Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich und wünsche uns einen guten Morgen und gute
Beratungen am heutigen Plenartag.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, habe ich einige wenige Mitteilungen zu machen. Der Kollege Dr.
Wolfgang Schäuble feierte vorgestern seinen 65. Geburtstag und die Kollegin Petra Merkel ({0}) ebenfalls vorgestern ihren 60. Geburtstag. Im Namen des
ganzen Hauses gratuliere ich dazu herzlich und wünsche
alles Gute.
({1})
Bevor wir mit den Beratungen beginnen, stehen noch
zwei Wahlen zu Gremien an.
Die Bundesregierung hat den Deutschen Bundestag
um Benennung von zwei Sachpreisrichterinnen oder
-richtern für die Jury des internationalen Architektenwettbewerbs für das Humboldt-Forum im Berliner Schlossareal gebeten. Die Fraktion der CDU/CSU
schlägt den Kollegen Dirk Fischer ({2}) und als
seine Stellvertreterin die Kollegin Renate Blank vor.
Von der SPD-Fraktion werden der Kollege Vizepräsident
Dr. h. c. Wolfgang Thierse und als seine Stellvertreterin
die Kollegin Petra Weis vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen. Dann sind, wie gerade genannt, Dirk
Fischer und Dr. h. c. Wolfgang Thierse zu Mitgliedern
dieser Jury und die Kolleginnen Renate Blank und Petra
Weis jeweils zu ihren Stellvertreterinnen gewählt.
Die Fraktion der SPD hat mitgeteilt, dass der Kollege
Dr. Carl-Christian Dressel anstelle des Kollegen Dirk
Manzewski stellvertretendes Mitglied im Beirat der
Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen werden soll. Ich
vermute, dass Sie auch damit einverstanden sind. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist der Kollege Dr.
Dressel als stellvertretendes Mitglied in den Beirat der
Bundesnetzagentur gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
FDP:
Haltung der Bundesregierung zu den Äußerungen des Bundesministers der Verteidigung,
Dr. Franz Josef Jung, in Terrorabsicht entführte Flugzeuge ohne gesetzliche Grundlage
abschießen zu lassen
({3})
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({4})
a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina
Lenke, Frank Schäffler, Dr. Hermann Otto
Solms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Steuerklasse V abschaffen - Lohnsteuerabzug neu ordnen
- Drucksache 16/6396 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({5})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b)Beratung des Antrags der Abgeordneten
Grietje Bettin, Bärbel Höhn, Kerstin Andreae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Fehlende Verbraucherschutzregeln und
Rechtsunsicherheiten im Telemediengesetz
beseitigen
- Drucksache 16/6394 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Kultur und Medien
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Äußerungen des Bundesinnenministers zu angeblich bevorstehenden atomaren Anschlägen
durch Terroristen in Deutschland und seine
Ermunterung für die verbleibende Zeit
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Barth, Patrick Meinhardt, Cornelia Pieper, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Aufhebung des Hochschulrahmengesetzes zur
Stärkung autonomer Hochschulen nutzen
- Drucksache 16/6397 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({7})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
ZP 5 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundespolizeigesetzes und anderer
Gesetze
- Drucksache 16/6291 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({8})
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Darf ich auch
dazu Ihr Einverständnis feststellen? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentribüne hat der Vorsitzende des Großen Staatskhurals
der Mongolei, Herr Professor Lundeejantsan, mit seiner Delegation Platz genommen. Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages begrüße ich Sie sehr herzlich.
({9})
Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und
Kollegen, es ist uns eine große Freude, Sie und Ihre Be-
gleitung zu einem offiziellen Besuch in Deutschland zu
Gast zu haben. Ihr Aufenthalt ist Ausdruck der freund-
schaftlichen und gerade in den letzten Jahren immer en-
geren Beziehungen nicht nur zwischen unseren Ländern,
sondern insbesondere auch zwischen unseren Parlamen-
ten. Bis zu Ihrer Rückreise in die Mongolei heute Nach-
mittag wünsche ich Ihnen weiterhin interessante Gesprä-
che und Eindrücke. Für Ihr weiteres parlamentarisches
Wirken in Ihrem Land begleiten Sie unsere besten Wün-
sche.
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 3 a
und 3 b:
a) Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan ({10}) unter Führung der NATO auf
Grundlage der Resolutionen 1386 ({11}) vom
20. Dezember 2001, 1413 ({12}) vom 23. Mai
2002, 1444 ({13}) vom 27. November 2002,
1510 ({14}) vom 13. Oktober 2003, 1563 ({15})
vom 17. September 2004, 1623 ({16}) vom
13. September 2005, 1707 ({17}) vom 12. September 2006 und 1707 ({18}) vom 19. September 2007 des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen
- Drucksache 16/6460 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({19})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Trittin, Winfried Nachtwei, Kerstin Müller
({20}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ISAF und OEF parlamentarisch gemeinsam
behandeln
- Drucksache 16/6325 Zum Antrag der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 75 Minuten vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so vereinbart.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Bundesminister des Auswärtigen, Frank Steinmeier.
({21})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Dass wir in Deutschland eine öffentliche Debatte über Auslandseinsätze und über Afghanistan führen, ist gut. Die Art und Weise, wie sie geführt wird,
macht es notwendig, dass wir zu Beginn dieser Debatte
an zwei Dinge erinnern:
Erstens. Es waren die mörderischen Anschläge vom
11. September, die uns nach Afghanistan gebracht haben.
Zweitens. Erst mithilfe der gesamten internationalen
Staatengemeinschaft ist es gelungen, das verbrecherische Regime der Taliban niederzuringen.
Erst seither - darum geht es mir - stellen wir uns in
diesem Hohen Hause jedes Jahr die Frage, wie wir verhindern können, dass sich Afghanistan erneut zum
Rückzugsraum für Terroristen entwickelt.
Ich sage Ihnen gleich vorweg: Unsere Antwort auf
diese Frage war nie schlicht, sie war nie einfältig. Sie
lautete von Anfang an: Wir verhindern das, indem wir
den Menschen in Afghanistan eine neue Perspektive,
neue Hoffnung geben, indem wir sie dabei unterstützen,
das Land wiederaufzubauen, indem wir es ihnen ermöglichen, die Zukunft ihres Landes wieder in die eigenen
Hände zu nehmen, und indem wir sie unterstützen, die
Verantwortung für die Sicherheit im eigenen Lande
schrittweise wieder selbst zu übernehmen.
({0})
Das war von Anfang an unsere Politik. Möge mir heute
keiner mit dem dämlichen Argument kommen, wir hätten von Anfang an nur Panzer und Soldaten in untauglicher Weise gegen Fundamentalismus eingesetzt. Das
stimmt nicht.
({1})
Aus meiner Sicht kann kein Zweifel daran bestehen
- wie ich weiß, haben sich viele von Ihnen in den letzten
Monaten davon überzeugen können -, dass wir in Afghanistan einiges erreicht haben. Nach den jahrzehntelangen Kriegen bzw. Bürgerkriegen, durch die vieles in
Trümmer gelegt wurde, ist die Wirtschaft etwas in
Gang gekommen. Nach inzwischen fast sechs Jahren haben sich die staatlichen Institutionen - das gilt auch für
die Regierung - etwas Freiraum erkämpft. Besonders im
Norden, wo wir Verantwortung tragen, sind neue Schulen und neue Straßen gebaut sowie Brunnen gebohrt
worden. Über 6 Millionen Kinder können dort wieder
eine Schule besuchen. Die Schülerzahl hat sich in den
letzten sechs Jahren mehr als verfünffacht. Immerhin
80 Prozent der dortigen Bevölkerung haben wieder Zugang zu medizinischer Versorgung.
Trotz alledem muss ich sagen: Ja, es stimmt; der Weg
hat sich als schwieriger erwiesen, als wir, als viele von
uns sich erhofft haben. Insbesondere im Süden und
Südosten des Landes vollzieht sich der Aufbau, natürlich auch aus Sicht der afghanischen Bevölkerung, bei
weitem nicht schnell genug. Wenn das richtig ist, frage
ich: Welche Schlussfolgerung ziehen wir daraus? Gehen,
weil es schwierig ist? Ich glaube nicht. Ich glaube, die
einzig mögliche Schlussfolgerung, die wir daraus ziehen
können, ist, dass wir mehr tun müssen, dass wir unsere
Anstrengungen im Rahmen des zivilen Wiederaufbaus
verstärken müssen.
({2})
Das ist ja auch der Kern des Afghanistankonzepts, das
wir Ihnen gerade vorgelegt und über das wir in einigen
Ausschüssen schon gesprochen haben. Wir brauchen
eine deutliche Aufstockung der Mittel für die zivile Wiederaufbauhilfe. Ich bin mir sicher, dass der Deutsche
Bundestag das in der Schlussabstimmung über den
Haushalt auch so beschließen wird.
Wir müssen uns nicht gegenseitig darüber belehren,
wie schwierig die Sicherheitslage ist. Die internationale
Staatengemeinschaft hat es zwar vermocht, eine drohende Frühjahrsoffensive der Taliban zu verhindern,
aber die Gefährdungen haben sich auf andere Art und
Weise entwickelt. Wir haben bei den Anschlägen in
Kunduz und Kabul erleben müssen, wie deutsche Polizisten und deutsche Soldaten auf tragische Weise ums
Leben gekommen sind.
Meine Damen und Herren, in dieser Situation ist es
notwendig, dass wir neben dem zivilen Engagement, von
dem ich gesprochen habe, auch unser militärisches Engagement aufrechterhalten. Das sagen übrigens auch die
Afghanen, die hier gegenwärtig zu Gast sind und mit denen Sie ja Gespräche führen. Das hat uns auch die afghanische Frauenministerin vor kurzem bei ihrem Besuch in
der SPD-Fraktion gesagt, begleitet mit der dringlichen
Bitte, die Menschen in Afghanistan - gerade die Frauen
- in der gegenwärtigen Lage nicht alleinzulassen.
({3})
Ich könnte es zuspitzen und sagen: Es ist doch irrig, zu
glauben, wir könnten gerade in der derzeitigen Situation
auf die militärische Komponente unseres Einsatzes völlig verzichten. Oder noch genauer gesagt: Wer heute den
Abzug unserer Truppen aus Afghanistan fordert, setzt all
das aufs Spiel, was wir in den letzten sechs Jahren dort
aufgebaut haben.
({4})
Wer sich dabei auch noch in der moralisch besseren
Position fühlt, der sollte nicht nur den Drachenläufer
von Khaled Hosseini lesen - den haben Sie alle vermutlich gelesen -, sondern auch sein neues Buch Tausend
strahlende Sonnen. Schauen Sie einmal auf den Katalog
an Verboten - Sie finden ihn auf den Seiten 257 f.; er ist
anderthalb Seiten lang! -, durch die in zynischer und
menschenverachtender Weise jedes Leben in Kabul nach
dem Einzug der Taliban im Grunde genommen unmöglich gemacht worden ist. Etwas, das den Namen Leben
verdient, blieb nicht übrig. Wer das will, der muss in der
Tat fordern, dass wir unser Engagement in Afghanistan
aufgeben. Ich glaube, an einer solchen Forderung können und sollten wir uns nicht beteiligen.
({5})
Meine Damen und Herren, aus diesen Gründen hat
der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen heute Nacht
das ISAF-Mandat bestätigt. Deshalb bittet auch die
Bundesregierung Sie als Abgeordnete des Deutschen
Bundestages, das Mandat zu verlängern.
Es geht neben dem ISAF-Mandat gleichzeitig um die
Verlängerung des Einsatzes der Aufklärungstornados.
Ich habe die Debatte, die wir dazu hier im Hohen Haus
vor einem halben Jahr geführt haben, in guter Erinnerung. Ich glaube, ich darf mit den meisten von Ihnen sagen, dass sich viele Befürchtungen, die sich an den Einsatz der Aufklärungstornados knüpften, nicht bestätigt
haben. Ich sage: Unsere Entscheidung damals war richtig. Die Tornados werden zur Aufklärung eingesetzt. Sie
helfen der ISAF, die Lage vor Ort besser zu beurteilen.
Sie helfen auch, militärische Mittel angemessener einzusetzen, was ja - darüber haben wir hier in vielen Debatten miteinander diskutiert - unser gemeinsamer Wunsch
war.
Wir schlagen bei alldem vor, das ISAF-Mandat und
das Tornado-Mandat zusammenzulegen. Inhaltlich - das
wird der Verteidigungsminister erläutern - bleiben die
Mandate unverändert; aber sie geben uns die Möglichkeit, durch eine gemeinsame Obergrenze die Soldaten
flexibler einzusetzen, um zum Beispiel - das haben wir
hier im Hohen Hause schon als notwendig festgestellt die afghanischen Sicherheitskräfte, vor allen Dingen die
afghanische Armee, beim Aufbau und bei der Ausbildung besser zu unterstützen. Genau das müssen wir tun.
({6})
Lassen Sie mich zum Abschluss eines sagen: Unsere
Soldaten leisten in Afghanistan genauso wie die zivilen
Wiederaufbauhelfer und unsere Polizisten unter schwierigsten Bedingungen einen hervorragenden Job. Sie haben sich bei den Afghanen, aber auch bei unseren internationalen Partnern große Anerkennung erworben. Sie
wissen das. Deshalb sage ich: Dafür gebührt ihnen unser
uneingeschränkter Dank.
({7})
Bei Debatten wie dieser geht es aber nicht nur ums
Danksagen, sondern auch darum, den Soldaten, Aufbauhelfern und Polizisten die breite Unterstützung des Hohen Hauses zu signalisieren, die sie bei einem solchen
Einsatz unter schwierigen Bedingungen brauchen. Deshalb erhoffe ich mir am Ende dieser Debatte eine breite
Zustimmung dieses Hohen Hauses. Ich bitte Sie um Unterstützung bei der Verlängerung des Antrags.
Danke.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Werner Hoyer für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
FDP-Bundestagsfraktion wird den Antrag der Bundesregierung, dessen endgültige Fassung wir erst seit wenigen
Stunden kennen, sorgfältig, unvoreingenommen und
verantwortungsbewusst prüfen. Nach allen Vorgesprächen gehe ich davon aus, dass wir nach sorgfältigen Beratungen in den Ausschüssen dem Antrag, wahrscheinlich mit überwältigender Mehrheit zustimmen werden.
Der Bundesminister hat zu Recht noch einmal darauf
hingewiesen, warum wir uns in Afghanistan engagieren,
warum es unsere moralische Verpflichtung ist, warum es
aber auch unserem ureigenen Interesse dient, diesen Einsatz effektiv fortzusetzen.
Wir bedauern, dass die Entscheidung über ISAF aus
innerparteilichen Gründen von der Entscheidung über
OEF getrennt worden ist. Man kann die beiden Dinge
nicht getrennt bewerten.
({0})
Zumindest gibt dies der Bundesregierung die Chance - wir
sprachen heute schon in einer Unterrichtung im Verteidigungsministerium darüber -, die betroffenen Ausschüsse, aber auch den Deutschen Bundestag insgesamt besser
über das zu unterrichten, was bei der Operation Enduring Freedom passiert.
Die Unterscheidung zwischen dem vermeintlich bösen OEF-Mandat und dem guten ISAF-Aufbaumandat
scheint mir nicht sachgerecht und nicht fair gegenüber
unseren Partnern, die sich bei OEF besonders engagieren.
({1})
Ich möchte im Übrigen daran erinnern, dass gestern im
Süden Afghanistans die große Operation Hammerschlag mit 2 500 ISAF-Soldaten begonnen hat. Diese
Terrorbekämpfungsaktion wird also von der ISAF
durchgeführt. Die häufig vorgenommene Unterscheidung zwischen ISAF und OEF ist daher nicht in Ordnung.
({2})
Insofern sind die Debatten auf manchen Parteitagen geradezu bizarr: Neben der Tatsache, dass die grüne Basis
ihren Bundestagsabgeordneten Verantwortungsverweigerung auferlegen will - wie am letzten Wochenende
beschlossen -, finde ich es bemerkenswert, mit welchem
Verfahren die Parteiführung versucht hat, eine Entscheidung herbeizuführen. Wer bei einer so gravierenden Gewissensentscheidung - das ist es am Ende für jeden von
uns - die Feststellung einer Parteimeinung über Fragebögen im Multiple-Choice-Verfahren ermitteln will, verabschiedet sich von Verantwortungsübernahme.
({3})
Wir haben mit der Zusammenlegung der Entscheidung über das ISAF-Mandat und der Entscheidung über
den Einsatz von Tornados kein Problem. Wir richten unseren ausdrücklichen Dank an die Angehörigen des Aufklärungsgeschwaders. Unsere vor einem halben Jahr in
dieser Sache getroffene Entscheidung war schwierig,
aber richtig.
Wenn wir - höchstwahrscheinlich - zustimmen werden, heißt das nicht, dass wir nicht Kritik zu üben hätten
und nicht auf Verbesserung drängten. Ich unterstütze zunächst einmal ausdrücklich einen Punkt, den der MinisDr. Werner Hoyer
ter angesprochen hat: das Umsteuern hin zur Bewältigung der Herausforderungen des Wiederaufbaus. Ich
möchte darüber hinaus vier kurze Anmerkungen machen:
Erstens. Die Rolle der NATO in diesem Zusammenhang muss politischer werden. Es kann nicht sein, dass
der Generalsekretär der NATO mit dem Verweis, die
NATO dürfe keine Entwicklungsagentur werden, darauf
besteht, dass wir uns auf das Militärische beschränken.
Wenn die Gefahr besteht, dass aufgrund unseres Versagens im nichtmilitärischen Teil, nämlich dem Aufbau
Afghanistans, auch die militärische Mission scheitert,
dann ist es im Interesse des Bündnisses und seiner Mitglieder, dass wir unsere Aktivitäten im nichtmilitärischen Teil zumindest einmal koordinieren und gemeinsam festlegen, welche Ziele - sie sollten übrigens
manchmal etwas bescheidener sein - wir verfolgen und
welche effektiven Zielerreichungsstrategien wir anwenden wollen.
({4})
Übrigens möchte ich darauf hinweisen, dass die NATO
ein Konsensgremium ist. Es kann keine Forderung der
NATO an Deutschland geben, die nicht auch von den
deutschen Vertretern abgesegnet worden ist. Deswegen
frage ich mich manchmal, welche Weisungen die Leute,
die für uns in den Gremien der NATO sitzen, eigentlich
haben.
Zweitens. Es ist Erhebliches geleistet worden; Minister Steinmeier hat darauf hingewiesen. Das sollten wir
nicht kleinreden. Was wir allerdings einfordern müssen,
ist mehr Nachhaltigkeit. Unsere Kolleginnen und Kollegen aus Afghanistan, von denen einige heute auf der
Besuchertribüne sitzen, haben uns gestern gesagt: Es
gibt einen lack of continuity, also einen Mangel an
Kontinuität und auch an Nachhaltigkeit. Es ist unbefriedigend, wenn wir mit großem Aufwand Schulen bauen,
nach ein paar Jahren aber nicht mehr genug Geld zur
Verfügung steht, um die Stellen der Lehrer finanzieren
und diese Schulen tatsächlich betreiben zu können.
Drittens. Auch und erst recht im Bereich von Verwaltung, Polizei und Justiz gibt es einen Mangel an Rechtsstaatlichkeit; das haben uns unsere Kollegen gestern berichtet. Daher müssen wir feststellen, dass der
Vorsitzende des Bundeswehr-Verbandes schlicht und ergreifend recht hat, wenn er unseren Beitrag im Rahmen
der Polizeiausbildung zwar als gut gemeint, aber zugleich als beschämend bescheiden darstellt. Hier müssen
wir dringend zulegen und in qualitativer und quantitativer Hinsicht in neue Dimensionen vorstoßen.
({5})
Viertens. Der große Schwachpunkt all unserer Bemühungen in Afghanistan ist und bleibt das Thema Drogen.
Als es damals um die Ausweitung des Einsatzes auf
Kunduz ging, habe ich darauf hingewiesen, dass wir unsere Soldaten in eine Mission Impossible schicken,
wenn wir auf Dauer dabei zusehen, wie unsere Soldaten
vor blühenden Mohnfeldern patrouillieren und damit das
dreckige Geschäft der Drogenbarone - ich meine nicht
die Bauern, sondern die Zwischenhändler, die Laborbetreiber usw. - sogar noch militärisch absichern. Wenn
wir uns nicht möglichst schnell gemeinsam mit unseren
Partnern auf einen Weg verständigen, um dieses Problem
zu lösen - dafür werden wir ein Bündel von Maßnahmen
brauchen, nicht nur eine einzelne Maßnahme -, dann
wird auch unsere militärische Aktion scheitern.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Dann können wir eines Tages unseren Soldaten, unseren zivilen Aufbauhelfern und unseren Polizisten nicht
mehr zumuten, dort länger tätig zu sein.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung,
Dr. Franz Josef Jung.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich kann nahtlos an das anschließen, was der
Bundesaußenminister gerade gesagt hat. Ich denke, ganz
entscheidend ist die Tatsache, dass es uns gelungen ist,
innerhalb der NATO unser Konzept der vernetzten Sicherheit, das wir im Rahmen des Weißbuchs verabschiedet haben, als Gesamtkonzept für Afghanistan
durchzusetzen. Wir haben es in unserem AfghanistanKonzept wie folgt beschrieben: ohne Sicherheit keine
Entwicklung und kein Wiederaufbau, aber ohne Entwicklung und Wiederaufbau auch keine Sicherheit. Ich
bin der felsenfesten Überzeugung, dass das Konzept der
vernetzten Sicherheit erfolgreich sein wird, um das Vertrauen der Bevölkerung, also die Herzen und die Köpfe
der Menschen, zu gewinnen und in Afghanistan für Stabilität und für eine friedliche Entwicklung zu sorgen. Vor
diesem Hintergrund bittet die Bundesregierung das Parlament, das Mandat ISAF und das Mandat bezüglich des
Einsatzes der Recce-Tornados jetzt um ein Jahr zu verlängern.
({0})
In der jetzigen Debatte müssen wir auch unterstreichen, was wir in den Jahren, in denen wir in Afghanistan
Aufbauarbeit leisten, bereits erreicht haben. Im Norden
des Landes haben wir über 700 konkrete Projekte durchgeführt. Diese Projekte reichten von der Herstellung von
Strom- und Wasserversorgung über die Errichtung von
Straßenverbindungen, Schulen und Kindergärten bis hin
zur Verbesserung der medizinischen Versorgung. Man
muss den Blick allerdings auch auf Gesamtafghanistan
richten. Wir haben dieses Land von der Terrorherrschaft
der Taliban befreit. Nun hat das Land eine Verfassung
und ein gewähltes Parlament.
Dass heute Parlamentarier aus Afghanistan, auch
weibliche Parlamentarier, diese Debatte verfolgen können, ist auch ein Erfolg unserer Politik. Ich begrüße Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus Afghanistan, herzlich in unserem Parlament!
({1})
Meine Damen und Herren, ich kann weitere Beispiele
bringen: Als ich in Kabul war, kamen Mädchen lächelnd, freundlich und fröhlich aus den Schulen gelaufen.
({2})
Unter der Herrschaft der Taliban durften Mädchen nicht
zur Schule gehen. Mit Ihrer Politik - Sie lehnen einen
solchen Einsatz ja ab - wäre das nicht möglich gewesen.
({3})
Früher gingen in Afghanistans Schulen 1 Million
Schüler, jetzt sind es über 6,5 Millionen. Wir haben erreicht, dass fast 80 Prozent der Bevölkerung im Land
Zugang zu medizinischer Grundversorgung haben.
4,7 Millionen Flüchtlinge sind in dieses Land zurückgekehrt. Die Höhe der Einkommen hat sich verdoppelt.
Wir haben eine wesentlich verbesserte Infrastruktur;
wir haben gerade erst im Norden eine Brücke für eine
Straßenverbindung nach Tadschikistan eingeweiht. Wir
stellen Krankenhäuser wieder her. Wir sind hier auf einem Weg des Erfolges. Diesen Weg des Erfolges müssen
wir weitergehen.
Der Weg, den Sie von der Linken uns empfehlen,
nämlich Rückzug, wäre dagegen der falsche Weg, auch
im Hinblick auf die Sicherheit unserer Bürgerinnen und
Bürger. Das würde nämlich einen Rückfall zur Folge haben, sodass Afghanistan wieder zum Ausbildungszentrum für Terroristen würde.
({4})
Wir haben konkret vor, auch mit diesem Mandat, unsere Aktivitäten im Norden weiter zu verstärken. Wir
sind damals mit den Provincial Reconstruction Teams,
wie es in der Fachsprache heißt, also mit den Wiederaufbauteams in den einzelnen Regionen, vorangegangen. Wir wollen jetzt mit Provincial Advisory Teams den
Menschen in den einzelnen Regionen mit Beratung und
Unterstützung helfen. Damit dehnen wir diesen Prozess
innerhalb Nordafghanistans aus.
Wir werden weiterhin, da wir im Norden die Verantwortung für den strategischen Lufttransport haben, für
die medizinische Versorgung, gegebenenfalls auch für
Evakuierung aus medizinischen Gründen sorgen. Wir
wollen auf diesem Weg weiter erfolgreich vorangehen.
Wir wollen unsere Anstrengungen zur Ausbildung der
afghanischen Armee verdreifachen. Denn unser Konzept muss ja letztlich zum Ziel haben, dass die afghanische Regierung in die Lage versetzt wird, selbst für ihre
Sicherheit zu sorgen: deshalb die Ausbildung der Polizei, deshalb die Verdreifachung der afghanischen Streitkräfte. Das ist unser Konzept, und ich glaube, das ist der
richtige Weg für Afghanistan.
({5})
Meine Damen und Herren, im Hinblick auf die Diskussion über den Süden will ich sagen: Wir lassen in
Notsituationen Freunde nicht im Stich. Wir sind zurzeit
mit insgesamt 3 200 Soldaten im Norden, einer Region,
die halb so groß ist wie die Bundesrepublik Deutschland.
Wir haben hier eine Verantwortung für 17 Nationen. Im
Süden stehen 14 500 Soldaten, im Osten 16 500, also
insgesamt über 30 000 Soldaten. Aber wenn Freunde in
Not kommen, helfen wir: Wir haben mit
120 Lufttransportflügen geholfen, wir haben mit Fernmeldern ausgeholfen. Um letztlich zur Stabilisierung
und zur friedlichen Entwicklung des gesamten Landes
zu kommen, ist es, wie ich denke, richtig, dass wir unsere Verantwortung im Norden wahrnehmen und dort
unseren Weg weitergehen.
({6})
Das Thema der zivilen Opfer hat am Anfang dieses
Jahres in der öffentlichen Diskussion eine bedeutende
Rolle gespielt. Wir haben über eine Weisung des COM
ISAF mit dafür gesorgt, dass alle Anstrengungen unternommen werden, um zivile Opfer zu vermeiden. Es ist
natürlich die hinterhältige Strategie der Taliban, bewusst
zivile Opfer zu verursachen, um die politische Diskussion zu instrumentalisieren. Deshalb ist es richtig, dass
die entsprechende Weisung an die Soldaten ergangen ist.
Dass in Zukunft zivile Opfer vermieden werden, ist
wichtig, um das Vertrauen der Bevölkerung in unseren
Einsatz zu gewinnen.
({7})
Deshalb denke ich, wir sind in Afghanistan auf einem
erfolgreichen Weg. Diesen Weg wollen wir gemeinsam
fortsetzen: im Interesse von friedlicher und stabiler Entwicklung in diesem Land, im Interesse der Menschen in
diesem so geschundenen Land Afghanistan, aber auch
im Interesse der Sicherheit unserer Bürgerinnen und
Bürger. Deshalb bitte ich Sie um Zustimmung zu diesem
Mandat.
Besten Dank.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gregor Gysi für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da Sie,
Herr Bundesverteidigungsminister Jung, vor mir gesprochen und Sie gesagt haben, dass Sie sich auf bestimmte
Wege nicht einlassen, muss ich Ihnen sagen: Die Wege,
die Sie planen zu gehen, sind fernab von anderen Vorstellungen, fernab vom Grundgesetz und fernab vom
Bundesverfassungsgericht. Das ist nicht hinnehmbar.
({0})
Lassen Sie mich einige Sätze dazu sagen. Ich kenne
die Theorie, wonach man, wenn man ein entführtes
Passagierflugzeug abschießt, zwar Tote verursacht, die
es sowieso geben würde, aber das Leben anderer rettet.
Das ist doch Ihr Ausgangspunkt.
({1})
- Ich sage gleich etwas zu Afghanistan. - Herr Minister
Jung, Sie haben in einer solchen Situation aber nur wenige Minuten, um zu entscheiden, und Sie können nur
vermuten, was der Pilot macht.
({2})
Es ist doch abenteuerlich, prophylaktisch zu töten. Das
ist das, was Sie erklärt haben. Ich sage Ihnen: Das wäre
eine Anstiftung zum vielfachen Totschlag und ist in unserer Gesellschaft nicht hinnehmbar.
({3})
Da wir jetzt über Afghanistan sprechen: Es gibt in unserer Gesellschaft sehr unterschiedliche Positionen, die
Sie nicht zur Kenntnis nehmen. Der Parteitag der Grünen hat sich jetzt wieder früheren antimilitaristischen
Positionen angenähert, was wir im Unterschied zu anderen begrüßen. Die anderen kritisieren die Grünen dafür,
dass sie außenpolitisch unzuverlässig werden. Sie merken gar nicht mehr, dass Militär und Außenpolitik für sie
zu einer Einheit geworden sind, was wir überwinden
wollen.
({4})
Natürlich haben die Grünen dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Jugoslawien und bisher allen
Militäreinsätzen in Afghanistan zugestimmt. Es wird
höchste Zeit, dass Sie wieder einmal auf Ihre Basis hören und Ihre Positionen schrittweise verändern.
({5})
Der Außenminister hat zu Recht gesagt, dass die Taliban in Afghanistan bekämpft und entmachtet werden
sollten. Nun sollen auch die Menschenrechte wiederhergestellt werden. Das Talibanregime wurde beseitigt; das
ist wahr. Es wird aber nie dazugesagt, dass die Nordallianz deutlich an Macht gewonnen hat. Die Stellung
der Nordallianz zu Frauen- und zu Menschenrechten ist
ähnlich wie die der Taliban. Das wird verschwiegen.
({6})
Es gibt jetzt eine Macht von Drogenbaronen und von
Warlords, die einfach nicht hinnehmbar ist. Das Bild, das
hier gemalt wird, dass jetzt alle in traumhaften Zuständen dort leben würden, hat mit der Realität nichts zu tun.
({7})
Es gibt entsprechende Studien. Nach sechs Jahren
geht jedes fünfte Mädchen in Afghanistan zur Schule.
({8})
- Jedes fünfte Mädchen. - Das ist für Sie ein Riesenerfolg. Ich finde das eine Schande. Jedes Mädchen muss
zur Schule gehen.
({9})
Ich erkläre Ihnen, warum Sie so aufgeregt sind: Die
Mehrheit der Bevölkerung ist auf unserer Seite und nicht
auf Ihrer. Das macht Sie so nervös.
({10})
Jetzt sage ich Ihnen noch etwas: Wir hatten gerade
Besuch von Malalai Joya, einer sehr tapferen und mutigen afghanischen Frau.
({11})
- Finden Sie nicht? - Sie ist mit vielen Stimmen in die
verfassunggebende Versammlung gewählt worden. Natürlich kannte sie die Herren und sagte ganz konkret, wer
Drogenbaron, wer Warlord etc. war. Daraufhin hat die
Mehrheit beschlossen, sie wieder aus dem Parlament herauszuschmeißen. Das versteht man dort auch unter Demokratie.
({12})
Ich bin sehr froh, dass sie zu uns gekommen ist.
({13})
Sie vertritt nicht in allen Punkten unsere Auffassung;
seien Sie doch ganz ruhig. Sie hat zum Beispiel gesagt,
dass mit den deutschen Soldaten die Hoffnung auf Befreiung verbunden war. Das stimmt. Sie hat auch gesagt,
dass diese Hoffnung weniger mit den US-Soldaten und
eher mit den europäischen Soldaten verbunden war. Das
Problem war nur, sagte sie, dass man die Nordallianz
hätte entwaffnen müssen, sie aber aufgerüstet worden
sei. Sie sagte weiter: Die Nordallianz achtet Frauenrechte genauso wenig wie die Taliban. - Das ist das Problem.
({14})
Dasselbe sagt sie von den Warlords und den Drogenbaronen.
Eines kommt noch hinzu: Sie sagte, sie habe auf die
deutschen Soldaten gehofft. Das Problem sei nur, dass
sich die deutschen Soldaten der US-Strategie unterwerfen. Deshalb sei es keine Befreiung, sondern eine Besatzung geworden. - Das sagen nicht wir, das sagt diese
afghanische Frau. Reden Sie doch mit ihr!
({15})
Da ich weiß, dass sie auf der Besuchertribüne sitzt,
möchte ich sie - mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident herzlich begrüßen.
({16})
Lassen Sie mich noch etwas zu Ihren Argumenten anmerken. Unter der sowjetischen Besatzung konnten
Mädchen zur Schule gehen. Frauen durften sogar Fußball spielen. Das hat die Besatzung niemals gerechtfertigt. Damals haben Sie das auch nicht behauptet. Sie haben Ihre Vorstellungen im Laufe der Jahre sehr stark
geändert. Darauf muss man hinweisen.
({17})
Derzeit wird - auch bei den Grünen - darüber diskutiert, ob die Strategie der deutschen Soldaten geändert
und dann gegebenenfalls dem ISAF-Mandat zugestimmt
werden könnte. Abgesehen davon, dass ISAF gerade
eine große Offensive gestartet hat, ist eines zu bedenken:
Weder die rot-grüne noch die heutige Regierung hatten
die Kraft, sich gegen die USA zu stellen und eine andere
Strategie zu verfolgen. Sie wollen es auch nicht. Deshalb
müssten Sie nach Ihrem Parteitagbeschluss auch gegen
ISAF stimmen, so wie wir das tun.
({18})
Sie haben über die Frauen- und Menschenrechte gesprochen. In wie vielen Ländern wollen Sie eigentlich
aus diesem Grund intervenieren? Wie ist es um die Frauenrechte in Saudi-Arabien bestellt?
({19})
Dort dürfen die Frauen nicht einmal Auto fahren. Sie
dürfen ohne Genehmigung ihres Ehemannes nicht das
Land verlassen. Sie werden schlicht und einfach unterdrückt. Aber Herr Bush und seine Familie machen
dickste Geschäfte mit der herrschenden Familie in
Saudi-Arabien.
({20})
Deshalb interessieren ihn dort die Menschenrechte nicht.
Es gibt sehr viele Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika, in denen Sie einmarschieren müssten. Selbst
die USA müssten Sie wegen Guantánamo angreifen.
Werden Sie doch nicht albern: Als ob Sie Ihr Militär
überall dorthin schicken, wo Menschenrechte verletzt
werden.
({21})
Es wird immer wieder gefragt, was passiert, wenn wir
das Land verlassen. Als Antwort wird immer die
schlimme Herrschaft der Taliban genannt. Das ist völlig
falsch.
({22})
Wir müssen die Nordallianz entwaffnen.
({23})
Sie bewaffnen hingegen die Nordallianz. Das ist die
Wahrheit. Sie sehen zu, wie die Nachbarländer eine völlig unterschiedliche Politik betreiben. Ob Russland,
Usbekistan, Pakistan oder der Iran: Sie alle bewaffnen
entweder die Taliban oder die Nordallianz. Sie aber
schauen nur zu. Das ist die Realität; darin liegt das Problem.
({24})
Sie haben angekündigt, Sie wollten die Polizei und
Armee ausbilden. Was machen Sie denn seit sechs Jahren?
({25})
Warum gibt es noch keine eigenständige Polizei in
Afghanistan? Warum gibt es keine Armee? Nichts ist
diesbezüglich ernsthaft geleistet worden.
({26})
Sie tun immer, als ginge es um die Menschenrechte.
Ich zitiere in diesem Zusammenhang Herrn Greenspan
- er ist kein Linker -, der erste Notenbankpräsident der
USA, der einen ausgeglichenen Haushalt zustande gebracht hat und gerade seine Memoiren veröffentlich hat:
Der wesentliche Grund für den Krieg im Irak war das Öl.
({27})
- Ja, das stammt nicht von mir, sondern von ihm.
Im Übrigen haben die USA hervorragend mit den
menschenverachtenden Taliban verhandelt, und zwar
über eine Gaspipeline durch Afghanistan.
({28})
Erst als die Verhandlungen über die Gaspipeline gescheitert waren, entdeckten sie die Menschenrechte in Afghanistan. Das ist die Wahrheit.
({29})
Sie verweisen immer darauf, dass im Falle eines Abzugs der Soldaten auch die Aufbauhelfer abgezogen
werden müssten. In diesem Zusammenhang beziehe ich
mich wieder auf einen Nichtlinken, einen ehemaligen
Arzt der Bundeswehr, mit dem ich bei einer Sendung im
Bayerischen Fernsehen zusammengetroffen bin und der
im Süden Afghanistans Schulen baut. Er sagt, dass das
nur dann funktioniert, wenn der nächste Soldat
10 Kilometer entfernt ist. Er wurde gebeten, seine Schulen für die Wahl des Präsidenten zur Verfügung zu stellen. Er hat sich unter einer Bedingung dazu bereit erDr. Gregor Gysi
klärt, nämlich dass der nächste Soldat 10 Kilometer
entfernt ist. Das hat er auch durchgesetzt mit der Folge,
dass 60 Prozent der Wahlberechtigten zur Wahl gekommen sind, davon 40 Prozent Frauen. Wo die US-Soldaten
standen, betrug die Wahlbeteiligung 10 Prozent, darunter
nur 1 Prozent Frauen. Das ist die Wahrheit: Er braucht
nicht den Schutz der Soldaten; er braucht die Soldaten
nicht, um seine Aufbauarbeit in Afghanistan zu leisten.
({30})
Das sagt ein ehemaliger Arzt der Bundeswehr.
({31})
Lassen Sie mich abschließend sagen: Herr Außenminister, Sie haben hier erklärt, dass derjenige, der für den
Abzug der Soldaten ist, die Macht der Taliban wiederherstellen will.
({32})
Das ist eine Unverschämtheit,
({33})
die Sie zwar äußern können, Herr Außenminister, aber
Sie müssen eines wissen: Zwei Drittel der deutschen Bevölkerung ist für den Abzug der deutschen Soldaten aus
Afghanistan.
({34})
Damit unterstellen Sie zwei Drittel der Bevölkerung,
dass sie für die Taliban ist. Was Sie hier geboten haben,
ist indiskutabel.
({35})
Nächster Redner ist der Kollege Fritz Kuhn für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Herr Gysi, das war eine skurrile Mischung aus dummem Zeug, das Sie hier vorgetragen haben. Das habe ich selten gehört.
({0})
Ich sage Ihnen, warum. Herr Gysi, Sie haben sich hier
aufgeblasen wie ein Ochsenfrosch und gesagt, nur ein
Fünftel der Mädchen in Afghanistan könnten zur Schule
gehen, nicht fünf Fünftel. Sie haben aber niemals gesagt,
wie Sie es seit 2001 durchgesetzt hätten, dass zumindest
dieses Fünftel zur Schule gehen kann. Das ist absolut
billig.
({1})
Herr Gysi, Sie haben argumentiert, wir, die Grünen,
die CDU/CSU, die SPD und die FDP, seien inkonsequent, weil wir in vielen Regionen der Welt, in denen es
ebenfalls Menschenrechtsverletzungen gebe, nicht eingriffen. Das ist noch nicht einmal winkeladvokatisch,
sondern einfach nur unter der Gürtellinie. Ich stelle fest,
dass Ihr Vorsitzender, wenn er nach Kuba fährt, keinen
Piep zu dem sagt, was dort passiert.
({2})
Herr Dehm, ich will Ihnen auch den Grund sagen. Sie sagen nichts zur dortigen Situation der Menschenrechte,
weil es Sie so sehr an die DDR erinnert. Was dort geschehen ist, haben viele von Ihnen als ganz normal empfunden.
({3})
Ich muss Sie enttäuschen, was unsere Position angeht.
Die Mehrheit hat auf dem Parteitag der Grünen entschieden, dass wir für ISAF und gegen den Tornado-Einsatz
sind. Deswegen wird die Mehrheit meiner Fraktion bei
der verbundenen Abstimmung nicht zustimmen, also
sich enthalten oder mit Nein stimmen. Aber wir haben
klar gesagt, dass wir gegen OEF und für ISAF sind. Ein
Antrag auf unserem Parteitag, der den sofortigen Abzug
der ISAF-Truppen vorsah, hat nur 10 Prozent der Stimmen erhalten und wurde nicht verabschiedet. Das ist die
Sachlage.
Herr Westerwelle, Sie haben sich über unseren Parteitag so sehr gefreut und gesagt - das haben alle gehört -,
wir, die Grünen, seien nicht regierungsfähig, während
die FDP eine andere Einschätzung der Verantwortung in
der Welt habe. Ich will in diesem Zusammenhang daran
erinnern, wie die FDP bei den Abstimmungen in den
letzten Jahren die Verantwortung in der Welt wahrgenommen hat. Die FDP hat 2003 und 2004 - Herr Hoyer,
Sie waren in Ihrer Rede sehr unvorsichtig - den Bundeswehreinsatz im Rahmen des ISAF-Mandats abgelehnt.
Danach hat sie wieder zugestimmt. Die FDP hat 2003
das OEF-Mandat mit deutlicher Mehrheit abgelehnt. Des
Weiteren hat die FDP zweimal gegen die UNIFIL-Mission gestimmt, genauso wie gegen die EUFOR-Mission
anlässlich der Wahlen im Kongo 2006 und das KFORMandat im Juni 2001. Wenn Sie meinen, dass derjenige,
der irgendwann einmal gegen einen Einsatz gestimmt
hat, nicht regierungsfähig ist, Herr Westerwelle, dann
kann ich Ihnen nur sagen, dass Sie angesichts des Abstimmungsverhaltens Ihrer Fraktion auf 20 Jahre nicht
regierungsfähig sind.
({4})
Ich will nun zur Sache, zu den Mandaten, kommen.
Wir sind für einen Strategiewechsel. Auch die Bundesregierung, insbesondere Herr Steinmeier, tritt für einen
Strategiewechsel ein. Aber die entscheidende Frage ist,
ob ein Strategiewechsel in Afghanistan tatsächlich stattfindet, wenn OEF in der heutigen Form bestehen bleibt.
Ein Strategiewechsel ist kein theoretisches Konstrukt,
das wir uns im Parlament oder in den Ausschüssen
ausdenken. Vielmehr geht es um die Frage, was vor Ort
tatsächlich stattfindet und von der Bevölkerung wahrgenommen wird.
Es war nicht Anfang des Jahres, wie Sie, Herr Jung,
gesagt haben, dass es Klagen über die Strategie von OEF
gab. Britische Führungsoffiziere haben sich noch im August dieses Jahres beklagt und gesagt - lesen Sie die
New York Times vom 9. August -, dass sie bei sich im
Süden kein OEF haben wollten, weil es kontraproduktiv
sei und der Glaubwürdigkeit des ISAF-Einsatzes des britischen Kontingents zuwiderlaufe. An der Stelle schweigen die Kanzlerin und auch der Außenminister nachhaltig.
Die Frage, die Kollegen meiner Fraktion und ich
mehrfach gestellt haben, lautet: Haben Sie auf dem politischen Wege im Dialog mit der amerikanischen Regierung angemahnt, dass OEF eine andere Strategie verfolgt, als es in der Vergangenheit der Fall war? Welches
Ergebnis wurde erreicht, und welche Verabredung gab es
dazu? Dazu sagen Sie nichts. Sie sagen auch dem Parlament nicht, was genau bei OEF geschieht. Dazu gibt es
keinerlei präzise Aufklärung. Wir haben den Eindruck,
dass Sie es nicht wissen und nicht wissen können.
Allen muss klar sein, Herr Hoyer, warum wir immer
auf dem Unterschied bestehen: ISAF ist ein Mandat, das
auf dem Multilateralismus gründet. Die NATO entscheidet. Ich stimme Ihnen ausdrücklich zu, dass - das
haben Sie vorhin gesagt - die NATO politischer als in
der Vergangenheit entscheiden muss. OEF hingegen ist
ein unilaterales Mandat, bei dem die Amerikaner entscheiden, was geschieht, und niemanden, weder diejenigen, die dabei sind, noch diejenigen, die nicht dabei sind,
darüber aufklären, welche Strategie verfolgt wird. Dies
muss aufhören. Das ist der Grund, warum wir sagen,
dass OEF keine sinnvolle strategische Legitimation hat.
({5})
Frau Bundeskanzlerin, Sie müssten einmal sagen, wie
Sie das sehen; denn seit Sie Kanzlerin sind, verstecken
Sie sich systematisch, wenn es um die Beantwortung
dieser Frage geht. Wir können Ihnen das nicht durchgehen lassen.
Übrigens, Herr Außenminister, auch die Legitimation
der Operation Enduring Freedom wird immer öfter mit
Fragezeigen versehen. Erinnern wir uns an das
Jahr 2001. Der Grund, warum der Sicherheitsrat dem zugestimmt und OEF legitimiert hat, war, dass der Angriff
auf New York von Terrorlagern aus, die in Afghanistan
lagen, ausgeführt wurde und somit der Verteidigungsfall
eingetreten war. Diese Begründung kann man zum heutigen Zeitpunkt nicht mehr anführen. Heute geht es um die
Frage, ob die Taliban wieder zurückkommen, wenn
ISAF zurückgezogen würde. Wir sagen klar, dass dem so
wäre und wir das deswegen nicht tun können.
Aber die Frage hinsichtlich der Legitimation müssen
Sie beantworten. Die Terroristencamps sind heute in
Pakistan oder sonst wo auf der Welt, aber mit Sicherheit
nicht mehr wie vor 2001 in Afghanistan. Deswegen
meine ich, dass Sie sich vor einer Antwort drücken.
Auch die Verschiebung der Entscheidung über OEF
- ich weiß nicht genau, ob sie verschoben wurde, aber
man kann das manchmal hören - auf einen Zeitpunkt
nach dem SPD-Parteitag ist nicht dazu geeignet, die Diskussion in diesem Hause über ein Gesamtkonzept für
Afghanistan zu erleichtern.
({6})
Frau Merkel und Herr Steinmeier, wir sind für einen
Strategiewechsel. Wir finden, dass der zivile Aufbau zu
schleppend erfolgt und die Mittel in Höhe von
25 Millionen Euro dafür zu gering sind. Ich glaube, dass
Deutschland - die Amerikaner haben das übrigens anders gemacht - einen größeren Sprung in Richtung ziviler Aufbau machen müsste, als dies bisher geschehen ist.
({7})
Den Einsatz der Tornados lehnt meine Partei ab - übrigens im Unterschied zu vielen in der Fraktion -, weil er
in einem Kontext zu OEF stehe und von dieser Operation nicht unterschieden werden könne. Andere von uns
- ich gehöre dazu - sagen, dass die Tornados auch dem
Schutz der ISAF-Truppen dienen. Es gibt also eine Differenz. Aber eines, was ich der Bundesregierung sagen
möchte, ist wichtig: Eine klare Evaluation dessen, was
die Tornados in diesem halben Jahr tatsächlich gemacht
haben, hat bisher weder in den Ausschüssen oder im Parlament noch in der Öffentlichkeit stattgefunden, Frau
Merkel. Sie sagen das eine oder andere in Unterrichtungen, aber Sie legen keine klare Evaluation der einzelnen
Aufklärungsflüge und dessen, was daraus praktisch gefolgt ist, vor.
({8})
Von diesem Vorwurf kann ich Sie nicht entlasten. Eine
Evaluation wäre die Pflicht der Bundesregierung, aber
Herr Jung, der dafür zuständig ist, hat dies bisher nicht
getan.
({9})
Ich komme zum Schluss. Wir als Grüne stehen zur
Verantwortung Deutschlands in Afghanistan. Wir tun
dies am Beispiel des ISAF-Mandats. Wir lehnen OEF
ab, wenn im Oktober oder November in diesem Hohen
Haus über die Verlängerung des Mandats diskutiert und
entschieden wird. Ich will für meine Fraktion ganz deutlich machen, dass sich an der Grundüberzeugung, dass
es in der Situation die Aufgabe deutscher Politik ist, zu
helfen und für den zivilen Aufbau und den Strategiewechsel in Afghanistan einzutreten, nichts, aber auch gar
nichts geändert hat.
Ich danke Ihnen.
({10})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Gysi
noch einmal das Wort.
Präsident Dr. Norbert Lammert
({0})
Herr Präsident! Herr Kuhn, ich will auf Ihre Beleidigungen gar nicht weiter eingehen, sondern nur auf einen
Vorhalt: Sie sagen, es sei eine beachtliche Leistung, dass
nach sechs Jahren jedes fünfte Mädchen zur Schule
gehe, und wir hätten nicht erklärt, wie wir das hätten
durchsetzen können. Wenn nach sechs Jahren jedes
fünfte Mädchen zur Schule geht und die Zeitabschnitte
so bleiben, brauchen wir noch ungefähr 30 Jahre, bis alle
Mädchen zur Schule gehen. Ich halte das nicht für eine
Leistung. Ich halte das für viel zu wenig. Dort üben die
Besatzungsmächte die Macht aus, die für entsprechende
Veränderungen sorgen können.
({0})
- Ich sage Ihnen gleich etwas dazu. Warten Sie doch ab!
Sie halten keine Bemerkung aus, nur weil Sie in der Bevölkerung in der Minderheit sind. - Lassen Sie mich das
noch einmal sagen: Das ist überhaupt keine Leistung.
Ich bleibe dabei.
Entscheidend ist das unterschiedliche Konzept. Ich
bin für die Selbstbefreiung der Völker.
({1})
Ich bin dafür, dass man die reichhaltig vorhandenen demokratischen Kräfte in Afghanistan unterstützt. Jetzt haben wir eine Macht der Nordallianz, der Warlords und
der Drogenbarone. Das ist doch kein menschenrechtlicher Fortschritt. Ich bitte Sie! Deshalb müssen wir andere Kräfte unterstützen. Das funktioniert militärisch
nicht. Das haben die letzten sechs Jahre bewiesen.
({2})
Zur Erwiderung Herr Kollege Kuhn.
Herr Gysi, niemand von meiner Fraktion - ich nehme
auch an, niemand von den anderen Fraktionen - würde
sagen, es sei ausreichend, dass ein Fünftel der Mädchen
in die Schulen gehen können. Selbstverständlich wollen
wir mehr. Das steht doch gar nicht zur Diskussion. Zur
Diskussion steht aber, dass Sie keinerlei Beitrag zu der
von Ihnen proklamierten Selbstbefreiung der Völker geleistet haben, weil Sie immer Nein sagen. Haben Sie eigentlich noch in Erinnerung, was das Taliban-Regime
vor 2001 in Afghanistan gemacht hat?
({0})
Daher ist Ihre Forderung nach Selbstbefreiung der Völker nichts anderes als eine leere Phrase, mithin sogar
eine Ausrede.
({1})
Nächster Redner für die SPD-Fraktion ist Kollege
Christoph Strässer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Dr. Gysi, ich sage es ganz deutlich:
Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Rede. Ich bin Ihnen
deswegen sehr dankbar - ich bin mir ziemlich sicher,
dass es nicht nur mir, sondern vielen Kolleginnen und
Kollegen aus meiner Fraktion auch so geht -, weil die
Zustimmung zu diesem Mandat nach Ihrem Redebeitrag
bei uns deutlich höher geworden ist. Die letzten Zweifel,
die ich hatte, sind durch Ihren zynischen Beitrag über die
Menschenrechte in Afghanistan zu einem großen Teil
beseitigt worden. Herzlichen Dank für diesen Beitrag.
({0})
Ich will es anhand der Frage, die Sie aus meiner Sicht
in wirklich unerträglicher Weise gestellt haben, verdeutlichen. Mir ist es nicht ganz so wichtig, welche Leistung
wie von Ihnen bewertet wird. Wenn aber von Ihrem Parteivorsitzenden in Kuba dem Rest dieses Hauses eine
großspurige Auseinandersetzung mit Menschenrechten
vorgeworfen wird, dann wird ein Schuh daraus. Denn es
ist Ihnen offenbar völlig egal ist, ob 5 oder 6 Millionen
Menschen in Afghanistan wieder zur Schule gehen können. Fahren Sie einmal nach Afghanistan und reden Sie
mit den Mädchen. Fragen Sie sie, was sie davon halten,
wie Sie über diese Situation reden. Das ist zynisch und
menschenverachtend. Damit haben Sie sich endgültig
aus der Debatte über Menschenrechte verabschiedet.
Das ist die Wahrheit, die hier heute zutage gekommen
ist.
({1})
In diesem Punkt haben Sie zum Teil recht: Uns allen
verläuft die Entwicklung in Afghanistan viel zu langsam. In vielen Bereichen müsste viel mehr viel schneller
geschehen. Wir tragen Verantwortung für den Aufbau
der zivilen Strukturen und der Gerichtsbarkeit. Dort ist
es schlicht und ergreifend nicht vorangegangen.
Die Arbeitsgruppe Rechtspolitik meiner Fraktion
hat dem Rechtsausschuss und anderen Institutionen des
Deutschen Bundestages zum Beispiel empfohlen, doch
einmal nach Afghanistan zu fahren und dort am Aufbau
mitzuwirken, wenn schon Delegationsreisen durchgeführt werden. In Afghanistan braucht man Rat und Unterstützung, auch materieller und ideeller Art, dringlicher als zum Beispiel die Juristen in Neuseeland oder in
Australien. Vielleicht sollten wir uns einmal an die
eigene Nase fassen und überlegen, was wir selber besser
machen können.
({2})
Ich möchte noch auf den Zeitfaktor eingehen. Darüber sollten wir hier in Deutschland einmal intensiver
diskutieren. Wie wir gehört haben, gibt es in Afghanistan seit mehr als 30 Jahren Krieg, Zerstörung, Missachtung der Menschenwürde, Missachtung der elementaren
Grundregeln des menschlichen Zusammenlebens, auch
durch Drogenbarone - das bestreitet in diesem Saal doch
kein Mensch -, auch durch Warlords und die Taliban.
Man hat sich die ehrgeizige Aufgabe gestellt, im Rahmen der internationalen Staatengemeinschaft dafür zu
sorgen, dass die Missstände abgeschafft und dass der
Wiederaufbau vorangebracht wird. Wer kann schon,
bitte schön, dafür Gewähr bieten, dass diese Aufgabe in
sechs, sieben oder acht Jahren erfolgreich abgeschlossen
ist?
Ich empfehle, bei der Diskussion über Demokratieentwicklung und über Menschenrechtsentwicklung in
anderen Ländern und in anderen Gesellschaftsformen
ein bisschen mehr Bescheidenheit und auch ein bisschen
mehr Demut an den Tag zu legen. Schauen wir doch einmal in unsere eigene Geschichte: Vom Zeitpunkt der
Aufklärung bis zur Durchsetzung der Menschenrechte in
Europa sind 300 Jahre vergangen. Ich hoffe nicht, dass
wir den Aufbau in Afghanistan ebenfalls 300 Jahre lang
unterstützen müssen. Aber zu fordern, dass das alles in
sechs oder sieben Jahren geschieht, ist absurd. Niemand
konnte glauben, dass das gelingt. Wir sollten beharrlich
daran arbeiten, dass die Situation dort auf Sicht besser
wird. Mit dieser Aufgabe haben wir es nämlich zu tun.
({3})
Ich stelle einmal etwas polemisch fest: Vom Ende des
Zweiten Weltkrieges bis zur Umsetzung demokratischer
Grundregeln auf dem gesamten deutschen Boden sind
über 40 Jahre vergangen. Das sollten wir im Hinterkopf
behalten. Was Deutschland angeht, waren die Voraussetzungen anders. Schon allein deshalb sollte man Demut
zeigen.
({4})
Ich komme zum Schluss. Hier wurde darauf hingewiesen, dass sich nach dem ZDF-Politbarometer
49 Prozent der Befragten für einen Verbleib in Afghanistan ausgesprochen hätten. Das ist für mich nicht das zentrale Problem.
Stichwort Tornado-Jets: Ich bekenne ganz klar, dass
ich in diesem Hohen Hause vor einem halben Jahr gegen
den Tornado-Einsatz gestimmt habe. Ich habe das damals aus Überzeugung getan. Wenn ich heute wieder nur
die damals vorliegenden Informationen hätte, dann
würde ich heute wieder dagegenstimmen.
Was ich allen empfehle, ist, sich Klarheit darüber zu
verschaffen, was Tornados machen. Ich habe gelernt:
Meine Befürchtungen, dass es durch den Einsatz von
Tornados im Rahmen dieses Mandats zu einer Unterstützung von Bodentruppen kommt, waren unberechtigt.
Deshalb werde ich zwar mit großen Bauchschmerzen,
aber mit voller Überzeugung mit meiner vorherigen Position brechen. Ich spreche mich dafür aus, dass dieser
Antrag der Bundesregierung durch den Deutschen Bundestag mit großer Mehrheit angenommen wird. Ich
werde dafür werben, dass es dafür auch eine gesellschaftliche Akzeptanz in unserem Land gibt.
Herzlichen Dank.
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Birgit Homburger
für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu
Beginn unserer heutigen Diskussion über den Antrag der
Bundesregierung möchte ich sehr deutlich sagen, dass
die FDP-Bundestagsfraktion die Zusammenlegung der
Mandate von ISAF und OEF begrüßt. Ich denke, das
sorgt für mehr Flexibilität bei der Umsetzung der Mandate und für Synergieeffekte, und das begrüßen wir.
Wenn man heute Bilanz zieht, stellt man fest: Durch
die Aufklärungsaktivitäten der Tornados kann ein
Beitrag zur Verbesserung der Sicherheitslage geleistet
werden. Das dient letztlich auch dem Schutz der dort stationierten Soldatinnen und Soldaten, aber auch der Zivilbevölkerung. Herr Kuhn, Sie haben hier mit Blick auf
das Abstimmungsverhalten darauf hingewiesen, dass die
FDP-Bundestagsfraktion im Jahre 2003 und im Jahre
2004 den Antrag zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem ISAF-Einsatz
abgelehnt hat. Ja, Herr Kuhn, wir haben es damals abgelehnt, weil es kein durchgängiges PRT-Konzept gab. Wir
haben immer gesagt, dass wir in der Fläche Wiederaufbauteams brauchen. Das hat sich am Ende auch als richtig herausgestellt. Wir haben das OEF-Mandat im Jahr
2003 abgelehnt, weil die Obergrenze von der Bundesregierung damals auf 3 100 Soldaten angesetzt war, aber
nur 700 im Einsatz waren. Die FDP lehnt Mondzahlen
und solche Vorratsbeschlüsse schlicht ab. - Das waren
die Begründungen.
Herr Kuhn, der entscheidende Unterschied zwischen
unserer Position und Ihrer Position heute ist, dass wir
uns immer bemüht haben, uns intensiv mit diesen Fragen
auseinanderzusetzen, und dann für uns auch ein Ergebnis gefunden haben. Wir sind zu unseren Ablehnungen
damals nicht in der Folge eines innerparteilichen Streits
gekommen, sondern wir haben unsere Ablehnungen klar
begründet.
({0})
Wir haben damit auch etwas erreicht. Es hat sich in der
Folge in all den Punkten, die wir angemahnt hatten, eine
Veränderung ergeben. Deswegen haben wir dann auch
wieder zugestimmt.
({1})
Wenn wir das alles betrachten, ist es heute wichtig, zu
fragen: Wo standen wir vor einem Jahr, und wo stehen
wir heute? Das betrifft vor allen Dingen die Frage nach
der Umsetzung des Strategiewechsels, nämlich hin zu
einem stärkeren Gewicht für mehr Wiederaufbau und
zivil-militärische Zusammenarbeit. Im Sommer wurden
Diskussionen über ein immer größeres militärisches Engagement geführt. Das ist falsch. Wir werden die Lage
allein durch immer größeres militärisches Engagement
nicht in den Griff bekommen; vielmehr bedarf es eines
Gesamtkonzepts und der Umsetzung des angekündigten
Strategiewechsels.
Wir als FDP-Bundestagsfraktion erkennen hier Bewegung, beispielsweise bei den Bemühungen, im Rahmen
der militärischen Operation zivile Opfer zu vermeiden
- es gibt neue Einsatzregeln -, beispielsweise beim Ansatz der Bundesregierung, im Bereich der zivil-militärischen Zusammenarbeit die Präsenz in der Fläche weiter
auszubauen. Es ist kein Geheimnis, dass die westlichen
Aufbauanstrengungen anfangs zu sehr auf die Städte
konzentriert waren und zu spät auf die Fläche ausgedehnt worden sind. Deshalb begrüßen wir es, dass es
jetzt weitere regionale Beraterteams geben soll. Wir sollten weiter an dieser Optimierung des Wiederaufbaus und
der zivil-militärischen Zusammenarbeit arbeiten.
({2})
Die Berichterstattung der letzten Wochen war immer
wieder von schlechten Nachrichten dominiert. Sicherlich, die Sicherheitslage bleibt angespannt. Gerade hat
der Kommandeur der internationalen Schutztruppe ISAF
in der Nordregion, General Warnecke, gesagt, die Qualität der Anschläge habe sich deutlich verändert. Das
möchte ich zum Anlass nehmen, nochmals deutlich zu
machen: Wir als FDP-Fraktion erwarten, dass die Soldatinnen und Soldaten die bestmögliche Ausrüstung mit in
den Einsatz bekommen.
({3})
Wir erkennen, dass es hierbei Fortschritte gibt, aber
wir erwarten, dass bestimmte Anstrengungen weiter intensiviert werden und die Versorgung mit entsprechendem Material beschleunigt wird. Ich sage an dieser
Stelle sehr deutlich: Es müsste manchmal schneller gehandelt werden. Das wird nur funktionieren, wenn die
teilweise langwierigen bürokratischen Verfahren zur
Prüfung von Materialanforderungen vor solch einem
Einsatz deutlich verbessert werden. Andere Partner sind
in dieser Frage schneller, Herr Minister, und an diesen
Partnern sollten wir uns orientieren.
({4})
Der Aufbau von Militär und Polizei und eines funktionierenden Justiz- und Strafvollzugswesens bleibt das
Herzstück der Bemühungen. Deshalb ist es richtig, die
Ausbildung des Militärs zu forcieren. Deshalb ist es
auch richtig, dass wir uns in der Polizeiausbildung engagieren.
An dieser Stelle muss man, wenn man resümiert, fragen, was hier geschehen ist. Was bei der Polizeiausbildung erreicht worden ist, ist ein einziges Fiasko, und es
zeichnet sich ab, dass es weitere Probleme geben wird.
Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass es zu der im
Rahmen der ESVP-Mission geplanten Aufstockung der
Anzahl der Ausbilder auf 195 wirklich kommt. Das
sollte im Oktober erreicht sein. Wir haben jetzt
80 Ausbilder vor Ort. Das ist deutlich zu wenig.
Deswegen ist es von zentraler und entscheidender Bedeutung, dass wir es gemeinsam mit den europäischen
Partnern schaffen, die Polizeiausbildung zu verstärken.
({5})
Abschließend möchte ich eines sagen: Die Probleme,
vor denen wir stehen, sind vielfältig und komplex: Korruption, das Fehlen funktionierender staatlicher Strukturen, die Problematik des Drogenanbaus und die Probleme im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet.
Meine Damen und Herren, bei uns besteht der Eindruck, dass es nicht nur um eine bessere Abstimmung
zwischen den Mandaten bei den Partnern geht, sondern
auch um eine bessere politische Koordinierung. Daher
erbitten wir vonseiten der FDP von der Bundesregierung, dass sie uns vor der abschließenden Entscheidung
darlegt, wie der Strategiewechsel umgesetzt werden
kann und wie es vor allen Dingen zu einer besseren politischen Koordinierung innerhalb der NATO kommen
kann. Diese Punkte müssen wir nach unserer Überzeugung hier in den Mittelpunkt stellen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Andreas
Schockenhoff für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Völlig zu Recht haben mit einer Ausnahme alle Vorredner auf die erreichten Fortschritte beim Wiederaufbau
in Afghanistan hingewiesen. Bis 2001 war Afghanistan
auf einen Entwicklungsstand des Mittelalters zurückgefallen. Heute haben wir die Lebenssituation der Menschen durch die Versorgung mit Trinkwasser und Strom
sowie den Bau von Straßen, Krankenhäusern und Schulen verbessert. Wo immer Infrastrukturverbesserungen
geschaffen wurden, gibt es einen sichtbaren Wirtschaftsaufschwung.
All diese Fortschritte wären ohne militärische Absicherung nicht möglich gewesen.
({0})
Es ist doch bekannt, dass beispielsweise Lehrerinnen
von Mädchenschulen von radikalen Taliban ermordet
und Mädchenschulen niedergebrannt wurden, weil den
Taliban Bildung und Gleichberechtigung von Frauen
nicht ins ideologische Konzept passen. Wer ISAF als
militärische Schutzkomponente des Wiederaufbaus ablehnt und damit den Abzug der internationalen Streitkräfte fordert, trüge die Verantwortung dafür, dass
Afghanistan wieder zurück ins Mittelalter terrorisiert
würde.
({1})
Die Folge wäre, Afghanistan den Terroristen und den
Drogenbaronen zu überlassen. Die Menschen in Afghanistan jedenfalls - einige von ihnen sitzen heute bei uns
auf der Zuschauertribüne - wollen das nicht. Auch liegt
dies nicht in unserem Sicherheitsinteresse. Wiederaufbau geht nicht ohne militärische Absicherung.
Deshalb trägt jeder die gleiche Verantwortung, auch
derjenige, der zwar zu den Wiederaufbaumaßnahmen Ja
sagt, sich aber der Stimme enthalten will, weil er zur militärischen Schutzkomponente oder auch nur zu Teilen
davon Nein sagt. Dies gilt erst recht für diejenigen, die
wegen der Aufklärungstornados Nein sagen oder sich
enthalten wollen. Wer Nein zu einer Aufklärungskomponente sagt, die auch dem Schutz der Bevölkerung dient,
und deshalb dem Mandat nicht zustimmen will, der sagt
zugleich Nein zur gesamten Schutzkomponente und damit in der Konsequenz auch Nein zu Wiederaufbau und
Modernisierung.
({2})
Verehrter Herr Kuhn, Sie haben das Notwendige zum
Kollegen Gysi gesagt. Aber wie wollen Sie eigentlich einer afghanischen Frau, die endlich an einer Universität
studieren kann, und einem Mädchen, das eine bessere
Lebensperspektive hat, weil es in die Schule gehen kann,
erklären, dass ihnen diese Chance wieder genommen
würde oder sie gar um ihr Leben fürchten müssten, weil
wegen der Tornadoluftaufklärung die gesamte Schutzkomponente abgelehnt wird? Das wäre doch die absurde
Konsequenz!
Herr Kuhn, Sie haben in dieser Woche schon ganz offen vor Journalisten und auch heute dargelegt, die Führung und die Mehrheit Ihrer Fraktion seien für ISAF und
die Tornadoaufklärung, Sie hätten sich aber untereinander abgesprochen, dass mehr Fraktionsmitglieder mit
Enthaltung und Nein stimmen müssten als ihrem Gewissen folgen und zustimmen dürften. Dies, lieber Herr
Kuhn, hat mit Freiheit des Abgeordnetenmandats nichts
zu tun; das ist blanker Zynismus und Flucht aus der Verantwortung.
({3})
Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt den Afghanistaneinsatz, auch wenn vieles besser gemacht und verstärkt
werden muss, was den Beitrag der internationalen Gemeinschaft, aber vor allem auch die Arbeit der afghanischen Verantwortlichen betrifft. Dringend erforderlich
ist der verstärkte Kampf gegen die Korruption. Sonst
kann die afghanische Regierung nicht das Vertrauen
ihrer Bevölkerung gewinnen oder die international getroffenen Vereinbarungen umsetzen. Daher muss die internationale Gemeinschaft Präsident Karzai hier zu härterem Durchgreifen drängen.
Der Kampf gegen Drogenanbau und -handel zeigt
Wirkung. Die Zahl der drogenfreien Provinzen konnte in
diesem Jahr von 6 auf 13 erhöht werden. Das muss unbedingt verstärkt werden; denn noch immer gibt es
21 Provinzen, in denen Drogen angebaut werden.
Nicht zuletzt muss unsere Entwicklungshilfe auch
im bisher vernachlässigten Süden und Südosten Afghanistans verstärkt greifen, um der dortigen paschtunischen Bevölkerung eine Entwicklungsperspektive und
Zukunftshoffnung zu geben. Je effektiver afghanische
Sicherheitsstrukturen geschaffen werden, desto früher
werden wir zusammen mit der internationalen Gemeinschaft unseren militärischen Beitrag reduzieren und
irgendwann einmal beenden können. Deshalb müssen
Polizei- und Militärausbildung beschleunigt und erweitert werden.
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird dem Antrag der Bundesregierung zum
Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr zustimmen, weil
die Bundesregierung ein überzeugendes AfghanistanKonzept zur Verbesserung und Verstärkung beim Wiederaufbau und bei der Ausbildung von Polizei und Militär
vorgelegt hat. Weil Wiederaufbau nicht ohne militärische
Schutzkomponente möglich ist, stimmen wir dem ISAFEinsatz mit allen Komponenten zu. Es ist richtig, dass
sich der Einsatz der Bundeswehr auf den Norden und auf
Kabul konzentriert. Es wäre unverantwortlich, würden
wir angesichts der zunehmend schwieriger werdenden Sicherheitslage unsere verfügbaren Kräfte überdehnen.
Richtig ist aber auch, was der Verteidigungsminister
dargelegt hat: Das Mandat gilt in seinem vollen Umfang,
und das schließt ein, dass die Bundeswehr für zeitlich
und im Umfang begrenzte Unterstützungsmaßnahmen,
sofern diese zur Erfüllung des ISAF-Gesamtauftrages
unabweisbar sind, in Gesamtafghanistan eingesetzt werden kann. Das tun wir bereits, und dieses Mandat gilt für
alle Kräfte der Bundeswehr. Es gehört zur Erfüllung des
ISAF-Gesamtauftrags, dass wir im Notfall in der Lage
sind, auch im Süden zeitlich und im Umfang begrenzt
effektiv und robust zu helfen.
Wir brauchen für die Stabilisierung und den Wiederaufbau Afghanistans mehr Zeit, mehr Energie, mehr Geduld und mehr Geld, bis wir sicher sein können, dass
von Afghanistan keine Bedrohung für die Sicherheit
Deutschlands mehr ausgeht. Afghanistan darf nicht wieder zur Brutstätte des Terrorismus werden.
Vielen Dank.
({4})
Zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin Monika
Knoche das Wort.
Herr Präsident! Die Möglichkeit zur Kurzintervention
kommt etwas spät; ich wollte direkt auf die Rede von
Herrn Kollegen Strässer von der SPD reagieren. - Ich
muss Ihnen sagen: Als Frau in der Politik bin ich mehr als
überrascht, mit welcher Selbstgerechtigkeit Sie über die
tatsächliche heutige Lage der Frauen in Afghanistan
hinweggehen. Ich finde es auch nicht korrekt, dass der
Auswärtige Ausschuss, der gestern Parlamentarierinnen
und Parlamentarier des afghanischen Parlaments eingeladen hatte, es nicht für erforderlich gehalten hat, Malalai
Joya in den Ausschuss einzuladen. Sie ist zurzeit in Berlin
und kann authentisch Auskunft darüber geben, was es bedeutet, in der angeblich demokratischen Regierung unter
Karzai als Frau die Wahrheit über die Verbindung von
Korruption und Drogenhandel in der Regierung zu sagen.
Sie ist als Parlamentarierin ausgeschlossen worden, und
das kann in gar keinem Fall als Beweis für eine demokratische Realität in Afghanistan bezeichnet werden.
({0})
Wir haben Berichte, auch von den Frauen aus der
afghanischen Delegation in Berlin, die deutlich zum
Ausdruck bringen: Die Situation der Frauen ist unter den
Bedingungen der heutigen Karzai-Regierung, die quasi
im Rahmen der Petersberger Gespräche installiert
wurde, so schlimm, wie sie auch vorher war.
({1})
Wer damals - ich gehörte zu den Kritikerinnen des Krieges unter den Grünen - genau hingeschaut hat, wer in
die afghanische Regierung gesetzt wird, hat wissen können und wissen müssen, dass die Korruption in diese
Regierung gesetzt wird. Unter solchen Bedingungen erlaube ich es mir als Frau nicht, mich mit scheinheiligen
Argumenten zufriedenzugeben, die sich auf die Situation
der Mädchen in den Schulen begrenzen.
Wir wissen heute, dass Mädchen unter der Macht der
Warlords und gewissermaßen unter der Obhut der Regierung Karzai nach wie vor als Tauschobjekt für Autos und
Hunde betrachtet werden. Es ist nach wie vor so, dass
80 Prozent der Gerichtsbarkeit von den Stammesfürsten
ausgeübt wird. Diese gehen mit den Frauen genauso übel
und schlimm um wie die Taliban.
Ich bin nicht erst seit heute Parlamentarierin. Ich empöre mich, wenn die Situation der Frauen als kriegslegitimierender Grund herangezogen wird.
({2})
Das ist ein Missbrauch der Frauen in diesem instrumentellen Verhältnis. Keiner und keine derer, die heute die
weitere militärische Präsenz in Afghanistan mit der
Situation der Frauen begründen, hat sich vor dem
11. September um die Lage der Frauen unter den Taliban,
die unter den USA groß geworden sind, gekümmert.
Kommen Sie mir also, bitte sehr, nicht mit diesen scheinheiligen menschenrechtlichen Argumenten! Herr
Gregor Gysi hat vollkommen recht gehabt, als er diese
Doppelzüngigkeit in Bezug auf die Menschenrechtsfrage
deutlich dargestellt hat.
({3})
Es ist schlichtweg infam
Frau Kollegin Knoche, ich muss Sie bitten, zum Ende
zu kommen.
- ich bin sofort fertig -, wenn Sie sagen, dass diejenigen - dazu gehören wir -, die gegen den Abzug des Militärs sind, kein Engagement für die Zivilbevölkerung
übrig hätten. Wer das sagt, verbreitet schlichtweg Unwahrheiten. Niemand anderes in diesem Haus außer uns
sagt, dass die Mittel für das Militär konsequent für den
zivilen Aufbau in diesem Land umgewidmet werden
müssen.
({0})
Zur Erwiderung hat Herr Kollege Strässer das Wort.
Frau Kollegin Knoche, das ist schon ein starkes
Stück, was Sie hier vortragen. Dass Sie Menschen, die
sich über die veränderte Situation von afghanischen
Schulmädchen unterhalten und Gedanken machen, als
selbstgerecht, zynisch und menschenrechtlich mit doppelten Standards ausgestattet kennzeichnen, das ist Zynismus!
({0})
Wenn Sie richtig zugehört hätten, dann würden Sie vielleicht respektieren und akzeptieren, dass zum Beispiel
ich in meiner Rede über die Situation der Frauen in
Afghanistan kein einziges Wort verloren habe. Sie können mir diesbezüglich gar nichts vorwerfen, außer vielleicht, dass ich sie nicht erwähnt habe.
Sie sprechen nicht nur die Parlamentarierinnen und
Parlamentarier in diesem Land an, sondern auch ganz
viele NGOs.
({1})
Fragen Sie zum Beispiel einmal die NGO Kinderberg,
die in Kunduz arbeitet, warum in ihrem Bericht über
Basic-health-Projekte in Nordafghanistan unter anderem
steht, dass diese nur mit Unterstützung der Bundeswehr
möglich sind. Ich kann Ihnen diesen Bericht gern zeigen.
In diesem Bericht steht neben anderem, dass die Unterstützung der Bundeswehr unter anderem durch das Identifizieren und Vorschlagen von Einsatzorten der mobilen
Behandlungsteams stattfinde. Ich frage Sie: Wo bekommen sie die Informationen denn her, die sie in die Lage
versetzen, ihre Arbeit dort zu machen? Das ist nur durch
die Informationen der Bundeswehr möglich und durch
nichts anderes.
({2})
Wenn die Bundeswehr aus Afghanistan herausginge,
würden diese Projekte schlicht und ergreifend im Orkus
des afghanischen Landes untergehen.
Lassen Sie mich noch einen letzen Satz sagen: Es
wird hier immer so getan, als sei es die einhellige
Auffassung von NGOs und anderen, dass in Afghanistan
alles besser ginge ohne die Bundeswehr.
({3})
- Entschuldigung, lassen Sie mich bitte einmal ausreden. - Human Rights Watch ist bekanntermaßen kein
Büttel diktatorischer Regierungen weltweit. Human
Rights Watch hat an Sie alle einen Brief geschrieben, aus
dem ich den letzten Satz zitieren möchte:
Deutschlands Rolle in der internationalen Staatengemeinschaft würde aber ein schlechter Dienst
erwiesen, würde die Bundeswehr ihr Engagement
in Afghanistan reduzieren oder gar beenden.
Ich schließe mich diesem Zitat an. Human Rights
Watch hat wie in allen menschenrechtlichen Fragen auch
in dieser Frage vollständig recht. Sie sollten sich das einmal näher anschauen.
({4})
Das Wort erhält nun der Kollege Gert Winkelmeier.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der
Herr Bundespräsident hat aus Anlass des 50-jährigen
Bestehens der Führungsakademie letzten Freitag die dort
ausgebildete militärische Elite in den höchsten Tönen
gelobt. Das hat durchaus etwas für sich, wenn man die
Offiziere der Bundeswehr mit denen des einen oder anderen NATO-Partners vergleicht. Nur habe ich mich in
den letzten Tagen nach dieser Jubiläumsrede sehr gewundert. Ich habe mich gefragt: Wo waren denn die
hochgelobten Eliten? Wo waren der Generalinspekteur,
der Leiter der Führungsakademie und der Kommandeur
des Zentrums Innere Führung? Wo waren die goldbetressten Staatsbürger in Uniform mit ihrer Zivilcourage,
als sie sich anlässlich des Focus-Interviews ihres Ministers schützend vor ihre Wittmunder und Neuburger Piloten hätten stellen müssen? Dazu kann ich nur sagen: Es
reicht nicht aus, einmal im Jahr, am 20. Juli, im Bendlerblock des moralischen Vorbilds zu gedenken, aber zu
kneifen, wenn es darauf ankommt.
Der Bundesminister der Verteidigung hat zu Verfassungsbruch und Straftaten aufgerufen, und die sogenannte Elite hat es Oberst Gertz und einem ehemaligen
Piloten überlassen, sich schützend vor die fliegenden
Besatzungen zu stellen. Statt seinen Rücktritt einzureichen, lässt sich der Inspekteur der Luftwaffe politisch
für das Ziel des Ministers missbrauchen, innere und äußere Sicherheit mithilfe eines ungeheuerlichen Tabubruchs zu verschmelzen.
({0})
Mehr als: Offiziere haben ihre Befehle zu erfüllen,
und zwar ohne Diskussion - so die Financial Times
Deutschland von gestern -, fällt Herrn Stieglitz dazu
nicht ein. Der General sollte eher einmal einen Blick in
das Wehrstrafgesetz und das Soldatengesetz werfen
({1})
und sich an seine Grundpflicht erinnern, Recht und
Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen. So viel zu den Eliten.
Damit komme ich zum Antrag der Bundesregierung.
({2})
Sie beantragen, die Mandate für ISAF und für den Tornadoeinsatz zusammenzulegen, dies jedoch nicht aus
sachlichen Erwägungen. Nein, Sie haben zu einem kleinen schäbigen Trick gegriffen. Es geht Ihnen darum, den
Widerstand in den Koalitionsfraktionen auszuhebeln.
Wer im März dieses Jahres den Tornadoeinsatz abgelehnt hatte, den ISAF-Einsatz aber grundsätzlich befürwortet, soll nun die Kröte durch Verabschiedung eines
Gesamtpaketes schlucken. Ganz nebenbei konnten Sie
so einer Oppositionsfraktion auch noch kräftig in die
Suppe spucken.
Ich bin zwar nicht der Auffassung, dass das ISAFKonzept der Bundeswehr im Norden Afghanistans mit
seiner zivil-militärischen Zusammenarbeit Aussicht
auf Erfolg hat; aber es ist völkerrechtlich nicht zu beanstanden. Es gibt Kollegen, die die zivil-militärische Zusammenarbeit anders bewerten. Darunter sind aber Kollegen, die Luftbilder als Beihilfe zur Bombardierung
einer großen Anzahl Unschuldiger nicht verantworten
wollen. Denen nehmen Sie mit Ihrem Taschenspielertrick die Möglichkeit, sich frei zu entscheiden. Das ist
der Versuch eines Anschlages auf Art. 38 des Grundgesetzes. Es ist ein weiteres Beispiel dafür, wie Sie das
Parlament schleichend zu Ihrem Büttel degradieren.
Seit dem Focus-Interview vom Montag haben wir übrigens auch beim Thema Afghanistan eine neue Situation. Wie kann man denn einer Bundesregierung noch
trauen, die diesen Minister deckt? Da stellen sich doch
noch ganz andere Fragen, zum Beispiel beim Thema restriktive Weitergabe von Luftbildern an den OEF-Kommandierenden mit dem Doppelhut. Ergingen vielleicht
Anweisungen an den deutschen Chef des Stabes, das
nicht zu restriktiv, zu eng zu sehen, um die von der
Kanzlerin reanimierten transatlantischen Beziehungen
nicht zu gefährden? Werden die sogenannten Erfolge
beim Wiederaufbau nicht vielleicht ein wenig aufgehübscht? Werden kritische Meldungen aus dem Protektorat unterdrückt? Diese Fragen müssen Sie sich gefallen
lassen, zumal Ihnen afghanische Experten bei nahezu allem widersprechen, was Sie als Erfolg ausgeben. Fragen
Sie doch einmal Dr. Matin Baraki aus Marburg oder die
NGOs Brot für die Welt, Welthungerhilfe und medico international. Oder fragen Sie das neutrale Rote Kreuz,
was es von Ihrem Konzept hält, zivile Hilfe mit Militär
zu verknüpfen: nämlich gar nichts.
({3})
Sie dürfen sich nicht länger in die eigene Tasche lügen. Sie sind gescheitert. Afghanistan wird zunehmend
irakisiert; das ist die Folge Ihres falschen Kurses. Allein
von 2005 bis 2006 hat sich die Zahl der SelbstmordatGert Winkelmeier
tentate verfünffacht und die der direkten Attentate verdreifacht. Ziehen Sie also die Bundeswehr ab, solange
das noch unter würdigen Umständen geht!
Dem Verteidigungsminister muss ich von dieser Stelle
noch etwas sagen: Herr Minister, Sie haben etwas geschafft, was noch keinem Ihrer Vorgänger gelungen ist:
an sich brave Soldaten ohne Not als Gehorsamsverweigerer auf die Titelseiten zu bringen. Gratulation! Das gab
es noch nicht einmal im Kalten Krieg.
Vielen Dank.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Rainer Arnold für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Unter dem Eindruck meiner letzten Reise nach Afghanistan kann ich Ihnen zwei Dinge berichten:
Die Gespräche mit der afghanischen Zivilbevölkerung haben eines erfreulicherweise sehr deutlich gezeigt:
Die Deutschen sind in Afghanistan außerordentlich erwünscht - das gilt für die zivilen Helfer, in hohem Maße
aber auch für die Soldaten -, weil die Deutschen bei ihrer Arbeit die einheimische Kultur respektieren und die
gewachsenen Strukturen Afghanistans in die Aufbauüberlegungen einbeziehen.
Überall haben wir aber auch eine kritische Anmerkung vernommen: Die Akzeptanz der afghanischen
Regierung sinkt bedrohlich. Wir wissen, dass klare
Worte der Staatengemeinschaft gelegentlich notwendig
sind, wenn es um Korruption geht. Wir wissen aber
auch, dass man Demokratie nicht von außen aufbauen
kann. Es braucht Zeit, bis sich die Demokratie in den
Dörfern und in Kabul ausgebreitet hat. Wir müssen Geduld haben. Problematisch ist, dass mit der sinkenden
Akzeptanz der zentralen Administration auch die Hoffnungen der Menschen in Afghanistan sinken. Es ist ganz
wichtig, dem entgegenzutreten. Das tun wir, indem wir
den Menschen Perspektiven eröffnen, ihnen durch den
zivilen Aufbau Hoffnung geben.
Ich finde es schon bemerkenswert, was Herr Gysi von
den Linken dazu gesagt hat. In einer Hinsicht ist Die
Linke sehr konsequent: Sie verweigert durchgängig, von
der Arbeits- und Sozialpolitik bis zur Außenpolitik, die
Akzeptanz der Wirklichkeit. Sie verdrängt die Realität.
({0})
Folgendes ist die Realität: Afghanistan würde ohne die
Bundeswehr, die in Afghanistan übrigens 700 zivile
Aufbauprojekte durchgeführt hat, in Bürgerkrieg und
Chaos zurückfallen.
({1})
Würde die Nordallianz entsprechend Ihrer Forderung
entwaffnet, würde das Talibanregime dort am Ende die
Oberhand behalten. Das würde bedeuten, dass keine
Frau mehr im Parlament säße, überhaupt keine. Das
würde bedeuten, dass, wie früher, kein einziges Mädchen eine Chance hätte, dass kluge, intelligente Frauen
ihr Dasein in den Kellern fristen müssten. Diesen Weg
schlagen Sie hier vor. Das ist zutiefst menschenverachtend.
({2})
Gleichwohl wissen wir alle, dass ein einfaches Weiter so in Afghanistan nicht ausreicht. Deshalb sind wir
sehr dankbar für die Vorschläge der Bundesregierung.
Ich bin der Meinung, dass in den nächsten Jahren eine
ganze Menge erreicht werden kann. Der Vorschlag, mehr
Ausbildungshilfe zu leisten, Soldaten der ANA im Norden für den Norden auszubilden, ist vernünftig. Wir
müssen darüber diskutieren, ob die Einzelverantwortung
von Nationen für bestimmte Prozesse,
({3})
zum Beispiel im Rahmen der Militärausbildung, im Polizei- oder Justizwesen, richtig ist oder ob wir in Afghanistan nicht eine kohärentere Organisation und Führung
dieser Prozesse brauchen. Das wird eine wichtige Aufgabe für uns in den nächsten Monaten sein.
Herr Kollege Arnold, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, selbstverständlich.
Bitte.
Lieber Kollege Arnold, ein zentraler Punkt ist ja, dass
das Tornado-Mandat jetzt - das ist der Vorschlag der
Bundesregierung - in das ISAF-Mandat einbezogen
werden soll. Als wir im Frühjahr darüber debattiert haben, haben viele Kolleginnen und Kollegen große Sorgen und sogar Ängste geäußert. Sie haben sich gefragt,
wie das Tornado-Mandat in Afghanistan wahrgenommen wird und was dort geschehen wird. Können Sie uns
sagen, wie im Rahmen des Tornado-Mandates nach Ihrer
Kenntnis in Afghanistan agiert wird?
Kollege Kuhn von den Grünen meinte vorhin, wir
wüssten nichts darüber. Herr Kollege, das ist falsch. Zumindest die Obleute im Verteidigungsausschuss verfügen über eine sehr gute Informationsdichte.
Ich kann hier dazu sagen: Wir wissen, dass die Tornados mehr als 500-mal geflogen sind. 83 Prozent dieser
Einsätze waren erfolgreich. Für uns ist besonders wichtig, dass 40 Prozent dieser Flüge im Norden und Westen
des Landes stattgefunden haben, also im deutschen bzw.
italienischen Verantwortungsbereich. Bei den Einsätzen
geht es in erster Linie um Aufklärung im Bereich Infrastruktur; das ist das Allerwichtigste. Es geht darum, festzustellen, ob Straßen verändert wurden. Es geht auch darum, bei Entführungen Aufklärung zu leisten und die
Grenze in dieser Region zu überwachen. Alles in allem
heißt das: Das Tornado-Mandat ist für das ISAF-Mandat
elementar und extrem wichtig.
Die Befürchtung, die immer wieder geäußert wurde,
dass zwei oder drei Stunden, nachdem die Tornados über
ein Gebiet geflogen sind, dort Bomben abgeworfen werden, ist eindeutig zu widerlegen, und zwar deshalb, weil
diese Kollateralschäden - wie der Ausdruck ja heißt -,
die zivilen Opfer, die es leider gibt, dann entstehen,
wenn Bodentruppen Luftunterstützung anfordern müssen, weil sie allein nicht mehr zurechtkommen. Diese
Luftunterstützung können die Tornados gar nicht leisten.
Erstens können sie es nicht, weil sie in Kampfzonen gar
nicht fliegen dürfen.
Herr Kollege Arnold, ich muss Sie bitten, zum Ende
zu kommen.
Ich bin mit der Beantwortung der Zwischenfrage
gleich fertig.
Sehr schön.
Zweitens können sie es nicht, weil ihre Bilder nicht
zeitgleich übermittelt werden können; die Auswertung
dauert anderthalb bis zweieinhalb Stunden. Deshalb ist
diese Sorge nach dem heutigen Kenntnisstand unbegründet. Deshalb kann dieses Mandat mit dem ISAF-Mandat
verbunden werden, und deshalb können wir aus meiner
Sicht mit einer breiten Mehrheit dem Teil, der die Tornados betrifft, zustimmen.
({0})
Es gibt jetzt noch den Wunsch nach einer Zwischenfrage des Kollegen Gehrcke. Wollen Sie die auch noch
zulassen?
Ja, gerne.
Ich bitte, sowohl die Frage als auch die Antwort in einer gewissen Proportion zu der ansonsten verfügbaren
Redezeit zu halten.
({0})
Ich werde mich bemühen, Herr Präsident.
Herr Präsident, ich habe Ihren Hinweis verstanden;
Kollege Arnold sicherlich auch.
Kollege Arnold, können Sie mir bestätigen, dass wir
beide und der Kollege Weisskirchen heute bei einer Unterrichtung im Verteidigungsministerium waren und dort
gebeten worden ist, dass man in der Bevölkerung mehr
propagiert, dass die Tornados nichts mit der Kriegsführung zu tun haben, und dass Kollege Weisskirchen diesem Auftrag sofort nachgekommen ist?
({0})
Kollege Weisskirchen habe ich heute früh dort leider
gar nicht gesehen, Herr Kollege.
({0})
Zweitens kenne ich den Kollegen Weisskirchen als einen
ziemlich eigenständigen Politiker, der nicht einfach Aufträge ausführt.
({1})
Ich glaube, da haben Sie ein falsches Bild vom Parlamentarier Weisskirchen.
({2})
War die Antwort kurz genug, Herr Präsident?
Ja.
Ich möchte jetzt noch darüber reden, was vor uns
liegt. Ich habe den Eindruck, dass eine Chance möglicherweise stärker genutzt werden muss. Meine Beobachtung im Deutschen Bundestag ist, dass viele Parlamentarier sehen, dass mehr Verantwortung übernommen
werden muss. Ich glaube, die Bundesregierung könnte
dies bei zukünftigen Überlegungen durchaus berücksichtigen.
Es gibt ein weiteres ernsthaftes Problem in der Staatengemeinschaft. Die Beobachtung in den NATO-Gremien ist, dass dort gerade so etwas wie NATO-Mikado
gespielt wird: Keiner bewegt sich. Die Deutschen müssen das aus meiner Sicht nicht als Erste tun; als drittstärkstes Kontingent leisten wir wichtige Beiträge. Aber
auf Dauer wird das nicht ausreichen. Wir müssen in der
NATO erreichen, dass das, was Afghanistan zugesagt
wurde und notwendig ist, von den Staaten insgesamt erfüllt werden kann. Ich gehe davon aus, dass wir deshalb
in den nächsten Monaten hier noch wichtige Debatten zu
führen haben.
Nun haben die Linken immer wieder argumentiert,
dass die Bevölkerung diesen Einsatz nicht möchte. Das
ist erstens in einem unglaublichen Maß populistisch, und
zweitens wünsche ich mir eine Zeitung oder ein Institut,
das nicht fragt: Wollen Sie, dass die deutschen Soldaten
heimkommen? Das wollen wir doch alle; jeder vernünftige Mensch will das. Ich wünsche mir eine Umfrage, in
der gefragt wird: Möchten Sie, dass die deutschen Soldaten heimkommen und das Risiko tragen, dass dieses
Land wieder dem Terror anheimfällt
Herr Kollege.
- und Deutschland durch Terrorcamps in Afghanistan
gefährdet wird? Diese Umfrage würde aus meiner Sicht
ganz anders ausgehen.
({0})
Ich komme zum Ende. Mit Blick auf die afghanische
Delegation sage ich, dass sie in ihre Heimat mitnehmen
kann, dass der große, verantwortungsvolle Teil in der
deutschen Politik das afghanische Volk nicht im Stich
lassen wird. Dies soll ihre Gesellschaft wissen. Wir stehen zu unseren Zusagen. Dies müssen auch alle Kriminellen und Terroristen wissen.
Danke schön.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Christian Ruck
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich möchte zunächst der Bundesregierung für
etwas danken, was sie international durchgesetzt hat,
was vor einem Jahr noch nicht selbstverständlich war
und jetzt bei uns Konsens ist, nämlich dass die Zukunft
Afghanistans und des gesamten internationalen Engagements dort langfristig und letztlich von einem erfolgreichen zivilen Aufbau und der Überwindung von Armut
und Unterdrückung abhängt. Nur so fassen die Menschen Mut, können die Herzen der Menschen erreicht
werden, fallen die Menschen nicht auf falsche Propheten
herein. Nur so kann eine Stabilisierung Afghanistans
von innen bewirkt werden; das Land befindet sich jedoch in einer sehr schwierigen Nachbarschaft. Die Bundesregierung musste diese Erkenntnis, die heute für uns
selbstverständlich ist, erst durchsetzen; der Durchbruch
wurde in London mit dem Afghan Compact erreicht:
Erst damit wurde die Entwicklungspolitik in Afghanistan - das ist die größte Baustelle - auch international in
den Fokus gerückt.
Gerade an Afghanistan sehen wir, was eine moderne
Entwicklungspolitik leisten muss: Sie muss die Funktionsfähigkeit eines ganzen Landes wiederherstellen,
und zwar nicht von außen aufgezwungen, sondern
Schritt für Schritt mit der Bevölkerung.
({0})
Dabei gibt es drei Schlüsselbereiche, die gleichzeitig angepackt werden müssen: erstens die rasche und sichtbare
Wiederherstellung der physischen Infrastruktur, also der
Straßen, der Brücken und der Energieversorgung; zweitens die Befähigung der Afghanen, ihr Land, die Regierung, die Administration und vor allem die Wirtschaft
- hier ist an den Mittelstand zu denken - selbst in die
Hand zu nehmen, und drittens die Schaffung der Grundlagen für eine langfristige Aufwärtsentwicklung durch
Bildungs- und Erziehungsarbeit für die Kinder.
Wir haben heute gehört, dass wir große Fortschritte
erreicht haben. Darauf können wir, unsere Soldaten, unsere Entwicklungsexperten und die internationale Gemeinschaft, stolz sein. Wir haben zum Beispiel erreicht,
dass in 19 Universitäten Afghanistans fast 10 000 junge
Frauen studieren; vorher waren es null.
({1})
Wir haben ferner erreicht, dass die Kindersterblichkeit in Afghanistan dramatisch gesunken ist, dass hingegen das Wachstum der Wirtschaft drastisch steigt, und
zwar um 12 bis 13 Prozent pro Jahr, wenn man die Drogenökonomie herausrechnet. Darauf können wir, aber
auch die Entwicklungsexperten stolz sein. Ich möchte an
dieser Stelle erwähnen, dass das mit Opfern verbunden
ist: Mindestens 50 Entwicklungshelfer haben bisher ihr
Leben in Afghanistan verloren.
Auch ich begrüße ausdrücklich, dass wir das Entwicklungshilfebudget für Afghanistan kontinuierlich
aufwachsen lassen. Ich möchte aber auch für eines plädieren: Wir sollten die finanziellen Mittel nicht nur stetig
erhöhen, sondern auch dafür sorgen, dass das Geld sinnvoll angelegt wird, dass es auch abfließt. Es hat keinen
Sinn, dass in den Provinzen dringend benötigtes Geld in
Kabul bleibt, weil die Administration dort noch zu
schwach ist und das Geld nicht abfließen lässt. Das ist
eines der Probleme, auf die wir reagieren müssen; es gibt
aber auch andere.
Wichtig ist, dass wir, die internationale Gemeinschaft,
gerade in Afghanistan bereit sind, aus Fehlern zu lernen
und bei der Korruptionsbekämpfung, bei der Hilfe für
die Provinzen und bei der gigantischen Aufgabe der Koordination die Afghanen nicht zu überfordern, sondern
sie mitzunehmen.
({2})
Wir müssen auch lernen, dass ohne eine Stabilisierung Pakistans eine Stabilisierung Afghanistans sehr
schwierig wird.
