön. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben die Möglichkeit zu einer Erwiderung. - Sie verzichten. Dann hat der Kollege Gregor Amann für die SPDFraktion das Wort.

Gregor Amann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003731, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie viele Anträge enthält auch dieser einige gute und einige schlechte Passagen; ich will mit dem Guten anfangen. Für gut halte ich die Überschrift Die gesetzliche Rentenversicherung zur solidarischen Erwerbstätigenversicherung ausbauen. Dieser Forderung können wir Sozialdemokraten sofort zustimmen. Das ist ein Beschluss unseres Bochumer Bundesparteitages aus dem Jahr 2003, und in dem Grundsatzprogramm, das wir im Herbst in Hamburg verabschieden werden, wird dies wahrscheinlich auch enthalten sein. Wenn die Linken gute Ideen der Sozialdemokraten abschreiben, haben wir nichts dagegen. ({0}) Jetzt komme ich zu dem Schlechten. Für schlecht halte ich an dem Antrag, ehrlich gesagt, den gesamten Text nach der Überschrift. ({1}) Hätten Sie es bei der Überschrift belassen, dann hätten Sie die Zustimmung der SPD. ({2}) Dem vorliegenden Antragstext können wir jedoch nicht zustimmen, denn er hat mit der Überschrift nichts zu tun. ({3}) Es geht Ihnen nicht um eine Erwerbstätigenversicherung, sondern um das Aufwärmen von alten Ladenhütern, die Rücknahme der Rente mit 67, die Abschaffung des Nachhaltigkeitsfaktors und Ihre daraus logisch folgende, aber ökonomisch irrsinnige Forderung nach einer Anhebung der Beitragssätze in der Rentenversicherung. ({4}) Sie diskutieren wieder einmal rückwärts gewandt Themen, zu denen bereits Beschlüsse gefasst sind, anstatt in die Zukunft zu denken, anstatt Vorschläge zu machen, wie eine Erwerbstätigenversicherung tatsächlich aussehen könnte. Dazu steht in Ihrem Antrag kein Wort. Für Sie ist das Konzept der Erwerbstätigenversicherung nur ein Vehikel, um durch die Einbeziehung von mehr Beitragszahlern die Finanzprobleme der Rentenversicherung vermeintlich lösen zu können. Aber genau dafür taugt das Konzept der Erwerbstätigenversicherung nicht. Einfach nur mehr Beitragszahler einzahlen zu lassen - darauf bezog sich der Disput vorhin zwischen Herrn Weiß und Frau Sitte -, führt zwar kurzfristig zu mehr Beitragseinnahmen; aber langfristig werden sich die Ausgaben dann ebenfalls erhöhen, da jede zusätzliche Beitragszahlung natürlich auch entsprechende Rentenansprüche nach sich zieht. Die Einbeziehung neuer Gruppen von Beitragszahlern wäre nur dann ein Beitrag zur Lösung der langfristigen Finanzprobleme in der Rentenversicherung, wenn Sie die Beitragsbemessungsgrenze aufhöben und den späteren Rentenanspruch deckelten, so wie Sie es vorhin gesagt hatten. Aber Sie wissen genau oder sollten es genau wissen, dass das Bundesverfassungsgericht dies nicht zulässt. ({5}) Nein, die Idee der Erwerbstätigenversicherung ist viel komplexer und für uns aus ganz anderen Gründen wichtig. Wir wissen, dass eine wachsende Anzahl von Selbstständigen nicht in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert ist, dass aber ihre Einkünfte so gering sind, dass sie überhaupt keine Altersvorsorge betreiben. Wenn wir die Rentenversicherung im Sinne einer Erwerbstätigenversicherung für diese Menschen öffnen würden, wäre dies ein Beitrag, um diese Menschen vor Altersarmut zu schützen. Deshalb sprechen wir uns für einen Umbau der gesetzlichen Rentenversicherung in eine Erwerbstätigenversicherung aus. Dr. Herbert Rische, Präsident der Deutschen Rentenversicherung, schätzt den Kreis der Betroffenen auf etwa 2 bis 3 Millionen zusätzlich Versicherte. Ein weiterer Aspekt bei der Erwerbstätigenversicherung ist die Tatsache, dass Arbeitslosigkeit heute und zukünftig noch zunehmend nur einer von mehreren möglichen Gründen für Lücken und Brüche in der Erwerbsund Rentenbiografie ist. Zeiten der Kindererziehung oder der Pflege von Angehörigen sind weitere Gründe für eine Unterbrechung des Erwerbslebens. In unserer Wissensgesellschaft gewinnen berufliche Auszeiten für die berufliche Weiterbildung einen immer größeren Stellenwert. Wenn wir verhindern wollen, dass Menschen aufgrund solcher Lücken bzw. aufgrund solcher gesellschaftlich erwünschten Brüche in der Biografie dafür im Alter nicht mit Altersarmut bezahlen, müssen wir selbstverständlich darüber nachdenken, wie wir unser heutiges Rentenversicherungssystem weiterentwickeln. ({6}) Wir Sozialdemokraten tun das. In Ihrem Antrag steht dazu hingegen kein Wort. Das nennt man Etikettenschwindel. Sie haben Ihren Antrag zwar mit dem Wort „Erwerbstätigenversicherung“ aufgemotzt, setzen sich aber intellektuell überhaupt nicht mit diesem Konzept auseinander; denn in Wirklichkeit geht es Ihnen doch gar nicht darum. Sie haben einfach nur einen Weg gesucht, um Ihre bereits gescheiterten politischen Parolen neu verbreiten zu können. Im Übrigen ist Ihr Antrag voller Fehler. In der Begründung schreiben Sie, die sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse nähmen seit Jahren ab. Herr Straubinger hat darauf hingewiesen: Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist allein im vergangenen Jahr um etwa 600 000 gestiegen. Das ist ein Erfolg dieser Regierung und der rot-grünen Vorgängerregierung, die die Grundlagen dafür geschaffen hat. ({7}) In Ihrem Antrag wird auch die Reduzierung der Rentenversicherungsbeiträge beim Bezug von ALG II kritisiert. Aber Sie verschweigen dabei, dass aufgrund der Zusammenführung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe für die früheren Sozialhilfebezieher überhaupt erst Beiträge in die Rentenversicherung gezahlt werden. Dadurch erwerben diese überhaupt erst einen Rentenanspruch, und vor allem haben sie dadurch Zugang zu den Reha-Leistungen der Rentenversicherung. ({8}) Wenn in dem Antrag steht, die Reduzierung der Rentenversicherungsbeiträge von ALG-II-Beziehern führe zur Altersarmut, so ist das falsch. Wenn Langzeitarbeitslosen Altersarmut droht, dann ist die Ursache dafür nicht die Reduzierung der Rentenversicherungsbeiträge, ({9}) sondern die Langzeitarbeitslosigkeit an sich. ({10}) Wenn Sie Menschen vor Altersarmut schützen wollen, müssen Sie sich in erster Linie darum kümmern, dass sie gar nicht erst arbeitslos werden und, wenn sie denn arbeitslos werden, dass sie wieder in Arbeit kommen. Genau das tut die Bundesregierung. ({11}) Die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie seit mehr als sechs Jahren nicht mehr. Im vergangenen Jahr gab es knapp 700 000 Arbeitslose weniger.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Amann, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Gregor Amann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003731, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte.

Volker Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003843, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Amann, Sie unterstellen uns unwahre Behauptungen. Daher stelle ich an dieser Stelle eine Nachfrage zu einem Entschließungsantrag, den die Große Koalition gestellt hat und aus dem ich eben schon zitiert habe. Wie vereinbart sich das, was Sie gerade gesagt haben, mit Ihren folgenden Aussagen: Berechnungen prognostizieren selbst unter Annahme ununterbrochener Erwerbsmöglichkeiten - wir reden also nicht von Phasen der Arbeitslosigkeit und unter voller Ausnutzung der Fördermöglichkeiten - wenn also tatsächlich jemand die Fördermöglichkeiten bei Riester bis zum Gehtnichtmehr ausschöpft ein sinkendes Niveau des Nettoeinkommens im Alter, sodass aufgrund einer zunehmenden Einkom12044 Volker Schneider ({0}) mensungleichheit ein steigendes Armutsrisiko befürchtet werden muss. Wollen Sie mir damit sagen, dass Sie genauso die Unwahrheit verbreiten wie wir, oder was unterstellen Sie uns an dieser Stelle? ({1})

Gregor Amann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003731, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die OECD-Studie, die Sie wiederholt zitieren, besagt das genaue Gegenteil. Dort heißt es: Durch die Reform der Rentenversicherung in Deutschland und durch die zusätzliche private und betriebliche Altersversorgung können wir die Menschen vor Altersarmut schützen. Das halte ich für die richtige Antwort. ({0}) Ich will Ihnen an dieser Stelle nicht noch einmal erklären, warum die langfristige Anhebung des Rentenalters auf 67 sinnvoll und notwendig war. Darüber haben wir schon wiederholt diskutiert. Aber ich will alle, die dieser Debatte zuhören, eindringlich vor der Alternative warnen, die Sie in Ihrem Antrag propagieren, nämlich das unkontrollierte Ansteigen des Beitragssatzes zur Rentenversicherung. Das ist zum einen aus Gründen der Generationengerechtigkeit abzulehnen; denn Sie lasten damit den Beitragszahlern im erwerbsfähigen Alter eine Bürde auf, die sie zu Sklaven der Rentnergeneration macht. Zum anderen ist dies ökonomischer Unsinn; denn ein zu erwartender Anstieg des Rentenversicherungsbeitrags auf 28 Prozent würde mindestens 600 000 Arbeitsplätze in diesem Land vernichten. ({1}) Oskar Lafontaine hatte vollkommen recht, als er in der Münchener Abendzeitung sagte - ich zitiere -: Um bestehende Arbeitsplätze zu sichern und neue zu schaffen, müssen auch die Kosten für den Faktor Arbeit sinken. Die gesetzlichen Lohnnebenkosten müssen gesenkt werden. Ich gebe zu: Das Zitat ist von 1993. Ihr Fraktionsvorsitzender wechselt nun einmal die politischen Ansichten wie ein Chamäleon seine Farbe, immer passend zur jeweiligen Umgebung. ({2}) Ich darf zusammenfassen: Wir Sozialdemokraten sind für einen Umbau der gesetzlichen Rentenversicherung in eine echte Erwerbstätigenversicherung. Der vorliegende Antrag handelt trotz seiner Überschrift genau davon nicht. Er ist rückwärtsgewandt, voller Fehler und Unwahrheiten. Deswegen können und wollen wir ihm nicht zustimmen. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 16/6440 zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Arbeit und Soziales und zur Mitberatung an den Innenausschuss, den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz sowie an den Haushaltsausschuss zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Christel RiemannHanewinckel, Dr. Sascha Raabe, Gabriele Groneberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Maßnahmen zur Bekämpfung von HIV/AIDS, Tuberkulose und Malaria stärken - Drucksache 16/6398 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es dazu Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin Karin Kortmann.

Karin Kortmann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003161

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria gehören unzweifelhaft zu den schrecklichsten Infektionskrankheiten der Gegenwart. Alle zehn Sekunden stirbt ein Mensch an den Folgen von HIV/Aids. Pro Tag sterben circa 4 400 Menschen an Tuberkulose, und mehr als 1 Million Menschen sterben jedes Jahr an Malaria. Zusammengenommen verursachen diese drei Krankheiten den Tod von mehr als 6 Millionen Menschen jedes Jahr. Manchmal brauchen wir Bilder, um diese Zahl überhaupt zu begreifen: Dies würde bedeuten, dass jedes Jahr alle Einwohner Dänemarks an solchen Pandemien sterben würden. Diese Krankheiten verstärken Armut und soziale Ausgrenzung, Diskriminierung und Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen. Sie erschüttern die Sicherheit ganzer Gesellschaften, Gemeinschaften und Wirtschaftssysteme. Sie beeinträchtigen die regionale Stabilität und sind das größte Hindernis für Entwicklung und Forschung. ({0}) In diesem Sinne - so der frühere UN-Generalsekretär Kofi Annan Parl. Staatssekretärin Karin Kortmann nimmt Aids nicht nur die Gegenwart. Es nimmt die Zukunft. Ganze Generationen in Afrika werden das 40. Lebensjahr nicht erreichen, wenn wir - die Industrie- und die Entwicklungsländer gemeinsam - nicht mehr in Maßnahmen gegen diese Pandemien investieren. Damit meine ich Aufklärung, Prävention und bezahlbare Medikamente. Es muss mehr in die Forschung investiert werden, um eine effektive Behandlung von Kindern und Jugendlichen sicherzustellen. Vor allem sind wir uns darin einig, dass wir mehr tun müssen, um den Aufbau einer flächendeckenden Gesundheitsversorgung garantieren zu können. ({1}) Denn eines ist sicher: So unterschiedlich auch die einzelnen Pandemien sind, sie alle sind behandelbar. Die Bedrohung der Sicherheit und der Stabilität der wirtschaftlichen Entwicklung ist das eine, der Antrag mit dem Titel Maßnahmen zur Bekämpfung von HIV/AIDS, Tuberkulose und Malaria stärken, den uns die Regierungsfraktionen heute vorgelegt haben, ist das andere. SPD und Union fordern ein eindeutiges, klares und stärkeres Engagement der deutschen Seite. Wir haben die Bekämpfung von HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose sowie die Stärkung von Gesundheitssystemen zum Kernthema unserer EU- und G-8-Präsidentschaft gemacht. Mit Recht wird in den verabschiedeten Ratsschlussfolgerungen betont, wie wichtig es ist, nicht nur punktuell zu agieren und keine Parallelstrukturen zu schaffen, sondern Hilfsmöglichkeiten zu bündeln, dabei von manchen bilateralen Gepflogenheiten Abstand zu nehmen und stärker in multilaterale Systeme zu investieren. Genauso wichtig ist es aber, speziell für Frauen Hilfen anzubieten. Frauen stark machen, heißt, die Aidspandemie zu schwächen. Deshalb arbeiten wir eng mit dem Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Malaria und Tuberkulose zusammen, der gemeinsam mit den Nichtregierungsorganisationen in den beteiligten Ländern eine durchgehende Gender-Orientierung der Maßnahmen des Fonds beschlossen hat. Daran arbeiten wir tatkräftig mit. Auf dem G-8-Gipfel in Heiligendamm wurde beschlossen, weltweit einen umfassenden Zugang zu Prävention, Behandlung und Pflege bezüglich HIV/Aids anzustreben. In der Entwicklungszusammenarbeit bezeichnen wir das als „universal access“. Die G-8-Staaten stehen zu diesen Verpflichtungen und sind bereit, über ihre Bemühungen Rechenschaft abzulegen. Beschlüsse sind das eine, die Umsetzung ist das andere. Unter der deutschen G-8-Präsidentschaft wurde erstmals ein Bericht über die Bemühungen der G-8-Staaten erstellt. Der Bericht wird nächste Woche bei der Wiederauffüllungskonferenz des Globalen Fonds in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt. Am 5. September wurde in London die globale Initiative „International Health Partnership“ gestartet, die eine verbesserte Geberkoordinierung im Gesundheitssektor in Entwicklungsländern zum Ziel hat. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat darüber mit Premier Gordon Brown gesprochen und diese sinnvolle Maßnahme im Kontext der verabredeten G-8-Initiative auf die Agenda gesetzt, die es zu konkretisieren gilt. Außerdem setzt sich die Bundesregierung nachdrücklich für eine angemessene Wiederauffüllung des Globalen Fonds ein. Im Antrag von SPD und Union ist ebenfalls von einem angemessenen Beitrag die Rede. Ich glaube, angesichts des Haushaltsvolumens, das uns im kommenden Jahr zur Verfügung steht, haben wir allen Grund, die Wiederauffüllung mitzugestalten. ({2}) Die Bundesregierung hat ihre Mittel für Maßnahmen im Kampf gegen HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria bereits deutlich erhöht: von rund 20 Millionen Euro im Jahr 1998 auf jährlich 300 Millionen Euro seit 2003. Dieser lebensrettende Beitrag ist im Rahmen der Haushaltsberatungen im Jahr 2007 auf 400 Millionen Euro erhöht worden und soll ab 2008 insgesamt 500 Millionen Euro jährlich ausmachen. In Heiligendamm haben die G-8-Staaten beschlossen, in den nächsten Jahren 60 Milliarden US-Dollar zur Bekämpfung von HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose zur Verfügung zu stellen. Die deutsche Bundesregierung wird bis 2015 4 Milliarden Euro beisteuern. Deutschland hat an der Gründung des Globalen Fonds im Jahr 2001 mitgewirkt. Wir haben gesagt, dass das ein wichtiges Instrument ist. Die Geschichte dieses Fonds ist mittlerweile eine Erfolgsstory. Er leistet weltweit Pionierarbeit auf dem Gebiet der effektiven Krankheitsbekämpfung. ({3}) Dem Beifall setze ich gerne die Zahlen hinzu: 1,8 Millionen Menschen konnte das Leben gerettet werden, 3 000 kommen täglich hinzu. Das sind Zahlen, die für sich sprechen. Die Konferenz wird Weichen stellen: Schafft es die Weltgemeinschaft, den schrecklichen Trend umzukehren? Schafft sie es, die Infektionsverläufe von HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria zu durchbrechen? Schaffen wir es, auch den ärmsten Kindern in Afrika Zugang zu Prävention und Behandlung zu ermöglichen? Dazu bedarf es des Engagements unserer Partnerregierungen im Süden und auch der Zivilgesellschaften. Es geht hierbei um Good Governance. Es geht um klare Sprache. Ich greife gern auf, was Herr Addicks immer sagt: Wir können nicht tolerieren, dass Regierungen wie Gesundheitsministerinnen und -minister in Afrika eine völlig verfehlte Behandlungspolitik propagieren und der internationalen Standard, den wir längst anerkannt haben, dort immer noch außen vor ist. ({4}) Das geht aber nicht ohne die gezielte Unterstützung der Gebergemeinschaft. Bei alldem, was vorliegt, geht es weder um einen Kostenfaktor noch um eine milde Tat. Es geht vielmehr darum, dass es ein Menschenrecht auf Leben gibt, das wir unterstützen. Diese Unterstützung wird geleistet, wenn es darum geht, die Nichtregierungsorganisationen an der Seite zu haben. Eine Umfrage von Oxfam zur Entwicklungszusammenarbeit hat gezeigt, dass 61 Prozent der Befragten erklärt haben, die deutsche Bundesregierung solle doch bitte die Entwicklungsgelder im Bereich der Dienstleistungen für die Gesundheitsfürsorge erhöhen. Ich glaube, damit sind wichtige Punkte genannt. Ich will meine Redezeit nicht überstrapazieren; aber auf eines möchte ich noch hinweisen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Kortmann, Sie reden langsam auf Kosten der Redezeit Ihrer Kollegen.

