Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie
herzlich und wünsche Ihnen einen guten Morgen und
gute Beratungen.
Es gibt heute Morgen nicht einmal irgendetwas zu
vermelden, was uns vom unverzüglichen Eintritt in die
Tagesordnung abhalten könnte.
Ich rufe also gleich unseren Tagesordnungspunkt 25
auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
der Rechtsgrundlagen zum Emissionshandel
im Hinblick auf die Zuteilungsperiode 2008
bis 2012
- Drucksache 16/5240 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Rechtsgrundlagen
zum Emissionshandel im Hinblick auf die
Zuteilungsperiode 2008 bis 2012
- Drucksache 16/5617 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
- Drucksache 16/5769 Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung ({1})
Michael Kauch
Dr. Reinhard Loske
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor. Über den Gesetzentwurf der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Frank Schwabe für die SPD-Fraktion.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und
Herren! Wem das bisher nicht klar war, der weiß es jetzt
nach anderthalbjähriger Diskussion über den Emissionshandel in der zweiten Periode: Klimaschutz gibt es nicht
zum Nulltarif.
Durch den Klimaschutz werden unsere Form der Energieerzeugung und unsere Form des Wirtschaftens in
wirklich revolutionärer Weise geändert. Das bringt unter
dem Strich volkswirtschaftliche Vorteile und damit Vorteile für alle, und das hilft vor allem denjenigen - auch
betriebswirtschaftlich -, die die Zeichen der Zeit frühzeitig erkennen.
Immer wenn es konkret wird, gibt es aber massive
Widerstände aus nachvollziehbaren, sehr individuellen
- man könnte auch sagen: egoistischen; was ich gar
nicht abwertend meine - Gründen. Zum Teil sind es gute
Argumente, zum Teil ist es aber auch hanebüchener Unsinn. Es hilft aber nichts: Die Bedingungen sind gesetzt.
Wer im Rahmen internationaler Konferenzen und in Abkommen A sagt, der muss national auch B sagen wollen.
({0})
Mit dem vorliegenden Zuteilungsgesetz tun wir nichts
anderes, als unsere internationalen und insbesondere europäischen Verpflichtungen umzusetzen. Die Vorgabe
aus Europa lautete 453 Millionen Tonnen pro Jahr nicht mehr. Wir erreichen diese Reduktion auf 453 Millionen Tonnen. Mit diesem sehr ambitionierten Cap bzw.
- auf Deutsch - dieser Obergrenze stellen wir sicher,
dass das im Kiotoprotokoll verankerte Ziel der ReduzieRedetext
rung um 21 Prozent von 1990 bis 2012 erreichbar ist und
möglicherweise sogar übererfüllt wird.
Während der langen Diskussionszeit entstand hinsichtlich dieses Gesetzes eine Lernkurve - Bundesminister Gabriel hat das immer wieder deutlich gemacht -:
Dass während dieser Zeit das Thema Klimaschutz in der
Bedeutung für die Menschen in unserem Land von Platz
zehn auf Platz eins geschnellt ist, hat natürlich auch geholfen, den Emissionshandel besser zu machen.
Am Ende liegt uns jetzt ein Gesetz vor, mit dem im
Gegensatz zur ersten Periode eine CO2-Senkung von
rund 57 Millionen Tonnen vorgesehen ist. Uns liegt ein
Gesetz vor, das aufgrund der Abschmelzung von 58 Regelkombinationen und der Einführung von Benchmarks
deutlich transparenter und einfacher ist. Uns liegt ein
Gesetz vor, durch das mit den Industrieunternehmen diejenigen kaum belastet werden, die im harten internationalen Wettbewerb stehen, und durch das mit den Unternehmen der Energiewirtschaft diejenigen sehr wohl
belastet werden, die hohe Einsparpotenziale haben und
einem Wettbewerb kaum ausgesetzt sind.
Mit dem Emissionshandel in der zweiten Periode
wird genau das getan, was getan werden muss. Manche
wundern sich vielleicht darüber. Es werden Anreize zur
Reduzierung von CO2-Emissionen gesetzt. Je weniger
CO2-Ausstoß, desto besser. Vor allem wird der Anreiz
gesetzt, neue und effizientere Kraftwerke zu bauen.
Richtig ist, dass wir massiv in Energieeffizienz und
erneuerbare Energien investieren müssen mit dem Ziel
des vollständigen Ersatzes fossiler Energieträger in Zukunft. Dieses Ziel wird allerdings weder heute noch
morgen erreicht. Wir müssen aber eine Antwort auf die
Frage geben, wo wir morgen die Energie herbekommen
werden. Deshalb werden für eine Übergangszeit auch
fossile Energieträger genutzt werden müssen. Das gilt
ausdrücklich auch für die Braunkohle. Auch wenn es
keinen gesonderten Benchmark gibt, kenne ich keine seriöse Untersuchung, die die Wettbewerbsfähigkeit der
heimischen Braunkohle in der Emissionshandelsperiode
2008 bis 2012 infrage stellt.
Die Gewinnmargen - sie waren in den letzten Jahren
exorbitant hoch - der Unternehmen, die den klimaschädlichsten Energieträger verstromen, werden sicherlich
kleiner werden. Dieses Preissignal liegt aber durchaus in
der Logik des Emissionshandels, der im Kern ein Klimaschutzinstrument ist.