Im Hinblick auf die Drogenökonomie können wir
zwei Dinge lernen:
Erstens. Wir können den Kampf gegen die Drogenökonomie nicht ohne die rückhaltlose Unterstützung der
Bevölkerung führen. Deswegen ist es gut, dass immer
mehr Mullahs in ihren Freitagsgebeten den Kampf gegen
die Drogenökonomie führen, Seite an Seite mit uns.
Zweitens. Der Kampf gegen die Drogenökonomie
und für den Wiederaufbau ist sinnlos, wenn wir nicht Sicherheit garantieren können, vor allem auf dem flachen
Land, wo die Menschen erkennen müssen, dass es nicht
nur die Taliban, die infiltrieren, sondern auch eine
Staatsmacht gibt. Das heißt, wir müssen mehr bei der
Polizei tun. Ich möchte daran erinnern, dass bereits
19 000 Polizisten ausgebildet wurden. Auch beim Aufbau der Armee ist etwas getan worden. Darüber hinaus
ist es ein zutiefst entwicklungspolitisches Anliegen, dass
wir beim Aufbau des Justizwesens Fortschritte erzielen
müssen. Es nützt nichts, wenn wir sagen, das sei keine
Aufgabe Deutschlands. In Afghanistan muss ein Gesamtkunstwerk entstehen.
({3})
Herr Kollege Ruck, Sie müssen zum Ende kommen.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Wer den Zusammenhang zwischen Aufbau und Sicherheit nicht sieht und unsere Sicherheitsanstrengungen torpediert, der torpediert die Mission Afghanistan. Wer die
Mission Afghanistan torpediert, der torpediert die Möglichkeit des Westens, Gefahren in der Welt gemeinsam
abzuwehren. Wer dies tut - in einer durchgeknallten Rede
von den Linken konnten wir feststellen, wer das tut -,
({0})
der gefährdet das Wohl unseres eigenen Landes.
Wir jedenfalls wissen, wohin wir gehören: an die
Seite der Afghanen. Darüber hinaus wollen wir die Sicherheit unserer eigenen Bevölkerung gewährleisten. Ich
bitte auch die Grünen, ihrem Gewissen einen Ruck zu
geben, wenn es so weit ist.
({1})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Andreas Weigel
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In großer Verbundenheit mit meinen Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen möchte ich an dieser Stelle meinen Respekt vor der
Debatte, die in dieser Partei zurzeit stattfindet, zum Ausdruck bringen. Der Parteitag am letzten Wochenende hat
die Zerrissenheit in dieser Partei gezeigt.
Herr Kollege Kuhn, in Ihrer heutigen Rede haben Sie
deutlich gemacht, dass Sie durchaus gewillt sind, fundiert über die anstehenden Fragen zu diskutieren. Das
unterscheidet Sie von dem, was dieser Tage in der Presse
geschrieben wurde. In der taz von vorgestern erschien
zum Beispiel ein Interview mit Ihrem Parteikollegen
Herrn Spanta, dem Außenminister von Afghanistan. Die
Überschrift lautete: Grüne sind unsolidarisch und
naiv.
({0})
Ich kann nur an Sie appellieren und Sie darum bitten, in
dieser Frage auch weiterhin mit uns zusammenzuarbeiten. Ich glaube, das haben wir in den vergangenen Jahren
gut gemacht. Wir wollen dafür kämpfen, dass das so
bleibt.
({1})
Ich möchte an dieser Stelle nicht ausführlich auf das
eingehen, was Herr Gysi von den Linken heute zum Besten gegeben hat. Aber, Herr Gysi, an eines möchte ich
Sie erinnern: Da Sie das Beispiel angeführt haben, dass
Sie Gespräche mit afghanischen Parlamentarierinnen geführt haben - sie haben übrigens auf der Besuchertribüne
Platz genommen -, und dies kritisch dargestellt haben
- darüber kann man ja durchaus diskutieren -, bitte ich
Sie, dabei nicht zu vergessen, dass solche Gespräche im
Jahr 2002 oder vorher nie möglich gewesen wären, weil
sie nicht nach Deutschland hätten kommen können und
wir keine Gespräche mit ihnen hätten führen können.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gelegentlich entsteht der Eindruck, dass wir eine oberflächliche Diskussion führen; das war heute teilweise festzustellen. Daher
möchte ich ausdrücklich daran erinnern, dass in den letzten Wochen und Monaten viele deutsche Parlamentarierinnen und Parlamentarier nach Afghanistan gereist
sind, sich im Land umgeschaut und Gespräche mit Vertretern des Militärs und mit Vertretern der Zivilorganisationen geführt haben. Das zeigt, wie fundiert und bewusst wir die Auseinandersetzung mit diesem Thema
führen. Daran wird auch deutlich, dass wir gewillt sind,
uns damit zu beschäftigen.
Wir, die SPD-Fraktion, haben aus diesem Grunde eine
Taskforce ins Leben gerufen, eine Arbeitsgruppe, die
sich aus Politikern ganz unterschiedlicher Fachbereiche
zusammensetzt, und zwar aus Politikern all der Politikbereiche, die mit dem Aufbau in Afghanistan beschäftigt
sind. Außen- und Verteidigungspolitiker, Menschenrechtspolitiker und Innen- und Entwicklungspolitiker arbeiten ressortübergreifend zusammen.
Ich glaube, hierin liegen die Chance und das Geheimnis, bei der Entwicklung Afghanistans voranzukommen.
Wir brauchen eine ressortübergreifende Zusammenarbeit, nicht nur hier im Parlament, sondern auch vor Ort.
Diese Zusammenarbeit wird in den PRTs praktiziert.
Allerdings möchte ich an dieser Stelle selbstkritisch saAndreas Weigel
gen: Manches kann durchaus noch besser werden. Natürlich müssen wir überdenken, ob die Verweildauer unserer Kontaktleute in den PRTs auf vier oder sechs
Monate begrenzt sein sollte oder ob eine längere Verweildauer erforderlich ist, um gerade erst entstandene
Kontakte auszubauen, nützliche Informationen zu beschaffen und Vertrauensverhältnisse aufzubauen.
Wir müssen über die elementare, entscheidende Frage
des Drogenanbaus noch intensiver als bisher nachdenken. Natürlich bedarf es zuallererst der Zerschlagung der
Strukturen und Verflechtungen der Drogenmafia mit lokaler Verwaltung und lokaler Polizei. Aber wir müssen
uns darüber hinaus Gedanken über Alternativen machen,
wie also der Anbau anderer landwirtschaftlicher Erzeugnisse und andere legale Einnahmequellen für die Bevölkerung entwickelt werden können. Wir brauchen entwicklungspolitische Leuchttürme. Ich sage das bewusst,
weil wir bei all unseren Diskussionen über entwicklungspolitische Ziele eines nicht vergessen dürfen: Wir
dürfen uns nicht nur mit Projekten beschäftigen, die
langfristig wirken. Unsere Projekte müssen sofort greifen. Die Bevölkerung vor Ort muss unmittelbar spüren,
dass unser Engagement wirkt.
Eine Vielzahl von positiven Projekten ist heute schon
angesprochen worden: Schulen, Bildungsmaßnahmen.
Ich will zum Schluss meiner Rede noch einmal auf den
Aufbau der Polizeistrukturen zu sprechen kommen.
Die können Sie jetzt aber nicht mehr im Einzelnen erläutern; das ist Ihnen klar.
Wir haben die Polizeiakademie im Jahr 2004 eröffnet.
Seitdem sind 18 600 Polizisten ausgebildet worden. Wir
müssen uns an diesem Punkt weiter engagieren - was
wir tun wollen. Wir führen gemeinsam mit der EU Gespräche und verhandeln. Es braucht ein größeres Engagement, mehr deutsche Beteiligung. Die Weiterführung
des ISAF-Mandates bietet dafür die besten Rahmenbedingungen. Ich bitte um große Unterstützung.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Bernd Siebert für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
letzter Redner möchte ich doch noch einmal auf das, was
in Afghanistan in der Vergangenheit geleistet wurde, zurückkommen und mich im Namen der Arbeitsgruppe
Verteidigung, aber auch im Namen der übrigen Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion in besonderer Weise bei
all denen bedanken, die vor Ort Besonderes geleistet haben, nämlich bei den Soldatinnen und Soldaten und bei
den vielen zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die
seit Beginn der Afghanistan-Mission ihren schweren
Dienst leisten und - auch das muss hier erwähnt werden zum Teil mit ihrem Leben bezahlt haben. Insbesondere
Letzteren und ihren Angehörigen gehören unser besonderer Respekt und natürlich auch unser Mitgefühl.
Die Aufgaben, die wir dort erfüllen - und auch erfüllen wollen -, werden auch in Zukunft nicht ohne Gefahr
für Leib und Leben der dort eingesetzten Menschen erledigt werden können. Aber gerade aufgrund der Leistungen, der Erfolge unserer Aufbauarbeit in Afghanistan
fühlen wir uns verpflichtet, der Verlängerung des ISAFMandates bzw. der Zusammenlegung von ISAF- und
Tornado-Mandat zuzustimmen.
({0})
Das ISAF-Mandat, welches vor allem dem Wiederaufbau des unter den Taliban zerstörten Landes dient,
steht zugegebenermaßen in der Kontinuität der rot-grünen Vorgängerregierung. Gleichwohl ist der eingeschlagene Weg immer noch richtig. Umso erstaunlicher ist es
für mich zu sehen, dass sich die Grünen, die mit dem damaligen Außenminister Joschka Fischer einen entscheidenden Befürworter des Einsatzes in ihren Reihen hatten, am vergangenen Wochenende in Göttingen aus ihrer
Verantwortung für Afghanistan, so befürchte ich, verabschiedet haben.
({1})
- Herr Kuhn hat in der Tat vorhin vernünftige Bemerkungen gemacht, die in den wesentlichen Teilen zu unterstützen sind.
({2})
Nur, wenn jemand noch nicht einmal in der Lage ist, in
der eigenen Partei für eine Mehrheit zu sorgen, wird das,
was er hinterher hier erklärt, mit dem Wort Glaubwürdigkeit nicht zu verbinden sein. Deswegen wünsche ich
Ihrer Führung, dass sie in Zukunft wieder Ihre Parteibasis
({3})
überzeugt. Denn wenn Sie das umsetzen würden, Herr
Trittin - und Sie haben ja mehrheitlich beschlossen, hier
im Parlament der Verlängerung des Mandates nicht zuzustimmen -, dann bedeutet das im Ergebnis: Sie sind
für den Abzug. Dann sind Sie letztlich für nichts wesentlich anderes als das, was die Linken seit Jahr und Tag
propagieren. Das müssen Sie wissen bei dem, was Sie
diskutieren und was Sie beschließen.
({4})
Jedem politisch denkenden und die Realität betrachtenden Menschen ist jedoch klar, dass es keine Alternative zum ISAF-Mandat in Afghanistan gibt. Ein Ende
des Engagements in Afghanistan hätte für das Land und
die dort lebenden Menschen verheerende Folgen. Es
muss aber auch in aller Deutlichkeit gesagt werden: Wir
brauchen noch auf Jahre hinaus die militärische Absi11818
cherung des Wiederaufbaus in Afghanistan. Nur so,
im Sinne des im Weißbuch von 2006 beschriebenen
Konzeptes der vernetzten Sicherheit, können wir auch
langfristig zum Erfolg gelangen.
Für diesen Wiederaufbau im Norden Afghanistans ist
die im Mandat enthaltene Höchstgrenze von 3 500 Soldaten und Soldatinnen aus unserer Sicht vollkommen
ausreichend. Da die Tornados ohnehin unter dem ISAFBefehl standen und stehen, macht es auch Sinn, diese
bisher getrennten Mandate unter einem gemeinsamen
Mandat zusammenzufassen.
Darüber hinaus hat sich der Einsatz der Tornados
bewährt. Das ist hier einige Male ausgeführt worden;
deswegen brauche ich das nicht zu wiederholen. Dass
er so erfolgreich war, haben viele hier in diesem Parlament - auch in der Vergangenheit - bezweifelt. Wir haben vorhin ein Statement besonderer Art gehört. Ich
muss den Kollegen beglückwünschen, dass er seine Gedankengänge hier in aller Offenheit dargestellt hat.
Einige Kolleginnen und Kollegen haben im Vorfeld
dieser Debatte geäußert, dass man sich durchaus auch mit
einer dauerhaften Ausdehnung unseres Auftrages - mit
Ausbildung im Süden - beschäftigen sollte. Ich denke,
dass damit der Rahmen des Mandates, das wir in der
Vergangenheit beschlossen haben und heute wieder beschließen wollen, gesprengt würde. Deshalb glaube ich
nicht, dass es sinnvoll ist, einen anderen Ansatz von
Kräften und Mitteln für diese Aufgabe zu wählen.
Zum Schluss möchte ich noch einmal feststellen: Der
bisherige Ansatz für den Wiederaufbau Afghanistans hat
sich bewährt und wird mit dem Afghanistan-Konzept der
Bundesregierung dort nachjustiert, wo es nötig ist. Aus
diesem Grunde werden wir das vorläufige ISAF-Mandat
verbunden mit dem Tornado-Mandat unterstützen und
entsprechend zustimmen.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Tagesordnungspunkt 3 a. Interfraktionell wird die
Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 16/6460
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Der Entschließungsantrag auf der
Drucksache 16/6461 soll an dieselben Ausschüsse über-
wiesen werden, an den Haushaltsausschuss jedoch nicht
nach § 96 der Geschäftsordnung. Sind Sie damit einver-
standen? - Das ist offenkundig der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun unter dem Tagesordnungspunkt
3 b zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 16/6325 mit
dem Titel ISAF und OEF parlamentarisch gemeinsam
behandeln. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Dann ist die-
ser Antrag mit großer Mehrheit abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Anja
Hajduk, Alexander Bonde, Anna Lührmann,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Sicherung der Handlungsfähigkeit von Haushaltspolitik in der Zukunft
- Drucksache 16/5955 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Anja
Hajduk, Alexander Bonde, Anna Lührmann,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Begleitgesetzes zum Gesetz zur Sicherung der Handlungsfähigkeit von Haushaltspolitik in der Zukunft ({1})
- Drucksache 16/5954 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Für diese Aussprache sind nach einer interfraktionellen Vereinbarung wiederum 75 Minuten vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch dazu. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Anja Hajduk, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine werten Kollegen! Was in diesem Hohen Hause in den letzten knapp
40 Jahren jährlich als Haushaltsgesetz beschlossen
wurde, muss man in seiner Gesamtheit so bewerten, dass
es mit Blick auf die Haushaltslage nicht nachhaltig war
und nicht verantwortungsvoll gegenüber den zukünftigen Generationen ist. Wenn man eine solche Aussage
trifft, dann muss man daraus Konsequenzen ziehen. Deswegen legen wir von Bündnis 90/Die Grünen Ihnen
heute einen Gesetzentwurf zur Sicherung der Handlungsfähigkeit der Haushaltspolitik in der Zukunft vor.
Das ist nichts Geringeres als ein Vorschlag zur Änderung
des Grundgesetzes.
({0})
Zum Problem. Wie ich schon erwähnte, ist es lange
her, dass der Haushalt ausgeglichen war. Der letzte ausgeglichene Haushalt war 1969. Das ist fast 40 Jahre her.
Das bedeutet in Zahlen ausgedrückt, dass der Bund über
900 Milliarden Euro Schulden aufgehäuft hat. Was die
Dynamik angeht, muss man feststellen, dass sich der
Schuldenstand in den letzten zehn Jahren verdoppelt hat.
Auf ein Jahr bezogen ist festzuhalten, dass wir mehr als
40 Milliarden Euro - das ist ein Sechstel des BundesAnja Hajduk
haushaltes - Zinsen zahlen, ohne dass an Tilgung auch
nur zu denken ist.
Dieses Problem müssen wir alle ernst nehmen. Wir
müssen feststellen, dass die bisherigen Regeln zum Eindämmen von Verschuldung nicht ausgereicht haben. Angesichts der Tatsache, wie häufig wir den dehnbaren Begriff Erhalt des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts
gebraucht haben, um übermäßig viel Schulden zu machen, müssten wir uns einig sein, dass die bisherigen Regeln im Grundgesetz und die dort formulierten Ausnahmetatbestände dringend geändert werden müssen.
({1})
Welchen Lösungsweg kann man aufzeigen? Wir Grünen plädieren für eine Neuausrichtung der gesetzlichen
Rahmenbedingungen, indem wir Folgendes berücksichtigt sehen wollen: Wir wollen, dass grundsätzlich die
Ausgaben stärker an die Einnahmen gekoppelt werden.
Der Zusammenhang ist eigentlich einfach: Wir können
so viel ausgeben, wie wir einnehmen. Aber um auch den
wirtschaftlichen Rahmenbedingungen Rechnung zu tragen, ist es klug, diese Regel so zu konzipieren, dass mit
dem Konjunkturverlauf Ausgaben und Einnahmen atmen können.
({2})
Deswegen sind wir gegen ein absolutes Verbot von
Schulden. Das halten wir für volkswirtschaftlich nicht
durchdacht. Wir sind für einen über den Konjunkturzyklus ausgeglichenen Haushalt. Das müssen wir auch im
Grundgesetz normieren. Diese Lösung ist Maastrichtkonform, und es ist eine striktere Lösung als die bestehenden Regelungen. Wir Grünen haben uns umgesehen,
wie man eine solche Lösung entwickeln kann.
Wir haben in die Schweiz geschaut. Wir haben aber
nicht die Schweizer Schuldenbremse kopiert, sondern
eine Schuldenbremse entwickelt, die den Verhältnissen
in Deutschland angepasst ist. Das heißt, wir schließen
eine Finanzierung von Investitionen über Kredite nicht
aus, wenn sie streng dem Maßstab genügen, dass sie das
Volksvermögen wirklich mehren. Das heißt, wir müssen
Privatisierungen abziehen und kalkulatorische Abschreibungen vornehmen. Solche sogenannten Nettoinvestitionen, die das Volksvermögen mehren, wollen wir durchaus kreditfinanzieren können.
Des Weiteren glauben wir - dieser Vorschlag wurde
in ähnlicher Form vom Sachverständigenrat vorgelegt
und diskutiert -, dass man sich damit auseinandersetzen
muss, dass Prognosen für die Zukunft nicht immer einfach sind. Wenn wir vorschlagen, dass sich die Ausgaben an den Einnahmen orientieren sollen, dann stehen
wir damit vor dem Problem, die Konjunkturentwicklung
einschätzen zu müssen. Deswegen gehört zu einer angepassten Schuldenbremse auch, dass Schätzfehler nach
einem Jahr korrigiert werden können. Ich erwähne das
aus folgendem Grund: Mir ist der Einwand bekannt, dass
die Schweizer Schuldenbremse schon im zweiten oder
dritten Jahr nicht richtig funktioniert hat und korrigiert
werden musste. Ich sage den Kritikern: Wir haben das
untersucht und festgestellt, dass die Schweizer Schuldenbremse einem die Flexibilität lässt, auf die Konjunktur zu reagieren. Dass sie bei ihrer Einführung nicht sofort funktioniert und unmittelbar gewirkt hat, hat auch
damit zu tun, dass sie nicht auf einen ausgeglichenen
Haushalt aufsetzen konnte. Aber die Schweizer Schuldenbremse ist strikter, und sie ist Maastricht-konform.
Deswegen ist für uns eine an die deutschen Verhältnisse
angepasste Schuldenbremse ein intelligentes Modell.
Wir sollten dies in unsere Finanzpolitik übertragen.
({3})
Ich möchte noch etwas dazu sagen, dass wir über
Schuldenregeln auch in der Föderalismuskommission II diskutieren. Das ist gut so. Dabei geht es nicht
nur um den Bund, sondern auch um die Bundesländer.
Wir reden dort also nicht nur über eine Schuldenbremse
für den Bund, sondern auch über die Altschulden, die
sehr unterschiedliche Situation in den einzelnen Bundesländern und Möglichkeiten, die Finanzautonomie aufseiten der Bundesländer und im Verhältnis zwischen Bund
und Ländern zu verändern. Ich finde es richtig, dass wir
in der Föderalismuskommission II auch über Schuldenregeln sprechen. Aber eines ist für mich klar: Selbst
wenn es mit den Bundesländern keine gemeinsame Regelung betreffend Ausgaben und Einnahmen gibt - wir
sind auf Zusagen der Bundesländer angewiesen -, weil
es unterschiedliche Interessen bei den Altschulden und
beim Länderfinanzausgleich gibt, braucht der Bund in
jedem Fall neue Regeln für seine Haushaltsgesetzgebung; das möchte ich deutlich betonen.
({4})
Ich möchte das begründen. Nach Art. 109 des Grundgesetzes sind Bund und Länder in ihrer Haushaltspolitik
selbstständig. Selbst wenn es keine Einigung mit den
Bundesländern gibt, müssen wir vorangehen, weil wir
die große Chance haben, bald einen ausgeglichenen
Bundeshaushalt vorzulegen - ich bin davon überzeugt:
noch in dieser Legislaturperiode -, und die historische
Chance, mit der Großen Koalition und der Unterstützung
von uns, der grünen Opposition, mit Zweidrittelmehrheit
das Grundgesetz zu ändern. Wir dürfen das Zeitfenster
dafür keinesfalls verstreichen lassen, sondern müssen
diese Chance nutzen. Das sind wir zukünftigen Generationen schuldig, wenn wir endlich nach Maßgabe einer
nachhaltigen Haushaltspolitik umsteuern wollen.
({5})
Das Budgetrecht ist das Königsrecht des Parlamentes. Es ist gut, dass darüber mit den Bundesländern in
der Föderalismuskommission beraten wird. Es ist aber
auch wichtig, dass der Bundestag über eine Änderung
des Budgetrechts ausführlich berät und nicht nur auf die
Ergebnisse der Föderalismuskommission wartet. Deswegen setze ich auf eine intensive und gute Beratung über
die von uns vorgeschlagene Grundgesetzänderung. Wir
wollen die Ausgaben wieder stärker an die Einnahmen
koppeln. Wir wollen vermögenssteigernde Investitionen
finanzieren. Wir wollen einen Haushalt, der mit der
Konjunktur atmet, aber auch generationengerecht ist und
eine nachhaltige Haushaltspolitik ermöglicht.
Vielen Dank.
({6})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Jochen-Konrad
Fromme, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich begrüße außerordentlich, dass dieses Thema
an so prominenter Stelle hier im Plenum diskutiert wird;
denn es geht um Nachhaltigkeit und um langfristige Entwicklungen. Die Kredite von heute sind die Zinsen und
damit die Steuern von morgen. Ich möchte festhalten:
Kinder können auf Schuldenbergen nicht spielen. Deswegen ist es wichtig, dass wir uns um den Schuldenabbau kümmern.
Das Thema ist aber natürlich nicht neu, Frau Kollegin
Hajduk. Sie wissen, dass sich die Berichterstatter im
Haushaltsausschuss schon lange mit der Frage befassen,
wie wir diese Entwicklung ändern können. Das ist ein
Hauptthema auch der Föderalismuskommission. Der
Rechnungsprüfungsausschuss hat dieses Thema aufgegriffen. Ich denke, dass es nicht darauf ankommt, in einer
frühen Phase mit einem fertigen Vorschlag zu kommen;
vielmehr müssen wir ausloten, wo die Probleme liegen.
Mir geht Ihr Entwurf - ich komme darauf zurück - nicht
tief genug.
Ich will eines gerade hier im Plenum, wo nicht nur die
Haushälter versammelt sind - das geht das gesamte Plenum an -, deutlich machen: Dass jeden Tag in der Zeitung etwas von weniger Neuverschuldung und mehr
Steuereinnahmen steht, worüber wir uns freuen, ist Zeichen einer guten Entwicklung. Es darf aber nicht der
Eindruck entstehen, die Probleme seien gelöst;
({0})
denn die Fixierung auf die Neuverschuldung ist falsch.
Solange wir eine Neuverschuldung haben, heißt das,
dass wir mehr ausgeben, als wir einnehmen. Es ist längst
nicht mit der Beseitigung der Neuverschuldung getan.
Wir dürfen auch nicht mehr die Einnahmen aus Verkaufserlösen im Haushalt berücksichtigen. Erst wenn
wir mehr einnehmen, als wir ausgeben, dann liegen wir
richtig, und dann sind die Probleme gelöst. Das sage ich
zu allen Kolleginnen und Kollegen; denn manch einer
wünscht sich schon wieder neue Programme und denkt,
man könne die Ausgaben wieder steigern.
({1})
Wir müssen uns über eines im Klaren sein: Wenn es
heißt, dass Deutschland möglicherweise ohne neue
Schulden auskommt, dann muss man auch die sehr unterschiedlichen Strukturen betrachten. Die Lage ist auf
den verschiedenen Ebenen völlig unterschiedlich. Auf
Bundesebene gibt es nach wie vor ein strukturelles Defizit von 23 Milliarden Euro. Das heißt, nach der jetzigen
Planung für 2008 geben wir 23 Milliarden Euro mehr
aus, als wir einnehmen. Die positiven Entwicklungen,
über die wir uns natürlich freuen, betreffen eher die Länderebene und die Gemeindeebene, wobei man auch da
sehr differenzieren muss. Kassenkredite von 26 Milliarden Euro bedeuten, dass die kommunalen Haushalte in
dieser Größenordnung aus dem Ruder gelaufen sind.
Anderen hingegen geht es gut. Deswegen plädiere ich
für eine sehr differenzierte Betrachtungsweise. Wir müssen uns mit dieser Frage beschäftigen.
Wer Fehlentwicklungen beseitigen will, muss sich
zunächst einmal mit den Ursachen dieser Fehlentwicklungen vertraut machen. Was ist eigentlich schiefgelaufen? Eigentlich gilt auch in Deutschland der rechtliche
Grundsatz: Laufende Ausgaben dürfen nicht mit Krediten finanziert werden. Angesichts dessen fragt man sich,
wie es eigentlich zu dieser Entwicklung kommen konnte.
Ich sage Ihnen, dass sich an vier Punkten etwas ändern
muss: Erstens müssen wir verhindern, dass konsumtive
Ausgaben direkt oder indirekt mit Krediten finanziert
werden. Zweitens müssen wir die Ausgaben - ich
komme darauf differenzierter zurück - an die Einnahmen
binden und nicht umgekehrt; das ist strukturell falsch gelaufen.
({2})
Drittens müssen wir die Finanz- und Handlungsverantwortung auch innerhalb unserer Haushaltssysteme wieder in eine Hand legen; wir haben eine völlig falsche
Arbeitsteilung. Viertens müssen wir Fehlanreize im Länderfinanzausgleich beseitigen und eine richtige Entwicklung initiieren.
({3})
Was ist passiert? Wir haben 1969 in der Großen Koalition das Haushaltsrecht verändert. Bis dahin war völlig klar, dass Ausgaben nur mit Einnahmen finanziert
werden dürfen. In eng begrenzten Ausnahmen durften
Investitionen, die zusätzliche Einnahmen für den Staat
gebracht haben, durch Kredite finanziert werden. 1969
haben wir zwei Punkte verändert: Wir haben dafür gesorgt, dass Investitionen generell mit Krediten finanziert
werden durften, und wir haben dann die Konjunkturregelung hinzugefügt, wonach zur Bekämpfung eines gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewichts zusätzlich Kredite aufgenommen werden dürfen. Genau das ist der
Fehler. Deswegen glaube ich, dass alles, was an einen
engeren Investitionsbegriff anknüpft, die Probleme
nicht lösen wird. Ich glaube, dass uns die Bindung der
Verschuldungsgrenze an Maastricht-Kriterien oder an
das BIP nicht weiterbringt; denn der Normalfall sowohl
nach Maastricht als auch nach dem Grundgesetz ist eine
Neuverschuldung von null. Also generell keine Finanzierung durch Kredite, nur in eng begrenzten Ausnahmefällen.
Es gilt der Grundsatz: Niemand kann auf Dauer mehr
ausgeben, als er einnimmt.
({4})
Ich sage präziser: Niemand kann mehr verbrauchen, als
er einnimmt. Da gibt es einen deutlichen Unterschied.
Ich will Ihnen am Beispiel eines Autokaufs klarmachen,
was wir in Deutschland falsch machen: Wenn wir für
den Bund ein Kraftfahrzeug beschaffen, ist es eine Investition. Sie darf nach unserem geltenden Haushaltsrecht mit Krediten finanziert werden und ist in den letzten Jahrzehnten auch mit Krediten finanziert worden.
Wir haben alles ausgereizt. Durch den Kauf des Autos
ändert sich die Vermögenslage des Staates aber überhaupt nicht. Er hat ein bisschen mehr Schulden, und er
hat einen Vermögensgegenstand. Die Vermögenslage
des Staates ändert sich erst, wenn das Auto gebraucht
wird und damit an Wert verliert. Das wird im staatlichen
Budget aber überhaupt nicht erfasst. Das heißt, wir haben die Investition über einen Kredit finanziert, der Verbrauch erfolgt aber neben dem Haushalt. Dadurch, dass
die Bundesrepublik Deutschland Kredite gar nicht tilgt,
haben wir ein Verbrauchsgut indirekt mit Krediten finanziert. Das genau ist das Problem.
Ich habe nachgeschaut: Wir haben dieses Haushaltsrecht seit 1969. Seit 1972 kaufen wir Dienstwagen auf
Kredit. Wir zahlen heute noch Zinsen für Dienstwagen,
von denen nicht einmal mehr die Asche oder der Schrott
übrig geblieben ist. Das genau ist das Problem. Deswegen konnten sich die Schulden so hochschaukeln. Es hat
nichts damit zu tun, dass wir Dienstwagen brauchen,
aber es hat etwas damit zu tun, dass wir den Verbrauch
nicht durch laufende Einnahmen finanzieren.
({5})
Potenziert haben wir diesen Prozess noch durch die Konjunkturregelung, mit der wir festgelegt haben, dass man
zur Bekämpfung eines gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewichts mehr Kredite aufnehmen kann. In Wahrheit haben wir aber immer nur Verbrauchsausgaben finanziert
und damit den Prozess noch gesteigert.
Eine ganz besondere Überdehnung dieser Möglichkeit wurde durch das Verfassungsgerichtsurteil vom
letzten Sommer bestätigt. Was war der Streitgegenstand?
Im Haushalt 2004 hatten wir - man höre und staune! im November die Einnahmen verändert und die Kreditaufnahme um rund 20 Milliarden erhöht, während sich
bei den Ausgaben nichts verändert hat. Das heißt, wir
haben normale haushaltsmäßige Ausgaben mit Krediten
finanziert. Das Bundesverfassungsgericht hat dies sogar
durchgehen lassen. Dafür habe ich überhaupt kein Verständnis. Damals wäre die Gelegenheit gewesen, ein
deutliches Zeichen zu setzen, dass dieser Prozess geändert werden muss.
Die Gemeinden stehen im Übrigen im Vergleich besser da als Bund und Länder. Warum ist das so? Die Gemeinden sind durch die Kommunalaufsicht immer gezwungen worden, mindestens 2 Prozent ihrer Schulden
zu tilgen. Dieses Verhalten war zwar wirtschaftlich nicht
sauber, aber die Gemeinden haben immerhin getilgt.
Deswegen hatten sie nicht die Möglichkeit, einen solch
einmaligen Schuldenberg aufzuhäufen.
Im Übrigen waren wir, und zwar alle Parteien - ich
sage das ganz wertfrei -, an der Fehlentwicklung beteiligt. Aber dies müssen wir korrigieren. 1969 herrschte
noch der Geist, nur das mit Krediten zu finanzieren, was
für die Zukunft Werte schafft, aber nicht das, was in der
Zukunft verzehrt wird. Die Entwicklung aber ist falsch
gelaufen.
Frau Kollegin Hajduk, ein absolutes Schuldenverbot
in dem Sinne, dass überhaupt keine Kreditaufnahme
mehr zulässig ist, halte ich auch nicht für sinnvoll.
Schulden an sich sind weder gut noch böse. Es ist wie
mit dem Feuer: Es kann verbrennen, es kann aber auch
wärmen. Genauso ist es mit Krediten. Wenn man es
schafft, den Staat durch eine Kreditaufnahme besserzustellen, dann sollte man das auch tun. Wir haben zum
Beispiel viele alte Gebäude mit alten Heizungssystemen
und daher relativ hohen Heizkosten. Wenn es gelingt,
durch eine Investition die Heizkosten so stark zu senken,
dass die Einsparungen höher sind als die Zinsen und die
Abschreibungen für diese Investition, ist es wirtschaftlich vernünftig und sinnvoll, in diesem Fall Schulden zu
machen.
Wir müssen unser Rechnungswesen so verändern,
dass der Werteverzehr abgebildet wird, damit wir zu dem
Ergebnis kommen können, wie viele Einnahmen wir haben und wie viel wir verbraucht haben. Das darf sich
nicht nur in den kassenmäßigen Ausgaben widerspiegeln, es muss sich im Fall des Autokaufs auch im Werteverzehr widerspiegeln. Wenn wir das geschafft haben,
können wir messen, was wir auf der Einnahmenseite und
was wir auf der Ausgabenseite haben. Dann spielen auch
Schulden keine Rolle mehr. Der Investitionsbegriff ist
ein falscher Indikator. Damit wird nicht gemessen, ob
ich mich finanzwirtschaftlich ordentlich verhalte oder
nicht.
Es gibt noch etwas, was wir im Bundeshaushalt völlig
falsch machen: die Aufteilung der Investitionsveranschlagung. Wenn der Bund ein Gebäude beschafft, dann
stehen im Fachhaushalt die notwendigen Angaben zu
den Investitionen, allerdings noch nicht einmal vollständig; denn die Planungs- und Bauleitungskosten - sie machen ungefähr ein Viertel der Kosten eines Bauvorhabens aus - sind im Haushalt des Bundesministeriums für
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung oder des Bundesministeriums der Finanzen veranschlagt, da sie bei den
Länderbauverwaltungen anfallen. Die übrigen Finanzierungskosten im Zusammenhang mit der Investitionsentscheidung erscheinen im Fachhaushalt überhaupt nicht,
sondern lediglich im Einzelplan 32, um den sich keiner
kümmert.
Wenn man bei einer Abschreibungsdauer von
50 Jahren - für heutige Verhältnisse ist das eigentlich
schon viel zu lange - und einem Zinssatz von 5 Prozent
ein Gebäude beschafft, dann machen die Finanzierungskosten das 1,4-Fache der Bauinvestitionen aus, die im
Haushalt allerdings gar nicht erscheinen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Folgekosten von Investitionen im
Haushalt wieder angegeben werden. Das heißt, diejeni11822
gen, die eine Entscheidung über eine Investition treffen,
müssen die lebenszeitbezogenen Gesamtkosten berücksichtigen. Wenn das der Fall ist, wird diese Entscheidung
schwieriger, weil man sämtliche Kosten vor Augen hat,
und dann kommen wir wieder zu einem angemessenen
Umgang mit den Ressourcen.
Auf die Notwendigkeit, bei konjunkturellen Schwankungen reagieren zu können, ist ausreichend eingegangen worden. Da müssen wir uns etwas einfallen lassen.
Mir ist wichtig, dass wir aus der Klemme herauskommen, dass finanzwirtschaftliche Grundsätze durch politische Entscheidungen unterlaufen werden können.
({6})
Politiker sind Menschen, und Menschen sind schwach, und
sie suchen in einer konkreten Situation immer den leichtesten Ausweg. Das ist unsere Erfahrung seit 1969. Wir brauchen eine instrumentelle Absicherung, durch die es unmöglich wird, auszuweichen. Auf diesem Wege muss das süße
Gift des Verlagerns finanzieller Lasten in die Zukunft beseitigt werden. Wenn wir das schaffen, kommen wir finanzwirtschaftlich besser über die Runden. Dann werden wir
der Verantwortung unseren Kindern gegenüber gerecht,
weil wir ihnen keinen Schuldenberg, sondern ein geordnetes Staatswesen hinterlassen.
Schönen Dank.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Flach, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Ich finde es gut, Frau Hajduk, dass die Fraktion Die Grünen eine Woche nach unserer Haushaltsdebatte im Plenum diesen Vorschlag macht. Manchmal hat man das
Gefühl, dass der Finanzminister und die hier versammelte Große Koalition den Eindruck vermitteln möchten, alles sei im Lot, der Bundesfinanzminister sei nicht
nur Peer im Glück, sondern auch das Sterntalermädchen. Aber in der Realität nimmt die Verschuldung der
öffentlichen Haushalte weiter zu, zwar etwas langsamer
- das ist sicherlich positiv zu vermerken -, aber deutlich
und stetig.
Die Situation ist nach wie vor dramatisch - da stimme
ich meinen beiden Vorrednern ausdrücklich zu -, und sie
rechtfertigt keineswegs - das sage ich auch für unsere
Fraktion - Forderungen nach umfangreichen Ausgaben,
für welchen guten Zweck auch immer.
({0})
Sparen ist angesagt. Wir müssen von den 40 Milliarden Euro Zinslasten des Bundes - das muss man sich
einmal auf der Zunge zergehen lassen - endgültig runter.
Für das Jahr 2008 hält nun auch der Finanzminister
ein kleines Plus im Staatshaushalt für möglich. Da fragen wir uns natürlich: Wann, wenn nicht jetzt, sollten
wir grundsätzliche Entscheidungen treffen, um die
Staatsverschuldung in den Griff zu bekommen? Das
können wir nur in konjunkturell guten Zeiten mit hohen
Steuereinnahmen. Wenn die Bürger schon durch die
massiven Steuererhöhungen erhebliche Lasten tragen
müssen, um den Haushalt zu sanieren, dann müssen wir
jetzt Halteseile einziehen, damit in schlechten Zeiten
nicht wieder der Weg in die Schulden gesucht und damit
nicht wieder auf Kosten der nächsten Generation gewirtschaftet wird.
({1})
Da sind wir völlig bei Ihnen, Herr Fromme. Diesen Weg
gehen wir gemeinsam.
Insofern freue ich mich, dass die Grünen mit der sogenannten Schweizer Schuldenbremse zumindest einmal einen Vorschlag auf den Tisch gelegt haben. Ich will
Ihnen aber auch gleich sagen: Die FDP steht dem kritisch gegenüber, und zwar aus folgenden Gründen:
Erstens. Bislang orientiert sich die Höhe der Kreditaufnahme an den Bruttoinvestitionen. Frau Hajduk, Sie
haben eben erläutert, dass Sie das ändern wollen, indem
nur noch ein Bezug zu den Nettoinvestitionen hergestellt wird. Das bedeutet, dass der Kreditrahmen um Abschreibungen und Privatisierungserlöse verringert wird;
aber - das ist für uns entscheidend - eine steigende Verschuldung wird nicht grundsätzlich verhindert. Der
Sachverständigenrat schätzt die Ermächtigung, die aus
den Nettoinvestitionen herrührt, auf circa 6 bis
8 Milliarden Euro. Als Haushälter muss man sich überlegen, ob man das will; wir wollen es nicht.
Zweitens. Schulden, die aufgrund von Schätzfehlern
beim Haushaltsvollzug auftreten, werden auf einem virtuellen Ausgleichskonto gesammelt.
({2})
Sie sagen, dass diese Summe 2 Prozent des BIP nicht
überschreiten darf. Da frage ich mich natürlich: Warum
2 Prozent?
({3})
Das ist im Prinzip eine willkürlich gegriffene Zahl.
Wenn man dies nach dem augenblicklichen Stand berechnet, kommt man zu dem Ergebnis, dass dort
50 Milliarden Euro Schulden geparkt werden können.
Das ist eine nicht unerhebliche Summe. Steigt das BIP,
steigt auch die Höhe der dort hinterlegten möglichen
Schulden. Das sehen wir als problematisch und auch als
intransparent an.
({4})
Drittens. Ihr Modell sieht bei Naturkatastrophen
oder Unglücksfällen die Möglichkeit einer höheren Verschuldung vor, wenngleich dies nur mit einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag beschlossen werden kann. Da
sind sich unsere Positionen näher, Frau Hajduk, als es im
Augenblick vielleicht scheint; aber es wird wirklich
schwierig. Widmen wir uns zum Beispiel dem Klimawandel, dessen Abfederung erhebliche Geldströme benötigt! Wie schätzt man das ein? Dazu ist sicherlich
noch eine vertiefte Diskussion nötig.
({5})
Im Bundeshaushalt fallen die meisten Ausgaben für
Transferleistungen an. Ein kurzfristiges Umsteuern ist
hierbei äußerst schwer.
Sie geben nun etwas vor, was ich an Ihrem finanzpolitisch sonst sehr stringenten Entwurf für völlig sachfremd
halte: Sie setzen das Ziel der Einhaltung des ökologischen Gleichgewichts und der kontinuierlichen Senkung
der Umweltbelastung. Das heißt, Sie mischen Haushaltsgrundsätze und politische Zielvorstellungen.
({6})
Ebenso gut könnte man zum Beispiel das Ziel der Senkung der Belastung für Familien oder aber das Ziel der
Senkung der Staatsquote einbeziehen. Das passt aus unserer Sicht nicht zusammen. Das öffnet Schleusen, die
wir gerade schließen wollen.
Was schlagen wir nun alternativ vor? Die FDP hat bereits im letzten Jahr einen Antrag eingebracht, nach dem
ein generelles Neuverschuldungsverbot bestehen soll,
von dem nur in Ausnahmefällen und nur mit einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag abgewichen werden darf.
Wir haben seit 40 Jahren erstmals die Chance, einen
Haushalt ohne Neuverschuldung aufzustellen, sogar
schon 2008. Man muss aber sehen, dass wir mit einer
schwarzen Null im Bundeshaushalt nicht am Ziel sind.
Dann geht es natürlich erst richtig los; Herr Fromme, da
sind wir völlig einer Meinung. Rund 900 Milliarden
Euro der gesamtstaatlichen Verschuldung entfallen auf
den Bund. Erst wenn wir diesen Betrag abgebaut haben
- wie schwierig das ist, werden wir alle in den kommenden Wochen mit unseren Kollegen in den einzelnen
Fachausschüssen hautnah erleben -, sind wir am Ziel.
Wir brauchen aus unserer Sicht sehr restriktive Verschuldungsverbote; denn schon im ersten Jahr eines
Haushaltsüberschusses sehen wir das begierige Funkeln
in den Augen vieler Minister. Frau von der Leyen ist gerade nicht hier; sie hätte ich als besonders gutes Beispiel
dafür nennen können. Diesbezüglich stehen wir zum
Finanzminister - Frau Hendricks, wenn Sie es ihm mitteilen würden, wären wir Ihnen dankbar -: Haushaltssanierung muss Priorität haben.
({7})
Die FDP will die Subventionen um 20 Prozent kürzen und den Subventionsbegriff erweitern. Wir wollen
- darin unterscheiden wir uns sehr deutlich von der Koalition und auch von den Linken - im Haushalt erheblich mehr einsparen. Sie könnten schon heute einen
ausgeglichenen Haushalt ohne Neuverschuldung vorlegen, wenn Sie nur den Ausgabenzuwachs von 2007 auf
2008 begrenzen würden.
({8})
Lassen Sie mich einen letzten Aspekt ansprechen.
Bund, Länder und Kommunen zusammen müssen zu einer anderen Haushaltsführung kommen; da bin ich mit
Ihnen völlig einer Meinung, Herr Fromme. Die Schuldenbremse, die die Grünen vorschlagen, wird aber schon
bei den Ländern methodisch problematisch, weil die
Länder kaum eigene Steuergestaltungsmöglichkeiten haben und somit ihre Einnahmen nicht so planen können
wie der Bund. Bei den Kreisen ist es ähnlich. Es gibt
schon heute Kreise, deren Einnahmen nicht mehr ausreichen, um die Pflichtaufgaben zu erfüllen.
Die Föderalismuskommission hat im ersten Teil der
Reform einiges auf den Weg gebracht, aus unserer Sicht
nicht genug. Sie hat vor allen Dingen genau diesen empfindlichen Punkt im ersten Teil nicht erledigt. Sie hat
jetzt die Chance, die Finanzbeziehungen zwischen Bund
und Ländern auf eine sehr solide Basis zu stellen. Eine
konsequente Beschränkung der Neuverschuldungsmöglichkeiten wäre angesichts ihrer guten Einnahmesituation natürlich auch für die Länder möglich.
Das Modell der Grünen, Frau Hajduk, ist aus unserer
Sicht dazu nicht geeignet. Aber ich bin auf die Diskussionen gespannt, die wir in nächster Zukunft dazu haben
werden. Wir sind völlig mit Ihnen einig, dass wir hier im
Interesse unserer Kinder und Enkelkinder einen neuen
Weg gehen müssen und nicht so wie bisher weitermachen können.
Wir sind für ein generelles Neuverschuldungsverbot
und hoffen, dass uns dabei ein Großteil des Hauses folgen wird.
({9})
Das Wort hat der Kollege Volker Kröning, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Nach der Devise Weniger ist mehr werde ich
die Redezeit der SPD-Fraktion von 24 Minuten nicht
ausschöpfen.
({0})
Ich werde mir ein gutes Beispiel an den Vorrednerinnen
und Vorrednern nehmen und mich kurz fassen; vielleicht
können es die Nachfolgenden entsprechend machen.
Ohne Frage besteht Handlungsbedarf im Hinblick auf
ein System gesamtstaatlicher Haushaltsdisziplin. Es
wurde schon gesagt: 1 500 Milliarden Euro öffentliche
Schulden, also Schulden des Gesamthaushalts von Bund,
Sozialversicherungen, Ländern und Gemeinden, sind zu
viel und verlangen nach einer Trendumkehr, einem Weg
aus der Schuldenfalle. Wenn Sie - ich spreche hier vor
allem unsere Zuhörerinnen und Zuhörer an - sehen, dass
wir im Bundeshaushalt allein 40 bis 45 Milliarden Euro
jährlich für Zinsen ausgeben und gar nicht tilgen, dann
zeigt ihnen dies, welche Handlungsmöglichkeiten uns
nicht erst in Zukunft, sondern schon in der Gegenwart
durch die Last entgehen, die unter anderem die Teilung
und Einigung Deutschlands den öffentlichen Finanzen
aufgebürdet haben.
Ich freue mich, feststellen zu können, dass es nicht
mehr um das Ob, sondern nur noch um das Wie einer
Schuldenschranke geht. Dazu ist der Vorschlag, den die
Grünen dankenswerterweise eingebracht haben, verdienstvoll. Er kommt nicht mehr aus der Regierung heraus, sondern wurde mit den Mitteln einer Oppositionsfraktion erarbeitet. Als Rechts- und Verfassungspolitiker
halte ich ihn auch deshalb für maßstabsetzend, weil er
nicht nur die Verfassung, sondern auch die Ausführungsgesetze ins Auge fasst, die wir uns ebenfalls anschauen
müssen. Es sind das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz
und die Bundeshaushaltsordnung für unseren Haushalt
und das Haushaltsgrundsätzegesetz für die nachgeordneten Gebietskörperschaften, also die Länder inklusive der
Gemeinden.
Allerdings zeigt das Verfahren der Grünen bei allem
Charme dieser Debatte in der Kernzeit, dass wir noch
längst nicht so weit sind, eine Entscheidung treffen zu
können. Heute geht es ja auch um die erste Lesung des
Gesetzentwurfs. Die Grünen haben ihr Vorschlagspaket
in die Kommission eingebracht, von der schon die Rede
war. Dort ist es eine der Lösungsalternativen, die wir bei
der Bewältigung dieser Aufgabe, die unserer Generation
für unsere Nachkommen zu lösen aufgegeben ist, zu beurteilen haben. Dieses Verfahren, das ein bisschen an
Spagat erinnert, ist nicht nur unschädlich, sondern sogar
nützlich, weil der Vorschlag eine Vorlage für eine gesamtstaatliche Verständigung bildet, die wir brauchen
und zu der der Bund und zumindest verbal im Augenblick auch die Länder bereit sind, wie unsere Kommissionsarbeit zeigt.
Um entsprechend vorarbeiten zu können, kennzeichne ich auch die anderen Alternativen: den Vorschlag des Sachverständigenrates, um den die Bundeskanzlerin gebeten hatte und der uns in der Kommission
beschäftigt hat und weiter beschäftigen wird - in ihm
geht es um das sogenannte Nettoinvestitionenmodell -,
und die Überlegung, das Regime, das die Europäische
Union inzwischen mit dem Vertrag von Maastricht, dem
Stabilitäts- und Wachstumspakt und der Reform des
Paktes eingeführt hat, auf die innerstaatlichen Verhältnisse zu übertragen. Diesen sehr einleuchtenden Ansatz
kann man ebenfalls auf einen Begriff bringen.
Da wir inzwischen akzeptieren müssen, dass Englisch
die Weltsprache ist, verwende ich den Fachbegriff close
to balance, das heißt Haushaltsausgleich innerhalb eines Konjunkturzyklus mit normalen Aufschwüngen und
Abschwüngen, also abgesehen von unvorhersehbaren
und unvermeidbaren Fällen, die einer Sonderregelung
bedürfen.
Wir haben - das gerät bei dieser Diskussion oft in
Vergessenheit - bereits mit der Bundesstaatsreform I die
Weichen dafür gestellt. Ich zitiere aus Art. 109 Abs. 5
Satz 1 des Grundgesetzes, der dankenswerterweise - der
im Saal anwesende damalige Vorsitzende der Föderalismuskommission, Franz Müntefering, wird meine Erinnerung bestätigen - vor allen Dingen auf eine Verständigung
mit dem hessischen Ministerpräsidenten zurückgeht:
Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland
aus Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft
auf Grund des Artikels 104 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft zur Einhaltung der Haushaltsdisziplin sind von Bund und
Ländern gemeinsam zu erfüllen.
Mit dieser Bestimmung wird eine Regelungslücke geschlossen, die wir seit den 90er-Jahren hatten, seit dem
Vertrag von Maastricht und dem Stabilitäts- und Wachstumspakt; allerdings wird sie nur teilweise geschlossen.
Sie ist sozusagen eine repressive Regelung, eine Regelung für den Fall, dass wir gegen die übergeordnete Regelung der Europäischen Union verstoßen und uns Sanktionen auferlegt werden, die dann zwischen Bund und
Ländern und unter den Ländern verteilt werden müssen.
Ich bin sehr zufrieden damit, dass wir diese Regelung
getroffen haben. Hier ist bei früheren Anlässen schon
festgestellt worden, dass sie eine präventive Wirkung
entfalten wird. Nicht nur die konjunkturelle Situation, in
der wir uns augenblicklich befinden, nicht nur die Fortschritte im Strukturwandel bei den öffentlichen Finanzen, die wir auf der Ausgaben- wie Einnahmenseite verzeichnen können, sondern auch diese Verpflichtung ist
richtungsweisend und gibt uns Rückenwind für die Aufgabe, die verbliebene Regelungslücke zu schließen.
Die verbliebene Regelungslücke muss ein präventives
Element aufnehmen, muss Vorbeugung gegen Haushaltskrisen, Überwindung von Haushaltsnotlagen auf
beiden Ebenen, der Bundesebene und der Länderebene,
einschließen und muss auch die wichtigen Elemente, die
Europa liefert, umfassen, nämlich Früherkennung, Frühwarnung, gemeinschaftliche Kontrolle und gegebenenfalls Sanktionen, die nicht den Beigeschmack einer Abstrafung im föderalen Verhältnis haben oder den
Beigeschmack, dass jemand extraordinäre Mehreinnahmen erzielen muss oder Minderausgaben auferlegt bekommt. Das wird in der föderalen Gemeinschaft sicherlich nicht zu einer Einigung zu führen sein.
Mit Blick auf das Wie noch ein Wort zum Vorschlag
der Grünen. Es ist schon gesagt worden: Mit der Erweiterung des sogenannten magischen Vierecks, das wir seit
der großen Finanzreform und seit dem Stabilitäts- und
Wachstumsgesetz der ausgehenden 60er-Jahre haben,
um weitere Ziele, Prinzipien und Interessen, wie sich Ihr
Gesetzentwurf ausdrückt, Frau Hajduk, droht die Reform zu verwässern.
Frau Flach hat dies richtigerweise gesagt, und ich
möchte das unterstreichen. Ich freue mich, nebenbei gesagt, sehr darüber - auch wenn es ein bisschen traurig
ist, dass heute fast nur Haushaltspolitiker und wenig
Steuerpolitiker im Saal sind -, dass Sie ein klares BeVolker Kröning
kenntnis zum Vorrang der Haushaltskonsolidierung
vor Steuersenkungen abgegeben haben.
({1})
Das müssen wir festhalten. Denn was wollen wir eigentlich mit den Überschüssen machen, die wir anstreben?
Nicht nur Haushaltsausgleich, sondern auch Haushaltsüberschuss ist unser Ziel; dies ist die Voraussetzung für
einen nationalen Entschuldungspakt. Wenn das die gültige Linie der FDP werden sollte, dann können sogar wir
uns wieder näherkommen.
({2})
Der Kollege Fromme hat zum Schluss seiner Ausführungen eine mehr technische Bemerkung gemacht, die
aber hochpolitisch ist. Er hat deutlich gemacht, dass auf
dem Prüfstand der jetzt bevorstehenden Finanzverfassungsreform nicht nur die Vorschrift über die Grenzen
des Kredits, Art. 115 des Grundgesetzes, steht oder die
Vorschrift in Art. 109, die mehr oder weniger fiktiv von
einer Haushaltsautonomie von Bund einerseits und Ländern andererseits ausgeht. Fiktiv sage ich übrigens
deshalb, weil die Länder entscheiden müssen, ob sie ihre
Staatlichkeit überhaupt ernst nehmen oder nicht. Das ist
eine hinkende Staatlichkeit, eine Staatlichkeit, die auf
der Ausgabenseite relativ groß ist, doch auf der Einnahmenseite fast gleich null ist und im Wesentlichen darin
besteht, dass die Länder an der Steuergesetzgebung des
Bundes mitwirken. Das ist sozusagen Beteiligungsförderalismus und kein Gestaltungsförderalismus. Deshalb
kommt die größte verfassungspolitische Herausforderung nicht auf den Bund, sondern auf die Länder zu.
Wichtig ist - das hat Herr Kollege Fromme zu Recht
hervorgehoben; diesbezüglich kann ich ein bisschen die
Katze aus dem Sack lassen -, dass es auch um Art. 114
des Grundgesetzes, nämlich die Vorschriften über Rechnungslegung und Rechnungsprüfung, geht. Das ist ein
ganz interessantes Thema. Wir haben bei unserer Arbeit
ja auch den Bundesrechnungshof auf unserer Seite. Und
es geht in Art. 110 Grundgesetz um die sogenannte Kameralistik. In Art. 110 Abs. 1 Grundgesetz heißt es:
Alle Einnahmen und Ausgaben des Bundes sind in
den Haushaltsplan einzustellen; bei Bundesbetrieben und bei Sondervermögen brauchen nur die Zuführungen oder die Ablieferungen eingestellt zu
werden.
Diese zwei kleinen Sätze zeigen, dass wir überhaupt
nicht wissen, was unseren Schulden an Vermögen gegenübersteht. Wir haben keine Vermögensrechnung. Wir
machen keine Bilanz und keine Gewinn- und Verlustrechnung. Wir müssen uns die grundlegende Frage stellen, ob das, was in der privaten Finanzwirtschaft üblich
ist, auf die öffentliche Finanzwirtschaft übertragen werden muss und kann. Einige Länder und viele Gemeinden
sind da schon weiter als der Bund.
Wir als Koalitionsarbeitsgruppe Haushalt sind - so
viel, Herr Fromme, darf ich ausplaudern - bereit und
fühlen uns durch die Unterstützung des Finanzministeriums in wachsendem Maße in der Lage, die Erweiterung
der Kameralistik oder sogar die Umstellung auf die Doppik noch in dieser Legislaturperiode einzuleiten, um die
Grundlage für das, was ich System gesamtstaatlicher
Haushaltsdisziplin genannt habe, zu schaffen.
Zusammengefasst: Es wird keine Regel im Gesamtstaat geben, oder es wird eine gute geben. Nur eine gute
Regel wird die Voraussetzung dafür schaffen, die von
mir genannte Trendumkehr zu erreichen und den Ausweg aus der Schuldenfalle zu finden.
Danke schön.
({3})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Axel Troost,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Den Antrag der Grünen und vieles in der Debatte durchzieht ein roter Faden, wonach antizyklische Finanz- und
Wirtschaftspolitik gescheitert sei. Ich gehöre seit 1975
zusammen mit dem Kollegen Herbert Schui zu einer Arbeitsgruppe von Professoren, die seit nunmehr 32 Jahren
in jedem Jahr in einem Memorandum nachweisen, dass
keine antizyklische Wirtschaftspolitik betrieben wird
und dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz, demzufolge
in entscheidendem Umfang die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen ist, nicht nachgekommen wird, sondern dass
eine Politik betrieben wird, die letztlich durch Steuersenkungen für Unternehmen und Reiche sowie durch Sozialabbau eher zu einem weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit und damit zu geringerem Wachstum der
Steuereinnahmen beigetragen hat.
({0})
Das ist seit 1975 unter verschiedenen Koalitionen der
Fall: erst unter der sozial-liberalen unter Helmut
Schmidt, dann der schwarz-gelben unter Herrn Kohl,
dann der rot-grünen unter Herrn Schröder und nun unter
der Großen Koalition.
({1})
Letztlich ist es aber immer das gleiche Politikmodell.
In der Tat haben wir einen sehr hohen Schuldenstand. Aber wenn man sich anschaut, woher er in den
letzten 20 Jahren gekommen ist, dann kann man insbesondere zwei Zeiträume hervorheben: Das sind zum Ersten in ganz erheblichem Umfang die Jahre nach 1990 mit
dem sogenannten Aufbau Ost.
({2})
Wenn man das aufsummiert, sind darauf allein rund
700 Milliarden Euro des Schuldenstandes von 1,5 Billionen Euro zurückzuführen. Es ist zum Zweiten die Politik
seit 2000, die dazu geführt hat, dass der Schuldenstand
noch einmal um rund 300 Milliarden Euro gestiegen ist;
darauf gehe ich gleich ein. Zwei Drittel des gesamten
Schuldenstandes, über den wir reden, sind also nur durch
diese zwei Phänomene verursacht.
Es wird gesagt, in Bezug auf den Aufbau Ost habe
man andere Finanzierungsvorstellungen gehabt und es
für falsch gehalten, zu meinen, das könne man aus der
Portokasse bezahlen. Da manche sagen, das sei verschüttete Milch, schauen wir uns einmal an, was seit 2000
passiert ist.
({3})
Es ist in der Tat so, dass unter Rot-Grün - natürlich mit
Unterstützung der CDU/CSU - eine angebotsorientierte
Politik gemacht worden ist, indem vorwiegend an Unternehmen und Reiche milliardenteure Steuergeschenke gegeben worden sind in der Hoffnung, dies führe zu mehr
Wachstum und zu einem Abbau der Arbeitslosigkeit.
Das Gegenteil ist eingetreten. Seitdem haben wir jährlich rund 50 Milliarden Euro weniger an Einnahmen. Im
Jahre 2006 hätten wir insgesamt 53 Milliarden Euro
mehr in den öffentlichen Haushalten gehabt, wenn wir
die Steuerquote des Jahres 2000 noch gehabt hätten.
({4})
Das Ergebnis ist nicht, dass mehr Arbeitsplätze entstanden sind. Das Ergebnis sind vielmehr ein niedrigeres
Wachstum und riesige Haushaltsdefizite, weil Steuermehreinnahmen ausgeblieben sind. Sie haben nämlich
makroökonomische Grundzusammenhänge schlicht und
einfach ignoriert. Die angebotsorientierten Steuersenkungen haben hauptsächlich Unternehmen und Spitzenverdiener entlastet und deswegen gerade nicht zu
Wachstum geführt.
({5})
Die Unternehmen belohnten diese Steuergeschenke in
den Jahren bis 2005 nicht mit einem Investitionsboom.
Nein, sie nahmen die Steuersenkungen als willkommenes Geschenk mit und warteten auf steigende Nachfrage.
Aber diese Nachfrage gab es aufgrund der Binnenmarktschwäche nicht im Inland, sondern ausschließlich im Export. Dies hat zu einer verteilungspolitischen Schieflage
in erheblichem Umfang geführt und dazu, dass dem Anstieg der Schulden mit neuer Sparpolitik und - wohlgemerkt - Steuersenkungen entgegengewirkt wurde. Insofern glauben wir, dass ein Politikwechsel dringend
erforderlich ist, ein Wechsel, der letztlich zu mehr
Wachstum führt, das dann zu einer Sanierung der Staatsfinanzen beitragen kann.
Sie dagegen haben den Versuch unternommen - der
Sachverständige Bofinger hat Deutschland als Weltmeister im Sparen auf dem öffentlichen Sektor bezeichnet -,
der ständig steigenden Verschuldung mit Steuersenkungen und einer Schrumpfungspolitik entgegenzuwirken.
Aber dieses Spiel geht nicht auf und hat zur Konsequenz, dass die öffentlichen Investitionen inzwischen
dramatisch gesunken sind: zwischen 2000 und 2005 allein um 3,9 Prozent. Mit einer Investitionsquote von
1,3 Prozent haben wir inzwischen den niedrigsten Stand
überhaupt in der Geschichte der Bundesrepublik.
Auch die Bundesländer mussten sich in der Tat totsparen. In Bremen zum Beispiel sind die Ausgaben zwischen 2000 und 2005 um jährlich 2 Prozent gefallen. Es
gab drastische Einschnitte, aber auch dramatische Einbrüche auf der Einnahmenseite: Die Einnahmen sind in
diesem Zeitraum pro Jahr um sage und schreibe 5,9 Prozent gesunken. Dies hat natürlich dazu geführt, dass die
Verschuldung auch in diesem Land trotz Sparpolitik angestiegen und nicht zurückgegangen ist. Auf kommunaler Ebene herrscht mittlerweile ein dramatischer Investitionsstau. Es wurde errechnet, dass wir allein bis 2009
jährliche Investitionsbedarfe von über 70 Milliarden
Euro haben.
Was heißt dies letztlich? Dies bedeutet wachsende
Kinderarmut in einem der reichsten Länder der Welt,
Bildungsnotstand, überall bröckelnde öffentliche Gebäude. Dies bedeutet tausendfache Armut durch
Hartz IV, einen massiven Arbeitsplatzabbau sowie
Lohn- und Gehaltskürzungen im öffentlichen Dienst.
Das alles ist aber nicht Folge einer misslungenen antizyklischen Politik. Es ist das Ergebnis der gigantischen
Steuergeschenke an Unternehmen und der gescheiterten
angebotsorientierten Politik.
({6})
Deswegen sagen wir: Wir brauchen keine Schuldenbremse, sondern eine Steuersenkungsbremse.
({7})
Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von RotGrün - damals natürlich mit Unterstützung der Union
und der FDP -, nicht wirtschaftspolitisch unsinnige
Steuergeschenke an Unternehmen und Reiche beschlossen hätten, dann hätten wir diesen Schuldenanstieg seit
2000 nicht zu verzeichnen und deutlich geringere Zinslasten auszugleichen.
({8})
Es ist daher völlig unredlich, so zu tun, als würde
antizyklische Politik immer scheitern. Schauen wir uns
in Europa oder der Welt doch einmal um. Laut Financial
Times gibt es elf OECD-Länder, die seit zehn Jahren
Haushaltsüberschüsse erwirtschaften. Davon haben acht
Länder, unter anderem Kanada, Dänemark und Schweden, weder etwas mit dem europäischen Stabilitätspakt
noch mit den Maastricht-Kriterien zu tun noch gelten
dort großartige Verfassungsverbote. In anderen Ländern
sind die Politikerinnen und Politiker also verantwortungsbewusst genug, um das wirtschaftspolitische Instrument Staatsverschuldung sinnvoll und effizient einzusetzen.
Dieses Verantwortungsbewusstsein lässt sich bei den
Vorschlägen zur Verschuldungsgrenze nicht erkennen.
Letztendlich verbirgt sich dahinter eine Selbstaufgabe.
Dieses makroökonomische Instrument kann man in Zukunft nicht mehr antizyklisch einsetzen, was aber nötig
wäre.
Faktisch wird eine solche Schuldenbremse dazu führen, dass in Krisenzeiten noch eher Ausgaben gekürzt
werden und noch eher Sozialabbau betrieben wird. Faktisch entsteht eine Spirale aus Sparpaketen, niedrigem
Wachstum und niedrigen Steuereinnahmen, die mit Verfassungssiegel und dem Etikett Sachzwang verkauft
wird. Das ist wirtschaftspolitisch fragwürdig. Deswegen
sagen wir dazu Nein.
({9})
Stattdessen sagen wir Ja zu einer Politik, die mit einem Zukunfts- und Investitionsprogramm gute Beschäftigung fördert, die in einem nationalen Pakt für Bildung
und Ausbildung ausreichend Finanzmittel für Investitionen in die Zukunft unserer Kinder zur Verfügung stellt,
die die öffentliche Daseinsvorsorge wieder aus- und
nicht weiter abbaut, die öffentlich geförderte Beschäftigungsverhältnisse für Arbeitsuchende schafft - trotz
Aufschwung sind noch mindestens 5 Millionen Menschen arbeitsuchend - und die, sobald sich der Aufschwung verfestigt hat, eine Reduzierung der Verschuldung vornimmt.
({10})
Vor allen Dingen sagen wir aber Ja zu einer Politik,
die sich ausreichend Steuern bei denen zurückholt, die
von den Geschenken der letzten Jahre profitiert haben.
Wir sagen Ja zu einer Wirtschaftspolitik, die demokratisch ist, die sozial gerecht ist und die nicht auf den wirtschaftspolitischen Lebenslügen von vorgestern aufbaut.
Danke schön.
({11})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Georg Fahrenschon,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Lieber Herr Kollege Troost, wir sitzen auf einem Schuldenberg von 1 500 Milliarden Euro, und das
Einzige, was die Linke uns anbietet, ist: Weiter so!
({0})
- Doch, das haben Sie gerade gesagt. Sie haben gerade
gesagt: Die Regeln sind so wunderbar, dass wir einfach
so weitermachen können.
Eines kann ich Ihnen sagen: Das Einzige, was die Regierungen vereint, die Sie gerade als Vorbild in Ihrer Argumentation genannt haben, ist, dass in keiner dieser
Regierungen ein Kommunist am Ruder sitzt. Die Kommunisten stehen in diesen Ländern auf der Straße und
demonstrieren gegen die rigide Sparpolitik.
({1})
Wir stehen in der Pflicht, unseren Kindern mehr als
einen gigantischen Schuldenberg zu hinterlassen. Wir
stehen in der Pflicht, unseren Kindern Chancen und Perspektiven zu eröffnen. Ein wesentlicher Grundstein
dafür ist eine nachhaltige und stabilitätsorientierte
Haushalts- und Finanzpolitik. Deshalb ist eine solche
Politik der Kern bürgerlicher Politik, der Kern der erfolgreichen Politik von CDU und CSU.
Die Kollegin Flach hat zu Recht darauf hingewiesen,
dass wir uns schon während der Haushaltsberatungen in
der letzten Woche über den Ausblick unterhalten und
eine Zwischenbilanz gezogen haben. Ich glaube, man
muss noch einmal deutlich machen, dass die Einhaltung
des europäischen Stabilitätspaktes, die Einhaltung des
Art. 115 Grundgesetz die Grundlage dafür ist, dass wir
uns jetzt über die Zukunft unterhalten können.
Wir machen deutlich - Kollege Fromme hat ein Stück
weit die Entwicklung beschrieben -, dass wir mit dieser
Situation noch nicht zufrieden sind. Wir können mit dem
Erreichten noch nicht zufrieden sein. Wir sind allerdings
überzeugt, dass wir die doppelte Politik von Konsolidierung einerseits und Wachstum andererseits benötigen.
Denn am Ende brauchen wir Wachstumsimpulse, um
überhaupt in die Lage versetzt zu werden, diesen riesigen Berg an Staatsschulden abzuarbeiten. Wer Konsolidierung und Wachstum gegeneinander ausspielt, macht
schon im Kern einen Fehler und wird die Zukunft nicht
gestalten können.
({2})
Wir haben immer noch ein zu großes strukturelles Defizit in Höhe von 23,5 Milliarden Euro, und wir reißen
immer noch das Schuldenstandskriterium; denn wir
liegen bei 67,9 Prozent. Das ist sage und schreibe das
3,6-Fache der Verschuldung, die wir in den 70er-Jahren
hatten. Deshalb ist es nach Auffassung der Union gerade
in konjunkturell guten Zeiten von so großer Wichtigkeit,
die weiterhin bestehenden Haushaltsungleichgewichte
so schnell wie möglich zu beseitigen und der Intention
der europäischen Haushaltsregeln folgend einen ausgeglichenen Haushalt nicht nur zu erreichen, sondern auch
für die Zukunft zu sichern.
Insoweit sind wir uns einig: Generationengerechte
Haushaltspolitik bedeutet, keine vermeidbaren Kosten
auf die folgenden Generationen zu übertragen. Diese
Grundregel ist im Grunde nichts Neues. Schon Bundesfinanzminister Theo Waigel hat diesen Grundgedanken
als Leitlinie in den Vertrag von Maastricht, in das Stabilitäts- und Wachstumsrecht von 1997 eingebaut.
({3})
Liebe Frau Kollegin Hajduk, es war - das ist nur als
Halbsatz zu werten - Ihr Finanzminister, der Finanzminister, den Sie in der Zeit von Rot-Grün unterstützt
haben, der als eine wesentliche Arbeit diesen Stabilitätsund Wachstumspakt erheblich geändert hat. Das heißt,
Sie waren mit dabei.
({4})
Wir müssen uns auch darüber unterhalten, dass der im
März 2002 eingerichtete nationale Stabilitätspakt durch
die Einführung des § 51 a in das Haushaltsgrundsätzegesetz zwischen Bund und Ländern zwar vereinbart wurde,
wir aber heute feststellen müssen, dass dieser nationale
Stabilitätspakt nicht funktioniert.
Darüber hinaus besteht die Sachlage, dass das Bundesverfassungsgericht zu der Klage Berlins auf Gewährung von Sanierungshilfen im vergangenen Jahr klar und
deutlich gesagt hat, dass wir verfahrensrechtliche und inhaltliche Regelungen zwischen Bund und Ländern zum
Umgang mit Sanierungsfällen brauchen. Beide Aufgaben - die Optimierung des nationalen Stabilitätspakts
und die fehlenden verfahrensrechtlichen und inhaltlichen
Regelungen - hat die Föderalismuskommission II jetzt
zu bearbeiten.
CDU und CSU unterstützen diese Bestrebungen ausdrücklich. Denn - das will ich noch einmal deutlich machen - wir brauchen ein System, das dazu führt, dass
jede Gebietskörperschaft schnellstmöglich einen ausgeglichenen Haushalt anstrebt und durch entsprechende
Überschüsse in ihrem Wirken in die Lage versetzt wird,
Schulden abzubauen.
({5})
Im Grunde ist es ein ganz einfacher Dreiklang. Nur
wenn wir in guten Zeiten Überschüsse erwirtschaften
und in normalen Zeiten einen ausgeglichenen Haushalt
erreichen, sind wir in der Lage, in schlechten Zeiten
quasi über den Griff in die Rücklage Politik zu machen.
Wenn wir diesen Dreiklang nicht erreichen, wenn wir
nicht erreichen, dass wir in besonders guten Zeiten besonders hohe Überschüsse erwirtschaften, dürfen wir
uns in besonders schlechten Zeiten nicht verschulden.
Das ist der klassische Dreiklang, zu dem wir zurück
müssen. Dafür brauchen wir eine Grundlage.
({6})
Wir sind deshalb der Auffassung, dass die Reform des
nationalen Haushaltsrechts eine Verfassungsänderung
einschließt, die nicht nur den Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Europäischen
Union Rechnung trägt, sondern auch alle anderen Gebietskörperschaften verfassungsrechtlich auf den Grundsatz der Nachhaltigkeit in der Haushaltspolitik verpflichtet. Unser klares Ziel ist es darüber hinaus, dass sich
Gebietskörperschaften, die dieses Ziel nicht sofort erreichen können, auf einen Weg des schrittweisen Abbaus
des Defizits begeben.
Deshalb wollen wir über die Verfassungsänderung hinaus ein Frühwarnsystem aufbauen, das bei Störungen
der Haushalte ausgelöst wird, um sie schon in einem frühen Stadium korrigieren zu können. Die Einleitung eines
solchen Warnverfahrens muss die jeweilig betroffene
Körperschaft zur Darlegung ihrer vergangenen und zukünftigen Haushaltspolitik und zur Festlegung verbindlicher Ziele für den Abbau der Verschuldung verpflichten.
Wenn wir über solch ein Frühwarnsystem und die damit verbundenen Verpflichtungen reden, müssen wir uns
natürlich auch über Sanktionen unterhalten. Selbstverständlich müssen wir die klare Ansage mit aufnehmen,
dass im Falle eines Bruchs dieser Verpflichtungen ein
Sanktionsverfahren eröffnet wird, welches nach unserer
Auffassung in letzter Konsequenz die Möglichkeit umfassen sollte, dass ein Land Ansprüche auf Bundesergänzungszuweisungen im Rahmen des Finanzausgleichs
verliert. Wenn das Gesetz keine Sanktionen vorsieht,
wird es wiederum nicht klappen, Schulden zu vermeiden. Das dürfen wir nicht zulassen.
({7})
Wenn wir ein Frühwarnsystem einrichten und Sanktionen verhängen wollen, dann brauchen wir ein Gremium, das über die Frühwarnmechanismen wacht und
über Sanktionen entscheidet. Wir müssen einem besonderen Gremium, das über Haushaltsdisziplin und Haushaltssanierung wacht und über Sanktionen entscheidet,
Kompetenzen übertragen. Der Finanzplanungsrat, über
den wir momentan verfügen, ist dafür nicht hinreichend
ausgestattet und von seiner Konzeption her letztendlich
nicht dazu geeignet, diese Aufgabe durchzuführen.
Die CSU-Landesgruppe - wir debattieren auch in der
Union darüber - spricht sich aus diesem Grund für die
Schaffung eines Stabilitätsrates aus, zu dessen Mitgliedern die Landesfinanzminister, der Bundesfinanzminister sowie die höchsten Repräsentanten von
Bundesrechnungshof und Bundesbank zählen sollten.
Diesem Stabilitätsrat obliegt es, auf gesetzlichem Wege
alle erforderlichen Befugnisse zur Überwachung der
Haushaltswirtschaft, zur Durchführung der notwendigen Sanktionsverfahren und zur Durchsetzung der gebotenen Haushaltsdisziplin zu erhalten, um dem Anliegen,
in Zukunft nicht dieselben Fehler wie in der Vergangenheit zu machen, gerecht zu werden.
({8})
Es ist und bleibt ein Kernanliegen von CDU und
CSU, die öffentlichen Finanzen schnellstmöglich und
nachhaltig auf eine tragfähige Grundlage zu stellen;
denn nur wenn es uns heute gelingt, finanzielle Handlungsspielräume für eine aktive, gestaltende Finanzpolitik zurückzugewinnen, kann Deutschland der Zukunft
erfolgreich begegnen.
Herzlichen Dank.
({9})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Ernst Burgbacher,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte zur Klarstellung in aller Kürze drei Punkte
nennen:
Erstens. Herr Kollege Kröning, wir sind für Haushaltskonsolidierung; wir sind dabei immer an der Spitze
marschiert. Haushaltskonsolidierung ist aber nur mögErnst Burgbacher
lich, wenn wir Strukturreformen vornehmen, insbesondere eine Steuerreform, die zu einer deutlichen Vereinfachung, aber auch zu einer Steuersenkung führt.
({0})
Nur dadurch werden wir dauerhaft eine Haushaltskonsolidierung erreichen.
({1})
Zweitens. Art. 115 Grundgesetz wurde 1969 von der
Politik gegen die damalige Troeger-Kommission durchgesetzt. Die Politik ist zum Teil gut damit gefahren, das
Land aber nicht.
({2})
Deshalb gibt es nur eines: Art. 115 Grundgesetz ersatzlos streichen.
({3})
Drittens, Schweizer Schuldenbremse. Man muss ehrlich sagen: Es gibt in der Schweiz sehr unterschiedliche
Schuldenbremsen. Die Kantone haben unterschiedliche
Schuldenbremsen; die Eidgenossenschaft hat eine eigene
Schuldenbremse, die bisher nur einmal angewendet werden sollte.
({4})
Was hat die Politik gemacht? Sie hat die Verantwortung
verschoben, weil sie sich zur Durchsetzung nicht imstande sah. Das zeigt doch, dass die Schweizer Schuldenbremse nicht zum Ziel führt.
({5})
Wir brauchen ein Neuverschuldungsverbot. Nur das
wird dauerhaft dazu führen, den Marsch in den Schuldenstaat zu stoppen und aus den Schulden herauszukommen.
({6})
Eines muss dann aber klar sein: Wenn wir die Länder
dazu verpflichten wollen, dauerhaft auf Schulden zu verzichten, dann müssen wir den Ländern die Instrumente
geben, die das politisch überhaupt ermöglichen. Die
Länder brauchen dann Gestaltungsmöglichkeiten auf der
Einnahmenseite. Wenn wir den Ländern keine Steuerautonomie einräumen, wird jede Lösung von vornherein
zum Scheitern verurteilt sein.
({7})
Schließlich möchte ich einen Punkt nennen, der heute
noch nicht angesprochen wurde. Wenn wir dauerhaft auf
Schulden verzichten wollen, dann müssen wir Änderungen am Länderfinanzausgleich vornehmen. Der anreizfeindliche Länderfinanzausgleich kann so nicht bestehen
bleiben.
Meine Damen und Herren, wir haben eine große Verantwortung gegenüber den nächsten Generationen. Haben Sie den Mut, jetzt deutliche Reformen durchzuführen!
Herzlichen Dank.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 16/5955 und 16/5954 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das
ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a bis 32 g sowie
die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf:
32 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 28. Oktober 1993 zur Änderung des
Europäischen Übereinkommens vom 30. September 1957 über die internationale Beförderung gefährlicher Güter auf der Straße ({0})
- Drucksache 16/6121 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Ressortforschung im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
- Drucksache 16/6124 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({2})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
c) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Pflanzenschutzgesetzes und des BVL-Gesetzes
- Drucksache 16/6386 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Leibrecht, Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Den gemeinsamen Standpunkt der EU zu
Birma/Myanmar stärken
- Drucksache 16/5608 11830
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({4})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Behm, Alexander Bonde, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Programm Energiewende in Gewächshäusern auflegen
- Drucksache 16/5969 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
f) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bun-
desrechnungshofes
Rechnung des Bundesrechnungshofes für das
Haushaltsjahr 2006
- Einzelplan 20 -
- Drucksache 16/6129 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Herbert
Schui, Dr. Barbara Höll, Ulla Lötzer, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE
Initiative Frankreichs aufgreifen - EADS
durch Kapitalerhöhung stärken und staatliche
Sperrminorität sicherstellen
- Drucksache 16/6395 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
ZP 2a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina
Lenke, Frank Schäffler, Dr. Hermann Otto Solms,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Steuerklasse V abschaffen - Lohnsteuerabzug
neu ordnen
- Drucksache 16/6396 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({6})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Grietje
Bettin, Bärbel Höhn, Kerstin Andreae, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Fehlende Verbraucherschutzregeln und Rechtsunsicherheiten im Telemediengesetz beseitigen
- Drucksache 16/6394 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({7})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Kultur und Medien
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 k auf.
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 33 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zum Schutz vor Gefährdung der Sicherheit
der Bundesrepublik Deutschland durch das
Verbreiten von hochwertigen Erdfernerkundungsdaten ({8})
- Drucksache 16/4763 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({9})
- Drucksache 16/6438 Berichterstattung:
Abgeordneter Martin Dörmann
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
16/6438, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 16/4763 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU bei Enthaltung
der FDP und der Fraktion Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit demselben Stimmenergebnis wie in der zweiten Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Richtlinie 2005/36/EG des
Europäischen Parlaments und des Rates über
die Anerkennung von Berufsqualifikationen
der Heilberufe
- Drucksache 16/5385 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({10})
- Drucksache 16/6458 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Hans Georg Faust
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/6458, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/5385 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen von SPD, der Fraktion Die
Linke und der CDU/CSU bei Enthaltung von Bündnis 90/
Die Grünen und FDP angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist auch
dieser Gesetzentwurf in der dritten Beratung mit demselben Stimmenergebnis wie in der zweiten Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 c:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes
- Drucksache 16/5725 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({11})
- Drucksache 16/6439 Berichterstattung:
Abgeordneter Horst Friedrich ({12})
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/6439, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 16/5725 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist auch in dritter Beratung mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({13}) zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Brüderle, Birgit Homburger,
Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Mehr Wettbewerb im Schornsteinfegerwesen
- Drucksachen 16/3344, 16/4601 Berichterstattung:
Abgeordneter Christian Lange ({14})
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4601, den Antrag der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/3344 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist damit mit dem größten Teil der Fraktion Die Linke,
SPD und CDU/CSU bei Enthaltung von zwei Mitgliedern der Fraktion Die Linke und gegen die Stimmen von
Bündnis 90/Die Grünen und FDP angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 33 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 262 zu Petitionen
- Drucksache 16/6348 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 262 ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 263 zu Petitionen
- Drucksache 16/6349 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 263 ist auch mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 264 zu Petitionen
- Drucksache 16/6350 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 264 ist mit den Stimmen
von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der
Fraktion Die Linke und Enthaltung der Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 266 zu Petitionen
- Drucksache 16/6352 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 266 ist bei Gegenstimmen
der Fraktion Die Linke mit den Stimmen des Hauses im
Übrigen angenommen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Tagesordnungspunkt 33 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 267 zu Petitionen
- Drucksache 16/6353 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Sammelübersicht 267 ist mit den Stimmen
von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen von
Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke an-
genommen.1)
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
Äußerungen des Bundesinnenministers zu angeblich bevorstehenden atomaren Anschlägen
durch Terroristen in Deutschland und seine
Ermunterung für die verbleibende Zeit
Diese Aktuelle Stunde findet auf Verlangen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen statt.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Wolfgang Wieland,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es war
ja nicht irgendjemand, der in der Sommerpause angesichts des Stakkatos aus dem Hause Schäuble geradezu
flehentlich um eine Atempause für die Bevölkerung bat.
Es war der Bundespräsident Horst Köhler. Aber selbst
dessen Appell ist ungehört verhallt. Im Gegenteil: Als
wäre er dadurch noch angestachelt worden, hat
Wolfgang Schäuble nun am Wochenende Dürers Apokalyptische Reiter geradezu durch den Blätterwald galoppieren lassen.
({0})
Bis sie uns einholen, so sagt er, mögen wir die verbleibende Zeit doch bitte schön noch genießen.
Man könnte das als schwarze Satire nehmen:
Dr. Schäuble oder wie ich lernte, die Bombe zu fürchten.
Aber der, der hier solche Ängste schürt, sitzt nun nicht
als Kabarettist da, das ist kein Feuilletonist im Geiste
von Oswald Spengler. Er ist der zuständige Mann, ebendies zu verhindern, er muss die Gefahr einer solchen
schmutzigen Bombe bekämpfen, konkret, mit Augenmaß. Wenn er sich dies nicht zutraut, dann ist er falsch
am Platz, dann muss er gehen.
({1})
Natürlich haben Terroristen jedweder Couleur auch
nach Atommaterial gegiert, nach atomaren Abfällen,
nach Plutonium. Deswegen hat gestern der Kollege
Hermann Scheer von der SPD völlig richtig gesagt: Ein
erster Schritt wäre die Abschaltung von Biblis.
1) Abstimmungen zu den Tagesordnungspunkten 33 h und k siehe
Seite 11832 A
({2})
Wir haben das vorgeschlagen. Der Antrag liegt seit Monaten im Innenausschuss; er wird geschoben und geschoben und geschoben. Dazu sage ich: Die Bürger wollen, dass man der Gefahr real begegnet, dass man
handelt und nicht schwafelt. Dazu sind wir aufgefordert.
({3})
Herr Schäuble macht sich da gar keine Gedanken. Er
sagt: Es ist gar nicht die Frage, ob, sondern nur, wann es
passiert. Das sagen die meisten Experten. Dahinter verschanzt er sich. Dann kommt dieser nette Rat, die Zwischenzeit fröhlich auszufüllen. Da sage ich klipp und
klar: Angst zu schüren, das ist das Ziel von Terroristen.
Ängste abzubauen und reale Sicherheit zu verstärken,
das ist die Aufgabe und sollte das Ziel des Bundesinnenministers sein.
({4})
Das Motiv für diese Kampagne ist klar: Mit den immer neuen Horrorszenarien soll der Koalitionspartner
sturmreif geschossen werden.
Es ist doch nachgerade absurd: Nach den Festnahmeerfolgen im Sauerland ging eine Debatte darüber los,
welche Lücken und Mängel wir haben. Man stelle sich
doch einmal einen Fußballtrainer vor, dessen Mannschaft
3 : 0 gewonnen hat und der sagt: Wir sind den gegnerischen Angriffen schutzlos ausgeliefert, wir müssen jetzt
alles, Strategie und Taktik, anders machen. Den würde
man für plemplem erklären.
({5})
Der Bundesinnenminister nimmt sich diese Narrenfreiheit aber. Warum? Er tut dies, weil er - das steht
heute völlig richtig in der Zeit - die andere Republik
will. Er haut mit dem Vorschlaghammer auf die bewährte Sicherheitsarchitektur ein. Das ist für einen Verfassungsminister unglaublich.
({6})
Die Schritte sind vorgegeben und liegen als Referentenentwürfe auf dem Tisch. Er will das BKA zu einem
deutschen FBI aus- bzw. umbauen, und zwar so, dass es
die vollen geheimdienstlichen Befugnisse der CIA
gleich noch mit erhält. Die Länderpolizeien werden dann
nur noch Hilfspolizeien sein und Amtshilfe leisten dürfen. Mehr nicht. Dabei wird die Abkopplung vom Generalbundesanwalt und dessen Sachleitungsbefugnis erfolgen. Er wird noch nicht einmal mehr darüber informiert,
was das BKA tut. Auch dies ist Absicht; denn das ist
dann auch eine Abkopplung von der Strafprozessordnung. Das will Wolfgang Schäuble, weil dort, wie er
meint, alleine die Unschuldsvermutung gilt, im Polizeirecht also nicht. Deswegen will er Polizeirecht pur und
schranken- sowie uferlos vorgehen.
Zu den Vorschlägen aus dem Hause Zypries in dieser
Woche zu Terrorcamps und dem Abschießen von Flugzeugen vom heutigen Tage an, sofern es keine Passagiermaschinen sind, sage ich hier ganz deutlich auch in
Richtung der SPD-Fraktion: Wer Wolfgang Schäuble,
Wolfgang Bosbach und der ganzen Kompanie den kleinen Finger gibt, der wird erleben, dass sie nach der ganzen Hand, ja sogar nach dem ganzen Arm greifen. Das
ist das Problem. Deswegen muss man Nein sagen und
standhaft sein. Man darf hier nicht nachgeben.
({7})
Schließlich und endlich zum Militäreinsatz im Inneren. Das galt zunächst ja als eine Art persönliche Marotte von Wolfgang Schäuble. In den 90er-Jahren hat er
wegen der Asylantenfluten damit angefangen. Dann hat
er es für die Fußballweltmeisterschaft 2006 immerhin erreicht, dass sich die CDU/CSU-Innenminister hinter ihn
gestellt haben. Nun, in diesem Jahr, sagt die Bundeskanzlerin auf die Gretchenfrage, was an der Union denn
noch konservativ sei: Wir sind für den Bundeswehreinsatz im Inneren. Das ist sozusagen der konservative
Marienschatz.
Herr Kollege, in der Aktuellen Stunde haben Sie fünf
Minuten Redezeit. Ich bitte Sie, diese auch einzuhalten.
Ja, Frau Präsidentin, das ist richtig. Ich komme zu
meinem letzten Satz.
Wolfgang Schäuble will die Vermischung von Militär
und Polizei. Er will die Vermischung von äußerer und innerer Sicherheit und nicht mehr die Trennung von Krieg
und Frieden. Dieser Minister wähnt sich im Krieg. Er
führt Krieg gegen den gesamten rechtstaatlichen Fundus
unserer Republik.
Herr Kollege, der eine Satz ist bereits beendet.
Er ist als Verfassungsminister untragbar.
({0})
- Es ist richtig, was ich hier mache.
({1})
Das Wort hat der Bundesinnenminister Dr. Wolfgang
Schäuble.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wer das, was ich in der Frankfurter Allgemeinen
Sonntagszeitung gesagt habe, liest, der wird ein bisschen
Mühe haben, irgendetwas von dem, was der Kollege
Wieland eben gesagt hat, darin zu finden.
Ich möchte Ihnen gerne eine kurze Passage aus einem
Interview mit al-Baradei, dem Chef der UNO-Atomkontrolleure, im Spiegel von Anfang September vorlesen.
({0})
Ihm wurde in diesem Interview die Frage gestellt:
Im Umfeld von al-Qaida hieß es ja schon, man
strebe nach Atomwaffen. Halten Sie die Gefahr für
realistisch, dass Terroristen an die ultimative Waffe
kommen?
Die Antwort al-Baradeis lautete:
Das ist meine größte Sorge, ein Horrorszenario. Ich
denke jetzt nicht an eine Atomwaffe - dafür reichen
das Know-how und das Beschaffungspotential keiner Terrorgruppe. Aber eine kleine, sogenannte
schmutzige Bombe mit radioaktivem Material,
irgendwo gezündet in einer Großstadt, könnte Menschenleben kosten, massiven Terror auslösen mit
schweren wirtschaftlichen Folgen. Manchmal
denke ich, es ist ein Wunder, dass das noch nicht
passiert ist. Und bete, dass es so bleibt.
Wollen Sie das, was Sie gesagt haben, in Bezug auf die
Äußerungen von Herrn al-Baradei verstanden wissen
oder nicht?
Ich habe festgestellt, dass das - übrigens nicht seit
neuestem - die größte Sorge der Sicherheitsexperten ist.
Als wir uns - wie meistens - am Montag getroffen haben, Herr Kollege Körper, haben Sie zu Recht festgestellt, dass das nichts Neues ist. Wir wissen, dass Bin
Laden schon 1998 - das war noch vor dem
11. September - nach den Anschlägen in Nairobi und
Daressalam gesagt hat, es sei heilige Pflicht aller Muslime im Kampf gegen die USA, sich aller verfügbaren
Waffen - ob A-, B- oder C-Waffen - zu bemächtigen.
Das ist weder neu, noch - um das auch zu sagen - gibt es
konkrete Hinweise darauf, dass uns in Deutschland ein
derartiger Anschlag droht. Trotzdem ist es die große
Sorge aller Sicherheitsexperten. Die Aussage ist leider
richtig, und wenn al-Baradei sich so äußert, dann wird
man das wohl feststellen müssen.
({1})
Deswegen hat man damals - ich habe noch in Erinnerung, wer seinerzeit Regierungsverantwortung getragen
hat - in völligem Einvernehmen von Bund und allen
Ländern - ich bin derjenige, der diese bewährte Sicherheitsarchitektur in ihrer Wirkungskraft immer verteidigt
und dies auch begründet - richtigerweise beschlossen,
auch übrigens in der Vorbereitung auf das große Ereignis
der Fußballweltmeisterschaft 2006, im Bevölkerungs11834
schutz Elemente der ABC-Vorsorge einzuführen, und hat
daraufhin 500 Dekontaminationsfahrzeuge, also Fahrzeuge für den ABC-Schutz, angeschafft. Das heißt, wir
bereiten uns vor. Damit habe nicht erst ich angefangen.
Das wäre auch völlig unverantwortlich. Wir stehen vielmehr in einer Kontinuität und nehmen die Lage ernst.
Wie ich schon nach den erfolgreichen Fahndungsmaßnahmen im Zusammenhang mit dem Ermittlungsverfahren der Bundesanwaltschaft festgestellt habe, gibt
es zwei Botschaften aus diesem Ereignis. Die gute Botschaft ist: Wir haben gute Sicherheitsbehörden, die gute
Arbeit leisten. Die Bevölkerung kann auf die gute Arbeit
dieser Sicherheitsbehörden auch angesichts ernst zu nehmender Bedrohungen vertrauen.
Die andere nicht ganz so frohe Botschaft lautet: Wir
sind bedroht. Auch das ist nicht neu; es ist nur ein Stück
konkreter geworden. Das ist nicht erfreulich, aber es ist
die Wahrheit. Wir können diese Wahrheit nicht verschweigen. Wir müssen sie sagen. Wir müssen darauf
nicht überzogen reagieren, überhaupt nicht; aber wir
sollten uns bemühen, sie nicht zu verdrängen.
Wir alle reden immer vom mündigen Bürger. Wenn
wir ihn ernst nehmen, dann sollten wir ihm sagen: Wir
haben gute Sicherheitsbehörden; sie leisten gute Arbeit.
Da die Arbeit der Sicherheitsbehörden so gut ist, bin ich
auch dafür, auf sie zu hören, wenn sie uns gerade im Angesicht eines so zu rühmenden Fahndungserfolges geradezu beschwören, ihnen angesichts der rasanten Entwicklungen in den Kommunikationstechnologien die
notwendigen gesetzlichen Instrumente zu geben, damit
sie auch in Zukunft gute Arbeit leisten können. Wer die
Auffassung des Präsidenten des Bundeskriminalamts
oder der verfahrensleitenden Generalbundesanwältin
kennt, der wird doch nicht sagen, dass die CDU/CSU
verrückt geworden ist. Auch sie wollen versuchen, den
Sicherheitsbehörden, die gute Arbeit leisten, auch in der
Zukunft die notwendigen gesetzlichen Grundlagen zu
geben, damit sie auch in der Zukunft gute Arbeit leisten
können. Das ist unsere Verantwortung als Gesetzgeber,
nicht mehr und nicht weniger.
({2})
Darüber können wir gerne streiten, aber nicht in dieser Form von Diffamierung.
({3})
- Doch. Sie unterstellen einem abwechselnd, man wolle
die Verfassung abschaffen oder man sei geisteskrank.
Dazwischen gibt es kaum etwas bei Ihnen.
({4})
- Frau Künast, ich verstehe, dass Sie Herrn Wieland
nicht so genau zuhören. Wenn man ihn öfter hören muss,
dann kann ich das gut nachempfinden. Aber lassen wir
das. Das Thema ist offensichtlich ernst.
({5})
Lassen Sie uns in allem Ernst über die Frage der Abgrenzung und darüber reden, wie wir sicherstellen können, dass wir auch in der Zukunft ausschließlich auf klarer und eindeutiger verfassungsrechtlicher Grundlage
handeln. Ich erinnere mich dunkel daran, dass der Entwurf eines Luftsicherheitsgesetzes, über den wir gestern
im Rahmen der Aktuellen Stunde zu den Äußerungen
des Kollegen Jung debattiert haben, von der rot-grünen
Bundesregierung stammt. Ich erinnere mich präzise daran, dass der damalige Redner der Opposition - das war
der Abgeordnete Schäuble - gesagt hat: Den Schutzzweck teilen wir, aber die verfassungsrechtliche Grundlage dafür ist fraglich.
Wir haben im Koalitionsvertrag sodann einen Prüfungsauftrag vereinbart, der bei der Beantwortung der
Frage helfen sollte, was wir machen, wenn das Verfassungsgericht so entscheidet, wie es damals nicht auszuschließen war. Dann haben die drei fachlich beteiligten
Ressorts, Innenministerium, Justizministerium und Verteidigungsministerium auf fachlicher Ebene, politisch
nicht abgestimmt - Frau Kollegin Zypries hat immer gesagt, das ist politisch nicht entschieden; darüber gibt es
keinen Dissens; diese Entscheidung kann nicht in der
Verantwortung der Ressorts getroffen werden, sondern
nur in der Koalition im Ganzen -, einen auf Abteilungsleiterebene abgestimmten Vorschlag erarbeitet, aus dem
hervorgeht, wie man das Problem lösen kann, das aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum
rot-grünen Gesetzentwurf entstanden ist. Diesen Vorschlag haben wir der Koalitionsführung unterbreitet. Es
ist bisher nicht entschieden worden. Das kritisiere ich
nicht, aber ich verstehe die Not des Kollegen Jung und
bitte, sie ernst zu nehmen.
({6})
- Herr Kollege, über den Gegenvorschlag der SPD reden
wir.
({7})
Bis es aber entschieden ist, hat der Kollege Jung genauso wie sein direkter Vorgänger, Herr Struck - von
ihm gibt es entsprechende Äußerungen -, und alle anderen Vorgänger seit Georg Leber die Not zu tragen, in einer verfassungsrechtlich nicht einwandfrei geregelten
Situation - was Gott verhindern möge - Entscheidungen
treffen zu müssen, für die ich lieber eine verfassungsrechtlich einwandfreie Lösung haben möchte. Dafür
werbe ich.