Karin Kortmann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003161

Ich nehme die Mahnung entgegen; ich sage nicht, dass ich zum letzten Satz komme.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Klären Sie das mit Ihren Kollegen.

Karin Kortmann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003161

Ich will daran erinnern, dass Willy Brandt vor circa 30 Jahren Vorsitzender der Nord-Süd-Kommission der Vereinten Nationen geworden ist. Damals ging es im Abschlussbericht darum, zu fragen: Was können wir eigentlich für das Überleben der Menschheit tun? Er hat damals gesagt: Noch nie hat die Menschheit über so viele Instrumente und so viele Expertisen verfügt, um Hunger und Armut in der Welt zu bekämpfen. Allein, es fehlt der politische Wille. Anhand des Antrages und aufgrund der Beratungen im AwZ weiß ich: Der politische Wille ist da. Ich weiß, dass Sie an guter Seite sind, wenn es um die Wiederauffüllung des Global Fund geht. Herzlichen Dank, und ich bitte um Verständnis bezüglich der Redezeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Karl Addicks für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Karl Addicks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003713, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Global Fund wurde vor sechs Jahren gegründet. Mit ihm bekämpfen wir drei verheerende Krankheiten. Zwei davon, Tuberkulose und Malaria, sind so alt wie die Menschheit. Aids kennen wir erst seit ungefähr 25 Jahren. Diese Krankheit ist im Unterschied zu den beiden anderen sexuell übertragbar; wahrscheinlich hat sie sich deshalb so rasant ausgebreitet. Es hat nach dem Ausbruch von Aids fast 20 Jahre gedauert, bis wir eine globale, adäquate Antwort darauf gefunden haben. Das war der Global Fund. Heute sehen wir bei der Bekämpfung von Aids die ersten Erfolge, nicht in allen Ländern, aber in sehr vielen. Wir haben den Kampf gegen Aids noch nicht gewonnen. Aber wir können eine gewisse Zuversicht haben. Ich glaube, wir haben mit der Einrichtung des Global Fund das Richtige getan. Über den Schrecken von Aids sind Malaria und zum Teil auch Tuberkulose fast vergessen worden. Malaria ist eine Krankheit, die wir hierzulande nicht so sehr kennen; sie ist hier nicht endemisch. Aber die Menschen in den Tropen und Subtropen sind damit mindestens genauso geschlagen wie mit Aids. Malaria fordert fast genauso viele Opfer wie Aids. An Malaria sterben vor allem Kinder, schwangere Frauen, alte und schwache Menschen. Diejenigen, die zusätzlich Aids oder Tuberkulose haben, sterben daran noch viel eher. Es gibt also überhaupt keinen Grund, in der Bekämpfung dieser drei Krankheiten nachzulassen. Deshalb haben wir, die FDP, schon vor zwei Jahren gefordert, den deutschen Beitrag zum Global Fund zu erhöhen. ({0}) Das tut die Bundesregierung jetzt; aber sie tut es zu einem Zeitpunkt, wo erste kleine Fragezeichen bezüglich der Arbeit des Global Fund auftauchen. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Ich halte den Global Fund für richtig, aber es wäre nach sechs Jahren der Arbeit des Global Fund jetzt die Zeit, sich kritisch mit seiner bisherigen Arbeit auseinanderzusetzen. ({1}) Vielleicht könnte der Global Fund noch effizienter arbeiten. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Kamerun. Ich habe das Land vor etwa zwei Wochen besucht. In Kamerun hilft der Global Fund seit drei Jahren bei der Malariabekämpfung. Dort sollen Moskitonetze und Medikamente verteilt werden. Die Zahlen der Malariaerkrankungen und Todesfälle haben sich bisher so gut wie nicht verändert. Es kann natürlich sein, dass dieser Zeitraum vielleicht ein bisschen zu kurz ist. Wenn man die Dörfer besucht, dann stellt man aber fest, dass die Menschen, die dort leben, so gut wie keine Moskitonetze haben. Ich habe gefragt: Wo sind denn die Moskitonetze, die über den Global Fund verteilt werden sollten? Man zeigte mir einen Container, in dem 40 000 Netze lagen. Ich fragte: Warum sind diese Netze nicht verteilt worden? Man antwortete mir: Sie müssen noch mit einem Insektizid imprägniert werden, damit die Mücken nicht durchstechen können. Meine nächste Frage war: Warum sind sie noch nicht imprägniert? Die Antwort lautete: weil das Insektizid nicht da ist. Dann fragte ich: Warum ist das Insektizid nicht da? Die AntDr. Karl Addicks wort war: Das Insektizid liegt beim Zoll in der Hafenstadt Douala, und dort kommt es nicht heraus. Man muss wissen, dass der Zoll in einem Land wie Kamerun eine der Stellen ist, an denen am meisten bestochen wird. Wer dort keine Bestechungsgelder zahlt, der kann monatelang warten, bis er seine Waren bekommt. ({2}) Ich halte es für einen Skandal, dass gerade solche Güter, auf die die Menschen in diesem Land warten und auf die sie dringend angewiesen sind, nicht vom Zoll freigegeben werden und dass die Moskitonetze, statt verteilt zu werden, dort auf Halde liegen. ({3}) Da stehen mir wirklich die Haare zu Berge. Hinzu kommt, dass diese Netze eigentlich kostenlos abgegeben werden sollen. Kinder und Schwangere bekommen sie zwar kostenlos. Aber alle anderen müssen 7,50 Dollar für ein Netz bezahlen. Das ist für einen Kameruner nicht gerade wenig Geld. Was passiert mit dem eingenommenen Geld? Auch hinter dieser Frage muss man ein großes Fragezeichen machen. Ich finde, das darf nicht so bleiben. Statt die Netze endlich unter das Volk zu bringen, hat man sich dort erst einmal große Fuhrparks angeschafft und viel Personal eingestellt. Das ist zwar auch eine Art von Entwicklungszusammenarbeit, aber nicht der Sinn des Global Fund. Es hat nicht nur in Kamerun, sondern auch in Uganda Fälle von Veruntreuung gegeben. In Uganda sind teure Aids-Medikamente verfallen, weil sie nicht rechtzeitig abgegeben worden sind. So etwas darf nicht geschehen. An dieser Stelle kann und muss der Global Fund besser werden. Es reicht nicht, den Ländern nur Gelder zur Verfügung zu stellen, sondern es muss auch die Verwendung der Gelder überwacht und kontrolliert werden, ({4}) und das vor allem in Ländern, in denen es bekanntermaßen keine gute Regierungsführung gibt. Der Global Fund arbeitet mit 136 Ländern zusammen. Wir wissen, dass viele von ihnen auf Good Governance keinen großen Wert legen. Die Bundesregierung sagt selbst, dass der Global Fund, weil er vor Ort über keine eigenen Strukturen verfügt, auf zuverlässige und vertrauenswürdige Partner angewiesen ist. Diese haben wir leider nicht überall. Das zeigt sich auch daran, dass der kamerunische Gesundheitsminister wenige Tage nach dem Besuch unserer Delegation gefeuert wurde. Das kann ich eigentlich nur begrüßen. Wenn die Arbeit des Global Fund aber durch solche Fälle belastet wird, dann ist er in Gefahr, beschädigt zu werden. Das muss unbedingt verhindert werden. Die USA haben den Umfang ihrer Zahlungen an den Global Fund seit dem letzten Jahr halbiert. Ich vermute, dass die USA dafür Gründe haben. Sie scheinen es vorzuziehen, bilaterale Projektarbeit zu betreiben. Wenn nächste Woche die Wiederauffüllungskonferenz stattfindet, dann müssen auch diese Themen auf den Tisch. Denn wie an vielen Stellen in der Entwicklungszusammenarbeit wird auch hier deutlich, dass die Verwendung der Mittel ständig überprüft und kontrolliert werden muss. Das gilt nicht nur für den Global Fund, sondern für die gesamte Entwicklungszusammenarbeit. Bei der Abstimmung über den Antrag, den die Koalition vorgelegt hat, werden wir uns enthalten. ({5}) Er ist im Grunde ein Aufguss des interfraktionellen Antrags, den wir vor einem halben Jahr gestellt haben. Das finde ich sehr schön; aber dazu unsere Zustimmung zu signalisieren, das ginge uns ein bisschen zu weit. ({6}) Der Wiederauffüllungskonferenz wünsche ich viel Erfolg und danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Sibylle Pfeiffer das Wort. ({0})