Strukturbrüche sowohl in den Braunkohleregionen als
auch im Bereich der Energiesicherheit wollen wir aber
vermeiden. Das gelingt mit dem Gesetzentwurf. Für die
Zukunft nach 2012 bedeutet das aber, dass die Technik der
Abscheidung und Lagerung von CO2 - CCS genannt sehr schnell erfolgreich sein muss. Andernfalls würde die
Braunkohle bei einem notwendigerweise weiter ansteigenden CO2-Preis zwangsläufig in eine schwierige Situation geraten. Das geschieht aber in der Emissionshandelsperiode 2008 bis 2012 ausdrücklich nicht.
Ich will das nicht zu sehr zuspitzen, damit noch Spielräume bleiben. Aber diejenigen in den Ländern, die sich
mit dem Emissionshandel anscheinend nur sehr bedingt
auskennen - mein Heimatland NRW macht sich dabei
leider besonders bemerkbar -, sollten das Zündeln lassen. Das Lobbying mancher Landesregierung für zwei
nicht gerade vor der Pleite stehende Unternehmen in
Deutschland droht dann, wenn der Zeitplan für den
Emissionshandel in Verzug gerät, zu einem Hindernis
für andere viele Hundert Unternehmen zu werden.
Ich kann nur dringend zur Besinnung und sofortigen
Einkehr raten. Der Gesetzentwurf steht. Weitere Verzögerungen auf Länderseite werden nichts ändern; sie werden nur Unsicherheiten für die Unternehmen mit sich
bringen, die ab 1. Januar des kommenden Jahres Klarheit darüber erwarten dürfen, wie viele Zertifikate ihnen
zur Verfügung stehen.
({1})
Ein Highlight des Emissionshandels ist die Veräußerung von fast 10 Prozent der Zertifikate, zunächst im
Wege des Verkaufs, dann im Wege der Versteigerung.
Mit dieser Maßnahme, die in langen und umfänglichen
Diskussionen letztlich durch die Arbeit im Parlament zustande gekommen ist, setzen wir uns an die europäische
Spitze. Damit überrunden wir Großbritannien, wo
7 Prozent der Emissionsrechte öffentlich versteigert werden, und geben ein starkes Signal für eine umfassende
europäische Versteigerung nach 2012.
Es ist richtig, dass die Einnahmen im Hause des Bundesumweltministers veranschlagt und für Klimaschutzmaßnahmen vorgesehen werden. Die Reaktionen der
Energiewirtschaft dazu sind unterirdisch. Wer jetzt einen
höheren Strompreis ankündigt, der versucht, die Menschen zu „vereimern“, wie wir im Ruhrgebiet sagen würden.
Tatsache ist, dass aufgrund der Situation mangelnden
Wettbewerbs die Kundinnen und Kunden schon jetzt die
Zeche für die den Stromkonzernen kostenlos zugeteilten
Zertifikate gezahlt haben. Falls die Preise trotzdem erhöht werden, kann man in einem solchen Fall von Volksverdummung - das lässt sich nicht anders bezeichnen nur auffordern, den Stromversorger zu wechseln, und
zwar am besten zu einem Ökostromanbieter.
({2})
Abschließend habe ich noch eine Bitte an den Koalitionspartner. Das kann ich Ihnen leider nicht ersparen.
Klären Sie mit Ihrer Bundeskanzlerin
({3})
- sie ist gerade auf Reisen - Ihre gemeinsame Haltung
zum Klimaschutz. Ich will nicht verhehlen, dass wir in
der SPD-Fraktion um den richtigen Weg zu einer ausgewogenen Haltung gegenüber Klimaschutz und Wettbewerbsfähigkeit ringen. Was Sie angeht, habe ich allerdings den Eindruck, dass das nicht geklärt ist und dass
Sie es auch nicht klären wollen. Es gibt nämlich einen
eklatanten Widerspruch zwischen den großen Worten
der Bundeskanzlerin und der Glos’schen Union, die bei
jeder Art von Klimaschutz auf der Bremse steht und jedem Lobbyinteresse nachgeben will.
Ich will uns die Einzelheiten aus unseren Gesprächen
ersparen - das gehört auch nicht hierher - und nur noch
einen Punkt ansprechen: Der Gesetzentwurf trägt vor allem die Handschrift der SPD, und das ist auch gut so.
({4})
Bitte klären Sie das, weil es in den nächsten Monaten
weitere wichtige Gesetzentwürfe zum Klimaschutz geben wird.
Die Opposition fordere ich auf: Üben Sie Kritik, aber
tun Sie das bitte differenziert, wie es dem Gesetzentwurf
gerecht wird! In den wesentlichen Punkten wie dem
Cap, der Versteigerung
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
- ja - und der Ablehnung eines eigenen Braunkohlebenchmarks gibt es eine große Übereinstimmung. Es
wäre schön, wenn Sie das neben Ihrer Kritik entsprechend würdigen würden.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und dafür,
dass der Gesetzentwurf durch die namentliche Abstimmung die ihm gebührende Aufmerksamkeit bekommen
wird.
Vielen Dank.
({0})
Herr Kollege, der Hinweis auf die namentliche Abstimmung ist technisch zutreffend. Wir sollten aber den
Eindruck vermeiden, dass sich die Relevanz eines Gesetzes ernsthaft nur daran testen ließe, ob es den krönenden
Abschluss einer namentlichen Abstimmung erfährt.
({0})
Das Wort erhält nun der Kollegen Michael Kauch für
die FDP-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir Liberale sind der Überzeugung, dass der Emissionshandel
das kostengünstigste Klimaschutzinstrument ist, und
zwar dann, wenn wir die Rahmenbedingungen richtig
setzen.