({8})
Das gilt - um es noch einmal zu sagen - in gleicher
Weise für die Bitten von Generalbundesanwaltschaft und
Bundeskriminalamt, gerade angesichts der Fahndungserfolge.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Gefahr ist
nicht vorüber. Die Islamische Dschihad-Union hat uns
eine Woche danach erklärt: Jawohl, das stimmt so, und
man wird die Planungen fortsetzen. Das müssen die
Sicherheitsbehörden ernst nehmen. Wenn sie uns geradezu beschwörend bitten, gebt uns einwandfreie Rechtsgrundlagen - übrigens sind die Rechtsgrundlagen aus
rot-grüner Zeit vom Bundesgerichtshof für nicht einwandfrei erklärt worden -, dann ist es unsere Pflicht,
Rechtsgrundlagen zu schaffen; nicht mehr, aber auch
nicht weniger. Diejenigen, die sagen, auf der Basis unseres Grundgesetzes wollen wir auch in Zukunft unsere
Freiheit wahren und im Rahmen dieser Freiheit den
Menschen das mögliche Maß an Sicherheit gewähren,
planen keine Anschläge auf die Verfassung, sondern machen die Verfassung auch in Zukunft krisenfest. Dafür
bitte ich Sie um Ihre Unterstützung.
({9})
Ich habe gebe das Wort der Kollegin Gisela Piltz,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Schäuble, ich bin wirklich verwundert, dass
Sie hier und heute für das, was Sie am Wochenende der
Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung gesagt haben,
ein Spiegel-Interview als Erklärung anbieten. Ist dieses
Interview, das Bemerkungen von al-Baradei enthält,
wirklich alles, was Sie heute dem Deutschen Bundestag
und der Bevölkerung zu bieten haben? Ich finde, das ist
eines Innenministers nicht würdig.
({0})
Es nützt überhaupt nichts, dass Sie von der CDU/
CSU-Fraktion so lange klatschen. Eines ist heute und
gestern klar geworden: Diese Koalition ist in der Innenpolitik total zerrüttet.
({1})
Das ging sehr schnell; das muss Ihnen erst einmal jemand nachmachen.
Als ich am Sonntagmorgen die Sonntagsausgabe der
FAZ gelesen habe, konnte ich jedenfalls nicht gelassen
bleiben. Sie können sich vorstellen, dass es mir schon
schwerfällt - ich bin Rheinländerin -, nicht gelassen zu
bleiben.
Viele Fachleute sind inzwischen überzeugt, dass es
nur noch darum geht, wann solch ein Anschlag
kommt, nicht mehr, ob.
Das ist ein Zitat von Ihnen. Der Höhepunkt ist aus meiner Sicht aber, dann auch noch zur Gelassenheit aufzurufen. Was sollen denn die Eltern, die gerade mit ihren
Kindern am Frühstückstisch sitzen, damit anfangen?
Sollen wir jetzt unsere Häuser verkaufen, unser Testament ändern und fröhlich in den Tag leben? Das kann
doch wirklich nicht Ihr Rat an uns sein.
({2})
Nicht gelassen war ich deshalb, weil Sie die Ängste
unserer Bürgerinnen und Bürger schüren, ohne ihnen einen Ausweg aufzuzeigen, aber auch, weil ich nicht akzeptieren kann, wie Sie zum wiederholten Male mit unserer Verfassung umgehen. Falls Sie sich nicht so richtig
erinnern können, hier ein kleiner Auszug. Ich könnte das
Material als Beipackzettel mit der Überschrift Der Innenminister warnt verteilen lassen.
Es geht los mit einem Interview in der Welt vom
Februar 2007: Es gibt aktuell keine ganz besondere Gefährdung. Das nur, um den Widerspruch aufzuzeigen.
Dann sagten Sie im Februar 2007:
Ich kenne und respektiere die Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts zum Schutz der Privatsphäre. Aber wir müssen auch sehen, dass dieser
Schutz in der Alltagswirklichkeit praktikabel bleibt.
Verbrecher und Terroristen sind klug genug, so etwas auszunutzen.
Am 12. März: Die Gefahr von Anschlägen durch den
internationalen Terrorismus ist groß, und sie kann überall jeden treffen. Im April:
Die Unschuldsvermutung heißt im Kern, dass wir
lieber zehn Schuldige nicht bestrafen, als einen Unschuldigen zu bestrafen. Der Grundsatz kann nicht
für die Gefahrenabwehr gelten.
Im Mai gab es eine Warnung der australischen Regierung, nach Deutschland zu reisen. In der Welt hieß es:
Wie das australische Ministerium bekannt gibt, ist dieser Sicherheitshinweis mit den Verlautbarungen des
deutschen Innenministers zu erklären. Am 9. Juli sagten Sie, dass die rechtlichen Probleme bis hin zu Extremfällen wie dem sogenannten Targeted Killing reichten.
Lieber Herr Innenminister, Ihre Karriere als Nostradamus unserer Zeit ist damit vorprogrammiert. Als Innenminister bekämpfen Sie aber damit keine Unsicherheit.
({3})
Was wollen Sie damit eigentlich erreichen? Sie wollen die SPD unter Druck setzen. Dass Sie dafür die
Ängste unserer Bevölkerung nutzen, halte ich für skandalös.
({4})
Das, was Sie tun, ist nicht ehrlich und zugleich gefährlich, weil Onlinedurchsuchungen nicht das Allheilmittel gegen Terrorismus sind.
({5})
Wir brauchen mehr. Über viele Dinge, zum Beispiel über
die bessere Ausstattung der Polizei, bessere Kommunikation
({6})
- ich nenne nur den BOS-Digitalfunk - und über die
Vermeidung von Doppelarbeit und Doppelzuständigkeiten hört man im Moment sehr wenig von Ihnen. Hingegen gibt es einen Bericht des Bundesrechnungshofs, der
ganz klar sagt, dass in Ihrem eigenen Programm zur
Stärkung der inneren Sicherheit bei der Mehrzahl der untersuchten Maßnahmenpakete nicht erkennbar ist, dass
die Bundespolizei ihre Ziele in absehbarer Zeit erreichen
kann. Auch davon ist in Ihren Interviews nichts zu lesen.
({7})
Das könnten Sie dann nicht einschränken oder zurücknehmen. Das ist nämlich die Wahrheit.
Aber Sie schrecken auch vor der nächsten Stufe nicht
zurück; Sie haben sich vielmehr mit dem Bundesverteidigungsminister zusammengetan, sozusagen als Tandem, das an der Bedrohungsspirale dreht.
({8})
Sie machen gemeinsame Sache mit dem Bundesverteidigungsminister. Sie haben es sich wirklich klug ausgedacht, dass Sie an einem Wochenende zwei Interviews
geben. Allerdings hat Ihnen der Bundesverteidigungsminister einen Strich durch die Rechnung gemacht. Das Interview hätten Sie selber redigieren sollen. Ehrlich gesagt: Das, was Ihrem Kollegen passiert ist, wäre Ihnen
nicht passiert. Das sollten Sie in Zukunft besser machen.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Mein letzter Satz. - Daraus wird eines klar: Genau
wie die USA wollen Sie die terroristische Bedrohung
nicht mit den Mitteln des Rechtsstaats bekämpfen, sondern Sie wollen ein Sonderrecht außerhalb unserer Verfassung. Den Rechtsstaat und seine Bürgerinnen und
Bürger zu schützen, das ist kein Firlefanz, wie es gestern
hier gesagt worden ist.
Frau Kollegin.
Das ist vielmehr die Aufgabe dieses Hauses. Wir jedenfalls arbeiten daran.
Herzlichen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Fritz Rudolf Körper
von der SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Schäuble, freitagabends scheint Sie die Sorge zu
befallen, was Sie nur mit dem bevorstehenden Wochenende machen sollen.
({0})
Diese Frage ist mir aufgefallen. Sie beantworten Sie in
der Regel durch die Abgabe eines Interviews oder durch
die Verbreitung auch manchmal alarmierender Pressemeldungen. Wenn ich die letzten Wochenenden Revue
passieren lasse, fallen mir einige dieser Freizeitbeschäftigungen auf. Eigentlich ist es keine Freizeitbeschäftigung, sondern eher deren Vermeidung. Es ist eine Art
Dienst an Wochenenden, allerdings mit Folgen, die niemandem nützen, auch nicht der innenpolitischen Debatte
in Deutschland.
({1})
Ich gebe zu, es wäre auch sinnvoller gewesen, eine so
unverantwortliche ins Auge gefasste Maßnahme wie die
Herabsenkung des Mindestalters für den Erwerb und den
Besitz großkalibriger Waffen von 21 auf 18 Jahre, nicht
aus der Presse zu erfahren.
({2})
Ich bin auch sehr froh darüber, dass diese Maßnahme zurückgenommen worden ist. Das zeugt auch zu einem
Teil davon, wie Öffentlichkeitsarbeit gemacht wird.
Lieber Herr Schäuble, am vergangenen Wochenende
plagte Sie offensichtlich wieder die Langeweile. Also
gaben Sie der FAS vom 16. September ein Interview.
Darin beschäftigten Sie sich mit der Möglichkeit eines
terroristischen Anschlags mit nuklearem Material. Sie
entwarfen ein Gefahrenszenario, das die Sicherheitsbehörden schon seit langer Zeit beschäftigt. Das weiß ich
aus eigener Anschauung. Leider erweckten Sie aber den
Eindruck, dass dieses Szenario nicht nur die bekannten
abstrakten Gefahren abbildet, sondern dass ihm eine gewisse Aktualität zukommt. Und darin besteht das Problem.
({3})
Hätte es eine Aktualität gegeben, wären Sie verpflichtet gewesen, die zuständigen Gremien zu unterrichten.
Dies ist nicht erfolgt, deswegen gab es auch keine
Aktualität.
({4})
Herr Schäuble, ich hätte gern, dass Sie jetzt noch einmal zuhören.
({5})
Im gleichen Interview rufen Sie die Bevölkerung in einem Atemzug mit der Warnung vor einem Terrorangriff
mit Nuklearmaterial zu Gelassenheit auf. Das ist nach
meinem Dafürhalten die Besonderheit.
({6})
Der Aufruf hat daher nur den Hintergrund, Beunruhigung zu erzeugen. Wenn Sie diesen Nachsatz, den Sie
gesagt haben, den Sie aber heute nicht angesprochen haben, ins Pfälzische übersetzen, könnte man sagen: Trink
noch einen Schoppen oder zwei, es ist ohnehin bald alles
vorbei.
({7})
Ich halte es für sehr unverantwortlich, mit diesem
Thema so umzugehen.
Sie tragen auch die Verantwortung dafür, die Sicherheitslage objektiv darzustellen.
({8})
Wir können darauf stolz sein, dass Deutschland im internationalen Vergleich eines der sichersten Länder der
Welt ist.
({9})
Wenn das subjektive Empfinden der Menschen nicht mit
dieser objektiven Lage, dass wir eines der sichersten
Länder der Welt sind, übereinstimmt, sind diese Interviews dafür verantwortlich.
({10})
Es gibt ein Sprichwort Reden ist Silber, Schweigen ist
Gold.
({11})
Lieber Herr Schäuble, mein Rat an Sie lautet, sich dieses
Sprichwort zu Herzen zu nehmen. Damit dienen Sie
auch der innenpolitischen Debatte.
({12})
Diese Öffentlichkeitsarbeit überlagert im Grunde genommen die innenpolitische Arbeit. Ich finde das
schade, denn wer die Koalition von innen heraus kennt,
wird feststellen, dass wir auf einem guten Weg sind.
Nicht umsonst wollen wir beispielsweise das Bundeskriminalamt mit einer Präventionszuständigkeit ausstatten.
Das ist für den Kampf gegen den internationalen Terrorismus dringend notwendig. Wir hätten da viel weiter
sein können, wenn es nach den Vorstellungen der SPDFraktion gegangen wäre.
Herr Kollege!
Ich bedanke mich ganz herzlich für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau, Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das zur Rede stehende Zitat spricht für sich. Ich kommentiere das nicht. Es ist mir einfach zu zynisch.
Mich ärgert etwas anderes mehr: Seit Wochen, ja Monaten erleben wir ein Stakkato von Angriffen auf Recht
und Gesetz, auf die grundsätzliche Verfasstheit der Bundesrepublik. Diese Attacken auf das Grundgesetz kommen nicht von Extremisten und auch nicht von Terroristen, sondern direkt aus den Ministerien und dem
Bundeskanzleramt. Ich finde, das ist ein unhaltbarer Zustand.
({0})
Der eine Minister sagt: Das Grundgesetz taugt nicht
mehr für diese Zeit. Der andere Minister, Franz Josef
Jung, sagt: Das Grundgesetz interessiert mich nicht. Ich
sage dazu: Es ist etwas faul. Ich finde, die Loyalität der
Bundeskanzlerin darf nicht so weit gehen, dass sie solche Angriffe auf das Grundgesetz duldet oder gar stützt.
({1})
Das aktuelle Tohuwabohu von Amts wegen begann
übrigens schon rund um den G-8-Gipfel. Ich will nur einen Punkt ansprechen. Mit mehreren tausend Soldatinnen und Soldaten nebst Militärgerät wurde die Bundeswehr rund um Heiligendamm und damit im Inneren
eingesetzt. Bis heute ist im Übrigen nicht einmal klar,
wer den Tornados die Flüge über die G-8-Camps genehmigt hat. Ich finde, das ist ein Ding aus dem Tollhaus.
Trotzdem verweist die Bundesregierung auf Art. 35
Grundgesetz und behauptet, alles sei rechtens gewesen.
Art. 35 Grundgesetz gestattet den Einsatz der Bundeswehr im Innern bei außerordentlichen Naturkatastrophen und bei besonders schweren Unglücksfällen. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, ist das Ihr Ernst? Wenn der
G-8-Gipfel eine außerordentliche Naturkatastrophe war
und ein besonders schwerer Unglücksfall,
({2})
dann frage ich die Bundesregierung: Warum holen Sie so
viel Unglück in unser Land?
({3})
Die Unionsparteien wollen seit langem die Bundeswehr im Innern einsetzen, und sie setzen dabei auch auf
so etwas wie Gewohnheitsrecht. Selbst bei sogenannten
Sicherheitskonferenzen, die von Rüstungskonzernen organisiert werden, sichert die Bundeswehr rechtswidrig
die Logistik. Anders gesagt, der einfache Steuerzahler
finanziert die Rüstungslobby. Das ist inzwischen Usus,
und das ist für die Linke nicht hinnehmbar.
({4})
Verteidigungsminister Jung hat wiederholt, er werde
von Terroristen entführte Passagierflugzeuge abschießen
lassen. Das wollten schon damals SPD und Bündnis 90/
Die Grünen, bis das Bundesverfassungsgericht entschied: Niemand darf Gott spielen und Menschenleben
gegen Menschenleben aufwiegen. Minister Jung will es
dennoch. Ich finde, das offenbart ein gefährliches
Rechts-, aber auch Religionsverständnis der CDU.
Es ist übrigens nicht das erste Mal, dass Bundesregierungen Urteile hoher Gerichte - wie der Berliner sagt wurscht finden. Das Bundesverwaltungsgericht hat im
Jahre 2005 festgestellt, dass Deutschland sehr wohl am
völkerrechtswidrigen Krieg der USA gegen den Irak beteiligt ist. Was macht die Bundesregierung bis heute mit
diesem Urteil? Sie ignoriert es. Wer so mit Recht und
Gesetz umspringt, darf sich über eine allgemeine Verrohung der Sitten nicht wundern.
({5})
Innenminister Schäuble will beharrlich Computer
klammheimlich online überwachen lassen. Auch das ist
ein Angriff auf verbriefte Grundrechte; er weiß das. Herr
Minister, hätte ich nicht ein gestörtes Verhältnis zu dieser Behörde, so würde ich sagen: Wolfgang Schäuble ist
ein typischer Fall für den Verfassungsschutz.
({6})
Ich gebe zu, Herr Minister: Sie sind intelligent. Sie
lenken den Fokus auf die Onlineuntersuchung, und ganz
nebenbei forcieren Sie den größten Umbau in der Geschichte der Bundesrepublik, weg vom demokratischen
Rechtsstaat hin zum präventiven Sicherheitsstaat. Sie
setzen dabei auf die SPD, denn nie war die Koalition so
groß und damit offensichtlich auch die Versuchung, einen Pakt mit dem Teufel zu schließen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, da die Union teuflisch
entschlossen zu sein scheint, kann ich an Sie nur appellieren: Verweigern Sie sich, und helfen Sie, das Grundgesetz zu schützen!
Ganz in diesem Sinne wird es übrigens am Sonnabend in Berlin eine bundesweite Demonstration geben.
Ich lade Sie alle dazu ein. 14.30 Uhr am Brandenburger
Tor: Gegen Überwachung und Datenklau, für Freiheit
und Bürgerrechte. - Ich werde jedenfalls dabei sein.
({7})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Clemens Binninger,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Vor etwa zweieinhalb Wochen hat - es
wurde schon angesprochen - der Chef der Atomenergiebehörde, al-Baradei, gesagt, seine größte Sorge sei, dass
Terroristen mit radioaktivem Material eine schmutzige
Bombe zünden könnten. Gab es darauf Empörung oder
andere Reaktionen? Nein. Hat sich die FDP oder haben
sich die Grünen irgendwie empört? Nein. Gab es eine
medial aufgeblasene Debatte über die Unsinnigkeit dieser Behauptung? Nein.
({0})
Wolfgang Schäuble hat vor vier Tagen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung genau das Gleiche
gesagt. Daraufhin haben Grüne und FDP ihre Empörungsmaschine eingeschaltet und Betroffenheit geheuchelt. Das ist nicht nur scheinheilig, sondern in hohem
Maße auch unglaubwürdig.
({1})
Ich würde mir wünschen, dass Sie sich etwas mehr
der Sicherheitslage widmen, statt sich intensiv nur mit
den Interviews des Ministers auseinander zu setzen.
({2})
Dass Deutschland innerhalb der letzten zwölf Monate
nur zweimal knapp einem verheerenden Anschlag entgangen ist, das kommt bei Ihnen nicht vor.
({3})
Dass die drei Attentäter, die vorletzte Woche festgenommen wurden, mehr als eine halbe Tonne Sprengstoff an
belebten Orten zünden wollten, das kommt bei Ihnen
nicht vor. Dass es in Deutschland unverändert mehr als
100 sogenannte Gefährder gibt, die eine permanente Bedrohung für unser Land sind, die sich sehr konspirativ
verhalten, die modernste Technik benutzen, die sich abschotten, das alles kommt bei Ihnen nicht vor. Sie von
FDP und Grünen blenden die Sicherheitspolitik in Ihren
Debatten völlig aus und konzentrieren sich stattdessen
auf Polemik gegenüber dem Innenminister.
({4})
Das ist nicht nur unanständig, sondern auch schädlich
für die Sicherheit unseres Landes.
({5})
Herr Kollege Körper, man kann über Interviews natürlich immer unterschiedlicher Meinung sein, aber eines, glaube ich, muss klar sein: Es ist die Pflicht und die
Aufgabe eines Innenministers, auf die Sicherheitslage
und die Bedrohungslage sowie die damit verbundenen
Herausforderungen hinzuweisen.
({6})
Es ist eben nicht so, dass die Bedrohungslage seit dem
11. September unverändert wäre. Sie hat sich gewandelt.
Die Bundesrepublik ist von einem Ruhe- und Rückzugsraum zu einem Anschlagsziel geworden. Das Täterprofil
hat sich gewandelt. Madrid und London, daran sieht
man: Die Vorgehensweise wird hemmungsloser, brutaler. Die Abschottung nimmt zu, und das Handeln wird
immer konspirativer. Neue Technik wird eingesetzt. All
das hat sich gewandelt.
Es ist die Aufgabe und die Pflicht von Minister
Schäuble - ich bin ihm dankbar dafür, dass er ihr nachkommt -, dies zu benennen und zu sagen, was wir tun
müssen, wenn wir die Sicherheit der Menschen in unserem Land gewährleisten wollen, und wir wollen das.
({7})
In diesem Zusammenhang ist die heutige Debatte eine
gute Gelegenheit, einmal darauf hinzuweisen, wo sich
die FDP und teilweise auch die Grünen in den letzten
Jahren bei notwendigen sicherheitspolitischen Maßnahmen immer wieder verweigert haben. Die Einrichtung
eines Antiterrorzentrums - dies trifft nicht die Grünen -:
Die FDP hat dagegen gestimmt. Mehr Befugnisse zur Informationsbeschaffung für die Sicherheitsbehörden, vor
einem halben Jahr beschlossen: Die FDP hat dagegen
gestimmt. Die überfällige Antiterrordatei: Grüne und
FDP haben dagegen gestimmt.
({8})
So ließe es sich fortsetzen. Überall, wo wir etwas für die
Sicherheit unseres Landes tun, blenden sich FDP und
Grüne aus. Das ist fahrlässig und unverantwortlich.
({9})
Bei der FDP hat dies ja ein bisschen Tradition. Viele
werden sich daran erinnern, wie sehr die FDP den großen Lauschangriff politisch bekämpft hat. Seinerzeit gab
es sogar einen Rücktritt; den Namen habe ich vergessen.
({10})
Heute sind wir froh, dass wir dieses Instrument für unsere
Sicherheitsbehörden haben. Ohne den großen Lauschangriff, den die FDP bekämpft hat, wären die Sicherheitsbehörden nicht in der Lage gewesen, die Anschläge zu verhindern. Gott sei Dank haben wir dieses Instrument, das
die FDP verhindern wollte.
({11})
Wir müssen uns über eines im Klaren sein: Die große
Mehrheit der Bevölkerung in diesem Land möchte,
wenn es um die Bekämpfung des Terrorismus geht, einen starken Staat. Die Große Koalition will das auch.
({12})
FDP und Grüne wollen es offensichtlich nicht. Sie schüren Misstrauen, sie polemisieren gegen den Innenminister; aber vernünftige Vorschläge für die Sicherheit unseres Landes kommen von ihnen beiden nicht. Das ist die
Botschaft der heutigen Debatte.
Herzlichen Dank.
({13})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Silke Stokar für
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wäre
die Situation in Deutschland nicht so ernst - wir haben ja
eine reale Bedrohung durch Terrorismus -, könnte man
über einen Teil der innenpolitischen Debatte, die hier im
Plenum so offen geführt wird - im Innenausschuss läuft
sie viel schlimmer ab -, durchaus amüsiert sein.
Herr Binninger, Sie haben uns vorgeworfen, wir würden die Sicherheit nicht ernst nehmen. Ich möchte Ihnen
sagen: Zwei in Deutschland geplante Terroranschläge
wurden auf der Grundlage der unter Rot-Grün geschaffenen Sicherheitsgesetze verhindert.
({0})
Genau die Gesetze, die damals unaufgeregt, unter Achtung der Verfassung,
({1})
ohne Schüren von Ängsten und in Einigkeit der Koalition geschaffen wurden, waren die Grundlage für die Erfolge der Sicherheitsbehörden, über die wir alle froh
sind.
Herr Bundesinnenminister Schäuble, ich empfinde es
als merkwürdig, was Sie hier seit einiger Zeit abziehen.
Einerseits werfen Sie uns an jedem Wochenende über
die Sonntagszeitungen Brocken hin und freuen sich darüber, wie es Ihnen mit den Interviews gelingt, zum einen die SPD vor sich her zu treiben und zum anderen
- dies halte ich für unverantwortlich - die Bevölkerung
in Angst und Verunsicherung zu versetzen. Andererseits
sagen Sie, wenn Sie im Innenausschuss oder im Parlament sind - ich weiß nicht, ob das feige oder Strategie
ist; das ist mir auch egal -, Sie hätten doch gar nichts gemacht. Es ist doch ein Unterschied, in welchem Zusammenhang ein Zitat vorgebracht wird. Dass seit dem
11. September über eine dreckige Bombe geredet wird,
ist uns allen bekannt. Es geht doch darum, auf welche
Art und Weise, in welchem Kontext und mit welcher
Empfehlung an die Bevölkerung Sie darüber reden. Dies
ist hier zu Recht gesagt worden.
({2})
Sie können als Innenminister hier doch nicht sagen, es
sei möglich, dass Terroristen eine Nuklearbombe bauten,
und dann der Bevölkerung die Empfehlung geben: Genießen Sie bis dahin das Leben! Das ist ein Fatalismus,
mit dem Sie das Vertrauen in Politik unterminieren, mit
dem Sie den Eindruck erwecken, der demokratische
Rechtsstaat sei mit seiner Verfassung in einer solchen
Bedrohungslage nicht handlungsfähig. Ich nenne ein solches Verhalten unverantwortlich; es ist ein parteipolitisches Ausschlachten von Innenpolitik, ohne dass Lösungen oder Konzepte angeboten würden.
Rot-Grün hat damals anders gehandelt; das haben Sie
zu Recht gesagt. Wir haben damals in Anbetracht der
möglichen Anthrax-Anschläge zivile ABC-Fahrzeuge
angeschafft, damit wir mit zivilen Mitteln, ohne Einsatz
der Bundeswehr, mit neuen Bedrohungslagen im Innern
umgehen können. Das war genau die richtige Antwort.
({3})
Erkennbare Gemeinsamkeiten - auch das finde ich fatal; ich denke, dass die innenpolitische Debatte so nicht
weitergehen kann - in der Innenpolitik gibt es in dieser
Großen Koalition nicht. Ich will Ihnen nur einmal Einblick gewähren, wie das im Innenausschuss aussieht;
dagegen ist das hier eine softe Veranstaltung. Im Innenausschuss sagt Herr Bosbach zum innenpolitischen Sprecher Lügner; da leisten sich SPD und Union im Beisein des BKA-Chefs Ziercke eine Schlammschlacht über
Innenpolitik; sachlich-inhaltlich haben sie gemeinsam
keinen Beitrag zu leisten.
Ich schaue da auch in Richtung SPD: Ich finde es eine
verkehrte Welt, wenn ein Landesinnenminister wie Herr
Stegner in Schleswig-Holstein gehen muss und Herr
Schäuble hier sitzen bleiben kann. Da erwarte ich von
Ihnen von der SPD nicht nur eine vorsichtige Auseinandersetzung, sondern dass Sie, wie Herr Struck das getan
hat, deutlich machen, wohin es in der Innenpolitik in
Deutschland gehen soll.
({4})
Eine Regierungserklärung dazu, wie sie gestern gefordert wurde, hat es nicht gegeben. Aber ich denke, Bevölkerung und Parlament haben Anspruch darauf, dass die
Bundeskanzlerin erklärt, welche Innenpolitik in Deutschland in den nächsten Monaten
Frau Kollegin!
- von der Großen Koalition verantwortlich betrieben
werden kann und soll. Vom Bundesinnenminister
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. Auch
wenn Sie mich weiterhin ignorieren, muss ich Sie daran
erinnern, dass Ihre Redezeit zu Ende ist.
- mein letzter Satz - erwarte ich eine offene Darstellung. Sie haben hier gesagt, Sie wollen im Rahmen der
Verfassung
Frau Kollegin!
- Politik machen. Dann erklären Sie hier auch öffentlich, dass Sie die Verfassung nicht ändern wollen.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat der Kollege Michael Hartmann, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich finde es schade, Herr Kollege Binninger,
dass Herr Westerwelle - vielleicht zufällig - nach Ihrer
Rede den Saal verlassen hat. Vielleicht kann aber jemand von den Kolleginnen und Kollegen aus der FDP
ihm meinen Zuruf noch übermitteln: Viel Spaß bei allen
schwarz-gelben Blütenträumen!
({0})
Das muss ja richtig lustig werden, wenn ihr über innere
Sicherheit verhandelt.
Herr Bundesinnenminister, Sie haben vor zwei Tagen
Ihren 65. Geburtstag gefeiert. Ich darf Ihnen nachträglich dazu noch recht herzlich gratulieren. Ich denke, Sie
hätten diesen Geburtstag lieber etwas unbeschwerter gefeiert - unbeschwerter von den Belastungen in der inneren Sicherheit, aber vielleicht auch von den Kommentaren und Reaktionen auf Ihre in der Tat nicht sehr
glückliche Interviewäußerung.
Michael Hartmann ({1})
Was uns eint, Herr Bundesinnenminister - nicht nur
das eint uns -, ist die Sorge um die innere Sicherheit in
unserem Land. Deshalb seien Sie versichert: Die SPDFraktion wird bei allen notwendigen Maßnahmen und
Entscheidungen an Ihrer Seite stehen. Da werden wir
nicht wackeln und nicht rütteln, sondern sind bei Ihnen.
Wir werden aber darauf achten, ob sie wirklich notwendig sind und wie weit sie notwendig sind, Herr Minister.
({2})
Es gibt Netzwerke des Terrors in unserem Land, denen wir Netzwerke der Sicherheit entgegenstellen wollen. Die jüngsten Festnahmen - da haben Sie völlig recht
mit Ihrer Analyse - sind noch kein Grund zur Entwarnung, keineswegs! Das Täterbild ist differenziert und
wird immer differenzierter. Die Anschlagsplanung ist
differenziert und wird gerade nach den jetzigen Festnahmen immer differenzierter werden. Gerade deshalb ist
ein bedachtes und besonnenes Agieren auf allen Seiten
dieses Hauses erforderlich.
({3})
Wir brauchen sicherlich hohe Aufmerksamkeit bei
der Betrachtung des Problems des vagabundierenden
atomaren Materials.
({4})
Spätestens seit dem Zusammenbruch des Warschauer
Paktes ist das ein Thema, das oben auf der Tagesordnung
steht.
({5})
- Vielen Dank, vielleicht applaudieren Sie ja auch bei
dem nächsten Satz; es würde mich freuen. - Das vagabundierende Atommaterial wird aber nicht gestoppt und
die entsprechende Problematik nicht gelöst durch vagabundierende Interviews, die jedes Wochenende erneut
stattfinden.
({6})
Es kommt darauf an, in Ruhe zu handeln und nicht ständig über mögliches Handeln öffentlich zu reden, zumal
dies nur zur Verunsicherung und zur Aufregung beiträgt.
Wir brauchen abwägende Vernunft, Herr Bundesinnenminister. Ich weiß sehr genau - wir alle wissen es -, dass
Sie dazu in der Lage sein können.
Wer stark sein will in der inneren Sicherheit - ich
denke, auch das eint uns hier im Haus -, der muss seine
Stärke nicht unbedingt dadurch beweisen, dass er dauernd in die Trompete bläst. Das gilt, mit Verlaub, auch
für Ihr Interview. Überlegen Sie doch einmal, was ein
unbedarfter Zeitungsleser denkt, wenn er hört, dass der
für die innere Sicherheit verantwortliche Minister praktisch sagt: Das Ende ist nah, aber bis dahin seid noch
fröhlich und lustig. Das kann nicht gut gehen, das muss
ins Auge gehen, und die Reaktionen sind ja leider auch
entsprechend gewesen.
Sehr geehrter Herr Bundesinnenminister, meine Damen und Herren, die SPD ist bereit, mit Ihnen an der Architektur der inneren Sicherheit weiterzuarbeiten. Nach
dem 11. September ist die Bedrohungslage für unser
Land offenbar geworden. Wir haben damals unter RotGrün sofort reagiert, und zwar schnell, sachgerecht und
verantwortungsbewusst. Verschiedenes haben wir uns
abringen müssen; es ist uns nicht alles leicht gefallen.
Otto Schily war ohne Frage ein Garant für verantwortungsbewusste Politik hinsichtlich der inneren Sicherheit. In dieser Tradition stehen wir als Sozialdemokraten
heute und stehen Sie als sein Amtsnachfolger.
Wir haben, Herr Schäuble, mit Ihnen zusammen bereits eine Menge geleistet. Wir haben bis zur Hälfte dieser Wahlperiode rund elf Gesetze zur inneren Sicherheit
gemeinsam verabschiedet. Wir haben über BKA-Kompetenzen auf der Grundlage eines Gesetzes, das damals
von Sozialdemokraten angeregt wurde, zu diskutieren.
({7})
Wir haben das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum
eingerichtet, das auch auf eine sozialdemokratische
Initiative unter Otto Schily zurückgeht. So wollen wir
weiterarbeiten. Wir wollen konstruktiv und an unserer inneren Sicherheit orientiert über die Reform der Bundespolizei, über das BKA-Gesetz, über die Warndatei und über
vieles mehr mit Ihnen reden. Die Justizministerin hat ein
Gesetz zur Strafbarkeit des Besitzes waffenfähigen Materials und der Ausbildung in Terrorcamps vorgelegt. Sie
sehen also, dass wir an der Sache dran sind.
Wir sollten in dieser Situation aufpassen, dass wir auf
allen Seiten dieses Hauses nicht in reflexartige Reaktionen verfallen. Vor 30 Jahren - wir durften jüngst daran
erinnern
Herr Kollege Hartmann!
- hat Bundeskanzler Helmut Schmidt alle an den
Tisch geholt, als eine Terrorbedrohung vorlag. Er hat
nicht gespalten,
Herr Kollege Hartmann, Sie müssen zum Ende kommen.
- sondern zusammengeführt. Versuchen Sie das auch,
Herr Bundesinnenminister!
Vielen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Stephan Mayer,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Kollegen und Kolleginnen! Was wir in dieser Woche erlebt haben, ist ein unwürdiges politisches Schauspiel,
({0})
das von der Opposition und leider Gottes auch von einigen Teilen der SPD initiiert und instrumentalisiert
wurde.
({1})
Die Kritik und die Attacken mancher Kolleginnen und
Kollegen gehen wirklich bis an die Grenze der Verleumdung und des menschlich Erträglichen.
({2})
Dies gilt ausgerechnet unter anderem für eine Partei wie
die Grünen,
({3})
die ihre hohe Kompetenz in Sachen innerer und äußerer
Sicherheit bei ihrem Parteitag am vergangenen Wochenende ja eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat.
({4})
Der Leitantrag des Vorstands ist vom Parteitag abgeschmettert worden. Sie haben eindrucksvoll gezeigt,
dass Sie nach wie vor nicht regierungsfähig sind. Das
macht deutlich, dass man insbesondere die Gewährleistung der Sicherheit der deutschen Bürgerinnen und Bürger nicht in Ihre Hand geben darf.
({5})
Was hat denn Bundesinnenminister Schäuble tatsächlich gesagt? Ich zitiere nochmals ganz bewusst, um die
Debatte auf den Kern zurückzuführen, aus dem Interview vom vergangenen Sonntag:
Erinnern Sie sich an die Zeit unmittelbar nach dem
11. September, als die Angst existierte, nun könnten
chemische oder biologische Anschläge folgen. Einen vollständigen Überblick haben wir auch heute
nicht.
Der Bundesinnenminister hat weiter darauf hingewiesen,
dass unter Fachleuten die Sorge existiert, dass durch Terroristen - ich zitiere wiederum ein Anschlag mit nuklearem Material vorbereitet
werden könnte.
Ende des Zitats.
({6})
Dies sind keine Neuigkeiten. Dies ist seit Jahren bzw.
Jahrzehnten bekannt.
Solange die Atombombe nur in der Hand von demokratischen Staaten ist, ist eine solche Gefahr mit Sicherheit relativ kalkulierbar. Deswegen ist es richtig, dass es
mittlerweile, angestoßen von den Präsidenten Bush und
Putin, eine globale Initiative zur Bekämpfung des
Nuklearterrorismus gibt. Aber die Gefährdung wird
dann erheblich größer, wenn Schurkenstaaten wie beispielsweise der Iran oder Afghanistan in den Besitz von
Nuklearwaffen kommen.
({7})
Unter Fachleuten ist anerkannt, dass die abstrakte Gefährdung dann unermesslich wird und nicht mehr kalkulierbar ist, sobald nichtstaatliche Organisationen, also
Terrororganisationen, in den Besitz der Atombombe
oder auch nur von radioaktivem Material gelangen; ich
möchte an dieser Stelle nur an den Fall Litwinenko erinnern.
Das Interview von Mohammed al-Baradei im Spiegel
vom 3. September ist bereits erwähnt worden. Ich darf
wortwörtlich daraus zitieren:
es ist ein Wunder, dass das noch nicht passiert
ist.
Er meint damit, dass schmutzige Bomben von Terroristen zur Zündung gebracht wurden oder dass es Sprengstoffanschläge mit nuklearem Material in Europa gegeben hat. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen
von der Opposition und teilweise von der SPD, wo bleiben denn Ihre Empörung und Ihre Aufregung über die
Aussagen in diesem Interview?
({8})
Darum geht es. Sie betreiben eine schäbige, unverantwortliche Betroffenheits- und Empörungspolitik.
({9})
Es ist eine himmelschreiende und verantwortungslose
Realitätsverweigerung, wenn man nicht zur Kenntnis
nimmt, dass Deutschland auch nach der Festnahme der
drei potenziellen Attentäter im Sauerland am
4. September nach wie vor vor der abstrakten - dies hat
der Bundesinnenminister deutlich gemacht - Gefahr
steht, zum Operationsraum von islamistischen Terroristen zu werden,
({10})
und zwar nicht nur im Hinblick auf konventionelle
Sprengstoffanschläge, sondern durchaus auch im Hinblick auf Bioterrorangriffe oder Anschläge mit radioaktivem Material.
Stephan Mayer ({11})
({12})
Ich finde es gerade deshalb richtig, dass die Bundesjustizministerin Zypries, SPD, in dem von ihr in dieser
Woche vorgestellten Entwurf zur Verbesserung und Veränderung des Strafrechts einen neuen § 89 a vorsieht,
mit dem die Herstellung, das Beschaffen, das Überlassen
und Aufbewahren nicht nur von Sprengstoffen und
Viren, sondern ganz bewusst und ausdrücklich auch von
radioaktivem Material mit einer Freiheitsstrafe von bis
zu zehn Jahren bewehrt werden soll.
Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr
Klaus Naumann hat auf dem gestrigen Symposium zum
Thema Nukleare Sicherheitsrisiken im 21. Jahrhundert, das die Hanns-Seidel-Stiftung veranstaltet hat,
deutlich darauf hingewiesen, dass eine Differenzierung
zwischen innerer und äußerer Sicherheit einer Denkweise des letzten Jahrhunderts entspricht. Deswegen
handelt der Bundesinnenminister umsichtig und außerordentlich verantwortungsbewusst, wenn er zum einen die
Gefahren ernst nimmt und deutlich macht, dass es zwar
keine hundertprozentige Sicherheit gibt, aber man
durchaus gelassen in die Zukunft sehen kann, und wenn
er zum anderen immer wieder deutlich darauf hinweist
und fordert, dass man unseren Sicherheitsbehörden alle
technischen Möglichkeiten an die Hand geben muss, um
insbesondere mit potenziellen islamistischen Terroristen
auf gleicher Augenhöhe kämpfen und diese zur Strecke
bringen zu können.
Deswegen ist es richtig, dass wir weiterhin um solche
Themen wie Onlinedurchsuchungen streiten und ringen,
die wir alsbald gesetzlich festlegen müssen. Es ist zynisch und wirklich verantwortungslos - ich komme zum
Schluss -, wie die Grünen argumentieren, wenn sie sagen: Die bisherigen potenziellen Attentate sind doch mit
den schon vorhandenen gesetzlichen Möglichkeiten aufgeklärt worden.
({13})
Terroristen gehen inzwischen intelligenter und perfider
vor. Deshalb ist es notwendig, insbesondere den Sicherheitsbehörden in Zukunft erweiterte technische Möglichkeiten wie die Onlinedurchsuchung an die Hand zu geben.
({14})
Abschließend bitte ich Sie, in der zukünftigen Debatte
zu der Gelassenheit, zu der uns der Bundesinnenminister
aufgefordert hat, zurückzukehren.
Herzlichen Dank.
({15})
Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Uwe Benneter
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Schriftführerin, herzlichen Glückwunsch zu Ihrem
heutigen Geburtstag. Wir sollten nicht vergessen, dass
jemand unter uns ist, der heute Geburtstag feiert.
({0})
Der entscheidende Satz in dem Interview, über das
wir in dieser Aktuellen Stunde sprechen, lautet meiner
Meinung nach:
Es hat keinen Zweck, dass wir uns die verbleibende
Zeit
- ich betone: die verbleibende Zeit auch noch verderben, weil wir uns vorher schon in
eine Weltuntergangsstimmung versetzen.
({1})
Was ist denn das für eine Haltung? Erst selbst den Untergang prophezeien und dann die verbleibende Zeit hochleben lassen. Das ist doch verrückt. Das ist absurd. Das
ist so etwas von abwegig.
({2})
Das kann der Innenminister doch nicht als seine Aufgabe
ansehen, seinen Wochenendfrust in Sonntagsinterviews
über uns auszuschütten.
Niemand hier im Hause bestreitet die Bedrohung,
auch nicht das Ausmaß der Bedrohung. Das, was am
11. September 2001 geschehen ist, war vorher unvorstellbar. Wir machen uns sicher keine Illusionen. Wir
alle wissen, was alles hätte passieren können. Es kann
doch aber nicht darum gehen, von der verbleibenden
Zeit zu reden und die Hände in den Schoß zu legen. Es
muss gehandelt werden.
Rot-Grün hat gehandelt. Es ist schon mehrfach darauf
hingewiesen worden, dass wir eine Sicherheitsarchitektur aufgebaut haben. Wir haben auf das, was am
11. September 2001 passiert ist, reagiert. Wir haben gemeinsame Einrichtungen und gemeinsame Dateien geschaffen. Wir haben erstmals eine Zusammenarbeit der
Polizeien und Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern herbeigeführt. Wir waren diejenigen, die das in die
Wege geleitet haben. Dieses Konzept funktioniert. Das
zeigen die Fahndungserfolge der letzten Zeit. Bei uns
braucht niemand komplexhaft Otto Schily zu kopieren.
({3})
Wir haben in diesem Lande eine Sicherheitsarchitektur
geschaffen, die zumindest bei den bisherigen Anschlagsversuchen gezeigt hat, dass sie ausreicht und richtig ist,
weil sie zielführend ist.
Jetzt muss es darum gehen - Herr Mayer, da kann keiner anderer Auffassung sein -, das, was wir bei diesen
Anschlagsversuchen erfahren haben, genau aufzuarbeiten und zu analysieren. Es geht darum, genau zu
schauen, ob es Schwachstellen gibt. An diesen Stellen
muss dann gegebenenfalls nachgearbeitet werden. Natürlich müssen wir immer im Auge haben, dass es auch
bei den Kriminellen, bei denjenigen, die terroristische
Anschläge planen, Fortschritte gibt. Wir müssen aber
sachlich und seriös vorgehen. Das ist unsere Aufgabe.
Wir können den Menschen sagen: Solange Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in der Regierung
sind, sorgen wir dafür, dass sie keine Albträume erleben.
Wir arbeiten an und für unser aller Sicherheit. Das ist die
Aufgabe der Sozialdemokraten in dieser Regierung.
({4})
Ihr Interview, Herr Schäuble, hefte ich zusammen mit
anderen in meinem Ordner Sonderliches ab. Er enthält
übrigens schon ein Interview vom 29. Januar 2006. Vor
über anderthalb Jahren hat Herr Schäuble fast wortgleich
dasselbe gesagt wie heute.
({5})
Damals ging es ihm bei der Vorbereitung der Fußballweltmeisterschaft darum, eine Zustimmung zum Einsatz
der Bundeswehr im Innern zu bekommen. Das war der
Hintergrund des Bedrohungsszenarios, das er damals
aufgebaut hatte. Aber auch damals ließ er alles im
Unklaren und hat es einfach nur zur Ängstigung der
Gesellschaft getan. Das ist nicht die Aufgabe eines Bundesinnenministers. Das, denke ich, müssen wir hier klarmachen.
Insofern möchte ich noch einmal deutlich hervorheben: Wir haben die Fußballweltmeisterschaft 2006 gut
über die Bühne gebracht. Es war ein freudiges Ereignis.
Die Sicherheitsarchitektur dafür wurde unter Rot-Grün
vorbereitet.
({6})
- Die Sicherheitsarchitektur für diese Weltmeisterschaft
ist von Rot-Grün vorbereitet worden.
({7})
Das ist alles schon längst in Szene gesetzt worden. Da
konnte man sich auf den fahrenden Zug begeben.
Solange wir in der Regierung sind, wird nicht rumgefaselt, sondern seriös und verantwortungsvoll gehandelt,
gerade im Innen- und im Sicherheitsbereich. Darauf
können sich die Menschen in diesem Land verlassen.
({8})
Das Wort hat der Kollege Ralf Göbel von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Debatte hat sich in weiten Teilen von dem entfernt, worüber wir eigentlich reden wollten, nämlich das Interview des Bundesinnenministers. Ich will trotzdem noch
zwei Sätze sagen:
Zum Ersten. Wenn die FDP hier hinsichtlich des Vorschlags zur Onlinedurchsuchung den Vorwurf eines Verfassungsbruchs erhebt, dann will ich nachdrücklich daran erinnern, dass eine gesetzliche Regelung zur
Onlinedurchsuchung in der Verantwortung eines FDPInnenministers in Nordrhein-Westfalen erarbeitet worden ist und derzeit beim Verfassungsgericht liegt. Das
sollte man nicht vergessen.
({0})
Zum Zweiten. Wir haben heute viel über Rot-Grün
gehört und mit Rot-Grün auch einiges erlebt. Ich erinnere mich noch gut daran, dass der ehemalige Bundesinnenminister Otto Schily hier im Deutschen Bundestag
gesagt hat: Wer den Tod haben will, kann ihn haben.
Alle saßen Sie da, einige waren betroffen, aber die meisten haben Beifall geklatscht; denn Otto Schily ist Garant
für eine verantwortungsvolle Innenpolitik.
({1})
Herr Benneter wird diese Rede von Otto Schily sicherlich auch im Ordner Absonderliches abgeheftet haben.
({2})
Zu Ihrer Rede, Herr Körper, kann man mit den Philosophen sagen: Si tacuisses
Was ist an den Äußerungen des Bundesinnenministers
falsch? Nichts. Was ist daran hysterisierend? Ebenfalls
nichts.
({3})
Liegt eine solche Bedrohung außerhalb der Vorstellungskraft? Nein.
({4})
Und warum? Ich komme auf die neue Videobotschaft
von al-Qaida zu sprechen, in der es heißt:
Es gilt, den islamistischen Terrorismus in den Westen zu tragen, damit dieser ein den Naturkatastrophen ähnliches Phänomen wird.
Die Botschaft kommt an bei uns.
Ich will Ihnen ein Beispiel dazu nennen. Im Jahre
2001 wurde in meiner Heimatstadt, in Landau, ein ArRalf Göbel
beiter festgenommen, der in der Wiederaufarbeitungsanlage in Karlsruhe ein Röhrchen mit Plutonium entwendet
hatte. Anschließend war ein riesiger Aufwand notwendig, um die Kontamination, die in der Umwelt, im Haus
und bei den Menschen entstanden ist, zu beseitigen. Es
ist also möglich, an solches Material zu kommen.
({5})
Wenn man dann noch weiß, Frau Stokar - auch das ist in
der Presse nachzulesen -, dass einer der Gefährder, die
jetzt aus Pakistan zurückgekommen sind, bei der Ingenieurfirma gearbeitet hat, die unter anderem ein Institut
beim Forschungszentrum Karlsruhe betreut, dann zeigt
das, dass die Möglichkeit, an solches Material heranzukommen, gar nicht mehr so fern ist.
({6})
Im Übrigen hat sich damals auch Bundesumweltminister Trittin mit diesem Vorgang befasst. Insoweit
müssten Sie wissen, dass die Gefährdung sehr konkret
ist
({7})
und wir nicht über irgendwelche abstrakten Spinnereien
reden, sondern über das, was in dieser Bundesrepublik
jeden Tag vorkommen kann.
Was verlangen Sie eigentlich vom Bundesinnenminister?
({8})
Soll der Bundesinnenminister sagen: Wir ignorieren es,
ähnlich wie es die Grünen machen; wir stecken den Kopf
in den Sand, dann wird schon nichts passieren;
({9})
wir ignorieren die Gefahren, dann gibt es sie auch nicht?
({10})
Das ist keine verantwortungsvolle Innenpolitik.
({11})
Es ist richtig, den Menschen zu sagen, wo Gefahren
entstehen können, wo Gefahren herrühren und wie wir
Gefahren beseitigen können.
({12})
Wir diskutieren seit einigen Monaten über dieses
Thema; ich muss sagen: bisher leider ohne Ergebnis. Es
wäre schön, wenn wir langsam zu einem Ende der Debatte kämen und den Leuten signalisieren könnten: Wir
haben die Gefahr erkannt, wir haben das Problem verstanden, und wir haben Lösungen für dieses Problem erarbeitet.
Insoweit appelliere ich an die Kolleginnen und Kollegen, jetzt zügig zur Sacharbeit zurückzukehren und hysterische Debatten zu vermeiden, weil bei diesen Themen
Hysterie eigentlich fehl am Platze ist.
({13})
Das erwartet die Bevölkerung von uns, dafür sind wir
gewählt worden. Dementsprechend möchte die CDU/
CSU handeln.
Vielen Dank.
({14})
Als letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde hat das
Wort der Kollege Gerold Reichenbach von der SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Erlauben Sie mir eine Replik. Als ich im Jahre 2002 in dieses Parlament gewählt wurde, habe ich meine erste Rede
- damals übrigens auch im Rahmen einer Aktuellen
Stunde - zum Thema Terrorgefahr durch Pocken gehalten. Der damalige Ausgangspunkt war ähnlich: ein
Vermerk über theoretische Potenziale. Damals stand in
der Zeitung mit den großen Lettern nicht etwas von
Atomterror, sondern von Pockenterror. Wie sich nachher
herausstellte, bestand gar keine konkrete Gefahr von Pockenanschlägen, damals aus dem Irak; vielmehr ging es
damals darum, in der Bevölkerung Akzeptanz für die
von der CDU geforderte Bereitschaft zur Teilnahme am
Irakkrieg herzustellen.
({0})
Herr Minister, angesichts dessen ist es nicht nur entscheidend, was aus Fachdiskussionen zitiert wird, sondern auch, in welchen gesellschaftlichen und medialen
Kontext die Zitate gestellt werden. Ich gehe davon aus,
dass ein so erfahrener Minister und Politiker wie Sie dies
weiß und nicht fahrlässig vorgeht.
Wenden wir uns der Fachdiskussion zu. Der Zufall
will es, dass die anerkannte und renommierte Hessische
Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung in ihrem
Heft 2/2007 eine Studie mit dem Titel Nuklearterrorismus: Akute Bedrohung oder politisches Schreckgespenst? veröffentlicht hat. Ich würde gern mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident, daraus zitieren:
Ein als ultimatives politisches Schreckgespenst
ins Feld geführter Terror mit Atombomben bringt
dabei die Gefahr mit sich, durch absichtlich falsche
oder in Unkenntnis verzerrte Risikodarstellungen
hinsichtlich der terroristischen Möglichkeiten den
gesellschaftlichen Abwägeprozess zwischen Sicherheit und Freiheitsrechten in eine Schieflage zu
bringen. Die vorliegende Risikoabschätzung zeigt,
dass die vom Nuklearterrorismus ausgehende Bedrohung keinen Anlass dazu gibt, den Weg über die
Verschärfung der inneren Sicherheit als besonders
erfolgversprechend zu werten.
({1})
Dem habe ich nichts hinzuzufügen.
Diese Studie führt übrigens auch aus - der von Ihnen
zitierte Chef der UN-Atombehörde hat das auch intendiert -, dass Antiproliferationsbemühungen auf internationaler und nationaler Ebene am wirksamsten sind.
Dazu haben Sie kein Wort gesagt.
({2})
Zur Gefahr einer Dirty Bomb sagen alle Fachleute:
Natürlich kann man damit Schaden anrichten, aber das
Schadenspotenzial ist begrenzt. Die eigentliche Funktion
einer solchen Dirty Bomb ist, in einer Gesellschaft Panik
hervorzurufen und damit Bevölkerung und Wirtschaft zu
schädigen, psychologisch und auch ökonomisch.
({3})
Die Studie führt dazu aus, dass jemand, der in der Bevölkerung Atomterrorhysterie schürt, den Tätern bewusst
oder unbewusst in die Hände spielt, weil er den Boden
dafür bereitet, dass ein Anschlag mit einer Dirty Bomb
die gewünschten Effekte zeitigt. Die Studie kommt dann
zu dem Ergebnis, das ich auch gern mit Ihrer Erlaubnis,
Herr Präsident, zitieren würde:
Eine Verschärfung von Sicherheitsmaßnahmen
drohte damit letztlich übers Ziel hinauszuschießen
und denjenigen in die Hände zu spielen, denen eigentlich das Handwerk gelegt werden soll.
Deswegen ist das Angebot, das wir Sozialdemokraten
auf den Tisch gelegt haben und Netzwerk für Sicherheit
nennen, darauf die richtige Antwort. Gehen wir darauf
ein! Wir sollten also für den Bereich, in dem die Polizei
gemäß dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts keine
entsprechenden Möglichkeiten hat - ich nehme Bezug
auf unsere gestrige Diskussion -, in Art. 35 des Grundgesetzes klarstellen, dass dann, wenn eine Bedrohung
aus der Luft oder von der See vorliegt, in beschränktem
Rahmen militärische Mittel im Sinne des Polizeirechts
eingesetzt werden dürfen.
({4})
Herr Minister, da ich Sie und Ihre Sorge ernst nehme,
füge ich hinzu: Wir als Ihr Koalitionspartner verstehen
manches, was in Ihrem Hause geschieht, nicht. Wenn der
Einsatz einer Dirty Bomb eine potenzielle Bedrohung
darstellt, dann verstehe ich nicht, warum Sie nicht, wie
es Ihr Vorgänger Otto Schily getan hat, dafür sorgen,
dass die Schutzlücke bei der zivilen ABC-Abwehr geschlossen wird,
({5})
sondern einen Großteil des zur Verfügung gestellten Geldes verwenden, um bei Ihren Innenministerkollegen in
den Ländern Gutwetter zu machen und die Finanzierung
von Aufgaben zu übernehmen, die eigentlich in deren
Zuständigkeit fallen.
({6})
Auch verstehe ich nicht - das ist der letzte Kritikpunkt, den ich ansprechen möchte -, dass wir in diesem
Hause zwar darüber reden, was passiert, wenn ein Flugzeug entführt worden ist, Ihr Haus aber gleichzeitig die
Intervalle der Sicherheitsüberprüfung im Bereich des
Luftverkehrs von einem auf fünf Jahre verlängert und
dadurch ökonomischen Begehren nachgibt.
({7})
- Auf zwei und dann auf fünf.
({8})
- Doch, erst zwei und dann fünf Jahre; so steht es in der
Verordnung. Lesen Sie das nach, Herr Binninger. - Dadurch schwächen Sie ein bislang redundantes Sicherheitssystem.
({9})
Wir Sozialdemokraten sagen: Im Bereich der inneren
Sicherheit kommt es in der Praxis darauf an, Vernunft
und Augenmaß an den Tag zu legen und den großen Zusammenhang im Auge zu behalten, und zwar auf allen
Ebenen, nicht nur bei spektakulären Gesetzesvorhaben.
In diesem Sinne sollten wir, wie ich meine, zu einer
sachlichen Diskussion zurückkehren.
({10})
Unsere Angebote dazu liegen auf dem Tisch, nicht in
Form von spektakulären Interviews, sondern in Form
von sachlicher gesetzestechnischer Arbeit.
({11})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({0})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Fünfter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland
Potenziale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft - Der Beitrag älterer Menschen
zum Zusammenhalt der Generationen
und Stellungnahme der Bundesregierung
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten
Sibylle Laurischk, Jens Ackermann, Dr. Karl
Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP zu der Beratung der Unterrichtung
durch die Bundesregierung
Fünfter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland
Potentiale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft - Der Beitrag älterer Menschen
zum Zusammenhalt der Generationen
und Stellungnahme der Bundesregierung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Britta
Haßelmann, Grietje Bettin, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das neue Bild vom Alter - Vielfalt und Potenziale anerkennen
- Drucksachen 16/2190, 16/4219, 16/4163,
16/6366 Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Blumenthal
Angelika Graf ({1})
Ina Lenke
Jörn Wunderlich
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Karin Binder, Dr. Lothar Bisky, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Einsetzung einer Enquete-Kommission Ethik,
Recht und Finanzierung des Wohnens mit
Assistenz ({3})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jörn
Wunderlich, Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Heimbericht im Bundestag diskutieren Missstände offenlegen und bekämpfen
- Drucksachen 16/1267, 16/3696, 16/6075 Berichterstattung:
Abgeordnete Markus Grübel
Angelika Graf ({4})
Ina Lenke
Jörn Wunderlich
Zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung über
den Bericht zur Lage der älteren Generation liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es dazu Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Antje Blumenthal von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Alter ist nicht das Ende; Alter ist die Ernte. - Ernst Bloch hatte zu Beginn des letzten Jahrhunderts ein Bild des Alters vor Augen, das für
uns heute mehr denn je ein Leitbild für die Zukunft sein
sollte. Dieses Bild kann uns einen Weg weisen, auf dem
die demografische Entwicklung nicht mehr als Bedrohung, ja mitunter sogar als Schreckgespenst, sondern als
große Chance für gesellschaftliche Entwicklung, Beschäftigung und wirtschaftliches Wachstum angesehen
wird.
Ein durchweg solides Fundament, um diesen Weg politisch zu gestalten, ist der fünfte Altenbericht der Bundesregierung. Mit der Festlegung des Themas Potenziale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft verfolgt
die Altenberichtskommission das Ziel, die bislang von
finanziellen und gesundheitlichen Argumenten geprägte
Diskussion über den demografischen Wandel neu zu justieren und sie an den Chancen und Möglichkeiten dieses
Wandels auszurichten.
({0})
Man möchte fast sagen: Endlich fangen wir an, uns ausgiebig mit den positiven Seiten des Älterwerdens auseinanderzusetzen.
Mit der Formulierung ihrer Handlungsempfehlung
meistert die Altenberichtskommission eine heikle
Gratwanderung. Sie gelingt ihr, indem sie in den Empfehlungen die Ernte des Alters nicht ausschließlich als
individuellen Nutzen darstellt, sondern ihren gesamtgesellschaftlichen Ertrag und damit ihren Beitrag zum Zusammenhalt der Generationen in den Vordergrund stellt.
Wir haben in unserem Entschließungsantrag Forderungen formuliert, mit denen wir diese Ernte rasch und
ohne Einbußen einfahren wollen. Wir können dabei auf
herausragende Initiativen der Bundesregierung aufbauen, so etwa beim bürgerschaftlichen Engagement, bei
der Entwicklung neuer Wohnformen und bei der Seniorenwirtschaft. Damit werden nicht nur die Potenziale der
älteren Menschen selbst gestärkt, sondern es ist uns ein
ebenso wichtiges Anliegen, dass das Alter als ein Lebensabschnitt verstanden wird, von dessen Möglichkeiten die ganze Gesellschaft in hohem Maße profitieren
kann. Wir alle kennen das schließlich aus eigener Erfahrung - die Älteren unter uns genauso wie die Jüngeren -:
Im Bewusstsein hält sich immer noch hartnäckig die
Vorstellung, im Alter sei man generell weniger einsatzfähig, weniger tatkräftig und kreativ sei man schon gar
nicht.
Die Herausforderung ist deshalb, diesen Negativszenarien ein differenziertes Altersbild entgegenzustellen,
das die vielfältigen Potenziale des Alters klar und deutlich hervorhebt.
({1})
Ich möchte an dieser Stelle drei der zentralen Aspekte
unserer Entschließung vorstellen:
Zu den drängendsten Aufgaben zählt aus unserer
Sicht die Integration älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Arbeitsmarkt.
({2})
Es ist eine logische Konsequenz aus der demografischen
Entwicklung: Sie ist unverzichtbar für den weiteren wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands.
({3})
Gerade ältere Menschen verfügen über einen immensen Wissens- und Erfahrungsschatz. Eine Gesellschaft
des langen Lebens kann es sich schlicht nicht leisten, auf
diese Ressourcen noch länger zu verzichten. Um auch
hier bei Ernst Bloch zu bleiben: Worin liegt denn bitte
der Sinn, ein Arbeitsleben lang in Fertigkeiten und Qualifikationen zu investieren, ohne dann die vielen Früchte
ernten zu wollen?
Wir arbeiten deshalb weiter daran, Einstellungsbarrieren für ältere Arbeitnehmer abzubauen. Man muss sich
dabei auch die Frage gefallen lassen, ob die gegenwärtigen Altersgrenzen für die Ausübung von Berufen noch
zeitgemäß sind. Wir haben uns deshalb entschieden, die
Altersgrenzen auf den Prüfstand zu stellen und sie, wo es
möglich ist, flexibler zu gestalten. Ich glaube, viele aus
unseren Reihen können hier genügend Beispiele für
nicht nachvollziehbare Altersgrenzen bzw. -schranken
anführen.
({4})
Wir geben damit älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mehr Entscheidungsfreiheit in der Frage, wann
sie aus ihrer beruflichen Tätigkeit ausscheiden möchten.
Meine Damen und Herren, eine ganz wesentliche Voraussetzung, um die Potenziale des Alters in Wirtschaft
und Gesellschaft besser nutzen zu können, ist ein ausreichendes Maß an Bildung und Qualifikation. Bildung ist
ein Thema für Jung und Alt - auch das gehört zu einem
neuen Altersbild. Ältere Menschen haben im Vergleich
zu früheren Generationen im Durchschnitt ein höheres
Bildungsniveau, ein breiteres Spektrum von Interessen
und Kompetenzen und ein umfangreicheres Erfahrungswissen. Damit diese Potenziale im nachberuflichen Leben wie auch in der Arbeitswelt gestärkt werden können,
müssen wir die Erwachsenenbildung weiter voranbringen.
Lebenslanges berufsbezogenes Lernen und lebenslange allgemeine Lernprozesse sind die richtigen Mittel,
um die Beschäftigungsfähigkeit im Alter zu erhalten und
die gesellschaftliche Teilhabe zu sichern. Dazu gehört
natürlich genauso eine altersgerechte Arbeitswelt. Hier
setzen wir mit unserer Entschließung an: In Zusammenarbeit mit den Ländern wollen wir die Lern- und Weiterbildungsmöglichkeiten in der Erwerbs- und in der Nacherwerbsphase deutlich ausbauen und stärken. Natürlich
muss auch die Zertifizierung von erworbenen Kenntnissen und Fertigkeiten weiter gefördert werden. Die Bildungsbeteiligung niedrig qualifizierter Menschen soll
und muss sich in Zukunft deutlich erhöhen.
Zu den großen Herausforderungen gehört eindeutig
auch die bessere Nutzung der Potenziale der Seniorenwirtschaft. Die Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen für ältere Menschen wird in Zukunft weiter
zunehmen. Die Wachstumschancen der deutschen Wirtschaft werden künftig also auch davon abhängen, wie
gut Produkte und Dienstleistungen auf den Silbermärkten an die Interessen und Bedürfnisse der Silberfüchse, der älteren Menschen, angepasst werden.
Wir müssen die Generation 60 plus - heute las ich in
einer Zeitung den Begriff 50 plus; jetzt fühlen sich hier
wahrscheinlich einige mehr angesprochen - endlich als
souveräne Konsumenten ansehen. Auch das gehört zu
einem neuen Bild des Alters. Deshalb brauchen wir einen Masterplan für die Wirtschaftskraft der Generation
60 plus bzw. der Generation 50 plus, mit dem gleichermaßen Nachfrage und Angebot analysiert werden, in
dem Verbraucherschutz zur Grundlage gemacht wird
und die Bedürfnisse Älterer berücksichtigt werden.
Meine Damen und Herren, dies sind aus unserer Sicht
drei zentrale Maßnahmen, die dazu beitragen werden,
die Potenziale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft
besser als bisher zu nutzen. Das Alter ist nicht das
Ende, sondern die Ernte, um noch einmal mit Ernst
Bloch zu sprechen. Mit unserem Antrag leisten wir einen
wichtigen Beitrag dafür, dass diese Ernte sowohl für den
Einzelnen als auch für die Gesellschaft möglichst reich
ausfällt. Stellen wir uns also den Herausforderungen und
leben wir vor allen Dingen nicht länger nach dem Motto:
Alt sind nur die anderen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sibylle Laurischk von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem
fünften Altenbericht rückt ein Lebensabschnitt in den
Fokus unseres Interesses, der von der Politik bisher zu
wenig beachtet wurde. Das ist klar; denn Senioren sind
immer die anderen.
In einer alternden Gesellschaft müssen wir uns die
Potenziale des Alters besonders verdeutlichen, um den
Menschen ein selbstbestimmtes, ein eigen- und mitverantwortliches Leben bis in die Hochaltrigkeit zu ermöglichen. Ich halte dies für einen urliberalen Denkansatz.
({0})
Die Angst vor Abhängigkeit und Gebrechlichkeit ist
doch das Tabu beim Stichwort Alter. Gerade deshalb will
die FDP-Fraktion, dass auch ältere Menschen ein Gewinn für jede Gesellschaft sind, den wir erschließen
müssen.
Es ist das Verdienst des fünften Altenberichts, dass
damit belastbare Zahlen für die Zukunft des Alters geliefert und gleichzeitig die Möglichkeiten der Gestaltung
durch die staatlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen aufgezeigt werden. Ältere Menschen dürfen
nicht nur als Wähler, sondern müssen auch als selbstbewusste Bürger mit dem Anspruch auf Teilhabe und Miteinander von Interesse sein.
Die überwiegende Mehrheit der 60 bis 80 Jahre alten
Menschen ist körperlich fit. Lediglich 5 Prozent sind
pflegebedürftig. Die Öffentlichkeit muss und wird - davon bin ich überzeugt - das Leistungsvermögen und die
Leistungsbereitschaft der Älteren in allen gesellschaftlichen Bereichen anerkennen, akzeptieren und fördern.
Anders haben wir keine Zukunft.
({1})
Dazu gehört auch die kulturelle Frage unseres Selbstverständnisses, wie wir mit dem großen und eben nicht materiellen Kapital von Gedächtnis und Erfahrungswissen
der älteren Generation umgehen und wie wir es für die
ganze Gesellschaft fruchtbar machen.
Bei der Beurteilung der materiellen Situation durch
den fünften Altenbericht fühlt sich die FDP-Fraktion in
ihrer Forderung bestätigt, die Altersversorgung durch ein
kapitalgedecktes System zu stärken, um Altersarmut
vorzubeugen. Dass von Altersarmut eher Frauen betroffen sind, haben wir in unserem Entschließungsantrag
kritisch deutlich gemacht. Erwerbsbiografien und damit
Rentenbeitragsjahre sind bei Frauen oft löchrig, da sie
sich der Familie gewidmet haben. Aber auch Männer
wird dies mit Zunahme der Arbeitslosigkeit treffen.
Teilhabe bedeutet, mitmachen zu können und zu dürfen. Die FDP-Fraktion sieht in den Möglichkeiten zur
Frühverrentung den völlig falschen Weg.
({2})
Damit wurden viele Menschen aus dem Erwerbsleben
ausgesteuert, die noch voller Schaffenskraft sind. Deshalb fordert die FDP-Fraktion den flexiblen Eintritt in
den Ruhestand vom 60. Lebensjahr an bei Abschaffung
jeglicher Alters- und Zuverdienstgrenzen, wie Sie, Frau
Blumenthal, das gerade auch gefordert haben.
({3})
Die Unternehmen sollten die Älteren nicht nur als
Konsumenten entdecken. Ältere bilden einen erheblichen Nachfragermarkt, wenn es denn die richtigen Produkte gibt. Sie sind auch in der Entwicklung und Herstellung gefragt. Es ist nicht zu verstehen, dass in circa
60 Prozent aller deutschen Unternehmen keine Arbeitnehmer über 50 Jahre mehr zu finden sind. Nicht nur,
dass damit die Älteren ausgegrenzt sind: Es ist auch ein
völlig falsches Signal an die Jungen, wenn ihnen vorgelebt wird, dass das bisherige Leben, zu dem selbstverständlich auch das Erwerbsleben gehört, nach Erreichen
des 50. Lebensjahres vorüber ist.
({4})
In altersgemischten Teams kann generationenübergreifender Austausch im Erwerbsleben geübt und die Innovationskraft sowie das Erfahrungswissen der Älteren
nützlich werden. Für die Beschäftigung Älterer müssen
darüber hinaus die Arbeitsbedingungen angepasst werden. Dazu gehören flexible Arbeitszeitmodelle wie auch
die Möglichkeit eines Lebensarbeitszeitkontos, das sogenannte Sabbaticals - also freie Zeit - zur Verfolgung
persönlicher Ziele zulässt. Den Unternehmen muss und
wird es wichtig werden, die Arbeitsfähigkeit ihrer Mitarbeiter zu erhalten und sie für Prävention und einen gesunden Lebensstil zu gewinnen. Welchen Wert Bildung
für die Prävention hat, wurde im Altenbericht deutlich.
Ein höherer Bildungsstand vermeidet nicht nur frühere
Arbeitslosigkeit, sondern ermöglicht auch eine gesündere Lebensführung.
({5})
Der Keim für ein gesundes und erfülltes Alter wird also
schon in frühen Jahren gelegt und muss lebenslang gepflegt werden.
Teilhabe ist aber auch mit Ausscheiden aus dem Erwerbsleben auf anderen Gebieten gleichwertig möglich.
Das ehrenamtliche Engagement und die familiäre und
nachbarschaftliche Vernetzung gewinnen an Bedeutung,
nicht etwa, um fehlende staatliche Leistungen zu ersetzen, wie immer von der sogenannten Linken gehöhnt
wird, sondern um ureigene menschliche Bedürfnisse
nach Nähe und Vertrautheit zu befriedigen.
Die Unterstützung von Freiwilligenorganisationen zur
professionellen Vernetzung von Angebot und Nachfrage
ehrenamtlichen Engagements muss vorangetrieben werden. Der jüngst eingesetzte Beauftragte für das ehrenamtliche Engagement sollte gerade auf die Leistungsbereitschaft und das Erfahrungswissen Älterer setzen.
({6})
Vielversprechende Ansätze gibt es schon in einigen
Kommunen. Sie reichen so weit, dass Mitarbeitern mit
dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben ein individuell
abgestimmter Vorschlag für ehrenamtliche Betätigung in
der Kommune unterbreitet wird, was von einem erstaunlich hohen Prozentsatz auch angenommen wird. So wird
aus dem Ruhestand der Unruhestand.
An dieser Stelle weise ich auch auf das Engagement
von älteren und erfahrenen Bürgern und Bürgerinnen in
den Kommunalparlamenten hin. Mancher Gemeinderat
wäre ohne sie aufgeschmissen.
({7})
Den älteren Kommunalpolitikern und -politikerinnen
gilt, wie Sie gerade gehört haben, an dieser Stelle auch
der Dank der FDP-Fraktion.
Ein wesentliches Gestaltungsfeld für sicheres und
selbstbestimmtes Leben ist das Wohnen im Alter. Besonders notwendig erscheint der FDP-Fraktion ein transparentes, auch überregional erstelltes Informationssystem
über die verschiedensten Formen altersgerechten Wohnens von der Wohngemeinschaft über genossenschaftliches Wohnen, das Seniorenstift, begleitetes Wohnen bis
hin zur passenden Pflegeeinrichtung.
Das Thema Pflege, das heute mit dem Antrag auf Einsetzung einer Heim-Enquete-Kommission auf der Tagesordnung steht, berührt tiefe Ängste der Menschen vor einem Lebensabschnitt, in dem die Selbstbestimmung
zurückzutreten droht hinter Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein Dritten gegenüber - seien es Angehörige, seien
es fremde, bezahlte Pflegekräfte. Die Zuständigkeit für
das Heimrecht ist nach der Föderalismusreform in die
Kompetenz der Länder übergegangen,
({8})
was wir abgelehnt haben.
Die Qualitätssicherung, Transparenz und Kontrolle
von Pflegeleistungen bleibt dennoch eine drängende
Aufgabe der Bundesregierung. Die FDP-Fraktion hat
mit ihrem Antrag Entbürokratisierung der Pflege vorantreiben - Qualität und Transparenz der stationären
Pflege erhöhen Forderungen aufgestellt, die die Situation in den Heimen deutlich verbessern werden. Das
Thema Pflegereform steht also an, doch dies lässt sich
nicht mit einer Enquete über das Thema Heime bewältigen. Deshalb werden wir den Antrag der Linken ablehnen.
({9})
Die FDP-Fraktion fordert an dieser Stelle Sie, Frau
Ministerin von der Leyen, ausdrücklich auf, Ihrer Aufgabenstellung für Senioren mehr als bisher zu entsprechen.
Ihrem Engagement für Kinder und Kinderbetreuung
sollte eine vergleichbare Initiative für Senioren gegenüberstehen.
({10})
Das Stichwort Mehrgenerationenhäuser ist kein ausreichender Beleg, wie erst gestern Abend in den Beratungen des Unterausschusses Bürgerschaftliches Engagement deutlich wurde.
Der fünfte Altenbericht hat deutlich gemacht: Politik
für Ältere ist eine Querschnittsaufgabe, bei der die Ressorts Familie, Bildung und Forschung, Soziales, Bauen
und Wohnen, Gesundheit und Wirtschaft auf allen Ebenen unseres Landes - besonders in den Kommunen - in
der Verantwortung stehen, den demografischen Wandel
nicht nur hinzunehmen, sondern als gesellschaftlichen
Aktivposten zu nutzen.
Ein Ausspielen der Generationen gegeneinander ist
dabei völlig unsinnig. Eine Verkürzung des Themas Alter auf materielle Aspekte ist eine sträfliche Vernachlässigung der eigentlichen sozialen wie menschlichen
Dimensionen eines neuen Altenbildes für Deutschland.
Erfreulich ist, dass die Beschlussempfehlung des
Ausschusses die große Übereinstimmung aller Fraktionen bei den Zielen der Politik für Ältere deutlich macht
und dass die Anerkennung der Potenziale, Chancen,
Kreativität und Innovationskraft Älterer Konsens ist, jedenfalls bei denjenigen, die sich ernsthaft damit beschäftigen.
So bleibt mir zum Schluss, neben dem fünften Altenbericht mit seinen rund 500 Seiten auf eine der vielen
Publikationen zum Thema alternde Gesellschaft hinzuweisen. Es ist die Studie der Max-Planck-Gesellschaft
zur Zukunft des Alterns. Sie bietet die Antwort der Wissenschaft mit einer Vielzahl von Einsichten über den
Prozess des Alterns. Das Potenzial des Alterns findet
sich insbesondere im Begriff der Lebenskunst wieder
und in der manchmal auch mühsamen Erkenntnis, dass
die Selbstdisziplin in der Lebensführung uns länger fit
hält.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Angelika Graf von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein
langes und erfülltes Leben zu führen, ist ein alter Traum
der Menschheit. Der medizinische und der technische
Fortschritt, eine gute Ernährung, aber auch 62 Jahre
Frieden und Wohlstand in Europa haben uns dieses Geschenk gemacht. Der Blick über unseren europäischen
Tellerrand hinaus, zum Beispiel in das südliche Afrika
oder nach Afghanistan - darüber haben wir heute früh
gesprochen -, zeigt, dass dieses Glück keine Selbstverständlichkeit ist. Allerdings bedarf die Realisierung dieses Traumes sozialer, politischer und ökonomischer Begleitung. Dafür hat die Bundesregierung seit 1994 mit
den Altenberichten wissenschaftliche Vorarbeit geleistet.
Der fünfte Altenbericht zu Chancen und Potenzialen
des Alters, mit dem wir uns heute befassen, ist von RotGrün in Auftrag gegeben worden und war bereits im Jahr
2005 fertig. Uns allen gemeinsam ist es durch die hier
vorliegenden Anträge der Opposition und den Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen, der Teil unserer
Beschlussempfehlung ist, gelungen, ihn von der 15. in
die 16. Legislaturperiode hinüberzutragen.
Der Bericht hat uns ein weites Feld politischer Betätigung eröffnet. Er gibt in manchen Punkten, zum Beispiel
was das Renteneintrittsalter betrifft, unterschiedlichen
Bewertungen Raum, spricht schwierige Themen wie Altersarmut an und ist mit Sicherheit nicht stromlinienförmig. Ich schätze das sehr. Ich bedanke mich ausdrücklich bei den Mitgliedern der Kommission, die ihn
erarbeitet haben, und freue mich, dass der alte Vorsitzende der Kommission des fünften Altenberichtes, Herr
Professor Kruse, auch der neue Vorsitzende der KomAngelika Graf ({0})
mission des sechsten Altenberichtes mit dem Thema Altersbilder ist.
({1})
Wir brauchen eine neue Alterskultur, ein Leitbild des
Alters, welches - darin bin ich sicher - unsere Gesellschaft in positivem Sinne revolutionär verändern wird nicht nur, dass wir die Potenziale des Alters besser als
bisher nutzen und entwickeln müssen. Es mag angesichts einer noch immer hohen Arbeitslosigkeit eigenartig klingen, aber der mit dem Aufschwung einsetzende
und von der Industrie lautstark beklagte Fachkräftemangel macht es deutlich: Deutschland kann auf die qualifizierten älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
nicht verzichten.
({2})
Wir von der SPD beklagen sehr die Defizite im Bereich
ihrer Fort- und Weiterbildung. Sie werden sich in naher
Zukunft rächen.
Wir müssen vom Jugendwahn wegkommen, der mindestens die vergangenen zwei Jahrzehnte geprägt hat,
und uns zu einer Gesellschaft entwickeln, die gleichzeitig die individuellen Leistungen jedes Einzelnen anerkennt und der solidarischen Bewältigung der Schwierigkeiten, die die demografische Veränderung unserer
Gesellschaft mit sich bringt, mehr Raum gibt. Wir brauchen eine grundlegende Kurskorrektur der bisher jugendzentrierten Arbeits- und Beschäftigungspolitik bei
Unternehmensleitungen und Tarifvertragsparteien sowie
in der Arbeitsmarktpolitik. Ich hoffe, dass die Unternehmen in Deutschland die entsprechenden Konsequenzen
ziehen und künftig mehr in die Köpfe ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, auch der älteren, investieren.
({3})
Ich folge der Argumentation des vorliegenden Berichtes, dass nur durch die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung
Älterer Lücken auf dem Arbeitsmarkt geschlossen, wirtschaftliche Prosperität und gesellschaftliche Entwicklung gefördert sowie die Finanzierung der sozialen
Sicherungssysteme gewährleistet werden können. Vielleicht ist es kein Zufall, dass wir nicht nur im Bildungsbereich neidisch nach Schweden, Norwegen, Dänemark
und Finnland schauen. Mehr Kinder, ein effektiveres
Bildungssystem und vorbildliche Regelungen für die
bessere Einbeziehung älterer Arbeitnehmer in das Arbeitsleben: Überall sind sie uns voraus. Ich werde den
Verdacht nicht los, dass all das etwas miteinander zu tun
hat. Die Weichen für das Leben im Alter werden oft
schon in sehr jungen Jahren gestellt.
({4})
Die Konsumbedürfnisse älterer Menschen - Stichwort Silver Market - werden neue Märkte weltweit erschließen und damit einen Weg zu neuen Arbeitsplätzen
auch in Deutschland bauen, aber nur dann, wenn wir die
Chance nutzen und nicht anderen die Entwicklung demografiesensibler Wachstumsfelder und Märkte überlassen. Das gilt für die Sensorik in der Wohnungsausstattung, das Design von Gebrauchsgeräten, den Tourismus,
ja sogar für das Feld der Computerspiele ebenso wie für
den großen Markt der Gesundheitsdienstleistungen. Circa 1 Million Arbeitnehmer sind in Deutschland bereits
im Pflegebereich tätig.
Wer viel mit Senioren zu tun hat, der weiß, welchen
Stellenwert das Thema Gesundheit selbstverständlich in
dieser Altersgruppe hat. Die Angst, ein Pflegefall zu
werden, nicht mehr unabhängig und selbstbestimmt leben zu können, treibt alte Menschen um. Den Eintritt
dieses Ernstfalls durch Prävention möglichst lange hinauszuzögern, muss schon allein wegen dieser Ängste
ein wichtiges Bemühen unserer politischen Arbeit sein.
Die Frage, wie wir wohnen und zusammenleben, muss
uns alle umtreiben, wenn wir an die Zukunft denken.
In den letzten Monaten haben wir begonnen, uns auf
der Grundlage der Eckpunkte mit der Neustrukturierung
der Pflegeversicherung zu beschäftigen. Seit dem
10. September liegt der Referentenentwurf vor. In ihm
wird eine Reihe von Anregungen des fünften Altenberichts aufgenommen. Die Expertenkommission zum
fünften Altenbericht hat zum Beispiel deutlich gemacht,
dass bei der Betreuung hilfe- und pflegebedürftiger
Menschen durch Ehe- oder Lebenspartner und Kinder
wegen des zum Teil fortgeschrittenen Alters der Pflegepersonen bzw. deren Berufstätigkeit hohe Belastungen
und Konflikte auftauchen können. Wie oft haben mir
Frauen verzweifelt in Sprechstunden erzählt, dass sie
nach einer langen Kinderpause gerade wieder Fuß im Erwerbsleben gefasst hätten und nun der Pflegefall in der
Familie verlange, dass diese Berufstätigkeit wieder aufgegeben werden müsse!
Die Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Pflege war eine ganz wichtige Forderung im
Altenbericht. Die teilstationäre Pflege als eigenständiger
Pflegezweig, die wir nun im Entwurf des Pflegeweiterentwicklungsgesetzes finden, wird helfen, die Überlastung der pflegenden Angehörigen zu mindern.
({5})
Ich freue mich, dass es der Ministerin Ulla Schmidt
von der SPD gelungen ist, über das Pflegezeitgesetz zu
regeln, dass sich, ähnlich wie bei der Erkrankung eines
Kindes, Mann oder Frau für eine gewisse Zeit, zehn
Tage im Jahr bezahlt und maximal ein halbes Jahr unbezahlt, pflegebedürftigen Familienangehörigen widmen
kann, ohne in einem ständigen Konflikt zwischen Arbeitsplatz und Pflege zu stehen. Ich verstehe nicht, dass
man etwas dagegen haben kann, verhindern wir doch dadurch, dass alte Menschen in ein Heim gegeben werden,
weil sich die pflegenden Angehörigen durch die Situation überfordert fühlen.
Mit dem Gesetzentwurf zur Pflegeversicherung nehmen wir ein Thema des vierten Altenberichts auf. Ich
sage das deswegen so deutlich, um klarzumachen, wie
wichtig diese Berichte für unsere gesamte politische Arbeit sind. Wir greifen nämlich das Problem der Versorgung Demenzkranker auf und stärken die ambulante
Angelika Graf ({6})
Versorgung sowie die ehrenamtlichen Pflegehilfenetzwerke. Über die Regelungen zur Absicherung der Pflegequalität setzen wir einen großen Teil der Ergebnisse
des 2003 eingerichteten Runden Tisches Pflege um.
Zu ihnen gehört auch die Charta der Rechte hilfe- und
pflegebedürftiger Menschen. Ich sage das deshalb, weil
heute auf der Tagesordnung auch die Abstimmung über
die Einsetzung einer Heim-Enquete steht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, lassen Sie uns die Kraft unserer parlamentarischen Arbeit
in die Begleitung dieser wichtigen Änderung der Pflegeversicherung setzen.
({7})
Die Einrichtung einer Heim-Enquete lehnen wir von der
Regierungskoalition ab, zumal nach der bedauerlichen
Verlagerung der Kompetenzen beim Heimrecht auf die
Länder
({8})
der Bund keine Möglichkeit mehr hat, durch seine eigene Gesetzgebungskompetenz eventuell erarbeitete
Verbesserungen wirklich durchzusetzen.
Lassen Sie mich nach diesem kurzen Ausflug zum
Heimrecht wieder zur Breitenwirkung zurückkommen,
die der fünfte Altenbericht in meinen Augen hat. Ich
habe versucht, Ihnen vor Augen zu führen, welchen Einfluss er zum Beispiel auf die Pflege hatte. Ich sehe noch
viele andere Möglichkeiten, die Ergebnisse dieses Berichts in unsere Politik, in die Arbeit aller Ressorts und
auf allen politischen Ebenen einfließen zu lassen. Lassen
Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass der fünfte Altenbericht noch stärkeren Einfluss hat.
Ich habe es schon am Anfang gesagt: Wir brauchen
eine neue Alterskultur, um den demografischen Wandel
unserer Gesellschaft erfolgreich zu gestalten. Wir brauchen eine neue Alterskultur aber auch für uns selbst. Das
gilt auch für mich als sogenannte junge Alte. Wir gestalten damit ganz konkret unsere Zukunft. Alle, die ungefähr in meinem Alter oder ein bisschen jünger sind,
möchte ich einladen, dabei mitzumachen. Lesen Sie den
Altenbericht! Es ist eines der spannendsten Bücher überhaupt.
({9})
Das Wort hat jetzt Kollegin Elke Reinke von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau von der Leyen, im Sommer verkündeten Sie bei der
Vorstellung Ihres Programms Wirtschaftsfaktor Alter Unternehmen gewinnen, dass Seniorinnen und Senioren
über eine enorme Kaufkraft verfügen und somit einen
wachsenden Zukunftsmarkt darstellen. So, so: Als
Wirtschaftssubjekte und Konsumenten werden die Seniorinnen und Senioren also schon einmal anerkannt.
Wie halten Sie es aber mit der aktiven politischen und
gesellschaftlichen Teilhabe unserer älteren Menschen?
Das Alter ist ein Lebensabschnitt mit eigenen Ansprüchen und Bedürfnissen und darf nicht allein auf Rente,
Pflege, Kosten oder Konsum reduziert werden. Es ist
gut, dass wir uns diesem Thema widmen und über ein
neues Altenbild reden. Wenn Ihnen diese Debatte wirklich wichtig ist, frage ich mich allerdings, warum Sie im
Haushalt 2008 außer für Mehrgenerationenhäuser kaum
Mittel einsetzen.
({0})
Der fünfte Altenbericht zeigt deutlich auf, dass wir
mehr denn je eine nachhaltige Seniorenpolitik brauchen,
die für ein neues Altenbild wirbt. Dafür ist aber ein Umdenken vonnöten. Seniorenpolitik muss durchgängig als
Querschnittsaufgabe begriffen werden und vom Bund
bis hin zu den Gemeinden wirken.
({1})
Bei allen Entscheidungen, die das Leben von Seniorinnen und Senioren unmittelbar betreffen, müssen Seniorenvertretungen verbindlich mit einbezogen werden.
Auch regionale Seniorenbeauftragte könnten den Einfluss der älteren Generation erhöhen.
Zum einen darf das in der Öffentlichkeit gezeichnete
Zerrbild des demografischen Wandels nicht für den Sozialabbau missbraucht werden. Zum anderen dürfen
auch nicht Alte gegen Junge ausgespielt werden.
({2})
Entscheidend ist es, die Fähigkeiten und Erfahrungen älterer und jüngerer Menschen zum Gewinn für alle Generationen besser zu nutzen und zu fördern.
Durch massive soziale Einschnitte wird vor allem die
jüngere Generation in immer stärkerem Maße verriestert und verrürupt. Viele vergessen dabei aber, dass
zahlreiche Menschen finanziell gar nicht in der Lage
sind, privat vorzusorgen. Wie soll das bei Erwerbslosen
oder Geringverdienenden auch gehen?
({3})
Weitere Probleme sehe ich im Bereich Pflege und
Wohnen. Da gibt es zum Beispiel enorme Qualitätsmängel in verschiedenen Senioren- und Pflegeheimen. Wir
sprechen hier eben nicht von Einzelfällen. Nicht allein
auf diesem Gebiet gibt es noch enormen Klärungsbedarf.
Deutlich wird jedoch: Ihre Seniorenpolitik zementiert
Altersarmut. An diesem Punkt kommen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, in Ihrem Entschließungsantrag zum gleichen Ergebnis wie
der fünfte Altenbericht auf Seite 220. Ich zitiere aus Ihrem Entschließungsantrag:
Berechnungen prognostizieren selbst unter der Annahme ununterbrochener Erwerbsverläufe und volElke Reinke
ler Ausnutzung der Fördermöglichkeiten ein sinkendes Niveau des Nettoeinkommens im Alter,
sodass aufgrund einer zunehmenden Einkommensungleichheit ein steigendes Armutsrisiko im Alter
befürchtet werden muss.
({4})
Herzlichen Glückwunsch zu dieser weisen Erkenntnis! Dort, wo wir schon lange waren, kommen Sie jetzt
endlich an. Noch einmal zum Mitschreiben: Bei durchgängiger Erwerbsarbeit und Einbeziehung der staatlich
geförderten privaten Altersvorsorge wird die Altersarmut trotzdem steigen.
({5})
Altersarmut ist bereits Realität, und es wird nicht besser werden, sollte es keine Abkehr von Ihrer verfehlten
Politik geben. Armut im Alter: Die Koalition erscheint
ratlos. Die Linke hilft hier gerne auf die Sprünge. Die
Höhe der Alterssicherung darf durch Dämpfungsfaktoren und Schutzklauseln im Endeffekt nicht weiter abgesenkt werden. In der gesetzlichen Rentenversicherung ist
die Lebensstandardsicherung wieder als zentrales Ziel
festzuschreiben.
({6})
Die Linke bleibt dabei: Nein zur Rente ab 67, nein zur
Zwangsverrentung nach Auslaufen der 58er-Regelung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, selbstbestimmtes
Altern in Würde ist und bleibt ein unveräußerliches
Menschenrecht. Die Linke fordert deshalb: Die politische Mitwirkung Älterer und Pflegebedürftiger muss in
allen sie betreffenden Lebensbereichen und auf allen
Ebenen gesichert werden. Die soziale und finanzielle Sicherheit älterer und pflegebedürftiger Menschen muss
gewährleistet werden. Alter und Pflege dürfen nicht flotten Schrittes in die Armut führen.
({7})
Schließlich müssen gesellschaftliche Teilhabe sowie
Selbstbestimmung ausgebaut werden. Altersdiskriminierung muss endlich aufhören. Lassen Sie uns genau hier
die Voraussetzungen dafür schaffen! Nur so entsteht ein
wirklich neues Bild vom Alter.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Britta Haßelmann von
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Ministerin! Sehr
geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aus meiner Sicht ist es nicht einfach, umzuschalten: Wir haben bis eben mit dem Innenminister Schäuble
hitzig und sehr kontrovers über die innere Sicherheit gestritten. Dieses Thema war von großer Aufmerksamkeit
begleitet. Das Thema, über das wir nun diskutieren, hat
hohe Aufmerksamkeit verdient - dafür plädiere ich ganz
eindeutig -; denn es geht um gesellschaftlichen Zusammenhalt und um Solidarität. Deshalb geht es um uns alle.
({0})
Die Zahlen, die den Wandel unserer Gesellschaft belegen, sind auch in der Wiederholung beeindruckend: Im
Jahr 2050 wird ein Drittel der Bürgerinnen und Bürger in
diesem Land 60 Jahre und älter sein. Der Anteil der
Menschen über 65 wird doppelt so groß sein wie der Anteil der Menschen unter 20 Jahren. Dieser Trend ist unverkennbar. Er lässt sich nicht stoppen und auch nicht
umkehren.
Es ist eine Herausforderung für die eigene Fantasie,
sich eine Gesellschaft vorzustellen, in der das Verhältnis
von Jung und Alt so ganz anders ist, als wir es heute
noch kennen. Welches Bild schließlich prägend sein
wird, hängt auch ganz entscheidend davon ab, welches
Verhältnis zum Alter wir alle selber transportieren, entwickeln und in die gesellschaftliche Debatte einfließen
lassen.
Frau Reinke, da sage ich ganz deutlich: Die Beschäftigung mit diesem Thema ist einfach mehr als Wir nehmen alle Reformen, die in den letzten fünf Jahren beschlossen wurden, zurück, und dann wird alles gut. Das
Verhältnis zwischen der Gesellschaft und den älteren
Menschen hat wirklich ganz andere Dimensionen als die
Rente mit 67, worüber man auch diskutieren muss. Ich
wiederhole: Das, worüber wir hier reden, hat eine ganz
andere Dimension.
({1})
Ich denke, in der Analyse sind wir uns alle einig: Die
ersten Schritte zu einem neuen Verständnis von Alter
sind getan; aber es ist noch ein langer Weg, die bestehenden Stereotype aufzubrechen. Wir müssen uns immer
wieder verdeutlichen: Die Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben darf keine Frage des Alters
sein. Es gibt keine magische Linie, bei deren Überschreiten plötzlich Stillstand angesagt ist. Fähigkeitsverluste
und Gebrechlichkeiten sind an kein bestimmtes Alter gebunden, auch wenn es noch so viele Vorurteile darüber
gibt. Lebensstil und Bildungsstand und die Einkommenssituation von Menschen entscheiden über die Fähigkeiten und das Leistungsvermögen.
Tragen Sie diesen Erkenntnissen des fünften Altenberichts Rechnung! Ältere zeichnen sich längst durch eine
Vielfalt der Betätigungswünsche und -möglichkeiten
aus. Sie haben in ganz hohem Maße Potenziale zu bieten, sei es in sozialen und in kulturellen Netzen, durch
die Weitergabe von Wissen und Erfahrung, sei es als begehrte Kundinnen und Kunden, als Verbraucherinnen
und Verbraucher in der wachsenden Branche der Seniorenwirtschaft. Häufig bleibt dieses Potenzial ungenutzt.
Das ist eine Situation, die vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung nicht tragbar ist.
({2})
Lassen Sie den Worten endlich Taten folgen! Schaffen Sie die notwendigen Rahmenbedingungen, damit
diese neuen Möglichkeiten der Älteren wirklich ausgeschöpft werden! Stellen Sie die Partizipation von Älteren
am gesellschaftlichen und kulturellen Leben als Ziel Ihrer politischen Maßnahmen in den Vordergrund! Machen
Sie die Selbstbestimmung zum Ausgangspunkt Ihres politischen Handelns! Kurz gefasst: Lassen Sie uns die Potenziale des Alters wirklich nutzen! Ich glaube, dass es
dafür Chancen gibt. Wenn die gesellschaftliche Debatte
von allen befördert wird, haben wir einen breiten Raum
und hoffentlich auch die nötige Unterstützung für dieses
Anliegen.
Schon ein kurzer Blick auf den Arbeitsmarkt verdeutlicht, wie zwingend notwendig eine Wende der bisherigen Politik bereits heute ist. In den letzten Jahrzehnten
hat die Praxis der Frühverrentung zu einer massiven Unterbeschäftigung von Menschen über 55 Jahren geführt
und die Rentenlaufzeiten erheblich verlängert. Zwischen
1960 und 2005 erhöhte sich die Rentenbezugsdauer von
9,9 auf 17,2 Jahre.
({3})
Es sind nicht nur die Kosten der Sozialsysteme, die
hier negativ zu Buche schlagen. Die mangelnde Erwerbsintegration von Älteren ist auch ein Grund für den
Mangel an Fachkräften, der mit deutlichen Einkommensverlusten für die Unternehmen verbunden ist. Der
Bundesverband der Deutschen Industrie rechnete für das
Jahr 2006 mit Einkommensverlusten von mindestens
3,5 Milliarden Euro allein durch 48 000 nicht besetzte
Ingenieursstellen. Warum also eine so hohe Beschäftigungslosigkeit von Menschen über 50 Jahren? Verlorenes Erfahrungswissen und Innovationspotenzial sind an
dieser Stelle gar nicht eingerechnet.
Es ist höchste Zeit, eine Strategie am Arbeitsmarkt zu
verfolgen, die Vorbehalte und Diskriminierung gegenüber Älteren endlich abbaut und deren Beschäftigungsfähigkeit erhöht. Hier, Frau Blumenthal, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat aus meiner Sicht auch die
Bundesregierung massiven Nachholbedarf.
({4})
Sie sind gleichsam aufgefordert, die Weiterbildung
als wesentliches Instrument zum lebenslangen Lernen
weiterzuentwickeln. Wenn es um Neueinstellungen geht,
werden über 50-Jährige von Unternehmen zu 76 Prozent
abgelehnt - ich habe also noch fünf Jahre; ich bin 45 -,
weil sie - so die Aussage - Qualifikationsdefizite haben.
Das muss man sich einmal vorstellen! Bei viel Übereinstimmung in der Analyse muss ich an dieser Stelle doch
fragen: Wo ist die Bildungsministerin?
({5})
Wo ist der Arbeitsminister, der gemeinsam mit der Familienministerin konkrete Vorschläge dazu unterbreitet,
wie die Weiterbildungssituation gerade älterer Menschen
wirklich nachhaltig verbessert werden kann und lebenslanges Lernen implementiert werden kann?
({6})
Besondere Anstrengungen sind für diejenigen gefordert, die eine geringe Qualifikation haben. Noch - das
will ich hier betonen - ist die materielle Situation der älteren Menschen insgesamt in Deutschland gut. Die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit, brüchigen Erwerbsbiografien und niedrigen Einkommen werden allerdings erst
die nachrückenden Generationen der heute unter 50-Jährigen in vollem Maß zu spüren bekommen. Die Zwangsverrentung wird dieses Problem noch verschärfen.