Sibylle Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003609, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bill Gates hat einmal über den Global Fund gesagt: Der Global Fund ist eines der besten und liebenswürdigsten Dinge, die Menschen für Menschen jemals geschaffen haben. - Weil wir Entwicklungspolitiker der CDU/CSUFraktion ebenfalls finden, dass der Global Fund eine gute Einrichtung ist, unterstützen wir seine Arbeit. In der nächsten Woche findet in Berlin die Wiederauffüllungskonferenz statt. Sie soll zum einen Planungssicherheit für die Arbeit des Fonds gewährleisten. Zum anderen bietet sie eine Plattform für die Diskussion über seine Leistungsfähigkeit und -möglichkeiten sowie über seine Effizienz. Es ist ein großer Erfolg, dass sich die G-8-Staaten verpflichtet haben, 44 Milliarden Euro für die Bekämpfung von HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose bereitzustellen. Deutschland wird bis 2015 insgesamt 4 Milliarden Euro zur Verfügung stellen. Anerkennung an die Regierung und an Angela Merkel! Das ist ein beachtlicher Beitrag. ({0}) Der Global Fund leistet eine segensreiche Arbeit. Seit 2002 hat er insgesamt 5,5 Milliarden Euro für 450 Programme in 136 Ländern zur Verfügung gestellt. Man schätzt, dass durch die Arbeit des Global Fund 1,8 Millionen Menschen - 3 000 jeden Tag - das Leben gerettet wurde. Nicht zum Selbstzweck, sondern allein zum Wohle der Menschen in den Entwicklungsländern seien mir begleitend einige konstruktive kritische Worte gestattet. Der Global Fund hat die Funktion eines Finanzierungsinstrumentes. Überspitzt könnte man sagen, dass in den 136 Ländern eine Art Budgetfinanzierung stattfindet. Damit sind natürlich Risiken verbunden, die wir nicht einfach beiseite schieben können. Wir alle sind lange genug im Geschäft, um zu wissen, dass es in gewissen Ländern eine eigenartige Interpretation von Mittelverwendung gibt. Die entscheidende Frage lautet: Kommt das Geld dort an, wo es am dringendsten benötigt wird? Wir wissen von Fällen, in denen Moskitonetze als Fischernetze gebraucht werden. Wir wissen, dass Kondome zu Wasserbehältern umfunktioniert werden. Wir wissen, dass es korrupte Politiker in Entwicklungsländern gibt, die sich an Spendengeldern schamlos bereichern. Wir wissen nicht immer, ob die Hilfsmittel die Menschen erreichen. Deshalb, Kollege Addicks, ist es wichtig, auch bei der Vergabe der Mittel des GFATM einzufordern, dass Good-Governance-Kriterien erfüllt werden. ({1}) Mein Motto lautet: Vorbeugen ist immer besser als Heilen. Dies spiegelt sich in der Statistik der Verwendung der Mittel des GFATM leider nicht immer wider. Keine Frage: Die Behandlung von HIV/Aids ist extrem wichtig. Tatsache ist aber auch, dass auf jeden an Aids Erkrankten, der Zugang zu Medikamenten hat, sechs Neuinfizierte kommen. Der Global Fund gibt fast die Hälfte seiner Mittel für Behandlungen aus, aber nur ein Drittel für Prävention. Auch darüber sollte nächste Woche gesprochen werden. Ich bedaure sehr, dass der Global Fund in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit fast ausschließlich mit der Bekämpfung von HIV/Aids in Verbindung gebracht wird. Mehr als 2 Millionen Menschen sterben jährlich an Tuberkulose, mehr als 3 Millionen Menschen an Malaria. Der Fonds heißt deshalb auch: Globaler Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria. Das Teuflische ist, dass es zwischen Aids, Malaria und Tuberkulose Wechselwirkungen gibt. Wo Aids ist, ist Tuberkulose nicht weit: Tuberkulose ist die häufigste Todesursache von HIV/Aids-Patienten. HIV-Positive haben ein 30-mal höheres Risiko, an Tuberkulose zu erkranken, als Gesunde. Genauso gibt es eine Wechselwirkung zwischen Aids und Malaria: HIV erhöht das Risiko, an Malaria zu erkranken und zu sterben. Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Katastrophen im Zusammenhang mit diesen verheerenden Krankheiten sind uns Entwicklungspolitikern wohlbekannt. Tuberkulose gilt in Westeuropa als ein Überbleibsel aus vergangenen Zeiten. Obwohl diese Krankheit gut heilbar ist, ist Tuberkulose in Osteuropa, Asien und Afrika immer noch eine der häufigsten Krankheiten mit Todesfolge. Der Tuberkulosetest ist sage und schreibe 125 Jahre alt und kann nur in 40 bis 60 Prozent der Fälle die Krankheit ermitteln. Millionen Erkrankungen bleiben deshalb unentdeckt. Die gängigen Tuberkulosemedikamente sind 40 Jahre alt und älter. Das kann nicht sein! Ich appelliere an die Pharmaindustrie, sich hier stärker zu engagieren. ({2}) Malaria und Tuberkulose fordern mindestens so viele Opfer wie HIV/Aids. Die Verteilung der Mittel des Global Fund spiegelt dies jedoch nicht wider. Mehr als die Hälfte der Gelder gibt der Fund für die Bekämpfung von HIV/Aids aus und nur 14 Prozent für die Bekämpfung von Tuberkulose. Für mich ist das ein weiterer Diskussionspunkt in der nächsten Woche. Was mich am meisten ärgert, ist, dass, obwohl Malaria relativ einfach bekämpft werden kann, nicht genug unternommen wird. Auch hier gilt: Vorbeugen ist besser als Heilen. Malaria wird von Mücken übertragen, und die stechen nachts. Dagegen schützen Moskitonetze. Noch besser schützen sie, wenn sie mit Insektiziden imprägniert sind. Ein behandeltes Netz bietet doppelt so viel Schutz wie ein unbehandeltes. Was auch wichtig ist: Eine Mücke, die mit einem solchen Netz in Kontakt kommt, stirbt. Es muss aber sichergestellt werden, dass die Menschen diese Netze erhalten und sachgerecht anwenden. Ein wirksames Mittel gegen Malariamücken ist die Verwendung von Insektengiften. Dazu gehört auch die maßvolle Verwendung von Dichlordiphenyltrichlorethan, ({3}) DDT. Damit kein Missverständnis aufkommt, damit es morgen nicht in der Presse heißt: „Pfeiffer will uns mit DDT einnebeln“, sage ich: Es geht mir um einen maßvollen und begrenzten Einsatz von DDT zur Bekämpfung der Malariamücke. ({4}) Sogar die WHO spricht sich für den sachgerechten Einsatz von DDT, in Gebäuden wohlgemerkt, aus. Das Mittel soll auf die Wände und Decken der Gebäude aufgetragen werden. Die WHO hat in einer Pressemitteilung erklärt: Der korrekte und rechtzeitige Einsatz von DDT kann die Malariaübertragung um 90 Prozent senken. Ich denke, dieser Erkenntnis und dieser Empfehlung dürfen wir uns nicht verschließen, schon gar nicht aus ideologischen Gründen. Medikamente und präventive Maßnahmen allein reichen im Kampf gegen HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose nicht aus. Die Grundvoraussetzungen sind funktionierende Gesundheitseinrichtungen bzw. Gesundheitssysteme. Die besten Medikamente nützen nichts, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind. Dies führt uns unter anderem zur Frage der sozialen Sicherungssysteme in Entwicklungsländern. Kollege Walter Riester und ich haben vor zwei Tagen an einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen zu diesem wichtigen Thema teilgenommen. Auch dort wurde klipp und klar deutlich: Soziale Sicherungssysteme, also Kranken-, Renten- und Sozialversicherung, in Entwicklungsländern sind kein Luxus, sondern eine Investition in die Zukunft. ({5}) Die besten Krankenhäuser und die besten Medikamente nützen wenig, wenn kein qualifiziertes Personal vorhanden ist. Die Abwanderung von medizinischem Personal wird immer mehr zu einem Problem in den Entwicklungsländern. Die ohnehin angespannte Situation im Gesundheitswesen der Entwicklungsländer wird durch die Abwanderung von Ärzten, Pflegepersonal, Krankenschwestern und Hebammen noch verschärft. Besonders schlimm ist die Situation in Afrika. Afrika muss 25 Prozent der weltweiten Krankheitslast tragen. Dort arbeitet aber nur etwa 1 Prozent des weltweiten Personalbestandes im Gesundheitswesen. Schätzungen zufolge fehlen in Afrika 1 Million medizinische Fachkräfte. Andererseits wandern jedes Jahr 20 000 medizinische Fachkräfte allein aus Afrika nach Europa und in die USA. Wir haben völlig abstruse Verhältnisse. So arbeiten in Frankreich mehr Ärzte aus Benin als in Benin selbst, in Manchester mehr malawische Ärzte als in Malawi. Die Situation wird sich verschärfen, da der Bedarf an medizinischem Fachpersonal in den Industrieländern steigen wird. Zusammen mit den Herkunftsländern müssen die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für medizinisches Fachpersonal in den Herkunftsländern verbessert werden. Mit anderen Worten: Ein Arzt oder eine Ärztin, eine Hebamme oder ein Krankenpfleger müssen in der Lage sein, sich und ihre Familie zu ernähren. Das Fachpersonal in den Entwicklungsländern muss zudem die Gelegenheit bekommen, sich beruflich fortbilden zu können. Ich bin überzeugt, dass die Lösung des sogenannten Braindrain eine der Hauptaufgaben der deutschen und der europäischen Entwicklungspolitik sein muss; denn das medizinische Personal ist eine Säule nachhaltiger Entwicklung. ({6}) Zurück zu HIV/Aids. Die Bekämpfung von HIV/Aids ist untrennbar mit dem Thema „sexuelle und reproduktive Gesundheit“ verbunden. HIV wird nun einmal fast ausschließlich durch Geschlechtsverkehr übertragen. Ist ein Kondom zur Verhütung von HIV, zur Verhütung von Schwangerschaft oder gar für beides gedacht? Wir sollten die Dinge mit gesundem Menschenverstand angehen; denn die Bekämpfung von HIV/Aids und reproduktive Gesundheit schließen sich nicht aus, im Gegenteil: Sie ergänzen sich. ({7}) Im vorliegenden Antrag gehen wir auch auf den UNFPA, den United Nations Fund for Population Activities, ein. Er spielt in den Entwicklungsländern in Fragen der reproduktiven Gesundheit und der Bevölkerungsentwicklung eine wichtige Rolle. Seine Aufgabe ist, weltweit das Bewusstsein für dieses Thema zu fördern und zu stärken. Der UNFPA unterstützt Programme, die Frauen und Männern bei der Familienplanung helfen und ungewollte Schwangerschaften verhindern. Er setzt sich für eine qualifizierte Betreuung von Schwangerschaften und Geburten ein und hilft, durch Aufklärungsarbeit die Verbreitung von HIV/AIDS und anderen sexuell übertragbaren Krankheiten einzudämmen. Der UNFPA kämpft außerdem für Chancengleichheit und gegen Gewalt gegen Frauen. Ich meine, diese Organisation verdient unsere Unterstützung genauso wie IPPF, International Planned Parenthood Federation, die Internationale Vereinigung geplanter Elternschaft. Diese Organisation setzt sich für das Recht von Frauen und Männern ein, die Zahl ihrer Kinder frei zu bestimmen. Sie alle wissen, dass meine Begeisterung für multilaterale Organisationen sehr begrenzt ist. Diese beiden aber gehören zweifelsohne zu denjenigen, die in meinen Augen größere Unterstützung verdienen. Im Zusammenhang mit der sexuellen und reproduktiven Gesundheit liegt mir noch etwas auf dem Herzen, was ich unbedingt loswerden möchte. Sich für die sexuelle und reproduktive Gesundheit einzusetzen, hat nichts, aber überhaupt nichts damit zu tun, dass Abtreibung als ein Mittel der Familienplanung betrachtet wird. Wer dies behauptet, hat von der Sache keine Ahnung. Sexuelle und reproduktive Gesundheit hat mit Prävention und Aufklärung zu tun. Reproduktive Gesundheit hat auch etwas mit Frauenrechten zu tun. Ich finde es völlig normal, dass eine Frau selber entscheiden kann, ob sie schwanger wird, von wem sie schwanger wird und wie oft sie schwanger wird. Dieses Recht ist für uns selbstverständlich. Ich meine, dass den Frauen in den Entwicklungsländern dieses Recht nicht verwehrt bleiben kann und darf. ({8}) In diesem Zusammenhang erwähne ich Femidom. Ich befürworte und unterstütze aber auch die Forschung im Bereich der Mikrobizide. Beides, Femidom und Mikrobizide, sind Verhütungsmethoden, die deshalb so wichtig sind, weil über deren Anwendung die Frauen selbst bestimmen können. Da wir schon bei Verhütungsmitteln sind, möchte ich darauf hinweisen, dass in Entwicklungsländern immer noch ein gravierender Mangel an Verhütungsmitteln herrscht. In Afrika, wo die Aidspandemie besonders schlimm ist, stehen jedem Mann sechs bis acht Kondome zur Verfügung - pro Jahr, wohlgemerkt! Ich wiederhole mich: Dies ist schlichtweg zu wenig. ({9}) Ich freue mich, dass die Wiederauffüllungskonferenz des Global Fund uns die Möglichkeit gegeben hat, über das Thema HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria im Bundestag zu diskutieren. Ich glaube, dieses Thema ist zu wichtig, als es in den Hintergrund geraten zu lassen. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Frank Spieth das Wort. ({0})

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Linke begrüßt es außerordentlich, dass Deutschland in der nächsten Woche die Geberkonferenz des Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria ausrichtet. Dieser Fonds ist seit seiner Gründung vor sechs Jahren zu einer großen Hoffnung für die Kranken in den armen Ländern dieser Welt geworden. Das Aktionsbündnis gegen Aids schätzt, dass durch die Programme bisher knapp 2 Millionen Menschen gerettet werden konnten. Das ist ein phänomenaler Erfolg. Deshalb ist es umso wichtiger, dass Deutschland als Gastgeberland mit einem deutlichen Signal vorangeht, und zwar sowohl mit Geld als auch bei der Auswahl der zu finanzierenden Maßnahmen. In Ihrem Antrag, dem wir heute zustimmen werden, werden in vielen Punkten die richtigen Themen aufgegriffen: der Ausbau der Mutter-Kind-Programme zur Verhütung der Übertragung von Aids, die Berücksichtigung der spezifischen Situation von Frauen und Mädchen oder die Abwerbung von medizinischen Fachkräften durch die Industrieländer. Gestatten Sie mir aber eine Bemerkung: Seit Beginn der Großen Koalition - das wurde eben erwähnt - kommen von Ihnen im Halbjahresabstand wolkige und wohlklingende Erklärungen zur Bekämpfung von HIV, Malaria und Tuberkulose. Was wir allerdings vermissen, ist, dass Sie mit ganz konkreten Vorschlägen auf die Situation vor Ort eingehen. So fordern Sie in Ihrem Antrag - ich nenne hier nur Stichworte - verstärkte Anstrengungen, Intensivierungen, eine bessere Zusammenarbeit und eine forcierte Integration. Sie fordern dazu auf, wesentlich mehr Beiträge zu leisten, mehr Aufmerksamkeit zu schenken, daran zu arbeiten und mitzuwirken. Ich muss Ihnen sagen: Wunderbar, die pastorale Erfüllung spricht aus jeder Zeile. Aber was steht konkret dahinter? Ein wenig klarer dürfte es schon sein, wenn der Antrag kein Wunschzettel an den Weihnachtsmann bleiben soll. Wie wollen Sie konkret erreichen, dass das medizinische Fachpersonal nicht in die Industrieländer abwandert? Wie möchten Sie den Zugang zu bezahlbaren Medikamenten gewährleisten? Wie wollen Sie die Situation der Frauen und Mädchen verbessern, wenn Sie mit keinem Wort auf die Gewalt gegen Frauen als eine Schlüsselursache für die Ausbreitung von HIV eingehen? ({0}) Die Koalition muss sich noch klarer für die Eindämmung von HIV, Malaria und Tuberkulose in den armen Ländern einsetzen. Es ist an der Zeit, dass ein Programm für eine gerechte Entwicklungs-, Wirtschafts-, Finanzund Handelspolitik vorgelegt wird, um die Armut und die häufig tödlichen Erkrankungen in den armen Ländern konsequent zu bekämpfen. Stattdessen - das hören Sie vielleicht nicht so gerne - erklärt die Bundesregierung den Patentschutz der Pharmakonzerne, der eine wesentliche Ursache dafür ist, dass 72 Prozent der Aidskranken in den armen Ländern keinen Zugang zu erschwinglichen Arzneimitteln haben, zum unangreifbaren Tabu. ({1}) Die Industrie hat in den vergangenen 20 Jahren nicht ein neues Arzneimittel gegen Tuberkulose und erst recht keine Impfung gegen Malaria auf den Markt gebracht, dafür aber haufenweise überflüssige Haarwuchsmittel und Schlankmacher produziert. ({2}) Wenn Sie schon Deutschland mit Ihrem neuen Forschungsprogramm, über das wir diskutieren, wieder zur Apotheke der Welt machen wollen, dann dürfen Sie das Geld nicht einfach großflächig in die Forschung pumpen, sondern dann müssen Sie Ihre Programme auch an den Krankheiten ausrichten, über die wir heute reden. Ich wünsche mir, dass Sie mehr Druck auf das amerikanische Unternehmen Abbott ausüben, das sich weigert, wichtige Medikamente an Thailand zu verkaufen, weil das Land es gewagt hat, das dringend benötigte teure HIV-Mittel Kaletra von Abbott kostengünstig nachzubauen, ({3}) und zwar für die Patienten, die auf staatliche Wohlfahrt angewiesen sind und bisher keine Chance auf Behandlung haben. So rettet man auch Menschenleben. Statt hier konkret zu helfen, verspricht Frau Merkel vor laufenden Fernsehkameras auf dem G-8-Gipel in Heiligendamm werbewirksam milliardenschwere Hilfsprogramme für die Kranken in Afrika, während gleichzeitig im Kleingedruckten der G-8-Verträge die Durchsetzung des Patentschutzes unter Strafandrohung festgeschrieben wurde. Für Millionen Aids-, Malaria- und Tuberkulosekranke ist das aus meiner Sicht eine tödliche Entscheidung. Wir erwarten, dass die Bundesregierung, wie vom Aktionsbündnis gegen Aids gefordert, auf der Geberkonferenz eine deutlich höhere Zusage macht, als im Antrag vorgesehen, und zusätzlich Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit und die internationalen Bekämpfungsprogramme bereitstellt. Wir wünschen uns auch mehr Unterstützung der Entwicklungshilfeministerin, weil wir glauben, dass noch sehr viel zu tun ist. ({4}) Ich wünsche uns gemeinsam, dass wir nicht erst am Welt-Aids-Tag wieder über Wünsche und Handlungsbedarfe diskutieren und ansonsten nur Prosa produzieren. Schönen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Ute Koczy das Wort.

Ute Koczy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003788, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen und Kollegen! Man kann es drehen, wie man will. Eines ist klar: Ohne innovative Finanzierungsinstrumente werden die dauerhaften Erhöhungen der Mittel für die Bekämpfung der Krankheiten HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria Eintagsfliegen bleiben; ({0}) denn ohne zum Beispiel eine Flugticketabgabe oder die Kerosinsteuer haben wir keine Chance, frisches Geld zu erhalten, um die Ausgaben zu verstetigen. Darauf legen wir Grünen in dieser Debatte besonderen Wert. Es geht bei der Bekämpfung dieser Krankheiten um riesige Summen. Die UN legt Schätzungen vor, wonach im Zeitraum von 2008 bis 2010 zwischen 84 und 90 Milliarden US-Dollar zur Erreichung der Gesundheitsmillenniumsziele benötigt werden. Es ist zwar gut, wenn sich die G-8-Staaten - gedrängt durch die öffentliche Aufmerksamkeit - verpflichtet sehen, den Globalen Fonds mit berechenbaren und langfristigen Beiträgen aufzufüllen. Es reicht aber nicht aus, anzugeben, wie viel Geld man zum gegenwärtigen Zeitpunkt investieren will. Vielmehr müssen die Mittel verstetigt werden. Wir erwarten, dass das Engagement in den nächsten Jahren fortgesetzt wird. Deutschland will bis 2015 4 Milliarden Euro zur Bekämpfung der Pandemie ausgeben. Das ist zwar gut und richtig, aber die Bundesregierung muss an dieser Stelle Tacheles reden und angeben, wie sie diese Zusagen finanziell absichern will und woher die Mittel dafür kommen; denn sonst steht das gesamte Vorhaben weiterhin auf tönernen Füßen. Wir sind uns fraktionsübergreifend inhaltlich darin einig, dass viel mehr getan werden muss. Die Bedeutung des Themas Gesundheit für die Entwicklung ist bekannt: Von 2000 bis 2005 haben sich die Mittel von 6 Milliarden auf 14 Milliarden US-Dollar mehr als verdoppelt. Es sind schon entsprechende Erfolge im Gesundheitsbereich zu verzeichnen, die wir sehr begrüßen. So sind zum Beispiel Todesfälle durch Masern seit 1999 weltweit um 60 Prozent zurückgegangen. Immerhin 2 Millionen Menschen erhalten Medikamente gegen Aids. Wir finden es ebenfalls richtig - auch darin sind wir uns einig -, dass nicht nur in die Bekämpfung einer einzigen Krankheit wie HIV/Aids investiert werden sollte. Notwendig ist vielmehr die ganzheitliche Stärkung von Gesundheitssystemen. Damit komme ich zu einem weiteren Punkt, in dem mir Ihr Antrag nicht weit genug geht. Sie fordern zwar ein, was in der G-8-Erklärung von Heiligendamm schon festgeschrieben und zugesagt wurde, aber Sie gehen kaum darüber hinaus. Sie haben uns einen Antrag vorgelegt, in dem lediglich wiederholt wird, was bereits beschlossen worden ist. Ein Beispiel betrifft den Zusammenhang zwischen Umwelt und Gesundheit. Eine neue Studie einer USamerikanischen Universität zeigt den Zusammenhang klar auf: Weltweit sterben vier von zehn Menschen an Umweltverschmutzungen; denn vor dem Hintergrund der steigenden Bevölkerungszahlen tragen Verschmutzungen in Wasser, Luft und Böden zu Unter- und Fehlernährungen und verstärkter Krankheitsanfälligkeit bei. Auch Deutschland ist betroffen: Aufgrund dieser Faktoren sterben jährlich 100 000 Menschen an Umweltverschmutzungen. ({1}) Weltweit sind 3,7 Milliarden Menschen gefährdet. Dieser Zusammenhang wird uns in Zukunft weiter beschäftigen. Das haben uns die Regenfälle und Überschwemmungen in der Sahelzone vor Augen geführt. Neue Hungerkatastrophen zeichnen sich ab. Die Ernten sind vernichtet. Es wird von ersten Cholerafällen berichtet. Über die Wasserfluten breiten sich Krankheiten aus. Die gefluteten Gebiete sind ideale Brutstätten für Krankheitserreger. Das heißt, es ist schon in diesem Jahr ein dramatischer Zuwachs an Gefährdungspotenzialen zu verzeichnen, auf den wir jetzt reagieren müssen. Die afrikanischen Gesundheitssysteme sind, wie wir wissen, dafür nicht gerüstet. Diese Herausforderung müssen wir jetzt angehen. Die vagen Forderungen in Ihrem Antrag reichen dafür nicht aus. Ein weiterer Punkt ist schon von meinem Vorredner angesprochen worden, nämlich der Zugang zu preiswerten Medikamenten und Impfstoffen. Sie haben es bereits angesprochen, Frau Pfeiffer, aber man kann es nicht oft genug wiederholen: Wir müssen Anreize für die Pharmaindustrie schaffen, damit sie ihre Forschungstätigkeit auch auf die Krankheiten ausdehnt, die bisher vernachlässigt wurden, weil diese Krankheiten nur in den Entwicklungsländern und hauptsächlich bei armen Menschen auftreten. Insofern ist dieser Bereich kein interessanter Markt. Inzwischen treten solche Krankheiten aber auch in Europa auf. Die Krankheitserreger verändern sich, und es entstehen neue Gefährdungspotenziale. Angesichts von Krankheiten wie Ebola, das im Kongo ausgebrochen ist, oder das Chikungunya-Fieber, das sich zurzeit in Norditalien ausbreitet, trifft es nicht zu, dass sich Krankheiten auf ein bestimmtes Gebiet beschränken. Die Gefährdungspotenziale bestehen vielmehr weltweit. Auch in diesem Zusammenhang stimme ich mit Ihrem Antrag nicht überein. Mir erscheint die Formulie12052 rung zu schwach. Ich meine, wir müssen darauf achten, dass die Gesundheitsvorsorge als öffentliches Gut Priorität vor den Wirtschaftsinteressen hat. Deswegen werden wir uns in der Abstimmung der Stimme enthalten. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Wodarg für die SPD-Fraktion.