({0})
Was die Emissionsbegrenzung angeht - da hat der
Kollege Schwabe recht -, ist ein Fortschritt gegenüber
der letzten Handelsperiode festzustellen. Dieser Fortschritt ist aber kein Resultat der Politik des Umweltministers; das hat einzig und allein die Europäische
Kommission gegen die Bundesregierung durchgesetzt.
({1})
Außerdem gibt es einen schweren Fehler im Detail.
Die Experten in der Ausschussanhörung waren sehr einhellig der Meinung, dass die Reserve für Neuanlagen
viel zu niedrig ist. Sie reicht nämlich gerade einmal für
die zusätzlichen Kohle- und Gaskraftwerke, die Ihr
Atomausstieg erforderlich macht. Wirtschaftswachstum
ist schlichtweg nicht vorgesehen. Wenn Sie verantwortliche Politik machen wollen, dann müssen Sie entweder
die Reserve erhöhen oder - besser noch - die Laufzeiten
der Kernkraftwerke verlängern. Dann haben Sie mehr
Spielraum für Emissionsminderungen.
({2})
Kommen wir zum Streit um die Kohle. Da sage ich
zunächst ganz klar: Wenn man, wie die Grünen bzw. wie
Frau Künast es letztens gefordert hat, parallel zum
Atomausstieg auch noch aus der Kohle aussteigen
würde, hätte das die Konsequenz, dass wir noch abhängiger vom russischen Erdgas würden. Das können Sie
wollen - wir wollen das nicht.
({3})
Wir meinen, wir brauchen auf mittlere Sicht auch noch
Kohlekraftwerke in Deutschland.
Eines ist auch klar: Die Kohle wird nur dann eine Zukunft in Deutschland haben, wenn wir auf Kohlekraftwerke umsteigen, die CO2 abscheiden und einlagern,
statt es in die Luft abzugeben. Diese Kraftwerke werden
niemals eine Chance haben, wenn wir die Kohlekraftwerke mit alter Technologie auch nach 2012 weiter mit
Emissionsrechten nach Bedarf ausstatten. Das muss sich
in der nächsten Handelsperiode ändern.
Wir dürfen den fossilen Kraftwerkspark nicht auf
Dauer festschreiben. Wir dürfen aber auch keine kurzfristigen Verwerfungen verursachen. Deshalb wäre ein
einheitlicher Benchmark für Gas- und Kohlekraftwerke
zum jetzigen Zeitpunkt das falsche Signal, weil es die
Versorgungssicherheit riskieren würde.
Die Versorgungssicherheit ist aber kein Argument dafür, die Braunkohle dauerhaft gegenüber der Steinkohle
zu bevorzugen. Das kann man mit der Versorgungssicherheit nicht begründen.
({4})
Die Kohle bekommt schon doppelt so viele Zertifikate
wie Gaskraftwerke, und die Braunkohle durch die Hintertür noch einen Zuschlag. Das ist schon zu viel, nicht
zu wenig; denn je mehr Emissionsrechte wir den Braunkohlekraftwerken schenken, desto mehr müssen wir bei
anderen Anlagen einsparen, weil sich das Volumen nicht
erhöht. Da muss ich ganz klar sagen: Wir können nicht
die Energieversorger, die mit dem Emissionshandel der
letzten Periode Milliardengewinne erzielt haben, besserstellen zulasten von Industrieunternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen.
({5})
Als jemand, der aus Nordrhein-Westfalen kommt,
sage ich: Auch regionalpolitisch dürfen wir nicht blauäugig sein. Was ich dem Braunkohlekraftwerk der RWE im
Rheinland zusätzlich schenke, muss ich dem Steinkohlekraftwerk der Eon in Gelsenkirchen oder dem Chemiepark in Marl wegnehmen. Ich würde mir wünschen, dass
auch das in der Diskussion eine Rolle spielt.
({6})
Auch sonst sollten wir den Stromkonzernen nicht auf
den Leim gehen. Eine Zuteilung von 10 Prozent unter
Bedarf wird nicht dazu führen, dass man die Investitionen, die man in den Braunkohleregionen getätigt hat,
jetzt einfach in die Tonne kloppt. Da wird natürlich weiter produziert.
({7})
Deshalb ist nicht Angst, sondern Innovation das Gebot
der Stunde.
Der Emissionshandel braucht mehr Markt. Er braucht
- das habe ich gerade in den letzten Tagen erfahren - weniger Lobbyismus. Es gibt einen Kampf der Lobbyisten
um die Emissionsrechte; jedes Unternehmen, jede Branche zerrt an der Politik, um möglichst viel vom Kuchen
geschenkt zu bekommen.
({8})
Dann geschieht nur eines: Die vier Stromkonzerne machen sich zulasten der Verbraucher die Taschen voll.
Deshalb müssen wir zu einer Versteigerung der Emissionsrechte kommen.
({9})
Wir begrüßen, dass die Bundesregierung nach monatelangem Widerstand hier endlich der Forderung der
FDP gefolgt ist. Was wir aber gar nicht begrüßen, ist die
Verwendung der Versteigerungserlöse. Der Bundesumweltminister, der monatelang im Plenum das Blaue vom
Himmel versprochen und uns erzählt hat, was alles
Schlimmes passiere, wenn die Versteigerung komme,
sackt nun die Versteigerungserlöse ein. Klar ist nur, dass
er sie bekommt. Aber was damit gemacht wird, hat die
Koalition nicht entschieden. Der Verteilungskampf beginnt bei den Haushaltsberatungen erneut.