Leider ist die Zeit zu kurz, um angemessen auf alle
Facetten und die Vielfalt des Alters wie auch des Altenberichts einzugehen. Lassen Sie mich an dieser Stelle
deshalb nur noch eine kurze Bemerkung zur Reform der
Pflegeversicherung machen.
Wir reden beim Altenbericht über die Potenziale, die
Chancen und den Blick auf diejenigen Älteren, die fit
sind, die bei guter Gesundheit sind und die sich ins gesellschaftliche Leben einmischen wollen. Aber wir diskutieren natürlich auch über die dringend notwendige
Reform der Pflegeversicherung. Man muss sich einmal
klarmachen, was sich derzeit in der Koalition abspielt.
Es gab den Vorschlag der Ministerin Schmidt, zehn Tage
Pflegezeit einzuführen, der von allen öffentlich gefeiert
wurde. In der Union wird nun gerade mal über drei Tage
ohne Entgeltanspruch geredet. Damit wird man dieser
Herausforderung keineswegs gerecht.
({7})
Denken Sie bitte an die Redezeit.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Politik - damit meine ich uns alle in diesem Haus - ist gefordert, zu
zeigen - nicht nur in Reden, sondern auch in konkretem
Handeln -, dass ihr die Alten in dieser Gesellschaft
wirklich etwas wert sind.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Paul Lehrieder von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren!
Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an.
Mit 66 Jahren, da hat man Spaß daran.
Die Älteren unter uns werden sich daran erinnern; Udo
Jürgens hat es vor knapp 30 Jahren gesungen. Ich habe
dieses Zitat nicht deshalb ausgewählt, weil ich ein Fan
der Popmusik bin oder weil wir gestern im Ausschuss
die Förderung der Popmusik beschlossen haben, sondern
ich habe es ganz bewusst im Anblick des Vizepräsidenten Hermann Otto Solms vorgetragen, der genau
66 Jahre alt ist. Sie können sich also bei meiner Rede
immer ein Bild von der Generation machen, von der ich
spreche.
({0})
Frau Laurischk, Sie haben Recht, viele Kommunalparlamente wären ohne die Weisheit und Erfahrungen
unserer älteren Generation ein Stück weit aufgeschmissen; aber auch der Bundestag wäre es. Wir haben
83 Kolleginnen und Kollegen im Alter von über 62 Jahren; so weist es das Bundestagshandbuch aus. Wir werden sie nicht als alte Generation bezeichnen.
Schauen Sie sich doch nur einmal um, meine Damen
und Herren, in unserer Gesellschaft, aber auch hier:
überall junge Alte. Nicht Hilfsbedürftigkeit, Senilität
oder Gebrechlichkeit charakterisieren die sogenannte
goldene Generation, sondern die Mehrheit lebt bis ins
hohe Alter ohne gesundheitliche Beeinträchtigung und
Belastung. Gleichwohl ist der Begriff Alter in unserer
Wahrnehmung überwiegend negativ besetzt.
Der fünfte Altenbericht plädiert daher zu Recht dafür,
neue Bilder zuzulassen. In der Tat brauchen wir verschiedene Vorstellungen nebeneinander, wie man im Alter leben kann. Altern ist schließlich ein höchst individueller Prozess. Die Bundesregierung unterstützt daher
ausdrücklich die Forderung der Kommission, die Heterogenität des Alters zu bejahen. Auch die CDU/CSUFraktion hat sich zum Ziel gesetzt, ein neues Leitbild zu
entwickeln.
Eigentlich müssen wir uns dafür nur die Stärken und
Potenziale des Alters wieder bewusst machen.
({1})
Jede neue Generation von Seniorinnen und Senioren ist
im Durchschnitt gesünder, besser ausgebildet und vitaler
als ihre Vorgängergeneration und wird im Übrigen im
Schnitt drei Jahre älter als die jeweilige Vorgängergeneration; auch dies müssen wir wissen. Ihr Wissen und ihre
Einsatzbereitschaft liegen in unserer Gesellschaft jedoch
noch allzu oft brach. Derzeit werden ältere Menschen
weder in ausreichendem Maße gefördert noch gezielt angesprochen.
Es klafft ein Loch zwischen Vorstellung und Realität.
Schließlich ahnen wir es doch alle oder haben es bereits
erfahren, dass Leistungsfähigkeit, Kreativität und Produktivität nicht plötzlich mit dem Erreichen der 50er-Altersgrenze verpuffen. Natürlich sind diese Qualitäten
auch jenseits der Lebensmitte vorhanden. Es muss daher
unsere vordringliche Aufgabe sein, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass die Fähigkeiten und Stärken
älterer Menschen tatsächlich abgefragt werden können
und ihre Kompetenz und Erfahrung wieder zu einem anerkannten Beitrag in Wirtschaft und Gesellschaft werden.
Derzeit sind in Deutschland gerade einmal 41 Prozent
der 55- bis 64-Jährigen erwerbstätig. Dem Vorurteil, im
Alter ließen Leistungskraft und Belastbarkeit nach, muss
begegnet werden. Die Potenziale Älterer als Arbeitskräfte werden in Zukunft noch gebraucht werden. Die
Initiative 50 plus hat im Hinblick auf die Chancen Älterer am Arbeitsmarkt einen wesentlichen Schritt in diese
Richtung getan. Die Verbesserung der Beschäftigungslage der Älteren ist aber nicht allein Aufgabe der Politik.
Eine entsprechende Ausgestaltung der Tarifverträge und
der Verantwortung der Unternehmen ist ebenfalls nötig.
Eine Förderung Älterer kann jedoch nur im Kontext
einer generationenübergreifenden Perspektive gelingen.
Jung und Alt dürfen nicht gegeneinander ausgespielt
werden. Eine Annäherung und ein gegenseitiges Verständnis der Generationen sind und bleiben unverzichtbar. Leider werden jedoch im alltäglichen Leben generationenübergreifende Beziehungen häufig noch als
Einbahnstraße wahrgenommen.
Die Förderung von Mehrgenerationenhäusern, die
Frau Bundesministerin von der Leyen auf den Weg gebracht hat, ist gerade auch unter diesem Blickwinkel immens wichtig;
({2})
denn hier werden gemeinsames Erleben von Solidarität
und ein wechselseitiger Austausch von Wissen und Erfahrung ermöglicht und für Jung und Alt direkt spürbar.
Eine Patenoma unterstützt beispielsweise eine alleinerziehende Mutter und gewinnt für sich selbst Anerkennung sowie das Gefühl, gebraucht zu werden.
Als CDU/CSU-Fraktion sehen wir in älteren Menschen längst nicht bloß eine finanzielle Belastung für die
Gesellschaft, sondern sie sind für uns Stützen der Gesellschaft. Durch ihr familiäres und bürgerschaftliches Engagement tragen sie erheblich zur Wertschöpfung bei. Es
ist erfreulich, dass auch die Wirtschaft das Potenzial und
die Kaufkraft der Silberfüchse erkannt hat. Ein verstärktes Werben um diese Gruppe ist bereits Ausdruck
dieser Entwicklung.
Eines ist, wie ich glaube, deutlich geworden: Wenn
ein Mehr an aktiven Jahren nicht nur auf persönlicher
Ebene, sondern für die gesamte Gesellschaft zur Bereicherung werden soll, sind ein Umdenken und differenzierte Altersbilder gefragt. Dann kann die Vision einer
altersfreundlichen und durch Solidarität zwischen den
Generationen gekennzeichneten Gesellschaft durchaus
Wirklichkeit werden.
Ich darf mit dem Einverständnis des Herrn Präsidenten mit einem kurzen Bericht aus der heutigen Ausgabe
des Rheinischen Merkur schließen: Senioren sind immer die anderen. Dazu sieht man das Bild einer älteren
Dame im Sportanzug. Daran zeigt sich, dass die Älteren
in Zukunft auch in Bezug auf die körperliche Fitness
für die Gesellschaft immer wertvoller und wichtiger
werden. Auch die gestern in Hamburg vorgestellte
Opaschowski-Studie zeigt die Bedürfnisse, das Engagement und auch die Wertschätzung der älteren Generation
für die nächsten Jahrzehnte auf. In diesem Sinne: Mit
66 Jahren, da fängt das Leben an.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat der Kollege Dr. Ilja Seifert von der
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren auf der Tribüne! Auch
ich gehe nun langsam auf die 60 zu. Also werde ich Gegenstand der nächsten Altenberichte sein. Nun weiß ich,
dass persönliche Betroffenheit nicht ausreicht, um als
Experte in dieser Sache gelten zu können. Aber ich bin
sozusagen mehrfach Gegenstand solcher Berichte: Ich
bin behindert, ich bin pflegebedürftig, und ich habe ein
befristetes Arbeitsverhältnis, jedenfalls erst einmal noch
zwei Jahre.
({0})
Ich will darauf hinweisen, dass es nichts Besonderes ist,
dazuzugehören.
Jetzt steht im Vordergrund, die Fähigkeiten und Potenziale der alten Menschen zu stärken. Prima; ich bin
sehr dafür. Aber wir dürfen bei der Gelegenheit nicht
vergessen, dass es Phasen gibt, übrigens auch in jüngerem Alter, in denen es nicht so gut geht. Mir ist es nicht
so wichtig, als Silberfuchs umworben oder als Best-Ager
beschimpft - ich finde diese englischen Bezeichnungen
furchtbar - bzw. umworben zu werden, um meine Kaufkraft abzuschöpfen, sondern ich möchte, dass man meine
Fähigkeiten auch dann nutzt, wenn sie vielleicht einer
Unterstützung bedürfen, wenn vielleicht Assistenz erforderlich ist, wenn es vielleicht erforderlich ist, gepflegt zu
werden. Das, meine lieben Kolleginnen und Kollegen,
haben wir viel zu selten im Blick. Solange Menschen
Angst haben und Angst haben müssen, pflegebedürftig
zu werden und vielleicht in ein Heim zu kommen, weil
sie glauben, dass das etwas ganz Furchtbares ist, werden
wir nicht vorankommen mit einem Menschenbild, das
jedes Alter positiv bewertet.
Sie werden heute in großer Geschlossenheit unseren
Vorschlag ablehnen, eine Heim-Enquete einzusetzen.
Das ist auch kein Wunder; wenn wir sie jetzt einsetzen
würden, wäre das viel zu spät. Aber Sie haben unseren
Antrag schon einmal mit der Begründung zurückgewiesen: Wir machen ohnehin alles; wir haben keinen Erkenntnisbedarf, sondern nur noch einen Handlungsbedarf. - Sie handeln aber nicht! Sie beraten sich auch
nicht, und Sie nehmen vor allem nicht die Erfahrungen
derjenigen zur Kenntnis, die etwas einzubringen hätten,
zum Beispiel in einer solchen Heim-Enquete. Sie weigern sich auch, dem Bundestag den Heimbericht vorzulegen, obwohl das laut Gesetz Pflicht wäre. Sie haben
ihn erst verzögert, und jetzt behaupten Sie mit Hinweis
auf die Kleinstaaterei, dass das nicht mehr nötig sei.
Ich finde, Sie verweigern sich hier und in der Bevölkerung einer Diskussion, die notwendig wäre und die
dazu beitrüge, ein positives Bild von jedem Lebensalter
zu schaffen und damit auch von den Menschen, die
wirklich auf fremde Hilfe, auf Assistenz, auf den Ausgleich altersbedingter Nachteile angewiesen sind.
Schade; aber ich kann Ihnen androhen: Ich will noch Gegenstand vieler Altenberichte sein.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Spanier von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
großem Wohlwollen habe ich heute die positive Einschätzung der älteren Generation zur Kenntnis genommen. Das tut richtig gut. Der fünfte Altenbericht befasst
sich aber nicht nur mit der Lage meiner Generation, also
den jetzigen Älteren, sondern er befasst sich - was ich
ganz wichtig finde - auch mit den Zukunftsperspektiven
der älter werdenden Gesellschaft in der Zeit bis zum
Jahr 2020 und darüber hinaus. Dass der Hintergrund die
demografische Entwicklung ist, ist hier schon mehrfach
betont worden. Ich glaube, das muss man in diesem
Haus nicht mehr erläutern. Dass der große Vorzug dieses
Altenberichts ist, dass ein verändertes Bild vom Alter
dargestellt wird, ist auch schon mehrfach gesagt worden.
Es ist völlig klar, dass es eine Veränderung in unseren
Köpfen geben muss.
({0})
Das ist ganz entscheidend. Ich möchte Herrn Dr. Seifert
darin recht geben, dass wir zwar ein längeres Leben und
einen Zugewinn an aktiven Jahren haben, dass es aber
auch das gibt - das gilt vor allen Dingen für die überdurchschnittlich schnell anwachsende Zahl der Hochbetagten -, was im Altenbericht Verletzlichkeit des
Alters genannt wird. Wir dürfen uns das Alter auch
nicht schönreden.
({1})
Ich finde dieses neue Altersbild deswegen so wichtig,
weil es Zerrbildern des Alters entgegengesetzt wird. Es
gibt die schwarzen Katastrophenbilder von einer Gesellschaft, die der Überalterung entgegenwankt, es gibt die
Schreckensbilder vom Krieg der Generationen und so
mancher mißfeldert da so vor sich hin.
({2})
Es gibt aber auch die Einschätzung, die demografische
Entwicklung sei nur Vorwand für Sozialabbau. Auch
diese Einschätzung nimmt die tatsächliche Entwicklung
nicht ernst.
Ich kann jetzt natürlich nur einige Aspekte ansprechen, weil dieser Altenbericht sehr gehaltvoll und umfangreich ist. Es muss sich etwas in den Köpfen der
Handwerksmeister und Personalchefs ändern.
({3})
Es ist unumgänglich - das betont der Altenbericht -,
dass die Erwerbsquote der Älteren - und zwar der Altersgruppe der 55- bis 64-Jährigen, womit die Jüngeren
hier im Hause gemeint sind - deutlich ansteigen muss.
Frau Graf hat vorhin darauf hingewiesen, dass das geht;
es gibt Länder in der Europäischen Union, die dieses tatsächlich schon geschafft haben. Das ist eine Aufgabe des
Gesetzgebers. Von der gegenwärtigen und der alten Bundesregierung gibt es eine Reihe von vernünftigen Initiativen - ich nenne nur die Initiative 50 plus -, die dieses
Anliegen durch Förderprogramme voranbringen wollen.
Es ist zu Recht gesagt worden, dass das auch Aufgabe
der Tarifpolitik sei. Auch da gibt es erste positive Beispiele in einzelnen Branchen. Aber es ist eben auch eine
Aufgabe in jedem einzelnen Betrieb.
Ein zweiter Aspekt, den der Altenbericht hervorhebt,
betrifft die Potenziale des Alters in Familien und privaten Netzwerken verbunden mit der Bedeutung des Ehrenamtes. Ich möchte aus dem Bericht einen Satz zitieren, der einem Sozialdemokraten so richtig aus dem
Herzen spricht:
Der Zusammenhalt und die Funktionsfähigkeit unserer Gesellschaft beruht auf dem Prinzip der Solidarität.
({4})
Das ist ein ganz wichtiger Satz. Es geht um die Solidarität zwischen Alt und Jung sowie zwischen älteren und
noch älteren Menschen. An dieser Stelle möchte ich aus
gegebenem Anlass darauf hinweisen, dass wir die Einrichtung der Mehrgenerationenhäuser voll und ganz unterstützen. Frau Ministerin, auch die Öffentlichkeitsarbeit, die dafür gemacht wird, und die Evaluation halten
wir für äußerst wichtig. Das sollen ja Leuchttürme sein,
die ausstrahlen. Es soll nicht nur in jedem Landkreis ein
Einzelprojekt bleiben, sondern es sollen Leuchtturmprojekte mit Ausstrahlung sein.
Ich komme zur Generationensolidarität: Im Altenbericht wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es einen notwendigen Zusammenhang zwischen einer kinderfreundlichen Gesellschaft und der Förderung der
Potenziale des Alters gibt. Das ist ein ganz wichtiger
Punkt. Wenn wir also über das neue Altersbild reden,
müssen wir auch darüber reden, wie wir in unserer Gesellschaft mit Kindern umgehen.
({5})
Ich sage es einmal ganz einfach: Wir brauchen jedes
einzelne Kind und jeden einzelnen Jugendlichen. Uns
sind natürlich diejenigen 2 Millionen Kinder, die sozial
benachteiligt sind, ganz besonders wichtig. Deswegen
hat es auch etwas mit dem Anliegen des Altenberichts zu
tun, dass es uns jetzt in einem zweiten großen Schritt,
nachdem der erste in der letzten Legislaturperiode getan
worden ist, gelingt, die frühe Förderung und Bildung unserer Kinder endlich ein großes Stück nach vorne zu
bringen.
({6})
Dass wir in Deutschland noch große Defizite haben, was
den Bildungsbereich insgesamt betrifft, möchte ich an
dieser Stelle nur kurz andeuten.
Zur Generationensolidarität gehört auch das Thema
Pflege. An dem Begriff Verletzlichkeit des Alters - um
diesen Begriff aus dem Altenbericht aufzugreifen - wird
dieses Thema besonders anschaulich. Herr Seifert, ich
möchte einige Anmerkungen zu Ihnen machen: Wir verweigern uns nicht
({7})
- einen Moment, bitte - der Veränderung in den Heimen.
In Ihrem Wahlkreis hat sich sicherlich so wie in meinem
in Ostwestfalen die Struktur der Heime schon längst
stark verändert. Man setzt auf gemeinschaftliche Wohnformen. Die großen Einrichtungen - bei mir zu Hause
gibt es sehr große Behinderteneinrichtungen; Bethel in
Bielefeld ist allen bekannt - haben schon längst Plätze
ausgegliedert und Außenstellen eingerichtet, um diese
großen Strukturen ein Stück weit aufzulösen. Ich glaube,
das muss man einfach zur Kenntnis nehmen.
Was das Heimgesetz betrifft: Wir alle, die wir hier
sitzen, haben dafür gestritten, dass diese Aufgabe in der
Kompetenz des Bundes bleibt. Aber alle Bundesländer
- wirklich alle, auch diejenigen, in denen Ihre Partei,
damals noch PDS genannt, an der Regierung beteiligt
war - haben sich bis zuletzt dagegen gewehrt; das muss
man einfach zur Kenntnis nehmen.
Dass der Entwurf zum Pflegegesetz die Anforderungen, die im Altenbericht gestellt werden, erfüllt und ein
großer Fortschritt ist, hat Frau Graf gerade betont.
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch die Diskussion über die eventuelle Gewährung von zehn Tagen
bezahlten Urlaubs ansprechen.
({8})
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sollte doch
nicht nur für die Betreuung von Kindern gelten, sondern
auch für die Betreuung und Pflege der Eltern.
({9})
Bei Erkrankung von Kindern ist die Gewährung von
zehn Tagen bezahlten Urlaubs gängige Praxis und selbstverständlich. Ich weiß nicht, aus welchen prinzipiellen
Erwägungen man das bei der Pflege der Eltern verweigert. Darüber sollte man noch einmal nachdenken.
({10})
Ganz entscheidend ist, dass mit der Reform der Pflegeversicherung Rahmenbedingungen geschaffen werden, um die häusliche Pflege durch finanzielle Entlastungen, Beratung und andere Hilfen zu erleichtern und
zu ermöglichen, dem Wunsch vieler in meiner Generation nach anderen bzw. gemeinschaftlichen Wohnformen
im Alter nachzukommen. Hier ist ein großer gesellschaftlicher Fortschritt festzustellen.
Der Altenbericht gibt eine Menge Empfehlungen, die
man sicherlich jeweils einzeln auf den Prüfstand stellen
muss. Im Hinblick auf die generelle Perspektive dieses
Altenberichts ist von ganz entscheidender Bedeutung - da
sind jetzt die 50- und 40-Jährigen gemeint -, ob es uns
wirklich gelingt, das Prinzip der Solidarität in unserer Gesellschaft durchzusetzen. Das gelingt auf keinen Fall,
wenn wir Jung gegen Alt ausspielen.
({11})
Das sagt nicht nur der Altenbericht, sondern ist, wie ich
glaube, letztlich die Überzeugung von uns allen.
Ich stelle überhaupt fest, dass in den Grundlinien ein
breiter Konsens herrscht.
({12})
Natürlich müssen wir über die einzelnen Bereiche und
die einzelnen Maßnahmen intensiv diskutieren, sicherlich auch über das Thema der drohenden Altersarmut.
Ich will überhaupt nicht verschweigen, dass das ein ernst
zu nehmendes Thema ist. Ich bin froh, dass wir, wenn
ich mich hier so umschaue, über die Generationengrenzen hinweg eine gemeinsame Linie haben.
Jetzt habe ich eine Bitte: Wir haben in diesem Parlament über den Kinder- und Jugendbericht diskutiert und
waren alle voll des Lobes. Wir haben über den Familienbericht diskutiert und waren alle voll des Lobes. Auch
heute: einheitliche Lobpreisung des fünften Altenberichts. Der Bildungsbericht sei der Vollständigkeit halber
auch noch erwähnt. Wir müssen aufpassen, dass wir
diese Berichte nicht hier in einstündigen Debatten abfeiern und dann in die Regale packen.
({13})
Weil diese gesellschaftliche Veränderung unumkehrbar, unausweichlich und bereits voll im Gange ist, sollten wir das, was hier oft miteinander verzahnt vorgestellt
und vorgeschlagen wird, wirklich ernst nehmen und versuchen, den mühsamen Weg der praktischen Umsetzung
gemeinsam zu gehen.
Herzlichen Dank.
({14})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort dem Kollegen Markus Grübel von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
Gegensatz zu den meisten meiner Vorredner möchte ich
den Schwerpunkt meiner Rede nicht auf den fünften Altenbericht Potenziale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft legen. Hierzu wurde schon viel ausgeführt.
Ich möchte stattdessen auf die beiden Anträge der Fraktion Die Linke zu den Themen Heim-Enquete einrichten und Heimbericht im Bundestag diskutieren eingehen.
Herr Dr. Seifert, beide Anträge behandeln bedeutsame Themen und berechtigte Anliegen, über die wir im
zuständigen Ausschuss schon ausführlich diskutiert haben. Zudem stand der Antrag Heimbericht im Bundestag diskutieren - Missstände offenlegen und bekämpfen
schon am 1. Februar auf der Tagesordnung des Deutschen Bundestages. Auf der Internetseite des Familienministeriums war er für jeden abrufbar. Jeder konnte ihn
auswerten.
Trotzdem möchte ich auf einige Punkte eingehen. Wir
lehnen die Anträge aus zwei wichtigen Gründen ab:
Erstens ist die Zuständigkeit für die öffentlich-rechtlichen Vorschriften des Heimrechts durch die Föderalismusreform auf die Länder übergegangen. Man kann darüber durchaus unterschiedlicher Meinung sein. Man
kann das für gut halten oder nicht. Fakt ist aber, dass das
so ist. Zu diesen Vorschriften gehört auch die Berichtspflicht nach § 22 Heimgesetz. Es ist nicht sinnvoll, hier
über etwas zu diskutieren, für das die Zuständigkeit
nicht mehr bei uns liegt. Wir würden Erwartungen wecken und am Schluss würde das Gefühl bleiben: Die diskutieren, aber wollen nicht handeln. Wir können in diesem Bereich nicht mehr handeln. Das ist jetzt eine
Aufgabe der Länder. Beim Bund verbleibt nur das Heimvertragsrecht, und das ist der weniger spannende Teil.
Herr Kollege Grübel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?
Ja.
Bitte schön, Herr Seifert.
Lieber Herr Kollege, können Sie mir denn wenigstens
dahin gehend zustimmen, dass es etwas anderes ist, ob
der Bericht irgendwo im Internet eingestellt wird oder
hier im Deutschen Bundestag darüber diskutiert wird,
welche Verantwortung der Staat hat - Stichwort Rahmenbedingungen -, damit Menschen, die in Heimen und
anderen Einrichtungen untergebracht sind, ihr Leben
selbstbestimmt leben, ihre Persönlichkeit frei entfalten
und an der Gesellschaft teilhaben können, und zwar wie,
wo und wann sie wollen?
Ich habe bereits in meiner Einleitung gesagt, dass das
bedeutsame Themen und berechtigte Anliegen sind. Wir
müssen aber feststellen, dass wir für dieses Thema nicht
mehr zuständig sind.
Der Bericht war für jeden zugänglich. Er stand bereits
am 1. Februar auf der Tagesordnung. Wir haben damals
nicht darüber diskutiert, weil alle Reden zu Protokoll gegeben wurden. Das geschäftsleitende Gremium hat das
Thema erst für den späten Abend
({0}):
Nacht!)
bzw. für die Nacht - ich glaube, es war nachts um 3 Uhr angesetzt. Um 3 Uhr hätten wir wahrscheinlich weder Zuschauer noch Zuhörer gehabt, noch wären Kolleginnen
oder Kollegen im Plenum gewesen.
Ich möchte auf den zweiten Grund eingehen: Wir haben lange genug über die Pflegesituation in Deutschland
diskutiert. Der Runde Tisch Pflege hat seine Ergebnisse bereits vorgelegt. Zusätzlich eine Heim-Enquete
einzurichten, würde bedeuten, dass nötige Maßnahmen
um Jahre verzögert würden. Eine Heim-Enquete ist wenig sinnvoll, wenn man gleichzeitig Gesetzgebungsvorhaben auf den Weg bringen will. Eine Verzögerung kann
aber keiner wollen. Jetzt ist die Zeit für Taten.
Dennoch haben Sie durchaus - ich habe das vorhin
schon gesagt - wichtige und richtige Punkte genannt, die
auch in der Koalitionsvereinbarung der Großen Koalition behandelt wurden. Zur Qualitätssicherung in den
Heimen möchte ich Folgendes anmerken: Entgegen Ihrer Wertung in der Begründung Ihres Antrages kommt
der sogenannte Heimbericht - Seite 2, Mitte - zu folgender Einschätzung - Zitat -:
Die Qualität der stationären Versorgung ist, wie die
Fakten dieses Berichts belegen, erheblich besser,
als es öffentlich geführte Debatten und einzelne Berichte gelegentlich vermuten lassen. Gute Pflege
und Betreuung ist möglich und wird in den Heimen
grundsätzlich auch praktiziert.
Man sollte sich also hüten, das Leben in Heimen pauschal schlechtzureden.
({1})
Gerade der jetzt vorgelegte Prüfbericht des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen zeigt, dass sich die
Ergebnisse im Vergleich zum ersten Bericht verbessert
haben.
An dieser Stelle möchte ich allen Pflegerinnen und
Pflegern und dem ganzen sonstigen Personal in den Heimen für ihre schwere Arbeit danken. Das ist, wie ich
finde, eine wichtige, schöne und verantwortungsvolle
Aufgabe.
({2})
Trotzdem - da geben mir bestimmt alle recht - dürfen
wir uns nicht damit zufriedengeben, wenn bei rund
10 Prozent der Heimbewohner und 6 Prozent der ambulant Betreuten ein kritischer Gesundheitszustand festgestellt wird. Diese Prozentsätze sind immer noch zu hoch.
Genau da wollen wir mit der Pflegereform ansetzen. Seit
einigen Tagen liegt der Referentenentwurf auf dem
Tisch.
Zukünftig sollen die Ergebnisse der Pflegequalitätsprüfungen des Medizinischen Kontrolldienstes in allgemeinverständlicher Sprache verfasst und veröffentlicht
werden. Dies wird zu mehr Transparenz und zu einer
besseren Qualität führen. Gerade für Menschen, die einen Heimplatz suchen, und deren Angehörige wird dies
eine wichtige Hilfestellung sein. Bisher können die
Menschen nur sehen: Was kostet das Heim, und welche
Leistungen werden angeboten? Vielleicht können sie
sich bei einem Besuch des Hauses auch einen ersten Eindruck verschaffen. Aber sie können nicht wirklich beurteilen, ob es gravierende Mängel, Beanstandungen oder
Ähnliches gibt. Denn das Recht, § 115 SGB XI, verbietet es heute ausdrücklich, dass diese Berichte an Dritte
weitergegeben werden.
Im heutigen Zustand sind die Berichte für die Allgemeinheit wenig aussagekräftig. Man muss andere Darstellungsformen wählen; man muss Inhalte auch gewichten. Wenn der Fußboden in der Wäscherei zu glatt ist,
mag das zu einer Beanstandung durch den Arbeitsschutz
führen; es wird aber den, der im Heim wohnen wird, wenig interessieren. Anderes, zum Beispiel Mängel bei der
Pflege, wird ihn sehr wohl interessieren. Denn das teuerste Heim muss nicht das beste sein. Darum wird es
wichtig sein, diese Prüfberichte zu veröffentlichen und
den Menschen einen Eindruck von der Qualität der Einrichtung zu geben. Das wollen wir mit diesem Gesetz
gemeinsam erreichen.
({3})
Wir wollen die Pflegereform auf den Weg bringen.
Wir wollen keine neuen Gremien schaffen und keine
neuen Diskussionsrunden einrichten. Das ist bestimmt
im Interesse aller hier im Saal.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf
Drucksache 16/6366 zu der Unterrichtung durch die
Bundesregierung Fünfter Bericht zur Lage der älteren
Generation in der Bundesrepublik Deutschland, Drucksache 16/2190, und zu weiteren Vorlagen.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, in Kenntnis der Unterrichtung eine
Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen
mit den Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung der
FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Entschließungsantrags der Fraktion der FDP auf
Drucksache 16/4219 zu dem Bericht der Bundesregierung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion und Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4163 mit dem Titel Das neue Bild vom Alter Vielfalt und Potenziale anerkennen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen, wiederum mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der
FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/6428. Wer stimmt
für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDPFraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei
Gegenstimmen der Fraktion Die Linke.
Tagesordnungspunkt 5 b, Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
auf Drucksache 16/6075. Der Ausschuss empfiehlt unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/1267
mit dem Titel Einsetzung einer Enquete-Kommission
Ethik, Recht und Finanzierung des Wohnens mit Assistenz ({0}). Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/3696 mit dem Titel Heimbericht im Bundestag diskutieren - Missstände offenlegen und bekämpfen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke und Enthaltung der FDP-Fraktion und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Berichts des Petitionsausschusses
({1})
Bitten und Beschwerden an den Deutschen
Bundestag
Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des
Deutschen Bundestages im Jahr 2006
- Drucksache 16/6270 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Zu einer einführenden Erklärung hat zunächst das Wort die Kollegin Kersten
Naumann von der Fraktion Die Linke.
({2})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen vom Ausschussdienst! Zum
Berichtsjahr des Petitionsausschusses kann ich zunächst
bilanzieren: Die Anzahl der Petitionen ist, wenn auch in
geringem Umfang, zurückgegangen. Statistiker, die sich
daran erfreuen, wenn alles größer wird, werden jetzt aufschreien. Für die Bürgerinnen und Bürger wäre es dagegen das Schönste, wenn es gar keine Bitten und Beschwerden geben müsste. Das hätte natürlich auch für
die Bundesregierung und ihre Behörden im Hinblick auf
das Arbeitspensum große Vorteile. Wenn man allerdings
die Zahlen des Jahres 2006 betrachtet, weiß man, dass
dies nur ein Traum bleiben wird.
Im Jahr 2006 gingen insgesamt 16 766 Eingaben ein.
Im gleichen Zeitraum wurden jedoch 20 299 Petitionen
vom Ausschuss behandelt, also nahezu 4 000 mehr, als
im Berichtszeitraum eingingen. Dies liegt daran, dass
große Überhänge aus dem Vorjahr abgearbeitet werden
mussten. Die nach wie vor hohe Zahl der Eingaben zeigt,
dass der Petitionsausschuss des Bundestages bei der Bevölkerung einen hohen Stellenwert besitzt, dass die Bürgerinnen und Bürger großes Vertrauen in seine Arbeit
haben.
Etwa 35 Prozent der Eingaben im vergangenen Jahr
- rechnet man die Erledigung von Anfragen mit der
Bitte um Rat oder um Zusendung von Materialien ein konnten im Sinne der Petenten positiv abgeschlossen
werden. Diese Zahl macht deutlich, dass der Petitionsausschuss auch eine Art Dienstleistungseinrichtung für
die Bürgerinnen und Bürger ist; sie macht aber ebenfalls
deutlich, dass die Arbeitsweise von Behörden oft kritikwürdig ist: Die Menschen sehen den Petitionsausschuss
oft als letzten Anker, Hilfe und Unterstützung zu erfahren.
Die im Jahresbericht zur Tätigkeit des Petitionsausschusses im Jahr 2006 beispielhaft geschilderten Einzelfälle belegen eindrucksvoll, wo die Bürgerinnen und
Bürger der Schuh drückt. Täglich gingen im Durchschnitt circa 65 Zuschriften beim Petitionsausschuss ein.
Im Jahr 2006 beinhalteten 6 411 Zuschriften - das sind
circa 40 Prozent - Bitten zur Gesetzgebung. Als Beispiele seien hier genannt: die Rücknahme der Kürzung
der Entfernungspauschale, die Halbierung der Mineralölsteuer oder ein dauerhaftes Bleiberecht für ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger.
Mit einem Viertel aller Eingaben ist das Bundesministerium für Arbeit und Soziales das am stärksten betroffene Ressort. Dabei war das dominierende Thema
die Rentenversicherung, gefolgt von Eingaben zur Sozialhilfe. Dies verdeutlicht, dass das Thema Rente nicht
nur ein allgemein viel diskutiertes Thema ist, sondern
dass es inzwischen auch in der Betroffenheitsskala einen
vorderen Rang einnimmt, und dies nun schon seit mehreren Jahren. Viele der Eingaben aus diesem Bereich
konnten im Berichtszeitraum nicht abschließend bearbeitet werden, so zum Beispiel die Eingaben, die die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre betrafen.
Mit 13 Prozent der Eingaben nimmt das Bundesministerium für Gesundheit die zweite Stelle ein. BesonKersten Naumann
ders stark wirkte sich die geplante Reform zur Stärkung
des Wettbewerbs zwischen den gesetzlichen Krankenkassen auf der Eingabenseite des zweiten Halbjahres
aus. Ein Dauerbrenner waren und - das muss ich mit Bedauern hinzufügen - sind die kritikwürdigen Zustände in
manchen Pflegeheimen. Hier sind dem Petitionsausschuss jedoch die Hände gebunden, da für das Heimrecht nicht der Bund zuständig ist, sondern die Länder
zuständig sind.
({0})
Das alles überragende Thema war der Nichtraucherschutz, über den auch im Rahmen öffentlicher Petitionen
bzw. in einer öffentlichen Ausschusssitzung mit Petenten
diskutiert wurde. Mir ist natürlich bewusst, dass es auch
in diesem Haus einige gibt, die unter den neuen Beschlüssen leiden. Der Ausschuss konnte in der Bevölkerung jedoch überwiegend Zuspruch zu den geplanten
Neuregelungen feststellen.
Der größte Rückgang beim Eingang von Petitionen
war im Jahr 2006 beim Bundesministerium des Innern
zu verzeichnen; die Zahl der eingereichten Petitionen
sank von fast 4 000 Eingaben in 2005 auf 1 348 im
Jahr 2006.
({1})
Stark rückläufig war dabei die Zahl der Petitionen, die
sich auf das Asylrecht bezogen, während Petitionen zum
öffentlichen Dienstrecht nach wie vor einen Schwerpunkt bildeten.
Ein Beispiel für die Petitionen, die das Bundesministerium des Innern betrafen, ist die Forderung, ein Gesetz
zum Schutz der deutschen Sprache zu beschließen oder
im Grundgesetz den folgenden Artikel aufzunehmen
- ich zitiere -: Die Sprache der Bundesrepublik
Deutschland ist Deutsch.
({2})
So weit mochte der Ausschuss diesem Vorschlag nicht
folgen. Allerdings sah er in diesem Zusammenhang die
Notwendigkeit, dass die Bundesregierung ihre Bemühungen, der deutschen Sprache innerhalb der EU einen
ihrer Bedeutung angemessenen Stellenwert zu verschaffen, fortsetzt und verstärkt.
Wenn man bedenkt, das manche der auf den ersten
Blick kleinen Wehwehchen für die Betroffenen selbst
enorme Auswirkungen auf ihre Lebensumstände haben
und der Petitionsausschuss als höchste Rettungsinstanz
in der Not gesehen wird, bestätigt das einmal mehr die
Notwendigkeit und Bedeutung unseres Ausschusses.
Wir konnten zum Beispiel erreichen, dass eine Petentin einen Treppenlift für ihre behinderte Tochter bekam,
der ihr vorher verweigert worden war, und dass eine zugesagte, dann aber verweigerte Fahrtkostenbeihilfe letztendlich doch von der Bundesagentur für Arbeit gezahlt
werden musste. Den betroffenen Familien konnte dadurch gravierend geholfen werden.
Bedauerlicherweise kann der Ausschuss nicht alles
zusammenfügen, was auseinandergebrochen ist. Entscheidungen des Ausschusses können nicht mit einem
Gerichtsurteil gleichgesetzt werden. Er kann Empfehlungen abgeben. Glücklicherweise führen diese oft dazu,
dass Entscheidungen, Gesetze und Regeln überdacht und
so für das Allgemeinwohl verträglichere Lösungen gefunden werden.
Ich möchte betonen, dass es nicht damit getan ist, an
die jeweils zuständigen Institutionen eine Anfrage zum
Sachverhalt zu senden und deren Stellungnahme dann
als unabänderliche Tatsache hinzunehmen. Die Mitglieder des Ausschusses - ich glaube, hier kann ich für alle
sprechen - sehen ihre Aufgabe darin, alles nur Erdenkliche im Interesse des oder der Petenten zu erreichen.
({3})
Hierbei ist oft sehr viel Fingerspitzengefühl gefragt,
gepaart mit einem hohen Maß an Kreativität. Die Nutzung aller Möglichkeiten, die dem Petitionsausschuss
zur Verfügung stehen - von der unmittelbaren Einbindung von Vertretern der Bundesregierung im Rahmen
der Berichterstattergespräche über die Durchführung öffentlicher Anhörungen bis hin zu einem Ortstermin -,
hilft den Mitgliedern des Petitionsausschusses, sachkundige Entscheidungen zu fällen.
Nun möchte ich noch auf einige bereits Ende 2005
begonnene Neuerungen im Petitionswesen aufmerksam
machen, mit denen wir im Ausschuss erst im vergangenen Jahr ausgiebige Erfahrungen sammeln konnten:
Erstens können Petitionen jetzt auch auf elektronischem Weg, also per E-Mail, eingereicht werden. Hier
spricht eine Zahl für sich: Bereits im letzten Jahr haben
uns über 10 Prozent der Eingaben auf diesem Weg erreicht.
Die zweite Neuerung ist, dass auf der Internetseite des
Deutschen Bundestages sogenannte öffentliche Petitionen eingereicht, mit gezeichnet und diskutiert werden
können. 288 öffentliche Petitionen wurden 2006 ins
Netz gestellt und von über 450 000 Unterstützern mit gezeichnet sowie mit mehr als 17 600 Kommentaren in
Diskussionsforen versehen. Hier sind wir im Zeitalter
von Internet und E-Demokratie auf dem richtigen Weg.
Dieser Weg wird von den Petenten gut angenommen;
wir werden hier künftig noch erhebliche Steigerungsraten verzeichnen. Deshalb werden wir den Modellversuch
in den Dauerbetrieb übernehmen.
({4})
Zum Dritten wurde für die sogenannten Sammel- und
Massenpetitionen erstmals die Möglichkeit geschaffen,
die Anhörung eines oder mehrerer Petenten in einer öffentlichen Ausschusssitzung vorzusehen. Die Bedingung
dafür ist, dass die Petition innerhalb von drei Wochen
von wenigstens 50 000 Mitzeichnern unterstützt wird.
Dies schaffte im vergangenen Jahr jedoch nur eine
Petition; mit ihr forderten 103 000 Unterstützer die
Rücknahme der teilweisen Abschaffung der Entfernungspauschale im Steueränderungsgesetz. Auch bei
dieser Neuerung ist für die kommenden Jahre mit erheblichem Zuwachs zu rechnen, besonders im Hinblick darauf, dass die Testphase dieses Projektes in Kürze abgeschlossen sein und der darauf folgende Regelbetrieb
noch übersichtlicher und reibungsloser funktionieren
wird.
Diese neuen Formen der Petitionsarbeit tragen zu einem großen Teil dazu bei, die Öffentlichkeitsarbeit des
Petitionsausschusses zu unterstützen. Wir werden aber
auch künftig daran arbeiten, unserem Bild bei der Bevölkerung noch schärfere Konturen zu geben, und weiterhin
vor Ort für Fragen und Anregungen zur Verfügung stehen, wie das meine Kolleginnen und Kollegen und ich
schon intensiv tun.
Gestatten Sie mir, zum Abschluss meiner Ausführungen denen zu danken, ohne die wir als Ausschussmitglieder dem enormen Arbeitspensum hilflos ausgeliefert
wären: Ich danke den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
des Ausschussdienstes, aber auch den Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern der Fraktionen und der Abgeordneten.
({5})
Ohne ihr engagiertes Wirken hinter den Kulissen wäre
die Bearbeitung der fast 17 000 Petitionen des vergangenen Jahres nicht möglich gewesen. Dabei möchte ich
nicht verhehlen, dass ich dem laufenden und geplanten
Stellenabbau in der Verwaltung des Deutschen Bundestages mit Sorge entgegensehe. Wenn man bedenkt, dass
täglich über 270 Briefe nach intensiver Beschäftigung
mit dem Sachverhalt den Ausschussdienst verlassen,
wird der Arbeitsaufwand mehr als deutlich.
Eine letzte, persönliche Bemerkung, in meiner Funktion als Vorsitzende: Ja, die Arbeit im Ausschuss ist
meistens sachlich und konstruktiv, und man wird es
nicht glauben: Sie macht auch Spaß, mir jedenfalls.
({6})
Dafür einen herzlichen Dank an meine Ausschusskolleginnen und Ausschusskollegen!
({7})
Die gute Zusammenarbeit kann aber nicht darüber
hinwegtäuschen, dass die Ausschussmitglieder aus fünf
verschiedenen Fraktionen kommen und somit öfters politisch unterschiedliche Sichten auf die Dinge haben.
({8})
Meine Arbeitsweise richte ich so aus, dass ich die Meinung des anderen in jedem Fall respektiere, auch wenn
ich sie nicht verstehe oder sie nicht teile. Das halte ich
nicht nur deswegen, weil ich Vorsitzende bin, so, sondern weil ich denke, dass Politik von Respekt geprägt
sein sollte. In diesem Sinne hoffe ich auf weitere gute
Zusammenarbeit und darauf, dass wir gemeinsam möglichst viele positive Entscheidungen für die Petentinnen
und Petenten fällen.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat der Kollege Clemens Bollen von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Zunächst
möchte auch ich der Ausschussvorsitzenden sowie allen
Mitgliedern des Ausschusses für die konstruktive Zusammenarbeit danken. Ich möchte ebenfalls den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes und
der Fraktionen Anerkennung aussprechen. Mit ihrer
Hilfe ist es möglich, die Vielzahl der eingehenden Petitionen verantwortungsvoll und gewissenhaft zu bearbeiten.
Ich freue mich sehr, Mitglied dieses Ausschusses zu
sein. Denn die Arbeit ist sehr konkret, wie aus dem Bericht der Ausschussvorsitzenden schon deutlich wurde.
Bei der Arbeit in diesem Ausschuss ist man in direktem
Kontakt mit den Bürgerinnen und Bürgern. An uns wenden sich die Menschen, wenn sie das Gefühl haben, von
geltenden Gesetzen oder von einer Verwaltung ungerecht behandelt zu werden. Der Petitionsausschuss ist
ein sehr guter Seismograf für die Stimmung in diesem
Land. So kann gerade der Petitionsausschuss Lücken in
der Gesetzgebung wahrnehmen und, wenn nötig, Korrekturen anregen. Ebenso lassen sich oft schon durch einen Briefwechsel bürokratische Hürden beseitigen, an
denen der Bürger vorher scheiterte. So können wir Menschen ganz konkret hilfreich zur Seite stehen.
Wie bereits erwähnt, hat der Ausschuss im vergangenen Jahr über 20 000 Eingaben bearbeitet. Von diesen
fiel rund ein Fünftel - es waren genau 4 108 - in den Bereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales.
Dies zeigt die große Bedeutung dieses Bereiches, zu
dem ich ein paar kurze Ausführungen machen möchte.
In vielen Eingaben geht es um die Themen Arbeitslosigkeit, Unfallversicherung und berufliche Eingliederung von behinderten Menschen sowie um Fragen aus
dem gesamten Komplex der Sozialversicherung. Wir haben nach bestem Wissen und Gewissen versucht, Menschen bei ihren Anliegen Unterstützung zu leisten.
Der Ausschuss nahm eine große Anzahl von Eingaben entgegen, bei denen es um das Arbeitslosengeld
ging. In vielen Fällen wurden Einzelfallentscheidungen
der örtlichen Arbeitsverwaltungen - sei es der Agenturen für Arbeit, sei es der Arbeitsgemeinschaften oder der
Optionskommunen - beanstandet. Hier konnten wir oft
eine Überprüfung des einzelnen Vorgangs erreichen.
Ein Beispiel. Einer Petentin, deren laufende Arbeitslosengeldzahlung vorläufig eingestellt wurde, konnte geholfen werden. Sie hatte einen Vorstellungstermin für
eine Teilzeitstelle nicht wahrgenommen. Diese Teilzeitstelle lag nicht weniger als 772 Kilometer von ihrem
Wohnort entfernt. Dabei war nicht einmal geprüft worden, ob passende Arbeitsangebote in der Nähe des
Wohnortes vorlagen. Nach der von uns eingeleiteten erClemens Bollen
neuten Prüfung wurde die Zahlung durch die Arbeitsverwaltung umgehend und termingerecht wieder aufgenommen.
Uns erreichen auch zahlreiche Eingaben, bei denen es
grundlegender um die Hartz-IV-Gesetzgebung geht.
Viele Petenten rügen die Höhe des Arbeitslosengeldes II.
Diese generelle politische Frage stellt ein drängendes
Problem dar. Die Überlegung des Bundesarbeitsministers, den Regelsatz überprüfen zu lassen, zeigt, dass wir
dieses Anliegen der Menschen ernst nehmen.
Hinter jeder Eingabe verbirgt sich das Schicksal eines
Menschen, der seine letzte Hoffnung oft im Petitionsausschuss sieht. Gerade bei Arbeitslosigkeit kann die wirtschaftliche Existenz einer Familie betroffen sein. Im Petitionsausschuss haben wir oftmals die Möglichkeit, im
konkreten Fall Unterstützung zu leisten.
Ein Beispiel. Wir konnten einer Petentin helfen, ihre
Erwerbsfähigkeit zu sichern. Infolge eines Krebsleidens
hatte sie Reha-Maßnahmen erhalten, die es ihr ermöglichten, wieder zu arbeiten. Die Folgen der Krankheit
waren aber so gravierend, dass sie erneut eine Maßnahme beantragen musste. Dieser Antrag auf erneute
medizinische Behandlung wurde von der Rentenversicherung Bund abgelehnt. Der Petitionsausschuss wandte
sich mit der Bitte um Stellungnahme an das Bundesversicherungsamt. Daraufhin wurde ein erneutes Gutachten
in Auftrag gegeben. Durch unsere Intervention wurde
die Maßnahme gewährt, mit der Aussicht, dass die Frau
wieder arbeiten und ihre wirtschaftliche Existenz sichern
kann.
Genauso konnten wir zum Beispiel dabei mitwirken,
einem Petenten eine notwendige Umschulung zu ermöglichen. In diesem Fall klagte der gelernte Bäcker über
langjährige Atembeschwerden. Die zuständige Berufsgenossenschaft bot zwar eine Untersuchung an, der Vorgang verlor sich aber im bürokratischen Apparat. Erst
auf Anfrage des Petitionsausschusses beim Bundesversicherungsamt wurde eine Untersuchung angesetzt. Es
wurde festgestellt, dass der Petent eine Weizenmehlallergie hat. Dem Petenten wurden schließlich Verletztengeld
und eine Umschulungsmaßnahme gewährt.
Ich glaube, diese konkreten Beispiele machen noch
einmal deutlich, dass gerade im Einzelfall die Sorgen
und Nöte der Menschen ernst genommen werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist immer wieder
eine positive Erfahrung, wenn wir Menschen in Notlagen helfen können. Oft geraten sie in die Mühlen verschiedener Verwaltungen, die sich die Verantwortung
gegenseitig zuschieben. So war es auch bei einer stark
sehbehinderten Petentin, die von einer Stelle zur anderen
geschickt wurde - von der Agentur für Arbeit zum Landeswohlfahrtsverband, vom Sozialamt zur Arbeitsgemeinschaft des Landes -, um dann zu erfahren, dass ihr
eine elektronische Sehhilfe nicht zusteht. Auch hier
konnte durch Einschaltung des Ausschusses erreicht
werden, dass die Petentin ihre unverschuldet unterbrochene Ausbildung fortführen konnte.
Diese Beispiele zeigen die aktive Arbeit des Petitionsausschusses als Nahtstelle zwischen der Politik und den
Bürgerinnen und Bürgern. Ich hoffe, dass der Ausschuss
auch in Zukunft die notwendige Unterstützung erfährt.
Die personellen Ressourcen müssen erhalten bleiben.
Die Zahl der Petitionen wird nach meiner Einschätzung
eher zu- als abnehmen, gerade auch vor dem Hintergrund, dass es nun die Möglichkeit gibt, auf elektronischem Wege öffentliche Petitionen einzureichen. Die
Bürgerinnen und Bürger haben hierdurch eine weitere
Möglichkeit, sich wirksam zu äußern.
Ich denke, wir konnten mit unserer Arbeit mit dazu
beitragen, dass in vielen Fällen den Betroffenen ein
Stück mehr Gerechtigkeit widerfahren ist. Wir konnten
zeigen, dass die Politik die Sorgen und Nöte der Menschen gerade auch im Einzelfall ernst nimmt und verantwortungsvoll mit ihnen umgeht.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jens Ackermann von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Zuschauer! Der Jahresbericht gibt uns von
Neuem die Möglichkeit, die Arbeit des Petitionsausschusses rückblickend zu bewerten. Es ist jedes Mal verblüffend, festzustellen, wie sehr gesellschaftliche und
politische Themen ihren Widerhall in den Petitionen der
Menschen finden.
Der Petitionsausschuss hat einen hohen Stellenwert in
der Gesellschaft. Ich bin nach wie vor davon überzeugt,
dass er einen wichtigen Beitrag gegen Politikverdrossenheit leistet. Als Schnittstelle zwischen Bundestag und
Bürger nimmt er auf, was den Bürgern am Herzen liegt,
welche Bauchschmerzen sie mit Gesetzen und Behörden
haben und welche Vorschläge und Lösungsansätze die
Bürger selber entwickeln.
Ich nenne drei Beispiele. Erstens. Sportpiloten haben
sich mit der Bitte an uns gewandt, die verschärften Bestimmungen bezüglich der Überprüfung der Tauglichkeit
wieder zurückzunehmen, damit sie auch in Zukunft ihrem Hobby nachgehen können. Zweitens. Ein weiterer
Petent hat sich mit der Idee an uns gewandt, den Personalausweis im Scheckkartenformat herzustellen, damit
er auch in die Brieftasche passt. Auch dieser Bitte konnten wir nachkommen.
Ein dritter Vorschlag aus der Bevölkerung war, sich
endlich um das sehr komplizierte Mehrwertsteuersystem
zu kümmern. Es war nicht mehr nachzuvollziehen, warum man für Trüffel 7 Prozent und für Sondennahrung in
den Heimen 19 Prozent zahlen muss.
Diese Hinweise aus der Bevölkerung zeigen uns, dass
die Bürgerinnen und Bürger sich wünschen, dass wir unsere politische Arbeit mit mehr Augenmaß und Vernunft
verrichten.
({0})
An den Petitionen, die den Deutschen Bundestag erreichen, lässt sich aber auch die Arbeit der Bundesregierung messen. Die hohe Anzahl der Petitionen kann nicht
zuversichtlich stimmen. Die Bundesregierung würde gut
daran tun, genauer zuzuhören. Petitionen zeigen nicht
selten die schlechte Mittelstandspolitik der Bundesregierung auf.
({1})
So wandte sich ein mittelständischer Unternehmer der
Technischen Orthopädie an uns. Er bat darum, die Kosten zu regeln, auf denen er oft sitzenbleibt, weil er Rettungswagen und Notaufnahmen mit Halskrausen versorgt. Wir haben nach einer Überprüfung festgestellt,
dass der Eigenanteil von Notfallpatienten oft nicht den
Lieferanten erreicht. Wir haben ein Berichterstattergespräch durchgeführt. Staatssekretärin Caspers-Merk sicherte uns zu, Abhilfe zu leisten.
Petitionen sind ein geeignetes Messinstrument der
Regierungspolitik. Die Ausschussvorsitzende hat darauf
hingewiesen, dass gerade im Gesundheitsbereich ein Zuwachs an Petitionen zu verzeichnen ist. Es wird gewünscht, das Problem der Pflege anzugehen, einen Gesetzentwurf zur Pflegeversicherung vorzulegen und die
Zustände in den Heimen zu verbessern.
Wir haben im letzten Jahr 16 700 Petitionen bearbeitet.
Das ist ein beträchtlicher Arbeitsaufwand. Mein Dank
gilt insbesondere der akribischen Arbeit des Ausschussdienstes und des -sekretariates. Kollegin LösekrugMöller meinte kürzlich, das einzige Argument, welches
gegen eine Große Koalition spreche, sei, dass die Opposition im Petitionsausschuss doppelt so viel Arbeit leisten
müsse, da eine Akte jeweils von der Regierungskoalition
und der Opposition bearbeitet werden muss.
({2})
Werte Kollegin, mir fielen noch 20 andere Argumente
ein, die gegen Schwarz-Rot sprächen.
({3})
Angesichts der enormen Arbeitsbelastung im Petitionsausschuss bin ich auch unseren Stellvertretern, den
Kollegen Fricke und Wissing sowie der Kollegin Lenke,
sehr dankbar, die die gleiche Arbeit wie die vollen Ausschussmitglieder in unserer Fraktion leisten.
Die FDP-Fraktion misst den Petitionen und dem Petitionsausschuss eine hohe Bedeutung zu. Das ist ein Beispiel für direkte Demokratie. Wir nehmen die Bürgerinnen und Bürger ernst. Es ist gut, dass es den
Petitionsausschuss gibt und dass die Menschen dieses
Instrument so rege nutzen.
Der Jahresbericht 2006 zeigt uns eine Vielzahl von
Problemen auf, die in unserem Land angegangen werden
müssen. Dies haben uns die Bürgerinnen und Bürger mit
ihren Petitionen deutlich gemacht. Es liegt an Ihnen von
der Bundesregierung, diese Probleme beherzt anzugehen. Ich fordere Sie auf: Hören Sie auf die Bürgerinnen
und Bürger!
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Günter Baumann von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Ackermann, der Wähler hat entschieden, dass Sie ein bisschen mehr arbeiten müssen als wir.
Dafür können wir nichts.
({0})
Vielleicht hat er das vor dem Hintergrund gemacht, dass
Sie etwas nacharbeiten müssen.
Geschichtlich betrachtet hat das Petitionsrecht eine
lange Tradition. Wenn man in den Büchern nachschlägt,
dann stellt man fest: Schon im alten Rom zu Zeiten von
Julius Cäsar gab es Petitionen. Man konnte sich dorthin
wenden und bekam manchmal auch recht. Auch in der
deutschen Geschichte lassen sich viele Vorläufer des
heutigen Petitionsrechtes finden. Zwar haben Ernst August, Herzog von Sachsen 1737 und Kaiser Friedrich
Wilhelm I. 1739 noch angedroht, Untertanen einzukerkern oder aufzuhängen, sollten diese sie mit Petitionen
belästigen; solche Zeiten gab es auch. Jedoch gestattete
bereits 1744 Friedrich der Große in einer Bekanntmachung: Jeder darf seine Bitten, Gesuche und Beschwerden eigenhändig bei mir vorbringen und der genauesten
Erwägung sicher sein. Bereits 1744!
Die Geschichte hat gezeigt, dass die aktive Beteiligung der Menschen am politischen Geschehen eine
Grundvoraussetzung für eine funktionierende Demokratie ist. Die Mitglieder des Petitionsausschusses haben
hier eine besonders verantwortungsvolle Aufgabe. Die
Vorsitzende hat es bereits gesagt: Wir bemühen uns,
diese wahrzunehmen. Der Petitionsausschuss bietet hierfür eine doppelte Chance. Zum einen können die Bürger
direkt mit dem Parlament kommunizieren - sie nehmen
mit uns Kontakt auf -, um gegebenenfalls Hilfe zu bekommen. Zum anderen erhalten wir, die Politiker, eine
praxisnahe Rückkoppelung bei unserer Gesetzgebung:
Kommen unsere Gesetze unten an? Funktionieren sie? Ich denke, das brauchen wir.
Der heute zur Diskussion stehende Jahresbericht ist
natürlich zuerst eine Sternstunde für Statistiker, die alle
Zahlen genau betrachten und Verschiedenes miteinander
vergleichen. Gestatten Sie mir, auf einige Besonderheiten hinzuweisen. Die Gesamtzahl von knapp 17 000 Petitionen wurde bereits genannt. Zur Ergänzung: Das sind
5 000 weniger als im Jahr zuvor. 35 Prozent wurden
positiv beschieden. Insgesamt haben wir 20 000 Petitionen bearbeitet, also mehr, als eingegangen sind. Ich
denke, dass die Berge irgendwann etwas geringer werGünter Baumann
den. Insgesamt haben sich 370 000 Bürger - auch das ist
eine interessante und beträchtliche Zahl - mit Einzelpetition, Massenpetition und Sammelpetition an uns Parlamentarier gewandt.
Der Jahresbericht gibt aber auch Gelegenheit, sich
Veränderungen anzuschauen. Es fällt stark auf, dass der
Anteil der Petitionen aus den neuen Bundesländern von
42,7 Prozent im Jahr 2005 auf 22,7 Prozent im Jahr 2006
zurückgegangen ist, also fast um die Hälfte. Es ist natürlich positiv, dass weniger Petitionen eingereicht wurden.
Trotzdem sind Petitionen aus den neuen Bundesländern,
prozentual auf die Einwohnerzahl bezogen, mit Abstand
die meisten. An der Spitze liegen - Berlin ausgenommen Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Vielleicht
ein Vergleich, der deutlich macht, wie groß die Unterschiede noch sind: Auf die Einwohner bezogen ist die
Zahl der Eingaben aus Sachsen genau doppelt so hoch
wie die aus Bayern.
Worin liegen die Gründe dafür, dass Petitionen aus alten und neuen Bundesländern in so unterschiedlicher
Zahl bei uns eintreffen? Ehemalige DDR-Bürger nehmen nach der Erfahrung der Diktatur, die sie erleben
mussten, in besonderem Maße ihr Recht wahr, sich an
das Parlament zu wenden, um Entscheidungen hinterfragen und überprüfen zu lassen.
({1})
- Frau Lazar, das ist ein gutes Zeichen. Das nehmen wir
gerne an. - Wir müssen auch feststellen, dass es 17 Jahre
nach der Wiedervereinigung immer noch Unterschiede bei
der materiellen Angleichung der Lebensverhältnisse gibt.
Wir haben in dieser Woche über den Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2006 diskutiert, anhand dessen wir das feststellen konnten.
Ich möchte beispielhaft anführen, welche Petitionen
speziell aus dem östlichen Teil wir positiv entscheiden
konnten. Die Opfer des SED-Regimes haben sich mit einer Vielzahl von Petitionen an uns gewandt. Mit dem
Dritten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz vom 1. September dieses Jahres konnten wir dieses Problem klären.
Die unterschiedlichen Sätze beim Arbeitslosengeld II in
Ost und West konnte ebenfalls keiner verstehen. Auch
das haben wir geklärt. Es steht noch eine Vielzahl von
Petitionen auf der Tagesordnung. Ein Teil betrifft die unterschiedlichen Rentenbiografien in Ost und West. Wir
hatten in dieser Woche ein Gespräch mit dem Staatssekretär, in dem wir einige Probleme aufgezeigt haben.
Der Einigungsvertrag und die Gesetze, die danach verabschiedet wurden, haben nicht alle Unterschiede beseitigen können. Weiterhin gibt es vermögensrechtliche
Probleme, bei denen das Handeln der Treuhand und ihrer
Nachfolgeorganisationen hinterfragt werden muss.
Der Petitionsausschuss hat ein besonderes Recht, im
Grundgesetz verbrieft, nämlich Ortstermine durchführen
zu können. Im Jahr 2006 haben wir einen solchen Ortstermin durchgeführt und sind ins Edertal nach Hessen
gefahren. Ein Petent, der in einer Staumauer ein Museum betrieben hat, in dem die Geschichte des Krieges
und der Vertreibung aufgearbeitet wurde, hatte sich an
uns gewandt. Ihm wurde der Betrieb des Museums gekündigt. Wir waren vor Ort und konnten in Gesprächen
mit allen Beteiligten eine Lösung finden, sodass das Museum bis zum Ende des Jahres weiterbetrieben werden
konnte. Am Ende haben wir erreicht, dass eine geschichtsträchtige Bildungsstätte gerade für junge Menschen erhalten geblieben ist. Ich kann nur allen danken,
die daran beteiligt waren. Natürlich ist das mit einem hohen Aufwand verbunden, den wir aber gerne betreiben.
Unsere Arbeit zeichnet sich nun einmal durch einen hohen Zeitaufwand, Hartnäckigkeit, Ausdauer und dadurch
aus, dass wir an Problemen dranbleiben. Damit können
wir etwas erreichen.
({2})
Gestatten Sie mir, noch kurz auf Folgendes hinzuweisen: Ein besonderer Akzent unserer Arbeit lag auch 2006
auf dem Thema Öffentlichkeitsarbeit. Wir gehen verstärkt auf Messen und präsentieren uns den Bürgerinnen
und Bürgern an Ständen. Im letzten Jahr waren wir in
Rostock, Erfurt, Dortmund und auf Messen in anderen
Städten und haben mit den Bürgern direkt Kontakt aufgenommen. Die Bürger kommen zu uns und fragen uns.
Ich denke, wir helfen entscheidend mit, der oft diskutierten Politikverdrossenheit ein Stück entgegenzuwirken.
Ich möchte wie meine Vorredner den letzten Teil meiner Rede dazu nutzen, mich im Namen der CDU/CSUBundestagsfraktion bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes ganz herzlich für die
kompetente, kollegiale und sehr gute Zusammenarbeit
zu bedanken. Ohne ihre Arbeit wäre es uns nicht möglich, diese Stöße von Petitionen zu bearbeiten. Ich
möchte aber auch unsere eigenen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter in den Büros der Fraktionen in den Dank einbeziehen, die oft über Aktenstößen sitzen und uns eine
wichtige Hilfe sind. Ihnen allen gilt ein ganz herzlicher
Dank.
({3})
Unser erreichtes hohes Niveau bei der Bearbeitung
von Petitionen stärkt das Vertrauen in unsere lebendige
Demokratie und ermutigt uns, gemeinsam diesen Dienst
für unsere Bürgerinnen und Bürger fortzuführen. Ich
denke, das Klima im Ausschuss zeigt uns, dass wir auf
dem richtigen Weg sind. Wir möchten so weitermachen.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich gebe das Wort der Kollegin Heidrun Bluhm, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Vorsitzende!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste! Als
Obfrau der Linken habe ich heute erstmals die Gelegenheit, zu einem Jahresbericht zu sprechen. Auch ich
möchte die Gelegenheit nutzen, mein persönliches Resümee damit zu verbinden.
Am Beginn einer Rede soll man Lob aussprechen.
Das will auch ich tun. Alle meine Vorredner haben insbesondere die Zusammenarbeit mit dem Ausschussdienst gelobt. Ich möchte mich diesem Lob ausdrücklich
auch für meine Fraktion anschließen und mich herzlich
dafür bedanken, dass die Arbeit immer sehr ordentlich
vorbereitet wird und vieles, was wir sonst selbst erledigen müssten, bereits vom Ausschussdienst erledigt wird.
Das ist für uns eine große Erleichterung.
({0})
Der Petitionsbericht für das Jahr 2006 stellt dar, dass
es insgesamt ein sehr arbeitsreiches Jahr war. Das gilt für
die Arbeit der Abgeordneten in den Ausschüssen, die
Arbeit der Berichterstatter und die Arbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die wir zur Verfügung haben.
Auch hier, glaube ich, ist es angebracht, einmal ein Dankeschön zu sagen.
Der Jahresbericht gibt vieles aus der Arbeit des Petitionsausschusses wieder. Besonders wichtig findet Die
Linke die von ihm neu praktizierten Verfahrensweisen
wie öffentliche Anhörungen und öffentliche Petitionen.
Dank der Einführung der öffentlichen Petitionen konnte
im letzten Jahr mehr Aufmerksamkeit, mehr Medienpräsenz und damit sicherlich auch ein weiterer Schritt in
Richtung mehr Bürgernähe erzielt werden.
Leider fällt es uns oft noch ziemlich schwer, uns gemeinsam auf Themen, die öffentlich behandelt werden
sollen, zu verständigen. Wir halten es für erforderlich,
zukünftig stärker darauf zu achten, dass insbesondere die
Themen in den Mittelpunkt der öffentlichen Behandlung
gestellt werden, die die Menschen besonders bewegen.
Leider gehen die Meinungen zwischen Opposition und
Regierung dabei manchmal auseinander. Zum Beispiel
hätten wir gern schon im Jahr 2006 eine öffentliche Sitzung zum Arbeitslosengeld II abgehalten. Nicht umsonst
hat die Frau Vorsitzende festgestellt, dass uns zum sozialen Bereich und zum Arbeitslosengeld II sehr viele Petitionen erreichen. Deshalb wäre es wert, dieses Thema in
Zukunft auf die Tagesordnung zu setzen.
({1})
Die grundsätzlich wohlwollende Darstellung der Arbeit des Petitionsausschusses im Jahresbericht darf jedoch nicht den Blick davor verstellen, dass in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle dem Anliegen der
Petenten im Ergebnis nicht entsprochen werden konnte
und dass sich das Petitionsverfahren für viele Betroffene
zu wenig durchsichtig, zu wenig verständlich, zu langwierig und auch zu bürokratisch darstellt. Ich will aber
eingestehen, dass wir Abgeordnete im Ausschuss uns
bemühen, an diesem Problem weiterzuarbeiten und positiv zu wirken. Aus diesem Grund setzt sich die Linke für
ein Petitionsgesetz zur Sicherung von Transparenz und
der Rechte der Bürger im Verfahren ein. Ich hoffe, dass
auch andere Fraktionen dieses Anliegen unterstützen.
Warum soll das, was uns andere Bundesländer bereits
vorleben, auf Bundesebene nicht realisiert werden können?
Nach unserer Pressekonferenz will ich noch einmal
folgende Tatsache klar benennen: Von allen Petitionen,
die im Jahr 2006 parlamentarisch beraten wurden, wurde
am Ende bei 88 Prozent dem Anliegen leider nicht entsprochen. Das relativiert auch kein Zahlenspiel, wie Sie
es in der Pressekonferenz noch einmal versucht haben.
({2})
Natürlich erkenne ich an, dass auch mit der Zusendung
von Materialien und mit Auskünften, die den Menschen
gegeben werden, Hilfe geleistet wird. Dies alles soll
auch statistisch erfasst werden. Jedoch darf die Darstellung im Jahresbericht nicht so erfolgen, dass beim außenstehenden Leser der Eindruck entsteht, dass durch
das parlamentarische Wirken in hohem Maße positiv auf
die Belange der Menschen eingegangen wird.
Gestatten Sie mir noch ein paar Gedanken zu den öffentlichen Petitionen. Dabei handelt es sich um ein Anliegen von allgemeinem Interesse, mit dem die Petenten
eine Änderung der bestehenden gesetzlichen Regelungen begehren. Die öffentlichen Petitionen machen deutlich, dass nicht wenige Bürgerinnen und Bürger das
Bedürfnis haben, sich in Gemeinwohlbelange einzumischen und im Austausch und zusammen mit anderen gestaltend auf die Politik einzuwirken. Zudem erfüllen öffentliche Petitionen für die Bürgerinnen und Bürger eine
wichtige Informationsfunktion, weil die Beschlussbegründung nach Abschluss der Petition im Internet nachzulesen ist. Aus diesem Grunde hätten wir uns mehrere
Beispiele von öffentlichen Petitionen im Jahresbericht
gewünscht. Zudem sollten wir diese Petitionen zukünftig
als öffentliche Petitionen im Inhaltsverzeichnis kennzeichnen.
Die öffentliche Petition zum Thema Generation
Praktikum, die im Jahre 2006 bei uns eingegangen ist
und zu der der Ausschuss auch eine öffentliche Beratung
durchgeführt hat, wünschen wir uns im Jahresbericht
2007 erwähnt, vor allem in Anbetracht der Tatsache,
dass diese Petition die Unterstützung von mehr als
100 000 Menschen erfahren hat. Ich glaube, dass wir
hier eine besondere Aufmerksamkeit zeigen sollten.
({3})
Noch ein Beispiel dafür, dass der Jahresbericht 2006
aus unserer Sicht einer kritischen Betrachtung bedarf:
Alle Berücksichtigungs- und Erwägungsbeschlüsse sowie Materialüberweisungen an die Bundesregierung
werden dahin gehend gewertet und dargestellt, dass die
Petition einen positiven Ausgang im Sinne des Anliegens des Petenten gefunden hat. Herr Ackermann hat
hier vorhin beispielhaft die Petition genannt, die ein Orthopäde eingereicht hat.
Der Petitionsausschuss hat daraufhin die Bundesregierung in seinem Erwägungsbeschluss aufgefordert,
eine Änderung der gesetzlichen Voraussetzungen vorzunehmen. Das war ein hohes Votum unsererseits. Nach
Abschluss der Behandlung dieser Petition hat sich das
Ministerium letztlich aber entschieden, hier keine Abhilfe zu leisten. Damit ist dem Anliegen des Petenten
nicht entsprochen worden; das wiederum ist in diesem
Bericht leider nicht erwähnt. Wir sind in dieser Frage
also wie ein Tiger gestartet und wie ein Bettvorleger gelandet. Das ist leider kein Einzelfall.
Eine Analyse der Auswertung der 14. und 15. Wahlperiode hat ergeben, dass Petitionen mit Erwägungs- und
Berücksichtigungsbeschlüssen eine Chance von 50 Prozent auf einen positiven Ausgang haben. Rechnet man
noch die ungeklärten und offenen Petitionen heraus,
dann liegt diese Wahrscheinlichkeit sogar bei 56 Prozent. Uns ist das aber immer noch zu wenig.
Natürlich kann das Parlament der Regierung keine
Weisungen erteilen. Aber wir sollten daran arbeiten, das
nicht einfach zu akzeptieren und die Arbeit einzustellen.
Vielmehr sollten wir darüber nachdenken, wie wir die
Bundesregierung dazu bringen können, mehr Kraft daran zu setzen, nach Lösungen für die Petenten zu suchen.
({4})
Wir denken daher über Regelungen nach, die der Regierung wenigstens eine Erklärung zu ihrem Verhalten abverlangen. Diese Erklärung können wir dann im Petitionsausschuss oder im Plenum diskutieren.
Gerechtigkeit kennt keine Parteien, den Titel dieses
kürzlich erschienenen Buches eines Abgeordnetenkollegen sollten wir uns zum Motto für unsere weitere Arbeit
machen.
({5})
Vielleicht können wir dann in der Debatte über den
nächsten Jahresbericht gemeinsam feststellen, dass eine
größere Anzahl von Petitionen zum Erfolg geführt werden konnte.
({6})
- Diese Frage habe ich erwartet. Herr Baumann, das
sollten Sie selber recherchieren.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Josef Winkler, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Auch von einem ehemaligen Kollegen aus meiner Fraktion soll demnächst ein Buch erscheinen.
({0})
Ich lege Ihnen auch die Lektüre dieses Buches ans Herz.
Zunächst möchte ich der Ausschussvorsitzenden,
Kollegin Naumann, dem stellvertretenden Ausschussvorsitzenden Storjohann, den Kolleginnen und Kollegen
Obleuten, allen Mitgliedern des Ausschusses sowie den
stellvertretenden Ausschussmitgliedern für die vertrauensvolle und auch produktive Arbeit während des letzten
Berichtsjahres danken.
({1})
In den Dank einschließen darf ich wie meine Vorrednerinnen und Vorredner die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundestagsverwaltung, an ihrer Spitze Herrn
Haase, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fraktionen und natürlich auch der Abgeordnetenbüros, die die
Vorarbeit leisten. Bevor ein Abgeordneter eine Akte in
die Hand nimmt, ist sie schon durch mehrere andere
Hände gegangen.
Zur Forderung meiner Vorrednerin, ein Petitionsgesetz vorzulegen, möchte ich sagen: Frau Bluhm, schuldig geblieben sind Sie eine Antwort auf die Frage, was
es bringen soll. Ich bitte Sie, im Ausschuss einmal vorzutragen, welche Vorteile ein solches Petitionsgesetz gegenüber der geltenden Rechtslage haben soll. Wenn Sie
das tun, dann können wir darüber diskutieren. Aber erst
einmal müsste diese Grundfrage geklärt werden.
Schließlich ist im Gegensatz zu manchen Landesverfassungen in Art. 17 des Grundgesetzes das Petitionsrecht als Grundrecht verankert. In Art. 45 c des Grundgesetzes ist niedergelegt, dass der Bundestag einen
Petitionsausschuss einrichten muss. Außerdem gibt es
ein Befugnisgesetz, in dem die Befugnisse dieses Ausschusses geregelt sind. Ich stelle angesichts dessen erst
einmal in Zweifel, dass wir zusätzlich ein Petitionsgesetz brauchen.
({2})
- Kollege Ackermann, Sie klatschen gerade. Gleich wird
Ihnen nicht mehr danach sein.
({3})
Herr Ackermann, Sie meinten den Herrn Staatssekretär Thönnes auf der Regierungsbank in Unruhe versetzen
zu müssen, als Sie die Petitionen aus dem Bereich des
Ministeriums für Wirtschaft und Technologie als Seismometer für die schlechte Mittelstandspolitik der Regierung bezeichnet haben. Dazu kann ich nur sagen: Es fehlen Vergleichsmöglichkeiten; denn Sie sind schon zu
lange in der Opposition, als dass jemand zu Ihrer Mittelstandspolitik Petitionen einreichen könnte.
Ich will zu den Neuerungen, die angesprochen und
positiv gewürdigt worden sind, Folgendes sagen: Im
Hinblick auf die Korrektheit der Darstellung der Parlamentsgeschichte und des Petitionsrechts möchte ich mir
an dieser Stelle erlauben, die ideelle Vaterschaft der
Neuerungen für die ehemalige rot-grüne Bundesregierung zu reklamieren.
({4})
Natürlich haben sich inzwischen einige zusätzliche Väter und Mütter in diesem Hohen Hause gefunden, die die
Neuerungen im Rahmen einer Patchworkfamilie - wir
leben in Zeiten einer modernen Familienpolitik, auch
wenn es noch nicht alle kapiert haben - positiv bewerten. Die Neuerungen waren darin begründet, dass RotGrün im Koalitionsvertrag geregelt hatte: Es ist zu überlegen, wie das Petitionsrecht fortzuentwickeln ist.
Frau Kollegin Lösekrug-Möller und ich waren in der
letzten Wahlperiode an verantwortlicher Stelle zusammen mit anderen Kollegen in diesem Bereich tätig und
haben überlegt, welche Änderungen wir vornehmen.
({5})
Wir Grüne - das sage ich ganz ehrlich - hätten noch
mehr Vorschläge gehabt. - Sie erinnert sich sicherlich,
ein verschmitztes Lächeln geht über ihr Gesicht; nein,
immer noch nicht. Sie hat aus guten Gründen, aus ihrer
Sicht zumindest, den einen oder anderen Vorschlag abgelehnt. Ich bin aber stolz darauf, dass wir die drei Neuerungen - E-Mail-Petition, öffentliche Petition und öffentliche Beratung - sowie das Mitzeichnen von Petitionen
eingeführt haben.
Ich freue mich, dass wir im ganzen Hause inzwischen
der Auffassung sind, dass es sinnvoll ist, die Bürgerinnen und Bürger mehr in die Petitionsarbeit einzubinden.
Das ist auch mit mehr Transparenz verbunden. Die Tatsache, dass 450 000 Kommentare von einzelnen Personen im Internet zu den dort eingestellten Petitionen abgegeben wurden, zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg
sind.
({6})
Inzwischen wird auch auf der Landesebene diskutiert.
Zum Beispiel liegt im Niedersächsischen Landtag ein
Gesetzentwurf meiner Fraktion vor, der fraktionsübergreifend ernst genommen und diskutiert wird.
Ich weiß natürlich nicht, ob es noch vor Ablauf der
Wahlperiode im nächsten Jahr gelingen wird, sich zu einigen. Aber nicht nur dort, sondern auch in anderen
Landtagen wird genau geschaut, wie sich das im Bundestag entwickelt. Wenn die Evaluierung, die das Büro
für Technikfolgenabschätzung des Bundestages durchführt, zu einem Abschluss gekommen ist, wird sich in
den 16 Landtagen ein Boom entwickeln. Wir werden uns
vor Besuchen von Kolleginnen und Kollegen, die sehen
wollen, wie das hier funktioniert, gar nicht mehr retten
können.
Wir müssen auch im Bundeshaushalt entsprechende
Maßnahmen ergreifen. Wie schon erwähnt wurde, müssten in der Bundestagsverwaltung flächendeckend die
Stellen reduziert werden. Davon muss der Petitionsausschuss ausgenommen werden, weil die Aufgaben erweitert wurden; im Zweifel muss bei den Stellen sogar aufgestockt werden. Das gilt auch für die Infrastruktur
technischer Art; denn es ist natürlich peinlich, wenn
sich, wie bei der Generation Praktikum, die Beschwerdeführer darüber beschweren müssen, sich nicht beschwert
haben zu können, weil die Internetserver zusammengebrochen sind und unter anderem deshalb das Quorum
von 50 000 nicht erreicht wurde. Großzügig, wie wir alle
nun einmal sind, haben wir trotzdem öffentlich beraten.
Jetzt fehlt nur noch der Schluss, den die Regierung daraus ziehen muss; sie muss die angesprochenen Probleme einer Lösung zuführen.
Weil sich meine Redezeit dem Ende nähert und die
Frau Präsidentin sicherlich nicht allzu großzügig dabei
sein wird, sie dauerhaft zu verlängern,
({7})
will ich nur noch einen Fall ansprechen, und zwar die
Petition, die uns von ehemaligen Heimkindern zugeleitet
worden ist. Das ist ein wirklich schlimmer Fall; er hat
uns sehr mitgenommen. Diese ehemaligen Heimkinder,
die in den 50er- und 60er-Jahren in der ehemaligen Bundesrepublik in Heimen untergebracht waren - dabei geht
es nicht nur um kirchliche Heime, sondern auch, wie ich
gleich dazusagen will, um Heime in öffentlicher Hand -,
haben berichtet, dass sie dort massiv misshandelt worden sind. Sie haben jetzt, nach so vielen Jahrzehnten, die
Gelegenheit, öffentlich, teilweise auch nicht öffentlich,
nämlich in Gesprächen mit Abgeordneten, ihre Sicht der
Dinge zu schildern. Ich würde mich freuen, wenn wir im
laufenden Jahr noch etwas vorankämen und das nicht bis
zum Ende der Wahlperiode warten müsste.
({8})
- Wir sind auf gutem Weg; ich weiß. - Wir werden im
Ausschuss sicherlich noch das eine oder andere Mal über
dieses Thema sprechen. Die Betroffenen dürfen jetzt
nicht noch einmal jahrelang vertröstet werden.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Klaus Hagemann,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst ein Kompliment an die Regierungsbank: Was die Anwesenheit der Mitglieder der Bundesregierung angeht, haben wir in diesem Jahr eine Steigerung um 200 Prozent festzustellen.
({0})
Das finde ich ganz toll. Im vorigen Jahr haben wir dieses
Thema ohne die Bundesregierung besprochen. Deswegen ein Kompliment an die beiden Herren, die heute von
der Bundesregierung anwesend sind.
Kollege Winkler und andere haben darauf hingewiesen, dass es in Art. 17 unseres Grundgesetzes heißt, jeKlaus Hagemann
dermann habe das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder
Beschwerden an den Deutschen Bundestag zu wenden.
Ich spreche jetzt zur Galerie sowie zu den Zuhörerinnen
und Zuhörern draußen: Jedermann - damit ist auch jede
Frau gemeint - sollte das Recht wahrnehmen, wenn er
eine Anregung oder eine Bitte hat, sich direkt an uns zu
wenden. Dies gilt nicht zuletzt für Jugendliche und ältere
Menschen.
Gerade wurde darauf aufmerksam gemacht, dass wir
das Petitionsrecht insofern reformiert haben, als wir das
Wort schriftlich so auslegen, dass man sich auch per
E-Mail an uns wenden kann. Die Vaterschaft dafür, lieber Josef Winkler, ist zum größeren Teil der SPD-Fraktion und zum kleineren Teil der Grünen-Fraktion zuzurechnen. Jedenfalls war es, lieber Josef, liebe Frau Lazar,
eine gemeinsame gute und sinnvolle Entscheidung, was
schon dadurch bewiesen ist, dass sich mehr junge Menschen mit ihren Themen auch über die elektronischen
Medien an uns wenden.
Zu diesen Themen gehört an vorderer Stelle die Ausbildungsförderung für Studierende, besser bekannt unter
BAföG. Wir haben uns damit auch deshalb häufig beschäftigt, weil die Zahl der entsprechenden Petitionen
angestiegen ist. Lassen Sie mich daher auf dieses Thema
näher eingehen.
Zum einen wurde beklagt, dass die Bearbeitungszeit
der Anträge zu lang sei. Dafür habe ich Verständnis. Als
Abgeordneter bekommt man dies auch immer wieder in
den Bürgersprechstunden vorgetragen. Hier sind die
Länder mit ihren BAföG-Ämtern gefordert, dafür zu sorgen, dass die Anträge möglichst schnell bearbeitet werden.
Ein zweites wichtiges Thema ist die Rückzahlung der
Darlehen. Um die jungen Menschen nicht mit einer zu
großen Schuldenlast in das Leben starten zu lassen, haben wir die Rückzahlung auf höchstens 10 000 Euro begrenzt. Sorgen bereiten vielen jungen Menschen die Studiengebühren, die in mehreren Ländern eingeführt
wurden. Dafür sind wir allerdings nicht mehr zuständig;
das ist jetzt Ländersache.
Zum Dritten wurde beklagt, dass die Bedarfssätze
über viele Jahre nicht angehoben worden sind. Seit sieben Jahren wird das BAföG in gleicher Höhe ausgezahlt,
und auch die Freibeträge sind nicht angehoben worden.
Gerade diesen Bereich, bei dem wirklich Handlungsbedarf besteht, hat sich die Koalition jetzt vorgenommen.
Daher können wir auch davon sprechen, dass wir uns
den Petitionen zuwenden, die zum Thema BAföG eingereicht worden sind und in denen es darum ging, Strukturreformen durchzuführen und den Höchstsatz von zurzeit
585 Euro pro Monat anzuheben. Wir streben an - das ist
in der Koalition noch nicht ganz ausdiskutiert -, die
Leistungen um 10 Prozent anzuheben. Wir wollen auch
die Freibeträge um 8 Prozent erhöhen, sodass gewährleistet wird, dass mehr als 25 Prozent eines Studierendenjahrgangs BAföG beantragen können. Hier sind wir
sicherlich auf einem guten Wege.
Lassen Sie mich noch auf Strukturverbesserungen für
Studierende mit Kindern zu sprechen kommen. Hier
muss noch eine Unterstützung seitens des Staates erfolgen. Derzeit beraten wird darüber - ein Gesetzentwurf
soll im November in erster Lesung behandelt werden -,
einen Kinderzuschlag auf das BAföG zu gewähren: für
das erste Kind von 113 Euro und für jedes weitere Kind
von 50 Euro. Das wird eine wichtige familienpolitische
und studienpolitische Leistung sein. Ferner wollen wir
dafür sorgen, dass keine Benachteiligung der Kollegiaten erfolgt und dass es mehr Chancen für Studierende im
Ausland gibt. Wir alle plädieren dafür, dass mehr Studenten ins Ausland gehen und dass mehr ausländische
Studenten bei uns studieren. Wir wollen die Anregung
aufgreifen, dass bereits vom ersten Semester an BAföG
gewährt wird.
Die OECD hat wieder einmal festgestellt, dass wir im
Bildungsbereich nicht gerade spitze sind. Deswegen
müssen wir darum kämpfen, dass jedem Studenten, der
die entsprechenden Fähigkeiten hat, die Möglichkeit gegeben wird, zu studieren. Das wird gerade durch das
BAföG unterstützt. Es darf nicht sein, dass der Geldbeutel der Eltern entscheidet, ob jemand studiert oder nicht.
Es ist wichtig, dass wir hier für Chancengerechtigkeit
sorgen.
({1})
Lassen Sie mich, Frau Präsidentin, noch einen kurzen
Gedanken anfügen. Ebenso wie über das BAföG positiv
entschieden wird, ist über die Unterstützung ehrenamtlich tätiger Menschen positiv entschieden worden. Gerade im steuerlichen Bereich soll eine Entlastung vorgenommen werden. Dazu hat der Finanzausschuss einen
wunderbaren Vorschlag gemacht. Der Aufwand, den Ehrenamtliche haben, soll von der Steuer abgesetzt werden
können. - Das habe ich doch richtig gesagt, Frau Kollegin Frechen? - Jawohl. - Diese Unterstützung der ehrenamtlich Tätigen ist ebenfalls etwas,
Herr Kollege!
- was auf Anregung des Petitionsausschusses erfolgt
ist.
Vielen Dank, Frau Präsidentin, und vielen Dank, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Gero Storjohann,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen!
Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ohne Kritik
Demokratie geben kann. Damit fängt sie an.
Diesen Satz hat einst Michail Gorbatschow geprägt,
und ich glaube, er hatte recht. Die Politik darf sich nicht
nur alle vier oder fünf Jahre der Beurteilung durch die
Bürgerinnen und Bürger stellen, sondern sie muss es
kontinuierlich tun. Tag für Tag muss sie ein offenes Ohr
für Sorgen und Bedürfnisse haben und auch Kritik der
Bevölkerung ertragen.
Hieraus ergibt sich die Bedeutung des Petitionsausschusses für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung. Der Petitionsausschuss ist nach Meinung der
einen ein Seismograf, nach Meinung der anderen ein
Spiegel des Volkes. Auf alle Fälle ist er ein wichtiges Instrument. Er gibt uns die wunderbare Gelegenheit, das
Einzelschicksal zur Kenntnis zu nehmen und es oft auch
im Gesetzesregelwerk nachzuvollziehen.
Das Instrument der Petition kann allerdings nur erfolgreich sein, wenn es zwei Voraussetzungen erfüllt:
Erstens muss es mit der Zeit gehen, sich also in Bezug
auf neue technische Möglichkeiten stetig modernisieren.
Wir haben schon über die Vaterschaft der elektronischen
Petition gesprochen. Entscheidend ist, dass man nicht
nur über etwas redet, sondern es auch tut. Wir haben das
jetzt geschafft und sind stolz darauf. Zweitens muss den
Bürgerinnen und Bürgern bekannt sein, dass das Petitionsverfahren existiert, wie es funktioniert und dass
man es gern in Anspruch nehmen kann.
Bezüglich beider Voraussetzungen hat der Petitionsausschuss in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte
gemacht. Hinsichtlich der technischen Modernisierung
des Petitionsverfahrens berichtet der vorliegende Jahresbericht 2006 von drei großen Neuerungen, die im Herbst
2005 eingerichtet worden sind. Erstens geht es um die
Möglichkeit, Petitionen online durch ein standardisiertes
E-Mail-Formular einzureichen. Zweitens geht es um den
Modellversuch zur Mitzeichnung von Petitionen im Internet, die sogenannten öffentlichen Petitionen. Drittens
geht es um das Anrecht von Sammel- und Massenpetitionen auf die Behandlung in einer öffentlichen Sitzung
des Ausschusses, sofern sie von mindestens 50 000 Mitzeichnern unterstützt werden.
Ich spreche im Namen meiner Fraktion, wenn ich
sage, dass wir die Neuerungen im Petitionswesen befürworten, auch den Modellversuch der öffentlichen Petitionen. Das Petitionsverfahren wird hierdurch transparenter, und die Hemmschwelle des einzelnen Bürgers,
Petent zu werden, sinkt erheblich. Wenn Demokratie
durch Kritik lebt, dann ist jede Maßnahme, durch die die
Kritik des Bürgers an der Politik erleichtert wird, eine
demokratische und somit eine gute Maßnahme.
Vor lauter Euphorie über die neuen Möglichkeiten
und ihre Popularität bei den Bürgerinnen und Bürgern
dürfen wir aber vorhandene Missstände des neuen Systems nicht verschweigen. Die Arbeit im Petitionsausschuss hat gezeigt, dass einige Kollegen, besonders der
Fraktion Die Linke, die Ansicht vertreten, dass eine Petition mit steigender Mitzeichnerzahl auch an Bedeutung
zunimmt. Doch bei dieser Vorgehensweise würden gerade die Personengruppen, die unsere Hilfe besonders
nötig haben, kein Gehör mehr finden. Ältere und kranke
Personen, Bürgerinnen und Bürger, die sich isoliert und
im Stich gelassen fühlen, diese Menschen können sich
nicht ohne Weiteres Unterstützer zusichern, die ihre Petition mit unterschreiben, oder wollen es vielleicht auch
gar nicht. Sie wenden sich hilfesuchend an uns und verdienen es, dass ihr Anliegen mit genauso viel Respekt
und Beachtung bearbeitet wird wie jede Massenpetition.
({0})
Mit dem Gerechtigkeitsempfinden meiner Fraktion ließe
sich die zuvor beschriebene Vorgehensweise nicht vereinbaren. Wir plädieren dafür, jede Petition nach ihrem
Inhalt und nicht nach der Petentenanzahl zu bewerten.
Staatliche Hilfe soll nach unserer Auffassung den Benachteiligten und Schwachen zukommen, gerade dann,
wenn es sich um Einzelschicksale handelt, die keine
breiten Unterstützerkreise finden.
Als zweite Voraussetzung eines wirksamen Petitionsausschusses im Sinne des Grundgesetzes hatte ich bereits
den ausreichenden Bekanntheitsgrad dieser Einrichtung
genannt. Diesbezüglich ist unser Ausschuss in der Tat sehr
aktiv. Unser Internetauftritt ist hervorragend und der
meistbesuchte Bereich auf der Bundestagsseite. Zudem ist
der Petitionsausschuss mit eigenen Informationsständen
auf Messen präsent, an denen der Deutsche Bundestag
teilnimmt. Bürgersprechstunden und Pressekonferenzen
komplettieren unsere Öffentlichkeitsarbeit. Die hohe Anzahl an Petitionen beweist, dass wir auf dem richtigen
Weg sind.
Letztendlich beschränkt sich unsere Öffentlichkeitsarbeit aber nicht nur auf das Inland. Im Austausch mit Vertretern ausländischer Parlamente versuchen wir kontinuierlich, das deutsche Verfahren zu optimieren oder auch
unser deutsches Modell zu exportieren. Zwei Delegationsreisen des Ausschusses fanden 2006 statt. Eine von
ihnen führte nach Estland, Lettland und Litauen, eine
zweite nach Kambodscha und Vietnam. Ich kann berichten, dass uns in den genannten Staaten mit großem Interesse für unser Petitionswesen begegnet wurde. Dabei
trafen wir nicht nur Vertreter der dortigen Parlamente,
sondern es ergaben sich auch aufschlussreiche Gespräche mit Vertretern von Nichtregierungsorganisationen
und Projekten der Entwicklungszusammenarbeit. Mit
Blick auf die Erfahrungen im Ausland können sich die
Bürgerinnen und Bürger Deutschlands eigentlich sehr
glücklich schätzen, dass sie ein hoch entwickeltes Petitionswesen haben.
Nicht unerwähnt möchte ich lassen, dass wir zahlreiche Delegationen hier in Berlin empfangen konnten:
zum Beispiel eine Delegation des britischen Unterhauses, wo es eigentlich noch kein Petitionsrecht gibt, Vertreter des schottischen Parlaments, von denen wir damals sehr viel gelernt haben, Kollegen aus Kirgisistan,
Pakistan, Kambodscha, Vietnam und China sowie eine
Gruppe von Journalisten aus den USA. Die gemeinsame
Botschaft dieser Besuche ist: Das deutsche Petitionswesen wird international respektiert, ist attraktiv und wird
mit großem Interesse verfolgt. Lassen Sie uns deshalb
gemeinsam daran arbeiten; es gibt eine gute Zusammenarbeit.
Mein Dank geht an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie den ganzen Ausschuss.
({1})
Ich gebe das Wort der Kollegin Gabriele LösekrugMöller; SPD-Fraktion.
({0})
Verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich kann mich allen
Danksagungen, guten Wünschen und Komplimenten nur
anschließen. Sie gelten den Kolleginnen und Kollegen
aus dem Ausschuss sowie dem Ausschussdienst. Ich
möchte das nicht im Einzelnen wiederholen, kann es
aber auch im Namen der Mitglieder der SPD-Fraktion in
diesem Ausschuss aus vollem Herzen unterstützen.
Einmal im Jahr haben wir die Gelegenheit, über die
Arbeit des Petitionsausschusses hier in diesem Hohen
Haus zu sprechen. Es müsste uns dankbar sein, dass wir
das nur einmal machen, weil unsere Ausschussarbeit so
exzellent ist, dass wir diesem Hohen Haus damit viele
Abstimmungen ermöglichen, die Ihnen Zeit sparen. Das
hängt damit zusammen, dass wir sehr gründlich und lösungsorientiert arbeiten und die Ergebnisse immer die
Zustimmung dieses Hohen Hauses finden. Da dürfen wir
uns auch einmal selbst loben; denn das gelingt nicht jedem Ausschuss des Bundestages.
({0})
Meine Vorrednerinnen und Vorredner haben viele
Zahlen genannt. Wir wissen jetzt also, wie viele Eingaben wir hatten und wie diese sich verteilten. Ich will nur
noch eine Zahl nennen, die ich extrem beeindruckend
finde und die noch nicht erwähnt worden ist: Im
Jahr 2006 gab es, Mitzeichnungen und Kommentare einbezogen, insgesamt knapp eine halbe Million Bürger
und Bürgerinnen - aber auch andere Menschen, denn
das Petitionsrecht ist nicht nur ein Bürgerrecht; bei uns
kann jeder Mann und jede Frau eine Petition einreichen
oder mitzeichnen -, die sich an dem Verfahren beteiligt
haben, das für den Bundestag gilt. Das zeigt, wie engagiert viele unsere Arbeit begleiten, wie viele ihre Hoffnung auf unsere Arbeit setzen.
Ich möchte diejenigen um Nachsicht bitten - das sind
nicht wenige -, deren Wünsche wir nicht erfüllen konnten. Wir sind keine Versammlung von Feen, wir sind
keine Wunschbox, sondern können nur im Rahmen unserer Möglichkeiten, die allerdings erheblich sind, das
tun, was sinnvoll ist. An uns werden gelegentlich Bitten
und Beschwerden herangetragen, denen wir nicht entsprechen können. Ich finde, da muss man ehrlich sein:
Das Zaubern überlassen wir anderen. Wir machen eine
ordentliche parlamentarische Arbeit; darauf legen wir
Wert.
Deshalb, liebe Kollegin Bluhm, habe ich nach wie vor
eine grundsätzlich andere Einschätzung, was Ihren Umgang mit Zahlen anbelangt. Ich wiederhole mich: Wenn
Bürger und Bürgerinnen oder Petenten und Petentinnen
sich zufrieden zeigen, weil wir ihnen mit Rat und Hilfe
eine gute Antwort gegeben haben, dann ist das für mich
eine positive Erledigung durch den Petitionsausschuss
des Deutschen Bundestages; das will ich hier bekräftigen.
({1})
Eine erhebliche Zahl von Anfragen wird auf diese Weise
bearbeitet.
Da ich dabei bin, auf Ihren Redebeitrag zu reagieren,
will ich Ihnen sagen: Ich glaube nicht, dass ausschließlich
Ihre Fraktion entscheidet, welche Themen die Menschen
bewegen. Ich denke, alle, die in dieses Parlament gewählt
wurden, um die Interessen der Bürger und Bürgerinnen zu
vertreten, können das gut beurteilen. Das wird gerade am
Beispiel der Reformen auf dem Arbeitsmarkt und Ihrer
Forderung nach einer öffentlichen Debatte dazu deutlich.