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir können Geld geben und so etwas Gutes tun. Wir werden in der nächsten Woche über die Höhe der Mittel sprechen und auch darüber, wofür wir das Geld ausgeben. Der Global Fund, der mittlerweile sechs Jahre existiert, wurde vom G-8-Gipfel in Okinawa initiiert. Unter Kofi Annan wurde von den VN das umgesetzt, was dort projektiert war. Das hat sich gut entwickelt. Der Global Fund ist eine Erfolgsgeschichte. Wir sind uns einig, dass er ein Instrument ist, welches zuerst einmal lokalisiert, wo auf der Welt Hilfe am dringendsten notwendig ist, und dann dafür sorgt, dass nur dort geholfen wird, wo das Geld effizient eingesetzt werden kann. Von den vielen Anträgen, die beim Global Fund eingehen, werden nur 40 Prozent positiv beschieden. 60 Prozent werden abgelehnt, weil es sich um korrupte Länder handelt, weil man den Regierungen nicht zutraut, mit dem Geld etwas Vernünftiges für die Menschen zu tun, weil die Strukturen nicht geeignet sind, weil die Anträge zeigen, dass das Geld nicht vernünftig angelegt werden kann, oder weil in den betreffenden Ländern zu viele Geber unkoordiniert nebeneinander arbeiten; auch das kommt vor. Darüber haben wir mit den Vertretern des Global Fund kürzlich reden können; das war spannend. Dabei ist folgendes Problem deutlich geworden: Der Global Fund muss bislang die Gründe für eine Ablehnung verheimlichen; das ist ein Tabu. Bei den zugesagten Geldern werden wird jedoch veröffentlicht, warum die betreffenden Länder Geld bekommen. Aber über die Länder, die kein Geld bekommen, wird nichts gesagt; darüber wird Stillschweigen bewahrt. Das geht nicht. Wenn wir nicht nur Geld geben, sondern auch politisch Einfluss nehmen wollen, damit in den betreffenden Ländern etwas Vernünftiges geschieht, dann müssen wir die Gründe für eine Ablehnung kennen, damit wir den Besuchern aus den betreffenden Ländern sagen können: Wir würden euch gerne helfen, aber da gibt es noch etwas zu tun; da müsst ihr in die Puschen kommen. ({0}) Wir bitten die Regierung daher, gemeinsam mit anderen Ländern auf eine Veröffentlichung der Ablehnungsgründe auf der Konferenz in der nächsten Woche zu drängen. Wir haben ein weiteres Problem. Alle 10 Sekunden stirbt ein Mensch an HIV/Aids und alle 20 Sekunden an Tuberkulose. ({1}) Zählt man die vielleicht doppelt? Wir haben gehört, dass die meisten Menschen, die an Aids erkrankt sind, an der Infektionskrankheit Tuberkulose sterben. Die vorhandene Epidemiologie ist also völlig unzureichend. Die Menschen sind auch HIV-positiv und verhungern. Es ist wichtig, das auseinanderzuhalten; denn mit 1 oder 2 Dollar, die eine Aidstherapie am Tag kostet, kann man in vielen Ländern eine Familie vor dem Hungertod bewahren. Das heißt, man muss das Problem sehr differenziert betrachten. Es ist gut, dass nicht wir Politiker bestimmen, wer Geld bekommt, sondern eine Institution, die sehr differenziert darauf achtet, was alles zusammenpassen muss, damit es Sinn hat. Wenn wir HIV-Medikamente in Länder schicken, in denen die Menschen verhungern, nutzt das überhaupt nichts. Daher ist es gut, dass wir den Global Fund haben, der mit großer Fachkenntnis versucht, vernünftige Strategien zu verfolgen. ({2}) Wir haben ein weiteres Problem. Wenn wir Infektionskrankheiten wie Malaria, Tuberkulose oder HIV/ Aids bekämpfen wollen, brauchen wir nicht nur eine Diagnose, aus der hervorgeht, wo diese Krankheiten auftreten, sondern auch eine Therapie. Bei der Therapie ist es zuallererst wichtig, zu wissen, was man machen kann, ob es überhaupt wirksame Medikamente gibt. Wie wir wissen - das wurde schon angesprochen -, sind seit 30, 40 Jahren keine neuen Medikamente gegen Tuberkulose auf den Markt gekommen. Vielmehr versucht man neue Kombinationen. Auch das, was gerade ausprobiert wird, sind Medikamente, die es schon gibt und die man nun daraufhin testet, ob sie bei Tuberkulose Linderung bringen. Es muss viel mehr geforscht werden, damit neue, wirksame Medikamente zur Bekämpfung dieser schweren Seuchen entwickelt werden. Hier gibt es gute Ansätze. Ich bin sehr begeistert von Netzwerken, die sich inzwischen gebildet haben und die sich zusammentun, um neue Produkte zu entwickeln. Diese Netzwerke sind aber sehr differenziert zu sehen. Es gibt Netzwerke, die auf Patentjagd sind. Diese Netzwerke versuchen, an Geld zu kommen. Dort forscht man gemeinsam, was auch schneller geht. Dann aber einigt man sich darauf, wer das Monopol verwerten darf. Das nützt uns nicht viel. Solche Netzwerke dienen den Aktionären, um hohe Rendite zu erzielen. Der Nutzen kommt also nicht bei den Menschen an, die die Medikamente brauchen. Es gibt aber auch positive Beispiele. Ich möchte hier das DNDi nennen; das ist die Drugs for Neglected Diseases Initiative. Diese Initiative hat ein phantastisches Medikament gegen Malaria entwickelt. Es bestand von vornherein der Anspruch, dass dieses Medikament patentfrei sein wird. Auch arme Länder können es also selber herstellen. In Ghana haben wir eine solche Fabrik gesehen. Wir wissen, dass sich auch große Pharmaunternehmen, die sonst hinter den Patenten herjagen, über diese Möglichkeit Gedanken machen und sich dafür einsetzen. Dort sagt man: Das geht so nicht weiter, wir müssen unsere Strategie ändern. - An der Entwicklung des neuen Malaria-Medikamentes ist zum Beispiel die Firma Sanofi-Aventis beteiligt. Sie verzichtet auf Ansprüche. Ich erwähne diese Firma, weil dies ein positives Beispiel ist. Das muss man auch einmal loben. ({3}) Die Medikamente, die vom DNDi-Netzwerk entwickelt worden sind - das sind Artemisinin und Amodiaquin-Kombinationen -, gibt es jetzt überall. Sie sehen sie überall: Sie werden überall verkauft und in vielen Ländern hergestellt. Sie sind spottbillig und sehr wirksam, wahrscheinlich noch viel wirksamer als so manches Medikament, das hier in Deutschland patentgeschützt in der Apotheke gekauft werden kann. Dieses Medikament ist in Deutschland nicht zugelassen. Wieso eigentlich nicht? Darüber kann man nachdenken, aber das mache ich dann im Gesundheitsausschuss. Wenn wir über Entwicklungshilfe reden, dann reden wir über Geld. Wir müssen aber aufpassen, dass wir Geld nicht als Ablass verstehen und uns nicht freikaufen. Wir haben eine Schuld. Wir sind auch schuld daran, dass es den Menschen in anderen Ländern so schlecht geht. Wir sehen die Gewaltökonomien und den Waffenhandel, wobei ich mit „wir“ die reichen Länder meine. Wir wissen, dass sexualisierte Gewalt ausgeübt wird. Es geht nicht um sexuelle Gewalt - Karin Kortmann hat das neulich sehr differenziert dargestellt -, sondern um sexualisierte Gewalt. Es ist Gewalt mittels Sexualität, um Menschen zu entwürdigen. ({4}) Das ist ein Mittel der Kriegsführung, mit dem die Menschenwürde mit Füßen getreten und noch Schlimmeres angerichtet wird. Wenn wir politische Verhältnisse tolerieren, in denen sich Warlords ausbreiten können und Waffenhändler ihre Geschäfte machen können, dann werden wir sehr darauf achten müssen, dass wir dann, wenn wir Hilfe beispielsweise nach Darfur schicken -

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kollege Wodarg, das ist ein sehr wichtiges Thema. Ich bin ein sehr geduldiger Mensch. Deshalb habe ich Ihnen auch die zwei Minuten Redezeit der Kollegin Kortmann nicht abgezogen. Ich bitte Sie aber, jetzt wirklich einen Schlusssatz zu formulieren.

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke. - Der Schluss ist: Es ist gut, dass wir Geld geben. Das darf uns aber nicht trösten. Wir bleiben an dem, was in der Welt passiert, schuldig. Wir müssen politisch darauf hinwirken, dass wir die Probleme ursächlich bekämpfen und sich die Verhältnisse ändern. Herzlichen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/6398 mit dem Titel Maßnahmen zur Bekämpfung von HIV/AIDS, Tuberkulose und Malaria stärken. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Antrag bei Enthaltung der Fraktion der FDP und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, komme ich auf den Tagesordnungspunkt 22 zurück. Es handelt sich um den bereits gestern an die Ausschüsse überwiesenen Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/6399 zu der Regierungskonferenz zur Änderung der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union. Es ist interfraktionell vereinbart, dass dieser Antrag nachträglich an den Ausschuss für Kultur und Medien überwiesen werden soll. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Damit ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Volker Beck ({0}), Winfried Hermann, Marieluise Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Menschenrechtslage im Vorfeld der Olympischen Sommerspiele 2008 in Beijing - Drucksache 16/6175 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit der Vergabe der Sommerspiele an Peking vor sieben Jahren verband sich die Hoffnung auf eine weitere Öffnung Chinas und auf eine Verbesserung der Menschenrechtslage in diesem Land. Mit der heutigen Debatte zeigen wir, dass wir als Deutscher Bundestag und als Bundesrepublik Deutschland die Chinesen beim Wort nehmen und genau hinschauen, wie die Situation tatsächlich ist, und das Ganze parlamentarisch begleiten werden. Mit der Großen Anfrage meiner Fraktion machen wir heute sozusagen den Auftakt. Aber wir werden im Januar noch eine gemeinsame Anhörung von Menschenrechts- und Sportausschuss haben. Das zeigt, dass dieses Thema dem gesamten Deutschen Bundestag sehr wichtig ist. Die Hoffnung, die sich mit den Olympischen Spielen verband, ist nicht tot, hat sich aber bislang auch nicht erfüllt; das müssen wir ganz deutlich sagen. Das Bild sieht differenziert aus. Wenn man die Chinesinnen und Chine12054 Volker Beck ({0}) sen fragt, werden sicherlich viele von ihnen sagen, dass die Menschenrechtslage inzwischen etwas besser ist, als sie einmal war. Das sollten wir zur Kenntnis nehmen, um den Dialog mit den Chinesinnen und Chinesen weiter glaubwürdig fortzusetzen. Von der chinesischen Regierung hört man immer wieder, sie sei sich der noch existenten Probleme bewusst, brauche aber Zeit und es dürfe vor allem keinen Druck von außen geben. Letzteres befürworte ich sicher nicht. In der sogenannten westlichen Welt häufen sich in letzter Zeit die Berichte über verseuchtes Spielzeug, Umweltkatastrophen, Enteignungen ohne Entschädigung beim Bau der olympischen Stätten und über die insgesamt schlechte Menschenrechtslage. Es gibt gravierende Menschenrechtsprobleme in China, etwa die eingeschränkte Meinungs- und Pressefreiheit, obwohl versprochen war, dass Pressefreiheit die Olympischen Spiele begleiten wird. Natürlich haben wir damit die Hoffnung verbunden, dass dies nicht nur für ausländische Journalisten, sondern auch für die chinesischen Journalistinnen und Journalisten gilt. ({1}) Die Verfolgung und Diskriminierung von ethnischen und religiösen Minderheiten ist ein großes Problem in Bezug auf die Situation in Tibet, bei den Uiguren im Westen Chinas, aber auch der Katholiken und der Anhänger von Falun Gong. Die Zwangsenteignungen bei den Vorbereitungen der Olympiade sind ein Skandal und dürfen uns nicht ruhen lassen. ({2}) Das System der Arbeits- und Umerziehungslager haben wir als Deutscher Bundestag schon offiziell gerügt, was uns leider Gottes eine Ausladung des Menschenrechtsausschusses für den Oktober dieses Jahres eingebracht hat. Einerseits merken wir daran, dass man uns ernst nimmt und unsere Reaktionen zur Kenntnis nimmt. Andererseits soll man aber nicht glauben, dass man uns durch eine Rücknahme der Einladung, sich die Lage einmal anzuschauen, davon abhalten kann, das Land weiter aufmerksam zu beobachten. ({3}) Es muss uns schon sehr misstrauisch machen, wenn man den Menschenrechtsausschuss des Deutschen Bundestages und seine Besuche in diesem Land fürchtet. Herr Kollege Leutert, wir haben uns gestern im Obleutegespräch darüber unterhalten: Ich finde es richtig, dass wir ein Thema aufgegriffen und uns als Bundestag klar dazu verhalten haben. Ich teile Ihre Auffassung, wonach man durch Leisetreterei vielleicht eine Reise mehr gemacht hätte, ausdrücklich nicht. Gerade bei Menschenrechten darf sich der Deutsche Bundestag nicht von ausländischen Staaten erpressen lassen, sondern muss die Wahrheit aussprechen. Die Dinge beim Namen zu nennen, ist das Einzige, was den Menschen in diesen Ländern hilft. ({4}) Die chinesische Regierung versucht, Frau Merkel davon abzuhalten, den Dalai Lama zu treffen. Ich hoffe, Frau Merkel wird bei ihrer Linie bleiben und sich da nicht hineinreden lassen. Ausländische Medienvertreterinnen und Medienvertreter wurden bei der Fußball-WM der Frauen beobachtet und bespitzelt. Das sind alles Vorgänge, die uns nicht ruhen lassen und die zeigen, dass die Chinesen ihr Wort nicht halten. China ist vor kurzem in den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen gewählt worden. Es hat sich bei dieser Gelegenheit verpflichtet, den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte zu unterzeichnen. China gehört zusammen mit Ländern wie Sudan und Saudi-Arabien zu den wenigen Ländern, die diesen Pakt, der die menschenrechtlichen Minimalstandards klärt, noch nicht unterzeichnet haben. Die Bundesregierung sollte in allen Gesprächen möglichst viel Druck dahin gehend machen, dass China diesem Menschenrechtspakt endlich beitritt. Das wäre ein klares Signal, und die Chinesen haben ihn ja bereits akzeptiert. Vielleicht gelingt es uns, ein Projekt voranzubringen, bei dem wir mit den Chinesinnen und Chinesen schon ein Stück weitergekommen sind, nämlich bei der Abschaffung und Eindämmung der Todesstrafe. Die Todesstrafe wurde von den Chinesen einem neuen Rechtsverfahren unterworfen; der Oberste Gerichtshof muss die Todesurteile bestätigen. Das ist ein richtiger Schritt, den wir ausdrücklich unterstützen. Leider scheint die Implementierung dieses rechtlichen Verfahrens seine Wirkung bislang nicht ausreichend zu entfalten: Amnesty International berichtet uns, dass in China allein im letzten Jahr, 2006, 1 010 Todesurteile vollstreckt und 2 790 Todesurteile ausgesprochen wurden. Wir sollten klarmachen, dass wir sehen, wo Fortschritte zu verzeichnen sind. Wir sollten aber auch klarmachen, dass wir jetzt die Konsequenzen des richtigen Schritts, die Todesstrafe einem neuen Rechtsverfahren zu unterwerfen, sehen wollen. Die Unterzeichnung des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte würde dazu führen, dass man die Todesstrafe, wenn überhaupt, nur noch bei schwersten Verbrechen verhängen darf, und das ist in China bis heute leider nicht der Fall. Dort ist die Palette der Straftaten, die mit der Todesstrafe geahndet werden, noch sehr groß. Wir fordern hier kleine Schritte ein. Wir sehen uns bemüßigt, dafür zu sorgen, dass wir hier Schritt für Schritt vorankommen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Beck, ich habe gehofft, dass Sie einen Schlusssatz bilden können.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bedanke mich bei der Präsidentin, dass sie mir für den letzten Schritt in meiner Rede noch eine Minute gegönnt hat. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat der Kollege Holger Haibach das Wort. ({0})