({10})
Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass wir heute Mittag auf Initiative der Entwicklungspolitiker eine Debatte
über den Klimaschutz in den Entwicklungsländern führen. Sie haben festgelegt, dass der Bundesumweltminister das Geld bekommt. Aber der Antrag der Koalition
zum Klimaschutz in den Entwicklungsländern enthält
die Forderung, dass die Mittel aus dem Versteigerungserlös auch in den Entwicklungsländern investiert werden
sollen. Was denn nun? Wer soll das Geld erhalten: der
Umweltminister oder Frau Wieczorek-Zeul? Sie wissen
nicht, was Sie wollen. Die rechte Hand weiß nicht, was
die linke Hand tut. Das ist typisch für die Koalition in
diesen Tagen.
({11})
Die FDP setzt dieser Basarpolitik eine klare Forderung entgegen. Geben Sie das Geld aus dem Versteigerungserlös denjenigen zurück, denen es gehört: den Verbraucherinnen und Verbrauchern in diesem Lande, die
den Emissionshandel mit der Einpreisung der verschenkten Zertifikate in der Vergangenheit bereits bezahlt haben! Denn mit dem Erlös könnte die Stromsteuer gesenkt werden, und damit könnten auch die Strompreise
sinken, nicht steigen. Das Geld gehört nicht dem Finanzminister und erst recht nicht dem Umweltminister, sondern den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort erhält nun die Kollegin Katherina Reiche,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
beraten heute mit dem Entwurf eines Zuteilungsgesetzes
das zentrale klimapolitische Vorhaben der Bundesregierung. Schauen wir einmal zurück, was wir vorgefunden
haben. Was hat Rot-Grün damals beschlossen? Es wurden - dafür ist Herr Trittin verantwortlich - zu viele
Emissionszertifikate ausgegeben. Das heißt, die Unternehmen haben in der ersten Handelsperiode sehr viel
mehr Zertifikate erhalten, als sie benötigen. Die Konsequenzen sind heute an der Börse sichtbar: Emissionszertifikate haben derzeit einen Wert von rund 10 Cent. Der
Handel ist faktisch tot.
Sie haben die Zuteilungsregeln bürokratisch, kompliziert und unübersichtlich gestaltet. Sie haben 58 verschiedene Regelkombinationen geschaffen. Eine Vielzahl von
Ausnahmeregelungen verhinderte Modernisierungsanreize. Die Regelung, wonach schon damals 5 Prozent der
Zertifikate hätten versteigert werden können, ließen Sie
ungenutzt. Nun wollen Sie es besser wissen. Das halte ich
für scheinheilig. Ich glaube, dass Sie dieser Regierung
und der Bundeskanzlerin den Erfolg beim Klimaschutz
nicht gönnen. In zwei Jahren dieser Koalition ist beim
Klimaschutz mehr passiert als in sieben Jahren Rot-Grün.
({0})
Als Fazit kann man festhalten, dass der grüne Emissionshandel nicht funktioniert hat. Stattdessen hat er
dazu geführt, dass die Stromversorger die Strompreise
durch die Einpreisung der kostenlos zugeteilten Emissionszertifikate in die Höhe getrieben haben und sogenannte Windfall-Profits erzielt wurden. Die Stromverbraucher wurden in Milliardenhöhe zur Kasse gebeten.
Wir haben uns vorgenommen, hier Änderungen vorzunehmen. Deshalb haben wir das System vereinfacht. Wir
haben Ausnahmeregelungen gestrichen und die Transparenz des Systems erhöht. Wir haben zudem die GesamtKatherina Reiche ({1})
menge, die zur Verfügung steht, um 57 Millionen Tonnen pro Jahr deutlich reduziert und kommen damit dem
Kiotoziel ein ganzes Stück näher. Außerdem sorgt
Michael Glos mit der GWB-Novelle für mehr Wettbewerb auf dem Strommarkt. Auch das ist ein Fortschritt
für unser Land.
Darüber hinaus haben wir Wort gehalten, indem wir
der im Koalitionsvertrag enthaltenen Verpflichtung
nachgekommen sind, Windfall-Profits bei den Stromerzeugern zumindest teilweise zu verhindern.
Deshalb haben wir in den Verhandlungen festgelegt,
dass ab 2008 pro Jahr 40 Millionen Tonnen des Emissionsbudgets zunächst zum Marktwert an der Börse verkauft und dass spätestens ab 2010 die Zertifikate versteigert werden. Auch das ist ein wichtiger Schritt, um die
Effizienz des Systems zu verbessern.
Die Emissionszertifikate für die Veräußerung werden
ausschließlich von den Stromerzeugern erbracht. Die
Industrie ist hiervon ausgenommen. Auch das hat einen
Grund: Die Stromerzeuger können den Wert der Zertifikate recht einfach abwälzen. Aber eine Glasfabrik für
Spezialglas kann nicht einfach die Preise für ihre Produkte erhöhen. Diesem Umstand haben wir Rechnung
getragen. Einige Stromversorger haben bereits angekündigt, als Folge der Veräußerung die Strompreise zu erhöhen. Ich halte das für eine etwas unglückliche Politik.
({2})
Ich möchte festhalten, dass der überwiegende Teil der
Zertifikate nach wie vor kostenlos zugeteilt wird. Nur
der geringere Teil muss ersteigert werden. Ich glaube,
dass das eine richtige Entscheidung war.