Ihre Position zum Arbeitslosengeld II hören wir in jeder
Plenarwoche wie ein Mantra. Dafür brauchen wir keine
öffentliche Ausschussberatung. Wir brauchen eine solche,
wenn wir gezielt nach Wegen suchen, differenziert zu helfen, und Antworten in einer sicher schwierigen Arbeitsmarktsituation und Arbeitsmarktpolitik finden wollen.
Insofern haben wir einen absolut ordentlichen Umgang. Ich sehe auch keinerlei Vorteile in einem extra zu
verabschiedenden Petitionsgesetz; da kann ich dem Kollegen Winkler nur beipflichten. Wir brauchen eine konkrete Arbeit an den Anliegen derjenigen, die sich an uns
wenden. Ich finde, dies erfüllen wir, zumeist auch positiv. Damit können wir sehr zufrieden sein.
({2})
Ich will dem Kollegen Winkler, was die Elternschaft
bezüglich der Modernisierung des Petitionsrechts anbelangt, sagen: Du heißt zwar Josef, ich aber nicht Maria.
({3})
Wir sollten diesen Streit beiseitelegen und sagen: Es ist
gut, dass es eine Modernisierung gibt. Wir brauchen keinen Rückgriff auf die Elternschaft. Wir gehen gut mit
dem neu ausgestalteten Recht um.
Dazu möchte ich noch feststellen: Wir haben erstmals
Angaben darüber, wer sich besonders stark an uns wendet. In der Regel sind das männliche Petenten. Sie sind
älter als 40 Jahre. Sie haben einen Hochschulabschluss.
All das freut uns, und uns ist jede Petition willkommen.
Ich wünsche mir aber, dass sich auch verstärkt Migranten, Frauen und Jüngere an uns wenden. Da haben wir
also noch viel zu tun, damit wir auch diese Teile unserer
Gesellschaft - es sind keine kleinen Gruppen - erreichen. Ich glaube, dass wir da noch viel Arbeit vor uns
haben.
Wir haben den Zuhörern und Zuhörerinnen, die heute
anwesend sind, einen Flyer über unsere Ausschussarbeit
ausgehändigt und ihn ihnen ans Herz gelegt. Ich weise
auf Folgendes hin - Frau Präsidentin, Sie werden mir
den kleinen Werbeblock in eigener Sache gestatten -:
({4})
Am 8. Oktober und am 12. November finden öffentliche
Ausschusssitzungen statt; an diesen kann jeder teilnehmen. In der Sitzung im Oktober befassen wir uns mit
dem Steuerrecht und im November mit dem Schwerpunkt eheähnliche Gemeinschaften. Ich denke, dass
wir sehr interessante Ausschussberatungen vor uns haben. Wir freuen uns natürlich über eine große Resonanz.
({5})
Dass wir international anerkannt sind und das Petitionsrecht ein Exportschlager ist, darauf hat schon der
Kollege Storjohann hingewiesen. Ich will nur sagen:
Viel Arbeit liegt vor uns, zum Beispiel im nächsten Jahr
die Beratung einer Petition, die sich darum dreht, dass
wir die Fahrradwegebenutzungspflicht infrage stellen.
Dazu haben wir schon 30 000 Mitzeichnungen. Auch
dieses Thema werden wir in gewohnter Qualität behandeln. Ich bin gespannt auf das Ergebnis.
Vielen Dank.
({6})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Carsten Müller, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Viele Zahlen sind schon genannt worden. Als
letzter Redner in dieser wichtigen Debatte will ich sie
nicht wiederholen. Es ist auch schon gesagt worden, dass
der Petitionsausschuss gleichsam der Seismograf des
Parlaments ist. Da ist viel Wahres dran.
Ebenso wie meine geschätzte Vorrednerin möchte ich
mich eingangs kurz mit der Rede der Kollegin Bluhm
auseinandersetzen. Sehr geehrte Frau Bluhm, Sie regen
die Einbringung eines Gesetzes zum Petitionswesen an.
Ich empfehle Ihnen ganz ernsthaft, zunächst einmal den
Bericht, über den wir heute debattieren, genau zu studieren. Wenn Sie auf Seite 8 der in Bezug genommenen
Bundestagsdrucksache nachschauen, werden Sie feststellen, dass nicht, wie Sie behauptet haben, lediglich
12 Prozent der Anliegen - es handelt sich um mehrere
Tausend - positiv beschieden wurden, sondern rund
35 Prozent. Das ist ein ganz beachtlicher Anteil. Der
Ausschuss hat sich mit den Anliegen ernsthaft auseinandergesetzt. Der Petitionsausschuss ist nicht - das hat die
Kollegin Lösekrug-Möller richtigerweise gesagt - die
Veranstaltung Wünsch dir was, sondern ein sehr ernsthaftes, mit Verfassungsrang versehenes Organ des Bundestages. Im Übrigen ist, so glaube ich, nicht die Anzahl
der positiv beschiedenen Petitionen ausschlaggebend,
sondern deren Qualität, und diese ist nach meinem Dafürhalten außergewöhnlich hoch.
({0})
Es ist bereits gesagt worden, dass wir die Zugangsmöglichkeiten erleichtert haben. Das hat meines Erachtens dazu beigetragen, die Akzeptanz und das Vertrauen
in das Parlament noch weiter zu erhöhen. Die hohe Anzahl an Petitionen zeigt, dass die Bevölkerung großes
Vertrauen in die Lösungskompetenz des Deutschen Bundestages hat.
Die Arbeit im Petitionsausschuss erfordert ein gewisses Fingerspitzengefühl - das ist eine wirkliche Herausforderung -; denn hinter den meisten Petitionen verbirgt
sich ein ganz bedeutendes Einzelschicksal oder eine
ganz bedeutende Einzelfrage. Die überwiegend sachliche und intensive Auseinandersetzung mit den Kolleginnen und Kollegen der meisten anderen Fraktionen
schätze ich sehr. Oftmals reicht es Gott sei Dank schon,
wenn ein Schreiben des Petitionsausschusses abgesandt
wird. Dieses Schreiben führt nicht selten dazu, dass eine
Sachlage neu bewertet, ein Gesetzgebungsverfahren angeregt oder eine andere Lösung im Sinne des Petenten
gefunden wird.
Lassen Sie mich aus der Arbeit im Jahr 2006 zwei
Einzelfälle herausgreifen, die mir ganz besonders in Erinnerung geblieben sind:
Einer Familie mit einem schwerstbehinderten Kind
- der Vater arbeitet für ein leider sehr überschaubares
Einkommen als Fernfahrer - wurde eine Aufstockung
des Pflegegeldes verweigert, weil sich dadurch gemäß
einem Schreiben des Gesundheitsministeriums die wirtschaftlich ohnehin schwierige Lage dieser Familie nach
Einschätzung des Ministerialbeamten nur graduell verbessern ließe. Dieses Schreiben war Zynismus pur. Es
war mir ein persönliches Anliegen, dass diese Stellungnahme des Gesundheitsministeriums durch den Petitionsausschuss nicht unwidersprochen geblieben ist.
Ein weiterer wichtiger Fall findet in dem Bericht Erwähnung. Es geht um das Thema Zwangsprostitution.
Ein Petent regte an, sogenannte Freier von Zwangsprostituierten zu bestrafen. Er führte richtigerweise die
Erwägung an, dass Menschenhandel und Zwangsprostitution besonders krasse Verstöße gegen die Menschenwürde darstellen. Bereits in der 37. Strafrechtsänderung
wurde ein entsprechender Schritt unternommen und eine
wichtige strafrechtliche Ergänzung vorgenommen. Die
Koalition hat dieses Anliegen im Koalitionsvertrag aufgenommen. Insofern wurde diesem wichtigen Anliegen
Rechnung getragen. Wir müssen die Öffentlichkeit für
Carsten Müller ({1})
dieses Thema sensibilisieren und mit gezielten Kampagnen gegen Zwangsprostitution eintreten. Hierzu haben
der Petent und an seiner Seite der Petitionsausschuss
Wesentliches beigetragen.
({2})
Zahlreiche Petitionen aus dem Jahr 2006 und aktuelle
Petitionen beschäftigen sich mit dem Thema GEZ. In
mindestens einer großen Tageszeitung konnten wir in
den vergangenen Tagen lesen, welche Probleme es auf
diesem Gebiet gibt. Ich mag der aktuellen Diskussion
nicht vorgreifen, möchte aber sagen, dass die große Anzahl an Eingaben unseres Erachtens zeigt, dass die Bürger die Gebührenpolitik nicht vollkommen durchschauen und der Umfang der Grundversorgung durch die
öffentlichen Sender, vor allem aber die Methoden der
GEZ einer genaueren Prüfung bedürfen. Dieser Aufgabe
will sich der Petitionsausschuss annehmen.
({3})
Mein Kollege Baumann hat bereits angesprochen, dass
uns auch im vergangenen Jahr Petitionen von Opfern der
SED-Diktatur beschäftigt haben. Dabei wurde immer
wieder deutlich: Nicht der finanzielle Ausgleich steht im
Vordergrund der Interessen der Petenten, sondern die moralische Anerkennung der erlittenen Unterdrückung. Eines muss hierbei deutlich sein - daran arbeitet die CDU/
CSU-Fraktion -: Es darf den damaligen Unterdrückern
nicht gelingen, sich selbst eine Opferrolle anzudichten.
Hierfür treten wir im Petitionsausschuss ein.
({4})
Der Petitionsausschuss ist ein Ort, an dem Relativierungspolitiker und Schönfärber des DDR-Unrechtsstaates nichts zu suchen haben. Dafür ist der Petitionsausschuss eine viel zu wichtige Einrichtung dieses Hauses.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Elke Hoff, Dr. Rainer Stinner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr herstellen Wehrpflicht aussetzen
- Drucksache 16/393 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Nachtwei, Kai Gehring, Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Wehrpflicht überwinden - Freiwilligenarmee
aufbauen
- Drucksache 16/6393 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Rainer Stinner, FDP-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich beginne mit einem Zitat:
Die Wehrpflicht ist ein tiefer Eingriff des Staates in
die Persönlichkeitsrechte des Einzelnen; sie muss
deshalb wohlbegründet sein, und sie muss gerecht
sein.
Das Zitat ist von Ihnen, Herr Minister, vom
13. September dieses Jahres im Handelsblatt. Sie haben
recht damit.
({0})
Der Eingriff in die Persönlichkeitsrechte ist aber so groß,
dass er nur mit der Notwendigkeit zur Landesverteidigung begründet werden kann. Darüber sind sich alle Verfassungsrechtler einig. Angesichts des gewandelten und
von uns allen gleich beurteilten strategischen und sicherheitspolitischen Szenarios ist die Notwendigkeit der
Landesverteidigung und somit die der Wehrpflicht entfallen. Also ist die Geschäftsgrundlage für die Wehrpflicht entfallen. Sie ist auszusetzen. Damit könnte die
Debatte eigentlich beendet sein.
({1})
Sie ist aber nicht beendet, weil für die Wehrpflicht
nach wie vor verschiedene Gründe ins Feld geführt werden, die mit der Notwendigkeit der Landesverteidigung
nichts, aber auch gar nichts zu tun haben.
({2})
Lieber Kollege Rossmanith, lieber Kurt, es wird erstens gesagt - vielleicht auch nachher von dir -:
({3})
Durch die Wehrpflicht bekommt die Bundeswehr leichter bessere Soldaten. Das ist richtig, Herr Minister; das
bestreitet keiner von uns. Nur, die Rekrutierungsprobleme der Bundeswehr sind kein Legitimationsgrund für
diesen erheblichen Persönlichkeitseingriff. Von daher
können Sie dabei nicht bleiben.
({4})
Ich will das auf die Spitze treiben. Selbstverständlich
würde jeder Polizeichef furchtbar gerne eine Dienstpflicht für die Polizei haben. Das wäre für die Polizeirekrutierung wesentlich besser; es würden bessere und
mehr Bewerber für den Polizeidienst zu gewinnen sein.
Das kann aber kein Grund sein.
Zweitens wird gesagt: Durch die Abschaffung der
Wehrpflicht bekommen wir erhebliche Probleme mit
dem Zivildienst. Auch das ist richtig. Aber auch hier
sage ich: Die Aufrechterhaltung eines Ersatzdienstes
oder seine eventuelle Gefährdung - ob er wirklich gefährdet wäre, steht ja infrage - kann kein Legitimationsgrund für den ursprünglichen Dienst, den Wehrdienst,
sein, dessen Grundlage entfallen ist.
({5})
Drittens wird gesagt: Die Wehrpflicht sorgt für eine
Verankerung der Bundeswehr in der Gesellschaft.
({6})
Das ist eine Beleidigung für Hunderttausende, für Millionen von Zeit- und Berufssoldaten, die seit über 50 Jahren in der deutschen Bundeswehr dienen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen - auch von der
Union -, es gibt nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, dass sich in der Bundeswehr über 50 Jahre hinweg
etwas entwickelt hat, das wir in der Weimarer Zeit erlebt
haben und wogegen wir alle Vorkehrungen treffen wollten und mussten. Es gibt nicht den geringsten Ansatzpunkt dafür.
({8})
- Nein, lieber Kurt Rossmanith, das Gegenteil ist der
Fall: Soldaten, Offiziere, Unteroffiziere und Zeitsoldaten
sind so in die Gesellschaft integriert, dass wir in Offizierskasinos abends keine mehr sehen, weil sie zu Hause
sind und als normale Bürger in der Gesellschaft leben in Vereinen, in Verbänden und mit ihrer Familie. Es ist
eine Beleidigung - es ist fast schon infam -, zu behaupten, wir müssten die Wehrpflicht aufrechterhalten, um
die demokratische Kultur der Bundeswehr zu wahren.
Bitte nehmen Sie hier heute endlich Abstand von diesem
infamen Vorwurf!
Die Wehrpflicht bindet enorme Ausbildungskapazitäten. Ich könnte das jetzt ausführen, will mich aber auf
nur eine Zahl beschränken: Durch die falsche Entscheidung des Herrn Bundesministers, 6 700 weitere Wehrpflichtige einzuziehen, werden nach Informationen
seines eigenen Hauses 1 000 Zeit- und Berufssoldatenstellen gebunden. Man zieht 6 700 Wehrpflichtige ein
und bindet dadurch weitere 1 000 Zeit- und Berufssoldaten. Ich könnte das weiter ausführen, wenn Sie mir mehr
Redezeit gäben; ich muss das aber nicht tun, denn dieses
Beispiel ist schlagend genug, um deutlich machen zu
können, dass es für die Wehrpflicht keine operativen
Gründe mehr gibt.
({9})
Herr Minister, Ihre Entscheidung, zusätzlich
6 700 Wehrpflichtige einzuziehen, ist falsch. Sie begründen Ihre Entscheidung gar nicht fachlich, sondern eigentlich nur damit, dass der Anschein der Wehrgerechtigkeit dadurch einigermaßen aufrechterhalten werden
kann.
Ich habe mir das Argument der Wehrgerechtigkeit bewusst für den Schluss aufgehoben. Es ist ein ganz wichtiges, aber nicht das erste Argument. Angesichts der Tatsache, dass nur noch 40 Prozent der Männer eines
Jahrgangs Zivil- oder Wehrdienst leisten, kann doch von
Wehrgerechtigkeit nicht mehr im Geringsten die Rede
sein.
({10})
- Herr Kollege Niebel, ich mache das schon.
({11})
Herr Minister, Sie schönen Ihre Zahlen, indem Sie die
Kriterien für die Musterung so heraufsetzen, dass sich
die Zahl der nicht Wehrdienstfähigen innerhalb von vier
Jahren fast verdreifacht hat. Das sind Ihre geschönten
Zahlen! Außerdem führen Sie in Ihren Dokumenten die
freiwillig länger dienenden Wehrdienstleistenden und
die normalen Grundwehrdienstleistenden schlank zusammen; nur so kommen Sie zu dem Ergebnis, dass
heute etwa 18 Prozent eines Jahrgangs Wehrdienst leisten. Das sind aber geschönte Zahlen; die Wirklichkeit
sieht anders aus.
({12})
Wehr- bzw. Zivildienst leisten nur noch 40 Prozent eines
Jahrgangs; von Wehrgerechtigkeit kann daher nicht die
Rede sein.
Zum Schluss komme ich auf die fabelhafte SPD.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihr Vorschlag der freiwilligen Wehrpflicht ist halbgar.
({13})
Sie wissen es: Die Wehrpflicht ist nicht mehr zu halten.
Sie wagen nur nicht, das zuzugeben. Ich prophezeie Ihnen: In der nächsten Legislaturperiode reden und handeln Sie wie wir. Ich fordere Sie von der SPD auf: Stellen Sie Ihre Uhren etwas vor! Stimmen Sie schon jetzt
unserem Antrag zu!
Vielen Dank.
({14})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Jürgen Herrmann,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue
mich, dass wir bei diesem ernsten Thema auch eine humoristische Ader gefunden haben. Wir diskutieren über
dieses Thema nicht zum ersten Mal. Wir werden - Herr
Stinner, Sie haben das gesagt - sicherlich noch öfter darüber diskutieren. Ich persönlich glaube, dass Sie den
Aufhänger, dieses Thema noch einmal auf die Tagesordnung zu setzen, in der Vorlage für den Parteitag der SPD
gefunden haben, eine freiwillige Wehrpflicht zu initiieren.
Allein der Begriff - das sehen Sie mir nach - zeugt
von der Quadratur des Kreises. Liebe Kolleginnen und
Kollegen der FDP und der Grünen, Sie haben den Vorschlag zum Anlass genommen, das Thema reflexartig
noch einmal aufzugreifen. Ich sage Ihnen aber gleich:
Wenn Sie schon einen Antrag stellen - Herr Stinner, Sie
haben in der 14. und 15. Wahlperiode nahezu gleichlautende Anträge eingebracht -, sollten Sie, sofern Sie das
Hohe Haus ernst nehmen, zumindest das Datum ändern.
Ihr neuer Antrag trägt aber das Datum vom 18. Januar
2006.
({0})
- Das zeigt mir, wie ernst Sie dieses Thema nehmen.
({1})
Wenn Sie in Ihrem Antrag davon sprechen, dass Sie
die Wehrpflicht aussetzen wollen, dann sagen Sie meines
Erachtens nur die halbe Wahrheit; denn Sie wissen genau: Wenn wir die Wehrpflicht aussetzten, hätten wir
später faktisch kaum noch die Möglichkeit, sie wieder
durchzusetzen. Damit plädieren Sie letztendlich für eine
Abschaffung.
Im Titel des Antrags der Grünen heißt es Wehrpflicht überwinden. Ich habe einmal im Duden nachgeschlagen, was man unter überwinden findet; dieses
Wort hat nämlich einen relativ negativen Touch. Dort ist
unter anderem von folgenden Bedeutungen die Rede:
Widerwillen überwinden, Angst überwinden und Misstrauen überwinden.
({2})
- Ja, Herr Nachtwei, das zeigt Ihre Einstellung zu diesem sehr wichtigen Thema. - Vor zwei Jahren haben wir
noch das 50-jährige Bestehen der Wehrpflicht gefeiert.
Mit einem solchen Erfolgsmodell sollte man, zumindest
was die Wortwahl angeht, so nicht umgehen.
({3})
In den Anträgen, die Sie gestellt haben, findet man einige Aussagen, die auch ich unterschreiben würde. Sie
sprechen davon, dass Sie eine transparente Armee wollen; ohne Frage, die Bevölkerung und die Streitkräfte
sollten eng miteinander verbunden sein. Wechselnde
Jahrgänge tun der Bundeswehr gut, was die Aufwuchsfähigkeit betrifft; auch das ist richtig.
Da Sie auch die Innere Führung erwähnen, sage ich
Ihnen: Ich glaube, dass wir eine Wehrform gefunden haben, durch die das Prinzip der Inneren Führung besonders hervorgehoben wird. Für uns, die CDU/CSU-Fraktion, ist es äußerst wichtig, dass dieser Bereich weiterhin
geschützt wird. Wir müssen für die Wehrpflicht einstehen; denn sie macht den Unterschied zu vielen anderen
Armeen in Europa aus.
Claire Marienfeld, die ehemalige Wehrbeauftragte,
hat in diesem Zusammenhang einmal gesagt: Es besteht
kein Grund zur Sorge, dass sich die Streitkräfte bei der
Abschaffung der Wehrpflicht von der Gesellschaft entfernen. Nein, aber umgekehrt ist die Gefahr groß, dass
sich die Gesellschaft von ihren Streitkräften entfernt.
Das lehrt uns die Erfahrung, die in anderen Staaten, in
denen die Wehrpflicht außer Kraft gesetzt bzw. abgeschafft wurde, gemacht werden musste. Aus dieser Erfahrung sollten wir lernen, statt die gleichen Fehler zu
machen, die in anderen Ländern begangen wurden.
Nun ein Wort zur Landesverteidigung. Wir, die
CDU/CSU-Fraktion, und unser Koalitionspartner bekennen uns ausdrücklich zur Landesverteidigung, sowohl in
den VPRs als auch im neuen Weißbuch, das unter der
rot-grünen Regierung nicht verabschiedet worden ist offensichtlich deshalb, weil man Bedenken hatte, die
Wehrpflicht zu erwähnen.
In einigen anderen Staaten - ich will es nicht verhehlen: in 20 der 26 NATO-Staaten - gibt es keine Wehrpflicht mehr. In diesen Ländern wurden allerdings viele
schlechte Erfahrungen gemacht, nachdem die Wehrpflicht abgeschafft worden war. In Frankreich, wo man
die Wehrpflicht vor einigen Jahren abgeschafft hat, überlegt man heute, sie wieder einzuführen,
({4})
weil man die Rekrutierung von jungen, aktiven und
hochgebildeten Menschen nicht mehr gewährleisten
kann.
In Spanien werden Menschen aus Übersee in der Armee eingestellt. Man versucht, diese Menschen dadurch
zu locken, dass man ihnen einen spanischen Pass gibt;
das kann sicherlich nicht Sinn und Zweck der Sache
sein, insbesondere dann, wenn man berücksichtigt, dass
als Einstellungsqualifikation ein IQ von 75 zugrunde gelegt wird.
({5})
Auch in den Niederlanden - wir haben das in der letzten Ausschusssitzung vom Generalinspekteur gehört gibt es erhebliche Probleme, genug junge Leute für die
Streitkräfte zu rekrutieren; das muss man ganz deutlich
sagen. Das ist zwar nicht der einzige Grund, aus dem
man sich in Teilbereichen aus Afghanistan zurückziehen
will. Aber es fehlt schlichtweg der Nachwuchs.
Sehen wir uns die Situation bei uns an. In Deutschland gab es im Jahr 2006 etwas mehr als 71 000 Grundwehrdienstleistende. Über 9 000 dieser 71 000 Personen
sind Berufs- und Zeitsoldaten geworden; daran wird
deutlich, wie wichtig die Wehrpflicht für den Bestand
der Bundeswehr ist. 13 Prozent der Grundwehrdienstleistenden haben sich dafür entschieden, eine Karriere
bei der Bundeswehr anzustreben; das ist sicherlich wichtig. Anders ausgedrückt: Man hat innerhalb von zehn
Jahren ein Drittel des gesamten Personals bei der Bundeswehr durch Wehrpflichtige ersetzt.
({6})
Gerade wenn es um die Rekrutierung geht, darf man
die freiwillig länger Wehrdienstleistenden nicht vergessen. Sie dürfen die Dauer ihres Wehrdienstes auf bis
zu 23 Monate verlängern und in Auslandseinsätze gehen. Man muss dazusagen: Zusammen mit den Reservisten stellen sie bis zu 15 Prozent derjenigen, die sich in
einem Einsatz befinden. Wir können auf sie und auf ihre
Erfahrung nicht verzichten. Von daher ist es ein adäquates Mittel, die Wehrpflicht beizubehalten, insbesondere
unter dem Aspekt, dass die Reservisten im Nachklang
ihre Erfahrungen und ihr berufliches Know-how im Rahmen von Auslandseinsätzen einbringen.
Zu den Kosten. Es würde nicht billiger, wenn wir
eine Berufsarmee hätten. Schätzungen zufolge hätten
wir maximal 180 000 bis 200 000 Berufssoldaten. Wie
wollen wir dann die Stehzeiten im Ausland verkürzen
und unseren Soldatinnen und Soldaten - darauf legen
wir sehr großen Wert - einen Auslandsaufenthalt nicht
erschweren? Reinhold Robbe, der jetzige Wehrbeauftragte, sprach davon, dass wir, wollten wir eine Berufsarmee unterhalten, 3 bis 7 Milliarden Euro zusätzlich aufwenden müssten. Sagen Sie uns doch bitte, wie Sie diese
Mittel im Haushalt zur Verfügung stellen wollen!
Ein Wort zur Wehrgerechtigkeit, Herr Stinner. 100 Prozent Wehrgerechtigkeit hat es nie gegeben - nicht, als
Sie in der Regierung waren, und auch nicht, als Herr
Nachtwei mit den Grünen in der Regierung war - und
wird es nicht geben. Das wird sich auch nicht ändern.
Aber wenn Sie mit den Zahlen argumentieren, muss man
darauf hinweisen, dass auch andere Gesichtspunkte zählen. Es gab immer Ausnahmeregelungen; denken Sie an
die Dritter-Sohn-Regelung, denken Sie an die Polizisten.
Denken Sie an die Pfarrer, die auch nicht zum Wehrdienst eingezogen werden! Sie müssen letztendlich die
Ausschöpfungsquote betrachten. Sie dürfen sich nicht
auf diejenigen beschränken, die zur Bundeswehr gehen,
gezogen werden oder Ersatzdienst leisten, sondern müssen auch die einberechnen, die von vornherein nicht in
der Lage sind, die Kriterien zu erfüllen - die im Übrigen,
wie höchstrichterlich bestätigt wurde, vom Staat, also
vom Verteidigungsminister, festgelegt werden können.
Ich sage an dieser Stelle noch einmal: Es ist nicht alltäglich, dass der Minister während der Debatte dabei ist.
Daran, dass sich der Minister nicht nur durch den Staatssekretär vertreten lässt,
({7})
sondern selbst vor Ort ist, sehen Sie, wie wichtig uns
dieses Thema letztendlich ist.
Ich sage eindringlich: Wir haben die Wehrpflicht beibehalten und wir werden sie beibehalten, weil sie unserer Meinung nach eine elementare Voraussetzung dafür
ist, eine leistungsstarke und den Herausforderungen gewachsene Armee zu bilden. Wir erreichen damit die Gesellschaft; das dürfte uns allen klar geworden sein. Ich
sage hier in aller Deutlichkeit: Die CDU/CSU bekennt
sich zu einer uneingeschränkten Wehrpflicht, und wir
werden sie auch in den nächsten Jahren beibehalten.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem
Kollegen Stinner.
Vielen Dank, lieber Kollege, dass Sie so ausführlich
auf mich eingegangen sind. Sie haben genau das gemacht, was ich hier öffentlich machen wollte: Sie haben
für die Aufrechterhaltung der Wehrpflicht ausschließlich
Reserveargumente bemüht.
({0})
Darauf, dass wir die Wehrpflicht nur mit Landesverteidigung begründen können, sind Sie mit keinem Wort
eingegangen. Lieber Kollege, wir gehen doch nicht mehr
wie in den 60er-Jahren von einer Panzerschlacht in der
norddeutschen Tiefebene aus. Die Bundeswehr hat damals 5 000 Panzer gehabt. Wir haben der neuen Konzeption nach zwischen 350 und maximal 500 Panzer. Die
Welt hat sich doch grundlegend verändert.
({1})
Im Übrigen: Zu Auslandseinsätzen werden Wehrpflichtige ausdrücklich nicht eingezogen. Freiwillig länger dienende Wehrpflichtige sind Zeitsoldaten.
({2})
Daran, dass sich Leute für zwei Jahre verpflichten können, wollen wir gar nichts ändern; das ist doch völlig
klar.
Sie sind wieder einmal auf die Zahlen eingegangen.
Ich kann Ihnen nur vorlesen: Im Jahre 2002 waren nicht
wehrdienstfähig oder vorübergehend nicht wehrdienstfähig insgesamt 160 000. Im Jahre 2005 sind daraus - oh
Wunder! - 380 000 geworden. Und da wollen Sie mir erzählen, dass dieselben Kriterien angewandt worden
sind?
({3})
Das hat sich durch die Praxis des Ministeriums dramatisch verändert.
Sie haben die Ausschöpfungsquote angeführt. Da
kann ich Sie nur auf ein Dokument aus dem Bundesverteidigungsministerium verweisen: Im Jahre 2006 hat der
externe Bedarf, von dem Sie gesprochen haben, bei genau 9 695 Leuten, also bei 2,2 Prozent, gelegen. Das
kann nicht die Masse sein, die zur Begründung der
Wehrpflicht herhalten soll. Auch in diesem Dokument
werden dummerweise die Grundwehrdienstleistenden
und die FWDLs, zusammen geführt, was nicht rechtens
ist. Das Zweite sind nämlich die freiwilligen Soldaten.
So kommen Sie dann auf 18,7 Prozent. Sie behaupten,
die Ausschöpfungsquote ist hoch. Aber sie ist hoch, weil
Sie die Kriterien so hoch ansetzen. Arbeiten Sie also
bitte nicht mit falschen Zahlen!
Vor allen Dingen bitte ich Sie herzlich - auch die Kollegen, die nachher sprechen -, auf das Grundargument
einzugehen, ob denn aus Ihrer Sicht die Wehrpflicht zur
Landesverteidigung unabdingbar notwendig ist und ob
Sie glauben, dass diese Einschätzung vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand haben wird.
Ich danke Ihnen.
({4})
Herr Kollege Herrmann, Sie können darauf eingehen.
({0})
Herr Niebel, Sie sollten schon bei der Sache bleiben.
Herr Stinner, wenn Sie zugehört hätten, dann hätten
Sie auch aufnehmen können, dass ich eben kurz - ich
gebe zu, dass das nur kurz war - auch den Bereich der
Landesverteidigung angesprochen habe. Wir bekennen
uns zur Landesverteidigung. Aus meiner Sicht ist das
auch notwendig. Wir stellen immer wieder dar, dass sich
die Bundeswehr in den vergangenen Jahren verändert
hat. Das ist gar keine Frage.
Schauen Sie nur einmal, wie viele gespiegelte Posten
es gibt und wie viele Aufgaben in der Bundeswehr von
den Wehrdienstleistenden erfüllt werden können, wodurch natürlich auch die normalen Soldaten, die in die
Auslandseinsätze gehen, entlastet werden. Dies zeigt,
wie wichtig diese Reserve, die wir hochhalten, für uns
letztendlich ist.
Der Minister hat in diesem Bereich ja auch etwas getan. Sie haben eben selbst gesagt - Sie haben das kritisch
angemerkt -, dass zusätzlich circa 6 500 Dienstposten
geschaffen worden sind. Sie verweisen darauf, dass wir
angeblich nichts für die Wehrpflicht tun - und das, obwohl wir 6 500 neue Stellen geschaffen haben -, womit
Sie den Minister automatisch wieder dafür kritisieren,
dass dadurch natürlich auch die Berufs- und Zeitsoldaten
in Anspruch genommen werden. Es ist doch klar: Wenn
wir die Grundwehrdienstleistenden einziehen, dann
müssen sie auch entsprechend ausgebildet werden; denn
alles andere - da gebe ich Ihnen Recht - wäre der Sache
nicht dienlich und würde den jungen Menschen, die sicherlich Einschränkungen hinnehmen müssen, nicht gerecht.
Im Übrigen werden Sie immer damit rechnen müssen
- Sie können das auch schon ablesen -, dass sich die
Zahlen verändern werden. Die Zeit der geburtenstarken
Jahrgänge ist vorüber. Der demografische Faktor wird
auch dazu beitragen, dass die Ausschöpfungsquote letztendlich noch größer wird.
Wie gesagt: Das Bekenntnis der CDU/CSU-Fraktion
zur Wehrpflicht werden Sie auch durch Ihre Zahlenspielereien und eine andere Interpretation nicht untergraben.
({0})
Ich gebe dem Kollegen Paul Schäfer, Fraktion Die
Linke, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Kollege Herrmann, dass wir hier immer wieder fast
gleichlautende Anträge zur Wehrpflicht stellen müssen,
zeigt nur, wie starrköpfig diese Bundesregierung und die
Fraktionen der Regierungskoalition sind, die an einer
Sache festhalten, die nicht zu halten ist.
({0})
Dass Sie einer Schimäre namens Wehrpflichtarmee
nachjagen, die fiktiv ist - das erkennen Sie, wenn Sie
sich die Zahlen anschauen -, zeigt auch, welches Maß an
Realitätsverdrängung bei Ihnen herrscht. Das genau ist
die Ausgangslage.
({1})
Paul Schäfer ({2})
Sie kennen genau wie ich die Aussage - das ist zwar
auch unsere Überzeugung, aber das ist eine Aussage des
Bundesverfassungsgerichts -, dass die Wehrpflicht ein
erheblicher Eingriff in die individuellen Grundrechte
junger Männer ist,
({3})
der nur durch außergewöhnliche sicherheitspolitische
Umstände - sprich: eine äußere Bedrohung - zu rechtfertigen ist. Genau deshalb hat die Wehrpflicht ausgedient. Sie ist ein Auslaufmodell, weil sie für die Landesverteidigung nicht gebraucht wird.
({4})
Das steht doch auch in Ihren Dokumenten. Sie sagen,
diese Art der militärischen Bedrohung ist nicht mehr
existent. Also muss man den notwendigen Schluss ziehen.
Wenn man die Wehrpflicht gerecht ausgestalten würde
- ich bitte Sie, sich das einmal genau anzusehen -, dann
müsste man zusätzlich weit über 100 000 junge Männer
pro Jahr einberufen. Diese Ausdehnung des Umfangs der
Streitkräfte ist mit den Verhältnissen in der heutigen Zeit
überhaupt nicht kompatibel und verursacht entsprechende
Kosten. Genau das wollen wir nicht. Wir wollen weniger
Soldaten, weniger Waffen und weniger Rüstungslasten.
({5})
Deshalb geht der Antrag der FDP in die richtige Richtung und ist in dieser Hinsicht auch konsequent. Leider
verbinden Sie diese Vorstellungen mit der Aussage, dass
die Wehrpflicht einer modernen Einsatzarmee im Wege
steht. Sie wissen, dass wir der Transformation der Bundeswehr in eine weltweit agierende Eingreiftruppe ablehnend gegenüberstehen. Deshalb können wir uns bei
Ihrem Antrag nur enthalten.
Der Antrag der Grünen entspricht weitestgehend unseren Überzeugungen. Wir werden ihm zustimmen.
Wir hatten lange auf einen Gruppenantrag gehofft, um
zu sehen, dass Bewegung in die Sache gebracht wird.
({6})
- Was wahr ist, ist wahr und muss gesagt werden, lieber
Kollege Nachtwei.
({7})
Jetzt kommt ein bisschen Bewegung in diese Sache.
Das sage ich mit Blick auf die SPD. Das, was Sie jetzt
substanziell vorlegen, ist aber natürlich von besonderer
Halbherzigkeit und Inkonsequenz geprägt. Es ist schon
auf diese skurrile Vorstellung einer freiwilligen Wehrpflicht hingewiesen worden. Überlegen Sie sich das
genau. Die Aufrechterhaltung des Systems Wehrpflicht
mit Musterung, Meldung von Wohnortwechseln und einer entsprechenden Bürokratie verursacht Kosten, die
nach unserer Überzeugung überflüssig sind wie ein
Kropf.
({8})
Vor allem soll die Wehrpflicht - wenn man Ihre Vorstellungen wörtlich nimmt - zu einem relativ willkürlichen staatspolitischen Bedarfsregulierungsinstrument
gemacht werden. Wenn es genug Freiwillige gibt, ist alles in Butter; wenn nicht, schlägt der Staat wieder mit
der Wehrpflicht zu. Man muss sich einmal vorstellen,
was das für die betroffenen Generationen bedeutet. Sie
werden einen Zustand der Ungewissheit und Unsicherheit kultivieren und konservieren und die Menschen in
ihrer Lebensplanung verunsichern. Das ist für uns nicht
akzeptabel. Man muss doch konsequent sein.
({9})
Ein solches Herangehen birgt auch die Gefahr, dass
man nicht durchbuchstabiert, was der konsequente Umbau der Streitkräfte zu einer Berufs- und Freiwilligenarmee bedeutet. Ich meine, wir müssen uns endlich diesen
Fragen zuwenden, statt die Auseinandersetzung der Vergangenheit zu führen.
({10})
Wir müssen darüber nachdenken; denn die Wehrpflicht
wird nicht zu halten sein. Das wissen Sie auch. Sie halten Ihre Reden so, dass Sie bis zum Ende der Legislaturperiode durchhalten. Dann werden die Karten sowieso
neu gemischt.
Lassen Sie uns doch darüber reden, welche Konsequenzen sich daraus ergeben müssen, zum Beispiel für
die Ausbildung der Unteroffiziere, die das Rückgrat der
Streitkräfte bilden.
({11})
Was bedeutet das für die politische Bildung in dieser Berufsarmee und die parlamentarische Kontrolle über die
Streitkräfte? Wir sollten besser über das richtige Verhältnis zwischen militärischer und ziviler Ausbildung in den
Streitkräften reden, statt uns ständig in Diskussionen
über die Fragen der Vergangenheit durchzuwurschteln.
Das kann nicht die richtige Position sein.
({12})
Abschließend komme ich auf den Zivildienst zu sprechen. Wie Sie wissen, haben sich die Wohlfahrtsverbände lange gesträubt, weil sie glaubten, dass sie das bestehende System brauchen, um die Versorgung der
Menschen in den Bereichen Gesundheit und Pflege zu
ermöglichen. Sie sind aber längst umgeschwenkt und gehen jetzt davon aus, dass sie diese Aufgabe mit ausgebildeten und qualifizierten Kräften, die sie beschäftigen
und ordentlich bezahlen, besser und effizienter erfüllen
können.
Jetzt haben wir einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor im Zivildienst zum Minimaltarif. Wir sind
Paul Schäfer ({13})
zwar für einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor, aber nicht mit Mindestlöhnen, sondern mit einer
entsprechenden Ausstattung. Das wäre möglich. Außerdem könnte man das Prinzip der Freiwilligkeit, wie es
vor drei Jahren von einer Kommission gefordert wurde,
durch den Ausbau des Freiwilligen Sozialen Jahres entschieden fördern. Das wäre sinnvoller, als immer weiter
die Auseinandersetzung der Vergangenheit zu führen.
Danke.
({14})
Ich gebe das Wort der Kollegin Ursula Mogg, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich beginne mit einer Feststellung: Die SPD bekennt
sich zur Wehrpflicht. Wir wollen die Wehrpflicht erhalten.
({0})
Es ist mir wichtig, dies zu Beginn dieser Debatte über
die Anträge der FDP und der Grünen zu erwähnen, weil
diese Grundbotschaft in den vergangenen Wochen in den
Diskussionen etwas verdeckt worden ist.
Es gibt viele gute Gründe für das Ja zur Wehrpflicht,
die hinlänglich bekannt sind. Deshalb möchte ich sie
nicht im Einzelnen wiederholen. Nach wie vor lesenswert sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen
in dem Bericht der Weizsäcker-Kommission aus dem
Jahr 2000. Die Kommission ist damals nach einem intensiven Abwägungsprozess zu dem Ergebnis gekommen, die Wehrpflicht zu erhalten. Sie begründet dies
unter anderem damit, dass angesichts vieler Ungewissheiten jede neue Struktur für die Streitkräfte
hinreichend flexibel sein muss, um auf unerwartete Entwicklungen angemessen reagieren zu können, Herr Kollege
Stinner.
Auch diejenigen, die einer Freiwilligenarmee das
Wort geredet haben, haben anerkannt, dass die Wehrpflicht Sicherheitsvorsorge bedeutet. Ich bitte um Verständnis, wenn ich etwas ausführlicher zitiere:
Zugleich ist sich die Kommission über die Folgen
im Klaren, die sich bei der Abschaffung oder Aussetzung der Wehrpflicht ergeben könnten. Bei einer
dramatischen Veränderung der Sicherheitslage wäre
eine rasche Wiedereinführung der Wehrpflicht innenpolitisch schwierig und außenpolitisch eskalierend. Nicht weniger schwer wiegt die Ungewissheit, ob ohne Wehrpflicht der Bedarf an Berufs- und
Zeitsoldaten gedeckt werden könnte. Dass die Bundeswehr Freiwillige in der für die Berufsarmee erforderlichen Anzahl und Qualität gewinnen könnte,
kann nicht garantiert werden. Die Rekrutierungsprobleme verbündeter Freiwilligenarmeen sind insofern
- der Kollege Herrmann hat bereits darauf hingewiesen eine ernst zu nehmende Warnung: Trotz oft intensiver und kostspieliger Bemühungen gelingt es ihnen
heute nur eingeschränkt, ihren Bedarf an Freiwilligen mit dem unerlässlichen Maß an Qualifikation
zu decken.
Das ist das Bekenntnis aus dem Munde der Befürworter
einer Freiwilligenarmee. Besser kann man all die Herausforderungen nicht beschreiben, die uns vor allem als
Verteidigungspolitiker in dieser Debatte bewegen müssen.
Die von fachkundiger Seite formulierten Punkte haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP,
vermutlich dazu bewogen, in diversen Anträgen - wir
diskutieren darüber heute nicht zum ersten Mal - nicht
die Abschaffung, sondern die Aussetzung zu fordern. In
ihrem fortgeschriebenen Antrag vom 18. Januar 2006
stehen neben dieser Forderung allerdings auch die nach
der Umstrukturierung hin zu einer Freiwilligenarmee
und die, sicherzustellen, dass umfassende Nachbesserungen oder Umstrukturierungen auf absehbare Zeit ausgeschlossen werden können. Mit anderen Worten: Sie
fordern die Abschaffung der Wehrpflicht.
Erlauben Sie mir den Hinweis: Die Begrifflichkeiten
im Zusammenhang mit unserer Wehrpflichtdebatte sind
gelegentlich sehr verwirrend. Die FDP gibt zwar ihrem
Antrag den Titel Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr
herstellen - Wehrpflicht aussetzen, will aber die Abschaffung. Bündnis 90/Die Grünen gibt zwar seinem
Antrag den Titel Wehrpflicht überwinden - Freiwilligenarmee aufbauen, will aber die Wehrpflicht aussetzen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen vom Bündnis 90/
Die Grünen, Sie argumentieren allerdings insgesamt ehrlicher.
({2})
Sie fordern die Aussetzung der Wehrpflicht und flankieren diese Forderung mit einer Reihe von weiteren konkreten Punkten. Zur Vermeidung von Missverständnissen deshalb noch einmal klar und laut: Die SPD will die
Wehrpflicht erhalten.
({3})
- Das ist immer so in einer demokratischen Partei.
({4})
Wir sollten uns dem Kern der Herausforderung zuwenden, die wir als Gesetzgeber zu bewältigen haben.
Junge Menschen wollen staatliches Handeln nachvollziehen können, insbesondere dann, wenn es um einen
Eingriff in ihre private Lebensplanung geht. Sie wollen,
dass es gerecht zugeht. Dabei helfen die diversen Zahlenspiele bei den Planungen für Geburtsjahrgänge nicht
weiter. Richtig bleibt dabei nur die Feststellung: Einen
absoluten Ausschöpfungsgrad und damit formale Gerechtigkeit hat es auch in der Vergangenheit nie gegeben.
Das kann auch nicht das Ziel unserer Bemühungen sein.
Was allerdings weiterhelfen kann, ist die Erkenntnis,
dass wir die Wehrpflicht in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder den Realitäten angepasst haben. Auch
dazu finden wir bei von Weizsäcker ein Beispiel:
Da die starken Geburtsjahrgänge der 50er- und
60er-Jahre nicht ausgeschöpft werden konnten,
wurde auf Vorschlag der ersten Wehrstruktur-Kommission 1971 der Grundwehrdienst verkürzt. Seither ist die Dauer von Wehrdienst und Zivildienst
ständig weiter verringert worden.
Wir wissen, dass heute eine solche Anpassung nicht
mehr möglich ist. Andere zeitgemäße Justierungen sind
notwendig. Attraktivität des Dienstes ist in diesem Zusammenhang ein wichtiges Stichwort, genauso wie die
Stärkung der Freiwilligkeit. Im Übrigen sollten wir bei
all unseren Überlegungen auch die Folgen des demografischen Wandels - erkennbar ab dem Einberufungsjahr
2010 - nicht aus den Augen verlieren.
Sie sehen, dass das Thema des Schweißes der Edlen
wert ist. Die Wehrpflicht gehört nicht zum alten Eisen,
ist kein verrostetes Instrument. Die SPD ist entschlossen,
ihr neuen Glanz zu geben. Fortsetzung folgt ganz im
Sinne der von der Weizsäcker-Kommission geforderten
Flexibilität. Der Kollege Bartels wird dazu weitere Ausführungen machen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Ich gebe dem Kollegen Winfried Nachtwei,
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich darf zunächst einmal als Gäste bei uns die Wehrpflichtigenvertreter im Vorstand des Bundeswehr-Verbandes begrüßen.
Kollege Herrmann, Sie haben in einer Art für die allgemeine Wehrpflicht gesprochen, die ich seit vielen Jahren hier im Parlament und außerhalb des Parlaments von
der Union und vom überwiegenden Teil der SPD kennengelernt habe. Man hat bei diesen Fürsprachen für die
Wehrpflicht den Eindruck, dass die Wehrpflicht ein Wert
für alle Ewigkeit ist. Da gehen Sie an einem entscheidenden Punkt vorbei, den der Kollege Stinner in der Einleitung angesprochen hat. Sie übergehen schlichtweg die
Tatsache, dass die Wehrpflicht - eigentlich geben Sie das
zu - ein massiver Eingriff in die Grundrechte junger
Männer ist. Das hört sich vielleicht abstrakt an, aber
wenn man immer wieder einmal mit einzelnen Fällen
von Wehrpflichtigen zu tun hat - das sind nicht wenige -,
dann merkt man, dass die Wehrpflicht konkret einige Benachteilungen und Mehrbelastungen mit sich bringt. Insofern kann man nicht darüber hinweggehen. Deshalb
brauchen Sie eine ganz besondere sicherheitspolitische
Begründung.
Wie verhält es sich denn mit dem Bedarf der Bundesrepublik bzw. der Bundeswehr an Wehrpflichtigen? 1989
waren noch 44 Prozent der 490 000 Bundeswehrsoldaten
Wehrpflichtige. Inzwischen sind es nur noch 30 000. Der
Anteil der Wehrpflichtigen an den Bundeswehrsoldaten
ist auf 12 Prozent gesunken. Von den 400 000 jungen
Männern eines Geburtsjahrgangs leisten nur noch
60 000 Grundwehrdienst bzw. freiwillig einen längeren
Wehrdienst. Es heißt eigentlich, dass die allgemeine
Wehrpflicht - so hat es das Bundesverfassungsgericht
gesagt - eine allgemein belastende Pflicht sein muss.
Wie können Sie das bei diesen Zahlen noch behaupten?
Die Wehrdienstungerechtigkeit ist wirklich mit Händen
zu greifen.
({0})
Es wird behauptet, die Wehrpflicht sei so wichtig für
den Austausch zwischen Streitkräften und Gesellschaft.
Dieser Austausch und diese Integration sind in der Tat
sehr wichtig. Daran liegt uns, den Wehrpflichtkritikern,
ebenfalls. Aber das, was in den letzten 50 Jahren ein
wichtiger Beitrag der Wehrpflicht war, ist inzwischen
angesichts dieser Zahlen kaum noch ein Beitrag zu dieser Integration. Da muss man sich etwas anderes überlegen.
Nun zu dem SPD-Vorschlag im Hinblick auf den Parteitag der SPD. Immerhin wird mit diesem Vorschlag das
Wehrpflichtdogma in den Reihen der SPD zumindest relativiert. Zumindest kann von der SPD nicht mehr ein
Argument wie das kommen, was Peter Struck leider in
den vorigen Jahren öfter gebracht hat, nämlich es drohe
die Söldnerarmee. Das ist wirklich eine Unterstellung
gegenüber den Zeit- und Berufssoldaten, was damals
deutlich zum Ausdruck gebracht worden ist.
({1})
Bei diesem Vorschlag der SPD bleiben allerdings
ganz zentrale Fragen unberücksichtigt. Was bringen
diese neun Monate für die verschiedenen Beteiligten?
Wie soll es mit den Anreizen bei dieser Art von Wehrdienst aussehen? Was ist schließlich mit der kleineren
Gruppe der Wehrpflichtigen, die am Ende übrig bleiben
und dann zwangsweise gezogen werden müssen? Dann
wird die Wehrdienstungerechtigkeit wirklich auf die
Spitze getrieben. Ob das verfassungsrechtlich einwandfrei ist, da habe ich meine größten Zweifel.
SPD-Kollegen erinnern sich vielleicht, dass wir in unserer Koalitionszeit im November 2004 einen Vorschlag
für einen freiwilligen Kurzdienst eingebracht haben.
Dieser Kurzdienst sollte einen Zeitraum von zwölf bis
24 Monaten umfassen, offen für Männer wie Frauen,
von vornherein attraktiver angelegt.
Dies ist damals von den SPD-Kollegen leider beiseite
gewischt worden. Wenn man aber über diesen Vorschlag
genauer nachdenkt, wird man feststellen, dass beide SeiWinfried Nachtwei
ten erheblich etwas davon haben, nämlich eine bessere
Ausbildung, viel mehr Verwendungsmöglichkeiten und
ein gegenseitiges Erproben.
Bei der besseren Attraktivität wird einerseits zu Recht
auf die materielle Seite hingewiesen. Eine andere Seite
der Attraktivität ist aber von ganz entscheidender Bedeutung. Darauf hat auch der Bundeswehr-Verband mit seiner Umfrage hingewiesen. Aus ihr ging nämlich hervor,
dass 74 Prozent der Berufssoldaten ihnen nahestehenden
Personen nicht raten, zur Bundeswehr zu gehen. Das ist
in der Tat unmöglich. Wenn man dieses Verhältnis umdreht, hat man schon einen erheblichen Beitrag zur Steigerung der Attraktivität geleistet.
({2})
Ein solcher freiwilliger Kurzdienst wäre geeignet als
Brücke zur Umstellung von einer Armee mit Wehrpflichtigen zu einer Freiwilligen-Armee. Ich meine, es
ist viel besser, diesen Übergang jetzt demokratie- und
sozialverträglich zu gestalten, bevor er uns irgendwann
einmal vom Bundesverfassungsgericht aufgezwungen
wird.
Herr Kollege Nachtwei!
Ich komme jetzt auch zum Schluss. Das habe ich genau geplant.
Darum würde ich bitten.
Selbstverständlich. - Ich glaube, dieser Vorschlag enthält viele Elemente, die auch auf eurem Parteitag in die
Diskussion aufgenommen werden könnten. Herr Kollege Herrmann, nach dem, wie Sie sich vorhin geäußert
haben, könnte darüber sogar mit der Union diskutiert
werden, weil auch die Union in diesem Bereich sicher
nicht dogmatisch sein will.
Danke schön.
({0})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Kurt Rossmanith,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen!
({0})
- Ich habe auch Damen gesagt. Ich gehe davon aus,
dass Sie eine Dame sind, und deswegen habe ich Sie
auch mit Dame Kollege angesprochen. Ich weiß, dass
Gender Approach Ihnen ein besonderes Anliegen ist.
({1})
Ich hoffe aber, dass ich mit Damen und Herren Kollegen auch das weibliche Geschlecht in unserem Hohen
Hause entsprechend gewürdigt habe.
Ich freue mich darüber, dass wir heute diese Debatte
führen. Ich bin dem Kollegen Nachtwei nicht nur wegen
seines letzten Satzes dankbar für seinen Beitrag, der sich
sehr abhebt von manchen Tönen, die wir auf Ihrem letzten Sonderparteitag gehört haben.
({2})
Ich sage das auch deshalb, weil wir, die CDU/CSU, dieses Thema sehr wichtig nehmen. Natürlich kann bei der
Wehrpflicht nicht einfach gesagt werden: Das machen
wir, das brauchen wir für alle Zeit und Ewigkeit. In der
Tat haben wir die Wehrpflicht ständig zu hinterfragen.
Ich muss sie aber richtig und nicht mit fragwürdigen Argumenten hinterfragen.
Logischerweise befinden sich nach dem Wegfall des
Ost-West-Konfliktes nur noch Freunde um Deutschland
herum. Damit sind aber Konflikte als solche noch nicht
zu Ende und die Sicherheit unseres Vaterlandes nicht
schon automatisch gegeben. Der Fokus der Bedrohung
hat sich verändert. Deshalb benötigen wir weiterhin
junge Männer, die Wehrdienst leisten. Natürlich ist das
Thema Wehrgerechtigkeit dabei sehr wichtig. Für mich
ist es ein ganz oben in der Prioritätsskala liegendes
Thema. Ich sage aber auch, dass die Verteidigung eines
Landes jeden Bürger betrifft. Ich bin überzeugt davon,
dass jede Bürgerin und jeder Bürger auch der beste Verteidiger seines Landes ist.
Gerade aus dieser Situation heraus müssen wir sehr
vorsichtig und umsichtig in der Diskussion sein. Natürlich
- das tun wir aber auch nicht, lieber Kollege Stinner dürfen wir dabei nicht nur Nachwuchs und anderes mehr
fordern. Natürlich brauchen wir das, aber das sind nur
Ausflüsse aus der Wehrpflicht. Das war nie ein Argument. Wir haben nie gesagt: Das hat oberste Priorität.
Lieber Kollege Kolbow, natürlich tut es manchen altgedienten Soldaten ganz gut, sich jedes Vierteljahr oder
jedes halbe Jahr auch einmal mit jungen Leuten auseinandersetzen zu müssen. Das steht jetzt logischerweise
aber nicht so im Fokus, dass ich sagen muss: Die Wehrpflicht ist zwingend notwendig.
Auch die Katastropheneinsätze unserer Soldaten, vornehmlich wehrpflichtiger - ich erinnere an die Hochwasserkatastrophen im östlichen Teil unseres Vaterlandes
vor einigen Jahren -, sind für mich nicht das Hauptargument, sondern die Sicherheit und die Verteidigung unseres Landes.
Diese Debatte wurde immer ernsthaft und sachlich
geführt - dafür bin ich dankbar -, und zwar von allen
Seiten. Die Linken, früher PDS und davor Kommunisten
- vielleicht sind sie es auch heute noch; ich weiß es nicht -,
waren nicht immer ganz sachlich. Aber, Herr Schäfer,
ich muss sagen: Heute waren Sie durchaus sachlich.
({3})
Lieber Kollege Dr. Rainer Stinner, die Zahl, die Sie
genannt haben, ist zwar nicht falsch.
({4})
Aber wenn Sie auf die Musterungsuntersuchungen der
Kreiswehrersatzämter eingehen, dann müssen Sie schon
klarstellen, was Erstuntersuchung und was Folgeuntersuchungen sind. Ihre Feststellung 380 000 mussten
nicht dienen ist nicht korrekt, weil das eine Zusammenfassung der Ergebnisse von Musterungsuntersuchungen
mehrerer Jahrgänge war: In den Kreiswehrersatzämtern
haben Erstuntersuchungen und Folgeuntersuchungen,
Zweit-, Dritt- und manchmal auch Viertuntersuchungen,
stattgefunden.
Sie haben gesagt, im Jahre 2006 seien etwa 380 000
wehrtaugliche junge Männer nicht eingezogen worden.
Die meisten dieser jungen Männer entstammen dem
Jahrgang 1986. Im Jahre 1986 gab es in den alten Bundesländern 291 006 und in den neuen Bundesländern,
damals noch DDR, 113 717 männliche Neugeborene.
Das heißt, im Jahre 1986 gab es in Deutschland insgesamt 404 723 männliche Neugeborene, die etwa im
Jahre 2006 wehrpflichtig gewesen sind. Angesichts dessen verstehe ich Ihren Hinweis darauf, dass 380 000
junge Männer ihren Wehrdienst nicht geleistet haben,
nicht. Da sollten wir ehrlich sein.
Lassen Sie mich abschließend Folgendes sagen: Wir
müssen bei der Behandlung dieser Thematik vermeiden,
mit Begriffen zu operieren oder uns einfach mangels
Durchsetzungsvermögens, mangels sonstiger Argumentationen in Begriffe zu flüchten. Es ist nicht sinnvoll,
hier Termini wie sicherheitspolitische Dienstpflicht
oder freiwillige Wehrpflicht zu gebrauchen.
Gestatten Sie mir, zu letzterem Terminus noch einen
kleinen humorvollen Beitrag zu leisten.
({5})
Lieber Kollege Arnold, wenn es zu der von Ihnen befürworteten freiwilligen Wehrpflicht kommt, dann müssen
Sie den jungen Soldaten nur noch beibringen, dass sie in
der Bundeswehr - entsprechend Ihrer Terminologie auch trockenes Wasser für ihre morgendliche Dusche
oder für die Rasur vorfinden werden. Die jungen Soldaten werden das sofort begreifen und werden sagen: Das
ist ja logisch; die SPD hat das so gesagt. Ich bitte also
auch in diesem Punkt um etwas Ehrlichkeit und um keinerlei Begriffsverwirrung. Letztendlich trägt das zur
Verwirrung der jungen Menschen bei.
Herr Kollege, auch Sie muss ich an Ihre Redezeit erinnern.
Ich bin beim letzten Satz, meine verehrte Präsidentin.
({0})
Ich bedanke mich ausdrücklich bei allen Soldatinnen
und Soldaten für ihren Dienst,
({1})
insbesondere aufgrund unserer heutigen Debatte über die
Wehrpflicht bei den jungen Wehrpflichtigen.
Herr Kollege, das ist jetzt schon mindestens der achte
Schlusssatz.
Aus der Gruppe der jungen Männer, die Wehrdienst
leisten, erwachsen die Reservisten, die für unsere Bundeswehr und deren Auslandseinsätze von sehr großer
Wichtigkeit sind.
Ich bedanke mich.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Dr. Hans-Peter Bartels, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jetzt kommt die Conclusio. Ich habe mich neulich über
eine Umfrage gefreut. Dabei ging es nicht um mögliche
Koalitionen, die hier und dort erkennbar geworden sind.
Wir bleiben bei dieser erfolgreichen Koalition
({0})
und bei der Wehrpflicht. Gefreut habe ich mich über eine
Umfrage, nach der 73 Prozent der Deutschen den freiwilligen Wehrdienst, das Konzept der SPD, für eine gute
Idee halten,
({1})
darunter 55 Prozent CDU/CSU-Wähler. Das ist eine gute
Sache.
({2})
Natürlich kann man fragen: Ist das Konzept bei denen, die gefragt wurden, in allen Details bekannter gewesen als bei Ihnen? Offenbar ist die Botschaft aber angekommen. Die Botschaft lautete - das entspricht auch
dem Bewusstsein der Menschen -: Wir brauchen heute
offensichtlich weniger Soldaten als zu Zeiten des Kalten
Krieges. An der Wehrpflicht festzuhalten, ist eine gute
Sache; dann ist man auf der sicheren Seite. Aber man
kann mehr Freiwilligkeit wagen. Wenn die SPD das zusammenbringt, ist das gut.
({3})
Das Prinzip ist also schon erkannt. Ich kann es Ihnen
aber noch einmal erklären und will das jetzt auch tun:
Wehrpflicht - ja, mit so viel Freiwilligkeit wie möglich.
Die Zahlen kennen Sie. Die Zahl der Bundeswehrsoldaten ist von 500 000 auf 250 000 halbiert worden. Die
Zahl der Zeitsoldaten und Berufssoldaten hat sich gegenüber der der Grundwehrdienstleistenden und freiwillig
länger Wehrdienstleistenden deutlich verändert. Wir haben heute 200 000 Berufssoldaten und Zeitsoldaten gegenüber etwas über 50 000 Grundwehrdienstleistenden
und FWDLern. Das ist eine andere Struktur als bei der
Armee des Kalten Krieges mit gut der Hälfte Wehrpflichtigen, W-15ern.
Wir brauchen heute weniger, aber es sind immer noch
viele: 77 000 junge Leute aus jeweils einem Jahrgang.
Kein Arbeitgeber auf dem freien Markt muss so viele
neu werben. Ich möchte mir den bürokratischen Aufwand nicht vorstellen, den wir bräuchten, wenn wir Werbebüros aufmachen wollten, um jedes Jahr 77 000 Menschen - oder seien es auch nur 70 000 - in die
Bundeswehr zu bekommen.
({4})
Die Struktur für 2010 sieht diese 77 000 vor. Das haben
wir im Prinzip heute schon. Davon wird ein Teil Frauen
sein, vielleicht 10 Prozent.
Wir werden übrigens auch in Zukunft einen Teil des
Sicherheitsapparats unseres Landes auf der Wehrpflicht
gründen. Jeder, der zur Polizei geht, leistet damit seinen
Wehrdienst ab. Jeder, der beim THW arbeitet, leistet damit seinen Wehrdienst ab.
({5})
- Feuerwehr.
({6})
Der gesamte Katastrophenschutz basiert auf der Wehrpflicht; das gilt auch für den Zivildienst.
Die Fragen der Wehrgerechtigkeit, die immer wieder
gestellt werden, sollte man eigentlich nur mit Zahlen beantworten. In den 60er- und 70er-Jahren haben gut zwei
Drittel der jungen Männer eines Jahrgangs einen Dienst
geleistet, übrigens überwiegend den Dienst in der Bundeswehr. In den 90er-Jahren haben gut zwei Drittel der
Männer eines Jahrgangs einen Dienst geleistet; da kam
der Zivildienst sehr stark dazu. Das Thema Dienstgerechtigkeit ist eines, das sich in den Jahrzehnten der
Bundeswehr nicht wesentlich verändert hat. Es gab immer einen Teil, der keinen Dienst leisten musste.
Vieles ist dazu gesagt worden, wie es in anderen Ländern ist. Zur sicherheitspolitischen Lage hat Herr
Rossmanith dankenswerterweise etwas ausgeführt; da
sind wir völlig einer Meinung.
Es kann rapide Veränderungen geben, wie wir sie
1989/90 oder 2001 erlebt haben. Solche rapiden Veränderungen der sicherheitspolitischen Lage kann man nicht
unmittelbar mit einer neuen Wehrform beantworten. Da
sollten wir auf der sicheren Seite bleiben.
Wir sind heute nicht in der Situation, sagen zu können: Von Freunden umgeben, und alles ist gut. - Von
Freunden umgeben, ja, aber die Welt hat sich in den
letzten Jahren nicht nur zum Guten verändert.
({7})
Lassen Sie mich ein paar Worte zu dem sagen, was
wir Sozialdemokraten uns mit dem neuen Konzept einer
Wehrpflicht vorstellen, die natürlich nicht freiwillige
Pflicht heißt.
({8})
Den Witz hören wir immer gern. Wir sind es gewohnt,
dass man Dinge nicht verstehen will.
Kurt Beck hat von freiwilligem Wehrdienst gesprochen, dem Prinzip folgend, dass wir, wenn wir heute
weniger brauchen, erst einmal diejenigen nehmen, die es
auch wollen. Auch heute haben wir in der Bundeswehr
schon viele, die nicht gegen ihren Willen dahin kommen:
die freiwillig länger dienenden Wehrdienstleistenden
({9})
und die Zeit- und Berufssoldaten. Ein guter Teil derer,
die als W-9er kommen, ist ebenfalls nicht gegen seinen
Willen da, sondern hält es für eine richtige Sache. Heute
ist also nicht jeder gegen seinen Willen bei der Bundeswehr; Gleiches gilt für die anderen Dienste, die auf der
Wehrpflicht aufbauen.
Auch bei den Reservisten gibt es Elemente der Freiwilligkeit. Kein Reservist wird heute gegen seinen Willen zu einer Wehrübung gezwungen. Des Weiteren wird
niemand gegen seinen Willen in Auslandseinsätze geschickt. Dass die Wehrdienstarmee Bundeswehr und die
vorrangige Anwendung des Prinzips der Freiwilligkeit
nicht übereingingen, hieße, dass die Bundeswehr heute
nicht funktionierte. Das kann man aber nicht sagen; vielmehr leistet sie einen hervorragenden Dienst. Die Bundeswehr als Wehrpflichtarmee funktioniert in der Form,
wie wir sie heute haben.
Allerdings können und sollten wir etwas ändern,
wenn wir dem vom Herrn Verteidigungsminister beschriebenen Problem Rechnung tragen wollen. Wir reden darüber, dass über die vorhandenen Planstellen hinaus zusätzliche Grundwehrdienstleistende eingezogen
werden sollen. Wenn aber die Tauglichkeitskriterien so
angewandt werden, dass 46 Prozent eines Jahrgangs zunächst einmal nicht herangezogen werden, sondern un11884
tauglich sind, dann weist das darauf hin, dass wir ein
Problem haben. Man kann aber auch sagen, dass wir einen Gestaltungsspielraum bekommen. Diesen Gestaltungsspielraum wollen wir im Sinne derjenigen Männer
nutzen, die in jedem Jahrgang zum Wehrdienst anstehen.
Darauf bezieht sich unsere Aussage, das Prinzip der
Freiwilligkeit solle Vorrang haben.
Unser Modell sieht wie folgt aus: Jeder wird erfasst
und gemustert. Jeder junge Mann eines Jahrgangs wird
sich mit der Frage beschäftigen müssen, wie er zum
Dienst in der Bundeswehr oder zu einem anderen Dienst
steht. Auch wird er gefragt, wie es mit seiner Motivation
aussehe, zur Bundeswehr zu kommen: Würdest du wollen? - Wenn dann die Zahl aufgeht, haben wir kein Problem. Dass sie aufgeht, dafür können wir einiges tun.
Hier sind wir mit den Grünen sehr einig; eine Steigerung
der Attraktivität der Bundeswehr ist auch heute in jedem
Fall eine sinnvolle Sache, in unserem Modell allemal.
Man kann einen Bonus geben, man kann Anreize dafür
geben, dass es aufgeht. Wenn es aber nicht aufgeht, dann
müssen wir nichts ändern. Dann haben wir eine Wehrpflicht, die so greift, wie sie es heute tut: Es wird nach
Tauglichkeit und Bedarf eingezogen, und damit sind wir
auf der sicheren Seite.
Wir sind für mehr Freiwilligkeit, wollen dabei aber
kein Risiko eingehen. Die Bundeswehr ist für die Sicherheit Deutschlands da, und wir haben ein Modell, das
diese Sicherheit auch in Zukunft garantieren kann.
Vielen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/393
und 16/6393 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen ({0})
- Drucksache 16/6140 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach.
({2})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe
Kollegen! Die GmbH ist ein Erfolgsmodell, auch wenn
sie ein bisschen in die Jahre gekommen ist. Es gibt sie
seit 1892 - im Wesentlichen unverändert -, und sie ist
seit langem die beliebteste Rechtsform in Deutschland,
vor allem für den Mittelstand. Damit dies so bleibt, wollen wir das GmbH-Recht modernisieren und verbessern.
Mit unserem Entwurf eines Gesetzes, das kurz MoMiG
genannt wird, bringen wir die umfangreichste Reform
des GmbH-Gesetzes seit dessen Inkrafttreten vor
115 Jahren auf den Weg.
Dabei geht es uns um zwei Aspekte:
Erstens wollen wir die GmbH gerade im internationalen Vergleich noch wettbewerbsfähiger machen. Es soll
einfacher, schneller und kostengünstiger werden, eine
GmbH zu gründen. - Frau Dyckmans, Sie sitzen ja ganz
alleine da, Sie Ärmste!
({0})
Zweitens müssen wir die Gläubiger besser vor Missbrauch schützen, und zwar insbesondere bei der Insolvenz einer Gesellschaft. Wie erreichen wir dieses Ziel?
Wir setzen das Mindeststammkapital auf 10 000 Euro
herab und stellen die GmbH damit künftig noch mehr
Unternehmern zur Verfügung. Gerade für Existenzgründer aus dem Dienstleistungsbereich dürften 10 000 Euro
ein akzeptabler Betrag sein und gleichzeitig ein Mindestmaß an Solidität gewährleisten. Dies bestätigt ein Blick
auf vergleichbare Auslandsgesellschaften. Davon abgesehen hatten wir früher genau den gleichen Betrag, und
es ist gutgegangen.
Neu ist die haftungsbeschränkte Unternehmergesellschaft, kurz UG. Die UG kann ohne Mindeststammkapital gegründet werden, muss ihr Mindestkapital von
10 000 Euro aber durch eine reduzierte Gewinnausschüttung nach und nach ansparen. Ist das geschafft, kann die
UG ohne aufwendigen Umwandlungsvorgang einfach in
eine normale GmbH umfirmieren.
Über das Für und Wider einer solchen Klein-GmbH
mag man zwar streiten, vor allem nachdem wir gleichzeitig das Mindestkapital herabsetzen. Die Verbreitung
der englischen Limited in Deutschland hat jedoch gezeigt, dass es zumindest bei Existenzgründern und
Kleinunternehmern einen Bedarf an einer Gesellschaft
mit beschränkter Haftung geben dürfte. Aus Sicht des
deutschen Mittelstandes ist dabei vor allem wichtig, dass
das Ansehen der GmbH nicht leidet. Ich denke, das gewährleistet dieses Modell, weil es klar zwischen GmbH
und UG unterscheidet. Deshalb bin ich dem Kollegen
Dr. Gehb dankbar, dass er diese Idee aufgegriffen und
gegen einige Widerstände mit der ihm eigenen Beharrlichkeit weiterverfolgt hat.
({1})
Einfacher, schneller und kostengünstiger wird die
GmbH-Gründung vor allem durch das sogenannte Gründungsset. Für Standardgründungen stellt das Gesetz eine
Mustersatzung und ein Muster für die Handelsregisteranmeldung zur Verfügung. Die vertraglichen Bestimmungen sind so einfach formuliert, dass eine zwingende
Beratung und Belehrung durch den Notar verzichtbar erscheint.
({2})
Es genügt eine Beglaubigung der Unterschrift. Ich halte
diese Lösung für gut und richtig, möchte aber, lieber
Uwe Benneter, aus der Frage Beglaubigung oder Beurkundung? keinen Glaubensstreit machen; wir hatten
hier heute schon genug Glaubensstreite. Wir sollten die
Lösung wählen, die für die Unternehmen einfach und
günstig ist und die Belange des Rechtsverkehrs wahrt.
({3})
Die Sachverständigenanhörung wird uns dabei sicher
weiterhelfen.
Zusammen mit der Umstellung des Handelsregisters
auf die elektronische Führung kann das Gründungsset einen deutlichen Zeitgewinn bringen. Damit sich am Ende
nicht doch wieder alles verzögert, weil vielleicht noch
eine Genehmigung des Gewerbeamtes fehlt, sollen das
Eintragungs- und das Genehmigungsverfahren entkoppelt werden. Die Genehmigung kann dann nachgereicht
werden.
Auch für die Phase nach der Gründung bringt der Entwurf Erleichterungen und Verbesserungen. Wir ermöglichen den gutgläubigen Erwerb von Gesellschafteranteilen, wir vereinfachen die äußerst komplizierten
Regelungen über Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung, und wir stellen das sogenannte Cash-Pooling auf
eine gesetzliche Grundlage. - Ich habe gedacht, Jerzy
stellt jetzt eine Zwischenfrage.
({4})
Das sind allesamt Punkte, die von der Wirtschaft erwartet und begrüßt werden, die ich aber aus Zeitgründen nur
in Stichworten erwähnen kann.
Ich komme zum zweiten Aspekt der Reform, zur Bekämpfung von Missbräuchen. Ein Problem sind heute
GmbHs, die sich faktisch einer Rechtsverfolgung entziehen. Dem wollen wir einen Riegel vorschieben. Im Handelsregister ist eine inländische Geschäftsanschrift einzutragen. Kann unter dieser Anschrift nicht zugestellt
werden, ist eine öffentliche Zustellung unter erleichterten Voraussetzungen möglich. Komplizierte und oft
zwecklose Auslandszustellungen werden damit überflüssig.
Es gibt außerdem GmbHs, die sich dem Zugriff ihrer
Gläubiger dadurch entziehen, dass sie plötzlich keinen
Geschäftsführer mehr haben. In solchen Fällen können
die Gläubiger in Zukunft die Gesellschafter in die Pflicht
nehmen. Es kann an die Gesellschafter zugestellt werden, und bei Insolvenzreife müssen die Gesellschafter
selbst Insolvenzantrag stellen; anderenfalls machen sie
sich strafbar. Der Beerdigung insolvenzreifer GmbHs
durch sogenannte Firmenbestatter wird damit die Grundlage entzogen.
({5})
Der Entwurf macht aber nicht bei deutschen Gesellschaften halt. Die Missbrauchsbekämpfung erstreckt
sich sogar auf Auslandsgesellschaften, die im Inland
agieren. Auch für diese Gesellschaften gilt künftig die
strafbewehrte Insolvenzantragspflicht. Insolvente Auslandsgesellschaften werden also ebenfalls aus dem Verkehr gezogen.
Ich habe Ihnen nun in aller Kürze die wesentlichen
Punkte des vorliegenden Gesetzentwurfes vorgestellt.
Ich hätte Jerzy Montag gern noch etwas über das CashPooling erzählt. Der Entwurf findet das richtige Gleichgewicht zwischen Modernisierung und Deregulierung
auf der einen Seite und der Bekämpfung von Missbräuchen auf der anderen Seite. Die deutsche GmbH braucht
nun den Wettbewerb mit anderen Rechtsformen nicht
mehr zu fürchten.
Ich bedanke mich sehr herzlich für die freundliche
Aufmerksamkeit.
({6})
Ich gebe das Wort der Kollegin Mechthild Dyckmans,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Noch in der letzten Legislaturperiode hat uns die
rot-grüne Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorgelegt, der nur die Absenkung des Stammkapitals vorsah.
Das war eindeutig zu kurz gesprungen. Denn Deregulierung, Vereinfachung von Gründungen, Bekämpfung von
Missbräuchen und Stärkung der Gläubigerrechte sind die
wichtigen und zentralen Fragen. Diese müssen mit einer
umfassenden Reform beantwortet werden. Deshalb unterstützen wir die grundlegenden Ziele des heute zu beratenden Entwurfs, die diese Bereiche betreffen, auch
wenn man sicher noch über das eine oder andere wird reden müssen.
Beim Thema Gründungserleichterungen gratuliere
ich dem BMJ dazu, einen Vorschlag der FDP aufgenommen zu haben, den wir im Februar letzten Jahres hier im
Plenum eingebracht haben.
({0})
- Sie waren damals noch sehr vage in Bezug darauf, ob
Sie diese Erleichterungen haben wollen. - Aber es ist
richtig, die GmbH-Eintragung ins Handelsregister vom
Vorliegen verwaltungsrechtlicher Genehmigungen abzukoppeln.
Ich will mich heute bei der ersten Lesung nicht mit
Einzelregelungen beschäftigen; dafür haben wir in den
Ausschussberatungen noch genügend Zeit. Vielmehr
möchte ich ein grundlegendes Problem ansprechen. Ein,
wie ich meine, populistischer Schwerpunkt des Gesetzesvorschlags ist die Schaffung der sogenannten Unternehmergesellschaft ({1}).
({2})
Sie wollen damit in Konkurrenz zur Limited treten. Es
ist zwar sehr löblich, dass die Regierung und insbesondere Herr Dr. Gehb sich Gedanken über die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Gesellschaftsformen machen,
aber in diesem Fall sind die Schlussfolgerungen falsch.
Die Rechtsprechung des EuGH aus den Jahren 2002 und
2003 zur Niederlassungsfreiheit in Europa hatte zur
Folge, dass Unternehmer unter dem Schirm ausländischer Rechtsformen in Deutschland Geschäfte machen
können. Dies führte - wie wir alle wissen - zu einem
Boom der Limiteds in Deutschland. Die Bundesregierung läuft diesem Trend nun Jahre später hinterher und
meint, mit der Schaffung der Unternehmergesellschaft
({3}) ein Konkurrenzprodukt zur Limited erfinden zu müssen. Diesem Trend nachzulaufen
ist weder sinnvoll noch notwendig.
({4})
Zwar häuften sich zunächst die Meldungen über
Vorteile der Limited - angeblich geringere Kosten,
schnellere Gründungen, niedrigeres Stammkapital und
angeblich weniger Bürokratie im englischen Gesellschaftsrecht -, mittlerweile hat sich aber herumgesprochen, dass die Limited auch zahlreiche Nachteile hat. So
kommen die Unternehmer zum Beispiel mit den umfangreichen Offenlegungspflichten des englischen Rechts
nicht zurecht. Eine Beratung über das ausländische Recht
wird jedoch teuer. Folge der Unkenntnis des ausländischen Rechts ist oft die Löschung der Limited in England, und damit darf die Gesellschaft auch in Deutschland nicht mehr tätig werden.
Viele Unternehmer haben auch erfahren, dass die Limited im Geschäftsverkehr nicht anerkannt wird. Nach
einer Untersuchung des Wirtschaftsmagazins Impulse
sehen zwei Drittel der befragten Führungskräfte die Akzeptanz der Limited als eher gering an, und bei Kreditgebern waren es sogar 90 Prozent. Das alles hat zu einem
deutlichen Rückgang der Zahl der Limited-Gesellschaften geführt.
Nun mögen Sie vielleicht sagen: Dass das englische
Recht so schwierig ist, ist ja gerade der Grund dafür,
weshalb wir eine deutsche Gesellschaftsform anbieten.
Dazu stelle ich aber fest: Nicht nur die rechtlichen Regelungen der Unternehmergesellschaft ({5}) sind in dem vorliegenden Entwurf unlogisch
und unklar; so fragt man sich zum Beispiel folgendes:
Wo sind zusätzliche gläubigerschützende Regelungen,
damit die Unternehmergesellschaft ({6})
nicht von vornherein als unseriös erscheint? Warum besteht nicht die Pflicht, Gewinne anteilsmäßig anzusparen, und zwar zeitlich unbegrenzt? Aber nicht nur das,
Sie nehmen auch noch alle wirtschaftlichen Nachteile
der Limited in diese Mini-GmbH auf.
({7})
Eine Gesellschaft ohne Stammkapital wird keine Kredite erhalten. Geschäftspartner einer Gesellschaft ohne
Stammkapital werden andere Sicherheiten verlangen.
Mit der Schaffung einer Kapitalgesellschaft ohne Kapital ist für die Gründer schlichtweg nichts gewonnen. Kapitalschwache Gründer sind auch heute nicht gehindert,
zum Beispiel als Einzelkaufmann aufzutreten.
Völlig verfehlt ist meines Erachtens die Ansicht, eine
1-Euro-GmbH ermögliche die Gründung eines Unternehmens ohne Eigenkapital.
({8})
Bereits durch die Gründungskosten droht selbst bei Nutzung der Mustersatzung - dazu wird in den Beratungen
noch einiges zu sagen sein - die Überschuldung dieser
Gesellschaft. Der Systembruch durch die Schaffung einer kapitallosen Kapitalgesellschaft ist durch nichts gerechtfertigt.
({9})
Mit der Unternehmergesellschaft ({10}) geben Sie den Gründern eine Praline mit Senffüllung. Sie wecken Hoffnungen, die nicht erfüllt werden. Der Wunschtraum einer Geschäftstätigkeit mit
Haftungsbeschränkung ohne bestimmtes Stammkapital
wird zerplatzen, wenn die Banken die notwendigen Kredite aufgrund fehlenden Haftungskapitals verweigern
oder andere Sicherheiten verlangen. Nur für das Gefühl,
ein Unternehmen leichter und einfacher gründen zu können, ist die Schaffung Ihrer GmbH auf Raten der falsche
Weg.
({11})
Die Mini-GmbH wird auch schwerlich zu neuen seriösen Unternehmen führen; da bin ich ganz anderer
Meinung als Sie, Herr Kollege Hartenbach. Vielmehr
werden wir uns in dieser Runde sehr schnell damit beschäftigen müssen, welchen Imageschaden diese MiniGmbH der richtigen GmbH zugefügt hat.
({12})
Es mag zwar sein, dass es, wie Frau Zypries kürzlich
sagte, eines Signals zur schnelleren und einfacheren
Gründung von Unternehmen bedarf. Durch eine seriöse,
gute und fundierte Reform des Rechts der GmbH könnten wir den Unternehmern ein zeitgemäßes Gesetz an die
Hand geben. Dies allein wird bereits neuen Wind für die
erwünschte Wettbewerbsfähigkeit der GmbH in Europa
bringen. Eine kapitallose Kapitalgesellschaft brauchen
wir hierfür nicht.
Ich danke Ihnen.
({13})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Jürgen Gehb,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit, völlig frei zu reden,
habe ich mich heute einmal entschlossen, ein Manuskript heranzuziehen. Ich bitte also, mich von der geschäftsordnungsmäßigen Pflicht, in freier Rede zu sprechen, zu dispensieren. Das ist ein großes Glück für Dich,
meine liebe Mechthild Dyckmans; sonst hätte ich auf
das, was ich jetzt habe hören müssen, ganz anders repliziert.
({0})
Dennoch freue ich mich sehr, dass mich der Staatssekretär so gelobt hat. Der Herrgott, lieber Alfred, mag dir
deine maßlose Übertreibung verzeihen und mir, lieber
Herrgott, dass ich sie gerne gehört habe.
Meine Damen und Herren, als vor mehr als
100 Jahren die Gesellschaft mit beschränkter Haftung
das Licht der Welt erblickte, glaubten nur wenige an einen wirklich großen Erfolg dieser neuer Rechtsform. Sie
stand ziemlich im Schatten der bereits etablierten Aktiengesellschaft und war ein eher ungeliebtes Kind. Wie
so manches ungeliebte Kind konnte sich die GmbH aber
schnell aus diesem Dasein befreien und sich sehr rasch
zu einem richtigen Erfolgsmodell entwickeln. So wie
sich etwa in der Autobranche der Golf millionenfach als
Erfolgsmodell für die Mittelklasse etabliert hat, so ist die
GmbH zum bevorzugten Modell gerade für unseren
deutschen Mittelstand geworden. Über 1 Million Gesellschaften mit beschränkter Haftung sprechen für sich.
Doch Vorsicht, liebe Kolleginnen und Kollegen: So
wie ein Erfolgsauto der ständigen Modellpflege und ab
und zu auch einer richtigen Runderneuerung bedarf, um
weiterhin auf Erfolgskurs zu bleiben, so bedarf auch unser Erfolgsmodell GmbH einer Auffrischung - und dies
nicht nur, weil etwa der Motor ein bisschen schwächelt,
sondern auch und gerade, weil sich im Gesellschaftsrecht der Markt - um präzise zu sein: der europäische
Markt - doch sehr erheblich verändert hat.
Lange lebten wir in Deutschland quasi abgeschottet in
einer Art Paradies;
({1})
doch diese Zeiten gehören inzwischen der Vergangenheit
an. Ob es uns als nationalem Gesetzgeber gefällt oder
nicht: Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs der vergangenen Jahre hat rechtlich und faktisch
dazu geführt, dass europäische Gesellschaften hierzulande unter fremder Flagge operieren dürfen. So stehen
Firmengründern aus Deutschland alle in der EU angebotenen Gesellschaftsformen zur Verfügung. Nach wie vor
wird rege hierauf zurückgegriffen. Es mag zwar sein,
dass die Zahl der Limiteds zurückgegangen ist, aber
40 000 Limiteds - also davon jede fünfte Firmengründung nach wie vor in der Rechtsform der Limited - sprechen eine deutliche Sprache. Das kann doch nur heißen,
dass es offensichtlich eine starke Nachfrage nach ganz
speziellen Angeboten gibt, die bisher von keinem spezifisch deutschen Angebot abgedeckt werden konnte. Also
bedient man sich anderweitig und besonders gern bei der
britischen Limited.
Rechtspolitisch ist der Trend zu dieser britischen
Rechtsform allerdings überhaupt nicht erwünscht. Er
schadet nämlich den Gläubigern, weil der Gläubigerschutz bei der Limited nicht an das Niveau des Gläubigerschutzes bei der GmbH heranreicht. Er schadet den
Gesellschaftern, die eine Limited über den billigen Jakob beziehen und anschließend mit hohen Unterhaltungskosten und der erheblichen Gefahr persönlicher
Haftung zu kämpfen haben. Nicht zuletzt schadet er der
deutschen Rechtsordnung, da sich die Limited-Gründer
der Regelungshoheit des deutschen Gesetzgebers weitgehend entziehen. Ausländische Gesellschaften leben
nämlich auch in Deutschland nach ihrem eigenen nationalen Recht.
Als kleine Randbemerkung sei mir auch der Hinweis
gestattet, dass ausländische Gesellschaften zwar mithilfe
deutscher Anwälte gegründet werden mögen, sie aber
auf die Dauer dem deutschen Rechtsstab - von den Anwälten über die Notare bis zu den Gerichten - als Klientel allerdings dann doch verloren gehen.
Aber nicht nur die Konkurrenz ausländischer Rechtsformen war ein Impuls für die anstehende Reform des
GmbH-Gesetzes von 1892. Auch im gegenwärtigen
GmbH-Recht haben sich einige Lücken und Schwachstellen gezeigt. Diese müssen dringend abgestellt werden; wir stellen sie auch ab.
An erster Stelle sind die schon vom Parlamentarischen Staatssekretär Alfred Hartenbach genannten Firmenbestattungen zu nennen. Nach Beobachtungen von
Fachleuten werden mittlerweile massenweise insolvenzreife Unternehmen gezielt aufgekauft und zum Nachteil
der Gläubiger geplündert. Vor ein paar Tagen konnte
man in der FAZ lesen, dass allein bei einer bundesweiten
Razzia gegen Firmenbestatter festgestellt wurde, dass
274 Unternehmensverkäufe zum Nachteil von Gläubigern stattgefunden haben. Das ist ein Fingerzeig dafür,
liebe Kolleginnen und Kollegen, in welcher Größenordnung wir uns hier bewegen.
Erinnert sei auch daran, dass sich bestimmte Teile des
GmbH-Rechts gewissermaßen verselbstständigt haben.
Allen voran gilt das für das Eigenkapitalersatzrecht, das
sich in seiner derzeitigen Form kaum mehr am Wortlaut
des Gesetzes orientiert. Dafür füllt die dazu ergangene Judikatur mit inzwischen kaum noch überschaubaren Konstruktionen wie die eigenkapitalersetzende Nutzungsüberlassung oder die Vorratsgesellschaft ganze Bibliotheken.
Recht muss aber klar sein; denn Rechtssicherheit setzt
Verständlichkeit voraus. Wenn der Vorsitzende Richter
des II. Zivilsenats des BGH in einem Interview einräumt, er wisse, dass die einschlägige Rechtsprechung
kaum verständlich und vermittelbar sei, kommt dies
doch einem Offenbarungseid gleich. Hier sind wir an
den Grenzen des Richterrechts angelangt. Das Bestreben
der Obergerichte, ein Regelwerk von größtmöglicher
Gerechtigkeit zu schaffen, muss daher - und zwar von
uns als Gesetzgeber - dort zurückgeschnitten werden,
wo die Rechtsunsicherheit und die Beratungskosten das
gewonnene oder vermeintlich gewonnene Mehr an Einzelfallgerechtigkeit bei weitem übersteigen.
Die Quintessenz all dessen, meine Damen und Herren: So stolz man auf das Erfolgsmodell GmbH insgesamt sein kann, so darf man doch nicht aus den Augen
verlieren, dass die deutsche GmbH wie auch manche
Kollegin und mancher Kollege ein wenig in die Jahre gekommen ist. Eine Reform, und zwar eine gründliche Reform unseres GmbH- und anderer Teile des deutschen
Gesellschaftsrechts war daher dringend angezeigt.
({2})
- Schön, Herr Wieland, dass Sie sich diese Bemerkung
gleich zu eigen machen. Mein Blick hätte ein wenig länger auf Ihnen ruhen müssen.
({3})
Ich habe einen leichten Stau im mittleren Ring. Manche
sagen, ich hätte einen dicken Bauch; andere sagen, die
Beine stünden etwas weit hinten, Herr Wieland.
({4})
Das Ergebnis dieser Reform liegt Ihnen heute vor. Mit
all den vielen Neuerungen wird die GmbH-Novelle 2007
insgesamt eine Kleine Revolution sein, wie ein bekanntes Magazin titelte. Genau dies ist auch von der
Union, von unserem Berliner Koalitionspartner und, mit
Verlaub, auch ganz persönlich von mir so gewollt.
Wir stehen in einem europäischen Wettbewerb nicht
nur hinsichtlich der Erzeugung von Gütern und Dienstleistungen, sondern auch hinsichtlich der Rechtsordnungen und der Rechtsformen. Diesen Wettbewerb nehmen
wir an. Wir wollen und müssen ihn gewinnen. Wir wollen und müssen uns einfach auf dem europäischen Markt
behaupten können. Ich sage das nicht zuletzt vor dem
Hintergrund der Debatte über die Europäische Privatgesellschaft. Ich finde dieses Projekt gut, richtig und wichtig. Wer aber sieht, mit welch spitzen Fingern der zuständige EU-Kommissar Charlie McCreevy - so heißt er
wirklich - dieses Projekt anfasst, kann doch nicht einfach die Augen davor verschließen, dass die EPG nicht
heute, nicht morgen und allerfrühestens übermorgen,
wenn überhaupt, kommen wird.
({5})
- Herr Benneter, es ist schön, dass Sie Ihr Lachen
manchmal nicht unterdrücken können.
Vor diesem Hintergrund will ich, dass wir Deutschen
uns in einem reformierten nationalen und damit auch
gleichzeitig europäischen Angebot im Gesellschaftsrecht
gut und zukunftstauglich positionieren - und dies bereits
im kommenden Jahr. Daher war die Reform unseres Gesellschaftsrechts, das unter dem Etikett MoMiG das
Licht der Welt erblickt hat, so dringend nötig.
({6})
Anders als in anderen Konstellationen - ich will ja gar
nicht vom MiKaTraG und dem unsäglichen Mindestkapitalgesetz reden - werden wir, lieber Staatssekretär
Alfred Hartenbach, auch den Willen und die Kraft dazu
aufbringen, dass das nächstes Jahr im Bundesgesetzblatt
steht.
Wir wollen ganz gezielt mit den Mitteln des Rechts
auch Wirtschaftsförderung betreiben - ich sehe den
Wirtschaftsstaatsekretär Hartmut Schauerte - und Unternehmensgründern helfen. Ich war sehr erfreut, dass bei
den Beratungen im Bundesrat daher meine, unsere Idee
der Unternehmergesellschaft auf so positiven Widerhall
gestoßen ist. Das war nicht immer so. Ich habe aber natürlich eine erbitterte Kritikerin mit meiner Kasseler
Kollegin Mechthild Dyckmans. Am Ende allerdings
wird man sehen, dass sich alle als Erfinder dieser Gesellschaftsform gerieren, ähnlich wie bei der Idee von der
Du, liebe Mechthild, eben meintest, es sei eine der FDP
gewesen. Insofern empfehle ich nur die Lektüre meines
Aufsatzes in der NZG 2006. Da wurde das alles schon
erwähnt.
({7})
Jürgen Möllering, Leiter der Rechtsabteilung des
DIHK, hatte recht, als er im Focus im Mai dieses Jahres
sagte:
Es gibt unterschiedliche Bedürfnisse zwischen klassischem Mittelstand und Kleingewerbe.
Da für manchen Gründer auch noch 10 000 Euro
Gründungskapital zu viel
sei, lautete seine Forderung:
Wir brauchen noch eine zusätzliche Rechtsform für
die ganz Kleinen.
({8})
So galt es, im Gesetz einen Weg zu finden, um Existenzgründer und Kleingewerbetreibende auch bei Vorhaben mit geringem Kapitalbedarf in den Genuss der Haftungsbeschränkung zu bringen, ohne dass dies zulasten
des Gläubigerschutzes geht. Außerdem, verehrte Frau
Kollegin Dyckmans, liebe Mechthild, wer glaubt, dass
das Stammkapital am Anfang ausreicht, um die Gläubiger zu befriedigen, der ist nicht von dieser Welt. Ich gebe
ja gerne zu, dass es eine gewisse Seriositätsschwelle ist
und etwa Erhebungen der Creditreform besagen, dass es
eine gewisse Korrelation zwischen der Höhe des Stammkapitals und der Häufigkeit der Insolvenzen gibt.
({9})
Das Entscheidende ist aber, dass man für die Dauer des
Bestands der Gesellschaft Kapital hat und nicht nur am
Anfang.
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage der
von Ihnen so geschätzten Kollegin Dyckmans zulassen?
Aber selbstverständlich.
Bitte schön.
Lieber Kollege Gehb, ist dir bekannt,
({0})
dass vor etwas mehr als 25 Jahren hier in diesem Hause,
damals noch in Bonn, das Mindestkapital von damals
20 000 D-Mark auf 50 000 D-Mark heraufgesetzt
wurde? Ist dir bekannt, aus welchen Gründen das damals
gemacht wurde?
Ich darf dir vielleicht einfach einmal aus der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses vorlesen.
({1})
Dort heißt es, es liege auf der Hand, dass der bisherige
Betrag von 20 000 D-Mark nicht mehr ausreichend sei,
um eine Haftungsbeschränkung zu rechtfertigen. Dieser
seit 1892 nicht erhöhte Betrag müsse den heutigen wirtschaftlichen Verhältnissen zumindest in etwa angenähert
werden.
({2})
Damals ist die Mehrheit davon überzeugt gewesen, dass
die Anhebung des Mindeststammkapitals mit dazu
beitragen [werde], die erhebliche Konkursanfälligkeit der kleinen GmbH, die unzweifelhaft gegeben
sei, zu vermindern und unsolide Gründungen weitgehend zu verhindern.
({3})
Ich frage dich: Trifft das heute nicht mehr zu? Hat
sich da so viel verändert?
Verehrte Mechthild, ich finde es zunächst einmal außergewöhnlich schön, dass der Fragesteller die Antwort
gleich mitliefert. Der erste Teil der Frage, ob ich wüsste,
wie das war und wie es damals begründet wurde, ist also
beantwortet. Die Antwort hast du ja mit lauter Stimme
und Betonung vorgelesen.
Zur Frage, ob ich es richtig finde: Ich bin der Meinung - ich habe das auch in meinen wissenschaftlichen
Veröffentlichungen gesagt - ({0})
- Ja, so ist das. Ihr dürft nicht immer nur die St. PauliNachrichten lesen.
({1})
Ihr müsst auch mal die GmbH-Rundschau lesen. - Ich
habe das immer gesagt; ich stehe auch heute noch dazu.
Ich bin jetzt nicht ganz sicher, ob das nicht unparlamentarisch war.
Nur die Bemerkung oder die Zeitschrift?
({0})
Frau Präsidentin, ich bitte, mir nachzusehen, wenn diese
Zeitschrift unparlamentarisch ist.
({1})
Dass sie aber gelesen wird, dafür kann ich nichts.
Ich möchte festhalten: Ich habe schon immer die Auffassung vertreten - ich vertrete sie auch heute noch -,
dass das bloße Drehen an der Stellschraube Stammkapital eigentlich gar nichts hergibt.
1892 - das war über 30 Jahre vor Einführung der
Reichsmark. Damals konnte man von dem Geld ein ganzes Haus kaufen. Heute sind 25 000 Euro oder gar
10 000 Euro dagegen natürlich nur noch eine Quantité
négligeable. Wenn man mich also fragt, ob das zutrifft,
kann ich nur antworten: Das hat damals nicht zugetroffen; es trifft auch heute nicht zu. Deshalb gehe ich relativ
leidenschaftslos an die Frage heran, ob das Stammkapital diese oder jene Höhe haben soll. Wenn der Betrag
alle zehn Jahre hoch- und runtergeht, zeigt das doch,
dass es kein taugliches Instrument ist.
Ich fahre fort. Bei diesem Gesetz galt es, einen Weg
zu finden, um Existenzgründer und Kleingewerbetreibende mit geringem Kapitalbedarf in den Genuss der
Haftungsbeschränkung zu bringen. Ich habe das eben
schon gesagt; das wird den Stenografen auffallen; so
brauchen sie es nicht doppelt zu schreiben. Ebenso sollte
die Gründung schnell, unbürokratisch und preiswert erfolgen können. Das sind gerade für Existenzgründer gewichtige Faktoren bei der Wahl der von ihnen präferierten Rechtsform.
Die Lösung stellt nun die neu entwickelte Unternehmergesellschaft in § 5 a des Gesetzentwurfs dar, die gegenüber ursprünglichen Ideen allerdings nun recht
schlank daherkommt. Ich hatte einmal einen Gesetzentwurf mit 76 Paragrafen entwickelt. Er war ziemlich dick:
Er hatte nicht nur einen relativ weiten Beinhinterstand,
sondern er war wirklich dick. Nun ist er auf fünf Absätze
abgespeckt.