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da wir beim Thema China sind, möchte ich an ein schönes Sprichwort erinnern: „Auch der längste Weg beginnt mit dem ersten Schritt.“ Es ist richtig, dass wir heute über China und die dortige Menschenrechtslage sprechen. Ich freue mich, dass der Kollege Beck eindeutige Worte gefunden hat. Mir ist immer noch nicht ganz klar, warum die Debatte über diese Große Anfrage ausgerechnet heute auf der Tagesordnung steht. Normalerweise wird die Debatte über eine Große Anfrage auf die Tagesordnung gesetzt, wenn sie eingebracht wird oder wenn die Antwort darauf vorliegt. Darüber in der Zwischenzeit zu diskutieren, ist ein eher ungewöhnliches Verfahren. Nichtsdestoweniger ist es sicherlich ein wichtiges Thema, und das wollen wir natürlich mit der entsprechenden Ernsthaftigkeit angehen. ({0}) Ich bin über die klaren Worte, die gefunden worden sind, sehr froh. Ich kann sie in vielen Teilen durchaus unterstützen. Ich bin auch froh, dass die Bundesregierung und die Koalition, die sie trägt, klare Worte zu dem finden, was in China vor sich geht. Ich bin ausgesprochen dankbar dafür, dass die Bundeskanzlerin und auch der Außenminister bei verschiedenen Treffen klargemacht haben, dass die Menschenrechtslage für uns eine ganz wichtige Angelegenheit ist und dass es nicht immer wieder den vielzitierten Gegensatz zwischen Wirtschaftsinteressen und Menschenrechtsinteressen geben muss. Man kann durchaus deutlich sagen, was man über die Menschenrechtslage in einem Land denkt, ohne dass das bedeutet, dass am Ende des Tages keine wirtschaftlichen Beziehungen mehr möglich sind. ({1}) Das sage ich auch im Namen aller Mitglieder des Tibet-Gesprächskreises des Deutschen Bundestages, dessen Vorsitzender ich bin. Ich bin ausgesprochen froh, dass Frau Merkel sich mit dem Dalai Lama trifft und ein klares Zeichen setzt. Dass dieses Zeichen etwas gebracht hat, sieht man daran, dass zum Beispiel auch der österreichische Bundeskanzler Gusenbauer sich mit dem Dalai Lama getroffen hat, und auch daran, dass plötzlich andere ganz begierig auf ein solches Treffen sind. Einer, der in solchen Fragen sonst sicherlich nicht immer sofort zitiert wird, ist der hessische Ministerpräsident Roland Koch. Er pflegt schon lange intensive Beziehungen zu dem Dalai Lama und hat sich immer für die Sache Tibets eingesetzt. Morgen wird er in meinem Wahlkreis den Dalai Lama im Rahmen einer großen Versammlung empfangen. Roland Koch hat am Montag im Spiegel zu Recht gesagt, dass die Tatsache, dass man sich eines Problems eines Landes annimmt, nicht automatisch heißt, dass es keine wirtschaftlichen Verbindungen mit diesem Land geben kann. Ich glaube, dass es am Ende des Tages ganz wichtig ist, den richtigen Ton zu treffen. Das hat die Bundesregierung getan, und wir als Koalition unterstützen sie in diesem Vorgehen. ({2}) Man kann feststellen, dass die Menschenrechtslage in China Licht und Schatten hat. Sicher, es gibt gewisse Fortschritte. Zu nennen ist das Thema Presse- und Meinungsfreiheit im Vorfeld der Olympischen Spiele. Wir wollen natürlich, dass die Fortschritte, die erreicht worden sind, nicht nur für ausländische Journalisten, sondern auch für chinesische Journalisten gelten. Wir wollen, dass sie nicht nur bis zu den Olympischen Spielen gelten, sondern dass sie immer und allgegenwärtig gelten, damit so etwas wie freie Presse und Berichterstattung - ein ganz wichtiger Bestandteil von Demokratie wirklich auf Dauer gewährleistet sind. Das gilt ebenfalls für einen zweiten Bereich: das Internet. China ist zu einem der Länder mit den meisten Internetnutzern geworden. Schätzungen gehen von etwa 140 bis 150 Millionen Menschen aus. Das ist eine gewaltige Zahl. Die Tatsache, dass die chinesische Regierung relativ wenig unterlassen hat, um unliebsame ausländische Seiten zu blocken - also zu verhindern, dass sie aufgerufen werden können -, und die Tatsache, dass die chinesische Regierung es geschafft hat, dass einige westliche Suchmaschinen sich den Kriterien Chinas unterworfen haben, zeigen natürlich deutlich, dass auch die chinesische Seite erkannt hat, welch gewaltige Wirkung das Internet haben kann. Hier haben wir als Deutscher Bundestag auch auf internationaler Ebene die Pflicht, finde ich, Meinungsfreiheit zu verteidigen und einzufordern. ({3}) Das gilt nicht nur für die Meinungsfreiheit. Das gilt natürlich auch in besonderem Maße dafür, dass jemand seinen Glauben leben kann. Die Frage der Religionsfreiheit in China verfolgen wir schon sehr lange. Wir konnten durchaus bestimmte positive Entwicklungen feststellen. So gibt es sicherlich wesentlich mehr Bibeln als zur Zeit der maoistischen Regierung nach der damaligen Re12056 volution. Aber trotzdem ist die Lage für Gläubige immer noch sehr schwierig, zumindest für diejenigen, die sich nicht unter das Diktat des Staates stellen wollen und die in ihren Kirchen unabhängig vom chinesischen Staat weiterhin ihren eigenen Glauben leben wollen. Der Vatikan hat da offensichtlich etwas erreicht. Vor kurzem konnten Berufungen von Bischöfen in China tatsächlich im Einvernehmen zwischen Vatikan und chinesischer Regierung erfolgen. Nichtsdestoweniger muss es unser Ziel sein, jedem den Glauben zu ermöglichen, der ihm nun einmal am nächsten ist. Das gilt für die Christen. Das gilt für die Tibeter. Das gilt auch für die Uiguren. Das gilt für jeden in diesem Land. Auch die Religionsfreiheit ist also ein wichtiges Ziel, auf das wir hinarbeiten müssen. Auf die Todesstrafe ist der Kollege Beck schon eingegangen. Dazu möchte ich keine längeren Ausführungen machen. Die internationale Staatengemeinschaft spielt bei allen diesen Fragen eine wichtige Rolle. Um nicht nur ein schwarzes Bild zu malen, will ich auch darauf hinweisen, dass China uns an der einen oder anderen Stelle durchaus weitergeholfen hat. Denken wir zum Beispiel an das Atomwaffenprogramm Nordkoreas! Keine einzige Möglichkeit hätte es gegeben, Nordkorea zu einem Einlenken zu bewegen, wenn die Chinesen nicht den entsprechenden Druck ausgeübt hätten. Sosehr man sich darüber auseinandersetzen kann, was die Wirksamkeit der Sicherheitsratsresolution zu Darfur betrifft, so sehr muss aber auch klar sein: Ohne den Einfluss Chinas auf die Regierung in Khartoum wäre es nicht möglich gewesen, zu dieser Resolution zu kommen. Das sind ermutigende Zeichen, die wir durchaus zur Kenntnis nehmen sollten. ({4}) China mit seinen 1,4 Milliarden Einwohnern wird immer mehr zu einer Macht, mit der gerechnet werden muss. Das macht sich in vielen verschiedenen Bereichen bemerkbar. China hat auch einen größeren Einfluss auf internationale Einrichtungen, zum Beispiel auf den Menschenrechtsrat und auf andere Gremien innerhalb der UN. Auch deshalb ist es wichtig, dass wir den Dialog pflegen. Auch deshalb ist es wichtig, dass wir zwar deutlich sagen, was wir wollen, aber auch versuchen, China auf unsere Seite zu ziehen und klarzumachen, dass unsere Ziele ehrenhaft sind und dass wir uns an dieser Stelle wirklich für die Menschenrechte einsetzen. Ich denke, dass wir die Entwicklung weiterhin beobachten müssen. Ich habe es sehr bedauert, dass wir, aus welchen Gründen auch immer, nicht die Möglichkeit haben, im Oktober mit einer Delegation des Menschenrechtsausschusses nach China zu reisen. Gleichzeitig gab es eine Anfrage an den Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages, eine Delegation des Auswärtigen Ausschusses des chinesischen Volkskongresses zu empfangen. Ich persönlich habe die Meinung vertreten, dass wir die chinesischen Kolleginnen und Kollegen empfangen sollten. Aber ich habe den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses auch gebeten, deutlich zu machen, dass es der Wunsch des gesamten Deutschen Bundestages ist, dass der Menschenrechtsausschuss des Deutschen Bundestages in jedes Land reisen kann, also im nächsten Jahr auch nach China. ({5}) Denn was bewirkt es eigentlich, wenn keine Einladung ausgesprochen wird? Es bewirkt im Wesentlichen eines: nämlich dass bei demjenigen, der nicht kommen darf, der Verdacht entsteht, es gebe Dinge, die nicht gezeigt werden dürften. Was könnte unsere Zweifel und unsere Schwierigkeiten mit China besser entkräften als die Tatsache, dass wir einreisen dürfen? Dann könnten wir uns mit eigenen Augen ein Bild machen und uns über das, was wir in China sehen, Gedanken machen. Danach könnten wir mit einem anderen Bild oder auch dem gleichen, aber auf jeden Fall mit klaren Empfehlungen, wie wir in dieser Angelegenheit weiterhin verfahren, zurückkommen. Man muss versuchen, ohne Zorn sowie mit der gebotenen Sachlichkeit und Deutlichkeit an das Ganze heranzugehen. Dass das funktioniert, haben viele Beispiele in der letzten Zeit gezeigt. Ich denke, wir werden, wenn wir an unserem Kurs festhalten - wenn wir ein deutliches Wort reden, was die Frage betrifft, ob wir miteinander reden können und wie wir miteinander verhandeln können, aber auf der anderen Seite kooperativ sind -, sicherlich Erfolg haben. Herzlichen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Burkhardt Müller-Sönksen das Wort.

Burkhardt Müller-Sönksen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003818, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Haibach, Sie haben ein schönes chinesisches Sprichwort bemüht: „Auch der längste Weg beginnt mit dem ersten Schritt.“ Aber da wir heute im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen über China sprechen, lassen Sie mich sagen, dass wir für die Chinesen besser den Dreisprung ansetzen. Die Menschenrechtssituation in China erfordert nicht nur einen kleinen Trippelschritt, sondern einen Ruck. Wenn es schon um die Olympischen Spiele geht, sollte der olympische Ehrgeiz beim Dreisprung der Maßstab für die Menschenrechtsdebatte sein. ({0}) Als China 2001 den Zuschlag für die Olympischen Spiele 2008 erhielt, versprach die Führung der Kommunistischen Partei eine spürbare Verbesserung der Menschenrechtssituation. Es war die Hoffnung auf eine politische Öffnung, die viele Länder damals bewog, die Olympischen Spiele nach Peking zu vergeben. Knapp ein Jahr vor Beginn der Olympischen Spiele am 8. August 2008 müssen wir ernüchtert zur Kenntnis nehBurkhardt Müller-Sönksen men, dass viele der Versprechungen bisher nicht erfüllt worden sind. Unliebsame Kritiker, Menschenrechtsverteidiger und Gläubige, die sich außerhalb der staatlich sanktionierten religiösen Gemeinden bewegen, werden mehr denn je bedroht und inhaftiert. Nationale Minderheiten wie Tibeter und Uiguren werden weiterhin diskriminiert und sind willkürlichen Verhaftungen ausgesetzt. Nach wie vor werden in der Volksrepublik weltweit die meisten Todesurteile vollstreckt. Einen dieser eklatanten Missstände, den Betrieb menschenverachtender Arbeitslager zur Umerziehung, die sogenannten Laogai-Lager, hat der Deutsche Bundestag auf Initiative meiner Fraktion im Mai einhellig verurteilt. Dennoch gibt es - das will ich nicht verschweigen hier und da einen kleinen Hoffnungsschimmer. Diese reichen zwar nicht aus, gehen aber immerhin in die richtige Richtung. Ein positives Beispiel ist die Anfang 2007 eingeführte Überprüfung von Todesurteilen durch den Obersten Gerichtshof. Es ist zu hoffen, dass dadurch die Zahl der vollstreckten Todesurteile gesenkt werden kann. Dennoch können auch heute noch 68 Straftatbestände, unter anderem Steuerhinterziehung, mit der Todesstrafe belegt werden, was kein gutes Bild hinterlässt. Ein weiteres positives Beispiel sind die seit Januar 2007 gelockerten Bestimmungen für die Arbeit ausländischer Journalisten. Die Kollegen sind darauf eingegangen. Für uns ist natürlich unerträglich, dass es eine Pressefreiheit erster und zweiter Klasse gibt, damit im Falle der ausländischen Journalisten im Ausland ein guter Schein gewahrt werden kann. Sie dürfen ohne vorherige Anfrage und Genehmigung Interviews führen. Für die inländischen Journalisten gilt dies nicht; Herr Kollege Haibach und Herr Kollege Beck wiesen darauf hin. In diesem Bereich gibt es in China Licht und Schatten. Die chinesische Regierung betrachtet die Austragung der Olympischen Spiele als nationales Prestigeobjekt ersten Ranges, denn Olympia ist aus chinesischer Sicht kein bloßes Sportereignis; vielmehr soll es der Welt zeigen, dass China eine Großmacht geworden ist. Die Olympischen Spiele werden deshalb ein sportliches wie auch ein politisches Großereignis werden. Das Dilemma, in das sich die chinesische Führung durch ihren Ehrgeiz selbst hineinmanövriert hat, ist heute unsere Chance. Einerseits will das Land agieren und gerade auch in Europa und den USA anerkannt und respektiert werden. Andererseits ist das Land aber kaum bereit, nach innen oder außen eine dementsprechend verantwortungsvolle Politik zu machen. Wer auf der einen Seite zu Hause Inhaftierungslager betreibt, zensiert und willkürlich verhaftet sowie auf internationaler Ebene um des lieben Öls willen einen Genozid im Sudan billigend in Kauf nimmt, der kann auf der anderen Seite nicht unsere uneingeschränkte Zuneigung erwarten. Dieses Dilemma ist der chinesischen Führung offensichtlich mehr und mehr bewusst, und es ist zu hoffen, dass die Olympischen Spiele diesen Bewusstseinswandel noch weiter beschleunigen und im Ergebnis zu Verbesserungen führen, die von Dauer sind. Ich halte es für wichtig, dass diejenigen Politiker, Journalisten, Sportfans und Touristen, die zu den Olympischen Spielen nach Peking fahren, sich dort nicht nur für den Sport interessieren. Vielmehr sollten sie diese Gelegenheit nutzen, um sich mit Menschenrechtsaktivisten zu treffen und Gespräche mit ihnen zu führen sowie nach ihnen zu fragen, um ihnen dadurch Rückendeckung zu geben. Insofern können alle Beteiligten die Chance nutzen, dass die Olympischen Spiele in Beijing 2008 auch Spiele für die Menschenrechte der Welt werden. Es ist bereits richtigerweise gesagt worden, dass die Bundeskanzlerin am nächsten Wochenende als erste deutsche Regierungschefin den Dalai Lama treffen wird. Ich halte das für ein sehr gutes Zeichen. Sie greift damit - lassen Sie mich das abschließend sagen - eine sehr gute liberale Tradition der Unterstützung für das tibetische Volk auf, die in Deutschland jahrzehntelang maßgeblich Otto Graf Lambsdorff geprägt hat, und das ist auch gut so. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Christoph Strässer für die SPD-Fraktion.