Inzwischen überschlagen sich die Vorschläge, wie
diese Mittel verwendet werden sollen. Herr Bundesminister, Sie haben vorgeschlagen, diese Mittel für Klimaschutzmaßnahmen zu verwenden. Ich persönlich habe
durchaus Sympathie für diesen Vorschlag. Allerdings
hätte ich mir schon gewünscht, dass Sie deutlich gemacht hätten, dass es die Parlamentarier der Koalitionsfraktionen waren, die diese Entscheidung zur Veräußerung getroffen haben. Es ist noch gar nicht so lange her
- ich kann mich gut daran erinnern -, dass Sie Ihre Sympathie für den jetzt gefundenen Kompromiss zumindest
nicht besonders deutlich haben erkennen lassen. Ich
freue mich, dass Sie Ihre Meinung geändert haben. Allerdings hätte ich es als fair empfunden, wenn Sie erwähnt hätten, wer Sie dazu gebracht hat.
Herr Kauch, im Gesetz ist nicht festgeschrieben, dass
der Bundesumweltminister das Geld erhält und darüber
verfügen kann. Im Gesetz steht ganz klar, dass während
der Haushaltsverhandlungen über die Verteilung des
Geldes gesprochen wird. Wir haben uns eindeutig gegen
Vorfestlegungen ausgesprochen, und wir werden an der
Verordnung mitwirken, in der festgelegt wird, wie der
Emissionshandel im Detail gestaltet wird. Dieses wichtige Recht des Parlamentes haben wir hier gewahrt.
({3})
Uns ist es gelungen, ein Mittelstandspaket zu verabschieden, von dem ich nur einige Punkte nennen möchte.
Wir haben die spezifische Härtefallregelung für mittelständische Unternehmen verbessert. Die Schwelle ist
von 5 Millionen auf 8 Millionen Tonnen angehoben
worden. Dies hilft insbesondere der Zement-, Kalk- und
Glasindustrie. Die unterstellten Betriebsstunden bei der
Glasindustrie sind erhöht worden, ebenso die für Anlagen zur Herstellung von Propylen und Ethylen. Auch bei
Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen zur Herstellung von
Bioethanol werden die Betriebsstunden erhöht. Die Unternehmen erhalten somit mehr Zertifikate. Durch diese
Maßnahmen haben wir den Mittelstand bessergestellt.
Ich finde, das ist ein Erfolg.
Darüber hinaus haben wir die Anrechenbarkeit von
Emissionsminderungen im Ausland im Rahmen von
CDM und JI von 20 auf 22 Prozent erhöht. Was heißt das
ganz konkret? Baut beispielsweise ein Unternehmen einen Windpark in Brasilien, kann es sich die erzielten
Emissionsminderungen hier anrechnen lassen. Das ist
eine klassische Win-win-Situation: für das Unternehmen
und auch für die Entwicklungs- und Schwellenländer.
Ich möchte zum Abschluss noch ein paar Worte zum
Thema Braunkohle verlieren. Herr Schwabe, es wäre
fair gewesen, wenn Sie gesagt hätten, dass es auch in Ihrer Fraktion unterschiedliche Auffassungen zu diesem
Thema gibt. Wir von der Unionsfraktion sind der Meinung, dass die Braunkohle als heimischer und unsubventionierter Energieträger einen ganz wichtigen Beitrag zur
Versorgungssicherheit in unserem Land leistet. Wir meinen, dass Versorgungssicherheit und Klimaschutz zusammengehören und nicht getrennt voneinander betrachtet werden können.
({4})
Nun ist es so, dass sich unsere Auffassung im Gesetz
nicht wiederfindet. Deshalb haben einige Abgeordnete
aus Nordrhein-Westfalen und auch aus den neuen Ländern ihre Bedenken hinsichtlich dieses Kompromisses
angemeldet. Ich finde das in Ordnung.
Peinlich finde ich allerdings, was die Grünen jetzt abziehen. Denn sie haben in der ersten Handelsperiode mit
der Übertragungsregel von 14 plus vier Jahren eine Regelung geschaffen, die die Neuinvestitionen in Braunkohlekraftwerke massiv bevorzugt hat. Den Kollegen
aus den Braunkohleländern geht es jetzt nicht um eine
Bevorzugung, sondern um die Gleichbehandlung der
Braunkohle und um faire Wettbewerbsbedingungen. Das
zu erwähnen, gehört auch zur Ehrlichkeit in der Diskussion.
Auch die FDP-Bundestagsfraktion verhält sich an der
Stelle nicht besser, Herr Kauch. Denn während sich die
CDU/FDP-Regierung in Nordrhein-Westfalen ganz klar
für Verbesserungen bei der Braunkohle einsetzt, haben
Sie in einer dpa-Meldung erklärt, dass Braunkohlekraftwerke bevorteilt seien. Ich bin gespannt, wie Sie das Ihren nordrhein-westfälischen Kollegen erklären wollen.
Es ist uns gelungen, beim Zuteilungsgesetz viele Verbesserungen zu erreichen und einen tragbaren Kompromiss zu finden. In der nächsten Handelsperiode wird im
Katherina Reiche ({5})
Vergleich zur ersten der Emissionshandel einfacher, unbürokratischer, transparenter und effizienter werden. Wir
werden deshalb dem Gesetzentwurf zustimmen.
({6})
Die Kollegin Eva Bulling-Schröter ist die nächste
Rednerin für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Minister! Heute stimmen wir über
das zentrale Klimaschutzinstrument Deutschlands ab.