({2})
Die Unternehmergesellschaft unterliegt dem Regime des
GmbH-Rechts. Es ist keine andere Rechtsform; wir bewegen uns in dem Regime, das es schon immer gab.
Deswegen bin ich der Meinung, dass das eine sehr - ({3})
- Es ist auch einiges verloren gegangen. Heute ist aber
nur die erste Lesung. Wir werden das nachher an die
Ausschüsse überweisen. Dort werden wir wie immer
externen Sachverstand zu Rate ziehen. Da wird man sehen, ob ich nicht vielleicht das eine oder andere, was ich
schon einmal vorgeschlagen habe, doch wieder - von
hinten durch die Brust ins Auge - reaktivieren kann, lieber Freund Montag.
({4})
- Normenkontrollrat? Da ist es schon abgesegnet worden; ich habe dafür schon eine Flasche Schampus bekommen.
({5})
Meine Damen und Herren, darüber hinaus betreffen
viele zusätzliche Änderungen des Regierungsentwurfs
die Unternehmergesellschaft und die GmbH in gleicher
Weise. Ich sagte ja, dass die Vorschriften auch für die - ({6})
- Sagt nicht immer Mini-GmbH. Das tut meiner Seele so
weh. Es handelt sich um die Unternehmergesellschaft
({7}). Diese Diminuierung auf Mini-Gesellschaft wollen wir nicht haben. - Die Vorschriften
stellen damit insgesamt bemerkenswerte Innovationen
gegenüber dem geltenden Recht dar.
Ich sagte schon: Wir werden im weiteren Verfahren
noch über viele Details des Gesetzentwurfs reden. Aufmerksamen Beobachtern wird nicht entgangen sein, dass
beispielsweise die Frage der Mustersatzung schon im
Bundesrat zu intensiver Diskussion geführt hat; namentlich Justizministerin Kolb hat dort kritische Töne angeschlagen. Die Notare kämpfen noch für die Beibehaltung
der Beurkundungspflicht anstelle der bloßen Beglaubigung. Außerdem stellt sich die Frage, ob wir, wenn wir
schon keine Steuererklärung auf dem Bierdeckel hinbekommen, vielleicht ein Gründungsprotokoll in Bierdeckelgröße hinbekommen. All das, liebe Kolleginnen und
Kollegen, werden wir im parlamentarischen Beratungsverfahren erörtern.
({8})
Wir werden dann sehen, was im nächsten Jahr daraus geworden sein wird.
({9})
Frau Präsidentin, da hier dauernd die Zuschauer
wechseln, will ich folgende Schlussbemerkung machen:
Ich finde es sehr schön, dass wir auch Debatten führen,
in denen wir uns nicht gegenseitig als Brunnenvergifter,
als Sicherheitsrisiko oder - manch einer versteigt sich
sogar zu dieser Bezeichnung - als Mörder bezeichnen.
Wir können vielmehr auch auf hohem Niveau ein bisschen spaßig sein; das ist das Schöne an den Rechtspolitikern. Wenn das in anderen Politikbereichen auch so
wäre, dann würde sich manch ein Zuschauer nicht mit
solch einem Grauen von uns abwenden.
({10})
Ich möchte Ihnen allen - bzw. fast allen; Sie von den
Linken sind leider nie dabei - noch etwas sagen.
({11})
Herr Kollege, bevor Sie jetzt noch vor den Zuschauern sagen, mit wem Sie diese Flasche Champagner trinken wollen,
({0})
muss ich Ihnen mitteilen: Ihre Redezeit ist weit überschritten.
Ich hätte es Ihnen gerne verraten; aber das Ende meiner Redezeit verbietet es mir.
Frau Präsidentin, ich bedanke mich für Ihre Großzügigkeit, und Ihnen, meine Damen und Herren, danke ich
für Ihre Aufmerksamkeit. Ich wünsche Ihnen noch einen
schönen Tag!
({0})
Zumal die Zuschauer weder lachen noch applaudieren
können, Herr Gehb,
({0})
weder das eine noch das andere.
Jetzt hat der Kollege Dr. Herbert Schui für Die Linke
das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer das
Recht auf Gewinn in Anspruch nimmt, hat auch die
Pflicht, für das Risiko einzustehen; das ist der Grundsatz. Weil das so ist, beschäftigt sich die Fachwelt in
Großbritannien und in den USA zunehmend mit Unternehmen der Rechtsform Limited Liability. Erst im Juli
dieses Jahres fand an der University of London, im College SOAS, eine Konferenz zu diesem Thema statt, die
vom Guardian ebenso wie von der Financial Times in
London sehr positiv kommentiert worden ist. Über dieses Thema wird also diskutiert, und das nicht nur in irgendeinem Keller und nicht nur von Gruppierungen, die
Sie vielleicht nicht so sehr mögen.
Die Grundlage der kritischen Argumentation - hier
wird oft auf Smith Bezug genommen - ist die Folgende:
Gleichheit vor dem Gesetz für alle, also auch für juristiDr. Herbert Schui
sche Personen und damit auch für Unternehmen und Anteilseigner. Alle müssen im Sinne eines bürgerlichen
Rechtsverständnisses die Verantwortung für die Folgen
ihres Handelns tragen. Ausnahmen, die durch Gewinnaussichten und - gegebenenfalls vorgeschützte - günstige Wirkungen auf die Gesamtwirtschaft gerechtfertigt
würden, dürfe es, so die kritische Argumentation, im
Grundsatz nicht geben.
Die Bundesregierung will mit ihrem Gesetzentwurf
offenbar dazu beitragen, dass wir der gegenwärtigen angelsächsischen Rechtspraxis näherkommen. Ein Widerschein der aktuellen Debatte in diesen Ländern lässt sich
im Gesetzentwurf dagegen nicht finden, ein unter strafrechtlichen Gesichtspunkten verschärftes Haftungsrecht
ebenfalls nicht.
Eine Haftungsbeschränkung stellt von der Sache her
eine Risikoverlagerung dar. Folglich sind drei Fragen,
die bei jeder Verteilung von Risiken zu stellen sind, auch
an die GmbH-Novelle der Bundesregierung zu richten:
Erstens. Kann die Risikoentlastung von Unternehmen
ein gewünschtes wirtschaftliches Verhalten auslösen?
Zweitens. Wird die Haftungsbeschränkung nicht zu
einer Einladung zu unerwünschtem, verwerflichem, im
Extremfall sogar kriminellem Verhalten?
Drittens. Wer, wenn nicht der Unternehmer selbst,
trägt an dessen Stelle die Risiken?
Die erste Frage beantwortet die Bundesregierung
ideologisch: Schneller, kostengünstiger und mit geringerer Haftung Unternehmer zu werden, das müsse doch, so
die Bundesregierung, auf jeden Fall etwas Gutes sein.
Besonders problematisch an der GmbH-Novelle sind
die vorgesehenen Mustersatzungen. Der Notar soll nun
nicht mehr die Rechtmäßigkeit des Gründungszwecks
feststellen. Er soll nicht mehr das Verhältnis zwischen
den Gesellschaftern und der Kapitalaufbringung prüfen.
Er soll nur noch die Personenidentität der Gründer beglaubigen.
Mustersatzungen mögen im simplen Fall einer Einpersonengesellschaft in Form einer GmbH mit eindeutigem Gründungszweck der Vereinfachung dienen. Aber
spätestens wenn zwei Gesellschafter im Spiel sind oder
wenn der Unternehmensgegenstand einer Präzisierung
bedarf, verwandelt sich das von der Bundesregierung gebotene Gründungsset in eine Einladung, sich als Geschäftszweck alles Mögliche mit allerlei Leuten vorzunehmen. Dann entsteht die Hoffnung, dass das Formblatt
den eigenen Verstand, privatwirtschaftliche Selbstorganisation und eingehende Rechtsberatung ersetzen könne.
Die Folge wird sein, dass die nachträglichen Beratungs- und Rechtskosten steigen. Es wird zu mehr gerichtlichen Streitfällen kommen. Deswegen sind eindeutige Spielregeln, klare Regulierungen eine Forderung
politisch sehr unterschiedlicher Richtungen. Die Gesetzesnovelle trägt all dem nicht Rechnung. Sie schafft
Chaos statt eine Ordnung, in der sich Erwerbstätigkeit
entwickeln kann. Das ist gegen die etwas höheren Kosten der jetzigen GmbH-Beurkundung aufzurechnen. Da
gewinnt in jedem Falle die gegenwärtige Rechtsetzung.
Weshalb bedeuten der Bundesregierung all diese Einwände nichts? Weil die Einführung des Mustergesellschaftsvertrages
den Forderungen der Wirtschaft
entspricht; so ist auf Seite 1 von Anlage 3 des Gesetzentwurfs zu lesen. Wenn das so ist, dann lasst doch gleich
den Bundesverband der Deutschen Industrie die Gesetzesvorlagen ausarbeiten. Wir begründen sie in Kurzreden dann damit, dass sie den Interessen der Wirtschaft
entsprechen - dann ist der Bart ab!
({0})
Sicherlich kann eine Haftungsbeschränkung unter bestimmten Bedingungen sinnvolle Projekte ermöglichen,
die bei voller Deckung durch das Privatvermögen ausbleiben würden. Dann ist aber sicherzustellen, dass es zu
keiner unerwünschten Risikoverlagerung zulasten Dritter kommt. Folglich sind Vorkehrungen zu treffen, damit
die Risiken nicht billig und für die Verursacher folgenlos
auf Gläubiger, Lieferanten und andere überwälzt werden. Wichtig ist - das fehlt in dem Gesetzentwurf -, dass
als Pendant zu der vorgesehenen Haftungsreduzierung
Transparenz und Intransparenzhaftung deutlich verbessert werden.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen, bitte.
Ich bin sofort durch. - Bei strafrechtlich relevanten
Fällen fehlt eine klare Durchgriffshaftung ins Privatvermögen. Es fehlen Ausschlussgründe für straffällig gewordene Geschäftsführer.
({0})
Herr Kollege!
Es fehlt ein Berufsverbot im Sinne des BGB für Gesellschafter und Geschäftsführer, die sich an das Recht
nicht halten.
Der Gesetzentwurf trägt dem Interesse der Allgemeinheit also insgesamt nicht Rechnung. Ihm ist nicht
zuzustimmen.
Vielen Dank.
({0})
Jerzy Montag spricht jetzt für Bündnis 90/Die Grünen.
Danke, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In unserem Land entschließen sich jedes Jahr
viele Menschen, selbstständig wirtschaftlich tätig zu
werden. Ich sage für uns Grüne ausdrücklich: Wir heißen
das gut, wir halten das für richtig und für notwendig. Wir
brauchen Unternehmensgründungen, und wir wollen
alles dafür tun, dass es insbesondere jungen Menschen,
aber nicht nur diesen, erleichtert wird, selbstständig als
Unternehmer - im Dienstleistungssektor genauso wie im
Produktionssektor - tätig zu werden.
({0})
Aus dem letzten Beitrag, den wir gehört haben, habe
ich so etwas wie eine prinzipielle Gegnerschaft gegen
eine solche Betrachtungsweise herausgehört. Ich kann
Ihnen nur sagen: Wer gute Löhne für Arbeitnehmer
will - das wollen wir -, der muss auch die Wirtschaft
und das Unternehmertum selbst unterstützen; sonst geht
die Gleichung in einer sozialen Marktwirtschaft nicht
auf.
({1})
Hunderttausende machen sich einfach auf den Weg
und nutzen nicht die Rechtsform einer Gesellschaft, die
ihnen der Staat bietet, sondern handeln als Einzelkaufleute - mit vollem Risiko, mit voller Haftung. Andere
nehmen die Möglichkeit wahr, ihre wirtschaftliche Tätigkeit in einer GmbH, also mit einer beschränkten Haftung, auszuüben. Das muss auf der anderen Seite dann
aber natürlich auch mit einem gewissen Schutz verbunden sein. Das ist schon dargestellt worden, und ich brauche darauf nicht näher einzugehen.
In der Europäischen Union hat es einen dramatischen
Wandel in dieser Richtung gegeben. Durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs wurde der abgeschottete nationale Rechtsmarkt für diese Materie aufgebrochen, und es gibt nun eine Konkurrenz mit anderen
europäischen Rechtsinstituten. Dem müssen wir uns
stellen. Wir finden das richtig, aber wir glauben nicht,
lieber Kollege Gehb, dass die Einrichtung einer MikroGmbH, quasi einer GmbH light, neben einer jetzt
schon wieder verschlankten GmbH die richtige Lösung
ist.
({2})
Wir finden, dass gerade diejenigen, die keine GmbH
gründen, sondern sozusagen als Einzelkaufleute oder in
einer BGB-Gesellschaft beginnen wollen, in einer Personengesellschaft mit beschränkter Haftung wie in einer
Gesellschaft mit beschränkter Haftung tätig werden können sollten.
({3})
Wir wollen also nicht irgendein Minus zur GmbH, sondern etwas ganz anderes, das gerade auf diesen Personenkreis zugeschnitten ist.
({4})
- Ja, aber Sie haben das im Gegensatz zu uns aufgegeben.
({5})
Ich finde es ganz interessant, dass sich die Wirtschaftspartei FDP um diese Frage völlig herumdrückt,
kein einziges Wort dazu sagt
({6})
und den Vorschlag der Regierung, der nicht optimal ist,
ablehnt, ohne einen eigenen zu machen. Ich finde es allerdings auch interessant, dass der Staatssekretär den
Koalitionspartner für sein Engagement und für die Tatsache gelobt hat,
({7})
dass Sie sich, Herr Gehb, zu einem kleinen Teil - 60 Paragrafen
({8})
sind auf einen zusammengeschmolzen, nämlich auf den
§ 5 a des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung - durchgesetzt haben.
Ich darf an dieser Stelle zitieren, was die Bundesjustizministerin, Frau Zypries, noch im März dieses Jahres
im Handelsblatt zu dieser Frage geäußert hat:
Offen gesagt konnte mir noch keiner erklären, worin der Mehrwert einer weiteren Gesellschaftsform
unterhalb dieser verschlankten GmbH liegen soll.
({9})
Nun, einige Monate später, werden Sie vom Staatssekretär dafür gelobt, dass Sie die Ministerin offensichtlich
auf einen anderen Weg gebracht haben.
Lieber Kollege Dr. Gehb, in dem gleichen Beitrag
steht allerdings auch, was Sie eigentlich wollten. Ich
nehme an, Sie werden dort richtig zitiert. Sie wollten
nach Ihren Überlegungen den Schutz der Vertragspartner
von denjenigen, die sich im geschützten Raum einer
GmbH wirtschaftlich betätigen, ein Gläubigerforum und
strenge Haftungsvorschriften. Davon ist in dem Gesetz
nichts mehr zu lesen.
Zum Schluss meiner Ausführungen will ich noch sagen: Es wundert mich, dass in dieser Debatte von keiner
Fraktion die steuerrechtliche Seite der Vorschläge, die
auf dem Tisch liegen und diskutiert werden sollen, angesprochen worden ist. Gerade durch das Angebot an
Existenzgründer, sich ausschließlich in einer MikroGmbH wirtschaftlich zu betätigen, werden sie steuerrechtlich in das System der Körperschaftsteuern gestoßen. Mit unserem Vorschlag einer Personengesellschaft
mit beschränkter Haftung wollen wir die Vorteile, die
sich aus der persönlichen Besteuerung ergeben, mit den
Möglichkeiten des Handelns in einem geschützten
Raum, aber auch mit strengen Regeln für Publizität und
Transparenz verbinden. Dazu werden wir noch Vorschläge machen.
Ich danke Ihnen und freue mich auf die Debatte im
Ausschuss.
({10})
Jetzt gebe ich dem Kollegen Klaus Uwe Benneter das
Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Uns liegt ein wichtiger Gesetzentwurf vor. In
Deutschland gibt es derzeit schätzungsweise mehr als
900 000 GmbHs. Die GmbH ist die Rechtsform des
deutschen Mittelstandes und bis heute ein Erfolgsmodell.
({0})
Alfred Hartenbach hat bereits darauf hingewiesen.
In der Rechtsform der GmbH können Existenzgründer ihr Unternehmen beginnen. Sie können ihr Unternehmen als GmbH auch stabilisieren und wachsen lassen. Die GmbH ist eine attraktive Rechtsform, und das
soll auch so bleiben.
Trotzdem besteht in vielerlei Hinsicht Reformbedarf.
Meine Vorredner haben dazu schon einiges gesagt. Das
Recht der Kapitalaufbringung und -erhaltung ist überkompliziert. Hinzu kommt, dass auch das schönste und
komplizierteste Kapitalschutzrecht nichts nützt, wenn
sogenannte Firmenbestatter professionell mit relativ einfachen Mitteln eine ordnungsgemäße Insolvenz verhindern können. Die Geschäftsführer werden abberufen und
das Geschäftslokal aufgegeben mit dem Ergebnis, dass
die GmbH keine Adresse mehr hat und ihr niemand
mehr etwas zustellen kann. Solche Machenschaften werden wir verhindern.
Außerdem haben wir inzwischen ausländische Konkurrenz im Land, vor allem die britische Limited, die mit
wenig bürokratischem Aufwand und ohne Mindestkapital gegründet werden kann. Schließlich werden die Stimmen immer lauter, die meinen, es sei besonders wichtig,
dass eine GmbH sehr schnell - praktisch über Nacht und besonders preisgünstig gegründet werden kann.
Auch wenn mir die Bedeutung dieses Punktes etwas
übertrieben erscheint, ist etwas Wahres daran.
Es ist deshalb gut, dass die Justizministerin mit ihrem
Gesetzentwurf den Reformbedarf aufgegriffen hat. Es ist
bekannt, dass der Referentenentwurf kurz vor der Kabinettsbefassung noch in entscheidenden Punkten geändert
worden ist. Neu aufgenommen wurde vor allem das völlig neue Konzept der Unternehmergesellschaft, besser
bekannt unter dem Stichwort Mini-GmbH. Wir wissen
- auch wenn Sie das nicht gerne hören, Herr Gehb -,
dass die Möglichkeit einer einfach, billig und praktisch
ohne Stammkapital zu gründenden Unternehmergesellschaft ein besonderes Anliegen unseres Kollegen Gehb
war,
({1})
und ich teile inzwischen auch seinen Grundansatz: Es
gibt sicherlich Unternehmen, die mit weniger Stammkapital als 25 000 Euro oder auch 10 000 Euro auskommen
können, ohne dass sie deshalb unseriös oder ohne Erfolgsaussichten sein müssen. Wir sollten diesen Unternehmen eine einfache, billige und deutsche Rechtsform
zur Verfügung stellen. Es ist nicht gut, wenn solche Existenzgründer nur auf die britische Limited zugreifen können, die in britischen Handelsregistern angemeldet werden muss und nach britischem Recht funktioniert oder in
vielen Fällen eben auch nicht.
Mir persönlich hat zu Beginn dieser Diskussion und
der ersten Gehbschen Überlegungen der Gedanke nicht
gefallen - Jerzy Montag, ich bitte um Aufmerksamkeit -,
dass wir zu der Vielzahl von Rechtsformen, die das deutsche Gesellschaftsrecht seinen Unternehmen zur Verfügung stellt, noch eine weitere Rechtsform hinzuerfinden
und damit das deutsche Gesellschaftsrecht um weitere juristische Probleme und Kommentare bereichern sollen.
Denn eigentlich wollen wir unser Recht insgesamt etwas
einfacher, verständlicher und übersichtlicher gestalten.
Insofern kann sich die Lösung, die das Justizministerium gefunden hat, sehen lassen. Die neue sogenannte
Unternehmergesellschaft - sprich: Mini-GmbH - ist von
wenigen Besonderheiten abgesehen eine echte GmbH
und richtet sich nach GmbH-Recht. Durch die Rücklageverpflichtungen wird sie bei gutem Gang der Geschäfte
automatisch zu einer ganz normalen GmbH und kann
sich auch umbenennen. Sie wächst also sozusagen zur
GmbH heran.
Ich denke, das ist eine elegante Konstruktion: Wir haben eine schlanke Regelung und müssen keine neue
Rechtsform erfinden. Trotzdem ist die neue Unternehmergesellschaft namensmäßig deutlich von den alten,
bestehenden GmbHs unterscheidbar. Das halte ich für
ausgesprochen wichtig. Denn wir sollten uns nichts vormachen: Wenn wir eine solche billige Rechtsform anbieten, werden auch Miniunternehmen gegründet werden, die dann doch keine echte Chance am Markt haben
und scheitern. Wenn dies massenhaft geschieht, dann
wird sich die Mini-GmbH am Markt nicht durchsetzen.
Ihr Ansehen würde durch zu viele unsolide Mitspieler
geschädigt werden. Das muss nicht so kommen, aber wir
sollten es in unseren Beratungen mitbedenken. Die
Mini-GmbH ist auch eine Art gesetzgeberisches Experiment. Wir wissen heute noch nicht, wie ein solches Experiment enden wird.
Die GmbHs mit einem Stammkapital von mindestens
25 000 Euro dürfen jedenfalls nicht entwertet werden.
Man muss den Unterschied zur Mini-GmbH erkennen
können. Das werden wir bei unseren weiteren Beratungen zu berücksichtigen haben.
Es erscheint mir sinnvoll, das vereinfachte Gründungsverfahren hauptsächlich auf die neue Mini-GmbH,
also die Unternehmergesellschaft, zu beschränken. Bedenkenswert erscheint mir das vorgeschlagene Gründungsprotokoll anstelle der im Gesetzentwurf vorgese11894
henen Mustersatzung. Wir sollten die Vielzahl von
Anregungen des Bundesrates, der sich mit dem Gesetzentwurf sehr eingehend befasst hat, bei unseren Beratungen sehr genau prüfen. Die Herabsetzung des Stammkapitals von 25 000 Euro auf 10 000 Euro ist nicht
notwendig, wenn zukünftig die Möglichkeit besteht, eine
Mini-GmbH mit einem Stammkapital zwischen 1 Euro
und 25 000 Euro zu gründen.
An dieser Stelle möchte ich auf ein Anliegen zu sprechen kommen, das mir wichtig ist. Wenn wir für die Kapitalgesellschaft GmbH mit der neuen Mini-GmbH einen solchen einfachen Zugang ermöglichen, dann sollten
wir das auch für Genossenschaften tun; denn sonst wird
die teure Genossenschaft vollends von der neuen preiswerten Mini-GmbH verdrängt. Genossenschaften sind
Gemeinschaften, die zusammen in Selbsthilfe und
Selbstverwaltung mehr bewirken wollen, als es jeder für
sich alleine könnte. Ich bin überzeugt, dass an solchen
Gemeinschaften ein wachsender Bedarf besteht. Wir
sollten deshalb die Rechtsform der Genossenschaft stärken. Sie wird zunehmend weniger gewählt, weil die
Gründungskosten und die Rechtsformkosten zu hoch
sind. Wir sollten deshalb auch die Gründung von Minigenossenschaften ermöglichen. In der Schweiz gibt es
entsprechende Modelle. Diese sollten wir uns ansehen.
Wir werden alle Fragen und Anregungen des Bundesrates sorgfältig prüfen. Das Ziel ist klar: Wir wollen das
Erfolgsmodell GmbH fortsetzen. Der vorliegende Gesetzentwurf bietet eine gute Grundlage für unsere weiteren Beratungen.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Die Fraktionen haben vereinbart, den Gesetzentwurf
auf Drucksache 16/6140 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi,
Dr. Barbara Höll, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Steuerflucht wirksam bekämpfen
- Drucksachen 16/2524, 16/5673 Berichterstattung:
Abgeordnete Simone Violka
Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der
Kollegin Simone Violka für SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist zu erwarten, dass Herr Gysi - genauso
wie bei der ersten Lesung im November 2006 - durch
das Aufzählen negativer Beispiele den Eindruck erwecken will, alle, die viel Geld verdienen, seien potenzielle
Steuerflüchtlinge und hätten den ganzen Tag nichts weiter zu tun, als die Stunden zu zählen, die sie noch in
Deutschland sein müssen, um sich nicht wegen Steuerhinterziehung strafbar zu machen. Es mag solche Fälle
durchaus geben. Aber ich nehme an, dass das Einzelfälle
sind. Sie selbst sprechen in Ihrem Antrag von Scheinwohnsitzen. Es geht also gar nicht um Menschen, die das
deutsche Steuerrecht legal nutzen, sondern um solche,
die sich schon nach geltendem Recht strafbar machen
und die dafür auch bestraft und zur Kasse gebeten werden.
({0})
Warum sollten diese Menschen, die schon heute wissentlich gegen geltendes Steuerrecht verstoßen, bei geändertem Recht plötzlich brave Steuerzahler werden?
Diese Haltung ist mehr als blauäugig.
Mir ist wichtig, das von Ihnen verbreitete Bild, viele
Bürgerinnen und Bürger, die viel verdienen, würden sich
permanent ihrer Steuerpflicht entziehen, zu entschleiern.
Es gibt nämlich in diesem Land viele Leistungsträger,
die nicht nur ihre Steuern pünktlich zahlen, sondern die
auch einen nicht unerheblichen Teil ihres Vermögens der
Gesellschaft wieder zur Verfügung stellen. Ich erinnere
an die vielen Stifterinnen und Stifter, ohne deren Engagement unsere Kulturlandschaft viel ärmer wäre. Ich
erinnere auch an die vielen Menschen, die nicht nur Zeit,
sondern auch viel privates Geld einsetzen, um Vereine,
soziale Einrichtungen, Sportveranstaltungen, Kultur,
Schulen und vieles mehr zu unterstützen. Das tun sie
häufig, ohne genannt zu werden, weil es für sie einfach
normal ist, sich so zu verhalten. Vielleicht ist das der
Grund, weshalb die Linke so tut, als würde es das nicht
geben.
({1})
- Wenn Sie mich etwas fragen wollen, dann melden Sie
sich zu einer Zwischenfrage. Ansonsten halten Sie mich
nicht von meiner Rede ab.
({2})
Möchten Sie die Zwischenfrage des Kollegen zulassen?
Gerne.
Bitte schön.
Frau Violka, ich bin ein bisschen überrascht und muss
deshalb an der Stelle nachfragen. Ich erlebe hier im Plenum regelmäßig, dass gerade Ihre Fraktion, wenn es um
Vorschläge der Linken etwa zu Fragen der Vermögensteuer geht, uns erzählt, wenn man unseren Vorschlägen
folgte, gingen die Leute massenhaft ins Ausland, und wir
würden deshalb die Einnahmen überschätzen. Können
Sie mir erklären, wie diese zwei Aussagen zueinanderpassen? Welche stimmt denn nun?
Es gibt durchaus solche Fälle. Das will ich gar nicht
verschweigen; das habe ich in meiner Rede im letzten
Jahr gesagt. Ich finde das nicht gut. Letztendlich gilt es,
an dieser Stelle die Linie zwischen legalem Verhalten
und illegalem Verhalten zu ziehen. Das ist das Wichtige
in diesem Zusammenhang. Sie können Leute nicht in
Deutschland festbinden. Ich werde auch in dieser Rede
erwähnen - das habe ich schon letztes Jahr gesagt -, dass
ich mir darüber eine breit angelegte moralische Debatte
wünschen würde. Man sollte auch als Verbraucher entsprechend reagieren und ein solches Verhalten nicht dadurch unterstützen, dass man Produkte von solchen Leuten kauft, solche Leute in Deutschland hofiert und ihnen
auch noch Ehrenbürgerschaften anbietet. Das ist eine
moralische Debatte, die wir führen müssen. Wir können
das nicht über das Steuerrecht regeln.
({0})
Ich habe manchmal wirklich den Eindruck, dass all
das, was nicht in der Zeitung steht, für Sie nicht existiert,
und dass all das, was in der Zeitung steht, sofort verallgemeinert wird. Sie haben ein zu einfaches Weltbild.
Dass Sie dieses einfache Weltbild haben, spiegelt sich in
Ihrem Antrag mehrfach wider. So ist in Ihrem Antrag zu
lesen:
Die Anknüpfung der unbeschränkten Steuerpflicht
an die Staatsbürgerschaft begründet sich insbesondere daraus, dass auch Personen, die ihren Wohnsitz verlegen, zuvor öffentlich finanzierte Infrastruktur z. B. im Bereich Bildung und Ausbildung
für sich und teilweise ihre Kinder in Anspruch genommen haben.
Das stimmt, und das würde ich sofort unterschreiben.
Aber Sie müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass sich
unsere Welt verändert hat.
Europa ist in dieser Frage noch nicht ganz bei Ihnen
angekommen. Wie verhält es sich denn mit Ihrem Argument, wenn zum Beispiel ein deutsches Paar - aus welchen Gründen auch immer - beschließt, nach Spanien,
Italien oder Frankreich zu ziehen? Das Paar bekommt
Kinder, die dort aufwachsen. Wenn diese Kinder als Erwachsene nach Deutschland zurückkehren, dann müssten sie nach Ihrer Logik, weil sie nicht die deutsche Infrastruktur in Anspruch genommen haben, sondern die
französische, italienische oder spanische, ihre Steuern in
das entsprechende Land überweisen. Ihr Vorschlag hinkt
an dieser Stelle und funktioniert nicht so einfach.
({1})
- Aber wenn sie danach nach Deutschland zurückkehren
und hier leben, zahlen sie in Spanien keine Steuern. Sie
müssen mir einmal erklären, wie das gehen soll.
Wie verhält es sich denn in dem Fall, wenn die im
Ausland gezahlte Steuer höher als die ist, die in Deutschland zu zahlen ist? Sie wollen doch die Steuern verbinden.
({2})
Das habe ich Herrn Gysi schon einmal gefragt. Ich hätte
mich gefreut, im Ausschuss mit ihm darüber diskutieren
zu können. Er hat es auch angeboten, aber er war nie im
Ausschuss.
({3})
Vielleicht beantwortet er dann hier meine Fragen.
Wir haben ein funktionierendes Steuerrecht, und die
Doppelbesteuerungsabkommen, die wir haben, funktionieren gut. Was, glauben Sie, käme heraus, wenn wir
jetzt mit über 90 Staaten, die alle eigene Interessen vertreten, in neue Verhandlungen eintreten würden? Nein,
in Europa lassen wir die Finger von solchen steuerpolitischen Alleingängen und arbeiten besser an einer europäischen Harmonisierung auf steuerlichem Gebiet.
({4})
Das bringt Europa viel mehr nach vorne und macht es
handlungsfähig. Wir brauchen, was steuerliche Probleme angeht, eine enge europäische Zusammenarbeit.
Dann lassen sich auch Verfehlungen auf diesem Gebiet
zeitnaher, einfacher und effektiver verfolgen. Daran
müssen wir gemeinsam arbeiten.
Wenn das amerikanische Steuerrecht so genial wäre,
wie Sie es uns hier verkaufen wollen, frage ich mich,
weshalb es dann auf dieser Welt so einsam geblieben ist.
Ich will ehrlich sein, es ist nicht ganz allein. Liberia hat
das gleiche System. Das war es aber auch schon. Bei
zwei Ländern kann man wohl kaum von einem amerikanischen Exportschlager reden, zumindest dann nicht,
wenn es um das Steuerrecht geht. Vielleicht hängt es
aber teilweise mit dem bürokratischen Aufwand zusammen, der damit verbunden ist. Fragen Sie doch einmal in
anderen Ländern nach, warum man das amerikanische
Steuersystem nicht längst übernommen hat, wo es doch
so toll sein soll.
Es ist wie bei vielen Ihrer Anträge: Sie sehen ein Problem, das es unbestritten gibt. Dann aber nehmen Sie die
große Keule und hoffen, umso mehr erwischen zu können, je größer die Keule ist. Leider erwischen Sie mit
Ihrem Gesetzesvorschlag aber nicht nur die, die sich gesellschaftlich daneben benehmen und überall für sich nur
das Beste herauspicken. In der Masse werden die getroffen, die nicht aus steuerlichen, sondern aus ganz anderen
Gründen ihren Wohnsitz verlegen. Die werden sich
freuen, wenn sie sich dann statt mit einer mit zwei Steuerbehörden befassen müssen.
Wenn es sich dann vielleicht auch noch um eine
Patchworkfamilie handelt, in der Erwachsene und Kinder unterschiedliche Staatsbürgerschaften haben, stelle
ich mir die Steuererhebung enorm einfach vor. Das ist
dann einmal ein richtig toller Vorschlag zur Steuervereinfachung und zur Entlastung der Bürgerinnen und Bürger. Glauben Sie mir, die, die Sie treffen wollen, können
sich ein ganzes Heer von Steuerberatern und Anwälten
leisten. Die stört es mit Sicherheit nicht. Wo bleibt denn
in dieser Frage Ihr angeblich so großes Herz für den kleinen Mann und die kleine Frau? Diese machen dann die
Steuererklärung im Ausland am Küchentisch alleine,
weil sie sich den Steuerberater nicht leisten können.
Interessant ist es auch, einmal genau hinzuschauen,
wie erfolgreich der amerikanische IRS in dieser Frage
wirklich ist. Denn in einem gleichen sich die Menschen,
egal aus welchem Land sie stammen: Ein Gesetz hält
niemanden davon ab, etwas Illegales zu tun, wenn er es
nur will. Viel wichtiger ist es, diese Verfehlungen rigoros
zu verfolgen und zu ahnden, damit die Ehrlichen eben
nicht die Dummen sind und sich auch nicht so fühlen.
Dabei ist aber die ganze Gesellschaft gefragt, und dazu
brauchen wir eine offene moralische Debatte.
Hier muss die Frage schon erlaubt sein, ob es vertretbar ist, jemanden medial zu hofieren, obwohl er aus rein
steuerlichen Gründen Deutschland den Rücken kehrt.
Steuerhinterziehung ist kein Kavaliersdelikt, und sie darf
auch zu keinem werden. Nicht derjenige ist der Held, der
es schafft, den Staat zu hintergehen, sondern diejenigen
sind die Helden, die mit ihrem Beitrag diesen Staat tragen. Das kann nicht genug betont werden.
Sie hatten im Ausschuss die Möglichkeit, für Ihren
Antrag zu werben und Argumente zu bringen, die eine
Zustimmung möglich gemacht hätten. Das ist Ihnen aus
vielen Gründen und vor allem wegen der stichhaltigen
Gegenargumente nicht gelungen. Deshalb werden wir
diesen Antrag wie auch schon im Ausschuss mit breiter
Mehrheit ablehnen.
({5})
Jetzt spricht für die FDP-Fraktion der Kollege Frank
Schäffler.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir müssen uns heute mit einem Antrag der
Fraktion Die Linke beschäftigen, der das Welteinkommen eines deutschen Staatsbürgers unabhängig von seinem Wohnsitz unbeschränkt steuerpflichtig machen will.
({0})
Dabei wird im Antrag darüber geklagt, dass insbesondere vermögende Bürger den Wechsel ins Ausland wählen.
({1})
Das ist aber nicht nur ein Phänomen bei vermögenden
Bürgern.
({2})
Im letzten Jahr haben allein 155 000 meist junge Menschen dieses Land verlassen.
({3})
Fernsehsendungen über Auswanderungen erzielen die
besten Einschaltquoten. Das ist ein Alarmsignal für dieses Land.
({4})
Offenkundig ist Deutschland kein attraktiver Standort
mehr für junge Menschen. Sie lassen sich nicht einsperren, sondern nutzen die Reisefreiheit, die ihnen eine globalisierte Welt ermöglicht. Der fürsorgende Sozialstaat
hat eben doch nicht die Ausstrahlkraft, die gerade die
Linken propagieren.
Aber die Große Koalition lässt dies billigend zu, anstatt auf Ludwig Erhard, den parteilosen liberalen Wirtschaftsminister der Nachkriegszeit, zu hören, der gesagt
hat:
Ich will mich aus eigener Kraft bewähren, ich will
das Risiko des Lebens selbst tragen, will für mein
Schicksal selbst verantwortlich sein. Sorge Du,
Staat, dafür, dass ich dazu in der Lage bin.
({5})
Es ist die vergessene Mitte, die in Deutschland geschröpft wird. Diese Gruppe ist das Herzstück der Gesellschaft. Das sind diejenigen Menschen, die morgens
um halb acht zur Arbeit gehen und abends wieder nach
Hause kommen. Diese vergessene Mitte wird gerade von
der Großen Koalition alleingelassen.
({6})
Eine Alleinverdienerfamilie mit drei Kindern und einem Einkommen von 40 000 Euro hat im Jahre 2008 gegenüber der Regierungszeit Schröder durch zusätzliche
Steuern und Abgaben eine Mehrbelastung von über
1 500 Euro im Jahr.
({7})
Das ist die Bilanz Ihrer bisherigen Regierungsarbeit.
({8})
Die Fleißigen sind in diesem Land die Dummen. Sie
reden von Mitarbeiterbeteiligung in Unternehmen und
vergreifen sich am hart verdienten Geld anderer Leute.
Das ist die Verantwortung, die Sie von der Regierung zu
tragen haben. Sie befördern die soziale Staatswirtschaft
und behindern die soziale Marktwirtschaft. Geben Sie
den Bürgern durch eine umfassende Steuerreform für
alle Bürger in diesem Land endlich ihr Geld zurück!
({9})
Dann können Sie auch gleich das Steuerrecht vereinfachen. Gestern hat der Normenkontrollrat seine Halbzeitbilanz vorgelegt. Konkret machen Sie beim Bürokratieabbau zu wenig. Allein im letzten Jahr haben Sie das
Einkommensteuerrecht 13-mal geändert. Faktisch gab es
jeden Monat ein neues Einkommensteuergesetz. Das
macht deutlich, dass wir ein neues Steuerrecht brauchen.
Die Frühaufsteher in diesem Land müssen gefördert
werden.
({10})
Sie machen genau das Gegenteil: Erst atomisieren Sie
den Sparerfreibetrag, und dann besteuern Sie auch noch
die Kursgewinne. Die Folge ist: Wer in Deutschland
spart, ist der Dumme. Das ist eine zutiefst unsoziale Politik.
Wir brauchen in diesem Land mehr Freiheit und weniger Staat. Dann bleiben die Menschen auch wieder im
Land. Dann kommen die Leistungsträger wieder zurück.
Dann verhallen die Kassandrarufe der Linken in diesem
Parlament.
Vielen Dank.
({11})
Jetzt hat Manfred Kolbe das Wort für die CDU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit dem heute diskutierten Antrag der Fraktion der Linken Steuerflucht wirksam bekämpfen erleben
wir ein Stück verkehrte Welt. Die Linke fordert auch für
die Bundesrepublik Deutschland die Einführung des unbeschränkt geltenden Welteinkommensprinzips und beruft sich dabei - man höre und staune - vor allem auf die
USA. Ich zitiere:
Diese vorgeschlagene Regelung ist in den USA
gängige Praxis und kann und sollte daher auch in
der Bundesrepublik Deutschland umgesetzt werden.
Das sind wahrlich neue Töne, Herr Gysi. Bisher haben
Sie immer gesagt: Von der Sowjetunion lernen heißt
siegen lernen. Jetzt sind die USA an der Reihe.
({0})
Zunächst einmal möchte ich für meine Fraktion klarstellen: Was die Freundschaft zu den Vereinigten Staaten
betrifft, lassen wir uns nicht von Ihnen überholen.
({1})
Die Bundesrepublik Deutschland verdankt den Vereinigten Staaten sehr viel. Ohne die USA hätte das freie Europa nicht der Sowjetunion trotzen können, und ohne die
USA würden wir heute nicht in einem frei gewählten gesamtdeutschen Parlament in Berlin sitzen.
({2})
Wenn diese Erkenntnis sich auch bei Ihnen langsam
durchsetzt, dann wäre das ein guter Effekt dieser Debatte, meine Damen und Herren von den Linken.
Dennoch reicht für uns allein der Hinweis, dass es in
den USA gängige Praxis sei, nicht, um das unbeschränkt
geltende Welteinkommensprinzip auch in der Bundesrepublik Deutschland einzuführen; wir wägen vielmehr
Pro und Kontra ab.
Zunächst einmal ist festzuhalten, dass das Welteinkommensprinzip in der gesamten Welt, außer in den Vereinigten Staaten und in Liberia, nur eingeschränkt gilt.
Danach sind diejenigen unbeschränkt einkommensteuerpflichtig, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit, die im Inland ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen
Aufenthalt haben. Dieser Personenkreis unterliegt dann
allerdings mit seinem gesamten Welteinkommen der inländischen Steuerpflicht, weil seine Leistungsfähigkeit
aus diesem gesamten Welteinkommen stammt.
Ich sage es noch einmal: Entsprechend diesem international üblichen Wohnsitz- oder Ansässigkeitsprinzip
werden Einkünfte, beispielsweise aus nichtselbstständiger Arbeit, auch nach dem allen deutschen Doppelbesteuerungsabkommen zugrunde liegenden OECD-Musterabkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung
allein im Ansässigkeitsstaat besteuert.
Wenn wir diese Praxis ändern wollten, dann müssten
wir über 100 Doppelbesteuerungsabkommen ändern,
und wir würden einen völligen Systemwechsel betreiben. Der bürokratische Aufwand einer solchen Operation wäre gigantisch. Die Bundesrepublik Deutschland
müsste dann auch das Gegenseitigkeitsprinzip gelten lassen. Danach könnten sich natürlich auch Ausländer ihre
in Deutschland gezahlte Einkommensteuer anrechnen
lassen.
Was würde dies bedeuten? In der Bundesrepublik
Deutschland leben 3,8 Millionen EU-Ausländer. Diese
hätten natürlich ein Recht auf eine Bescheinigung des
deutschen Finanzamtes über die in Deutschland gezahlten Steuern, um sie in ihrem Heimatland anrechnen zu
lassen. Es kommen weitere 3 Millionen Nicht-EU-Ausländer dazu, für die dasselbe gälte. Es wäre eine gigantische Arbeit für die deutschen Finanzämter.
Der Ertrag wäre demgegenüber bescheiden. Rund
1,5 Millionen Deutsche leben im Ausland, die meisten in
unseren europäischen Nachbarländern mit annähernd
gleichem Steuerniveau, sodass der steuerliche Ertrag in
der Tat relativ gering wäre. Die wenigen, die sich in
Steueroasen geflüchtet haben, erreicht man auch mit einer solchen Gesetzesänderung nicht.
Das heißt jetzt nicht - das sage ich, um nicht missverstanden zu werden -, dass ich diese schonen möchte.
Auch wir in der CDU/CSU-Bundesfraktion ärgern uns
über manchen Spitzenverdiener, der sich in Deutschland
bejubeln lässt, der in Deutschland über die Mattscheibe
flimmert, ohne die Lasten unseres Gemeinwesens mittragen zu wollen. Das ist für uns ein ständiges Ärgernis,
aber dafür sind intelligente und praktikable Lösungen
gefragt
({3})
und nicht solche, wie Sie sie vorschlagen.
({4})
Meine Damen und Herren von der PDS, lassen Sie
mich ein Argument vortragen, was vielleicht auch Sie
überzeugt. Viele Entwicklungsländer haben eine
schlechte Infrastruktur und schlechte Arbeitsbedingungen. Jemand aus Europa, der zum Beispiel in Afrika arbeitet, etwa ein Arzt, unterliegt dort oftmals einer niedrigeren Besteuerung. Entwicklungsländer setzen dieses
Instrument der niedrigeren Besteuerung teilweise gezielt
ein, um Investoren und Fachkräfte zu gewinnen. Wollen
wir Entwicklungsländern dieses Instrumentarium nehmen, indem wir das Welteinkommen abschöpfen? Ich
glaube, das ist nicht der richtige Weg.
({5})
- Danke.
Was also tun? Wir brauchen intelligente und unbürokratische Lösungen, damit sich deutsche Spitzenverdiener der Einkommensteuerpflicht nicht entziehen.
Erstens. Wir brauchen eine Steuerharmonisierung in
Europa. Wir in der Koalition haben damit begonnen. Die
europäische Zinsrichtlinie setzt eine Mindestbesteuerung
von Kapitaleinkünften durch. Die europäische konsolidierte Bemessungsgrundlage für die Körperschaftsteuer
ist in Arbeit.
Zweitens. Wir müssen gegen Steueroasen vorgehen.
Für ein besonderes Ärgernis halte ich, dass es auch mitten in Europa derartige Steueroasen gibt. Die Europäische Union ist gefordert, eine gleichmäßige Besteuerung
sicherzustellen.
Drittens. Wir brauchen daneben wettbewerbsfähige
Steuersätze in Deutschland. Auch auf diesem Gebiet hat
die Große Koalition einiges bewegt, meine Damen und
Herren von der FDP. Wir senken mit der Unternehmensteuerreform den nominalen Körperschaftsteuersatz
deutlich und vermindern damit auch das fiskalische Interesse an Gewinnverlagerungen deutlich. Wir mindern
mit der Einführung der Abgeltungsteuer auf Kapitaleinkünfte auch das Interesse privater Anleger, ins Ausland
zu gehen.
({6})
Lassen Sie mich abschließend sagen: Wir haben einiges auf den Weg gebracht, um die Steuerflucht zu bekämpfen. Wir müssen aber noch viel tun. Ihr Weg ist der
falsche. Wir werden Ihren Antrag deshalb ablehnen.
Danke schön.
({7})
Jetzt hat der Kollege Gregor Gysi das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Der Tisch ist ein bisschen hoch; ich warte einmal, bis
er auf meine Länge reduziert ist.
Dafür gibt es an Ihrem Pult einen Knopf. Sie können
selbstbestimmt handeln. Jedem nach seinen Bedürfnissen!
({0})
Das ist ja wunderbar; dann mache ich es selber.
({0})
- Fangen Sie nicht an, wie heute früh zu pöbeln. Ich
habe doch noch gar nichts gesagt.
Die Kolleginnen und Kollegen, die jetzt hier sind, interessieren sich sicherlich alle für die Steuerflucht. Daher sollten Sie ein bisschen zur Ruhe kommen, auch
wenn es vor namentlichen Abstimmungen etwas schwierig ist. Sie sollten es wenigstens versuchen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst nehme ich überrascht zur Kenntnis, dass Frau
Violka von der SPD mich nicht nur im Plenum, sondern
auch noch in den Ausschüssen zu sehen wünscht. Ich
werde darüber nachdenken.
Sie, Herr Kolbe, handeln nach einem berühmten
DDR-Grundsatz: Überholen ohne einzuholen. Das
geht nun mit Sicherheit schief, wollte ich Ihnen nur sagen.
({0})
Herr Kollege, Frau Violka möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen. Wollen Sie sie zulassen?
Aber selbstverständlich, Frau Violka.
Bitte schön.
Mir ist es ein Bedürfnis, Sie zu fragen, ob Sie sich
noch daran erinnern können, dass Sie mir bei der ersten
Lesung angeboten haben, wir könnten dieses Thema im
Ausschuss erörtern. Deshalb habe ich mich darauf bezogen.
Ich hatte Ihre Bemerkung verstanden. Aber Sie wissen ja, welche Ausschussmitglieder wir haben, und die
wollten auch mit Ihnen darüber diskutieren. Aber wir
können auch gerne noch woandershin gehen und darüber
diskutieren; das macht mir gar nichts aus.
({0})
Da alle zu einem anderen Thema gesprochen haben,
möchte ich zum eigentlichen Thema zurückkehren. Es
geht um die Frage, ob deutsche Staatsangehörige, die
sich in einem anderen Land aufhalten und ihre Staatsangehörigkeit behalten wollen, auch in Deutschland steuerpflichtig sind, selbstverständlich unter Anrechnung der
Einkommenssteuer, die sie in dem anderen Land bezahlen. Es geht uns nur um die Differenz.
({1})
Deshalb wäre es auch kein Fall von Doppelbesteuerung.
Die Kleinigkeiten, die Sie bei hundert Abkommen ändern müssten, die jetzt ohnehin alle auf dem Prüfstand
stehen, können dies doch nicht ernsthaft verhindern.
Auch das Argument, dass es dann so viele Steuerflüchtlinge gebe, ist nicht zulässig. Ich bitte Sie, dann
müssten Sie ja den Diebstahl erlauben, weil so viel geklaut wird.
({2})
Wenn man das Recht ändert, kann man immer davon
ausgehen, dass sich eine Mehrheit daran hält. Ihr Argument, dass dies so bürokratisch sei, kann ich nun überhaupt nicht nachvollziehen. Jede Steuer ist irgendwie bürokratisch. Aber hier ginge es nur darum, den Kreis
derjenigen, die steuerpflichtig sind, zu erweitern. Das ist
nun das Unbürokratischste, was man sich im Steuerrecht
vorstellen kann.
({3})
Ihr Argument, dass wir auch kleine Leute träfen, ist
albern. Für die kleinen Leute haben wir Freibeträge und
alles Mögliche vorgesehen. Nichts spricht dagegen. Ich
nenne Ihnen jetzt einmal den Fall, der für die Bürgerinnen und Bürger so ärgerlich ist, wobei es egal ist, ob ich
Schumi oder Beckenbauer nehme. Beckenbauer ist ein
großer Patriot, und er hat zum Beispiel bei der Fußballweltmeisterschaft viel geleistet. Er bekommt das Bundesverdienstkreuz, ist als Patriot aber nicht bereit, von
seinem Einkommen auch nur einen Euro Steuern in
Deutschland zu bezahlen.
({4})
Bei bestimmten Veranstaltungen sagt er noch, er müsse
schnell wieder nach Österreich. Er will keinen Tag länger in Deutschland sein, weil sonst womöglich eine
Steuerpflicht entstünde. Das haben wir bei Boris Becker
ja schon einmal erlebt.
({5})
Außerdem können wir differenzieren, Herr Kolbe.
Wir üben schwere Kritik an den USA. Aber diese Regelung im Steuerrecht finden wir vernünftig, und das sagen
wir auch. Was ist daran so verwerflich? Ich kann es nicht
nachvollziehen.
({6})
Nein, das ganze Problem ist, dass weder die FDP
noch die Union möchte, dass solche reichen Leute hier
einen Euro Steuern zahlen, wenn sie woanders wohnen.
Aber wir wollen, dass sie Steuern zahlen. Bei der FDP
und der Union finde ich das noch verständlich. Aber
dass SPD und Grüne es auch nicht wollen, finde ich
ziemlich unverständlich, wenn ich das einmal sagen
darf.
({7})
Wir haben ja auch Pflichten gegenüber deutschen
Staatsangehörigen; das haben Sie hier völlig vernachlässigt. Es geht nicht nur um die Frage, Frau Violka, dass
sie in ihrer Jugend Schulen und sonst etwas in Anspruch
genommen haben. Wenn einem solchen Menschen etwas
passiert, dann greift unsere Bundesregierung ein. Wenn
er entführt wird, zahlen wir Lösegeld. Das ist alles richtig; denn wir sind auch für den Schutz des Lebens deutscher Staatsangehöriger verantwortlich, die im Ausland
wohnen. Aber wenn wir dafür verantwortlich sind und
wenn wir unsere Pflichten erfüllen, dann ist es auch
nicht so schlimm, wenn diese Menschen die Einkommensteuerdifferenz hier bezahlen, gerade dann, wenn sie
nur umgezogen sind, um diese Differenz nicht bezahlen
zu müssen.
({8})
Um dieses Stück mehr Gerechtigkeit geht es. Ich verstehe nicht, warum Sie nicht bereit sind, dieses Stück
mehr Gerechtigkeit herzustellen.
({9})
Christine Scheel spricht jetzt für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Gysi, ich glaube, dass es kaum jemanden gibt, der
nicht der Meinung ist, dass man Steuerflucht wirksam
bekämpfen muss. Es gibt aber Vorschläge, die dazu nicht
geeignet sind, und das gilt auch für Ihren Vorschlag.
({0})
Sie wollen - auf diesen Punkt werde ich jetzt eingehen - anstelle des Wohnsitzprinzips das Staatsangehörigkeitsprinzip in das Steuerrecht einführen. Das klingt
im ersten Moment gar nicht so schlecht; es soll schließlich - das suggeriert Ihre Rhetorik - der Bekämpfung der
Steuerflucht dienen, es wird nicht doppelt besteuert, das
Welteinkommen soll erfasst werden, und der Steuerbürger soll unbeschränkt steuerpflichtig werden.
Praktisch gesehen würde das bedeuten, dass jemand,
der in Spanien arbeitet, zum Beispiel in der Touristikbranche, seinen festen Wohnsitz in Spanien hat und
heute seine Steuern dort bezahlt, in Zukunft nach
Deutschland kommen müsste, um hier ein Finanzamt
aufzusuchen, sich noch einmal veranlagen zu lassen und
dementsprechend in Deutschland seine Steuern zu bezahlen. Wenn er das nicht machen würde, müsste er in
der Konsequenz - das ist das Verrückte an Ihrem Vorschlag - seinen Pass abgeben. Das bedeutet ganz konkret, in Zukunft müssten nach dem Vorschlag der Linkspartei deutsche Staatsbürger, die mit einem deutschen
Pass im Ausland arbeiten und leben, ihren Pass abgeben,
wenn sie nicht ein Finanzamt in Deutschland aufsuchen.
Das ist absurd. Das ist ein Vorschlag, der in keiner Weise
mit unserer Realität zu vereinbaren ist.
({1})
Liebe Kollegin Scheel, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gysi zulassen?
Ja.
Selbst für den Fall einer Steuerverkürzung, Frau Kollegin, hat niemand von uns gefordert, dass jemand seinen deutschen Pass abgeben muss. Im Übrigen kann er
seine Steuererklärung aus Spanien einfach nach
Deutschland schicken, um sein Einkommen anzugeben
und die Höhe der Steuer ermitteln zu lassen. Das geht
per Post; dazu muss er nicht anreisen und das Finanzamt
aufsuchen. Ich weiß nicht, welche Vorstellungen Sie von
der globalisierten Welt haben.
({0})
Herr Kollege Gysi, stellen Sie sich das einmal praktisch vor: Wenn man das administrierbar machen wollte,
würde das bedeuten, dass die Finanzbeamten in alle Länder dieser Welt reisen müssten, um zu schauen, ob irgendwo deutsche Staatsbürger leben, die dort ihre Steuern bezahlen und in Deutschland kein Geld verdient
haben. Das ist doch absurd. Sie können das nicht administrieren.
Deswegen ist dieser Vorschlag nicht nur finanztechnisch gesehen Quatsch, sondern leider auch in politischer
Hinsicht realitätsfremd. Denn im Rahmen des europäischen Binnenmarktes nutzen immer mehr Staatsbürger
und Staatsbürgerinnen mit unterschiedlichen Nationalitäten die Möglichkeit der freien Berufsausübung und der
Niederlassungsfreiheit. Diese würden dann aus fiskalischen Überlegungen heraus mehr oder weniger gezwungen, ihre Staatsbürgerschaft infrage zu stellen. Das wollen
wir nicht; wir meinen, dass das der falsche Weg ist.
({0})
Auch wir Grünen wollen natürlich erreichen, dass
Steuerflucht bekämpft wird. Aber wir wollen im Gegensatz zu Ihnen eine andere Methode. Dazu haben wir einen Antrag vorgelegt. Nach unserer Methode sollen nur
die Menschen besteuert werden, die ihren Wohnsitz in
Deutschland haben. Das würde nach der Anrechnungsmethode funktionieren. Man kann das auch - das klingt
kompliziert; deswegen führe ich es nicht aus - im Doppelbesteuerungsabkommen festlegen. Das wäre eine
Möglichkeit, das Welteinkommensprinzip zu berücksichtigen, allerdings unter Heranziehung des Wohnsitzes
und nicht der Nationalität. Ich will keine Staatsangehörigkeitsdebatte oder Passdebatte führen, sondern ich
möchte eine Debatte über eine bessere Steuermoral im
Rahmen einer offenen Weltwirtschaft führen. Das ist unser Ansatz.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache.
Ich bitte Sie, noch einen Moment auf Ihren Plätzen zu
verharren. Bevor wir nämlich mit der namentlichen Abstimmung beginnen, komme ich noch einmal zurück auf
die Tagesordnungspunkte 33 h und 33 k. Es handelt sich
um die Abstimmung über zwei Beschlussempfehlungen
des Petitionsausschusses zu Sammelübersichten, über
die heute Mittag versehentlich nicht abgestimmt wurde.
Dies holen wir jetzt nach.
Tagesordnungspunkt 33 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({0})
Sammelübersicht 265 zu Petitionen
- Drucksache 16/6351 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht 265 einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1})
Sammelübersicht 268 zu Petitionen
- Drucksache 16/6354 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen der
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenom-
men.
Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Fi-
nanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
mit dem Titel Steuerflucht wirksam bekämpfen. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/5673, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 16/2524 abzulehnen. Die Fraktion Die
Linke verlangt hierzu namentliche Abstimmung. Ich
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, jetzt ihre
Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen besetzt? - Das
scheint der Fall zu sein.
Ich eröffne die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Dann schließe ich jetzt
die Abstimmung.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit
der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der na-
mentlichen Abstimmung wird Ihnen, wie gewöhnlich,
später bekanntgegeben.1)
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 10 a bis 10 c
auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Jahressteuergesetzes
2008 ({2})
- Drucksache 16/6290 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Fraktion DIE LINKE
Entfernungspauschale vollständig anerkennen - Verfassungsmäßigkeit und Steuergerechtigkeit herstellen
- Drucksache 16/6374 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Werner
Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Heimliche Steuererhöhungen vermeiden - In-
flation im Steuerrecht berücksichtigen
- Drucksache 16/6037 -
Für die Aussprache ist eine halbe Stunde vorgesehen.
Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist das so be-
schlossen.
1) Ergebnis Seite 11903
Ich eröffne die Aussprache.
({5})
Es gibt in den hinteren Reihen noch sehr viel Kommunikationsbedarf. Möglicherweise können Sie außerhalb des Plenarsaals viel besser miteinander reden. So
erhielte auch die Kollegin, die die Aussprache eröffnet,
die Chance, nicht nur im Fernsehen, sondern auch im
Plenarsaal gehört zu werden.
Jetzt gebe ich das Wort der Kollegin Gabriele Frechen
für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir beraten heute in erster Lesung den Entwurf des Jahressteuergesetzes 2008. Mit dem Abschluss
Anfang November geben wir den Steuerpflichtigen die
Möglichkeit, sich, wie gewünscht, frühzeitig auf das Gesetz einzustellen. Wie üblich handelt es sich um ein sogenanntes Omnibusgesetz, das die notwendigen Änderungen in 26 Gesetzen und Verordnungen enthält. Es
geht uns um den Abbau überflüssiger Bürokratie,
({0})
um die Schaffung von mehr Steuergerechtigkeit - auch
durch die Bekämpfung von Missbrauch - und schließlich um die Erleichterung im Lohnsteuerverfahren. Ich
werde auf fünf Punkte näher eingehen, nämlich erstens
auf die Einführung von elektronischen Verfahren der Datenermittlung und -übermittlung, zweitens auf die Missbrauchseindämmung durch eine Neufassung des § 42 AO,
({1})
drittens auf die Einführung des Anteilsverfahrens für berufstätige Ehegatten, viertens auf die Ablösung des unversteuerten Eigenkapitals EK 02 und fünftens auf die
Anpassung der Umsatzsteuerbefreiung der Leistungen
der Kinder- und Jugendhilfe.
Die Sonne scheint so schön herein, dass ich einen
Platz an der Sonne habe. Ist Ihnen das schon aufgefallen? Das ist bestimmt ein gutes Zeichen für das Gesetz.
({2})
- Daran wage ich zu zweifeln.
Erstens. Dort, wo durch den Einsatz der neuen Medien Bürokratieaufwand vermieden werden kann, sollten
wir das auch nutzen. Das elektronische Verfahren zur
Übermittlung der Lohnsteuerdaten wird überflüssig gewordene Arbeit bei Arbeitnehmern, Arbeitgebern und
den Finanzbehörden sparen und Verfahrenskosten senken. Vergleichbare Systeme gibt es erfolgreich bereits in
einigen Nachbarländern, beispielsweise in den Niederlanden und in Dänemark. Deshalb sollte dieser Punkt unstrittig sein. Die Einwände, die sich auf den Datenschutz
beziehen, nehmen wir natürlich sehr ernst. Aber ich bin
mir sicher, dass wir diese im Verfahren ausräumen können.
({3})
Zweitens. Die Vermeidung unerwünschter Steuergestaltung und Steuerumgehung, das Schließen von Steuerschlupflöchern und die Verhinderung von Missbrauch
sind für mich wesentliche Beiträge zur Schaffung von
Steuergerechtigkeit. Nur wenn die Menschen wissen,
dass alle Steuerpflichtigen gleichmäßig und nach Maßgabe ihrer Leistungsfähigkeit besteuert werden, können
wir zwischen Steuerbürgern und Staat Vertrauen erwarten.
Die Koalition befindet sich diesbezüglich zwar auf einem guten Weg, aber jedes neue Modell zur Steueroptimierung erzeugt, wenn es als Missbrauch angesehen
wird, eine Reaktion des Gesetzgebers. Das komplizierte
Steuerrecht wird dadurch natürlich nicht einfacher, und
ausgerechnet diejenigen, die die Kompliziertheit immer
wieder beklagen, müssen sich in diesem Zusammenhang
die immerwährende Henne-oder-Ei-Frage stellen.
Die Möglichkeiten des materiellen Steuerrechts,
Missbrauch zu verhindern, sind endlich. Deshalb gab
und gibt es den § 42 Abgabenordnung. Mit der Änderung werden wir gesetzlich verankern, dass eine Gestaltung nur dann zulässig ist, wenn es beachtliche außersteuerliche Gründe gibt. Das alte Motto Ein Geschäft
wird erst dann ein Geschäft, wenn man gegenüber dem
Finanzamt nachweist, dass es keines war, soll seine
Gültigkeit verlieren, und das zu Recht.
({4})
Gestern erzählte uns ein ziemlich liberaler Kollege,
dass es zum Wesen des Innovationsstandorts Deutschland gehören müsse, Missbrauch im Steuerrecht zuzulassen. Diese Kreativität sei ein Spiegel der Innovationsfähigkeit unseres Landes. Unter Kreativität und
Innovationsfähigkeit verstehe ich etwas anderes.
({5})
Nun mag es ja sein, dass meine Definition nicht die allein seligmachende ist, die des Kollegen ist es aber garantiert nicht.
({6})
Drittens möchte ich auf die Einführung des Anteilsverfahrens beim Lohnsteuerabzug für berufstätige Ehegatten eingehen. Bisher können sie zwischen den
Lohnsteuerklassenkombinationen IV/IV und III/V wählen. Bei der Kombination IV/IV werden beide Ehegatten
unabhängig voneinander nach ihrem jeweiligen Einkommen besteuert. Bei der Lohnsteuerklassenkombination III/V wird der Ehegatte mit Steuerklasse V - zu
90 Prozent handelt es sich um Frauen - im Verhältnis
zum Einkommen unterjährig deutlich zu hoch besteuert.
Die Steuerklasse V wird deshalb häufig als diskriminierend empfunden und als negativer Arbeitsanreiz angesehen.
Deshalb ist in diesem Gesetzentwurf die Einführung
des Anteilsverfahrens vorgesehen. Dabei wird die monatlich zu zahlende Lohnsteuer im Verhältnis zum Gesamteinkommen der Ehegatten errechnet. Zentrales Element des Anteilsverfahrens ist, dass von vornherein eine
möglichst präzise Aufteilung der Steuerlast erreicht
wird. Voraussetzung dafür ist - das ist gleichzeitig das
Problem -,
({7})
dass der Arbeitgeber des einen Ehegatten das Einkommen des anderen Ehegatten mitgeteilt bekommen muss.
({8})
Deshalb wird diese Möglichkeit optional angeboten, das
heißt, die Nutzung ist freiwillig. Die Diskussion über
diesen Punkt wird, da bin ich mir völlig sicher, in der
parlamentarischen Beratung breiten Raum einnehmen.
Das gilt auch für die Modelle zur Weiterentwicklung,
Abschaffung bzw. Umwandlung der Splittingtabelle und
zur Abschaffung der Lohnsteuerklasse V.
Der vierte Punkt betrifft die EK-02-Problematik. Das
unversteuerte Eigenkapital der ehemals gemeinnützigen
Wohnungsbaugesellschaften aus der Zeit des Anrechnungsverfahrens soll künftig unabhängig von einer Ausschüttung mit 3 Prozent besteuert werden. Das bedeutet
sowohl für die Unternehmen als auch für die Finanzbehörden eine deutliche Entbürokratisierung und Vereinfachung. Verschenkt wird dabei allerdings nichts; denn
spätestens im Jahr 2019 würde die Nachbelastung so
oder so entfallen.
Ich begrüße, dass kommunale, kirchliche und ähnliche Wohnungsunternehmen aufgrund ihrer wichtigen
sozialpolitischen Funktion von dieser Regelung ausgenommen werden. Ein ausreichendes Angebot an bezahlbarem Wohnraum ist insbesondere für Menschen mit
niedrigem und mittlerem Einkommen und für Familien
außerordentlich wichtig. Im Rahmen der parlamentarischen Beratungen werden auch diesbezüglich Änderungen vorgenommen werden. Das kann ich schon heute
ankündigen.
Fünftens und letztens möchte ich ausdrücklich auf einen Punkt des Gesetzes eingehen, der - klein, aber fein für mich eine wichtige Rolle spielt. Es handelt sich dabei
um die Anpassung der Umsatzsteuerbefreiung der Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe an die sozialrechtliche Entwicklung. Eine funktionierende Kinder- und Jugendhilfe ist unerlässliche aktive Gesellschaftspolitik.
Die Familienpolitik der SPD, die wir auch in dieser Koalition erfolgreich fortsetzen können, ist geprägt von
dem Gedanken, jedem Kind die gleichen Chancen einzuräumen.
({9})
Dazu gehört auch die Hilfe für Kinder und Eltern, um sie
in Lebenskrisen zu unterstützen. Ich halte es für wichtig,
dass wir auf die veränderten Anforderungen und die veränderten Trägerstrukturen reagieren und die Steuerbefreiung insoweit ausdehnen.
Noch einen Satz zum Antrag der Linken zur Verfassungsmäßigkeit der Änderung bei der Entfernungspauschale, der heute mitberaten wird. Ich habe aus meiner
Haltung zu dieser Änderung nie einen Hehl gemacht;
meine Bedenken habe ich auch hier an dieser Stelle angemeldet. Sie können im Protokoll nachgelesen werden.
({10})
Mir aber zu unterstellen, ich hätte wissentlich gegen die
Verfassung verstoßen, ist eine bodenlose Frechheit.
({11})
Die Verfassungsrechtler der Bundesregierung, des Bundespräsidenten und auch einige Sachverständige, darunter Professor Loritz von der Universität Bayreuth, haben
diese Änderung als verfassungsfest angesehen. Dass es
auch andere Meinungen gab, ist völlig unstrittig.
({12})
Letztendlich entscheiden jetzt aber weder Sie noch ich
noch der Bundesfinanzhof darüber, was verfassungsfest
ist, sondern das Verfassungsgericht. Unterstellungen und
Mutmaßungen sind hier überhaupt nicht angebracht.
({13})
Zusammenfassend stelle ich fest, dass wir mit dem
Entwurf des Jahressteuergesetzes der Forderung, ein
Jahressteuergesetz zeitig zu erlassen, nachkommen, Verfahrens- und Arbeitsabläufe erleichtern, den diskriminierungsfreien Zugang für Frauen zur Arbeitswelt zumindest steuerrechtlich herstellen - der Rest, darauf lege ich
Wert, muss in den Köpfen passieren - und bei der Bekämpfung von Steuerschlupflöchern beharrlich weitergehen. Man muss jedem Hindernis Geduld, Beharrlichkeit und eine sanfte Stimme entgegenstellen. Das sagte
Thomas Jefferson. Ich hoffe, die habe auch ich. In diesem Sinne freue ich mich auf kollegiale und spannende
Auseinandersetzungen im Ausschuss.
Herzlichen Dank.
({14})
Ich komme jetzt zurück zum Tagesordnungspunkt 9,
um Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung
über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Dr. Barbara
Höll, Dr. Gesine Lötzsch und weiterer Abgeordneter der
Fraktion Die Linke bekanntzugeben: abgegebene Stimmen 549 oder 545. - Jetzt ist Herr Fuchtel nicht hier. Wir
werden das noch klären. - 545. Wir sind uns jetzt einig.
Mit Ja haben gestimmt 499, mit Nein haben gestimmt 46.
Es gab keine Enthaltungen. Die Beschlussempfehlung ist
damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 545;
davon
ja: 499
nein: 46
enthalten: 0
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Albach
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Renate Blank
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({1})
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Dr. Stephan Eisel
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({2})
Dirk Fischer ({3})
Axel E. Fischer ({4})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({5})
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Michael Grosse-Brömer
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Holger Haibach
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Dr. Peter Jahr
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Andreas Jung ({6})
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({7})
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Jens Koeppen
Kristina Köhler ({8})
Norbert Königshofen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Johann-Henrich
Krummacher
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers
({9})
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Stephan Mayer ({10})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Laurenz Meyer ({11})
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Marlene Mortler
Hildegard Müller
({12})
Stefan Müller ({13})
Bernward Müller ({14})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({15})
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Albert Rupprecht ({16})
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({17})
Hermann-Josef Scharf
Hartmut Schauerte
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Georg Schirmbeck
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({18})
Andreas Schmidt ({19})
Ingo Schmitt ({20})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Kurt Segner
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Christian Freiherr von Stetten
Andreas Storm
Thomas Strobl ({21})
Hans Peter Thul
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß ({22})
Gerald Weiß ({23})
Ingo Wellenreuther
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer ({24})
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Dr. Lale Akgün
Gregor Amann
Gerd Andres
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Ernst Bahr ({25})
Doris Barnett
Klaus Barthel
Sören Bartol
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Lothar Binding ({26})
Volker Blumentritt
Clemens Bollen
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({27})
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Karl Diller
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({28})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Alfred Hartenbach
({29})
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Petra Hinz ({30})
Gerd Höfer
Iris Hoffmann ({31})
Frank Hofmann ({32})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Johannes Jung ({33})
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Ulrich Kelber
Christian Kleiminger
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Walter Kolbow
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Angelika Krüger-Leißner
Jürgen Kucharczyk
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange ({34})
Dr. Karl Lauterbach
Helga Lopez
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Petra Merkel ({35})
Ulrike Merten
Dr. Matthias Miersch
Marko Mühlstein
Detlef Müller ({36})
Michael Müller ({37})
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Johannes Pflug
Joachim Poß
Christoph Pries
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Steffen Reiche ({38})
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel RiemannHanewinckel
Walter Riester
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({39})
Michael Roth ({40})
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
({41})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({42})
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Marianne Schieder
Otto Schily
Dr. Frank Schmidt
Silvia Schmidt ({43})
Heinz Schmitt ({44})
Carsten Schneider ({45})
Olaf Scholz
Ottmar Schreiner
({46})
Swen Schulz ({47})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dieter Steinecke
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Andreas Steppuhn
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Jörn Thießen
Rüdiger Veit
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Petra Weis
Gunter Weißgerber
({48})
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Engelbert Wistuba
Dr. Wolfgang Wodarg
Waltraud Wolff
({49})
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
FDP
Dr. Karl Addicks
Christian Ahrendt
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Patrick Döring
Jörg van Essen
Otto Fricke
Horst Friedrich ({50})
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Miriam Gruß
Joachim Günther ({51})
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Dr. Werner Hoyer
Dr. Heinrich L. Kolb
Hellmut Königshaus
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Michael Link ({52})
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({53})
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Jörg Rohde
Dr. Konrad Schily
Marina Schuster
Dr. Max Stadler
Carl-Ludwig Thiele
Florian Toncar
Christoph Waitz
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({54})
Martin Zeil
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({55})
Volker Beck ({56})
Birgitt Bender
Grietje Bettin
Alexander Bonde
Dr. Thea Dückert
Kai Gehring
Anja Hajduk
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann
Priska Hinz ({57})
Ulrike Höfken
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({58})
Monika Lazar
Anna Lührmann
Nicole Maisch
Kerstin Müller ({59})
Omid Nouripour
Brigitte Pothmer
Claudia Roth ({60})
Krista Sager
Elisabeth Scharfenberg
Irmingard Schewe-Gerigk
Rainder Steenblock
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Josef Philip Winkler
Nein
DIE LINKE
Hüseyin-Kenan Aydin
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Dr. Lothar Bisky
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Diana Golze
Heike Hänsel
Cornelia Hirsch
Inge Höger
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Dr. Hakki Keskin
Katja Kipping
Jan Korte
Katrin Kunert
Oskar Lafontaine
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Dorothée Menzner
Kornelia Möller
Wolfgang Neković
Bodo Ramelow
Paul Schäfer ({61})
({62})
Dr. Ilja Seifert
Dr. Petra Sitte
Frank Spieth
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Nun gebe ich das Wort dem Kollegen Dr. Volker
Wissing für die FDP-Fraktion.
({63})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen
Axel Nawrath erklärte am 9. August in der Süddeutschen
Zeitung, das Jahressteuergesetz 2008 sei ein Lumpensammler. Meine Damen und Herren von der Regierung,
ich finde es schon bemerkenswert, dass Sie die Stirn besitzen, dem Deutschen Bundestag ein Gesetz vorzulegen, das Sie selbst als Lumpensammler bezeichnen.
Aber nun gut, auch Lumpen wollen eingesammelt werden. Wir haben offensichtlich das Vergnügen, über Ihre
gesammelten Lumpen hier zu beraten.
({0})
Es ist so einiges zusammengekommen. Sie legen uns
auf einen Streich 200 Steuerrechtsänderungen vor. Das
spricht eine deutliche Sprache. Ein Steuerrecht, das alljährlich an so vielen Stellen geflickt werden muss, kann
nicht praktikabel sein.
({1})
Wir sehen an diesem Gesetzentwurf wieder einmal:
Die Große Koalition ist keine Reformregierung.
({2})
Sie fungieren als eine Art institutionelle Reparaturwerkstatt des deutschen Steuerrechts. Anstatt sich endlich
einmal anzustrengen, ein niedrigeres, einfacheres und
gerechteres Steuersystem in Deutschland zu schaffen,
beschränken Sie sich immer wieder auf steuerpolitisches
Flickwerk.
Frau Kollegin Frechen, ich möchte überhaupt kein
Missverständnis aufkommen lassen: Nicht alles, was
hier vorgeschlagen wird, ist schlecht, nicht alles ist
falsch.
({3})
An einigen Stellen legen Sie durchaus Vereinfachungen
auf den Tisch. Das erkennen wir ausdrücklich an.
({4})
Wenn Sie aber einmal genau hinschauen, erkennen
Sie ganz schnell das Problem: Ihre Vereinfachungen helfen vor allen Dingen der Verwaltung; für die Bürgerinnen und Bürger bieten Sie reichlich wenig.
({5})
Die Bürgerinnen und Bürger sind in den Augen der
Großen Koalition offenbar vor allem potenzielle Steuerhinterzieher. Ein Generalverdacht gegen jeden Steuerzahler in diesem Land zieht sich wie ein roter Faden
durch diesen Gesetzentwurf.
({6})
Nehmen wir die Steueridentifikationsnummer. Ich
frage Sie: Welchen konkreten Nutzen sollen die Bürgerinnen und Bürger davon haben? Sie gehen hier gezielt
den Weg zum allwissenden Staat und greifen - Schritt
für Schritt - immer tiefer in die Privatsphäre der Menschen ein.
({7})
Die Verwaltung hat es dadurch leichter; aber die Bürger
laufen Gefahr - ich zitiere den Bundesbeauftragten für
den Datenschutz -, dass der Staat die Informationen
schon bald für nichtsteuerliche Zwecke missbraucht und
auch andere Behörden auf die Daten zugreifen.
Nach der gläsernen Wohnung haben Sie das gläserne
Bankkonto geschaffen. Sie wollen den gläsernen Computer.
({8})
Jetzt fordern Sie den gläsernen Steuerbürger. All das
mag im Interesse Ihrer politischen Absichten liegen; es
liegt aber ganz sicher nicht im Interesse der Bürgerinnen
und Bürger dieses Landes.
({9})
Das Gleiche gilt für die Neufassung des § 42 der Abgabenordnung. Sie stellen mit dieser Regelung die Steuerzahler in Deutschland unter Generalverdacht.
({10})
Sie unterstellen ohne Grund, dass jede ungewöhnliche
Steuergestaltung immer auch eine missbräuchliche ist.
Damit nicht genug: Sie wollen auch noch eine Beweislastumkehr zuungunsten der Steuerpflichtigen einführen.
Künftig soll nicht mehr die Verwaltung nachweisen, dass
Missbrauch vorliegt; nein, der Bürger muss jetzt gegenüber der Verwaltung demütig belegen, dass er nicht unredlich handelt.
({11})
Das ist der klare Fall einer Politik nicht für, sondern gegen die Menschen.
Man kann jetzt die Frage stellen: Warum machen Sie
so etwas? In diesem Zusammenhang ist es interessant,
was die Bundesregierung - Staatssekretärin Hendricks
beim Bundesminister der Finanzen - auf eine Anfrage
der FDP antwortet:
Der Bundesregierung liegen keine Informationen
darüber vor, in wie vielen Fällen die Finanzgerichte
bisher einen Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts festgestellt haben und auf welche
Summe sich die Einnahmeverluste des Staates
durch missbräuchliche Steuergestaltung belaufen.
Das sind Ihre Erkenntnisse. Der Gesetzentwurf, den
Sie uns vorlegen, passt nicht dazu. Wir haben eine Regierung, die den Bürgern misstraut. Deswegen hat sie
das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger nicht verdient.
({12})
Ich sage Ihnen: Sie schicken die Menschen damit in
die totale Rechtsunsicherheit und freuen sich darüber,
dass Ihr so starker Staat mit ihnen machen kann, was er
will. Das ist eine unfaire Politik. Sie weigern sich mit
Händen und Füßen, unser Steuerrecht im Interesse der
Menschen in Deutschland zu vereinfachen. Stattdessen
sollen sich die Steuerpflichtigen künftig nur noch standardisiert verhalten, damit die Verwaltung mit Ihrem
komplizierten Steuerrecht besser zurande kommt.
Noch einmal: Das ist keine Finanzpolitik für die Menschen; das ist Finanzpolitik gegen die Interessen der
Menschen. Wir lehnen diese Politik des Misstrauens entschieden ab.
({13})
Den Datenschutz nehmen Sie auch an anderer Stelle
nicht ernst. Sie wollen das Anteilsverfahren bei Ehegatten einführen. Damit wollen Sie auch den Arbeitsanreiz
für Niedrigverdiener erhöhen. Das ist in der Sache nicht
verkehrt; aber nach Ihrem Modell erfährt der Arbeitgeber zwangsläufig die Höhe des Einkommens des Ehegatten. Sie begeben sich damit erneut auf verfassungsrechtlich dünnes Eis. Sie haben aus der Geschichte mit der
Pendlerpauschale nichts, aber auch gar nichts gelernt.
Ihre Politik orientiert sich nicht an den Bedürfnissen der
Menschen in diesem Land. Sie denken nur noch von der
Verwaltung aus; das ist inzwischen das Markenzeichen
dieser Koalition.
Dieser Gesetzentwurf muss grundlegend überarbeitet
werden. Die Bürger haben keine gesammelten Lumpen
verdient. Was Deutschland braucht, ist ein niedrigeres,
einfacheres und gerechteres Steuersystem.
({14})
Der Kollege Olav Gutting spricht jetzt für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen!
Meine Herren! Beim Jahressteuergesetz 2008 haben wir
es mit einem sogenannten Omnibusgesetz zu tun. Während der überwiegende Teil lediglich Anpassungen und
Änderungen enthält, gibt es einige Haltestellen dieses
Omnibusses, bei denen wir etwas genauer hinschauen
müssen. Hierzu zählt vor allem § 42 AO. Es ist gut, dass
es bereits im Vorfeld der Beratungen gelungen ist, die
geplanten Änderungen des § 42 Abgabenordnung so zu
präzisieren, dass wir jetzt zumindest eine brauchbare
Diskussionsgrundlage haben.
({0})
Die Finanzverwaltung braucht eine schärfere Waffe
gegen die nicht enden wollenden missbräuchlichen Steuergestaltungen.
({1})
Aber ich sage ganz deutlich: Eine solche Regelung muss
verfassungsrechtlich einwandfrei sein, und sie muss unter Berücksichtigung unserer rechtsstaatlichen Prinzipien erfolgen.
({2})
Eine völlige Beweislastumkehr zuungunsten des Steuerbürgers ist mit uns nicht zu machen.
({3})
Nichtsdestotrotz benötigen wir eine Art Generalklausel
gegen den Missbrauch von Steuergestaltungsmodellen.
Das wäre sozusagen der Schlussstein in unserem Kampf
gegen missbräuchliche Steuergestaltungen und damit für
mehr Steuergerechtigkeit.
Wir haben in den letzten Jahren viele Verlustzuweisungsmodelle ausgetrocknet, und das zu Recht; ein
Großteil der jetzigen Steuermehreinnahmen ist auch darauf zurückzuführen. Allerdings kann man es keinem
Steuerbürger verwehren, seine rechtlichen Verhältnisse
so zu gestalten, dass sich für ihn eine verhältnismäßig
geringe Steuerlast ergibt;
({4})
das ist legitim und niemandem zu verdenken, wenn man
mit berücksichtigt, dass man frühestens Anfang Juli eines Jahres durch die eigene Arbeit den ersten ganzen
Euro erwirtschaftet hat, der in das eigene Portemonnaie
fließt.
Uns geht es um die Ausschaltung von Missbrauch.
Das Hase-und-Igel-Spiel zwischen der Steuerverwaltung
und einigen wenigen Steuerbürgern ist wirklich leidig.
Man kann das, wie ich meine, auch nicht mehr sportlich
sehen. Wenn wir das zukünftig vermeiden und für eine
gleichmäßigere und dadurch gerechtere Besteuerung in
diesem Land sorgen wollen, dann brauchen wir vor allem drei Dinge:
Wir brauchen eine erträgliche Steuerlast, die dazu
motiviert, Steuern hier zu zahlen.
Wir brauchen ein einfacheres und damit gerechteres
Steuerrecht.
({5})
- Das war Punkt eins. Sie haben nicht zugehört.
Wir brauchen eine Anpassung von § 42 AO. Allerdings - ich sage es noch einmal - stellt die jetzt vorliegende Änderung bereits eine brauchbare Diskussionsgrundlage dar.
({6})
Wir wollen vor allem die Ursachen und nicht die
Symptome bekämpfen. Wenn man sich die Vorschläge
von Gunnar Uldall, Friedrich Merz und Paul Kirchhof
ansieht,
({7})
dann kann man nur sagen: Sie dürfen nicht in den Annalen der Reformpolitik des deutschen Steuerrechts landen.
Wir müssen vielmehr in allen steuerpolitischen Diskussionen daran erinnern, dass wir Vereinfachungen brauchen.
Solange wir uns immer wieder in der Reparaturwerkstatt unseres Steuerrechts wiederfinden, müssen wir uns
leider mit Bordmitteln behelfen. Das gilt auch für die
vom Bundesrat vorgeschlagene Anzeigepflicht bei Steuergestaltungsmodellen. Schon in meiner Rede zum Jahressteuergesetz 2007 habe ich mich für eine vertretbare
Anzeigepflicht bei Steuergestaltungsmodellen ausgesprochen.
({8})
Ob der jetzt gemachte Vorschlag des Bundesrats, das im
Rahmen des Jahressteuergesetzes 2008 zu regeln, praktikabel ist, werden die weiteren Beratungen zeigen.
Manch einer hält einige der geplanten Änderungen
und Anpassungen für eine Verkomplizierung unseres
Steuerrechts.
({9})
Dies mag im Einzelfall sogar zutreffend sein, ist aber,
wenn man im System bleibt, in Anbetracht des ständigen
Flusses der Rechtsprechung und aufgrund notwendiger
Anpassungen an die Realität schlicht unumgänglich.
Wir sehen im Jahressteuergesetz 2008 aber auch Vereinfachungen: Mit der Einführung der elektronischen
Lohnsteuerabzugsmerkmale, mit dem Wegfall der Papierlohnsteuerkarte und mit der Umstellung der Anmeldung zur Kapitalertragsteuer auf das elektronische Verfahren wird dem Stand der Technik Rechnung getragen.
Den Unternehmen und den Steuerbürgern, welche im
täglichen Leben überwiegend ganz selbstverständlich
mit dem Computer umgehen und bereits heute ihre
Lohnsteuererklärung über die Elster-Schnittstelle verschicken, ist nicht mehr zu vermitteln, warum wir jedes
Jahr noch 40 Millionen Lohnsteuerkarten aus Karton
verschicken.
Das neue Verfahren vermeidet unnötige Fehlerquellen
und trägt nicht nur zu erheblicher Entlastung des Steuerzahlers von Bürokratie bei, sondern es entlastet vor allem auch die Finanzverwaltung. Im weiteren Gesetzgebungsverfahren - die Kollegin Frechen hat es schon
angesprochen - müssen wir peinlichst darauf achten,
dass die datenschutzrechtlichen Bestimmungen in diesem Fall eingehalten werden und nur berechtigte Personen Zugriff auf diese Daten erhalten. Aber wir müssen
die Diskussion auch versachlichen: Die Finanzverwaltung hat auch nach der Einführung der elektronischen
Lohnsteuerabzugsmerkmale nur die Daten, die sie schon
heute hat, nämlich die, die auf der Lohnsteuerkarte eingetragen sind.
({10})
Lassen Sie uns also im weiteren Verfahren dafür sorgen,
dass eine missbräuchliche Verwendung dieser Daten
ausgeschlossen ist! Dann sind wir, glaube ich, auf dem
richtigen Weg.
({11})
Eine weitere Neuerung, bei der es Erörterungsbedarf
gibt, stellt die geplante Einführung des Anteilsverfahrens dar. Bei diesem Anteilsverfahren soll das tatsächliche Verhältnis der insgesamt zu entrichtenden Lohnsteuer in der Lohnsteuerkarte eingetragen werden. Das
Ziel ist klar: Wir wollen den Ehegatten mit dem geringeren Einkommen - das ist meist die Frau - entlasten und
wollen, dass auch ein kleines Einkommen eine Berufstätigkeit rentabel macht. Insgesamt ist diese neue Option
zu begrüßen; das hat ja auch die Opposition erkannt.
({12})
Die Teilnahme am Anteilsverfahren erfolgt freiwillig.
Deswegen, meine ich, sind auch die Probleme beim Datenschutz beherrschbar. Wir werden das noch genau ansprechen.
({13})
Eine weitere Haltestelle dieses Omnibusses ist die
EK-02-Thematik. Die Feststellung und Auflösung des
Erhöhungspotenzials aus sogenannten EK-02-Beständen
im Bereich des Körperschaftsteuergesetzes führt zu einer
vielfach geforderten Vereinfachung des Steuersystems.
Auch wenn der Regierungsentwurf im Gegensatz zum
ursprünglichen Referentenentwurf ein Wahlrecht für bestimmte Unternehmen enthält,
({14})
sehe ich hier noch Erörterungsbedarf. In den Beratungen
werden wir deshalb gemeinsam prüfen, ob eine Ausweitung dieses Wahlrechts möglich ist.
({15})
Nun ist der Omnibus eigentlich schon ganz gut gefüllt. Sie haben es vorhin gesagt: Über 200 Einzelsitze
sind schon belegt. Um es mit den gestrigen Worten des
Kollegen Schick zu sagen: Dennoch sind offensichtlich
noch ein paar Plätze frei. Einen sollten wir dabei für die
Bewahrung des Hausbankprinzips reservieren, für die
Sicherung des Geschäftsmodells vieler Banken und
Sparkassen in unserem Land, die Finanzierung und Geldanlage aus einer Hand, vom selben Kreditinstitut, anbieten. Hier greift die Regelung des § 32 d Einkommensteuergesetz in das sogenannte Hausbankprinzip ein.
Diese ungewollte Folge bei den Einschränkungen bei der
Abgeltungsteuer sollten wir möglichst bald korrigieren.
({16})
Auch der Nachtrag zur REITs-Gesetzgebung zur Vermeidung der Doppelbesteuerung bereits belasteter Einkünfte steht an der Bushaltestelle und wartet. Packen
wirs gemeinsam an! Auf gute Beratungen!
({17})
Jetzt hat das Wort die Kollegin Dr. Barbara Höll für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Gutting, Frau Frechen, Sie haben leider
nicht bemerkt, dass Ihr Omnibus inzwischen eine rote
Eskorte bekommen hat.
({0})
Gemeinsam mit dem Jahressteuergesetz 2008 beraten
wir zwei Anträge der Linken,
({1})
die Ihnen die Möglichkeit geben, Fehler, die gemacht
wurden, zu heilen. Wir fungieren gerne mal als Erste
Hilfe.
({2})
Vielleicht haben Sie dann tatsächlich einmal so viel Einsicht, diese Eskorte in den Bus zu bitten und entsprechende Änderungen vorzunehmen.
({3})
Wir schlagen Ihnen in dem ersten Antrag vor, die Entfernungspauschale vollständig anzuerkennen sowie die
Verfassungsmäßigkeit und Steuergerechtigkeit wiederherzustellen. Es bietet sich geradezu an, diese Änderungen im Jahressteuergesetz 2008 aufzugreifen. Es geht
um nicht mehr, aber auch um nicht weniger als darum,
die steuerliche Absetzbarkeit der Fahrten zwischen der
Wohnung und der Arbeitsstätte als Werbungskosten oder
als Betriebsausgaben für Selbstständige sofort und in
voller Höhe wieder einzuführen.
Es ist allen hier im Hause bekannt, dass die Nichtbeachtung der ersten 20 Kilometer bei der Entfernungspauschale zu einer Mehrbelastung sehr vieler Haushalte geführt hat. Jährlich entsteht dadurch eine Mehrbelastung
zwischen 300 und 500 Euro. Außerdem stellt das de
facto auch wieder eine Reduzierung auf ein Verkehrsmittel dar, nämlich im Wesentlichen auf den privaten Pkw;
denn vorher war die Anerkennung immerhin verkehrsmittelunabhängig. Es galt also auch der Fuß- oder der
Radweg.
({4})
Bei dem, was Sie gemacht haben und wo eine Änderung nottut, ist eines allerdings wirklich fatal, dass Sie
nämlich das Werktorprinzip einführen wollen, was der
Finanzminister in der vorigen Woche begründet hat. Im
Jahre 2002 hat Ihnen das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der zeitlichen Begrenzung der steuerlichen Absetzbarkeit der doppelten Haushaltsführung noch einmal
eindeutig bestätigt, dass alle Ausgaben, die ein Individuum tätigt, um Einkommen zu erzielen, steuerlich geltend gemacht werden können. Dieses Prinzip gilt.
({5})
Damals haben Sie versucht, dieses Prinzip bei der
doppelten Haushaltsführung einzugrenzen. Jetzt versuchen Sie es bei der Entfernungspauschale und hoffen,
das noch fortführen zu können. Wenn Sie das Prinzip
einmal durchbrochen haben, dann können wir uns alle
hier im Hause ausrechnen, dass weitere soziale Belastungen anstehen. Als Nächstes wollen Sie vielleicht die
Absetzbarkeit der Ausgaben für Fachbücher und die Absetzbarkeit der Telefonkosten sowie der Anschaffungskosten von Fahrzeugen, die zum Teil geltend gemacht
werden können, streichen. Selbstständige betrifft dies alles in einem noch viel höheren Maße. Das lehnen wir ab.
Kehren Sie deshalb um! Nutzen Sie jetzt die Möglichkeit, das zu tun!
({6})
Als Zweites haben wir Ihnen vorgeschlagen, auf die
heimlichen Steuererhöhungen zu verzichten und die Inflation im Steuerrecht zu berücksichtigen. Viele Bürgerinnen und Bürger dieses Landes haben im Sommer erschreckt feststellen müssen, dass Butter, Milch und sehr
vieles andere teurer geworden ist. Fleisch und einiges
andere mehr wird jetzt ebenfalls noch teurer. Die Lebenshaltungskosten steigen massiv. Die zum Glück endlich wieder erzielten Tarifanpassungen werden davon de
facto schon wieder aufgezehrt.
Wir schlagen Ihnen in unserem Antrag vor, die verschiedenen Möglichkeiten, die es gibt, zu begutachten
und dann zu entscheiden, was man tun könnte. Wir sind
offen für die Diskussion. Wir können das über die Freibeträge oder über Pauschansätze regeln, und wir können
auch die Eckdaten des Tarifs ändern. Das können wir
gerne besprechen, aber wir müssen etwas tun, damit die
Inflation bei der Einkommensteuer tatsächlich berücksichtigt wird.
({7})
Dies müssen wir vor allem auch deshalb tun, weil Sie
sich auf diesem Gebiet wiederum in die Gefahr begeben,
verfassungsfeindlich zu handeln;
({8})
denn der erwerbsbedingte Mehrbedarf wird bei der Sozialhilfe mitberechnet. Wenn die Vorschriften zur Entfernungspauschale nicht geändert werden und wenn die Inflation nicht berücksichtigt wird, dann geraten die
Menschen, die ein niedriges Einkommen haben, in die
Situation, dass das Existenzminimum, das steuerfrei gestellt werden soll, nicht mehr steuerfrei ist.
Noch ein Wort zum Anteilsverfahren und zu den Einwendungen, die bereits erhoben wurden. Da das datenschutzrechtlich sehr kompliziert ist und da schon sehr
viel Kritik zu hören ist, frage ich mich, wohin die Koalition will.
Am gestrigen Tage hat die Familienministerin eine
Umwandlung des Ehegattensplittings in ein Familiensplitting angekündigt. Im nächsten Jahr gehen wir also
den Schritt in Richtung Anteilsverfahren, danach führen
wir das Familiensplitting durch und dann immer weiter.
Seien Sie doch konsequent und wandeln Sie das Ehegattensplitting um, damit nur noch das steuerfreie Existenzminimum gegenseitig berücksichtigt wird!
Frau Kollegin.
Die Mehreinnahmen nutzen wir, um das Kindergeld
auf 250 Euro zu erhöhen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt der Kollege
Dr. Gerhard Schick das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte nur auf zwei der vielen Regelungen eingehen,
die im Jahressteuergesetz 2008 zu finden sind. Die eine
betrifft die Missbrauchsbekämpfung, die andere das Anteilsverfahren bei den Lohnsteuerklassen.
Herr Wissing, Sie haben gefragt, was im Interesse der
Bürgerinnen und Bürger liegt. Sie haben dabei vergessen, dass die meisten Bürgerinnen und Bürger ein gesteigertes Interesse daran haben, dass wir den Missbrauch
von Steuergestaltungen bekämpfen; denn die meisten
Bürger wollen ehrlich ihre Steuern zahlen und nicht die
Steuerlast derjenigen mittragen, die unser Steuersystem
ausnutzen.
({0})
Genau deswegen ist es wichtig, dass wir den Missbrauch
ernsthaft bekämpfen.
Dass zu dem Missbrauch im Einzelnen keine Zahlenangaben vorliegen - das haben Sie angeführt -, stellt
kein überzeugendes Argument dar. Sie haben aber zu
Recht die Frage der Bürokratie angesprochen. Wir schlagen insofern ein System vor - den Vorschlag haben wir
im Übrigen schon vor einem Jahr gemacht -, das eine
andere Handhabung vorsieht.
Herr Dr. Schick, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Wissing zulassen?
Das können wir gerne tun.
Bitte schön.
Herr Kollege Schick, teilen Sie meine Auffassung,
dass man, wenn man Missbrauch bekämpfen will, zunächst einmal feststellen muss, ob Missbrauch vorliegt,
({0})
und dass es nicht überzeugend ist, wenn eine Bundesregierung erklärt, es lägen keinerlei Erkenntnisse über den
Umfang des Missbrauchs durch Verletzungen des § 42
Abgabenordnung vor, und man gleichzeitig darangeht,
den Missbrauch zu bekämpfen? Das ist eine Diskrepanz.
Teilen Sie meine Auffassung, dass das keine konsequente und logische Politik ist?
Herr Wissing, ich teile Ihre Auffassung nicht. Denn
die Tatsache, dass etwas gegeben ist, ist etwas anderes
als die Tatsache, ob man das im Detail nachweisen kann.
Für Missbrauch, Schwarzarbeit und Ähnliches ist typisch, dass wir den Umfang nicht im Detail nachweisen
können.
Aber wenn Sie meinen, dass es keinen Missbrauch
gibt, dann weise ich zum einen darauf hin, dass wir im
Finanzausschuss immer wieder in sehr vielen Details
von Missbrauchsfällen erfahren und uns um die Bekämpfung des Missbrauchs bemüht haben. Zum anderen
muss ich Sie fragen, in welcher Welt Sie leben; man
kriegt doch auch mit, dass bestimmte Gestaltungen empfohlen werden, die rückblickend als nicht rechtmäßig erkannt werden.