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die vor wenigen Jahren getroffene Entscheidung zur Vergabe der Olympischen Sommerspiele nach Peking ist - ich formuliere es einmal zurückhaltend - in der Welt nicht auf ungeteilte Zustimmung gestoßen. ({0}) Der Vizepräsident Liu Jingmin, seinerzeit Vizepräsident des Bewerbungskomitees der Chinesen, verbrämte dies allerdings etwas mit der Feststellung, die Vergabe der Olympischen Spiele helfe auch der Entwicklung der Menschenrechte. Wir müssen den Wert dieser Worte heute an dem messen, was tatsächlich geschehen ist, an dem, was wir heute sehen und womit wir es heute zu tun haben. Deshalb wähle ich auch eine etwas andere Sichtweise auf diese Ereignisse: Das, was wir sehen und was passieren wird, ist zwar ganz wesentlich, aber nicht nur eine Sache der Politik, eine Sache der öffentlichen Gemeinschaft, sondern es ist auch eine Sache derjenigen, die diese Olympischen Spiele in Peking veranstalten, die letztendlich die Verantwortung dafür haben, was dort vor Ort bei diesem „Fest der Jugend der Welt“ passiert. Ich zitiere aus der Charta des IOC; sie besagt, sinngemäß übersetzt: Die olympische Idee ist neben der Freude und der sportlichen Leistung auch auf universelle, auf fundamentale Prinzipien zurückzuführen, auf die Wahrung der Würde des Menschen, auf die Ablehnung jeglicher Form von Diskriminierung und das Ziel einer friedlichen und besseren Welt. - Man sollte auch die Damen und Herren des IOC - ich werde darauf noch zurückkommen - an diese Werte der Olympischen Spiele erinnern. Dann könnten wir im nächsten Jahr vielleicht auch beruhigter nach Peking fahren. ({1}) Hierauf basiert im Übrigen - auch das sollte man zitieren, und auch darauf sollte man sich beziehen - ein Positionspapier des Deutschen Olympischen Sportbundes, ebenfalls aus dem Jahr 2001, mit der Überschrift Die Olympischen Spiele in Peking und die Menschenrechte in China. Darin werden als wesentliche Ziele, die man damit verbindet, explizit die Abschaffung der Todesstrafe, die Ächtung der Folter, die Bewegungsfreiheit aller Journalisten, eine Amnestie für politische Gefangene sowie eine Entschädigung bei Enteignung genannt. Wir werden demnächst eine gemeinsame Anhörung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe und des Sportausschusses zu diesem Thema durchführen und werden dies bei dieser Gelegenheit den offiziellen Vertreterinnen und Vertretern des deutschen Sports vorhalten. Wir würden gerne wissen, ob sie in ihrem Umfeld darauf hinwirken, dass diese Ziele verwirklicht werden. Wir haben bereits an vielen Stellen über Menschenrechtsverletzungen gesprochen. Ich will das nicht alles wiederholen, sondern möchte nur einen meiner Meinung nach besonders zynischen Aspekt der Diskussion über die Todesstrafe hinzufügen. Wie völlig zu Recht gesagt wurde, sind in dieser Hinsicht Fortschritte zu erkennen. Es gibt dort einen rechtsstaatlichen Weg der Bestätigung der Todesurteile durch das oberste Gericht, aber es gibt auch etwas, was ich in der letzten Woche in einem Bericht von Reportern von Amnesty International gelesen habe, dass nämlich Menschen, die zum Tode verurteilt worden sind, vor ihrer Hinrichtung zur sogenannten Vorbereitung auf ihre Hinrichtung unter anderem auch in Stadien deportiert werden. Meine Damen und Herren, wenn man über Menschenrechte spricht, dann ist das - ich glaube, da gibt es überhaupt keinen Dissens - der Gipfel des Zynismus. Das gab es in vielen Situationen, zum Beispiel in Chile und anderswo. Wenn in solchen Stadien Spiele der Weltjugend stattfinden, dann darf man dazu meiner Meinung nach nicht schweigen, sondern sollte sagen, dass das nun überhaupt nicht geht. ({2}) Die Probleme der Pressefreiheit sind bereits angesprochen worden. Ich erinnere an ein Gespräch mit dem chinesischen Botschafter vor etwa sechs Monaten, bei dem einige der Kolleginnen und Kollegen auch anwesend waren. Ich will es jetzt gar nicht vertiefen, aber ich fand eine Bemerkung des Botschafters sehr interessant, die sinngemäß wie folgt lautete: Natürlich ist gewährleistet, dass die internationalen Journalisten während der Olympischen Spiele Zugang zu allen Informationen haben können, die sie brauchen. Ich meine, wir sollten. diese Einschränkung „während der Olympischen Spiele“ sehr genau zur Kenntnis nehmen und darauf drängen, dass auch nach Beendigung der Olympischen Spiele an dieser Stelle natürlich nicht Schluss sein darf. Wir sollten auch unsere eigenen Journalisten daran erinnern, dass es selbst dann, wenn, wie es im Moment jedenfalls der Fall ist, die Pressemitteilungen der internationalen Journalisten noch zensiert werden, durchaus richtig und wichtig ist, auch im Rahmen der Olympischen Spiele über Tabuthemen wie Falun Gong oder die furchtbare, menschenunwürdige Situation in Tibet zu schreiben. Unsere Bürgerinnen und Bürger haben ein Anrecht darauf zu erfahren, was dort tatsächlich los ist. Ich möchte noch kurz zwei Bereiche streifen, die aus meiner Sicht unmittelbar im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen eine ganz erhebliche menschenrechtliche, aber auch bürgerrechtliche Relevanz haben. Das ist zum einen der Umstand, dass in vielen chinesischen Städten - ich nenne es einfach einmal so, weil es so ist - Säuberungsaktionen durchgeführt werden. Dabei geht es nicht darum, Graffiti zu entfernen oder Unrat zu beseitigen, sondern dabei geht es darum - man beachte den Begriff Säuberung -, Bettler, Straßenhändler und Wanderarbeiter aus den Innenstädten zu vertreiben und unter menschenunwürdigen Umständen in Lager einzusperren, um die Städte so herzurichten, dass man glaubt, man könne sie den ausländischen Besucherinnen und Besuchern vorführen. Auch an dieser Stelle ist die Politik gefordert. Das brauchen wir nicht. Wir brauchen keine sterilen Olympischen Spiele auf Kosten der Menschen, auf Kosten der Ärmsten in China, die irgendwohin vertrieben werden, wo ihr Leben und ihre Menschenwürde nicht mehr gewährleistet sind. Meiner Meinung nach gehört auch dies zur öffentlichen Diskussion. ({3}) Ich komme zu einem letzten Punkt, der ebenfalls noch keine Erwähnung gefunden hat. Es gibt auch - unter anderem bei dpa veröffentlicht - einen Bericht des Kongresses der International Trade Union Congress Confederation, also der internationalen Gewerkschaftsbewegung, bezüglich der Produktionsstätten für Fanartikel in China. Was dort berichtet wird, erinnert zumindest mich an das, was man hier vielleicht noch so nennen darf, nämlich an die Vorzeit des Manchesterkapitalismus: Kinderarbeit, kein Arbeitsschutz, unerträglich lange Arbeitszeiten, und das alles zur Produktion von Fanartikeln, die wir in den nächsten Jahren tragen sollen. Ich glaube, auch diesbezüglich müssen klare Signale gesetzt werden. Wenn wir erfahren, woher solche Produkte kommen, ist es aus meiner Sicht angemessen, diese Produkte zu boykottieren. Solche Produkte, die unter solchen Umständen produziert werden, brauchen wir in Deutschland und auf der ganzen Welt überhaupt nicht. ({4}) Ich möchte noch einmal auf das Thema des Verhältnisses zwischen Sport und Politik zurückkommen, weil ich meine, dass wir auch diesbezüglich Klarheit schaffen sollten. Wir wissen aus unserer eigenen Geschichte, aus unserer eigenen Vergangenheit, dass Sport oft missbraucht wird, um eine Gesellschaft bzw. gesellschaftliche Zustände vorzustellen, die das verdecken, was hinter den Kulissen stattfindet und was die Sportlerinnen und Sportler und die Touristinnen und Touristen nicht sehen. Ich glaube, dass an dieser Stelle auch eine politische Verantwortung der Sportverbände zu sehen ist. Wenn der Chef der IOC-Koordinierungskommission, Hein Verbruggen, mit Hinweis auf die - ich zitiere - „traditionell entpolitisierte Rolle des Sports“ verlautbart, man wolle sich nicht in politische Fragen verwickeln lassen, dann widerspricht dies nach meiner Auffassung eklatant dem olympischen Geist, der durch Völkerverständigung, Frieden und Gerechtigkeit gekennzeichnet ist; auch dies sollten wir in dieser Diskussion deutlich sagen. ({5}) Ich will nicht, dass ein Missverständnis entsteht. Man gerät ja sehr schnell in den Verdacht, dass man den Menschen, insbesondere den Sportlerinnen und Sportlern, dieses Ereignis nicht gönnt. Wir sollten klarmachen: Wir wollen niemandem die Freude an einem glanzvollen Fest nehmen, schon gar nicht den Sportlerinnen und Sportlern aus aller Welt, die sich teilweise seit Jahren unter vielleicht höchsten Entbehrungen auf dieses sportliche Lebensziel vorbereiten. Das ist nicht unser Ziel. Wir wollen, dass die Olympischen Spiele so stattfinden, dass alle etwas davon haben. Das bedeutet aber auch - das wäre sicherlich ein gutes Ergebnis dieser Olympischen Spiele und würde dem olympischen Geist entsprechen -: Der Glanz dieser weltumspannenden Ereignisse sollte nicht nur die Teilnehmerinnen und Teilnehmer treffen, und wir sollten nicht nur, wie ich hoffe, mit dem Medaillenspiegel zufrieden sein. Der Glanz der Olympischen Spiele sollte vielmehr auch denjenigen helfen, die in China selbst unter menschenunwürdigen Bedingungen leben. Das ist für mich die Verbindung von Menschenrechten und Politik. Wenn das gelingt und wir dazu einen Beitrag leisten können, dann ist dieses Ereignis aus meiner Sicht gelungen, und dann können wir alle uns weltweit darüber freuen. Herzlichen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Als letzter Redner in dieser Debatte hat nun der Kollege Michael Leutert für die Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Michael Leutert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003800, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Kern sind wir uns einig: Menschenrechte sind unteilbar und haben ohne Wenn und Aber überall, in jedem Land, zu gelten. ({0}) Ich glaube, wir sind uns genauso darüber einig, dass soziale und politische Rechte nicht gegeneinandergestellt werden dürfen und hier nicht differenziert werden darf. Wenn es so ist, dass Menschenrechte unteilbar sind - ich bin sehr gespannt auf die Beantwortung der Großen Anfrage durch die Bundesregierung -, dann darf es natürlich nicht sein, dass unterschiedliche ökonomische Interessen zu unterschiedlichen Strategien bezüglich des Schutzes der Menschenrechte in Bezug auf verschiedene Länder führen. Unsere Strategien, unsere Methoden zum Schutz der Menschenrechte müssen gegenüber China oder den USA natürlich genauso gelten wie gegenüber Kuba oder Saudi-Arabien. Ich glaube, auch in diesem Punkt sind wir uns einig. ({1}) Herr Kollege Beck, Sie haben mich vorhin angesprochen. Ich verwahre mich dagegen: Ich habe nicht gesagt, dass wir in Bezug auf China eine Politik auf leisen Sohlen machen sollten. Ich habe vielmehr gesagt, dass ich es für sinnvoll halte, wenn wir erst in ein Land fahren - der Menschenrechtsausschuss war zumindest in dieser Legislaturperiode noch nicht in China - und uns erst ein Bild vor Ort machen und danach zu einer Meinung und im Notfall auch zu einer Verurteilung kommen. ({2}) - Nach Guantánamo kommt man ja leider nicht; darauf komme ich gleich noch zu sprechen. ({3}) Zu den Arbeitsbedingungen. Das Straflagersystem, das Laogai-Lagersystem, wurde angesprochen. Wir alle lehnen dieses Lagersystem ab. Herr Strässer, Sie haben es gerade gesagt: Es geht nicht nur um die Arbeitsbedingungen in diesem Straflagersystem. Letztendlich muss es uns generell um die Arbeitsbedingungen in China gehen. In diesem Zusammenhang möchte ich einen Blick auf die Lebensumstände der Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter werfen. Auch sie leben zum Teil in lagerähnlichen Einrichtungen. Die Arbeitsbedingungen dort sind letztendlich nicht besser als die in dem LaogaiLagersystem. Es hilft eben nicht, an die deutsche Wirtschaft einfach nur Appelle zu richten, indem wir sagen: Wir boykottieren die dort hergestellten Produkte. Wir können auch von Deutschland aus einen ganz konkreten Beitrag dazu leisten, dass sich die Menschenrechtssituation in China verbessert, indem man Firmen, die ihren Sitz in Deutschland haben, mit Sanktionen belegt, wenn sie in bestimmte Lieferketten eingebunden sind und damit solche Zustände dulden, oder wenn sie sogar wissen, unter welchen Bedingungen ihre Produkte hergestellt werden. Wir werden in nächster Zeit einen Antrag in das Parlament einbringen, der genau diese Frage thematisiert, und die Schaffung einer Kontrollstelle in Deutschland fordern, die ein solches Vorgehen kontrolliert und notfalls Sanktionen aussprechen kann. Zum Schluss möchte ich darauf hinweisen, dass ich es für verfehlt halte - ich habe das schon im Zusammenhang mit dem Antrag zum Laogai-Lager gesagt -, wenn der US-Kongress als Kronzeuge in Sachen Menschenrechte herangezogen wird. Das entwertet die Drucksachen, egal von welcher Fraktion die Anträge stammen. Es tut mir leid, aber die Vereinigten Staaten von Amerika - einige Stichwörter: Guantánamo, Abu Ghureib, Todesstrafe und Folterdebatte - sind meines Erachtens beim besten Willen kein glaubwürdiger Zeuge in Sachen Menschenrechte. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Daniel Bahr ({1}), Paul K. Friedhoff, Heinz Lanfermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Umlageverfahren U1 zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall auf freiwillige Basis stellen - Drucksachen 16/2674, 16/5282 - Berichterstattung: Abgeordneter Max Straubinger Wir nehmen den Beitrag des Kollegen Max Straubinger für die Unionsfraktion, der Kollegin Jella Teuchner für die SPD-Fraktion, des Kollegen Heinz Lanfermann für die FDP-Fraktion, des Kollegen Frank Spieth für die Fraktion Die Linke und der Kollegin Birgitt Bender für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu Protokoll.1) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Gesundheit zum Antrag der FDP mit dem Titel Umlageverfahren U1 zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall auf freiwillige Basis stellen. Der Aus- schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5282, den Antrag der FDP auf Drucksache 16/2674 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Gibt es Enthal- tungen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist diese Be- schlussempfehlung gegen die Stimmen der Antragsteller angenommen. 1) Anlage 2 Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, Ulla Lötzer, Dr. Diether Dehm, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE Für solidarische Assoziierungsabkommen der EU mit den zentralamerikanischen Staaten und den Staaten der Andengemeinschaft - Drucksachen 16/5045, 16/5983 - Berichterstattung: Abgeordnete Anette Hübinger Dr. Sascha Raabe Hellmut Königshaus Heike Hänsel Thilo Hoppe Auch hierzu nehmen wir die Redebeiträge der Kolle- ginnen und Kollegen zu Protokoll. Das betrifft die Kol- legin Anette Hübinger für die Unionsfraktion, den Kol- legen Dr. Sascha Raabe für die SPD-Fraktion, den Kollegen Dr. Karl Addicks für die FDP-Fraktion, die Kollegin Heike Hänsel für die Fraktion Die Linke und den Kollegen Thilo Hoppe für die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen.2) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel Für solidarische Assoziierungsabkommen der EU mit den zentralamerikanischen Staaten und den Staaten der Andengemeinschaft. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5983, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5045 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ekin Deligöz, Grietje Bettin, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kinderrechte in der Verfassung stärken Drucksache 16/5005 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3}) Rechtsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Beratung eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Frak- tion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. Gibt es dazu Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist dies so beschlossen. 2) Anlage 3 Vizepräsidentin Petra Pau Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Britta Haßelmann für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kinder haben Rechte. Kinderrechte sind Menschenrechte. Diese Slogans, diese Aussagen sind bekannt. Sie wurden gestern, am Weltkindertag, wieder einmal stark bemüht. Über 50 Jahre ist es her, dass die Vereinten Nationen den Kindertag ins Leben gerufen haben. Der Anlass ist heute so aktuell wie damals, international und natürlich auch national bei uns in Deutschland. ({0}) Denn auch hier gibt es für die Kinderrechte noch eine Menge zu tun. Leider konnten, Sie, meine Damen und Herren von der Großen Koalition, sich immer noch nicht zu der längst überfälligen Stärkung der Kinderrechte in der Verfassung durchringen. Es ist aus grüner Sicht an der Zeit, ein klares Signal zu setzen. Die Rechtsstellung von Kindern sollte grundgesetzlich verankert werden. Natürlich genießen Kinder alle in der Verfassung formulierten Menschenrechte. In Art. 6 des Grundgesetzes werden sie sogar explizit erwähnt: Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. Das wird Kindern bei weitem nicht gerecht. Wir müssen Kinder als eigenständige Akteure mit individuellen Interessen in den Blick nehmen. Wir sind mit unserer Forderung nicht allein. Auch das Deutsche Kinderhilfswerk, UNICEF und Altbundespräsident Roman Herzog fordern seit Jahren, Kinderrechte in der Verfassung zu verankern. Dies fordern auch wir Grünen. ({1}) Kinder sind Wesen mit eigener Menschenwürde und einem Recht auf Entfaltung der Persönlichkeit. Häufig wird aber vergessen, dass Kinder ihre Persönlichkeit zunächst entwickeln müssen, bevor sie diese entfalten können. Deshalb brauchen Kinder eine individuelle Förderung, eine gute Bildung und eine gesunde Umwelt. Rechtliche Dimensionen, die dieser Tatsache gerecht werden, sind derzeit nicht in der Verfassung verankert. Die Rechte von Kindern verwirklichen sich in vielerlei Hinsicht in der Familie, gehen aber weit über das familiäre Leben hinaus. Wenn wir die Kinder- und Familienfreundlichkeit in allen Lebensbereichen verbessern wollen, müssen wir den Kinderrechten einen entsprechenden Stellenwert einräumen und dürfen nicht nur darüber reden. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, das sage ich ganz entschieden in Ihre Richtung. Denn seit Monaten versuchen wir, in der Kinderkommission gemeinsam darüber zu diskutieren, Kinderrechte in der Verfassung zu verankern. Nette Worte - auch wenn sie von der Kanzlerin kommen; denn auch sie äußert sich mittlerweile zu den Kinderrechten in der Verfassung - reichen nicht aus.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Haßelmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der SPD-Fraktion?