Wir entscheiden, wie der Emissionshandel bis zum
Jahr 2012 ausgestaltet werden soll. Nun meinen viele,
nach der Intervention der EU-Kommission habe sich das
Zuteilungsgesetz entscheidend verbessert. Nach der völlig verbockten ersten Handelsperiode werde das Handelssystem nun endlich den Klimaschutz vorantreiben,
weil die Menge an Emissionsrechten deutlich abgesenkt
wird. Andere wiederum sind der Auffassung, der Emissionshandel stecke nach wie vor in einer Sackgasse. Die
gewünschten Lenkungswirkungen seien Illusion.
Vielleicht sollten wir uns hier die Frage vorlegen, was
ein solches Handelssystem eigentlich leisten kann. In
der Idealwelt soll das System zweierlei garantieren, zum
einen die Einhaltung eines festgesetzten Klimaziels, weil
es feste Emissionsobergrenzen hat, zum anderen effizienten Klimaschutz, weil über den Markt preiswerte
Möglichkeiten zur CO2-Einsparung gesucht werden.
Schöne heile Welt. Doch die Weisheiten der Volkswirte
haben Tücken. Zunächst einmal hat der Emissionshandel
kurzfristige und langfristige Wirkungen; kurzfristig, weil
das vorliegende Gesetz den CO2-Ausstoß tatsächlich innerhalb der nächsten Handelsperiode mindern könnte.
Die Reduktion um 453 Millionen Tonnen liegt auf dem
Pfad des deutschen Kiotoziels. Natürlich gibt es auch
Schlupflöcher. Dazu komme ich später.
Prinzipiell kann die abgesenkte Obergrenze dazu
beitragen, Einspar- und Modernisierungspotenziale im
Kraftwerksbestand zu heben. Zum Beispiel könnten die
Versorger ihre Gaskraftwerke zulasten der Kohlekraftwerke öfter hochfahren als bislang. Aber werden sie deshalb auch beim Ersatz von Kraftwerken, also beim Bau
von neuen Anlagen, auf Gasturbinen oder anderes setzen
oder doch eher auf CO2-Schleudern, also auf neue Kohlemeiler? Wir denken - das ist der eigentliche Skandal -,
beim Kraftwerksneubau sind alle Weichen in Richtung
klimaschädlicher Kohle gestellt. In Bayern investieren
sogar Stadtwerke in Kohlekraftwerke. Ich würde mir etwas anderes wünschen. Man sieht, dass hier Profite zu
machen sind.
Vielleicht haben noch nicht alle, die das Zuteilungsgesetz heute feiern, begriffen: Bei langfristigen Investitionsberechnungen spielt es für die Entscheidung,
welches Kraftwerk gebaut wird, eine zentrale Rolle, ob
ich als Investor die Zertifikate künftig geschenkt bekomme oder ob ich sie ersteigern muss. Genau hier hat
die Bundesregierung falsche Zeichen gesetzt. Sie hat erneut das CO2-Preissignal ausgeschaltet, indem 91 Prozent der wertvollen Zertifikate umsonst vergeben werden.
({0})
Zwar ist die weitgehend kostenlose Vergabe durch die
Emissionshandelsrichtlinie von der EU vorgeschrieben
- das gestehe ich Ihnen doch zu -, aber was haben Sie
denn im Vorfeld in der EU gemacht? Sie haben doch mit
dafür gesorgt, dass sie nicht versteigert werden.
({1})
Dass die wertvollen Emissionsrechte verschenkt werden, wirkt doppelt verheerend. Weil die Versorger den
Marktpreis der Zertifikate auf den Strompreis umschlagen - das haben bis jetzt alle Parteien bestätigt -, realisieren sie diese Sonderprofite. Im Tagesgeschäft werden
so insbesondere die Kriegskassen der großen Stromkonzerne zulasten des Bundeshaushalts und der Verbraucherinnen und Verbraucher gefüllt. Im Rahmen von Neuinvestitionen sorgen diese Subventionen dafür, dass die
Lenkungswirkung des Emissionshandels weitgehend
verpufft, wenn es darum geht, zu entscheiden, ob emissionsarme Gas- oder CO2-intensive Kohlekraftwerke gebaut werden. So ist es.
Es ist etwas bizarr: Die EU-Kommission hat dafür gesorgt, dass der deutsche Zuteilungsplan deutlich verbessert wurde, etwa durch ein deutlich niedrigeres Cap und
durch das Verbot, neue Kraftwerke 14 Jahre lang von allen Minderungspflichten zu befreien. Gleichzeitig vollzieht die europäische Politik mit der vorgeschriebenen
kostenlosen Vergabe von Zertifikaten beim Emissionshandel aber exakt das Gegenteil von dem, was sie angeblich bezwecken will. Statt einen Umbau des Kraftwerksparks zu befördern, der auf emissionsärmere Brennstoffe
setzt, werden bestehende Strukturen zementiert und sogar
für die Zukunft festgeschrieben. Statt die Macht der großen Energieversorger zurückzudrängen, werden Lobbyinteressen bedient und die Bürgerinnen und Bürger abgezockt.
({2})
Jetzt kommt die differenzierte Kritik, die Sie sich von
mir gewünscht haben, zum Thema Windfall-Profits. Ich
erwarte von der Koalition, dass sie hier endlich etwas
tut. Ich werde es Ihnen in dieser Legislaturperiode noch
öfter sagen: Wir wollen die Profits abschöpfen. Wir
brauchen dieses Geld für den Haushalt; das wissen Sie.