An dieser Stelle setzt unser Vorschlag an. Wir finden
eine Meldepflicht am besten, bei der von vornherein für
beide Seiten - den Fiskus und den Steuerbürger - Klarheit geschaffen wird. In diese Richtung geht auch der
Vorschlag aus Thüringen. Ich fordere Sie auf: Greifen
Sie diesen Vorschlag auf! Denn Ihr Gesetzentwurf ist inhaltlich sehr wackelig; das wird zu weiterem Hin und
Her in der Rechtsprechung führen. Sie definieren plötzlich genau, was Missbrauch ist, überlassen aber der
Rechtsprechung die Festlegung dessen, was eine ungewöhnliche steuerliche Gestaltung ist. Damit wird eine
Pseudoklarheit geschaffen, die das eigentliche Problem
nicht löst. Ich hoffe insofern, dass Sie den Vorschlag aus
dem Bundesrat oder den von uns bereits vor einem Jahr
gemachten Vorschlag aufgreifen.
Ich komme zum nächsten Punkt, dem Anteilsverfahren. Hintergrund ist, dass 83 Prozent der Steuerpflichtigen in der Lohnsteuerklasse III Männer sind; in der
Lohnsteuerklasse V sind es bloß 10 Prozent Männer. Der
Anteil der Frauen ergibt sich entsprechend. Daraus wird
deutlich, dass eine typische Aufsplittung zwischen Männern und Frauen besteht. Das gefällt uns nicht. Es ist
diskriminierend für die Frauen und nimmt ihnen die Motivation, Arbeit aufzunehmen. Die Benachteiligung beschränkt sich auch nicht auf das Lohnsteuerverfahren;
denn dadurch, dass sowohl das Elterngeld als auch das
ALG I danach berechnet werden, ergeben sich weitere
finanzielle Nachteile.
Ihre Antwort darauf ist, dass Sie eine Option zwischen einem finanziellen Nachteil beim Elterngeld,
Krankengeld und ALG I auf der einen Seite oder einem
konkreten Zinsnachteil und der Offenlegung der persönlichen Daten gegenüber dem Arbeitgeber auf der anderen Seite einräumen. Das ist eine Wahl zwischen zwei
schlechten Varianten.
Das liegt daran, dass Sie das Kernproblem, die Aufteilung in diese beiden Lohnsteuerklassen, nicht in Angriff nehmen und das Ehegattensplitting beibehalten.
Wir fordern Sie auf: Nehmen Sie die Chance wahr und
machen Sie das Ehegattensplitting in der heutigen Form
genauso wie die Pappkarte bei der Lohnsteuer zum Auslaufmodell!
Danke schön.
({0})
Damit schließe ich die Aussprache.
Die Fraktionen haben beschlossen, die Vorlagen auf
den Drucksachen 16/6290 und 16/6374 an die in der TaVizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
gesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Die
Überweisungen sind beschlossen.
Ich komme zum Tagesordnungspunkt 10 c: Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/6037 mit dem Titel Heimliche Steuererhöhungen vermeiden - Inflation im Steuerrecht berücksichtigen. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Antrag bei
Zustimmung der Fraktion Die Linke, bei Ablehnung
durch die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der FDP
und Enthaltung durch die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothée
Menzner, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Einführung eines generellen Tempolimits
von 130 Stundenkilometern auf Bundesautobahnen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Anton
Hofreiter, Winfried Hermann, Peter Hettlich,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einführung eines generellen Tempolimits
von 120 km/h auf deutschen Autobahnen
- Drucksachen 16/5145, 16/5420, 16/5950
Berichterstattung:
Abgeordneter Gero Storjohann
Es ist vereinbart, hierüber eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Jörg Vogelsänger für die SPD-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Über das Thema Verkehrssicherheit wird immer sehr
emotionsgeladen diskutiert; das wird sicherlich auch
heute so sein. Ich will Fakten dazu beitragen; denn ich
bin der festen Überzeugung, dass die Anträge von Grünen und Linken in diesem Bereich nicht zielführend
sind.
({0})
Unsere Autobahnen sind die sichersten Straßen
Deutschlands. Wir verfügen in Deutschland über das
größte Autobahnnetz in Europa. Die Autobahnen sind
unsere Hauptschlagadern im Straßennetz mit über
30 Prozent der Fahrleistung. Es ereignen sich auf den
Autobahnen weniger als 6,5 Prozent der Unfälle mit Personenschäden. Das sollte man zur Kenntnis nehmen.
Die Horrorzahlen aus den 70er- und 80er-Jahren des
vorigen Jahrhunderts sind zum Glück Vergangenheit. Das
hat vielfältige Ursachen. Die wichtigste Ursache ist ein
anderes Bewusstsein der Verkehrsteilnehmer. Deshalb
finde ich Sprüche wie Tradition des unbeschränkten Rasens oder Bleifußfraktion nicht zielführend. Zur positiven Entwicklung der Unfallzahlen haben zudem die umfangreichen Investitionen in die Infrastruktur - Kollegen,
da wir uns gerade in den Haushaltsberatungen befinden,
können wir noch weitere Beiträge leisten -, die Verkehrssicherheit und selbstverständlich der technische Fortschritt in der Automobilindustrie beigetragen. Ich bin mir
sicher, dass unsere Ingenieure und Fahrzeugbauer hier
weiterhin am Ball bleiben.
({1})
Bei den Themen Telematik und Verkehrsbeeinflussung, ein wichtiger Aspekt bei der Erhöhung der Verkehrssicherheit, stehen wir erst am Anfang. Im Haushaltsentwurf sind 52 Millionen Euro für den Ausbau von
Mobilität und Verkehrstechnologien eingestellt.
Die Bundesregierung legt wie wir einen besonderen
Schwerpunkt auf den Bereich Verkehrssicherheit. Wir in
Deutschland können eine Vorreiterrolle einnehmen und
zeigen, dass die Verkehrssicherheit für den Bürger ohne
ein generelles Tempolimit auf Autobahnen in besonderem Maße gewährleistet werden kann. Die Möglichkeiten, die wir ohne eine allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen haben, sind längst nicht
ausgeschöpft. Insbesondere das flexible Instrument der
Verkehrsbeeinflussungsanlagen auf Autobahnen gilt es
noch stärker zu nutzen. Dies hat gleich mehrere Vorteile:
Man kann flexibel auf Verkehrssituationen und Witterungsbedingungen reagieren. Vor Staus und Unfällen
kann rechtzeitig gewarnt werden. Es ist möglich, die Geschwindigkeitsbegrenzung flexibel zu regeln. In der
Nacht kann der Lärmschutz eine besondere Berücksichtigung finden. - Verkehrsbeeinflussungsanlagen sind
ideale Lösungen zur Senkung der Unfallrisiken, Verbote
sind es nicht.
({2})
Es gibt einen weiteren wichtigen, psychologischen
Effekt. Der Autofahrer kann die getroffene Geschwindigkeitsbeschränkung besser nachvollziehen, wenn er
durch die Verkehrsbeeinflussungsanlage auf den Gefahrenschwerpunkt hingewiesen wird. Das sorgt dafür, dass
die Geschwindigkeit dann eher eingehalten wird. Man
kann ohnehin nicht alles kontrollieren.
Wer ein allgemeines Tempolimit erlässt, muss dies
auch kontrollieren. Dazu gäbe es zwei Möglichkeiten:
Zum einen könnte man den Personalbestand bei den zuständigen Polizeibehörden erhöhen. Es gibt aber Bundesländer, in denen eine andere Tendenz vorherrscht; ich
bedaure das. Zum anderen könnte man die Kontrollen
von den Unfallschwerpunkten abziehen. Das aber wäre
nach meiner Ansicht kontraproduktiv.
Im Übrigen gibt es bereits auf einem Großteil der
deutschen Autobahnen Geschwindigkeitsbeschränkungen. Das hat vielfache Ursachen, zum Beispiel Unfallschwerpunkte, der unbefriedigende Zustand der Fahrbahn oder auch Lärmschutz. Bei Letzterem muss man
berücksichtigen, dass der Hauptverursacher von Lärm
der Lkw und nicht der Pkw ist. Eine allgemeine Geschwindigkeitsbeschränkung auf Autobahnen bringt
keine maßgebliche Pegelreduzierung. Auch hier sind regionale und örtliche Beschränkungen der richtige Weg.
Es gibt viele vergleichende Statistiken im Bereich der
Verkehrssicherheit. Wer Tempolimits auf Autobahnen in
anderen europäischen Ländern als Argument benutzt,
sollte auch die Unfallstatistiken vergleichen. Die Unfallzahlen in anderen europäischen Ländern sind trotz eines
allgemeinen Tempolimits vielfach weitaus höher als in
Deutschland. Das hat mit der Akzeptanz von gesetzlichen
Regelungen zu tun. Eine Studie aus dem Nachbarland
Schweiz hat ergeben, dass die Bürger die allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung von 120 Stundenkilometern
grundsätzlich akzeptieren, die Mehrzahl hält sich nur
nicht daran.
({3})
Ich stelle Ihnen eine Frage: Würden sich alle Kollegen,
wenn sie sonntags morgens unterwegs wären und einen
dringenden Termin im Wahlkreis hätten, auf einer freien
dreispurigen Autobahn an die Geschwindigkeitsbeschränkung halten?
({4})
- Gut, das freut mich.
Der Staat bzw. der Gesetzgeber kann und sollte nicht
alles regeln. Insbesondere beim Thema Verkehrssicherheit hat jeder Verkehrsteilnehmer eine besondere Verantwortung. Ich muss eines sagen: Es gibt immer wieder
Umfragen, die belegen, dass die Bürger für eine allgemeine Geschwindigkeitsbeschränkung sind. Wir schreiben keinem Bürger vor, 160 Stundenkilometer auf der
Autobahn zu fahren. Es ist jedem freigestellt, sich an die
Regelgeschwindigkeit zu halten. Wir brauchen nicht immer neue Gesetze und Verordnungen. Wir müssen die
Menschen überzeugen. Ich glaube, das geht nicht mittels
eines allgemeinen Tempolimits.
Vielen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Patrick Döring für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Vogelsänger, Herr Kollege Storjohann, zunächst eine gute Nachricht: Wir stimmen heute - alle
drei Fraktionen gemeinsam - für die Beschlussempfehlung. Insofern bekommt die Koalition ein wenig Rückendeckung von der FDP-Fraktion.
({0})
Das ist umso überraschender, wenn Sie sich einmal
bemühen, die Historie dieser Debatte aufzuarbeiten. Seit
der 10. Wahlperiode erblickt regelmäßig ein Antrag dieser Art das Licht dieses Saales bzw. in Bonn eines anderen Saales. Der Beginn war am 26. Oktober 1983 mit einem Antrag von Frau Beck-Oberdorf, einem gewissen
Herrn Otto Schily und einer Frau Kelly sowie der Fraktion Die Grünen.
({1})
Notmaßnahmen gegen das Waldsterben durch Geschwindigkeitsbegrenzungen bei Kraftfahrzeugen, so
hieß es damals. Seitdem haben bis zur Regierungsübernahme durch Rot-Grün im Jahr 1998 57 parlamentarische Initiativen in diesem Hause so viel Widerhall gefunden, dass sie immer wieder abgelehnt wurden,
insbesondere die vielen Anträge der sozialdemokratischen Fraktion in der 10., 11. und 12. Wahlperiode.
({2})
Kaum regierte Rot-Grün, die glühendsten Befürworter
von Tempolimits, ebbte die parlamentarische Arbeit auf
diesem Gebiet schlagartig ab. In beiden Wahlperioden,
in denen Rot-Grün regierte, gab es außer zwei Anträgen
der PDS keine weitere Initiative zu diesem Thema.
Nun kann man sagen, dass die Sozialdemokratie in
den Wahlperioden 10 bis 13 so viel dazugelernt hat, dass
sie dieses Thema nicht weiterverfolgte, als sie Verantwortung hatte. Dazu kann man nur herzlich gratulieren.
Warum?
Das Argument der Verkehrssicherheit ist schlicht eine
Behauptung, die durch einfache Fakten widerlegt werden kann.
({3})
85 Prozent aller tragischen Unfälle mit Todesfolge werden auf Straßen mit einem generellen Tempolimit verzeichnet, nämlich außerorts auf Bundesstraßen. Dort gilt
Tempo 100, wie wir alle wissen.
({4})
- Das sind keine Autobahnen. Das ist doch der entscheidende Punkt. - Daraus wird deutlich, dass auf weniger
als der Hälfte des deutschen Autobahnnetzes, auf der
noch kein Tempolimit gilt, die Verkehrsgefährdung so
groß nicht sein kann. Oder gibt es irgendeinen Verkehrsminister, egal welcher Couleur, von dem Sie glauben,
dass er eine Tempobeschränkung nicht einführen würde,
wenn es zu Unfallschwerpunkten auf Autobahnteilabschnitten ohne Tempolimit gekommen wäre?
({5})
Ich glaube, diesen Verkehrsminister gibt es nicht, weder
bei den Sozialdemokraten noch bei den Grünen, auch
nicht bei den Christdemokraten und den Liberalen. Denn
jeder Verkehrsminister führt auf Autobahnen Tempolimits ein, wenn es notwendig ist und verstanden wird.
({6})
Bleibt das ökologische Argument wie Waldsterben
oder andere Punkte.
({7})
- Klimawandel. - Dazu gibt es eine Untersuchung des
Vereins Deutscher Ingenieure, die das Gutachten des
Umweltbundesamtes zerpflücken, weil das Umweltbundesamt fälschlicherweise davon ausgeht, dass jeder, der
auf einem nicht limitierten Autobahnteilstück fährt,
schneller als 120 oder 130 Stundenkilometer fährt. Das
ist aber gar nicht der Fall; die meisten von uns nehmen
das in der Realität auch wahr. Weit weniger als die
Hälfte aller Verkehrsteilnehmer fährt auf den Teilstrecken, auf denen keine generellen Tempolimits gelten,
aus welchen Gründen auch immer, mehr als 120 oder
130 Stundenkilometer. Das heißt, am Ende könnte im
Pkw-Verkehr vielleicht ein Einspareffekt von
0,08 Prozent des Gesamtausstoßes von CO2 erzielt werden, so der Verein Deutscher Ingenieure, die ich für
Fachleute halte, auch wenn andere das nicht so sehen.
Nun mögen die Grünen sagen: Warum nicht? Das ist
immerhin etwas. - Einverstanden. Ich glaube aber, dass
es zu dieser Minderung überhaupt nicht kommt, weil die
Fahrerinnen und Fahrer, wie es Herr Kollege
Vogelsänger gesagt hat, kein Verständnis haben werden
für Tempolimits auf Streckenabschnitten, die wenig befahren werden, oder für Tempolimits in der Nacht und
am frühen Morgen.
Frau Präsidentin, ich bitte um Entschuldigung. Ich
komme gleich zum Schluss. - Bleibt als drittes Argument die Behauptung: Wenn wir ein generelles Tempolimit haben, dann werden sich die Exportfahrzeuge so verändern - nämlich leichter werden und abgerüstet
werden; gelegentlich hört man diesen martialischen Begriff -, dass wir insgesamt etwas erreichen.
({8})
- In die USA exportiert die Automobilindustrie dieses
Landes erfolgreich Fahrzeuge - man darf sie dort zwar
nie ausfahren, was allerdings nichts mit der Motorisierung zu tun hat - wegen einer überzeugenden Technik
und wegen überzeugender Sicherheitsanforderungen.
Alle Ihre Argumente sind nicht überzeugend. Deshalb
schließen wir uns der Beschlussempfehlung an.
Herzlichen Dank.
({9})
Nun hat das Wort der Kollege Gero Storjohann für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Abend beginnt gut. Dank der Ankündigung
der FDP-Fraktion, diese Anträge abzulehnen, macht es
Spaß, hier vorne zu stehen. Ich stelle fest: Die Opposition ist sich nicht einig.
({0})
Sie möchten gerne Tempolimits auf Autobahnen haben,
begrenzt entweder auf 120 oder 130 Stundenkilometer.
Der Kollege Döring hat soeben festgestellt, wie lange
wir hier in diesem Hause schon über dieses Thema sprechen. Angesichts dessen wäre ein zwischen den beiden
Oppositionsfraktionen abgestimmter Antrag gar nicht so
falsch gewesen.
Zur Einführung eines generellen Tempolimits stelle
ich Folgendes fest: Unsere Autobahnen sind die sichersten Straßen Deutschlands. In Schleswig-Holstein habe
ich nur noch selten die Gelegenheit, zu rasen, wie Sie sagen. Ich bin froh, wenn ich da 100 oder 120 Stundenkilometer fahren kann. Die Fahrzeuge auf den dortigen
Autobahnen sind in erster Linie Lkws. Wie Sie alle wissen, unterliegen Lkws einem generellen Tempolimit, das
bei 80 Stundenkilometern liegt. Wie Sie ebenfalls wissen, wird dieses Tempolimit nicht eingehalten. Wenn es
denn so ist, ist es doch eigentlich Sache der Länder,
mehr zu kontrollieren, um der Verkehrssicherheit zu dienen. Aber auch dazu sind wir schon nicht mehr in der
Lage. Deswegen stellt sich die Frage: Was machen wir
insgesamt?
Auf den Bundesautobahnen werden rund 31 Prozent
aller in Deutschland von Kraftfahrzeugen gefahrenen
Kilometer zurückgelegt. Der Anteil der auf den Bundesautobahnen zu Tode gekommenen Verkehrsteilnehmer
liegt bei etwa 12 Prozent. Er ist im Vergleich zu den Verkehrsteilnehmern, die auf anderen Straßen zu Tode gekommen sind, also signifikant geringer. Auf deutschen
Autobahnen verunglücken rund 7,5 Prozent aller Verkehrsteilnehmer. Lediglich 6 Prozent aller Unfälle mit
Personenschäden ereignen sich dort.
Ich komme zu meinem Eingangsstatement zurück.
Unsere deutschen Autobahnen sind die sichersten Straßen in Deutschland.
({1})
Sie sind am wenigsten unfallträchtig. Für mich ist auch ein
entscheidendes Argument, die Verkehrssicherheit - wir
müssen sie ebenfalls im Auge haben; ich möchte Verkehrssicherheit nicht gegen Umwelt ausspielen - zu gewährleisten und weiter zu verbessern.
Was die Geschwindigkeitsbegrenzung anbetrifft, ist
Folgendes festzuhalten: Derzeit sind knapp 40 Prozent
des Autobahnnetzes dauerhaft oder temporär geschwindigkeitsbeschränkt. Temporäre Geschwindigkeitsbeschränkungen werden etwa durch Baustellen verursacht.
In diesem Bereich haben wir sehr viele Unfälle. Auf
9 Prozent des Netzes werden Geschwindigkeitsbeschränkungen durch Verkehrsbeeinflussungsanlagen in
Abhängigkeit von Verkehrsdichte oder Wetter bereits
heute angeordnet. Damit unterliegt faktisch schon knapp
die Hälfte des deutschen Autobahnnetzes einem Tempolimit.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch auf
Folgendes hinweisen: 15 Prozent des gesamten Verkehrs
werden auf Autobahnen mit dieser Geschwindigkeitsbeschränkung abgewickelt. Das Tempolimit von
80 Stundenkilometer für Lkws habe ich bereits erwähnt.
Ein Zusammenhang zwischen Tempolimit und Sicherheitsniveau auf Autobahnen ist international nicht feststellbar. Man kann vielleicht sagen, dass ausländische
Autobahnen von anderer Qualität sind. Aber ich glaube,
es wäre zu einfach, zu sagen: Wir drücken das Tempo,
und dann wird sich die Verkehrssicherheit erhöhen.
({2})
Ein europäischer Vergleich hinsichtlich der Verkehrssicherheit zeigt, dass Deutschland zum Teil bessere Ergebnisse aufweisen kann als Länder mit Geschwindigkeitsbegrenzungen auf ihren Autobahnen. Diese positive
Entwicklung der Verkehrssicherheit in Deutschland verdanken wir nicht zuletzt vielfältigen Maßnahmen im Bereich der Kraftfahrzeugtechnik.
({3})
In diesem Bereich ist Deutschland führend. Es wurden in
Deutschland besondere Anstrengungen unternommen,
und das macht sich auf dem Weltmarkt bemerkbar. Es
wurden passive und aktive Sicherheitssysteme entwickelt. Hierzu zählen das elektronische Stabilitätsprogramm ESP sowie das Antiblockiersystem ABS.
Wie auch in unserem Land schätzen die Kunden weltweit Sicherheit, Leistung, Komfort, sparsamen Verbrauch, Design und Image an deutschen Autos. Eine Antriebsfeder für diesen technischen Fortschritt ist immer
auch das deutsche Autobahnsystem gewesen. Insbesondere die Sicherheitseigenschaften stehen in engem Zusammenhang mit dem Gewicht eines Autos und somit
dem Kraftstoffverbrauch. Das haben wir alles bei der
Debatte um die Caravans erlebt. Je sicherer wir die Caravans machen, umso schwerer werden sie. Damit haben
wir eine Debatte, die wir vor 20 Jahren noch gar nicht zu
führen brauchten. Deshalb muss weiterhin die Gesamteffizienz der Fahrzeuge optimiert werden.
Ein Tempolimit würde nach meiner Auffassung zu einem verminderten Interesse der Kunden an Sicherheitstechnologie sowie zu Konsequenzen bei den Unfallfolgen und der deutschen Wettbewerbsfähigkeit führen. Die
CDU/CSU-Fraktion sieht auch angesichts dieser Tatsache die Verbesserung der Fahrzeugsicherheit durch moderne Fahrzeugtechnik als zwingend notwendig an, um
zu einer weiteren Senkung der Unfallzahlen auf unseren
Straßen zu gelangen.
Auch für den Umweltschutz würde ein generelles
Tempolimit auf Autobahnen keine erkennbaren Verbesserungen zur Folge haben. Nur verhältnismäßig wenige
Pkws fahren mit so hohen Geschwindigkeiten, dass sich
eine solche Begrenzung bei der Schadstoffemission bemerkbar machen würde.
({4})
Die Bundesanstalt für Straßenwesen hat 1992 errechnet, dass rund zwei Drittel der Fahrleistungen auf Autobahnen mit Geschwindigkeiten unter der Richtgeschwindigkeit von 130 Stundenkilometern erbracht werden.
Damals wurde festgestellt, dass nur etwa 13 Prozent aller Personenkraftwagen über 150 Stundenkilometer fahren. Nun ist das 15 Jahre her, und die Verkehrsdichte ist
gestiegen. Insofern werden sich die Verhältnisse noch
verschoben haben. Deshalb kann auf unseren Autobahnen weniger zügig gefahren werden. Die meisten Emissionen entstehen immer noch durch Überholvorgänge
oder Staus, die ohnehin unsinnig sind.
Die Verkehrssicherheit sollte uns allen am Herzen liegen. Deswegen müssen wir alles dafür tun, dass die Autos da fahren, wo dies am sichersten ist, nämlich auf den
Autobahnen. Wir dürfen sie nicht auf nachgelagerte
Straßen wie die Landstraßen verdrängen; denn die zählen zu den Straßen mit enormem Begegnungsverkehr.
Dadurch werden sie gefährlich. Dort gibt es Radfahrer
und Fußgänger. Sobald wir durch politische Maßnahmen
Fahrzeuge auf die Landstraße drängen, entstehen Debatten. Erinnern wir uns an die Maut-Debatte! Durch die
Bemautung der Autobahnen gab es am Anfang Ausweichverkehre; das hat sich in der Zwischenzeit wieder
etwas zurückverlagert. Dadurch haben wir aber spüren
können, dass auch politische Weichenstellungen sehr
wohl Auswirkungen auf die Verkehrssicherheit haben.
Die CDU/CSU wird einen Schwerpunkt auf die Entwicklung einer flexiblen zukunftsweisenden Infrastruktur legen, die die Lebensqualität und vor allem die Mobilität der Menschen im privaten und beruflichen Bereich
sicherstellt. Wir sprechen uns für den verstärkten Ausbau elektronischer Verkehrsbeeinflussungsanlagen entlang unserer Autobahnen aus. Eine flexible Geschwindigkeitsregelung ermöglicht es, das Tempo an die
jeweilige Verkehrssituation und die Umfeldbedingungen
anzupassen. Diese Flexibilität erlaubt eine optimale Nutzung unserer Autobahnen.
({5})
Verkehrsabhängige Straßenverkehrsbeeinflussungsanlagen, mit deren Hilfe die Geschwindigkeit sowie Überholverbote situationsabhängig geregelt werden können,
leisten einen hohen Beitrag zum optimierten Fahrverhalten. Dadurch werden der Verkehrsablauf auf unseren
Autobahnen und somit auch die Verkehrssicherheit verbessert. Untersuchungen haben ergeben, dass im Bereich
elektronischer Verkehrsbeeinflussungsanlagen ein RückGero Storjohann
gang der Unfallzahlen um 20 bis 30 Prozent festzustellen ist.
Im Bundeshaushalt stellen wir Mittel für den Bau von
Verkehrsbeeinflussungsanlagen bereit. Wir werden auch
für eine Aufstockung sorgen. Da muss die Politik Schritt
für Schritt vorgehen. Wir wollen deutlich machen, wo
unser Schwerpunkt ist. Hier werden wir noch einmal
Gas geben.
Geschwindigkeitsbeschränkungen müssen für die
Verkehrsteilnehmer nachvollziehbar sein.
({6})
Ein einheitliches Tempolimit - ich kenne es aus Schleswig-Holstein unter Rot-Grün; damals wurde auf den Autobahnen eine einheitliche Geschwindigkeit festgelegt ist nicht nachvollziehbar.
({7})
Nachdem es jetzt von Dietrich Austermann wieder aufgehoben wurde, haben wir vernünftige Verkehrsverhältnisse auf den Straßen, und die Menschen passen ihre Geschwindigkeit der jeweiligen Situation an. Wenn sie
nachts nicht schnell fahren sollen, dann tun sie es auch
nicht. Aber wenn tagsüber auf einsamen Strecken die
Autobahn frei ist, ist es halt anders.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die CDU/
CSU-Fraktion wird die Anträge sowohl der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen als auch der Fraktion Die Linke
ablehnen.
({8})
Nächster Redner ist nun der Kollege Lutz Heilmann
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Werte Gäste! Gut 66 Prozent der Bevölkerung sind für
den Abzug deutscher Soldaten aus Afghanistan.
67 Prozent der Bevölkerung lehnen die Kapitalprivatisierung der Bahn ab.
({0})
Sie haben heute für eine Verlängerung des AfghanistanEinsatzes gestimmt und sind gerade dabei, den zweiten
Coup über die Bühne zu ziehen. 73 Prozent der Menschen hierzulande sind nach einer Forsa-Umfrage für die
Einführung eines Tempolimits. Dies werden Sie - Sie
haben es angekündigt - heute ablehnen. Diese drei Beispiele zeigen eines ganz deutlich: Sie regieren das Land
gegen den Willen der Mehrheit der Menschen.
({1})
Ich schlage der Bundesregierung daher vor, sich ein anderes Volk zu wählen.
({2})
Warum sind Sie gegen ein allgemeines Tempolimit?
Ihre Argumente sind nach unserer Meinung nur Scheinargumente, die bei genauerem Hinsehen wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Mehr als Ideologie haben Sie leider nicht zu bieten.
({3})
Warum also nun? Die Antwort auf diese Frage können
Sie derzeit bei der IAA in Frankfurt am Main finden. Zu
Beginn der IAA machte der Titel Grüne Woche in
Frankfurt die Runde. Alle Medien berichteten davon,
wie innovativ die deutsche Autoindustrie sei. Vergessen
die Nichteinhaltung der Selbstverpflichtung zur CO2-Reduzierung, vergessen die Schelte der letzten Monate von
Politik und Öffentlichkeit, vergessen auch das Feilschen
um jedes Gramm CO2. Wir sind endlich wieder wer!
Aber als der Trubel der Eröffnung vorbei war und die
selbsternannte Klimaschützerin der Nation, Kanzlerin
Angela Merkel,
({4})
auch vor ökologischen Neuheiten posiert hatte, ging es
im gewohnten Stile weiter. Ganz schnell verschwanden
die Ökoautos wieder in den Nischen, wohin sie gefälligst
auch gehören, zumal die meisten davon das Studienstadium noch nicht verlassen hatten. Ab dem dritten Tag
gab es endlich wieder die wahren Leistungen der deutschen Autoindustrie zu sehen: PS-stark, groß und
schnell. Ideal für die Jagd von Großwild am Berliner
Alex! Gerade diese Autos will aber Minister Tiefensee
unter Artenschutz stellen.
Vor allem Geschwindigkeit ist dabei gefragt. So richtig frei sind Sie doch erst bei Tempo 200, Herr Kollege
Scheuer.
({5})
Aber da sind Sie wieder in der Minderheit; denn
54 Prozent der Menschen hierzulande haben beim Autofahren Angst, etwa Angst vor drängelnden Rasern auf
der linken Spur.
({6})
Für die Mehrheit der Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer bedeutet eine Geschwindigkeit von 180
bis 200 Stundenkilometer keine Freiheit, sondern Stress
und Anstrengung.
Nun ganz kurz einige Verkehrsunfallzahlen: 2005
starben auf deutschen Autobahnen 662 Menschen, davon 428 auf Strecken ohne Geschwindigkeitsbegren11916
zung. Das heißt, circa 70 Prozent der Verkehrstoten auf
Autobahnen sind dort zu beklagen, wo einige ihrem
Freiheitsverständnis freien Lauf lassen.
({7})
Zurück zur IAA: Sie wird - jetzt muss ich mich leider
an die Grünen wenden - auch durch einen grünen Infostand nicht zur Ökoveranstaltung. Es macht nur deutlich,
wohin und womit die Reise der Grünen geht. Das Hauptziel der Vermeidung von Individualverkehr haben Sie offenbar aufgegeben. Aber Sie sind ja dafür bekannt,
Grundsätze ganz einfach einmal zu begraben.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Tempolimit
bringt nicht nur eine Senkung der CO2-Emissionen; es
gewährleistet auch die Funktion der Katalysatoren.
Diese schalten sozusagen bei Tempo 120 ab, und in der
Folge werden vermehrt andere Emissionen wie Kohlenmonoxid oder Kohlenwasserstoffe ausgestoßen. Das
dürfte auch Ihnen bekannt sein. Wenn nicht, dann empfehle ich Ihnen, das Sondergutachten des Sachverständigenrates für Umweltfragen Umwelt und Straßenverkehr
zu lesen. Vielleicht lernen Sie noch etwas dazu.
Ein Tempolimit sorgt in letzter Konsequenz auch für
die Entschleunigung des Lebens. Gerade für ältere Verkehrsteilnehmer ist es eine wichtige Maßnahme. Leider
wurde gestern im Verkehrsausschuss die Debatte zum
Thema Demografischer Wandel verschoben. Ich bin
mir sicher, dass alle Kolleginnen und Kollegen von dem
Bericht des Beirates für nachhaltige Entwicklung profitieren würden.
Was bleibt am Ende festzuhalten? Die Große Koalition regiert an der Mehrheit der Menschen vorbei.
({9})
Sie hat nicht den Mut, alte, eingefahrene Wege zu verlassen. Die Quittung dafür werden Ihnen die Menschen
hoffentlich spätestens 2009 geben - falls Sie es überhaupt so lange miteinander aushalten.
({10})
Nach der gestrigen Sitzung im Umweltausschuss bin ich
mir da nicht so sicher.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
({0})
Dort geben Sie eher das Bild einer Zwangsehe als das
einer Partnerschaft ab.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche
noch einen angenehmen Abend.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Dr. Anton Hofreiter für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Seit vielen Jahren wird in diesem Haus über
das Tempolimit gesprochen. Es ist eines der großen Probleme, die noch nicht bewältigt sind.
({0})
Wir haben hier von vielen gehört, was angeblich die
Fakten seien. Aber wie sind denn die Fakten in Wirklichkeit?
Erstes Thema: Klimaschutz. Die Abteilung Verkehr
des UBA hat festgestellt, dass die CO2-Minderung durch
die Einführung des Tempolimits mindestens 9 Prozent
betrüge, und das wären nur die direkten Effekte ohne die
indirekten. Wenn Sie die Abteilung Verkehr des UBA
kennen würden, wüssten Sie, dass das die besten Fachleute weltweit sind.
({1})
Es gibt wenige Fachleute, die weltweit so mit Preisen
ausgezeichnet worden sind wie diejenigen in dieser Abteilung, und genau diese Fachleute stellen fest, dass das
Tempolimit eine erhebliche CO2-Minderung zur Folge
hätte.
({2})
Selbstverständlich sind sich die Fachleute auch einig,
dass die Autos leichter, intelligenter und damit letztendlich verbrauchsärmer werden könnten, das heißt anders
gebaut werden könnten.
Ich war gerade auf der IAA.
({3})
Dort hört man viel von Umweltschutz. Aber wenn man
sich dort umschaut, sieht man Familienautos mit über
500 PS - vollkommen absurd! Es wird argumentiert, die
Familienautos hätten zwar über 500 PS, aber pro PS
würden sie so wenig CO2 ausstoßen wie noch nie. Welch
absurde Argumentation!
({4})
Natürlich gäbe es durch ein Tempolimit auch weniger
Lärm, und wir könnten die Autobahnen kostengünstiger
bauen. Aber der Hauptvorteil wäre, dass es weniger Verletzte, Schwerverletzte und Tote gäbe. Ich habe heute
mit jemandem von der Berufsfeuerwehr und mit einem
hohen Polizeibeamten, der in dem Bereich tätig ist, gesprochen. Ich glaube, wenn sie die Debatte verfolgen
könnten, würden sie sich etwas wundern und wahrscheinlich sogar schämen. Sie haben mir von den Problemen erzählt und gesagt, wie dankbar sie wären, wenn
es ein Tempolimit gäbe, weil dann nämlich auch weniger
ihrer Rettungskräfte totgefahren würden. Genau so haben sie es gesagt und gemeint. Und nun sehen sie ein
Hohes Haus, das über dieses Thema feixt und sich lustig
macht.
Wir können über manche Themen, gerade am Abend,
auch einmal entspannter reden. Aber angesichts dessen,
was man zu diesem Thema gehört hat, schämt man sich
ehrlich gesagt etwas dafür, wie diese Debatte geführt
wird. Die Fachleute auf europäischer Ebene und bei der
deutschen Polizei sind sich einig: Durch ein Tempolimit
gäbe es weniger Tote und Schwerverletzte. Fragen Sie
bei der Hochschule der Polizei in Münster nach; die erklären Ihnen das. Sie bieten Ihnen vielleicht sogar an,
mit einem Videowagen mitzufahren. Hoffentlich ändern
Sie dann Ihre Meinung. Oder gehen Sie einmal zu einer
Unfallstelle, wenn jemand nach einem Unfall bei über
200 km/h aus einem Auto herausgeschnitten wird. Ob
dann immer noch so gelacht wird und ob man das dann
immer noch so feixend abtun kann, frage ich mich doch
sehr.
({5})
- Gefeixt hat die FDP, gefeixt hat die CDU/CSU und gefeixt hat auch die SPD. Bei diesem Thema ist das peinlich.
({6})
Das tut mir wirklich leid. Man sollte manche Themen
hier im Haus ernsthafter und angemessener behandeln.
({7})
Geben Sie sich einen Ruck, überwinden Sie Ihre Ideologie,
({8})
gehen Sie auf die Mehrheit der Bevölkerung zu und fragen Sie die Fachleute sowie die Mehrheit aller Länder in
Europa. Wir sind das einzige Industrieland weltweit, das
kein Tempolimit hat.
({9})
Stimmen Sie für mehr Klimaschutz und stimmen Sie für
mehr Verkehrssicherheit!
({10})
Ich schließe nun die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung auf Drucksache 16/5950. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5950 die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5145
mit dem Titel Einführung eines generellen Tempolimits
von 130 Stundenkilometern auf Bundesautobahnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen .
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/5420 mit
dem Titel Einführung eines generellen Tempolimits von
120 km/h auf deutschen Autobahnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist diese Beschlussempfehlung mit
dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 12 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Vorbereitung eines registergestützten Zensus einschließlich einer Gebäude- und Wohnungszählung 2011 ({0})
- Drucksache 16/5525 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({1})
- Drucksache 16/6455 Berichterstattung:
Abgeordnete Kristina Köhler ({2})
Christian Ahrendt
Silke Stokar von Neuforn
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
- Bericht des Haushaltsausschusses ({3})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/6456 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Luther
Bettina Hagedorn
Otto Fricke
Roland Claus
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
FDP dazu vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe
dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Kristina Köhler für die
CDU/CSU-Fraktion.
({4})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten
heute den Entwurf für das Zensusvorbereitungsgesetz 2011. Das Gesetz schafft die Voraussetzungen dafür,
dass wir rechtzeitig mit den Vorbereitungen für den für
das Jahr 2011 vorgesehenen registergestützten Zensus
beginnen können. Damit betreten wir methodisches
Neuland, und ich bin stolz darauf, dass wir das gemeinsam umsetzen werden.
Denn das war beim Thema Volkszählung ja nicht immer so. Vor rund 20 Jahren sahen die Diskussionen noch
ganz anders aus. In einem Ratgeber von damals mit dem
Titel Wie wehre ich mich gegen die Volkszählung? hieß
es, die Volkszählung bereite den Weg zu einer - ich
zitiere wörtlich - Welt psychischer Schrecknisse und
verletzter Menschenwürde, der Vernichtung von Liberalität und Persönlichkeit.
({0})
Das haben damals nicht die Grünen gesagt.
({1})
Die Grünen waren wirklich kreativer und witziger.
({2})
Die Grünen haben uns damals zum Beispiel ein Flugblatt
präsentiert mit dem Titel 99 Wege, einen Fragebogen zu
zerstören.
({3})
Von - ich zitiere - Reißen, Schneiden, Kaffeeausschütten bis hin zum Versenden an die deutsche Botschaft in Botswana boten Sie differenzierte Methoden
für den Volksaushorchungsboykotteur.
({4})
Übertroffen wurden die Grünen freilich noch von den
anscheinend friedliebenden Demonstranten, die aber gegen die Volkszählung mit dem etwas weniger friedliebenden Spruch mobil machten: Zählt nicht uns, zählt
eure Tage.
({5})
Nun, liebe Kolleginnen und Kollegen, heute diskutieren wir etwas anders über diese Fragen. Wir sind uns einig, dass man ohne solide Daten keine ordentliche Politik machen kann. Deshalb brauchen wir vernünftige
Statistiken, die auf der Höhe der Zeit sind. Das sind die
Daten, die wir heute zur Verfügung haben, nicht mehr,
und 2011 sind sie das erst recht nicht mehr; denn die vorhandenen Daten beruhen auf alten Volkszählungen. In
den alten Bundesländern arbeiten wir immer noch mit
den Zahlen vom Zensus 1987. In den neuen Bundesländern arbeiten wir sogar mit den Zahlen vom Zensus
1981. Unsere Basisdaten sind also bereits über 20 Jahre
alt. Sie werden zwar hochgerechnet und aktualisiert,
aber damit potenzieren sich auch die Fehlerquellen. Kein
Unternehmen würde mit einer derart veralteten Datenbasis arbeiten und daran seine Ausgaben ausrichten.
({6})
Deswegen hat die Große Koalition das Thema Zensus
in den Koalitionsvertrag aufgenommen, und heute setzen wir das Ganze um. So gibt es Schätzungen, die davon ausgehen, dass in Deutschland bis zu 1,3 Millionen
Menschen weniger leben, als es die offiziellen Statistiken sagen. Solch eine Lücke wäre für unser Land enorm
und müsste zu Neujustierungen in der Politik führen.
Und: Mehr als 50 Gesetze basieren auf den Bevölkerungszahlen. Die Zahlen regeln den Länderfinanzausgleich. Sie regeln den kommunalen Finanzausgleich.
Sie regeln die Einteilung der Wahlkreise. Sie regeln sogar - vielleicht macht das irgendjemandem Hoffnung die Stimmenverteilung im Bundesrat. Deswegen ist die
Bedeutung dieser Zahlen enorm.
Realistische Daten sind aber auch notwendig, um
festzustellen, wie viele Schulen eine Stadt braucht, ob
ein neues Krankenhaus geplant werden muss. Sie sind
die Grundlage für die Verkehrsplanung und den Wohnungsbau. Sie sehen also, diese Zahlen betreffen uns
alle. Es geht hierbei nicht um langweilige Statistik, sondern dieses Thema betrifft uns alle direkt und unmittelbar. Es ist daher höchste Zeit, dass wir die Zahlen auffrischen.
({7})
Kristina Köhler ({8})
Meine Damen und Herren, die Notwendigkeit einer
Volkszählung ist eigentlich weitgehend unbestritten.
Dass sich selbst die Grünen heute - wenn sie es wie im
Ausschuss machen - der Stimme enthalten, ist angesichts der damaligen Haltung schon eine kleine Revolution.
Die eigentliche Frage ist jedoch, wie die Volkszählung durchgeführt werden soll. Aber auch hier besteht
weitgehend Einigkeit. Eine direkte Vollerhebung bei den
Bürgern in Deutschland wäre nicht mehr Standard. Eine
Vollerhebung birgt Unsicherheiten. Sie verursacht hohe
Kosten und vor allem natürlich auch Belastungen für den
Bürger. Aber eine solche Vollerhebung brauchen wir
auch gar nicht mehr. Mittlerweile stehen uns zur Datenerhebung neue statistische Methoden zur Verfügung, die
eine effiziente und sichere Erfassung von Bevölkerungsdaten ermöglichen. In jahrelanger Arbeit haben das Statistische Bundesamt in Wiesbaden und die Landesämter
an dieser Methode gearbeitet. Sie haben hier echte Pionierarbeit geleistet, und wir sind stolz darauf, dass unsere Landesämter und das Bundesamt ein solch fundiertes Konzept vorgelegt haben, dass sie methodisch
Neuland betreten und Pionierarbeit geleistet haben.
({9})
Die Methode des registergestützten Zensus besteht
aus einem Dreischritt. Erstens werden wir die Melderegister, die Daten der Bundesagentur für Arbeit sowie die
Daten zum Personalbestand der öffentlichen Hand übereinanderlegen, auswerten und gewissermaßen ihren
wahren Kern herausfiltern. Zweitens werden wir eine
postalische Befragung der Gebäude- und Wohnungseigentümer zur Gewinnung der Gebäude- und Wohnungsdaten durchführen. Drittens werden wir eine Stichprobe
von rund 10 Prozent der Bevölkerung ziehen, um so die
durch die Register gewonnenen Daten korrigieren zu
können, aber auch um weitere Merkmale, die wir über
die Register nicht gewinnen, erheben zu können.
Darum, all das vorzubereiten, geht es heute. Das Zensusvorbereitungsgesetz schafft die rechtlichen Voraussetzungen dafür, dass das notwendige Anschriften- und
Gebäuderegister aufgebaut werden kann. Ferner schafft
es die rechtlichen Voraussetzungen für die Datenübermittlungen, die zur Zensusvorbereitung erforderlich
sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden das
Zensusvorbereitungsgesetz heute verabschieden, weil es
Sinn macht, weil es ein gutes Gesetz ist und weil wir es
ganz einfach brauchen. Oder, um noch einmal einen alten Spontispruch zu zitieren: Der Klügere zählt nach.
({10})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gisela Piltz für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eine neue statistische Erhebung in Deutschland ist offensichtlich notwendig. Dazu hat Frau Köhler schon viel
Richtiges gesagt.
Allerdings - gestatten Sie mir diese Anmerkung fragt man sich heute Abend schon, was das Statistische
Bundesamt eigentlich macht. Schließlich müssen wir
doch dauernd Statistiken melden. Da die Erstellung dieser Statistiken die Wirtschaft belastet, fragt man sich, ob
das eigentlich sein muss, wenn wir mindestens alle zwei
Jahre eine Art - ich sage das in Anführungsstrichen Volkszählung durchführen.
Dieser Gesetzentwurf hat durchaus erfreuliche Ansätze; das ist gar keine Frage. Besonders gefällt uns das
Bemühen, direkte Fragebögen und das persönliche Aufsuchen der Bevölkerung zu vermeiden. Frau Köhler, Sie
haben viele Beispiele aus der damaligen Zeit zum Besten
gegeben. Auch ich kann mich noch gut daran erinnern,
wie das damals war. Damals gab es - um das ganz klar
zu sagen - ein bahnbrechendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das sogenannte Volkszählungsurteil, in
dem zum ersten Mal das Recht auf informationelle
Selbstbestimmung so formuliert wurde, wie es noch
heute gültig ist. Darauf berufen wir uns noch heute.
({0})
Es ist eine Sache, über damals zu sprechen, aber eine andere, sich heute noch daran zu erinnern.
({1})
- Ich war eine ganz Schlimme. Ich war damals im Amt
für Statistik und Wahlen eingesetzt und musste die Kisten falten. Ich weiß genauso wie Frau Köhler, wovon ich
spreche. Ansonsten berufe ich mich auf meine Schweigepflicht. - Im Rahmen dieses Gesetzes wurden die richtigen Lehren aus der Auseinandersetzung von 1987 gezogen. Von daher kann man sagen: Gute Arbeit!
Auf die Frage, warum wir uns enthalten, gibt es eine
relativ einfache Antwort: Aus unserer Sicht hat die Bundesregierung ihre Arbeit nicht vollständig zu Ende gebracht. Es fehlt nämlich die Sicherstellung einer einheitlichen Durchführung des Zensus in den Ländern. Die
Bedeutung dieser Einheitlichkeit ist immens: Die erarbeiteten statistischen Zahlen bilden unter anderem die
Grundlage für den Länderfinanzausgleich. Jeder Einwohner hat für die Gemeinde, der er zugerechnet wird,
einen Wert von rund 2 000 Euro pro Jahr.
Nun droht ein unterschiedlicher Umgang in den Fällen, in denen sich die Angaben in den bei den Stichproben abgefragten Registern widersprechen. Da die Anzahl der in den Stichproben nötigen Korrekturen auf das
Gesamtergebnis hochgerechnet wird, kann eine unterschiedliche Handhabung schnell einen ordentlichen Betrag für die Gemeinden ausmachen.
Es ist absehbar, dass die Gemeinden, die aufgrund des
Ergebnisses des Zensus schlechter dastehen als bisher,
klagen werden und somit eine Klagewelle auf uns zurollen wird. Die Klagen könnten für den Bund relativ teuer
werden; denn nur wegen der Einheitlichkeit der Durchführung der Volkszählung wurden die gerichtlich angebrachten Einwände nach 1987 abgewiesen. Wenn wir
diese Einheitlichkeit nicht herstellen, werden die Zahlen
angreifbar. Das würden wir bedauern.
Die Experten erwarten ohnehin beträchtliche Abweichungen des Ergebnisses des Zensus von unseren bisherigen amtlichen Zahlen. Nach über 20 Jahren der
schlichten Fortschreibung - das haben Sie schon ausgeführt - dürfte die Fehlerquote zumindest in einigen Gemeinden erheblich sein. Da kann es leicht passieren, dass
ein Oberbürgermeister nach dem Zensus nur noch Bürgermeister ist.
({2})
- Nein, nicht in Düsseldorf. Dafür ist Düsseldorf zu
groß, und als eine der wenigen Großstädte wächst Düsseldorf.
Es darf nicht dazu kommen, dass in den Zweifelsfällen, in denen sich die Daten der Melderegister und die
der Bundesagentur für Arbeit widersprechen, unterschiedliche Verfahren zur Ermittlung des amtlichen Ergebnisses angewendet werden. Wir setzen uns dafür ein,
dass entweder das eine oder das andere Verfahren angewandt wird. Ansonsten würden die Fehlerquoten ungleichmäßig verändert. An dieser Stelle hat die Bundesregierung das Gesetz aus unserer Sicht nicht sauber
ausgearbeitet, da die Erhebungsverfahren in jedem Bundesland absolut einheitlich sein müssen.
({3})
Dieses Problem könnte man auf zwei Arten lösen:
Entweder die Länder einigen sich auf ein einheitliches
Verfahren, was angesichts der derzeitigen Zeitvorstellung schwierig sein dürfte, oder der Bund schreibt den
Ländern klare Regelungen vor. Das wäre allerdings zustimmungsbedürftig und für den Bund vermutlich teurer.
Das muss man ehrlicherweise sagen. Ob dies geht, ist
darüber hinaus sehr fraglich, da der Bund nach der
Föderalismusreform I keine Aufgaben mehr auf die
Kommunen übertragen darf.
Eins wird bei diesem Zensusvorbereitungsgesetz wieder ganz deutlich: Das Aufgabenübertragsverbot im
Grundgesetz hat sich nicht bewährt. Es wäre besser gewesen, der Bundestag hätte stattdessen mit seiner Mehrheit das Konnexitätsprinzip übernommen und dem FDPModell zugestimmt.
({4})
Die Bundesregierung muss diese Aufgabe auf die
eine oder andere Weise lösen. Aber eins darf sie nicht
tun: Sie darf nicht einfach den Kopf in den Sand stecken.
Denn sonst wird die Bundesregierung die Verantwortung
dafür tragen, dass die Streitereien am Ende vor Gericht
ausgetragen werden.
Ich komme zu meinem letzten Satz, Frau Präsidentin.
Unsere Arbeit ist mit diesem Zensusvorbereitungsgesetz
nicht getan. Es wird ein Zensusanordnungsgesetz folgen.
Wir hoffen, dass die Bundesregierung spätestens bis dahin die einheitliche Umsetzung sicherstellen wird.
Herzlichen Dank.
({5})
Nächster Redner ist nun der Kollege Maik Reichel für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vielen Dank für das Kompliment von der
rechten Seite.
1981 war in der DDR eine Volkszählung. Ich war damals zehn Jahre alt. Ich kann mich nur in einem Punkt
daran erinnern: Meine Mutter, die meistens für alle bürokratischen Sachen zuständig war, saß am Küchentisch,
blätterte das Formular um und schrieb das hinein, was
dort alles abgefragt wurde.
({0})
- Ich gehe davon aus, dass sie es richtig gemacht hat. Ich
habe nicht nachgesehen. Als Zehnjähriger beobachtet
man nur und hat den Sinn des Ganzen nicht im Blick.
Andere können natürlich viel mehr erzählen. Wir haben von Kollegin Köhler einiges gehört. Ich glaube,
liebe Silke Stokar, auch du kannst einiges dazu sagen,
was 1987 in der BRD passiert ist. Ich kann das nur in
Berichten, Büchern und Zeitungen nachlesen und kann
davon berichten - das habe ich eben getan -, was 1981
in der DDR passiert ist.
In vier Jahren wird in der EU eine Volks- und Gebäudezählung durchgeführt. Die beteiligten Länder werden
diesen Zensus auf unterschiedliche Weise durchführen.
Nachdem die letzten Volkszählungen 1981 und 1987
- wir haben sie gerade genannt - auf die konventionelle
Weise, das heißt durch die Befragung aller Bürger,
durchgeführt wurden, soll es 2011 erstmals einen registergestützten Zensus geben. Dies entlastet die Bürger
von allen großen und zeitraubenden Auskunftspflichten;
gleichzeitig wird es für den Steuerzahler billiger. Zur
Feststellung der bevölkerungsstatistischen Angaben
werden nur 5 bis 10 Prozent der Bevölkerung befragt.
Die aktuellen Bevölkerungszahlen in Bund, Länder
und Kommunen sind teilweise mit großen Unsicherheiten behaftet. In der Anhörung am Montag haben wir zur
Genauigkeit bzw. zur Richtigkeit mancher Register sehr
deutliche Aussagen der Gutachter gehört. Genauere Zahlen sind notwendig. Wenn wir schon durch eigene SchätMaik Reichel
zung davon ausgehen, dass 1,3 bis 1,5 Millionen Menschen weniger als geglaubt in Deutschland leben - also
nicht die 82 Millionen Menschen, von denen wir heute
ausgehen -, so ist das eine Abweichung von etwa
1,8 Prozent. Das sind eben nur Schätzungen.
Zuverlässige Bevölkerungszahlen sind auch als Berechnungsgrundlage für den Länderfinanzausgleich und
den kommunalen Finanzausgleich - wir haben es gehört notwendig. Das hat sich nach der Volkszählung von 1987
gezeigt, als in diesem Bereich nachhaltige Korrekturen
durchgeführt wurden. Die zum Zensusstichtag festgestellten Einwohnerzahlen bilden die Grundlage für die Bevölkerungsfortschreibungen. Aber es sind auch etwa
50 Rechtsvorschriften betroffen, für die die amtliche Einwohnerzahl als wichtige Bemessungsgrundlage dient.
Hiervon sind noch andere Bereiche - sie wurden schon
genannt -, zum Beispiel die Einteilung der Wahlkreise,
die Bundesratsstimmen, die Berechnung von Sitzen bis in
die Vertretungen kommunaler Gebietskörperschaften, betroffen. Wir brauchen also dringend eine solche neue Zählung.
Dass der Zensus notwendig ist, darin sind wir uns einig. Dass wir ihn registergestützt machen, das ist neu.
Aber auch da sind wir uns einig. In der EU wird es ja
sehr unterschiedlich gemacht.
Nach dem Zensustest wird das Vorbereitungsgesetz
auf den Weg gebracht, das im Wesentlichen die technischen und organisatorischen Voraussetzungen für den eigentlichen Zensus schaffen soll. Hierbei geht es um den
Aufbau des Anschriften- und Gebäuderegisters, des eigentlichen Instruments für den Zensus, der 2011 durchgeführt wird.
Dem wird später das Zensusanordnungsgesetz folgen.
Ich sage dies, weil ich zwischen dem, was wir heute beschließen - den Aufbau des Instruments und die Weiterleitung der Daten -, und dem folgenden Anordnungsgesetz - es bereitet Erhebungsmerkmale, Stichproben etc.
weiter vor - klar trennen möchte. In der Anhörung am
Montag ging es im Wesentlichen um das Anordnungsgesetz, das noch folgen wird, nicht um das Gesetz, das wir
heute beschließen.
In der Anhörung wurde - Kollegin Piltz hat es erwähnt - auch die Einheitlichkeit der Erhebung angesprochen. Vor allem die Länder sind darauf eingegangen. Ich
gebe Ihnen recht, Kollegin Piltz: Es muss Rechtssicherheit gegeben sein. Ich bin mir aber sicher, dass Bund und
Länder, nachdem wir das vorliegende Gesetz beschlossen haben, Einheitlichkeit herstellen werden. Nicht nur
der Bund, sondern auch die Länder sind nämlich sehr
stark an den Zahlen interessiert. Ich gehe davon aus, dass
wir dort einen gemeinsamen Weg finden werden.
Wenn man sich all dies vor Augen führt, dann blickt
man natürlich auch auf die verbleibende Zeit. Millionen
von Daten werden bewegt und zusammengeführt. Das
machen nicht nur Computer; das müssen auch Menschen
machen. Ende 2010 muss das Anschriften- und Gebäuderegister einsatzfähig sein. Im April 2008 - das heißt
bereits in einem halben Jahr - werden die ersten Daten
hierzu geliefert. Wir haben keine Zeit, die Verabschiedung des Vorbereitungsgesetzes zu verschieben. Der
Zeitpuffer ist aufgebraucht. Wir brauchen dieses Gesetz
jetzt. Liebe Kollegin Stokar, ich sage dies auch hinsichtlich der Beratungen am gestrigen Tage, wo es um die
Rückstellung dieses Beschlusses ging. Ich bin mir sicher, dass wir die notwendigen, wichtigen Dinge, die
eventuell jetzt noch streitig erscheinen, bei der Umsetzung klären können.
Was wird denn eigentlich vorbereitet bzw. durchgeführt? Ich gehe auf diese Frage ein, um zu zeigen, was in
den verbleibenden knapp drei Jahren - bis 2010 - umgesetzt werden muss. Eine Anschriftendatei für etwa
39 Millionen Wohnungen muss aufgebaut werden. Wir
fragen Meldedaten bei den Meldebehörden an zwei
Stichtagen ab und verarbeiten diese; dabei geht es um
über 180 Millionen Datensätze. Wir fragen zum Abgleich die Daten der Bundesagentur für Arbeit ab. Zudem wird eine postalische Gebäude- und Wohnungszählung mit Erhebung der Geodaten bei 17,5 Millionen
Gebäude- und Wohnungseigentümern erfolgen. Es soll
eine primärstatistische Erhebung der Daten von etwa
2 Millionen Personen erfolgen, die in sogenannten Sondergebäuden - Studentenheimen, Seniorenwohnheimen,
Anstalten etc. - leben. Darüber hinaus müssen drei Register übereinandergelegt werden: die Melderegisterdatei, die Datei der Bundesagentur für Arbeit und die Daten der Landesvermessungsbehörden. Hinzu kommen
die Daten der Erhebungen zu den Sondergebäuden.
Diese millionenfache Datenverarbeitung braucht Zeit.
Wir haben im Bundeshaushalt die ersten Weichen für das
nächste Jahr gestellt. Die Erhöhung der Haushaltsmittel
des Statistischen Bundesamtes um 16 Millionen Euro resultiert zu etwa drei Vierteln aus dem Zensus, den wir
2011 erstellen wollen. Dafür werden etwa 60 Stellen,
teilweise zeitlich befristet, eingerichtet. Auch die Länder
werden entsprechend Personal einstellen.
Am Ende noch ein Wort zur Frage des Datenschutzes,
die in der Anhörung eine wichtige Rolle gespielt hat. Die
Gutachter, auch der Bundesdatenschutzbeauftragte Schaar, haben nicht das vorgebracht, was wir vielleicht befürchtet haben. Frau Kollegin Piltz, wir haben uns sehr
wohl an das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes gehalten. Mit dem Gesetzentwurf wird gewährleistet, dass
ein Hin- und Rückfluss der Daten ausgeschlossen ist.
Wir wollen die Daten nach sechs Jahren löschen. Man
mag sich vielleicht darüber streiten, ob nicht fünf Jahre
ausreichen würden.
({1})
- Oder drei Jahre. - Schauen wir zunächst, dass wir die
Daten auswerten. Erst danach können wir die Daten löschen. Die Auswertung wird sicherlich nicht, wie es
1987 der Fall war, zehn Jahr lang andauern. Wir brauchen aber etwas Zeit zur Auswertung. Danach werden
die Daten gelöscht.
Der Gesetzentwurf sieht auch vor, zwischen den statistischen und den Verwaltungsdaten zu trennen. Wir haben all dies im Gesetz verankert.
Lassen Sie uns am heutigen Abend das Vorbereitungsgesetz beschließen, um 2011 einen für Bund, Länder und Gemeinden erfolgreichen Zensus durchführen
zu können.
Ich danke Ihnen.
({2})
Nun hat das Wort der Kollege Jan Korte für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Man kann trefflich darüber streiten, ob es im Hinblick
auf den Datenschutz ein Fortschritt ist, dass ein registergestützter Zensus und nicht eine Vollerhebung mit Fragebögen durchgeführt werden soll. Wenn ich einen Fragebogen ausfülle, kann ich mich einmal nicht so genau
erinnern oder, wenn ich gar keine Lust habe, etwas preiszugeben, falsche Angaben machen. Das ist jetzt nicht
möglich. Deswegen kann man darüber trefflich streiten.
({0})
Ich möchte drei Anmerkungen machen. Zum Ersten
finde ich eines etwas merkwürdig: Am Montag dieser
Woche haben wir, was erfreulich war, eine Anhörung zu
diesem wichtigen Thema, das auch hier für enorme
Emotionalität sorgt, durchgeführt. Von den Datenschützern wurden einige Bedenken vorgetragen, über die wir
diskutiert haben.
({1})
Aber was geschieht drei Tage später? Drei Tage später
steht die abschließende Beratung dieses Gesetzentwurfs
auf unserer Tagesordnung. Das ist vom Verfahren her
nicht in Ordnung. Wer so vorgeht, der nimmt die Sachverständigen nicht ernst. Wir wollen nach Möglichkeit
einen Erkenntnisgewinn erzielen. Dafür bräuchten wir
allerdings erst einmal das Protokoll der Anhörung. Erst
auf dieser Grundlage könnten wir den Gesetzentwurf
noch verändern.
({2})
Es wurde versucht, in diesem Entwurf eines Vorbereitungsgesetzes im Hinblick auf die Datenerfassung
Schranken zu setzen. Gleichzeitig werden diese Schranken aber infrage gestellt. Mit diesem Gesetzentwurf wird
die Intention verfolgt, die Daten aus der Statistik nicht in
die Verwaltung zurückfließen zu lassen. Das ist ausdrücklich zu begrüßen, da man sich Mühe gegeben hat,
die Trennung von Statistik und Verwaltung aufrechtzuerhalten.
Gleichwohl glaube ich, dass das ein leeres Versprechen ist; denn es geht darum, ob sich das in der Praxis
bewährt. Hier habe ich erhebliche Zweifel, insbesondere
deshalb, weil uns die Sachverständigen, die aus Stuttgart
angereist sind, deutlich gemacht haben, dass sie für ihre
Stadtverwaltung nach Möglichkeit alle Daten, die es
gibt, gerne bekommen würden. Ich denke nicht, dass
dem durch dieses Vorbereitungsgesetz Einhalt geboten
werden kann.
Der zweite Punkt, den wir kritisieren - darauf hat
auch der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Peter
Schaar, hingewiesen -, hat mit der Gebäudezählung und
dem Adressenabgleich zu tun. Die Bundesregierung sagt
selbst, dass es bisher kein Verfahren gibt, um eine Anonymisierung vorzunehmen, dass also eine Identifizierung der Bewohnerinnen und Bewohner möglich ist.
({3})
Das ist der entscheidende Grund, warum wir diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen können.
Zur dritten Bemerkung, die ich machen will. Natürlich handelt es sich nicht um irgendwelche Daten, die
gesammelt werden sollen. Frau Köhler, ich finde, der
Fehlerquotient der Daten - rund 1,5 Millionen bei rund
82 Millionen Einwohnern - ist relativ gering. Das hört
sich geradezu so an, als seien alle Daten, auf deren Basis
Sie bisher Politik machen, grundfalsch; das denke auch
ich des Öfteren. Das würde eine Zählung allerdings notwendig machen. Denn dann hätten Sie wirklich fast gar
keine Daten.
({4})
Aber es ist doch wohl nicht so, dass wir überhaupt keine
Datengrundlage haben.
Grundsätzlich möchte ich Ihnen sagen: Natürlich ist
das Sammeln von Daten, zu welchen Zwecken auch immer - es gibt solche und solche -, nicht in dem einen
Fall grundsätzlich unproblematisch und in einem anderen Fall grundsätzlich problematisch. Das sage nicht nur
ich, sondern das sagt auch jemand, der unverdächtig ist,
bei uns tätig zu sein. Der ehemalige BND-Präsident
Hansjörg Geiger hat heute - das ist also ganz aktuell zur Verarbeitung von Daten gesagt: Daten, die einmal
da sind, werden weiter genutzt, Versprechen hin oder
her. Das ist mir wichtig. Ich finde, dass Sie einen sensiblen Umgang mit diesen Fragen leider sehr vermissen
lassen.
({5})
Der letzte Grund, warum wir diesem Gesetzentwurf
nicht zustimmen können, ist, dass darin nicht konkret
dargelegt wird - auch das wurde in der Anhörung teilweise angesprochen -, warum wir diese Volkszählung
überhaupt brauchen; das ist nicht klar. Sie kostet 500 Millionen Euro. Jetzt wird der Einwand angeführt, dass die
EU ein Strafgeld androht. Das ist natürlich richtig. Aber
man könnte doch erst einmal abwarten, ob diese Strafe
nicht vielleicht niedriger ausfällt als der Betrag von
500 Millionen Euro, den wir für die Volkszählung ausgeben müssten.
({6})
Wir erkennen nicht den Nutzen dieser Volkszählung.
Hier wird mit ungeheuren Mengen von Daten und mit
Daten der Bundesagentur für Arbeit herumhantiert. All
das halten wir für relativ bedenklich.
({7})
Hier muss noch massiv nachgebessert werden. Deswegen lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab. Wir bleiben im
Gegensatz zu den Grünen konsequent.
Schönen Dank.
({8})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin
Silke Stokar von Neuforn für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Erinnerung an die Volkszählungsboykottbewegung erfüllt
mich eher mit Stolz.
({0})
Sie war ein Ausdruck von wirklich erfolgreichem zivilem Ungehorsam.
({1})
Die Volkszählungsboykottbewegung hat den Staat bzw.
die staatlichen Vertreter damals an den Rand des Nervenzusammenbruchs gebracht.
({2})
Aber was viel wichtiger war: Wir haben, und zwar außerhalb des Parlamentes, das berühmte Volkszählungsurteil erstritten, über das viele sagen: Das war die Geburtsstunde des Datenschutzes in Deutschland.
({3})
Ich habe mich gefreut, wie oft bei der Sachverständigenanhörung aus diesem Volkszählungsurteil zitiert wurde.
Der Erfolg ist ja: Wir haben keine Volkszählung. Nie
wieder hat sich der Staat getraut, die Wohnungen der
Bürgerinnen und Bürger mit einem Fragebogen zu betreten.
({4})
Nie wieder ist eine Volkszählung wie damals in Erwägung gezogen worden. Das ist nachhaltig erfolgreiche
Politik.
({5})
Wir stimmen der registergestützten Volkszählung
oder dem Zensus zu, weil es - Ihr Zwischenruf war ja
richtig - darum geht, die korrekte Zahl der Einwohner
und Einwohnerinnen in unseren Kommunen festzustellen. Da kann ich es mir nicht so einfach machen wie
Herr Korte. Denn es geht hier auch um Fragen der Gerechtigkeit. Zum einen geht es darum, wie der Finanzausgleich zwischen Deutschland und Europa in bestimmten Regionen geregelt wird. Das kann durchaus
zum Ergebnis haben, dass Deutschland insgesamt weniger zahlen muss. Wichtiger ist aber der kommunale Finanzausgleich. Zur gerechten Verteilung der Steuern
brauchen wir den korrekten Einwohnerschlüssel. Ich
denke, man sollte sich nicht aus Ideologie dagegen wenden. Die Ergebnisse werden auch für den Finanzausgleich vieler Gemeinden in den neuen Bundesländern
wichtig sein.
Lassen Sie mich kurz begründen, warum wir uns enthalten. Ein Teil der handwerklichen Fehler in diesem
Gesetzentwurf ist von Frau Piltz benannt worden. Wir
hätten es begrüßt, wenn sich das Ministerium im Vorfeld
mit Ländern und Kommunen über die Aufteilung der
Kosten geeinigt hätte. Ich habe jetzt nicht die Zeit, die
komplizierten verfassungsrechtlichen Fragen - gerade
seit der Föderalismusreform - darzulegen. Kurz gesagt
ist es so: Der Bund verlangt von den Kommunen eine
Leistung, und die Aufteilung der Kosten ist nicht geklärt.
Wegen der fehlenden Bundeseinheitlichkeit in der
Methode der Erhebung wird der nächste Volkszählungsboykott weder von der Linksfraktion noch von den Bürgerinnen und Bürgern - die vom Zensus gar nichts merken - ausgehen. Der Volkszählungsboykott wird von den
Kommunen ausgehen, die ja ein erhebliches finanzielles
Interesse daran haben, dass es zu einer gerichtsfesten Erhebung der Einwohnerzahl kommt. Hier, meine Damen
und meine Herren aus dem Innenministerium, haben Sie
handwerklich schlecht gearbeitet, hier provozieren Sie
ohne Not eine Klageflut. Wir hätten es begrüßt, wenn
Sie sich mit Ländern und Kommunen im Vorfeld über
die Detailfragen geeinigt und die ja zum Teil richtigen
Einwände aus dem Bundesrat aufgenommen und eingearbeitet hätten.
({6})
Letzter Punkt: Datenschutz. Es ist schon gesagt worden, wir sollten die Daten nicht sechs Jahre aufheben; das
ist eine völlig willkürliche Zahl. Die Hälfte, drei Jahre,
reicht voll und ganz aus. Nicht im Zensusvorbereitungsgesetz, Herr Korte, sondern im Durchführungsgesetz
werden wir genau darauf achten, dass die Georeferenzdaten, wie es der Datenschutz gebietet, anonymisiert werden.
Auch bei einem anderen Punkt sind wir nicht einverstanden: bei der Trennung von Verwaltung und Statistik,
die mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorgegeben ist. Das gehört nicht in die Begründung, das gehört in das Gesetz.
Wir hätten zugestimmt, wenn Sie ordentlich gearbeitet hätten.
({7})
Das haben Sie nicht; deswegen enthalten wir uns heute.
Danke schön.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Zensus-
vorbereitungsgesetzes 2011. Der Innenausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/6455, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 16/5525 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen, um das Handzeichen. -
Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen bei Enthaltung der Fraktion der FDP
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Gegen-
stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetz-
entwurf auch in dritter Beratung mit dem gleichen Stim-
menergebnis angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der FDP auf Druck-
sache 16/6459. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-
trag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der
Entschließungsantrag mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen
der FDP-Fraktion abgelehnt.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 13 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Christel Happach-Kasan, Dr. Hermann Otto
Solms, Hans-Michael Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Rein-Biokraftstoffe von Besteuerung bis 2009
befreien und den Bericht zur Steuerbegünstigung für Biokraft- und Bioheizstoffe umgehend vorlegen
- Drucksache 16/5133 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansKurt Hill, Eva Bulling-Schröter, Lutz Heilmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Stufenbesteuerung und Quotenpflicht bei Biokraftstoffen zurücknehmen - Nachhaltigkeitskriterien umgehend einführen
- Drucksache 16/5679 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Frau Dr. Christel Happach-Kasan für
die FDP-Fraktion das Wort.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Noch in der letzten Legislaturperiode habe ich eigentlich
nicht erwartet, dass ein solcher Tagesordnungspunkt im
Deutschen Bundestag aufgerufen werden würde. Ich
habe fest darauf vertraut, dass es bis 2009 die beschlossene Steuervergünstigung für Biodiesel geben würde.
Das ist nicht eingetreten. Durch den Koalitionsvertrag
wurde eine beispielhafte Erfolgsgeschichte des Biodiesels abrupt beendet.
({0})
Mit privatem Geld - unterstützt durch öffentliche Förderungen - sind Millionen Euro investiert worden. Etwa
50 Anlagen sind in Deutschland dezentral entstanden.
Mit der Unterzeichnung des Koalitionsvertrages wurde
diese Erfolgsgeschichte schlicht abgeschlossen. Verlässliche Politik ist für uns in der FDP etwas ganz anderes.
Minister Gabriel hat noch im September 2005 ein
flammendes Plädoyer für den Biodiesel gehalten. Zwei
Monate später hatten er und die CDU/CSU-Fraktion das
trotz aller anderslautenden Erklärungen vergessen. Die
Auswirkungen für die mittelständisch geprägte Biokraftstoffbranche sind dramatisch. Schon im Frühjahr warnte
das Bundesamt für Güterverkehr, dass der Biokraftstoffmarkt mit Einsetzen der zweiten Steuerstufe am
1. Januar 2008 zusammenbrechen wird. Schon jetzt ist
die Hälfte der Kapazitäten stillgelegt. Das ist eine immense Kapitalvernichtung. Fast neue Anlagen werden
stillgelegt und durch die Entscheidung der Bundesregierung zu Ruinen.
Doch Finanzminister Steinbrück handelt rein fiskalisch. Obwohl die Steuereinnahmen durch die wirtschaftliche Aktivität der Biokraftstoffbranche den theoretisch
entgangenen Einnahmen durch die Steuer entsprochen
haben, hat er die Abschaffung der Steuervergünstigung
durchgesetzt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Union - Herr Schindler persönlich - und auch von der
SPD, alle Briefe an den Finanzminister waren reine
Showveranstaltungen. Einige waren vielleicht gut gemeint - sie waren im Wesentlichen an die eigene Klientel
gerichtet -, aber in der Sache vollkommen wirkungslos.
Kollege Wissing hat vor kurzem im Finanzausschuss
einmal nachgefragt, ob die Bundesregierung beabsichtigt, das Gesetz zu ändern. Dies ist bis heute nicht der
Fall. Ich fordere die Kolleginnen und Kollegen von SPD
und Union auf, gemäß ihren Worten zu handeln. Fordern
Sie den Finanzminister dazu auf, dieses unsägliche Gesetz mit Ihnen zusammen abzuschaffen.
({1})
Ansonsten sind Ihre Showveranstaltungen wirklich absolut nichts wert.
In jeder Klimaschutzpolitik hat die energetische Nutzung von Biomasse eine entscheidende Bedeutung. Bis
2020 soll der Anteil der erneuerbaren Energien am Primärenergieverbrauch 20 Prozent betragen. Schon jetzt
hat die energetische Nutzung von Biomasse den größten
Anteil an den erneuerbaren Energien. Bundesminister
Seehofer hat in der Haushaltsdebatte von 70 Prozent gesprochen. Aber für den Biokraftstoffmarkt rührt er keinen Finger. Ich bin der Auffassung, dass die Bundesregierung damit das Vertrauen verwirkt hat. Sie ist nicht
zuverlässig und kein Partner, der Planungssicherheit für
Betriebe verspricht.
5,3 Prozent des Primärenergieverbrauchs werden
durch erneuerbare Energien erzeugt. Der Anteil der
Energie aus Biomasse beträgt 70 Prozent. Nur über die
Nutzung der Biomasse werden wir die Klimaschutzziele
dieser Bundesregierung erreichen können. Wir alle wissen, dass dies gemessen an den Forderungen von Verbänden noch eine sehr geringe Zielsetzung ist. Das heißt,
es müssen sehr viel stärkere Anstrengungen erfolgen als
bisher. Dafür bietet diese Bundesregierung nicht die
richtigen Rahmenbedingungen.
Mit der Einführung des Beimischungszwangs haben
die großen Mineralölkonzerne eine kostengünstige Möglichkeit erhalten, die EU-Vorgabe eines Anteils an biogenen Kraftstoffen in Höhe von 5,75 Prozent bis 2009 umzusetzen.
({2})
Die Konzerne werden sich mit billigen Importen versorgen. Wie wir wissen, stammen etwa 50 Prozent der Importe aus dem Ausland. Bei diesen Importen wird billigend in Kauf genommen, dass auf Flächen produziert
wird, die vor kurzem noch Urwald waren. Zwar sind
Zertifikate in Arbeit, aber derzeit gibt es noch keines,
das glaubwürdig die Herkunft von Pflanzenölen aus
nachhaltigem Anbau garantiert. Die Urwaldzerstörung
wird billigend in Kauf genommen, damit sich die Mineralölkonzerne mit billigem Rohstoff versorgen können.
({3})
Ich bin der Meinung, dass sich Nahrungsmittelproduktion und Energiepflanzenproduktion nicht gegenseitig ausschließen.
({4})
Ich bin der Meinung, dass beides parallel möglich ist,
wenn wir dafür die geeigneten Marktbedingungen schaffen. Die Doppelstrategie, die Nahrungsmittelproduktion
mit der Produktion von Biomasse für die Energiegewinnung zu kombinieren, stärkt gleichzeitig den ländlichen
Raum. Wir müssen feststellen, dass der ländliche Raum
vom Anbietermarkt zu einem Nachfragemarkt geworden
ist. Damit können bessere Preise erzielt werden. Wie wir
wissen, sind die Lebensmittelpreise in Deutschland so
niedrig wie nirgends. Dies ist erst gestern beim Parlamentarischen Abend des Raiffeisenverbands noch einmal sehr drastisch dargestellt worden. Ich meine, dass
das eine gute Chance ist.
Notwendig ist aber auch die Förderung innovativer
Produkte; denn anders können sie sich nicht am Markt
durchsetzen. Deswegen verlangen wir von der Bundesregierung eine Förderstrategie, die den Unternehmen
klar aufzeigt, welche Ziele gesetzt worden sind, mit welchen Mitteln sie erreicht werden und welche Möglichkeiten sie erhalten, die von ihnen getätigten Investitionen in Gewinne umzusetzen.
Wir setzen uns dafür ein, dass die vorhandenen Kapazitäten für Biodiesel genutzt werden. Zurzeit ist die
Hälfte der Anlagen stillgelegt. Das heißt, es werden
5 Millionen Tonnen CO2 in die Luft geblasen, obwohl
wir die notwendigen Kapazitäten hätten, um dies zu vermeiden.
({5})
Wir brauchen ein Gesamtkonzept zur Förderung von
Biokraftstoffen. Uns ist bewusst, dass Rapsmethylesther
nicht das letzte Wort ist; darin liegt aber eine Chance.
Die Entwicklung von Technologien wurde angestoßen.
Die Entwicklung von BTL-Kraftstoffen stockt, wie wir
wissen.
Ich begrüße es, dass Schwarz-Rot gestern erklärt hat,
dass die energetische Nutzung von tierischen Nebenprodukten inzwischen auch von Ihnen anerkannt wird. Es ist
höchste Zeit, dass Sie diesen rationalen Weg beschreiten.
Wir haben das zwar seit längerem gefordert, sind aber
immer wieder von Ihnen verleumdet worden. Es ist aber
nur ein Baustein eines dringend erforderlichen Gesamtkonzepts, das wir von Ihnen einfordern. Wir fordern außerdem die Änderung des Energiesteuergesetzes sowie
die Nichteinführung der zweiten Stufe am 1. Januar
2008 und damit eine Chance für die Biokraftstoffe in
Deutschland.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Norbert Schindler für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Guten Abend, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer!
Guten Abend, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Frau Dr. Happach-Kasan, erstens hat
das Parlament ein Initiativrecht im Zusammenhang mit
dieser Problematik, das wir auch wahrnehmen werden.
({0})
Die Bundesregierung muss nicht tätig werden. Darauf
haben Sie gestern hingewiesen, Frau Staatssekretärin
Hendricks. Verlassen Sie sich darauf: Wir werden tätig.
({1})
- Herr Kollege Fell, wir brauchen dafür den Bericht der
Bundesregierung; das wird Kollege Schultz nachher
deutlich machen. Wir müssen das in direkter Abstimmung mit der Europäischen Union regeln; das wissen
alle Insider. Gemach bei diesem Thema! Es muss richtig
gemacht werden. Ich teile sicherlich die Kritik: Es wird
höchste Zeit, dass etwas getan wird.
Frau Happach-Kasan, ich weiß, wie schwer sich Ihre
Fraktion 2003 und 2004 in der Diskussion über die Steuerbefreiung im Finanzausschuss getan hat.
({2})
Wenn ich die Folgen aus der damaligen Argumentationslinie für heute sehe, dann bin ich nicht verwundert. Ich
kann nur sagen: Damals wurde der richtige Weg eingeschlagen.
({3})
Die Große Koalition hat sicherlich Probleme bekommen. Uns fehlen für die Haushaltskonsolidierung vielleicht 1 Milliarde bis 2,5 Milliarden Euro, wenn die Entwicklung gerade beim Biodiesel so weitergeht.
({4})
Wir haben aber mit Blick auf die nächste Generation
versprochen, die Schulden deutlich zurückzufahren. Wir
haben einen sehr erfolgreichen haushaltspolitischen
Kurs eingeschlagen. Lob als Schwarzer dem roten Finanzminister!
({5})
Das ist eine gute Entwicklung.
Wir sind außerdem zu der Überzeugung gekommen,
dass wir angesichts der Entwicklung der Investitionen
2005 - man ist einfach davon ausgegangen, dass der
Staat die Steuerfreiheit bis 2009 aufrechterhält - die Investitionsbereitschaft dringend bremsen müssen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Höhn?
Bitte schön.
Danke schön, Herr Kollege. - Herr Kollege
Schindler, ist Ihnen bekannt, dass damals diverse Kollegen der Großen Koalition im Bundestag gegen den Gesetzentwurf der Bundesregierung gestimmt haben und
einem Antrag der Grünen gefolgt sind, der zum Ziel
hatte, Biodiesel nicht zu besteuern? Unterstellen Sie,
dass diese Kollegen die finanziellen Berechnungen, die
Sie nun angestellt haben, nicht nachvollziehen können
und den Haushalt nicht sanieren wollen, oder haben
diese Kollegen eher daran gedacht, dass durch neue Unternehmen neue Einnahmen für das Land entstehen und
eine neue mittelständische Struktur in diesem Bereich
aufgebaut wird?
Frau Kollegin Höhn, damals wurden gar keine Berechnungen angestellt. Dass es in der damaligen rot-grünen Regierung Befürworter gab und dass ich bei unseren
Finanzpolitikern Überzeugungsarbeit leisten musste, ist
uns doch allen bekannt. Die geplante steuerliche Freistellung bis 2009 hat dazu geführt, dass man mit Lobbypolitik auf unbedingten staatlichen Schutz beharrt hat,
um Investitionen tätigen zu können. Wir müssen aber
auch zur Kenntnis nehmen, dass Deutschland als Steuerland in der Europäischen Union nicht alleine ist. In den
damaligen Verhandlungen der Koalition über eine höhere Mehrwertsteuer und eine Eindämmung der Steuerausfälle in diesem Bereich war für mich die Aufhebung
der Steuerfreiheit leider die höhere Staatseinsicht. Ich
habe mich den sehr vernünftigen Argumenten für eine
Staatsphilosophie der Entschuldung gebeugt und der Koalitionsvereinbarung zugestimmt; dazu stehe ich.
({0})
Angesichts der Einnahmen aus der Diesel- und Mineralölsteuer in Milliardenhöhe und der Tatsache, dass Ungarn und Franzosen für den deutschen Markt produzieren, war es wichtig, hier einen Riegel vorzuschieben.
Das hören Ölmüller weiß Gott nicht gerne. Aber 2009
hört es noch nicht auf. Wir werden für den Rapsölbereich eine Auslauffrist und entsprechende Steuersätze
festlegen.
Das Problem in Europa und vor allem in Deutschland
ist, dass der Markt unter einer Überproduktion, insbesondere unter importierten Dieselersatzstoffen aus der
Europäischen Union, zu leiden hat. Derzeit wird in deutschen Häfen versucht, Palmöl anzudienen. Natürlich
brauchen wir eine Nachhaltigkeitsregel. Natürlich brauchen wir die Abstimmung mit der Europäischen Union,
damit nicht in der Dritten Welt Urwaldflächen und Weideflächen umgebrochen werden und darauf für den Export in die Europäische Union produziert wird. Bei aller
Ungeduld, die auch ich bei diesem Thema habe, muss
ich Sie um etwas Geduld bitten, bis der Bericht, der zwischen der Bundesregierung und der Europäischen Union
abzustimmen ist, auf den Tisch kommt.
Für unsere deutschen Erzeuger kommt die Entwicklung der Nahrungsmittelpreise der letzten Wochen und
Monate hinzu. Es erinnert an ein Tollhaus, wie in diesem
Zusammenhang argumentiert wird. Wenn 100 Einheiten
eines Produkts angeboten werden, aber 101 Einheiten
gebraucht werden, dann spricht man schon von einem
knappen Markt. Werden aber 102 Einheiten angeboten,
besteht angeblich ein Überangebot. Man reagiert derzeit
sehr empfindlich. Manche Vertreter der Nahrungsmittelbranche argumentieren, auch das Bier müsse teurer werden. Ein Kasten Bier kostet in der Bundesrepublik
Deutschland im Durchschnitt 14 Euro. Der Anteil der
Gerste an einem Kasten Bier macht 0,36 Euro aus. Wenn
der Preis der Gerste auf 40 oder 42 Cent steigt, dann
wird argumentiert, der Preis eines Kastens Bier müsse
um mehrere Prozent erhöht werden. So wird oft dumm
und plakativ, aber trotzdem geschickt argumentiert.
Es gibt keine Verknappung von Nahrungsmitteln, übrigens auch keine Verknappung von nachwachsenden
Rohstoffen. Im kommenden Jahr werden einige Millionen Hektar frei, was mit der Aufhebung der Zwangsstilllegung von Flächen in der Europäischen Union zusammenhängt. Dann haben wir genügend Ertragspotenzial,
um auch diesen Markt wieder vernünftig zu bedienen.
Ich hoffe, dass sich die Preisentwicklung, die wir derzeit gerade bei Getreide haben, fortsetzt, aber ich befürchte, dass es sich um eine Blase handelt. Ab Januar,
Februar gibt es wieder Getreideernten auf der Südhalbkugel der Erde. Sie werden sehen, dass sich der Markt
beruhigt. Ich sage meinen Bauern immer: Besser mit
Reue verkauft, als mit Reue behalten. Das gilt vor allem
für die, die derzeit horten. Dass wir bei Milch und
Milchprodukten endlich auf das Preisniveau von vor
20 Jahren zurückkommen, haben die Bauern für die
Leistung, die sie auf ihren Höfen erbringen, weiß Gott
verdient.
({1})
Es wird über einige Optionen diskutiert. So werden
speziell zum öffentlichen Nahverkehr - Stichwort Freistellung - Überlegungen angestellt. Ich plädiere dafür,
dass mindestens eine Steuerstufe ausgesetzt wird. Am
besten wäre es, sie zu streichen, weil derjenige, der einen
Dieselmotor kauft, eine Ersparnis von 8 Cent erzielen
muss, um die Mehrkosten des Motors auszugleichen.
Dann ist er auch bereit, klimabelastende Stoffe nur noch
in geringem Maße zu benutzen.
Wir diskutieren derzeit intensiv über die Nachhaltigkeitsregel. Es geht um die Frage, wie wir uns WTO-verträglich schützen, damit wir nicht unter Billigimporten
zu leiden haben. Wenn in Malaysia Waldflächen gerodet
werden, um darauf für den Export in die Europäische
Union zu produzieren, dann kann man nicht von Nachhaltigkeit sprechen. Die europäische Landwirtschaft
aber muss das Gebot der Nachhaltigkeit erfüllen. Wir
brauchen deshalb die Unterstützung der Europäischen
Union. Das betrifft auch die Produktion von Ethanol.
Das sollte man nicht vergessen. Es geht nicht nur um
Biodiesel, sondern auch um den Ersatz von Benzin. Es
stellt sich dann die Frage, wie wir mittels einer höheren
Zwangsbeimischung den Markt entlasten können.
Es bedarf schon einer guten Abstimmung innerhalb
der Koalition, um die anstehenden Fragen zu beantworten. Ich räume ein, dass wir noch nicht bei allen Punkten
eine gemeinsame Linie gefunden haben. Aber wir bekommen das in den nächsten Wochen hin. Wir müssen
es hinbekommen. Es besteht dringender Handlungsbedarf. Aktiver Umweltschutz darf nicht nur in der Dritten
Welt stattfinden, sondern muss auch in Deutschland und
Europa gefördert werden. Wir waren wieder einmal die
Ersten, die die bahnbrechende Entwicklung angestoßen
haben. Verstärkt ist das unter Rot-Grün geschehen. Ich
habe kein Problem damit, das anzuerkennen. In der ersten Phase war aber die jetzige Bundeskanzlerin Umweltministerin der Bundesrepublik.
Wir brauchen eine Korrektur der zu rigiden Beschlüsse, die wir gefasst haben. Da gebe ich der Opposition recht. Das war auch meine persönliche Meinung.
Sie wissen aber, wie es in der Politik und mit den Interessen der Mineralölwirtschaft ist. Ich komme vom Dorf.
Der Ministerpräsident meines Landes hat diesen Spruch
von mir gern übernommen - ich wiederhole ihn hier -:
In der Politik und in der Koalition ist es so, wie wenn Sie
im Dorf auf die Musi gehen: Sie können nur mit den Mädels tanzen, die da sind.
Man braucht einen Kompromiss, damit es in dieser
Frage wirklich mit Vernunft weitergeht. Ansonsten wären die Investitionen im ländlichen Raum weiß Gott
Blödsinn und eine absolute Katastrophe. Das kann es
nicht sein. Wir brauchen unbedingt Morgenstimmung,
damit es auch in diesem Bereich weitergeht. Dabei ist
abzuwägen: Den ersten Rang hat natürlich die Nahrungsmittelproduktion. Das sind 90 Prozent des land11928
wirtschaftlichen Ertragspotenzials. Darin enthalten sind
die großen Auflagen wie Cross-Compliance und Umweltschutz. Wenn wir aber 10 Prozent der europäischen
Agrarflächen auf Dauer für die Schaffung von Unabhängigkeit in einem Teil der Energieversorgung vorsehen
können, haben wir einen Ausgleich an den Märkten.
Jetzt wäre aber die Gefahr nach dem Motto Rein in die
Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln gegeben. Das werden wir nicht tun. Verlassen Sie sich darauf!
Danke schön.
({2})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Kirsten
Tackmann für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste! Herr Schindler, mit Ihrer Biokraftstoffpolitik werden Sie wahrscheinlich beim nächsten Tanz sitzen
bleiben und nicht abgeholt werden, weder von den vorhandenen Bräuten noch von irgendjemand anders.
Um es gleich auf den Punkt zu bringen: Für die Linke
ist Ihre Biokraftstoffstrategie deutlich gescheitert. Dieses
Scheitern ist unübersehbar und auch nicht überraschend.
Sie selbst haben es dargestellt: Gerade die klein- und
mittelständischen Biodieselhersteller haben entweder
geschäftliche Schwierigkeiten oder stehen schon vor der
Pleite. Zwei Drittel der deutschen Biodieselhersteller
stehen vor dem Aus, so meldet Agra-Europe. Damit stehen auch die regionalen Versorgungsstrukturen, die einen ganz anderen Markt darstellen als die Tankstellen
- das wissen Sie wahrscheinlich genauso gut wie ich -,
und Arbeitsplätze vor allem im ländlichen Raum vor
dem Aus.
Wir können weitermachen mit dem Bioethanolwerk
in Schwedt, das gerade die Produktion auf null heruntergefahren hat. Man kann zu Projekten wie in Schwedt stehen, wie man will. Eines ist aber Fakt: Dort sind Fördermittel in Millionenhöhe in den Sand gesetzt worden.
({0})
- Das hat aber damit zu tun; denn Sie haben das mit einbezogen.
({1})
- Sie können gern eine Zwischenfrage stellen, wenn Sie
darauf Wert legen.
Die Hoffnung auf eine zukünftige ökologische Kraftstoffstrategie mit einheimischen Rohstoffen ist damit
vergeigt. Das Schielen auf kurzfristige Steuereinnahmen
lässt die vielleicht in einigen Jahren sprudelnde Quelle
schon jetzt versiegen. Diese Politik widerspricht auch
den angeblich so ambitionierten Klimaschutzzielen Ihrer
Regierung. Sie hat zudem soziale Folgen, weil Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in dieser jungen Branche vor der Entlassung stehen.
Für meine Fraktion gibt es dafür ganz klar zwei
Gründe: die Zwangsbeimischungsquote und die Strafsteuer für Biokraftstoffe, wie ich sie einmal benennen
möchte. Bereits nach nur einem Jahr Wirkungszeit dieser
beiden Maßnahmen ist der Biospritmarkt im Prinzip kaputt; die Klimaschutzziele haben Sie gleich mit aufgegeben. Dabei wird jetzt - Sie selbst haben es genannt - massenweise Palm- und Sojaöl importiert, deren Produktion
nun wirklich nicht klimafreundlich ist: Tropenwälder
werden abgeholzt. Landarbeiterinnen und Landarbeiter
werden ausgebeutet. Kleinbauern werden vertrieben. Solche Raubbauimporte sind weder klimafreundlich noch
sozial. Die Linke fordert daher ganz dringend ein wirksames Zertifizierungssystem für den nachhaltigen Anbau
von nachwachsenden Rohstoffen, und zwar sowohl für
Europa als auch für Importe aus Drittländern. Diese Zertifizierung muss nach strengen sozialen und ökologischen
Standards erfolgen.
({2})
Wie zahlreiche Fachleute haben auch wir von Anfang
an gewarnt. Wenn Sie die Mineralölkonzerne dazu verpflichten, dem herkömmlichen Sprit einen Mindestanteil
an Biodiesel oder Bioethanol beizumischen, sorgen Sie
dafür, dass die Konzerne Zugriff auf den Bioenergiemarkt bekommen. Diese Konzerne bedienen sich jetzt
des importierten Palm- und Sojaöls, das nicht ökologisch
hergestellt wurde. Sie können damit ihre Biokraftstoffbeimischungsquote und alle anderen Vorgaben erfüllen.
Die Folge davon sind Dumpingpreise auf dem Biospritmarkt, mit denen die einheimischen Produzenten nicht
mithalten können, weil die natürlich zu anderen Bedingungen produzieren.
Gerade die europäischen Landwirtinnen und Landwirte hätten die Chance, Biosprit klimaneutral zu erzeugen, wenn sie nach guter fachlicher Praxis mit angepassten Fruchtfolgen und mit Düngemitteleinsatz nach
Augenmaß produzieren könnten. Statt das zu fördern,
versucht die Bundesregierung, durch Besteuerung Gewinne abzuschöpfen, die nirgendwo wirklich existieren.
Außerdem will sie den Biospritanteil jetzt auch noch
auf 20 Prozent steigern,
({3})
obwohl der Sachverständigenrat für Umweltfragen festgestellt hat, 7 Prozent seien auf Basis der einheimischen
Ressourcen zu decken;
({4})
alles andere müsse importiert werden. Ich sage: Oder wir
reduzieren den Kraftstoffverbrauch der Autoflotte drastisch und benutzen mehr Bus und Bahn. Andernfalls
wird der deutsche Biokraftstoffmarkt von billigen und
klimaunfreundlichen Exporten überflutet oder werden
Ihre Klimaschutzziele nicht erfüllt.
Aus unserer Sicht gibt es aber sehr wohl soziale und
ökologische Alternativen zu Ihrer Politik. Wir haben sie
in unserem Antrag niedergeschrieben und freuen uns
sehr auf die Diskussion. Wir hoffen auf Besserung.
Danke schön.
({5})
Nun hat das Wort der Kollege Reinhard Schultz für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man sich die Anträge der FDP und der Linken
oder die Flugblätter und Zuschriften vieler Verbände aus
der Biokraftstoffszene anschaut, dann muss man wirklich glauben, dass der Untergang nahe sei und dass der
Zusammenbruch unmittelbar bevorstehe;
({0})
die Ursache liege ausschließlich in der neuen Biokraftstoffstrategie der Bundesregierung Weg von der steuerlichen Förderung, hin zur Beimischungspflicht.
Wie die Zahlen zeigen, haben diese Parolen mit der
Wirklichkeit überhaupt nichts zu tun - im Gegenteil. Ich
kann Ihnen hier heute Abend die freudige Botschaft verkünden, dass der Biokraftstoffabsatz in Deutschland im
ersten Halbjahr 2007 so hoch war wie noch nie zuvor.
Das gilt natürlich auch im Vergleich zum Vorjahr, als es
noch die steuerliche Förderung und keine Beimischungspflicht gab.
Die Steuerstatistik ist aussagekräftig; denn die Kraftstoffe insgesamt unterliegen der Besteuerung. Aus der
Steuerstatistik geht hervor, dass bei uns im ersten Halbjahr 2007 bereits über 970 000 Kubikmeter reiner Biodiesel und 367 000 Kubikmeter reines Pflanzenöl in Verkehr gebracht wurden. Das sind insgesamt wesentlich
größere Mengen, als es im Jahr zuvor der Fall gewesen
ist. Hinzu kommt natürlich noch das, was dem fossilen
Kraftstoff beigemischt wird. Wir können heute sagen:
Im Vergleich zum ersten Halbjahr 2006 haben wir sowohl im Bereich der reinen Biokraftstoffe als auch insgesamt - also einschließlich der Produkte mit Beimischungen - einen Zuwachs von 20 Prozent, und die
Tendenz ist steigend.
Die Sorgen, die uns vor einigen Monaten zum Teil
vorgetragen worden sind, waren darin begründet, dass
wir einen ausgesprochen warmen Winter hatten - das hat
sich auf die Vergleichspreise niedergeschlagen - und
dass die Rohstoffpreise exponentiell angestiegen sind
- das tun sie zum Teil auch jetzt noch -, und daraufhin
hat sich eine Schere geöffnet, mit der Folge, dass der
eine oder andere Marktteilnehmer wirklich Existenzängste bekommen hat. Zum Teil hat man die Reißleine
gezogen, seine Anlagen abgebaut und sich im Ausland
angesiedelt.
Wir haben heute eine völlig andere Situation: Die
Tankstellenpreise sind ausgesprochen hoch, und die
Rohstoffpreise flachen leicht ab. Im Augenblick verdient
man sehr gut. Auf das gesamte Wirtschaftsjahr bezogen,
lässt sich sagen: Man wird weiterhin gut verdienen. Das
ist schon jetzt erkennbar. Selbst im Bereich des reinen
Pflanzenöls tätige Unternehmen - Speditionen sind ins
Ausland gegangen, etwa nach Polen, weil sie dort besteuerten Diesel günstiger tanken konnten als nun fast
steuerbefreiten Biodiesel in Deutschland - sind nach
Deutschland zurückgekehrt, nachdem sich die Preise
weltweit geändert hatten. Allein der Absatz von reinem
Pflanzenöl wird in diesem Jahr erstmals bei über
1 Million Tonnen liegen. Das hätte niemand für möglich
gehalten. Das ist die Wirklichkeit.