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte.

Jürgen Kucharczyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003794, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Haßelmann, ist Ihnen bekannt, dass in der Kinderkommission fraktionsübergreifend ein Fahrplan abgesprochen ist, der genau das Thema „Kinderrechte in der Verfassung“ betrifft? Wir wollen das Thema inhaltlich sehr intensiv behandeln und haben uns verabredet, gemeinsam einen Weg zu finden und zu beschreiten.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Mir ist sehr wohl bekannt, lieber Kollege - das muss auch Ihnen bekannt sein -, dass wir in der Kinderkommission seit Monaten darüber diskutieren, wenn nicht sogar seit Jahren. Denn schon in der letzten Legislaturperiode haben wir uns mit dem Thema „Kinderrechte in der Verfassung“ beschäftigt. Sie wissen, dass wir für eine Verfassungsänderung mehr als die Mehrheit von Rot-Grün brauchten. Deshalb ist es in der letzten Legislaturperiode nicht gelungen, die Kinderrechte in der Verfassung zu verankern. Mir ist auch bekannt, Herr Kollege, dass wir uns in der Kinderkommission nicht verständigt haben. Wir haben lange und sehr viel diskutiert. Es gibt viele Kolleginnen und Kollegen, sowohl in der SPD-Fraktion als auch in der CDU/CSU-Fraktion und in der FDP-Fraktion, die dies wollen. Aber keine Fraktion ist wie unsere Fraktion insgesamt zu einer Initiative bereit. Deshalb haben wir sie ja ergriffen. Denn es ist bislang nicht zu einem interfraktionellen Antrag gekommen. Wir glauben, dass der Zeitpunkt gekommen ist, nicht immer nur über Kinderrechte zu reden, sondern auch die Kraft zu finden, sie parlamentarisch mit breiter Mehrheit in der Verfassung zu verankern. Deshalb haben wir uns zu einem Fraktionsantrag entschlossen; denn für einen interfraktionellen Antrag sahen wir keine Perspektive. Das werden mir sicherlich die Rednerinnen und Redner der anderen Fraktionen bestätigen, in denen es keine Mehrheiten dafür gibt, sondern individuell der Wunsch einiger Kolleginnen und Kollegen besteht, das in die Verfassung aufzunehmen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Haßelmann, gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Kollegen Kucharczyk?

Jürgen Kucharczyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003794, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ist Ihnen bekannt - davon gehe ich aus -, dass es hierzu einen einstimmigen Beschluss gibt?

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es gibt einen einstimmigen Beschluss der Kinderkommission. Aber ich frage Sie: Was soll UNICEF bzw. das Kinderhilfswerk und was sollen die Kinder in diesem Land mit dem einstimmigen Beschluss der Kinderkommission anfangen? ({0}) Mit Verlaub: Ich schätze diese Kommission und die Kolleginnen und Kollegen, die in dieser Kommission sitzen, sehr. Aber dadurch, dass eine Kommission des Deutschen Bundestages eine Absichtserklärung abgegeben hat, sind die Kinderrechte noch nicht in der Verfassung verankert. Dem Parlament liegt kein Antrag vor, der darauf zielt, die Kinderrechte in der Verfassung zu verankern. Denn hierzu hat die Große Koalition keine gemeinsame Auffassung; das ist ein Fakt. ({1}) - Sie können gerne noch mehr Fragen stellen. Aber das, was ich gesagt habe, ist eine Tatsache. Es reicht nicht aus, dass sich die Kinderkommission des Bundestages dieses Themas annimmt, eine Anhörung dazu durchführt, dann aber nichts passiert. Es reicht nicht aus, dass nur einige der Abgeordneten bereit sind, die Kinderrechte endlich in der Verfassung zu verankern; dass dem so ist, weiß ich, weil ich darüber viel mit den Kolleginnen und Kollegen aus den unterschiedlichen Fraktionen diskutiert habe. Um das zu realisieren, brauchen wir in diesem Hause eine Zweidrittelmehrheit. Dafür werben wir. ({2}) Wir brauchen keine weiteren Ankündigungen und keine weiteren Debatten. Stellen Sie sich dem Dissens in Ihrer Koalition und beseitigen Sie ihn! Legen Sie den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vor, damit die Kinderrechte in der Verfassung verankert werden und wir die Rechte der Kinder auf diesem Wege endlich stärken. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Nun hat die Kollegin Michaela Noll für die Unionsfraktion das Wort. ({0})

Michaela Tadjadod (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003645, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich mit meinem Redebeitrag beginne, möchte ich einen lieben Gruß an unsere Kollegin Golze senden, die ihre Rede zu Protokoll gegeben hat, weil ihr Kind einen Unfall hatte. Auch wir sind Mütter bzw. Väter und haben Familie. Ich wünsche ihr und insbesondere ihrem Kind - es ist noch sehr klein - alles Gute; ein Schlüsselbeinbruch ist sehr unangenehm. ({0}) Am Anfang meines Debattenbeitrages stelle ich die Frage: Ist heute ein guter Tag für die Kinder in Deutschland? Ich sage Ihnen klipp und klar: Heute ist ein guter Tag. Die Kinderrechte brauchen mehr Öffentlichkeit, und zwar nicht nur dann, wenn in der Presse über traurige und schreckliche Kinderschicksale berichtet wird. Die heutige Debatte ist das richtige Signal zum richtigen Zeitpunkt. ({1}) Im Gegensatz zum dem, was Sie, Frau Haßelmann, eben in den Raum gestellt haben - ich muss ganz ehrlich sagen, dass mich das etwas sauer gemacht hat -, ist es das erklärte Ziel der Koalition, die Kinderrechte in die Öffentlichkeit zu transportieren. Da Sie hier sehr skeptisch sind, bitte ich Sie, unseren Antrag mit dem Titel Gesundes Aufwachsen ermöglichen - Kinder besser schützen - Risikofamilien helfen auf Drucksache 16/4604 zu lesen; das ist relativ einfach zu machen. Es ist nicht das erste Mal, dass wir im Bundestag darüber sprechen, die Kinderrechte in der Verfassung zu verankern. Bereits in der 14. Legislaturperiode wurde ein entsprechender Antrag gestellt. Auch in der Kinderkommission haben wir über dieses Vorhaben diskutiert; in der letzten Wahlperiode ging es dort allerdings um Fragen des Antragsrechts und des Wahlrechts. Es wäre nett, wenn Sie etwas genauer in den Protokollen nachlesen würden. ({2}) Abgesehen davon war auch Bundesjustizministerin Zypries in der Kinderkommission zu Gast. Wir haben eingehend mit ihr diskutiert. Sie hat die Gründe für ihre Skepsis gegenüber einer Grundgesetzänderung erläutert. Die Befürworter einer Grundgesetzänderung glauben, dadurch könnten wir in unserem Land ein Klima von mehr Kinderfreundlichkeit erzeugen. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich finde, dieser Klimawandel hat bereits stattgefunden. Ich werde versuchen, Ihnen das zu erklären. Wir haben bereits sehr große Fortschritte für die Kinder in Deutschland erzielt. Wir können zu Recht behaupten, dass wir auf einem guten Weg sind, eine kinderfreundlichere Gesellschaft zu werden. Das ist allein das Verdienst unserer Ministerin. Ich nenne Ihnen ein paar Beispiele. Stichwort Schulverweigerer. Wenn die Leute das Wort Schulverweigerer hören, sagen sie immer: Das ist die Null-Bock-Generation. Das stimmt so aber nicht. Wenn Sie die Jugendlichen fragen, in welchen Lebensverhältnissen sie groß geworden sind - oft heißt es, die Kinder hätten keine Lust auf Leistung; um dieses Thema geht es aber nicht -, stellen Sie fest: Oft haben die Kinder nicht die nötige Kraft, um Leistung zu erbringen. Ich glaube, viele von uns haben ein falsches Bild vor Augen. Das Programm „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ ist für viele Jugendliche die erste Chance. Sehen wir uns einmal die Situation der Jungen an. Es heißt immer, Jungen sind unsere Sorgenkinder, Jungen haben schlechte Noten, und Jungen entwickeln sich nicht so, wie sie sich entwickeln sollten. In diesem Jahr ist es allerdings zum ersten Mal der Fall, dass im Bundeshaushalt Mittel nur zur Förderung von Jungen zur Verfügung gestellt werden; auch das ist ein Zeichen. ({3}) - Das kommt gleich. Sprechen wir über eines der traurigsten Kapitel in Deutschland: Ich meine, alle kennen noch die Namen Jessica und Kevin. In jeder Stadt gibt es Fälle von Vernachlässigung. Deswegen haben wir mit den frühen Hilfen eine Prävention ab Nabelschnur aufgebaut. Jetzt komme ich zu einem der großen Schritte: Stichwort „Ausbau der Krippenplätze“. Ich glaube, noch vor einem halben Jahr hätte keiner hier im Haus gedacht, dass uns das gelingt. Aber diese Regierung hat es geschafft. Sie hat alle an einen Tisch bekommen, und wir haben uns geeinigt. Das ist dem Engagement und der Hartnäckigkeit unserer Ministerin zu verdanken. ({4}) - Ja, und natürlich unser Staatssekretär. Das können Sie gerne weitergeben. Unsere Ministerin hat nicht nur das Thema Kinder aus dem Schattendasein herausgeholt, sondern auch die ganze Familienpolitik. Die Familienpolitik ist in den Mittelpunkt der Politik gerückt, Priorität number one. ({5}) Für diesen Elan ist sie von der Deutschen Public Relations Gesellschaft als Kommunikatorin des Jahres 2007 ausgezeichnet worden. In der Laudatio hieß es unter anderem: Ursula von der Leyen hat es mit vorbildlichem Einsatz der Kommunikation geschafft, den Umdenkungsprozess zu den familienpolitischen Themen in unserer Gesellschaft in Gang zu setzen. Genau so ist es. Endlich haben Kinder und Familie in Deutschland einen höheren Stellenwert bekommen. Jetzt ist die Frage, ob es diesen Stellenwert weiter erhöht, wenn wir die Kinderrechte ins Grundgesetz aufnehmen. Meine liebe Frau Haßelmann, es tut mir leid, dass ich jetzt sagen muss: Die Grünen waren sieben Jahre in der Regierung. Wenn Sie davon so überzeugt sind, warum haben Sie nicht ein bisschen mehr getrommelt? Was Sie eben gesagt haben, ist sachlich falsch. Es ging um Antragsrecht und es ging um Wahlrecht. Als Mitglied der Kinderkommission weiß ich, was wir dort tun. ({6}) - Zur Verfassung komme ich gleich. Ein effektiver Schutz der Kinder verlangt nicht unbedingt eine Grundgesetzänderung, es gilt vielmehr entschlossen dafür einzutreten, dass der bestehende grundgesetzliche Schutz eingehalten wird, sagen die einen. Eine sachgerechte Verfassungsänderung könnte dennoch dem Wohl der Kinder dienen, sagen die anderen. Skeptische Stimmen - das wissen Sie - gibt es in allen Fraktionen. Auf der Länderebene hat sich einiges getan. Seit Juni gibt es einen Beschluss der Jugend- und Familienministerkonferenz, in dem deutlich steht: Die JFMK begrüßt die Diskussionen, die im Bund und in einzelnen Ländern über die Frage der Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz bzw. in die jeweiligen Landesverfassungen geführt werden. Die JFMK wird die Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz zu einem Schwerpunktthema der nächsten JFMK im Jahr 2008 machen. ({7}) Ich bin gespannt, wie diese Diskussion weitergeht. Elf Bundesländer haben die Kinderrechte bereits in ihre Verfassung aufgenommen. Einen kleinen Schwenk zur FDP. Im Saarland ist das auch debattiert worden. Dort kamen Bedenken von der FDP. Ihr Kollege Baldauf sagte: Etwas in der Verfassung zu ändern, ohne dass es in der Praxis auch nur im Geringsten etwas an der bestehenden Rechtslage ändert, ist nichts Weiteres als der Versuch, ein Loch zu stopfen, das an dieser Stelle nicht vorhanden ist. Ich sage sogar: Das ist Augenwischerei. ({8}) Deswegen stellt sich die Frage: Wozu wollen wir das? Brauchen wir das? Die Befürworter sagen: Im Grundgesetz sind Kinder nicht explizit als Träger von Rechten erwähnt, sie werden nicht als Rechtssubjekte betrachtet, wir bräuchten ein Signal an die Gesellschaft, dass Kinder als eigenständige Persönlichkeiten mit eigenen Rechten zu achten und in der Gesellschaft zu beteiligen sind. Ähnliches sagt Roman Herzog. Zur Diskussion steht zurzeit auch die Aufnahme von Kultur und Sport in das Grundgesetz. Sollte man da nicht erst recht über die Kinderrechte diskutieren? Für mich hätten sie gegenüber all dem Priorität. Wir müssen uns aber auch die Fragen stellen: Würden durch die Kinderrechte die Elternrechte eingeschränkt? Würden wir damit reine Symbolpolitik betreiben? Würden dadurch falsche Erwartungen geweckt? Ginge es den Kindern dann tatsächlich besser? ({9}) Ich glaube, die Abwägung von Elternrechten und Kinderrechten ist ein wichtiger Punkt. Aber ich möchte an dieser Stelle keinen juristisch dezidierten Diskurs führen; das ist Aufgabe der Rechtspolitiker. Kinder brauchen Erwachsene, die sich für sie einsetzen, für ihre Rechte kämpfen und dafür sorgen, dass es ihnen gut geht. Kinder brauchen aber auch politischen Schutz. Deshalb ist es wichtig, dass wir den Dialog über Kinderrechte in der Verfassung führen. Die Bereitschaft dazu ist in vielen Teilen der Gesellschaft vorhanden. Aber es gibt auch viele skeptische Stimmen und Zweifel, die wir ernst nehmen und über die wir sprechen müssen. Eine Änderung der Verfassung - das wissen Sie, Frau Haßelmann - gehört nicht zum parlamentarischen Alltagsgeschäft. Das heißt, wir müssen viel Überzeugungsarbeit leisten. Ich kann allen nur anraten: Lassen Sie uns doch in die Beratungen gehen! Ich möchte Sie herzlich einladen, die Diskussion um die Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung weiter zu vertiefen; denn jedes Kind verdient es, geliebt, geschätzt, geschützt und unterstützt zu werden. Vielen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Miriam Gruß für die FDPFraktion. ({0})