Wir können uns dann darüber streiten, wohin es fließen
soll; das ist eine schöne Diskussion. Aber das Geld muss
endlich abgeschöpft werden.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben dem zentralen Problem der kostenlosen Zuteilung gibt es noch viele
Einzelregelungen, die gegen den Klimaschutz wirken:
Erstens. Der Gesetzentwurf garantiert Neuanlagen
weiterhin nahezu eine Vollausstattung mit Zertifikaten.
Zweitens. Unterschiedliche Zuteilungsmaßstäbe für
Kohle und Gas anstelle eines einheitlichen Standards
machen den Brennstoffwechsel unattraktiv.
Drittens. Das Sahnehäubchen für die Braunkohle
durch die zugrunde gelegten längeren Betriebszeiten
schützt ausgerechnet den klimaschädlichsten Brennstoff.
Viertens ist schließlich die Neuanlagenreserve nur
halb so hoch, wie sie sein müsste. Deutschland wird gezwungen sein, schon jetzt auf zukünftige Emissionsrechte zurückzugreifen. Das berührt das Thema Generationengerechtigkeit. Auch das müssen wir in diesem
Zusammenhang diskutieren.
Insgesamt bewirkt die Bundesregierung mit diesen
Regelungen zum Emissionshandel nicht mehr, als wenn
es überhaupt keinen Emissionshandel gäbe. Das war
auch Tenor der Anhörung im Umweltausschuss; bitte erinnern Sie sich noch einmal. Nun werden Sie vielleicht
einwenden, es gebe ja noch die feste Obergrenze von
453 Millionen Tonnen. Etwaige Fehler im System würden durch diesen Deckel aufgefangen. Das Cap zwinge
die Firmen letztlich zur CO2-Einsparung; das sei das
Elegante am Emissionshandel. Dazu kann ich nur sagen:
Schön wär’s. Der Deckel hat nämlich ein Ventil bzw. ein
Loch so groß wie ein Scheunentor. Die Hintertür nennt
sich „flexible Mechanismen“.
Nunmehr 22 Prozent der Zuteilungsmenge - das
wurde schon gelobt - sollen in Deutschland über die Instrumente CDM oder JI, also über preiswerte Klimaschutzinvestitionen im Ausland abgerechnet werden
können. 22 Prozent entsprechen 90 Millionen Tonnen.
Während der Handelsperiode kann also ein ganzes Jahresbudget an Emissionsrechten von außen kommen. Das
entspricht ungefähr dem Dreifachen der eigentlichen
Einsparverpflichtung. Die Unternehmen können in
Deutschland also ihren Ausstoß an Treibhausgasen sogar
deutlich ausweiten, wenn sie dafür Emissionsgutschriften aus Projekten im Süden beibringen. Das alles wäre
zumindest aus Sicht des Klimaschutzes dann kein Problem, wenn alle CDM-Projekte in Asien und Südamerika tatsächlich zu weiterem Klimaschutz gegenüber
dem Status quo beitragen würden. Aber dem ist offensichtlich nicht so, wie Studien beweisen: Untersuchungen des bedeutenden und renommierten CDM-Gutachters Michaelowa besagen, dass bei jedem zweiten bei der
UN registrierten CDM-Projekt in Indien nicht nachgewiesen werden kann, dass Treibhausgase zusätzlich reduziert werden.
Auch in China gibt es Unregelmäßigkeiten, insbesondere in Form von manipulierten CDM-Bilanzen bei
Wasserkraftwerken.
Michaelowa ist einer der härtesten Verteidiger dieser
projektbezogenen Mechanismen. Er ist kein Linker, sondern ein Marktwirtschaftler aus Fleisch und Blut, Herr
Schwabe. Er ist zugleich einer der intelligentesten Befürworter. Deshalb schaut er so genau hin und nicht weg.
Kommen nämlich solche CDM-Zertifikate nach Europa,
wird die ökologische Integration des gesamten Emissionshandelssystems untergraben. Die Konsequenz wäre
das Ende dieses Instruments. Das wollen Sie doch alle
nicht; schließlich sind Sie sehr für dieses Instrument.
Deutschland erhöht nun also den Nachfragedruck auf
Zertifikate aus CDM-Projekten enorm. Man muss kein
Prophet oder keine Prophetin sein, um zu erahnen, dass
der Missbrauch des CDMs dadurch noch zunehmen
wird. Unter dem Strich werden dann global mehr Klimagase ausgestoßen; das wollen wir nicht.
Der Kohlenstoffhandel in allen seinen Facetten ist
höchst kompliziert; er ist ein kaum zu überblickender
Moloch. Analysiert man ihn sorgfältig und Schritt für
Schritt, kommt eine Menge Unfassbares zutage. In seiner gegenwärtigen Ausgestaltung läuft er dem Klimaschutz genauso wie der Gerechtigkeit zuwider. Vielleicht
wäre er reformierbar. Dafür müsste man aber die Zertifikate zu 100 Prozent versteigern, Windfall-Profits besteuern,
Frau Kollegin!
- ich komme gleich zum Ende
Nein, sofort!
- die Einnahmen des Staates aus dem Emissionshandel für die soziale Abfederung der Energiewende verwenden sowie die Anrechnung von CDM-Gutschriften
deutlich beschränken. Dazu haben wir einen entsprechenden Entschließungsantrag eingebracht.
Im Übrigen werden wir den Gesetzentwurf ablehnen.
Danke.
({0})
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Reinhard
Loske, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
könnte sein, dass das heute meine letzte Rede als Abgeordneter im Deutschen Bundestag ist. Ich möchte meine
Rede, was Ton und Inhalt angeht, deshalb aufteilen: In
der ersten Hälfte meiner Redezeit möchte ich eine Oppositionsrede halten und in der zweiten Hälfte möchte ich
den Blick in die Vergangenheit richten.