({1})
Sie können doch keine Statistiken, die sich lediglich
auf Monate beziehen, zum Abbild der gesamtwirtschaftlichen Wirklichkeit erklären; vielmehr müssen Sie eine
langfristige Betrachtung der Wirtschaft - wenigstens
eine einjährige - vornehmen, so wie wir es in unserem
Biokraftstoffbericht letztendlich tun werden. 2007 wird
für die Biokraftstoffbranche ein Rekordjahr im Vergleich
zu den Jahren vorher. Wir haben den Ehrgeiz zu erreichen, dass diese Entwicklung so weitergeht, und zwar
nicht auf der Grundlage von Importen, sondern im Wesentlichen auf der Grundlage einheimischer Wertschöpfung.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Dr. Happach-Kasan?
Selbstverständlich.
Herr Kollege Schultz, verstehe ich Sie richtig, dass
Sie der Einschätzung Ihres Kollegen Schindler widersprechen, also nicht planen, das Energiesteuergesetz zu
ändern?
Meine liebe Frau Kollegin, ich habe noch einige Minuten Redezeit. Die werde ich darauf verwenden, die
Strategie für die Zukunft darzustellen. Warten Sie das in
Ruhe ab. Selbstverständlich werden wir gemeinsam
noch etwas ändern. Wir werden die jetzige Linie weiterverfolgen und sie in die Zukunft fortschreiben.
({0})
Ich will noch ein Wort zu den angeblich so Not leidenden Firmen verlieren. Ich habe hier die Pressemitteilung eines Biodieselherstellers, der in Brandenburg eine
mittelgroße Anlage mit einer Kapazität von etwa
130 Jahrestonnen betreibt. Die Firma schreibt stolz, und
zwar zu Recht:
Reinhard Schultz ({1})
Das Pritzwalker Unternehmen EOP Biodiesel AG
hat in der ersten Hälfte des Geschäftsjahres 2006/
2007 bei Gewinn und Umsatz kräftig zugelegt.
Seit dem 30. Juni 2006 steigerte die BioenergieFirma ihren Umsatz im Vergleich zum Vorjahreshalbjahr um 6,7 Prozent auf 18,137 ({2}) Millionen Euro
Der Gewinn nach Steuern und Zinsen sei sogar um
186 Prozent auf 0,625 ({3}) Millionen Euro gestiegen
Trotz erhöhter Steuern für Biodiesel erwartet das Unternehmen auch für die zweite Hälfte
des Geschäftsjahres deutliche Zuwächse bei Umsatz und Ertrag.
So schreibt diese Firma.
Herzlichen Glückwunsch nach Pritzwalk! Das ist eine
tolle Entwicklung. Anderen Firmen kann ich nur sagen:
Machen Sie das nach! Das ist kein Zufallstreffer. Das ist
eine gut aufgestellte Firma mittlerer Größenordnung, die
sich unter den gegebenen politischen Rahmenbedingungen vernünftig eingerichtet hat, ordentlich produziert,
mit Gewinn, wie wir uns das wünschen.
Wir haben in den vergangenen Monaten beim Biodiesel einen Marktpreis von im Schnitt etwa 63 bis 65 Cent
je Liter vor Steuern gehabt. Damit konnten die Unternehmen offensichtlich Gewinne erwirtschaften, weil ihre
Kosten unter diesen Preisen gelegen haben. Die durchschnittlichen Verkaufspreise von fossilem Diesel lagen
im Schnitt bei etwa 94 Cent pro Liter. Da sehen Sie die
Spanne. Da ist so viel Luft drin, dass aus meiner Sicht
die nächste Biodieselsteuerstufe locker zu verkraften ist.
Es bleiben immer noch deutlich mehr als 10 Cent pro Liter Luft, um Gewinne zu machen. Das muss man aufgrund der Daten, die uns heute vorliegen, zur Kenntnis
nehmen.
Trotzdem ist es notwendig, die Biokraftstoffstrategie
weiterzuentwickeln. Das sieht die EU so, die zwischenzeitlich unter unserer Präsidentschaft eine eigene Biokraftstoffstrategie aufgelegt hat. Dies sieht die Bundesregierung so, die in Meseberg Beschlüsse gefasst hat, die
sich auf Biodiesel beziehen. Sie haben es eben zitiert: Es
soll eine Quote von etwa 20 Prozent bis zum Jahr 2020
erreicht werden. Auch die SPD-Fraktion hat sich Gedanken gemacht und ihrerseits Beschlüsse zur Weiterentwicklung der Biokraftstoffstrategie gefasst. Das bezieht
sich auf folgende Punkte: Gegenüber dem, was im Gesetz steht, werden wir die Quote deutlich anheben. Die
Produktionskapazitäten - auch die einheimischen - und
der Markt geben es her.
Wir haben Zusagen der Automobilindustrie. Sie verkraftet sowohl im Dieselbereich als auch im Ethanolbereich wesentlich mehr, als sie in den vergangenen Jahren
eingeräumt hat. Dabei werden wir bis zum Anschlag gehen. Wir werden sie treiben. Wir werden die Automobilindustrie auf das festlegen, was sie anlässlich der Internationalen Automobil-Ausstellung zugesagt hat. Ihre
ökologischen Versprechen werden wir sozusagen einklagen, indem wir Vorgaben dazu machen, wie Kraftstoffe
in der Zukunft zusammengesetzt sein müssen.
({4})
Dabei werden wir natürlich auf die Hersteller von
Reinkraftstoffen Rücksicht nehmen. Unsere Idee ist, im
Hinblick auf die etwas unsicheren Kantonisten der Speditionen, die immer dann mal kurz über die Grenze fahren, wenn der Preis dort günstiger ist, einen stabilen einheimischen Markt zu schaffen, indem wir den
öffentlichen Personennahverkehr auf der Straße und der
Schiene von der Besteuerung von Biokraftstoffen, ähnlich wie in der Landwirtschaft, auf Dauer freistellen. Das
ist eine sehr dezentrale Veranstaltung. Das kommt den
dezentralen Vertriebsstrukturen, den kleinen Ölmühlen
ausgesprochen entgegen. Das ist nicht steuerlich getrieben. Dadurch entsteht kein steuerpolitisches Vakuum,
das Zuflüsse von Biokraftstoffen aus Ungarn, Frankreich
oder sonst woher initiiert. Das schafft die Möglichkeit
eines vernünftigen regionalen Kreislaufs in einer Größenordnung von 500 000 bis 1 Million Tonnen im Jahr.
Das ist eine ganze Menge. Würden wir dies auf Dauer
garantieren, wäre auch für den Reinkraftstoffmarkt viel
erreicht, und zwar außerhalb der Quote bzw. der Beimischung.
Ein letztes Wort noch zum Thema Nachhaltigkeit, das
ich ausgesprochen ernst nehme: Wir hatten uns vorgenommen, durch eine Nachhaltigkeitsverordnung dafür
zu sorgen, dass Ökodumpingprodukte weder der Quote
beigemischt werden noch als Reinkraftstoffe steuerlich
subventioniert werden. Dies machen wir aus umweltpolitischem Bewusstsein heraus und nicht, um Wettbewerber aus dem Ausland abzuhalten. Wer die Kriterien, die
wir entwickeln, einhält, darf selbstverständlich auf unserem Markt erscheinen. Kriterien werden im Wesentlichen sein: eine positive CO2-Bilanz, kein Raubbau an
der Natur - es darf also kein Regenwald für Palmölplantagen abgeholzt werden - und die Beachtung der guten
landwirtschaftlichen Praxis bei der Herstellung, also
keine Überdüngung usw. Diese drei Kriterien kann man,
wie ich glaube, auch einhalten.
Jeder Kraftstoff wird zertifiziert werden müssen. Ich
bin sicher, dass wir dies für den deutschen und den europäischen Markt hinbekommen. Ob diese Spielregeln
dann auch für den Rest der Welt gelten werden, ist eine
andere Frage. Möglicherweise wird ein Teil der Produkte aus Indonesien unseren Nachhaltigkeitskriterien
entsprechen, der größere Teil, der für China bestimmt
ist, wo man inzwischen auch Biokraftstoffe einkauft,
aber ohne Einhaltung dieser Kriterien produziert werden.
Diesbezüglich muss man Sorge haben, wenn man sich
die entsprechende OECD-Studie oder die Untersuchung
des Sachverständigenrats anschaut. Ich nehme dies ausgesprochen ernst. Aber hier gilt dasselbe wie beim übrigen Klimaschutz: Wir müssen zeigen, dass es möglich
ist, eine Biokraftstoffstrategie unter Einhaltung von
Nachhaltigkeitskriterien zu fahren, damit andere sie
nachmachen können. Anders können wir doch nicht antreten. Man müsste sich doch gleich erschießen, wenn
man die Furcht hätte, dass nicht alle genauso gut und
schlau wie wir sind.
Herr Kollege, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
Ich neige als Politiker eher dazu, ein gewisses missionarisches Bewusstsein an den Tag zu legen, Gutes zu tun
und vorzuzeigen und aus dem, was in Deutschland oder
Europa entwickelt worden ist, Exportartikel zu machen.
Vielen Dank.
({0})
Nächster Redner ist nun der Kollege Hans-Josef Fell
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Schultz, Ihre Ausführungen angesichts der Konkursentwicklung bei mittelständischen
Biodieselproduzenten kann man nur als unverantwortlichen Zynismus bezeichnen.
({0})
Der Ölpreis liegt auf Rekordhoch und beträgt mehr als
80 Dollar pro Barrel. Trotzdem tut die Bundesregierung
vieles, um den Ausbau der erneuerbaren Energien zu
schwächen, und sie tut schon gar nichts für den Ausbau
der erneuerbaren Energien. Zwar spricht Bundesminister
Gabriel von einem kleinen Wirtschaftswunder - recht hat
er -; aber er schmückt sich mit fremden Federn, da er es
nicht initiiert hatte und zunehmend dafür verantwortlich
wird, dass sich dieses kleine Wirtschaftswunder abschwächt.
Die Ergebnisse des Nichthandelns und der falschen
Handlungen dieser Bundesregierung werden nun sichtbar. Im ersten Halbjahr 2007 gab es dramatische Einbrüche in wichtigen Teilbereichen der erneuerbaren Energien: minus 20 Prozent bei Windkraftinvestitionen im
Binnenmarkt, minus 35 Prozent bei Sonnenkollektoren,
minus 50 Prozent bei Holzpelletsheizungen, minus
50 Prozent bei Biogasanlagen und minus 60 Prozent bei
der Nachfrage nach dem KfW-Gebäudesanierungsprogramm. Dies ist ein unerwartet schneller und dramatischer Abschwung der erneuerbaren Energien; der Wirtschaftswunderschwung durch Rot-Grün wird von
Schwarz-Rot abrupt abgebremst.
({1})
Meine Damen und Herren, das gleiche Bild zeigt sich
bei den Biokraftstoffen. Bewusst und in aller Konsequenz wird der Markt für reine Biokraftstoffe zerstört.
Allein auf Beimischung wird gesetzt und damit das Geschäft der Mineralölkonzerne gemacht. Die Mineralölkonzerne spürten ja zunehmend die Konkurrenz von dezentral vermarkteten reinen Biokraftstoffen, die mithilfe
der erfolgreichen rot-grünen Steuerbefreiung aufwuchsen.
So fanden sie Gehör bei den Finanzpolitikern der SPD
und bei der Bundesregierung, allen voran bei Finanzminister Steinbrück, Umweltminister Gabriel, Landwirtschaftsminister Seehofer und Wirtschaftsminister Glos.
Als Erfüllungsgehilfen der Mineralölkonzerne schafften
sie die Steuerbefreiung für reine Biokraftstoffe ab. Da
halfen nicht die engagierten und ehrlichen Widerstände
von SPD-Abgeordneten, die mit uns Grünen die Erfolgsgeschichte der reinen Biokraftstoffe begründeten, und es
halfen auch nicht die mutigen und klaren Positionen
einiger Unionsabgeordneter, vor allem aus der CSU. Übrigens, Herr Schindler, hat nicht einmal der Bauernverband wirklich Widerstand gegen diese Besteuerung geleistet.
({2})
Was ist das Ergebnis? Die Steuerbefreiung von RotGrün hatte zum Aufbau einer Produktionskapazität von
4,8 Millionen Tonnen Biodiesel geführt. Die vielgerühmte Beimischung führte dazu, dass von den etwa
50 Biodieselproduzenten rein rechnerisch die fünf größten die Beimischungsquote erfüllen können. Die anderen
45 mittelständischen Biodieselhersteller stehen aktuell
vor dem Konkurs - so viel zur angeblichen Mittelstandspolitik der Bundesregierung. Zehntausende Arbeitsplätze sind höchstgefährdet, genauso wie 10 Millionen
Tonnen CO2-Reduktion. Gewerbe- und Einkommensteuereinnahmen werden wegfallen und, Herr Schindler,
auch die Steuereinnahmen bei reinem Biodiesel. Wie
können Sie da noch auf Berechnungen der Bundesregierung warten? Die Unternehmen können nicht mehr warten.
({3})
Beim kleinen Bruder, bei den reinen Pflanzenölen,
sieht dies noch düsterer aus. Da sie überhaupt nicht beimischungsfähig sind, sollen sie gänzlich verschwinden.
Dezentrale Strukturen, Direktvermarktung, ökologische
Produktionsprozesse und Entwicklung ländlicher
Räume, dies alles unterstützt die Bundesregierung nicht.
Die Anträge von der FDP und den Linken gehen daher
in die richtige Richtung, wobei der Antrag der Linken mit
dem wichtigen Hinweis auf die Nachhaltigkeit und die
Zertifizierung der Produktion von Biokraftstoffen einen
unverzichtbaren Akzent setzt. So können vorhandene
Fehlentwicklungen in Form intensiver Landwirtschaft
und Urwaldabholzung bei der Biokraftstofferzeugung
ausgeräumt werden.
Beide Anträge stehen in der Tradition unseres grünen
Antrages, den die Große Koalition längst abgelehnt hat.
Die Resistenz der Großen Koalition gegen die Unterstützung eines Marktes für reine Biokraftstoffe ist unglaublich. So entlarvt sich die Bundesregierung selbst als reinen Rhetorikverein für erneuerbare Energien, dessen
Handeln gegen die eigenen Worte gerichtet ist. So ist
diese Bundesregierung mitverantwortlich für weitere
CO2-Emissionen, für weitere Klimazerstörung, für den
Rückgang der Investitionen in erneuerbare Energien, für
die Konkurse in der Biodiesel- und Pflanzenölbranche,
für die Schwächung ländlicher Räume, aber auch für die
weitere Monopolisierung im Kraftstoffmarkt.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 16/5133 und 16/5679 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe dazu keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 14 a bis 14 c
sowie Zusatzpunkt 4 auf:
14 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Hochschulrahmengesetzes
- Drucksache 16/6122 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Hirsch, Dr. Petra Sitte, Volker Schneider ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Hochschulrahmengesetz beibehalten
- Drucksache 16/4626 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Krista Sager, Britta Haßelmann, Priska
Hinz ({3}) und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Studentische Mobilität durch bundeseinheitliche Mindeststandards bei Hochschulzulassung
und -abschlüssen sicherstellen
- Drucksache 16/5759 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({4})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Barth, Patrick Meinhardt, Cornelia Pieper, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Aufhebung des Hochschulrahmengesetzes zur
Stärkung autonomer Hochschulen nutzen
- Drucksache 16/6397 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({5})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Die Kolleginnen und Kollegen Andreas Storm,
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Uwe Barth, Cornelia Hirsch
und Kai Gehring haben ihre Reden zu diesem Tagesord-
nungspunkt zu Protokoll gegeben. Damit erübrigt sich
die Aussprache.1)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 16/6122, 16/4626, 16/5759 und
16/6397 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Auch dies ist offenkundig der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 15:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({6}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen,
Petra Pau, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus erstellen
- Drucksachen 16/4201, 16/5824 Berichterstattung:
Abgeordnete Kristina Köhler ({7})
Gabriele Fograscher
Sevim Dağdelen
Auch hier haben folgende Kolleginnen und Kollegen
ihre Reden zu Protokoll gegeben: Kristina Köhler ({8}), Gabriele Fograscher, Christian Ahrendt, Sevim
Dağdelen und Monika Lazar.2) Das heißt, eine Ausspra-
che findet nicht statt.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenaus-
schusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus erstellen.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 16/5824, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 16/4201 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? -
Enthaltungen? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-
Fraktion bei Enthaltung der Fraktion der Grünen und
Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b
auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Moder-
1) Anlage 2
2) Anlage 3
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
nisierung der Rahmenbedingungen für Kapitalbeteiligungen ({9})
- Drucksache 16/6311 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({10})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterentwicklung
des Gesetzes über Unternehmensbeteiligungsgesellschaften ({11})
- Drucksache 16/3229 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({12})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Die Kolleginnen und Kollegen Klaus-Peter Flosbach,
Dr. Hans-Ulrich Krüger, Nina Hauer, Frank Schäffler,
Dr. Axel Troost und Christine Scheel haben ihre Reden
zu diesem Punkt zu Protokoll gegeben.1)
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 16/6311 und 16/3229 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansChristian Ströbele, Volker Beck ({13}), Monika
Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rücknahme der Ermächtigung zur Strafver-
folgung von Journalisten wegen Verstoßes ge-
gen Geheimhaltungsvorschriften gemäß § 353 b
des Strafgesetzbuches
- Drucksache 16/6326 -
b) Beratung des Antrags der Fraktion der FDP
Ermächtigung zur Strafverfolgung von Journalisten gemäß § 353 b Abs. 4 StGB im Zusammenhang mit dem 1. Untersuchungsausschuss der 16. Wahlperiode zurücknehmen
- Drucksache 16/6217 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann werden
wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Hans-Christian Ströbele für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({14})
1) Anlage 4
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zu später Stunde beschäftigt sich der Deutsche
Bundestag mit einem sehr wichtigen Vorgang in eigener
Sache. Dieser Deutsche Bundestag hat die Ursache für
strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen 17 Journalisten gesetzt, und zwar nicht gegen irgendwelche, sondern
unter anderem gegen die besten investigativen Journalisten in diesem Land.
({0})
Dem Kollegen Kauder gebührt das zweifelhafte Verdienst, diese Ermittlungsverfahren damit angeschoben
zu haben, dass auf seine Anregung hin von den Mitgliedern des 1. Untersuchungsausschusses der Beschluss gefasst wurde, den Bundestagspräsidenten dazu aufzufordern, die Ermächtigung für diese Strafverfolgung zu
erteilen. Ich war dagegen - gegen meinen heftigen
schriftlichen und mündlichen Widerstand sind diese Verfahren eingeleitet worden -, weil diese Verfahren
Quatsch sind. Der Staatsanwalt in Hamburg, der diese
Ermittlungsverfahren als Erster von offizieller Seite beurteilt hat, hat sie zu Recht als Quatsch bezeichnet.
In der Zwischenzeit mussten wir feststellen, dass
diese Verfahren von einigen Staatsanwaltschaften eingestellt werden sollen, von einer Staatsanwaltschaft schon
eingestellt worden sind, dass aber andere Staatsanwaltschaften sie weiterlaufen lassen. Das können wir nicht
einfach so hinnehmen.
({1})
Da haben wir eine Verantwortung, da müssen wir eingreifen.
Als im Sommer in allen Zeitungen und sämtlichen
Medien groß über diese strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gegen die Journalisten berichtet wurde, kam aus
allen Fraktionen des Deutschen Bundestages heftige Kritik. Selbst der Kollege Grindel von der CDU/CSU-Fraktion - Medienexperte seiner Fraktion ({2})
hat das Vorgehen als höchst problematisch bezeichnet;
das ist für einen CDU-Abgeordneten ja schon höchst kritisch. Der SPD-Obmann im Untersuchungsausschuss hat
gesagt, diese Ermittlungsverfahren seien verfehlt, obwohl die Union und die SPD im Untersuchungsausschuss dafür gestimmt haben, dass diese Ermächtigung
erteilt wird.
Wenn die Fraktionen in dieser Weise in der Öffentlichkeit Stellung nehmen, dann sind sie auch verpflichtet, dieser Kritik Taten folgen zu lassen. Dann müssen
sie jetzt mit uns dafür sorgen, dass diese Verfahren eingestellt werden, und zwar sofort.
({3})
Das können wir sehr einfach erreichen, indem wir den
Bundestagspräsidenten auffordern, die Ermächtigung,
die er erteilt hat, zurückzunehmen. Er kann das. Er muss
das tun. Er kann das auch beschränkt auf die Journalisten
tun. Das ist in allen Kommentierungen zum Strafrecht so
vorgesehen. Der Kollege Kauder bestreitet das. Aber er
hat keine einzige Belegstelle, die dem entgegensteht.
Wenn das nicht gemacht wird, dann ist das böser Wille.
Wir sind für guten Willen gegenüber den Journalisten.
Deshalb fordern wir, dass die Ermächtigung sofort zurückgezogen wird, damit dieser Quatsch aufhört, damit
diese strafrechtlichen Ermittlungsverfahren sofort eingestellt werden.
({4})
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat bereits Ende
des letzten Jahres einen Gesetzentwurf in den Deutschen
Bundestag eingebracht,
({5})
gemäß dem solche Strafverfahren gegen Journalisten
nicht mehr eingeleitet werden könnten. Wir wollen damit festschreiben, dass ein Journalist nicht allein deshalb
wegen Beihilfe zum Geheimnisverrat verfolgt werden
darf, weil er in der Zeitung schreibt, dass ein Skandal
passiert ist und ihm dazu eine bestimmte Information aus
geheimen Quellen gegeben worden ist. Das darf nicht
für die Einleitung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens und schon gar nicht für eine Verurteilung ausreichen.
({6})
Deshalb wollten wir das Gesetz ändern und haben vorgeschlagen, dass der Deutsche Bundestag beschließt, dass
Beihilfe und Anstiftung zu solch einem Geheimnisverrat, also eine Teilnahmehandlung, in Zukunft nicht allein
aus dem Grund verfolgt werden, weil man etwas in der
Zeitung bzw. in den Medien veröffentlicht. Das darf
nicht sein. Das wollen wir ausschließen. Das darf nach
dem Gesetz keine rechtswidrige Handlung mehr sein.
({7})
Damit wären die Journalisten umfangreich und in dem
erforderlichen Maße geschützt.
Wir stehen auf der Seite der Pressefreiheit. Wir stehen
auf der Seite der Journalisten und fordern deshalb: Lassen Sie die Journalisten in Ruhe ihre bewundernswerte
Recherchearbeit durchführen und deren Ergebnisse auch
veröffentlichen. Setzen Sie heute hier im Deutschen
Bundestag ein Zeichen dafür, dass das Parlament nicht
will, dass die Journalisten weiter verfolgt werden. Fordern wir den Bundestagspräsidenten auf, die Ermächtigung zurückzunehmen.
({8})
Das Wort hat der Kollege Dr. Carl-Christian Dressel
für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine
beiden Herren von der FDP-Fraktion, ich freue mich,
dass Sie zur Beratung Ihres eigenen Antrag da sind.
({0})
- Schöner ist, was ich zu Ihrem Antrag zu sagen habe.
({1})
Wir behandeln zu dieser wahrlich etwas vorgerückten
Stunde - Herr Ströbele, spät würde ich sie noch nicht
nennen - ein bedeutsames Thema. Es geht um nichts Geringeres als die Pressefreiheit. Es geht aber auch um
nichts Geringeres als Geheimnisverrat. Ich sage dazu: Es
geht auch um nichts Geringeres als um das Verstehen des
Prinzips der Gewaltenteilung.
Lassen Sie mich zunächst in Erinnerung rufen, warum
es überhaupt zu den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft
gegen Journalisten gekommen ist
({2})
bzw., wie Sie sagten, Herr Ströbele, welche Ursachen
dafür denn gesetzt wurden. Auslöser für alle Ermittlungen waren Presseberichte mit vertraulichen Informationen aus dem 1. Untersuchungsausschuss.
({3})
Diejenigen, die aus dem 1. Untersuchungsausschuss Informationen weitergegeben haben, wollen wir doch zumindest nicht in Schutz nehmen.
Nachdem Sie, Herr Ströbele, sagten, Sie stehen auf
der Seite der Journalisten und der Pressefreiheit, möchte
ich Sie fragen: Stehen Sie auch auf der Seite derjenigen,
die die vertraulichen Informationen aus dem
1. Untersuchungsausschuss nach außen getragen haben?
({4})
Kollege Dressel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Hans-Christian Ströbele?
Gern, Frau Präsidentin.
Bitte.
Herr Kollege, haben Sie die Anträge der Fraktionen
von Bündnis 90/Die Grünen und der FDP richtig gelesen?
({0})
Wenn das der Fall wäre, wüssten Sie, dass unser Antrag
lediglich darauf zielt, die Ermächtigung zur Verfolgung
von Journalisten wegen ihrer journalistischen Arbeit zurückzuziehen, und sich nicht auf die mögliche Strafverfolgung der Täter eines Geheimnisbruches bezieht.
Herr Kollege Ströbele, ich darf Ihnen versichern: Ich
habe die beiden Anträge gelesen. Ich bilde mir ein, sie
auch richtig und genau gelesen zu haben. Ich darf Ihnen
an dieser Stelle das Kompliment machen, dass Sie handwerklich ein klein wenig besser waren;
({0})
denn im Gegensatz zur FDP zitieren Sie aus der aktuellen Auflage des StGB-Kommentars Schönke/Schröder.
Die FDP nutzt eine frühere Auflage.
({1})
Vielleicht sollte ich den Kollegen ein neues Exemplar
zur Verfügung stellen.
Ich darf Ihnen versichern, dass mir die Zielrichtung
Ihres Antrages aus dem vorliegenden Antragstext sehr
wohl bekannt ist. Allerdings legt die Rede, die Sie gerade gehalten haben, die Frage nahe, ob Sie über diese
Zielrichtung hinaus noch andere Zielrichtungen verfolgen. Diese Frage sollte einem Redner gestattet sein.
({2})
Um zu meinen Ausführungen zurückzukommen: Diejenigen, die den Geheimnisverrat - nichts anderes ist es begangen haben, haben in entscheidendem Maße dazu
beigetragen, dass der 1. Untersuchungsausschuss als
Gremium, das den Regeln der Strafprozessordnung unterworfen ist und privilegierten Zugang zu Akten erhält,
Schaden genommen hat. Vor diesem Hintergrund hat
sich die Mehrheit des Ausschusses - meines Erachtens
zu Recht - dem Vorschlag des Vorsitzenden angeschlossen, um zu demonstrieren, dass die Weitergabe von Dokumenten an Journalisten als Geheimnisverrat strafbar
ist und solche Straftaten nicht gebilligt werden.
({3})
Unter dieser Prämisse und in Anbetracht der Fakten und
der gesetzlichen Regelungen halte ich Ihre Forderungen
für ein falsches Signal.
({4})
Es soll hin und wieder vorkommen, dass Staatsanwälte draußen im Lande übereifrig ermitteln.
({5})
Was würde geschehen, wenn der Präsident die Ermächtigung aufgrund dieser Tatsache zurückziehen würde?
Wollen wir dadurch einen rechtsfreien Raum schaffen?
Wollen wir den Geheimnisverrat durch Abgeordnete billigen, indem wir Journalisten von Ermittlungen ausnehmen? Wie die Ermittlungen abzulaufen haben - Sie haben das in Ihrem Antrag selbst zitiert -, besagt deutlich
die sogenannte Cicero-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom Februar des laufenden Jahres. Darin
wird ausgeführt, dass Durchsuchungen und Beschlagnahmungen bei Journalisten gegen die Pressefreiheit
verstoßen, wenn diese allein in ihren Artikeln aus eingestuften Dokumenten zitiert haben.
({6})
Die Verantwortung für Ermittlungen und Durchsuchungsmaßnahmen im Einzelfall liegt ausschließlich bei
den zuständigen Staatsanwaltschaften. Das müssen wir
hier einmal klarstellen.
Sie haben von einem Ursachegesetz im Sinne von
Äquivalenz gesprochen, Herr Kollege Schäuble.
({7})
- Verzeihung, Herr Kollege Ströbele. - Dazu sage ich Ihnen: Dafür ist hier der falsche Platz.
Genauso sind wir hier am falschen Platz, um uns die
Widersprüchlichkeit zwischen Ihrer Argumentation und
der Argumentation der Kolleginnen und Kollegen der
FDP zu Gemüte zu führen. Diese sagen, dass ein Eingriff
in die Pressefreiheit vom Parlament nicht gewollt ist,
und zitieren teilweise wörtlich das Bundesverfassungsgericht, indem sie ausführen:
Deshalb müssen die strafprozessualen Normen über
Durchsuchung und Beschlagnahme dahin gehend
ausgelegt werden, dass die bloße Veröffentlichung
des Dienstgeheimnisses
nicht ausreicht, um einen diesen Vorschriften genügenden Verdacht der
Beihilfe zum Geheimnisverrat zu begründen
Wenn Sie das, was Sie da schreiben, ernst meinen, dann
denken Sie bitte an das Prinzip der Gewaltenteilung, das
eigentlich jeder Gymnasiast kennt: Der Deutsche Bundestag ist nicht dazu da, Recht auszulegen, sondern
Recht zu setzen.
({8})
- Ja genau, Herr Kollege Montag, Ihr Gesetz. Sie haben
einen Gesetzesentwurf vorgelegt.
({9})
Das war die richtige Form. Ihr Antrag, über den wir hier
debattieren, ist die falsche Form. Aber Ihr Gesetzentwurf, Drucksache 16/576, und auch der Gesetzentwurf
von den Kollegen der FDP, Drucksache 16/956, haben
beide ihre Probleme. Denn der eine Entwurf ist nicht
dazu geeignet, Schutz gegen übereifrige Staatsanwälte
zu ermöglichen. Der andere Gesetzentwurf würde Strafbarkeitslücken aufreißen. Details dazu haben Sie im
Fachausschuss gehört. Die will ich hier nicht wiederholen.
({10})
Aber auf eines weise ich hin: Wir alle reden von Journalisten. Wer bitte schön - das darf ich Sie, Kollege
Ströbele, auch einmal fragen - ist nach Ihrer Ansicht
oder nach Ansicht der beiden Antragsteller denn Journalist?
({11})
- Das ist aber keine geschützte Bezeichnung. Machen
Sie hier keine Türen auf, indem Sie diese Bezeichnung
einführen.
({12})
Eine Parallele zum Berufsgeheimnisträger haben Sie in
Ihrer Begründung ja gerade nicht gebracht. Die Grünen
dagegen sprechen von Medienangehörigen. Das ist ein
relativ breiter und schwammiger Begriff.
({13})
Nein, unser Interesse als Gesetzgeber ist und muss
sein, dafür zu sorgen, dass die Rechtsprechung durch die
dafür zuständigen Organe von Justiz und Exekutive korrekt angewendet wird. Wir dürfen uns hier nicht, wie
heute im Rechtsausschuss versucht, als Generaloberstaatsanwaltschaft oder als Superrevisionsgericht aufführen, indem wir Ermittlungsverfahren überprüfen. Unsere Aufgabe ist und bleibt es, Recht zu setzen, und
nicht, Recht auszulegen. Davon sollten wir nicht abgehen.
Aus diesen Gründen - für diese Begründung brauchte
ich, Kollege Ströbele, keine neun Minuten Redezeit,
sondern deutlich weniger - ist Ihr Antrag genauso wie
der Antrag der Kollegen der FDP abzulehnen.
Ich hoffe, dass wir endlich aufhören, uns an dieser
Stelle mit Einzelfallmaßnahmen zu befassen; denn dazu
gibt es die unabhängigen Gerichte und Staatsanwaltschaften. Wir hingegen haben anderes zu tun.
Ich danke Ihnen.
({14})
Das Wort hat der Kollege Dr. Max Stadler für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Selten habe ich jemanden so wortreich wie Sie,
Herr Kollege Dressel, am Thema vorbeireden hören,
({0})
sodass es mich wirklich reizen würde, hier in eine juristische Fachdebatte einzutreten. Das würde aber ebenfalls
am Kern der Sache vorbeigehen. Heute geht es nämlich
aufgrund der Anträge von Bündnis 90/Die Grünen und
der FDP-Fraktion darum, dass der Deutsche Bundestag
eine Gelegenheit zu einer Klarstellung wahrnimmt, die
dringend notwendig ist.
({1})
Der Deutsche Bundestag legt selbstverständlich Wert
darauf, dass die eigenen Verfahrens- und Geheimhaltungsregeln von denen eingehalten werden, die zu dieser
Geheimhaltung verpflichtet sind.
({2})
Aber der Deutsche Bundestag will nicht, dass durch
Strafverfahren in die Pressefreiheit eingegriffen wird.
Das könnte mit einer Zustimmung zu unseren Anträgen
heute hier vom Hohen Haus klargestellt werden.
({3})
Ich sage Ihnen ganz offen: Als derzeitiger Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums bin ich sogar sehr stark daran interessiert, dass Geheimhaltungsregeln strikt beachtet werden. Man macht da aber übrigens
so seine eigenartigen Erfahrungen: Vor gut zwei Wochen
wurden drei Personen verhaftet, die im Verdacht stehen,
fürchterliche Bombenanschläge geplant zu haben. Dazu
konnte man aus der Presse Details aus den Ermittlungsverfahren erfahren, ehe auch nur ein einziges parlamentarisches Gremium über die Vorgänge informiert worden
war.
({4})
Das zeigt: Die Verantwortung dafür lag bei anderen, jedenfalls nicht bei Parlamentariern. Das wollte ich nur
einmal zu der Praxis sagen, mit der wir uns hier beschäftigen.
({5})
Gleichwohl verstehe ich, dass unser Kollege Siegfried
Kauder als Vorsitzender des Untersuchungsausschusses
für den von ihm geleiteten Ausschuss das gleiche Interesse verfolgt, welches ich für das Kontrollgremium in
Anspruch nehme: nämlich die Einhaltung der Geheimhaltungsregeln. Deswegen war seinem Vorschlag zuzustimmen, dass bei Verletzung der Geheimhaltungsregeln
mit entsprechenden Ermittlungsverfahren gegengesteuert wird. Die FDP hat aber bei ihrer Zustimmung von
Anfang an klargestellt: Wir wollen nicht, dass sich solDr. Max Stadler
che Verfahren gegen Journalisten richten, die nur ihrer
Pflicht zur Information der Öffentlichkeit nachkommen.
Wir sind der Meinung - das will ich jetzt aus Zeitgründen juristisch nicht näher begründen; die Fachleute
wissen es sowieso -, dass sich Journalisten nach geltendem Recht ohnehin nicht wegen Beihilfe zum Geheimnisverrat strafbar machen, wenn sie Informationen, die
sie erhalten haben, publizieren. Vielmehr sind die diejenigen als Täter zu verfolgen, die den Geheimnisverrat
begangen haben.
Diese Auffassung, die wir, gestützt auf gewichtige
Stimmen in der Strafrechtsliteratur, vertreten, wird aber
offenkundig nicht von allen geteilt. Deswegen bestand
von Anfang an die Gefahr, dass sich eine undifferenzierte
Ermächtigung zur Strafverfolgung dann auch gegen Journalisten richtet. Leider ist es genau so gekommen, weil
der Herr Bundestagspräsident die Ermächtigung nicht
beschränkt hat. Er hätte die Journalisten von der Ermächtigung ausnehmen können; das wäre rechtlich zulässig gewesen. Das hat er aber nicht getan.
Da der Bundestagspräsident damit nur dem Willen
der Großen Koalition entsprochen hat, richtet sich unser
Antrag nicht etwa gegen den Bundestagspräsidenten;
({6})
im Gegenteil: Wir wollen, dass das Parlament ihm heute
den Rücken stärkt, sodass er die erteilte Ermächtigung in
Bezug auf die Journalisten zurücknimmt.
({7})
Wir sind es, die ihm diesen Willen des Parlaments vortragen müssen. Dies ist rechtlich ohne Weiteres zulässig.
Herr Kollege Dressel, wenn wir aus einem älteren
Kommentar zitiert haben, so zeigt dies nur, dass unsere
Meinung schon seit langem vertreten wird, nicht etwa
nur im konkreten Fall.
({8})
Somit halte ich fest: Es ist rechtlich zulässig, die Ermächtigung zur Strafverfolgung auf die eigentlichen Täter zu beschränken und die Journalisten davon auszunehmen. Dies wäre ein gutes Signal des Bundestags; es
würde zeigen, dass wir uns des Werts der Pressefreiheit
bewusst sind, wenn wir die Dinge wieder ins Lot bringen, die sich - vielleicht unbeabsichtigt - in eine falsche
Richtung entwickelt haben.
Allerdings hat Kollege Dressel zugleich Recht: Das
Problem sitzt tiefer.
({9})
Es muss auch das Strafgesetzbuch in dem Sinne geändert
werden, dass eine Klarstellung erfolgt, dass journalistische Tätigkeit keine Beihilfe zum Geheimnisverrat darstellt und damit nicht strafbar ist.
({10})
Der FDP-Entwurf eines Gesetzes zur Pressefreiheit
liegt auf dem Tisch. Ich bitte Sie, zum einen das Einzelproblem zu lösen, indem Sie unserem Antrag zustimmen, zum anderen aber auch das grundsätzliche Problem
anzugehen - dazu ist eine Klarstellung im Strafgesetzbuch notwendig -, indem Sie schlicht und einfach unserem Gesetzentwurf zustimmen.
Vielen Dank.
({11})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Siegfried
Kauder das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wer kämpferisch wie der Kollege Ströbele das Hohelied der Pressefreiheit singt, läuft schnell Gefahr, dass
man ihm Populismus vorwirft.
({0})
Ich will das nicht tun, sondern versuchen, die bestehende
Rechtslage zu erhellen.
Zweifellos ist die Pressefreiheit ein hohes Gut. Das
wissen wir schon seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Band 20, Seiten 162 ff.; insbesondere zu empfehlen ist Seite 174.
({1})
Aber die Pressefreiheit schwebt nicht in einem rechtsfreien Raum über der Demokratie.
({2})
Sie ist in das Rechtssystem eingebunden, wie sich aus einem Blick in das Grundgesetz sehr schnell ergibt. In
Art. 5 Abs. 2 des Grundgesetzes ist nämlich festgelegt,
dass die Pressefreiheit ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze findet. Allgemeine Gesetze
sind sowohl die Strafprozessordnung als auch das Strafgesetzbuch.
({3})
Siegfried Kauder ({4})
Neben dem Grundrecht der Pressefreiheit gibt es auch
grundrechtsgleiche Rechte, die gleichrangig zur Pressefreiheit zu schützen sind. Zu diesen grundrechtsgleichen
Rechten gehört auch die innere Sicherheit.
({5})
Mit Themen zu diesem Bereich befassen wir uns im Untersuchungsausschuss.
({6})
Dabei geht es um hochsensible Daten von im operativen
Einsatz tätigen Mitarbeitern der Nachrichtendienste und
um gute Kontakte zu unseren Partnerdiensten im Ausland. Was diese guten Kontakte wert sind, haben wir in
den letzten Wochen leidvoll erfahren, als wir feststellen
mussten, dass der Terrorismus nun auch in Deutschland
angekommen ist.
({7})
Es gehört also zu den essenziellen Aufgaben unseres Untersuchungsausschusses, dafür zu sorgen, dass Geheimhaltungspflichten gewahrt werden. Ich glaube, hier sind
wir uns alle einig.
({8})
Die Frage ist: Welche Rolle spielt in diesem hochsensiblen Bereich die Presse unter dem Schutz der Pressefreiheit? Auch Pressevertreter bewegen sich nicht in einem rechtsfreien Raum;
({9})
auch sie sind an die Gesetze gebunden.
({10})
Ob sie sich noch im Rahmen der Pressefreiheit oder aufgrund einer Verstrickung schon im strafrechtlich relevanten Raum nach § 97 Abs. 2 der Strafprozessordnung
bewegen, bleibt der sehr detaillierten Beurteilung im
Einzelfall vorbehalten.
({11})
Hier gilt es, die sogenannte Wechselwirkungstheorie zu
beachten, die das Bundesverfassungsgericht entwickelt
hat. Das heißt, dass man die allgemeinen Gesetze, denen
auch ein Journalist unterliegt, immer unter dem Gesichtspunkt der Grundrechte abgleichen muss. Darüber
hinaus ist die Rechtsprechung, die sich insbesondere aus
der Cicero-Entscheidung ergibt, zu berücksichtigen.
Aber, meine Damen und Herren, fangen wir von
vorne an.
({12})
Geheimnisverrat gab es in unserem Untersuchungsausschuss im Wesentlichen in drei Wellen: Die erste Welle
begann im Juni 2006,
({13})
die zweite im Oktober 2006, und die dritte wurde Mitte
März 2007 eingeläutet. Jeder dieser drei Wellen haben
wir im Untersuchungsausschuss - nicht nur ich als Vorsitzender, sondern auch der Ausschuss durch seine Entscheidungen - zu begegnen versucht, indem wir den
Bundestagspräsidenten angeschrieben, ihm die Lage geschildert und ihn gebeten haben, zu prüfen, ob er eine
Ermächtigung zur Strafverfolgung erteilt. Eine solche
Ermächtigung erteilt er nach eigener Sachprüfung.
Herr Kollege Ströbele, manch einer schleicht sich
weg und will es nicht wahrhaben.
({14})
Die erste Entscheidung vom Juni 2006, den Bundestagspräsidenten zu einer Ermächtigung anzuregen, wurde
nämlich einstimmig gefasst.
({15})
Auch der Kollege Ströbele hat dieser Entscheidung im
Obleutegespräch zugestimmt.
({16})
Das wollen Sie möglicherweise nicht mehr wahrhaben.
Auch als es zur zweiten Welle kam, also im
Oktober 2006, gab es in der Abstimmung über die Frage,
ob der Bundestagspräsident gebeten werden soll, eine
Ermächtigung zur Strafverfolgung zu erteilen, keine Gegenstimme.
({17})
Am 21. März 2007 hat sich bei der Opposition allerdings etwas getan. Ich frage mich noch heute, was eigentlich der Grund für diese Änderung der Einschätzung
war. Die Cicero-Entscheidung vom 27. Februar 2007
kann es schlechterdings nicht gewesen sein; denn durch
sie wird kein neues Recht gesetzt. Durch die Cicero-Entscheidung wurde lediglich genau skizziert, wo die
Grundrechte enden und inwieweit ein Journalist den
Schutz der Grundrechte für sich in Anspruch nehmen
kann.
Manchmal wird aber eine Rechtswohltat zum Fluch;
darüber lassen Sie mich jetzt einmal nachdenken: Der
Bundestagspräsident hat seine Ermächtigung erteilt. Die
Staatsanwaltschaften wurden informiert - und gerieten
unter Zeitdruck. Normalerweise verjähren Straftaten des
Kalibers Geheimnisverrat gemäß § 78 des Strafgesetzbuches nach drei Jahren. Nach allen Landespressegesetzen
verjähren Straftaten im Zusammenhang mit der Veröffentlichung in Presseorganen allerdings nach sechs Monaten. Das heißt also, die Staatsanwaltschaften konnten
möglicherweise nur nach summarischer Prüfung kurzfristig entscheiden, ob sie gegen Journalisten ein ErmittSiegfried Kauder ({18})
lungsverfahren eröffnen oder ob sie dies nicht tun; dann
wären eventuelle Straftaten verjährt.
Kollege Kauder, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Hans-Christian Ströbele?
Nein. - Deswegen muss man sich überlegen, ob diese
Rechtswohltat im Interesse der Journalisten ist oder ob
man nicht da etwas ändern sollte.
Bisher wurde die Sach- und Rechtslage übrigens nur
aus der Sicht des Parlaments betrachtet. Vielleicht darf
man die Situation auch aus der Sicht des Bundestagspräsidenten betrachten: Er wurde - anfangs durch einstimmige Beschlüsse, zuletzt durch Mehrheitsbeschlüsse gebeten, zu prüfen, ob er eine Ermächtigung erteilt.
Muss nun ein Bundestagspräsident in einen schwierigen
rechtlichen Abwägungsprozess eintreten? Muss er sich
mit Rechtsinstituten der Wechselwirkung zwischen
Grundrechten und allgemeinem Recht abplagen? Muss
er sich mit der Verstrickungsregelung des § 97 Abs. 2
der Strafprozessordnung befassen? Kann man ihm das
alles zumuten?
Der Bundestagspräsident hat sich zu diesen Anträgen
in weiser Vorausschau schon in einem Artikel im Rheinischen Merkur vom 6. September 2007 geäußert:
Ganz offensichtlich bestand die Erwartung an den
deutschen Bundestagspräsidenten, dass er schon die
Genehmigung zur Ermittlung auf Abgeordnete beschränken, nicht aber auf Journalisten ausweiten
dürfe. Das ist schon kurios. Was hätte man mir denn
wohl - vermutlich zu Recht - vorgehalten, wenn
ich mir angemaßt hätte, anstelle der Justiz festzulegen, gegen wen ermittelt werden darf?
Der Bundestagspräsident will nicht Staatsanwalt spielen. Deswegen haben wir seine Meinung zu respektieren.
Somit sind die Anträge vielleicht doch als nicht ganz unpopulistisch abzulehnen.
({0})
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege HansChristian Ströbele das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann Ihnen
nicht ersparen, dass ich dazu eine Kurzintervention mache, weil der Kollege Kauder meine Zwischenfrage ja
nicht zugelassen hat.
Herr Kollege Kauder, Sie wissen genau, dass sich die
Situation verändert hatte. Deshalb habe ich Ihnen ja auch
einen Brief geschrieben - den haben Sie nicht erwähnt.
Nachdem beim ersten Mal, soweit ich weiß, überhaupt
nichts passiert ist und beim zweiten Mal Journalisten
von dem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren betroffen
waren, habe ich Ihnen, nachdem Sie ein drittes Mal - da
stand die Cicero-Entscheidung kurz bevor - die Ermächtigung für die Einleitung eines Strafverfahrens erbitten
wollten, einen Brief geschrieben, der in etwa folgenden
Inhalt hat: Weil ich davon ausgehe, dass wiederum im
Wesentlichen oder ausschließlich Journalisten von dem
strafrechtlichen Ermittlungsverfahren betroffen sein
würden - ich habe also vorausgesehen, was dann passiert ist -, stimme ich dem nicht zu.
Daraufhin haben Sie zunächst Ihren Wunsch, einen
Brief an den Bundestagspräsidenten zu schreiben, zurückgestellt und darüber in der nächsten Sitzung des
Ausschusses nach einer Diskussion, in der das auch geäußert worden ist, nicht abstimmen lassen. Sie haben
aber in einer der nächsten Sitzungen - ich glaube, in der
nächsten oder in der übernächsten Sitzung - den Brief,
den Sie an den Bundestagspräsidenten schreiben wollten, erneut herausgezogen und zur Abstimmung gestellt
mit der Begründung, jetzt sei die Cicero-Entscheidung
da, also könnten Journalisten nicht mehr davon betroffen
sein. Das war die Begründung der CDU/CSU und auch
der SPD. Deshalb meinten Sie, diesen Antrag guten Gewissens stellen zu können.
Ich habe auch in dieser Sitzung darauf hingewiesen,
dass wiederum nur Journalisten betroffen sein würden
und ich deshalb dagegen stimmen würde. Ich habe dann
dagegen gestimmt und leider recht behalten, weil Sie
meiner und des Kollegen Neković Auffassung nicht gefolgt sind.
({0})
Das Wort hat der Kollege Siegfried Kauder für eine
Erwiderung.
Kollege Ströbele, so schnell kommt man in eine
Rechtfertigungssituation, wenn man die zeitlichen Abläufe durcheinanderbringt. Ich darf zunächst festhalten,
dass Sie - dem haben Sie ja nicht widersprochen - bei
den ersten beiden Wellen von Geheimnisverrat der Bitte
an den Bundestagspräsidenten um Einleitung eines Ermittlungsverfahrens zugestimmt haben. Außerdem, Kollege Ströbele, verhält es sich nicht so, wie Sie sagen:
Schon bei den ersten beiden Wellen sind teilweise Ermittlungsverfahren gegen Journalisten eingeleitet worden; diese wurden aber nach § 170 Abs. 2 der Strafprozessordnung sofort eingestellt. Man sollte auch einmal
daran denken, ob ein Journalist, der nichts Unrechtes getan hat, nicht einen Anspruch auf eine Verfahrenseinstellung nach § 170 Abs. 2 hat, wie dies teilweise jetzt schon
geschehen ist, und ob die Beschränkung einer Ermächtigung nicht ein Geschmäckle aufweist.
Auch der übrige Ablauf war ein bisschen anders, als
Sie es geschildert haben. Nachdem die Cicero-Entscheidung herausgekommen war, habe ich in den Entwurf
Siegfried Kauder ({0})
meines Briefes an den Bundestagspräsidenten sofort den
Satz aufgenommen: Dabei werden die Grundsätze der
Cicero-Entscheidung zu beachten sein.
Wir dürfen festhalten, dass Sie die Überlegung des
Kollegen Stadler, die Ermächtigung zu beschränken, im
Gespräch der Obleute nicht aufgegriffen haben, sondern
dass Sie rundweg - also insgesamt - dagegen gestimmt
haben.
({1})
Sie versuchen jetzt also, auf ein Pferd aufzuspringen,
das der Kollege Stadler aufgezäumt hat. Tatsächlich war
es anders. Vielleicht kramen Sie einmal in der Historie.
Dann kommen wir der Wahrheit ein bisschen näher.
({2})
Die Rede des Kollegen Wolfgang Neković aus der
Fraktion Die Linke und die Rede des Kollegen Gert
Winkelmeier, fraktionslos, haben wir zu Protokoll ge-
nommen.1)
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/6326
mit dem Titel Rücknahme der Ermächtigung zur Strafverfolgung von Journalisten wegen Verstoßes gegen Geheimhaltungsvorschriften gemäß § 353 b des Strafgesetzbuches. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Antrag abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der FDP auf Drucksache 16/6217 mit dem Titel
Ermächtigung zur Strafverfolgung von Journalisten gemäß § 353 b Abs. 4 StGB im Zusammenhang mit dem
1. Untersuchungsausschuss der 16. Wahlperiode zurücknehmen. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist auch dieser Antrag gegen die Stimmen der Antragsteller und gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke und der Grünenfraktion
abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter
Friedrich ({1}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Annette Faße, Niels Annen, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Kreuzfahrttourismus und Fährtourismus in
Deutschland voranbringen
- Drucksache 16/5957 -
1) Anlage 5
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Wir haben die Reden des Kollegen Jürgen Klimke aus
der Unionsfraktion, der Kollegin Annette Faße aus der
SPD-Fraktion, des Kollegen Jens Ackermann aus der
FDP-Fraktion, des Kollegen Dr. Ilja Seifert aus der Frak-
tion Die Linke und der Kollegin Nicole Maisch aus der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu Protokoll genom-
men.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/5957 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 19 a und
19 b:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Omid
Nouripour, Silke Stokar von Neuforn, Wolfgang
Wieland, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das Schengen-Informationssystem im europäischen Raum der Freiheit, der Sicherheit und
des Rechts transparent und bürgerrechtsfreundlich gestalten
- Drucksache 16/5966 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({4}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Jan Korte, Ulla
Jelpke, Petra Pau, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Zugriff von Geheimdiensten auf das Schenge-
ner Informationssystem der zweiten Genera-
tion verhindern
- Drucksachen 16/3619, 16/4270 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ralf Göbel
Wolfgang Gunkel
Jan Korte
Auch hier geben die Kolleginnen und Kollegen ihre
Beiträge zu Protokoll. Das ist der Fall für den Kollegen
Günter Baumann aus der Unionsfraktion, für den Kolle-
gen Wolfgang Gunkel aus der SPD-Fraktion, für die
Kollegin Gisela Piltz aus der FDP-Fraktion, für den Kol-
2) Anlage 6
Vizepräsidentin Petra Pau
legen Jan Korte aus der Fraktion Die Linke und für den
Kollegen Omid Nouripour aus der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.1)
Tagesordnungspunkt 19 a. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/5966 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 19 b. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4270, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3619
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenprobe! - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der Antragsteller bei Enthaltung der FDP-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 sowie Zusatzpunkt 5 auf:
20 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Bundespolizeigesetzes
- Drucksache 16/6292 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({5})
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
ZP 5 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundespolizeigesetzes und anderer
Gesetze
- Drucksache 16/6291 Überweisungsvorschlag
Innenausschuss ({6})
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
Auch hier gehen die Redebeiträge zu Protokoll. Das
betrifft den Kollegen Ralf Göbel für die Unionsfraktion,
den Kollegen Wolfgang Gunkel für die SPD, die Kolle-
gin Gisela Piltz für die FDP, die Kollegin Silke Stokar
von Neuforn für Bündnis 90/Die Grünen, den fraktions-
losen Kollegen Gert Winkelmeier und die Kollegin Petra
Pau für die Fraktion Die Linke.2)
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 16/6292 und 16/6291 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das
ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Tierschutzgesetzes
- Drucksache 16/6309 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({7})
1) Anlage 7
2) Anlage 8
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des
Tierschutzgesetzes
- Drucksache 16/6233 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({8})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Auch hier gehen die Reden zu Protokoll. Der Kollege
Dr. Peter Jahr hat für die Unionsfraktion seinen Beitrag
zu Protokoll gegeben, für die SPD-Fraktion der Kollege
Dr. Wilhelm Priesmeier, für die FDP-Fraktion der Kol-
lege Hans-Michael Goldmann, für die Fraktion Die
Linke der Kollege Bodo Ramelow und für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Undine Kurth.3)
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 16/6309 und 16/6233 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das
ist nicht der Fall. Dann ist auch hier so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Regierungskonferenz zur Änderung der vertraglichen Grundlagen der Europäischen
Union und Unterrichtung der Bundesregierung entsprechend Ziffer VI der Vereinbarung
zwischen Deutschem Bundestag und der Bundesregierung über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union
- Drucksache 16/6399 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({9})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
3) Anlage 9
Vizepräsidentin Petra Pau
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist dies so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Axel Schäfer für die SPD-Fraktion.
({10})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Mitgliedstaaten haben auf dem EU-Gipfel vom
21. bis 22. Juni 2007 in Brüssel dem von der deutschen
Ratspräsidentschaft vorgelegten Entwurf für ein Mandat
zu Beginn einer Regierungskonferenz mit kleinen Abstrichen zugestimmt. Das bedeutet inhaltlich: Das, was
wir bereits im Verfassungsvertrag gemeinsam ratifiziert
haben, ist Grundlage eines Reformvertrages und eines
neuen Vertrages für die Politiken der Europäischen
Union.
Damit wurde der Beschluss des Deutschen Bundestages vom 14. Juni dieses Jahres umgesetzt. Was heißt
das? Wir haben jetzt in den zentralen Punkten gemeinsam Klarheit bekommen. Die zentralen Punkte umfassen: Es gibt eine Rechtspersönlichkeit der Europäischen
Union. Wir überwinden die Pfeilerstruktur und schaffen
einen einheitlichen institutionellen Rahmen. Wir grenzen Kompetenzen klarer voneinander ab. Wir stärken
das Europäische Parlament, das mit nur ganz geringen
Abstrichen auf gleicher Augenhöhe mit dem Ministerrat
ist.
Wir verlängern die Ratspräsidentschaft auf zweieinhalb Jahre, und wir schaffen das Amt des europäischen
Außenministers.
Wir stärken die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Erstmalig führen wir das Element der direkten
Demokratie auf europäischer Ebene ein. Hier sollten wir
im Bundestag ein Stück weit von Europa lernen.
({0})
Die Rechte der nationalen Parlamente werden - darauf kommt es uns besonders an - gestärkt. Dabei handelt es sich um das, was wir können, was wir aber auch
wollen müssen.
({1})
Wir sollten uns sozusagen europäisieren und unsere Arbeit weiterentwickeln. Damit ist für die Bundesregierung
sowohl inhaltlich als auch politisch das Einvernehmen
bei der Regierungskonferenz hergestellt.
Ich sage ganz offen: Ich bin mit der Abfolge sicherlich nicht ganz zufrieden und lade die Kolleginnen und
Kollegen aller Fraktionen ein, klarzustellen, wie wir uns
in Zukunft die Unterrichtung vorstellen, auch mit welchen Formulierungen. Wir sollten uns aber nicht nur mit
formalen Details aufhalten. Schließlich ist es der Bundesregierung während ihrer Ratspräsidentschaft und infolge der begonnenen Regierungskonferenz gelungen,
den Deutschen Bundestag im Allgemeinen und den Europaausschuss im Besonderen sowie zusätzlich die Obleute umfangreich zu informieren und einzubeziehen.
Wir haben tatsächlich Schritte weg von einem intergouvernementalen hin zu einem parlamentarischeren und
demokratischeren Europa gemacht. Das ist unser gemeinsamer Erfolg in diesem Haus.
({2})
Dazu gehört aber auch, dass man Kritik an dem übt,
was nicht gelungen ist. Es sind für uns drei zentrale
Punkte.
Erstens. Wir haben künftig einen Verfassungsvertrag,
der nicht so heißen darf, weil einige es nicht wollen oder
glauben, das nicht vertreten zu können. Wir haben wichtige Symbole wie Fahne und Hymne, die unsere gemeinsame Identität - in Vielfalt geeint - zum Ausdruck bringen, gegen unseren Willen streichen müssen. Solche
Symbole sind mehr als nur Zierde, wie die FAZ geschrieben hat. Das ist genau das, was Menschen mit Gemeinschaften verbindet. Wir sollten es in diesem Hohen
Hause - genauso wie überall im Land - weiterhin so halten, dass neben der Fahne der Bundesrepublik Deutschland, unserer Trikolore, die Europafahne weht; denn wir
sind gerne ein Teil der Europäischen Union.
({3})
Zweitens. Wir haben bittere Abstriche und Ausnahmeregelungen hinnehmen müssen. Bestimmte Länder
wollten Regelungen, die für die Gemeinschaft gelten, für
sich nicht gelten lassen.
Drittens. Es gibt eine Reihe von Fußangeln und Formulierungen - das erleben wir zurzeit in Brüssel -, die
den Abschluss der Verhandlungen über das Vertragswerk
erschweren. Ich sage ganz offen als jemand, der immer
optimistisch auf die europäische Entwicklung schaut und
in das Gelingen verliebt ist: Es wird am 18. und
19. Oktober schwierig, sicherlich auch danach. Die
Schwierigkeiten bestehen darin - ich will nicht auf andere zeigen, möchte das aber um der geschichtlichen
Wahrheit willen deutlich beim Namen nennen -, dass es
leider Regierungen gibt, die auf Gipfeln Zusagen machen - ich erinnere an die wichtige Berliner Erklärung
vom 25. März - und in Verhandlungen so tun, als wären
sie mit den Einigungen einverstanden, dann aber, wenn
es um das Kleingedruckte oder die Paraphierung geht,
bis zum Schluss, wenn alle zum Klatschen und Singen
aufstehen, mit neuen Nachforderungen, Vorbehalten und
Kleinigkeiten kommen, die die große Politik negativ beeinflussen. Das müssen wir ganz deutlich sagen. Das erleben wir zurzeit.
Ich bin sehr froh darüber, dass unsere Regierung während der portugiesischen Ratspräsidentschaft konsequent
den Kurs steuert, den die Regierung 1999 - damals noch
mit einem anderen Kanzler, wie wir alle wissen - begonnen hat und der darin besteht, etwas gemeinsam in Europa über mehr Parlamentarisierung, über einen Konvent
und schließlich mit einer neuen Verfasstheit voranzubringen.
Ich sage das, weil die Situation wirklich ernst ist. Wir
wollen die wichtigste vertragliche Änderung in den letzAxel Schäfer ({4})
ten 15 Jahren bewerkstelligen. Wir wollen die grundlegendste Veränderung in den letzten 50 Jahren überhaupt
auf den Weg bringen. Wir haben keine andere Chance,
als dieses Projekt zum Gelingen zu bringen.
Eines muss dabei klar sein: Es darf am Ende nicht infrage stehen, dass die Regierungen in ihren Ländern dafür kämpfen, dass die Ratifizierung gelingt. Wir haben
nämlich keine andere Chance als diesen Abschluss im
Jahr 2007, damit die Ratifizierung 2008 gelingt und wir
2009 als Gemeinschaft handlungsfähig und zukunftsfähig werden. Das geht nicht nur die Europaspezialisten
etwas an und hat nicht nur etwas mit Staatsraison zu tun,
sondern das ist eine Verpflichtung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern. Diese wollen 2009 bei der Europawahl von uns allen die Antwort auf die Frage, ob dieses
Europa gemeinsam in der Lage ist, in einer globalisierten Welt zu handeln, oder ob wir, jedes Land einzeln, an
den Rand gedrängt werden. Schaffen wir es, Europa im
Jahr 2009 voranzubringen? Wir sind daher verpflichtet,
zum Gelingen dieser Regierungskonferenz beizutragen.
Der Deutsche Bundestag ist gut aufgestellt. Wir werden uns engagieren, und ich glaube, wir werden gemeinsam Erfolg haben.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Markus Löning für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Herr Schäfer, die Rede, die Sie hier gehalten
haben, war genau die Art von Reden, die zu Europaverdruss führen.
({0})
Ich kann alles unterschreiben, was Sie über die großen
europäischen Ziele und darüber, wie toll das Ganze ist,
gesagt haben. Ich muss aber sagen: Ich werde allmählich
zynisch, wenn ich hier höre, wie toll es ist, dass die Parlamente mehr Rechte bekommen sollen. Ich bin sehr dafür, dass die Parlamente mehr Rechte bekommen, aber
ich bin auch sehr dafür, dass wir als Deutscher Bundestag die Rechte, die wir haben, endlich wahrnehmen.
({1})
Es sind die zwei großen Fraktionen, die das in diesem
Fall verhindert haben.
Wir mussten uns im Europaausschuss von Mitgliedern der Bundesregierung, vom Außenminister und vom
Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, anhören, dass es nicht an ihnen gelegen hat, dass der Bundestag nicht vor Eintritt in die Verhandlungen der Regierungskonferenz um die Herstellung von Einvernehmen
gebeten worden ist. Wir mussten uns von der Regierung
anhören, dass es Zeit wird, dass der Bundestag endlich
seine Rechte wahrnimmt. Angesichts dessen finde ich
eine Rede wie die, die Sie, Herr Schäfer, gehalten haben,
beschämend.
({2})
Ich finde es beschämend, wenn zwei Fraktionen blockieren, sodass wir nicht in der Lage sind, die Rechte,
die wir uns erkämpft haben, wahrzunehmen. Es ist nicht
in Ordnung, wie Sie damit umgehen und dass Sie jetzt
versuchen, durch Herumeiern und windelweiche Formulierungen so zu tun, als ob wir im Nachhinein das Einvernehmen herstellen könnten. Das ist lachhaft. Wir haben Sie dazu aufgefordert, dies, wie es in der
Vereinbarung steht, zu Beginn der Regierungskonferenz
und vor Eintritt in die Verhandlungen zu tun. Das wäre
unser Recht gewesen. Ich hätte erwartet, dass zwei große
Fraktionen dieser beiden Volksparteien darauf bestanden
hätten, auch gegenüber der eigenen Bundesregierung.
Ich hätte aber nicht gedacht, dass diese Bundesregierung
ihren eigenen Fraktionen sagen muss, dass das Parlament noch nicht einmal seine eigenen Rechte wahrnimmt.
({3})
Kollege Löning, gestatten sie eine Zwischenfrage aus
der Unionsfraktion?
Bitte, gerne.
Herr Kollege Löning, ist Ihnen bekannt, dass der
Deutsche Bundestag am 14. Juni einen Entschließungsantrag verabschiedet hat, in dem er die Eröffnung einer
Regierungskonferenz befürwortet hat, in dem er auch
auf der Basis des bisherigen Verfassungsvertrages es begrüßt hat, dass die Verhandlungen nach Möglichkeit die
Substanz dieses Verfassungsvertrages bewahren sollen?
Sind Sie mit mir einer Meinung, dass in diesem Entschließungsantrag eine Zustimmung zur Aufnahme von
Verhandlungen vor Einberufung der Regierungskonferenz zu sehen ist?
Falls Sie der Ansicht sein sollten, dass eine solche Zustimmung erst in Kenntnis des Mandates der Regierungskonferenz erfolgen sollte, könnten Sie uns dann erklären, wie an einem Wochenende eine vorherige
Zustimmung des Bundestags zur Aufnahme von Verhandlungen vor dem Hintergrund eingeholt werden
sollte, obwohl nach Verlängerung des europäischen Gipfels das Mandat erst spätnachts ausformuliert vorlag?
Lieber Herr Kollege Silberhorn, an dieser Stelle teile
ich Ihre Meinung nicht. Was ist das für ein Verständnis
des Parlamentes, wenn gesagt wird, am Wochenende
haben wir keine Zeit, die Regierung zu kontrollieren,
oder wenn in vorauseilendem Gehorsam schon einmal
eine Blankogenehmigung erteilt wird, auch wenn das
Mandat nicht bekannt ist? Viel schlimmer finde ich aber,
dass Ihre Fraktion und auch die der Sozialdemokraten
versucht haben, uns weiszumachen, dass ein Einvernehmen überhaupt nicht nötig ist und dass es reicht, einen
Brief des Bundesaußenministers zur Kenntnis zu nehmen.
Aufgrund eines Gutachtens des Wissenschaftlichen
Dienstes sind Sie darauf gestoßen, dass es doch dort einen Beschluss gegeben hat. Den ziehen Sie jetzt aus der
Tasche und überlegen sich, ob man einen Beschluss, den
es doch schon einmal gab, hilfsweise heranziehen
könnte. Herr Silberhorn, ich kann mich gut an die Debatte hier im Haus über die Inkraftsetzung der BBV erinnern, als der Kollege Stübgen klipp und klar gesagt hat:
Vor Eintritt in die Verhandlungen muss die Regierung
das Mandat dem Bundestag vorlegen und Einvernehmen
herstellen. Ich hätte mir gewünscht, dass das nicht nur in
einer Sonntagsrede gesagt worden wäre, sondern dass
sich die Unionsfraktion und die SPD-Fraktion bei diesem Verfahren auch daran gehalten hätten. Sie haben es
nicht, und deshalb nenne ich es windelweich, wenn hinterher irgendwelche Hilfskonstruktionen herangezogen
werden.
({0})
Herr Kollege Löning, lassen Sie eine weitere Zwischenfrage zu? - Bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege
Löning, sind Sie sich im Klaren darüber, dass Ihre Auffassung zur Konsequenz hätte, dass die Bundesregierung
während des europäischen Gipfels in Brüssel nach Erreichen eines Konsenses über das Mandat für die Regierungskonferenz diesen Gipfel hätte abbrechen müssen,
um die Zustimmung des Deutschen Bundestags für dieses Mandat einzuholen?
Herr Kollege Silberhorn, soviel ich weiß, sind Sie Jurist. Insofern verstehe ich nicht, wie Sie überhaupt eine
solche Frage stellen können. Sie wissen genau, dass dort
eine politische Einigung erzielt worden ist, dass aber der
formelle Beginn der Regierungskonferenz erst eine gute
Woche später stattgefunden hat. Insofern wäre es überhaupt kein Problem gewesen, den Deutschen Bundestag
oder zumindest den Europaausschuss mit dieser Sache
zu befassen. Ich finde es schade, dass Sie versuchen, gegen dieses Recht des Parlaments zu argumentieren. Ich
hätte mir gewünscht, dass aus den Reihen der beiden
großen Fraktionen gesagt wird: Wir als Bundestag haben
viele Rechte, und wir wollen sie in Zukunft besser wahrnehmen, als wir es an dieser Stelle gemacht haben. Das
höre ich leider nicht von Ihnen.
Kollege Löning, die Uhr ist noch immer angehalten.
Der Kollege Bodewig hat noch den Wunsch nach einer
Zwischenfrage. Gestatten Sie diese?
Wir können das gern fortsetzen.
Bitte.
Ich fasse mich relativ kurz. - Lieber Kollege Löning,
erinnern Sie sich vielleicht noch daran - auch wenn Sie
sich an den Junibeschluss schon nicht mehr erinnern und
durch den Wissenschaftlichen Dienst in Kenntnis gesetzt
werden müssen -, dass es eine ganze Reihe von Beratungen mit den Obleuten gegeben hat, mit dem Ergebnis,
dass Beiträge aller Obleute an die Regierung gerichtet
worden sind? Erinnern Sie sich noch daran, dass das Ergebnis des Brüsseler Gipfels ein Erfolg war, der durch
beharrliches Verhandeln der Bundesregierung zustande
gekommen ist?
Es geht hier um ein Mandat für eine Regierungskonferenz, die dafür gesorgt hat, dass die Substanz des Verfassungsvertrages im Wesentlichen erhalten worden ist.
Ich halte das für einen Erfolg. Ich würde mich freuen,
wenn Sie sich noch an die eine oder andere Sitzung erinnern, in der wir hier gemeinsam mit der Bundesregierung diskutiert haben.
Herr Kollege Bodewig, ich habe nicht ganz verstanden, worin die Frage liegt.
({0})
- Herr Bodewig, ich kann mich daran erinnern, dass es
eine Reihe von vertraulichen Unterrichtungen der Obleute gegeben hat. Das finde ich richtig. Ich bin der Bundesregierung dafür dankbar, dass sie das so handhabt.
Aber ich sehe nicht, dass eine vertrauliche Unterrichtung
von Obleuten eine parlamentarische Debatte hier in irgendeiner Form ersetzen kann. Es geht uns darum, dass
wir diese Dinge vor den Augen des deutschen Volkes debattieren.
Ich verstehe nicht, dass die Bundesregierung in dieser
Situation zum Mandat nicht Stellung nimmt, etwa indem
sie im Deutschen Bundestag sagt, was sie erreicht hat.
Dann hätte sie all das Lob - auch aus den Reihen der
Opposition - bekommen, das Sie so wünschen.
Ich kritisiere nicht die Bundesregierung, Herr
Bodewig. Ich kritisiere Sie und Ihre Fraktion dafür, dass
Sie auf dem vom Parlament ausgehandelten und mühevoll erarbeiteten Recht des Parlaments, nämlich vor Eintritt in Verhandlungen über Reformverträge, vor Eintritt
in Verhandlungen über Beitritte gehört zu werden - dieMarkus Löning
ses Recht fußt in Art. 23 des Grundgesetzes -, nicht bestehen.
({1})
Auf dieses Recht würde der Bundesrat niemals verzichten. Er vertritt seine Anliegen an dieser Stelle sowieso sehr viel besser, sehr viel dezidierter, mit sehr viel
mehr politischem Nachdruck, als es die Mehrheit dieses
Hauses leider tut. Es bleibt dabei - das muss ich konstatieren -, dass das sehr enttäuschend ist.
({2})
Lassen Sie mich dennoch einige Punkte zum Inhalt
des Reformvertrages anführen. Wir werden von der Bundesregierung regelmäßig informiert; da gibt es wenig zu
kritisieren. Wir sind der Meinung, dass Europa dringend
einen Reformvertrag braucht. Wir müssen schnell handlungsfähig werden. Wir wünschen uns die politische Einigung im Oktober, und wir wünschen uns eine schnelle
Ratifizierung. Es ist nötig, dass wir diese Debatte endlich hinter uns bringen.
Ich sehe, dass es gegenüber dem Verfassungsvertrag
durchaus eine Reihe von Verbesserungen gegeben hat.
Wir stehen dem ganzen Prozess also außerordentlich positiv gegenüber. Ich will aber nicht verschweigen, dass
es auch eine ganze Reihe von Punkten gibt, die uns Probleme bereiten, die uns Sorgen machen. Diesbezüglich
finden wir das Bild, das die Bundesregierung in der Öffentlichkeit malt, etwas zu rosig.
Einige dieser Punkte möchte ich hier trotz der knappen Redezeit noch kurz anreißen.
Es wird Sie nicht verwundern, dass wir als Liberale
den Kompromiss zwischen Frau Merkel und Herrn
Sarkozy, was den fairen und unverfälschten Wettbewerb
angeht, nicht gut finden können. Wir verstehen nicht,
warum ein zentrales Element gerade des sozialen Europas herausgekickt wird und warum Sie als Sozialdemokraten das nicht kritisieren. Es geht darum, dass die Verbraucher, dass die kleinen Leute geschützt werden. Ich
erinnere an das vor kurzem gefällte Microsoft-Urteil. Es
ist eine zentrale Aufgabe der Europäischen Kommission
als Kartellbehörde, die Kleinen vor Monopolen zu schützen. Ich verstehe nicht, warum dieses Ziel herausgestrichen worden ist.
Wir appellieren an die Bundesregierung, den unsinnigen Ioannina-Kompromiss auf gar keinen Fall zu akzeptieren. Eine Akzeptanz wäre die Umkehrung dessen, was
mit dem Reformvertrag erreicht werden sollte: mehr
Transparenz, mehr Nachvollziehbarkeit für den Bürger.
Der Ioannina-Kompromiss würde das ins Gegenteil verkehren. Es ist geradezu die Karikatur eines europäischen
Kompromisses, wenn eine Entscheidung immer wieder
verschoben wird. Sie haben unsere volle Unterstützung,
wenn Sie sich dafür einsetzen, dass diese Regelung auf
gar keinen Fall in den Vertrag aufgenommen wird.
Ansonsten gibt es einige Fragen, was die parlamentarische Beteiligung angeht. Wenn wir wollen, dass sowohl die Beteiligung des EP als auch die der nationalen
Parlamente besser wird, dann sollte die Bundesregierung
- das erwarte ich - klarer Kante zeigen, als wir es bisher
erlebt haben. Darüber sollte sie ruhig öffentlich sprechen.
Sie haben dabei die volle Unterstützung. Es kann
nicht sein, dass zum Beispiel über Datenübermittlung in
Zukunft ausschließlich im Ministerrat entschieden wird
- ohne Beteiligung des Europäischen Parlaments, ohne
Beteiligung der nationalen Parlamente und vor allem
ohne Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof.
Ähnliches gilt für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Wir brauchen ein volles Mitspracherecht der
Parlamente in diesen sensiblen Bereichen; sonst werden
wir auch da nicht das erreichen, was wir wollen: mehr
Demokratie und mehr Transparenz.
Vielen Dank.
({3})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Michael
Stübgen das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Herr Kollege Löning, ich möchte Ihnen
ein Geheimnis verraten. Axel Schäfer wollte eine Einwilligungserklärung des Deutschen Bundestages mit Debatte vor Beginn der Regierungskonferenz am 23. Juli
dieses Jahres. Sie sollten ihm nach dieser Debatte ein
oder zwei Bier ausgeben; denn die Vorwürfe an ihn persönlich entbehren der Grundlage. Ich komme noch auf
das Thema zurück.
Lassen Sie mich an eine Entscheidung in diesem
Haus vor zweieinhalb Jahren erinnern; damals schienen
wir wenigstens etwas mehr einig zu sein. Am 12. Mai
2005 hat der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit
dem Vertrag über eine Verfassung für Europa zugestimmt. Heute wissen wir: Der Verfassungsvertrag ist
nicht in Kraft getreten. Er ist gescheitert. Die Europäische Union geriet in eine institutionelle Sackgasse. Der
notwendige Reformprozess stagnierte über fast zwei
Jahre.
Wir können heute aber sagen: Die Stagnation ist überwunden. Es gibt eine Regierungskonferenz unter portugiesischer Ratspräsidentschaft, die einen neuen europäischen Vertrag erarbeitet, einen Reformvertrag, der in
seiner politischen Substanz dem Verfassungsvertrag sehr
nahe kommt.
Dass es dazu gekommen ist, verdanken wir zu einem
wesentlichen Teil der Bundesregierung, allen voran der
Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem Bundesminister Frank-Walter Steinmeier. Die entscheidenden
Schritte hierfür waren die Berliner Erklärung und das
Mandat zur Regierungskonferenz beim letzten Europäischen Rat.
Die Berliner Erklärung war zum einen wichtig, weil
sie die Staats- und Regierungschefs der Europäischen
Union zur Wiederaufnahme des Verfassungsprozesses
verpflichtet hat. Andererseits hätte es ohne das Mandat
für die Regierungskonferenz kaum eine Aussicht auf einen schnellen Abschluss der jetzigen Regierungskonferenz gegeben. Das war übrigens ein Mandat - das ist
auch eine Sonderheit in diesem Prozess -, das im
Grunde kein Verhandlungsmandat mehr war, sondern ein
Mandat zur Umsetzung von Vereinbarungen, wie sie auf
dem Europäischen Rat getroffen worden sind. Ohne
diese Konzeption wäre der Reformprozess auf lange
Sicht gescheitert.
({0})
Die CDU/CSU-Fraktion spricht der Bundesregierung
hierzu noch einmal ihre Anerkennung und ihren Dank
aus.
Positiv zu würdigen ist aber auch die Verhandlungsführung der portugiesischen Ratspräsidentschaft, die mit
einer geradezu stoischen Entschiedenheit jegliche neue
Forderungen abgelehnt hat. Das war alles andere als einfach.
Es ging nämlich nicht immer nur um die Frage, was
im Mandat steht oder nicht. Es ging auch um die Frage,
wie das Mandat von einigen EU-Mitgliedern interpretiert wurde. Die Portugiesen haben die erfolgreiche deutsche Ratspräsidentschaft fortgesetzt. Wenn der EU-Reformvertrag am Ende Vertrag von Lissabon oder
Vertrag von Porto genannt wird, dann würde dies auch
dem Beitrag gerecht, den Portugal im Rahmen seiner
Präsidentschaft tatsächlich geleistet hat.
Was sind die wichtigsten Elemente des Reformvertrags? Wir haben das in unserem Antrag beschrieben:
Die Grundrechtecharta erhält volle Rechtsverbindlichkeit. Auch bei der umstrittenen Frage der Stimmengewichtung im Rat konnte das Prinzip der doppelten Mehrheit, an dem gerade Deutschland ein besonderes
Interesse hat, erhalten werden, auch wenn die Einführung der neuen Entscheidungsregel auf das Jahr 2014
und wegen des Einspruchsrechts - das ist ein Rückfall in
die Nizza-Regelung - faktisch bis 2017 verschoben
wurde.
Als Erfolg ist auch zu verbuchen, dass der Anwendungsbereich der qualifizierten Mehrheit und der Mitentscheidung des Europäischen Parlaments ausgedehnt
wurde. Wir haben immer schon gefordert, das Mitentscheidungsverfahren in der europäischen Rechtssetzung
zur Regel zu machen. Damit wird das Europäische Parlament zum gleichberechtigten Gesetzgeber neben dem
Rat. Die Europäische Union wird durch diese Fortschritte demokratischer, transparenter und effektiver.
Auch die Verminderung der Zahl der Kommissare auf
zwei Drittel der Zahl der Mitgliedstaaten ab 2014 stärkt
die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union. Das
Gleiche gilt für das neue Amt des Präsidenten des Europäischen Rates, das dem Handeln der Europäischen
Union Kontinuität, Kohärenz und Sichtbarkeit nach innen wie nach außen ermöglicht.
Die bereits im Verfassungsvertrag angelegte Stärkung
der Rolle der nationalen Parlamente insbesondere bei der
Subsidiaritätsprüfung sowie eine verbesserte Kompetenzabgrenzung können ebenfalls auf der Habenseite
verbucht werden.
Als CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag begrüßen wir besonders, dass in dem neuen EU-Vertrag die
Kompetenzabgrenzung zwischen der Europäischen
Union und den Mitgliedstaaten deutlicher als bisher gefasst wird.
({1})
Es wird ausdrücklich festgelegt, dass alle der Union
nicht übertragenen Zuständigkeiten bei den Mitgliedstaaten verbleiben. Auch die Verleihung der Rechtspersönlichkeit ermächtigt die Europäische Union nicht,
über die ihr von den Mitgliedstaaten übertragenen Kompetenzen hinaus Gesetze zu erlassen oder tätig zu werden.
Ebenso wichtig ist es, dass die Bundesregierung zugesagt hat, allen Versuchen zu widerstehen, die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank anzutasten, sei es
jetzt im Rahmen der Regierungskonferenz, sei es im
Dialog mit Frankreich, sei es aber auch im Kontext neuerer Überlegungen in der Europäischen Kommission,
den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt zu
verändern.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich zusammenfassend sagen: Die für CDU/CSU wesentlichen Fortschritte sind in den Reformvertrag eingeflossen. Dieser Vertrag ist um ein Vielfaches besser als
der jetzt gültige Vertrag von Nizza. Deshalb findet er
auch unsere nachdrückliche Zustimmung.
Natürlich gibt es auch Wermutstropfen. Da ist zum
Beispiel der Verzicht auf die europäischen Symbole
Flagge und Hymne sowie auf die Präambel, mit der der
Verfassungsvertrag eingeleitet werden sollte. Flagge und
Hymne sind identitätsstiftende Symbole für Europa, und
es ist nur zu bedauern, dass sie keinen Eingang in den
Text gefunden haben. Auch die Tatsache, dass die
Grundrechtecharta in Großbritannien und Polen nicht
angewendet werden soll, ist mehr als ein Schönheitsfehler. Aber letzten Endes kommt es darauf an, wie wir
diese Defizite ausgleichen. Immerhin wird die Grundrechtecharta in 25 von 27 Mitgliedstaaten rechtsverbindlich.
Wir verbinden unseren Antrag mit unserer Zustimmung zu den Verhandlungen der Bundesregierung im
Rahmen der Regierungskonferenz auf der Grundlage des
Mandates des Europäischen Rates vom 21. bis 23. Juni
2007, wie es die Vereinbarung zwischen dem Deutschen
Bundestag und der Bundesregierung vom 28. September
2006 vorsieht. Ich räume freimütig ein, dass wir nach
den Irritationen Anfang Juli 2007 das Verfahren hierfür
noch verbessern müssen, wie es Herr Löning schon angedeutet hat und wie wir dies im Ausschuss auch berechtigterweise diskutiert haben. Aber ich bitte auch zu bedenken, dass wir die Erklärung unseres Einvernehmens
zu den Verhandlungen der Bundesregierung zum ersten
Mal praktizieren. Ein Jahr nach Inkrafttreten dieser Zusammenarbeitsvereinbarung können wir feststellen: Die
Zusammenarbeit zwischen der Bundesregierung und
dem Deutschen Bundestag hat sich deutlich verbessert,
auch wenn sie noch längst nicht perfekt ist.
Die neuen Instrumente für das Zusammenwirken beider Verfassungsorgane an den europapolitischen Entscheidungen - die Stellungnahmen in Verbindung mit
Art. 23 des Grundgesetzes sowie auf der Ebene der Bundesregierung der sogenannte Parlamentsvorbehalt - sollten wir deutlich häufiger in Anspruch nehmen, als es bislang der Fall ist. Wir sollten uns auch darauf
verständigen, dass die Herstellung des Einvernehmens,
um das sich die Bundesregierung vor Aufnahme von
Verhandlungen über Vertragsänderungen oder Verhandlungen zur Aufnahme neuer Mitglieder bemühen muss,
ein für alle Beteiligten transparenter und sichtbar dokumentierter Vorgang sein sollte.
Der heute von den Koalitionsfraktionen in den Bundestag eingebrachte Antrag wird diesem Kriterium gerecht. Wir werden im Europaausschuss noch Gelegenheit haben, darüber intensiv zu diskutieren. In der Tat
gebe ich aber Kollegen Löning - ich vermute, Kollege
Steenblock wird das noch in gleicher Weise darstellen recht: Es wäre besser gewesen, wenn wir diese Einvernehmenserklärung vor Beginn der Regierungskonferenz
am 23. Juli verfasst hätten. Wir sind etwas spät dran,
aber nicht zu spät.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege
Dr. Diether Dehm das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es wird Sie nicht wundern, dass wir den Antrag der Koalitionsfraktionen ablehnen.
({0})
Kollege Silberhorn, ich hätte wirklich, nachdem Sie in
dem ganzen Verfahren zwischen Bundesregierung und
Bundestag doch so ein entscheidender Faktor waren, erwartet, dass Sie etwas deutlicher an die Seite des Kollegen Löning getreten wären. Die Frage ging in eine ganz
andere Richtung. Es ist eine Farce, wenn nur zwei Monate verhandelt wird und einen Monat vor Ende der Verhandlungen das Einvernehmen erzielt werden soll.
Den zu erwartenden Vertrag über die Veränderung der
EU-Grundlagen werden wir ablehnen. Nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages bei den Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden werden seine
wesentlichen neoliberalen und militaristischen Inhalte
({1})
mit einem Taschenspielertrick neu als Reformvertrag
verpackt. Aus einem alten, gekippten Wein wird nichts
Gutes, lieber Kollege Bodewig, nur weil man ihn mit einem neuen Etikett versieht. Klammheimlich soll das an
den Völkern vorbeigetrickst werden.
({2})
Dass wir das nicht mitmachen, wissen Sie.
Es soll nur ein komplizierter Änderungstext, nicht
eine lesbare Gesamtfassung vorgelegt werden. Niemand
soll einfach nachlesen können, was in den neuen Verträgen steht. Man muss die geltenden Verträge und den Änderungsvertrag schon nebeneinanderlegen, um sich wie
bei einem komplizierten Puzzle ein Gesamtbild machen
zu können.
({3})
Das ist Zynismus gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern, gegenüber dem demokratischen Souverän. Keiner
soll sich wundern, wenn die Begeisterung für das Projekt
der europäischen Integration weiter sinkt. Oder sind
Desinteresse und Verwirrspiel gar gewollt?
Wenn Europa gelingen soll, dann kann das nur friedlich und sozial geschehen und nicht mit diesem Verfassungssurrogat hinter dem Rücken der Völker. Die Linke,
auch die europäische Linke, fordert deshalb in allen Mitgliedstaaten Volksabstimmungen. Dafür werden wir
rechtzeitig eine Ergänzung des Grundgesetzes beantragen.
({4})
Die Charta der Grundrechte - teils kritikwürdig, teilweise aber zu unterstützen - wird nicht einmal integraler
Vertragsbestandteil, und es wird zugelassen, dass einzelne Mitgliedstaaten sich den sozialen Regelungen per
Opt-out entziehen.
Oberstes Prinzip im Vertrag bleibt der - ich zitiere Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem
Wettbewerb als Grundlage von noch mehr Deregulierung und Privatisierung, Lohn-, Steuer- und Sozialdumping. Unser Grundgesetz verpflichtet aber alle deutschen
Politiker auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit. Das sind drei gleichwertige Pfeiler. Warum lassen Sie zu - ich frage nicht nur die Vertreter meiner früheren Partei, sondern Sie alle, die teilweise auf
das Grundgesetz vereidigt sind -, dass im neuen Vertrag
nur noch von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, aber
nicht mehr von Sozialstaatlichkeit die Rede ist? Wer gegen die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes verstößt, verstößt gegen das Grundgesetz. Das
dürfen Sie nicht, auch wenn Bundestag und Bundesrat
einem Reformvertrag mit einer Mehrheit von zwei Dritteln zustimmen.
Auch wenn wir die Einzigen sind: Wir wollen eine
richtige Verfassung, die auch so heißt, verständlich, sozial und friedlich, damit die Menschen überzeugt Ja sagen zu Europa. Wir, die Linke, werden dabei den Geist
des gesamten Grundgesetzes verteidigen ({5})
mit dem Sozialstaatsgebot -, notfalls auch gegen Sie. Erinnern wir uns: Der gescheiterte Verfassungsvertrag ist
auch von deutscher Seite nicht ratifiziert worden, Kollege Schäfer. Wir im Bundestag können ihn gar nicht ratifizieren, sondern dazu wird die Unterschrift des Bundespräsidenten benötigt. Das Bundesverfassungsgericht
hatte das Verfahren angehalten. Das wird mit Ihrem Änderungsvertrag nicht anders sein. Es wird spannend werden in Deutschland und Europa - ich verspreche Ihnen:
auch durch die Linken.
({6})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Rainder Steenblock das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie mich zunächst einen Satz dazu sagen, wie wir
mit der Einvernehmensregelung umgegangen sind; denn
das Thema ist jetzt schon mehrfach angesprochen worden. Ich würde das nicht zu hoch hängen. Wir haben die
Debatte darüber ja schon geführt. Ich stimme dem Kollegen Stübgen völlig darin zu, dass wir eine unklare Regelung haben. Das hat die Situation im Sommer ja gezeigt,
zu der es sehr viele unterschiedliche Interpretationen
gab. Letztendlich war es der Chef Ihrer Fraktion, der dafür gesorgt hat, dass wir diese Einvernehmensregelung
so, wie wir es uns gewünscht hätten und wie es auch aus
meiner Sicht vernünftig gewesen wäre, nicht realisiert
haben.
Aber wir sind auf dem Weg - so sehe ich das jedenfalls in Bezug auf die Obleute -, zu einer Regelung zu
kommen, die - egal, wie man sie dreht - für alle klar ist;
das ist richtig und gut so. Denn eine Verbindlichkeit, die
für die Bürgerinnen und Bürger, zumindest aber für die
Mitglieder dieses Parlaments transparent sein sollte, ist
wünschenswert.
Lieber Kollege Stübgen und lieber Herr Kollege
Schäfer, das, was Sie heute mit dieser verspäteten Einvernehmenserklärung machen, ist absurd und des Deutschen Bundestages unwürdig.
({0})
Wenn man wenigstens sagen würde, dass wir das heute,
nachdem die Verhandlungen der Fachleute abgeschlossen sind, machen! Aber Sie machen noch nicht einmal
das. Sie stellen Ihr Einvernehmen heute ja nicht zur Abstimmung, sondern verschieben diesen Antrag mit der
Einvernehmensregelung noch in die Ausschüsse, damit
er dann am 11. Oktober zur Abschlusssitzung vorliegt.
Es ist natürlich wirklich absurd, wenn man das Einvernehmen erteilen will, wenn die Regierungskonferenz zu
Ende ist. Das sollten wir als Bundestag nicht machen.
({1})
Das Zweite, was mich doch ein bisschen reizt, ist das,
was der Kollege Dehm gesagt hat. Ich spreche von dem,
lieber Kollege Dehm, was hier an Anti-EU-Propaganda
aufgetischt wird und dann noch mit dem Grundgesetz
garniert ist. Da kann man sich ja nicht immer aussuchen,
wer Verteidiger an seiner Seite ist. Lieber Diether Dehm,
was zur Verfassung und ihrer Bedeutung für die Zukunft
der Länder in der Europäischen Union gesagt wurde, ist
so weit weg von der Wirklichkeit - das mag Sie nicht interessieren - und von den Interessen der Menschen in
Europa,
({2})
dass ich es schlimm finde, dass eine Partei, die das Wort
Linke in ihrem Namen trägt - ich fühle mich auch immer noch als Linker -, mit einer Politik auftritt, die den
Interessen dieser Menschen derart widerspricht.
({3})
Lesen Sie sich einmal den Grundrechtekatalog durch,
den wir mit dieser Verfassung verabschieden werden.
({4})
- Ich weiß ja, dass Sie das nicht lesen wollen, weil Sie
die Wahrheit und die Wirklichkeit fürchten wie der Teufel das Weihwasser.
({5})
Das ist ein Katalog, der zu ungefähr 70 bis 80 Prozent aus
sozialen Grundrechten besteht, die zum Teil über das hinausgehen, was in unserer Verfassung steht. Eine linke
Partei muss es doch zu ihrem Anliegen machen, für diese
sozialen Grundrechte der Menschen in Europa zu kämpfen. Das ist das, worum es uns auch geht. Deshalb ist diese
Grundrechtecharta ein wichtiger Bestandteil. Wir haben
alle dafür gekämpft, dass sie Bestandteil der Verfassung
oder des Reformvertrages bleibt. Wir werden sehr darauf
achten, dass sie ein wesentlicher Bestandteil ist.
Herr Kollege Steenblock, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dehm?
Nein.
({0})
- Diether, wir haben darüber so häufig diskutiert, und
ich möchte jetzt, dass wir diese Debatte würdig beenden.
({1})
Deshalb fordere ich die Bundestagsparteien auf, mit
den Menschen im Lande über diesen Reformvertrag zu
diskutieren. Wir brauchen eine transparente Debatte und
müssen die Menschen mitnehmen. Herr Kollege Dehm,
Sie haben gesagt, dass das Misstrauen in Europa wächst:
Schauen Sie sich aber einmal all die Umfragen an, die
gemacht wurden, nachdem wir dieses Verfassungsprojekt in den Reformvertrag eingebunden haben, nachdem
wir es nach vorne bewegt haben und seitdem EntscheiRainder Steenblock
dungen fallen. Das Vertrauen der Menschen in allen europäischen Ländern ist deutlich gewachsen. Das werden
Sie nicht kaputtmachen können.
Vielen Dank.
({2})
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Dr. Diether
Dehm das Wort.
Wenn Sie meine Zwischenfrage nicht zulassen - das
müssen Sie wissen -, kommt von mir automatisch eine
Kurzintervention. Gewöhnen Sie sich einfach einmal an
den Mechanismus, dann ist es gut.
Sie bauen hier einen Popanz auf und behaupten, die
Grundrechtecharta entspreche unserem Sozialstaatsprinzip im Grundgesetz. Ich muss Sie ja jetzt nichts mehr
fragen, sondern kann in der Kurzintervention Feststellungen treffen; es hat auch einen Vorteil, wenn Sie die
Frage nicht akzeptieren. Ich verweise auf Art. 14 und 15
Grundgesetz. Danach ist der private Gebrauch des Eigentums eng damit verbunden, dass es der Allgemeinheit von Nutzen ist. Zeigen Sie mir bitte den in diesem
Impetus gehaltenen rechtlichen Zusammenhang in der
Grundrechtecharta. Zeigen Sie ihn mir. Sie werden feststellen, dass er nicht da ist.
Es sind - das habe ich auch gesagt - viele unterstützenswerte Teile darin. Deswegen sagen wir, es hätte integraler Bestandteil des Vertrages sein müssen. Das ist ja
das, was ich vorhin gesagt habe. Aber das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes ersetzt diese Charta nun in
keiner Weise. Art. 14 und 15 und vieles andere mehr,
das, worauf die Ewigkeitsklausel des Grundgesetzes uns
alle verpflichtet, sind in der Grundrechtecharta nicht annähernd wiederzufinden. Ich bleibe dabei. Seien Sie
ganz sicher: Viele Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, viele Leute in der sozialen Bewegung wissen,
dass wir es ernst meinen mit diesem Grundgesetz und
dass hier einige, besonders die Partei, die Art. 15 des
Grundgesetzes wieder einmal streichen möchte, nämlich
die FDP, viel weiter vom Grundgesetz weg sind als wir.
Kollege Steenblock, Sie haben die Möglichkeit, zu erwidern.
Herr Kollege Dehm, ich biete Ihnen gerne an, eine eigene Veranstaltung zur Grundrechtecharta und zu den
sozialen Implikationen zu machen. Ich will das nicht näher ausführen, sondern es nur an einem Beispiel deutlich
machen.
Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland in vielen Teilen der Gewerkschaftsbewegung, der Linken eine
Debatte über das Recht auf Arbeit gehabt, zum Beispiel
darüber, ob das ins Grundgesetz soll. Das ist nicht realisiert worden. In der gesellschaftlichen Wertehierarchie
- wofür steht eigentlich eine Gesellschaft, wofür soll sie
sorgen, wie sollen Menschen in einer Gesellschaft zusammen leben? - ist dieses Recht auf Arbeit - egal, wie
wir es materiell diskutieren - ein sehr wichtiger Diskussionspunkt. Jetzt gucken Sie sich einmal an, was im
Grundgesetz dazu steht und was in der Grundrechtecharta dazu steht: In der Grundrechtecharta steht
dazu, im Interesse der Menschen, viel mehr drin als in
unserem Grundgesetz.
Ich nenne nur dieses Beispiel. Ich könnte viele andere
Sachen nennen; aber das ist, glaube ich, zu dieser Zeit
nicht mehr angetan. In diesem Bereich geht die Grundrechtecharta, was die praktischen Rechte der Menschen
angeht, viel weiter als das, worauf Sie sich fokussiert haben. Denken Sie doch vielleicht einmal ein bisschen positiv. Vielleicht gelingt es auch Ihnen, das, was wir mit
diesem Vertrag an Positivem für die Menschen in Europa
erreicht haben, entsprechend zu würdigen. Es geht
voran. Es geht in diesem Bereich wirklich voran. Das ist
kein Instrument, um billigen Populismus und Parteipolitik zu machen. Dazu ist die Zukunft dieses europäischen
Vertrages im Interesse der Menschen in Europa uns allen
viel zu wichtig. Deshalb: kein Populismus an dieser
Stelle!
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/6399 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Personalanpassungsgesetzes
- Drucksache 16/6123 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({0})
Innenausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Wir nehmen auch hier die Beiträge der Kolleginnen
und Kollegen zu Protokoll. Das betrifft den Kollegen
Ernst-Reinhard Beck ({1}) für die Unionsfrak-
tion, den Kollegen Rolf Kramer für die SPD-Fraktion,
die Kollegin Birgit Homburger für die FDP-Fraktion, die
Kollegin Inge Höger aus der Fraktion Die Linke und den
Kollegen Winfried Nachtwei aus der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/6123 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
1) Anlage 10
Vizepräsidentin Petra Pau
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 21. September 2007,
9 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen einen schönen und vielleicht auch
erfolgreichen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.