Miriam Gruß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003760, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich kenne negative Beispiele aus Deutschland, die keine Kinderfreundlichkeit ausdrücken. Ich kann Sie alle nur bitten, die eine oder andere Reise mit mir zu unternehmen, mit der Bahn oder mit dem Flugzeug. Wie oft erlebe ich mit meinem kleinen Sohn, dass sich die Leute von uns wegsetzen, weil das Kind vielleicht zu laut redet oder vielleicht schreit! Wie oft erleben wir, dass Spielplätze geschlossen werden müssen oder nur zu bestimmten Zeiten öffnen dürfen, weil sich Anwohner beschweren! Ich glaube den Studien, die besagen, Deutschland sei ein kinderentwöhntes Land, und den Leuten, die sagen, in Deutschland gebe es inzwischen eine Kultur der Kinderlosigkeit. ({0}) Dabei sind Kinder unsere Zukunft; diesen Satz hören wir immer wieder. Wir sollten ihn wirklich verinnerlichen und ihn nicht für politische Taktierereien missbrauchen. Familien entstehen dort, wo Menschen Vertrauen in eine gemeinsame Zukunft haben. Kinder und Jugendliche sind somit ein wichtiger Teil der Gegenwart. Gleichzeitig sind sie die Lebensperspektive unserer Gesellschaft. Auch daher ist es unerlässlich, Kinderpolitik als einen eigenständigen Bereich der Politik zu begreifen. Auch anlässlich des gestrigen Weltkindertages haben wir - im Übrigen aus aller Welt - von der Notwendigkeit gehört, Kindern eine Stimme zu verleihen. Es muss im Interesse des Staates sein, kinderfreundliche Strukturen zu schaffen und zu fördern sowie den Bedürfnissen der Kinder in allen Lebensbereichen besondere Bedeutung und Beachtung beizumessen. ({1}) Wir müssen erkennen, dass Kinder eben keine kleinen Erwachsenen sind, sondern ureigene Bedürfnisse, Interessen, Rechte und Pflichten haben. Sie bedürfen zudem einer besonderen Förderung, um eine eigenständige Persönlichkeit entwickeln zu können. Lassen Sie mich dies anhand zweier Beispiele verdeutlichen: Erstens. Kinder brauchen Bildung; sie brauchen Unterstützung bei besonderen Begabungen, aber auch bei Leistungsschwächen. Wir müssen allen Kindern die gleichen Startbedingungen verschaffen. Allen Kindern muss der Zugang zu Bildung ermöglicht werden; denn nur durch Bildung werden sie am gesellschaftlichen Leben partizipieren können. Die aktuelle OECD-Bildungsstudie zeigt aber, dass Deutschland im internationalen Vergleich weiter absackt. Können wir uns das eigentlich weiterhin leisten? Zweitens. Kinder müssen entsprechend ihrem Entwicklungsstand am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Wir müssen ihnen Möglichkeiten geben, sich einzubringen und sich eingebunden zu fühlen. An den beiden genannten Beispielen zeigt sich überdeutlich: Kinder haben ein Recht auf Bildung; Kinder haben ein Recht auf Beteiligung; sie haben ein Recht darauf, dass ihre Meinung gehört und berücksichtigt wird. Eine ausdrückliche Verankerung von Kinderrechten findet sich im UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes, im Vertrag über eine Verfassung für Europa und in der Mitteilung der Europäischen Kommission im Hinblick auf eine EU-Kinderrechtsstrategie von 2006 sowie - es wurde bereits erwähnt - in einigen Landesverfassungen. Im Grundgesetz sind Kinderrechte bislang nicht ausdrücklich als Grundrecht oder in Form einer Staatszielbestimmung verankert. Kinder sind nur indirekt in Art. 6 Abs. 2 Grundgesetz über das Recht zur elterlichen Sorge geschützt, welches die Eltern zum Wohl der Kinder auszuüben haben. Ungeachtet der Zweifel, inwieweit eine Erweiterung der Verfassung um Kinderrechte mit der Struktur des Grundgesetzes vereinbar wäre, würde die Verankerung von Kinderrechten in der Verfassung in jedem Fall bewirken, dass der Gesetzgeber nicht mehr ein Ermessen darüber hätte, ob er die Rechte von Kindern überhaupt fördern oder schützen will; lediglich die Ausgestaltung des Wie läge in seinem Ermessen. Der schwachen Durchsetzung von Kinderrechten könnte so entgegengewirkt werden. ({2}) Von den verfassungsrechtlich verbürgten Kinderrechten würde ein ständiger Appell an die jeweils zuständigen Organe des Bundes und der Länder ausgehen, beim Gebrauch ihrer Kompetenzen Kinderrechte zu berücksichtigen. Dieser Ansicht hat sich auch die Kinderkommission einstimmig angeschlossen. Sie sah sich in der Anhörung im November letzten Jahres in ihrer Auffassung bestärkt, dass eine entsprechende Verfassungsänderung erforderlich ist und dass die Zeit dafür reif ist. Die Kinderkommission hatte sich auch für ein gemeinsames Vorgehen und den Weg über einen interfraktionellen Entwurf entschieden. Diesen Schritt unterstütze ich als amtierende Vorsitzende der Kinderkommission natürlich ausdrücklich. ({3}) Dieser Konsens in der Kinder- und Jugendpolitik hat die Arbeit der Kinderkommission während der letzten Jahre ausgezeichnet, und er hat sich bewährt. Umso bedauerlicher ist es, dass die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen dieses bewährte Vorgehen mit ihrem alleinigen Vorpreschen durchbrochen hat, ({4}) und dies nicht etwa, weil sie sich mit ihren Vorstellungen in der Kinderkommission nicht durchsetzen konnte, sondern aus rein taktischen Gründen. ({5}) Dies ist zu bedauern, denn diese Fraktion will sich hier auf Kosten der Kinder profilieren. ({6}) Meine Damen und Herren, die Kinder müssen uns mehr wert sein als eine taktische Masse im politischen Geschehen. Kinder heute zu schützen, ist unsere ureigene Pflicht. Kinder zu fördern, ist unser oberstes Gebot. Kinder zu achten und für ihre Zukunft zu denken, muss eine gesamtgesellschaftliche Prämisse sein - im Übrigen nicht nur für Kinder- und Jugendpolitiker und nicht nur am Weltkindertag. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Marlene Rupprecht für die SPD-Fraktion.

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Liebe Jugendliche oben auf der Tribüne und vielleicht auch am Fernsehgerät! Wie muss denn ein Politiker üblicherweise sein? Tue Gutes und rede darüber. Wie muss ein Politiker oder eine Politikerin sein, wenn er oder sie in der Kinderkommission ist? Derzeit sind wir fünf Frauen. Sie müssen Gutes tun, eine Eselsgeduld und Durchsetzungsvermögen haben, und manchmal dürfen sie nicht darüber reden, wenn sie Gutes tun wollen, weil es der Sache dient. Von uns Fünfen werden ganz kräftige Strategien, viel Überlegung und Kenntnisreichtum verlangt, und wir müssen der Sache und dem Anliegen von Kindern dienen. Das versuche ich hier klarzumachen. Frau Haßelmann, wir haben in einem langen, gemeinsamen Prozess über Zeitplan und Verfahren diskutiert. Ich bin allen Kolleginnen und Kollegen, die in der Kinderkommission sind, dankbar dafür, dass sie diesen Weg mitgegangen sind, dass sie auf eigene Profilierung verzichten und den Weg gemeinsam gehen. Es ist ein schwieriger Weg. Wir wissen, dass es in allen Fraktionen große, mittelgroße und kleine Bedenken, aber auch Zustimmung zu unseren Vorschlägen gibt. Für eine Verfassungsänderung brauchen wir in diesem Haus zwei Drittel der Stimmen. Dafür brauchen wir auch den Bundesrat. Wir brauchen gute Argumente und müssen vor allem mit einer Stimme sprechen. Das haben wir bisher gemacht, und darauf versuche ich auch heute wieder zurückzukommen. Wir haben uns darauf geeinigt, dass wir die Anliegen von Kindern, die 1992 in der UN-Kinderrechtskonvention in der Bundesrepublik festgeschrieben worden sind, stärken. Für eine reife Demokratie ist es wichtig, dass erkennbar ist, dass die Grundlagen unserer Demokratie nicht nur von Erwachsenen für Erwachsene festgeschrieben sind. In Art. 2 des Grundgesetzes ist die freie Entfaltung der Persönlichkeit genannt. Ein Baby ist noch keine fertige Persönlichkeit. ({0}) Wenn wir alles gut machen, wird es eine tolle Persönlichkeit, eine tolle Demokratin oder ein toller Demokrat. Wir müssen das gemeinsam versuchen. Für eine reife Demokratie ist es an der Zeit, dass wir uns fragen, ob wir in unserem Grundgesetz eine Grundlage erkennen können, mit der auch unsere Kinder als Subjekte klar erkennbar gemeint sind. Viele Verfassungsrechtler sagen uns, dass diese Subjektstellung noch nicht klar erkennbar ist. Sonst hätte es nicht so lange gedauert, bis das Verfassungsgericht 1968 - 19 Jahre nach Verabschiedung und Inkrafttreten des Grundgesetzes feststellen musste, dass auch Kinder Grundrechtsträger sind. 19 Jahre lang haben wir eigentlich einen Schwebezustand gehabt. Wir haben weitere Jahre gebraucht, um die Kinder, wenn wir auf sie blicken, nicht als Mangelwesen oder defizitäre Erwachsene, sondern als eigenständige Menschen zu empfinden, bei denen wir Erwachsene die Ver12066 Marlene Rupprecht ({1}) antwortung dafür übernehmen, dass sie gut aufwachsen. Das Elternrecht ist nämlich kein Machtrecht, sondern die große Verantwortung, die auf uns übertragen wird, diesen Kindern alles zu geben, damit sie gesund und gut aufwachsen und gute Demokraten werden. ({2}) Was brauchen die Kinder dafür? Kinder brauchen dafür erst einmal Eltern, die sie akzeptieren. Daneben müssen aber auch die Lebensbedingungen so sein, dass sie gut aufwachsen können, das heißt: Zugang zu Bildung, Zugang zur Gesundheitsversorgung und gute Ernährung. Sie müssen all das erhalten, was ein kleines Wesen zum Aufwachsen braucht. Vor allem brauchen sie eine Gesellschaft, die sagt: Herzlich willkommen, gut, dass Du da bist. Genau Du hast gefehlt. ({3}) Nur dann werden sie wirklich selbstbewusst, um allen Irrungen und Wirrnissen standzuhalten, denen sie im Laufe des Lebens begegnen - es werden sehr kräftige auf sie zukommen, und manchmal werden sie kurz davor sein, umzufallen -, und nur dadurch halten sie stand und erfahren, dass sie willkommen sind. Genau deshalb wollen wir dies in der Verfassung zum Ausdruck bringen. Es soll in die Verfassung aufgenommen werden, dass wir bereit sind, den Kindern einen besonderen Schutz zu gewähren. Sie sind schutzbedürftig nicht nur satt, sauber und still. Diesen Schutz gewähren wir ihnen, und zwar nicht erst, wenn sie schon halbtot geschlagen sind, sondern dieses Recht haben sie von Anfang an gegenüber allen. Vor allem der Gesetzgeber muss seine Gesetze daraufhin überprüfen. Auch die Behörden und Institutionen müssen überprüfen, ob das, was sie tun, immer kindgerecht ist. Wenn das einmal nicht der Fall ist, dann doch nicht, weil sie dem Kind schaden wollten, sondern weil viele vergessen haben, wie es als Kind ist. Auch uns fällt es manchmal schwer, die Beratungen unter diesem Blickwinkel zu führen. Wir, die Mitglieder der Kinderkommission, sind dazu da, den Kollegen manchmal den Kopf genau so zu drehen, dass sie die Kinder im Blick haben. Das sehe ich als unsere Aufgabe an. - Den Schutz gewährleisten wir also. Zur Förderung. Wenn ein Kind eine Sprachbehinderung hat, braucht es dann Hilfe, wenn die Sprachbehinderung auftritt, nicht erst hinterher, wenn das Kind bereits massive psychische Probleme hat. Es geht um eine frühzeitige und gute Förderung. Das soll mit aufgenommen werden. Wir wollen auch, dass die Kinder an allen Angelegenheiten kindgerecht beteiligt werden. Das heißt nicht, dass wir Erwachsene die Verantwortung für unsere Entscheidungen abgeben. Das würde eine Erwachsenensicht bedeuten. Die Beteiligung muss kindgerecht und in dem Umfang erfolgen, der möglich ist. Die Öffentlichkeit und wir haben die Verpflichtung, alles zu tun, damit die Kinder hier bei uns gut aufwachsen. Das schaffen nicht fünf Frauen - und ein Mann, der immer anwesend ist -, sondern das schaffen wir nur mit zwei Dritteln dieses Hauses. Wenn der Antrag der Grünen dazu dient, das weiter zu befördern, dann sage ich: Oh Gott, dann soll es so sein, meinetwegen. Wenn wir dadurch die Öffentlichkeit heute noch einmal erreichen können und es dem Anliegen dient, dann ist es mir recht. Die Koalition klärt noch ab - das steht auch so im Koalitionsvertrag -, wie wir in diesem Verfahren weiter vorgehen. Meine Kolleginnen kennen mich so gut, dass sie wissen, dass ich nicht nachgebe. Hier vorne sitzt unser Geschäftsführer, und der kennt mich auch. ({4}) Er wird schon dafür sorgen - und ich auch -, dass das Thema nicht vom Tisch fällt. Es fällt nicht der Diskontinuität anheim. Wir werden dafür sorgen, dass dieses Thema weiter befördert wird. Wir haben uns eine Deadline gesetzt. Ich sage hier öffentlich - Herr Geschäftsführer, horchen Sie zu -, dass die Kinderkommission beschlossen hat: Am 7. November 2007 müssen wir wissen, wie wir damit umgehen. Ansonsten gehen wir in die Vollen. - Lieber Kollege Scholz, ich garantiere Ihnen: Dann sind wir nicht mehr so sanft, sondern ziemlich ungehalten und sehr massiv. Ich bin heute ganz sanft. Merkst du es? Dann aber werden wir uns nicht mehr darüber freuen, dass von den Verbänden freundlich öffentlich aufgefordert wird, sondern dann tun wir das ziemlich massiv. Damit das nicht schiefgeht, brauchen wir Sie dort oben auf den Tribünen, Sie an den Fernsehern und alle vernünftigen Leute - auch die Eltern, die ihre Kinder lieben. Denjenigen, die sie nicht lieben - ich glaube, auf sie sind wir nicht angewiesen -, müssen wir helfen, damit sie lernen, sie zu lieben. Aber alle, die ihre Kinder lieben und Verständnis für sie haben, werden uns unterstützen. Wir nehmen ihnen nichts weg. Vielmehr stärken wir sie, indem wir ihre Kinder stärken. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und uns, dass wir am Wochenende rausgehen - denn am Wochenende finden noch sehr viele Veranstaltungen zum Weltkindertag statt -, gehen Sie raus als Botschafter für unsere Kinder! Es heißt immer, Kinder seien die Zukunft. Das ist ein ähnlicher Spruch wie „Im Himmel wird es einem schon gedankt“. Ich meine, Kinder sind unsere Gegenwart. In der Gegenwart müssen wir etwas tun, damit sie in der Zukunft zu vernünftigen Erwachsenen werden und ihre Kinder gut aufziehen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein schönes Wochenende. Danke schön. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Den Beitrag der Kollegin Diana Golze nehmen wir - verbunden mit den besten Wünschen - zu Protokoll.1) Ich schließe die Aussprache. 1) Anlage 4 Vizepräsidentin Petra Pau Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/5005 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 10. Oktober 2007, 13 Uhr, ein. Ich wünsche Ihnen alles Gute, liebe Kolleginnen und Kollegen, und auch ein schönes Wochenende. Die Sitzung ist geschlossen.