Zunächst aber drei Vorbemerkungen:
Erstens. Mir ist Folgendes aufgefallen: Wenn hier ein
Sozialdemokrat redet, klatscht kein Christdemokrat bzw.
Christsozialer. Wenn hier ein Christdemokrat oder
Christsozialer redet, klatscht kein Sozialdemokrat.
({0})
Der Grad der Zerrüttung in Ihrer Koalition ist wirklich
phänomenal. Das merkt man auch bei der Beratung dieses Gesetzes.
({1})
Zweitens. Geschätzter Herr Kollege Schwabe, Sie haben gesagt, die Opposition dürfe kritisieren - danke
schön! -, aber sie müsse differenziert kritisieren. Gleichzeitig haben Sie darauf hingewiesen, dies sei ein im Wesentlichen sozialdemokratisches Gesetz. Bevor ich differenzierte Kritik übe, möchte ich darauf hinweisen, dass
man daran, wie freundlich Sie mit der Kohle umspringen, in der Tat merkt, dass dies ein sozialdemokratisches
Gesetz ist.
({2})
Drittens. Frau Kollegin Reiche, ich bin seit 1998 Abgeordneter des Bundestages. Ich weiß noch, wie Ihre
Truppen seinerzeit bei den Beratungen zum Emissionshandel, zur Ökosteuer, zum Erneuerbare-Energien-Gesetz, zum Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz gezetert und
den Niedergang der deutschen Industrie an die Wand gemalt haben. Heute treten Sie hier als Ökologin par excellence auf. Das glaubt Ihnen doch kein Mensch. Das muss
man doch wirklich einmal sagen, auch wenn man den
Blick nicht zu oft zurückrichten sollte.
({3})
Jetzt möchte ich aber zur Sache kommen. Dieses Gesetz hat mit dem, was die Bundesregierung vor ungefähr
einem Jahr vorgelegt hat, kaum noch etwas zu tun, und
das ist wirklich auch gut so. Das, was jetzt vorgelegt
wird, ist deutlich besser; aber es ist noch weit davon entfernt, wirklich gut zu sein.
({4})
Dieses Gesetz ist erstens besser, weil die EU-Kommission standhaft geblieben ist und weil sie nicht bereit
war, einen als Klimaschutzplan getarnten Plan zum Ausbau von Kohlekraftwerken zu akzeptieren. Da kann
man nur sagen: Danke schön, EU-Kommission, für diese
Beharrlichkeit.
({5})
Das war keineswegs selbstverständlich.
Zweitens ist dieses Gesetz besser geworden, weil die
Opposition Druck ausgeübt hat und gute konstruktive
Vorschläge gemacht hat.
Drittens ist dieses Gesetz besser geworden, weil sich
die öffentliche Meinung in dieser Angelegenheit zugunsten des Klimaschutzes gedreht hat, nachdem die großen
Monopolisten bei der Einpreisung schlicht und einfach
überzogen haben. So steht die Öffentlichkeit nun mehrheitlich aufseiten derjenigen, die wirklich einen ambitionierten Klimaschutz wollen. Die Regierung musste aber
trotzdem zum Jagen getragen werden. Das ist kein Ruhmesblatt. Sie hat sich nämlich sehr lange gegen diese
Einsichten gesperrt.
({6})
Ich erinnere noch einmal daran, dass der SPD-Vorsitzende Kurt Beck und der Wirtschaftsminister der Union,
Herr Glos, ernsthaft erwogen haben, wegen ebendieser
Beharrlichkeit der EU-Kommission in Sachen Klimaschutz vor den Europäischen Gerichtshof zu ziehen. Das
wäre sehr peinlich geworden und hätte eine europapolitische Isolierung nach sich gezogen. Gott sei Dank ist es
so nicht gekommen. Aber gut war das nicht.
({7})
Zur Sache gehört auch, dass wir drei Kritikpunkte
immer deutlich hervorgehoben haben: Die Ziele sind zu
lasch, die Regelungen sind zu kohlefreundlich, und es ist
falsch, die Möglichkeit zur Versteigerung von 10 Prozent der Zertifikate nicht zu nutzen. Wie ist der Gesetzentwurf im Hinblick auf diese drei Punkte zu beurteilen?
Erstens. „Die Ziele sind zu lasch“, haben wir gesagt.
Der Auffassung war auch die Kommission. Das ist abgeräumt worden. Das ist gut. Daran gibt es kein Jota Kritik
zu üben.
Der zweite Punkt: Sind die Regelungen nach wie vor
zu kohlefreundlich? Ich würde sagen: Ja, sie sind eindeutig zu kohlefreundlich. Zu diesem Punkt komme ich
gleich noch einmal gesondert.
Der dritte Punkt, die bisherige Nichtnutzung der Versteigerungsmöglichkeit. Sie sehen das jetzt vor. Sie nutzen die Möglichkeit, 10 Prozent der Zertifikate zu versteigern. Das ist ein passabler Vorschlag. Wie viele
andere Kollegen erinnere ich mich noch daran, wie der
Herr Minister damals gegen unseren Vorschlag argumentiert hat. Er hat seine Meinung jetzt geändert. Das ist
gut. Vor allen Dingen ist es gut, weil die Monopolrenditen, die sogenannten Windfall-Profits, jetzt nicht mehr
in vollem Umfang anfallen; sie werden abgeschöpft.
Außerdem ist es gut, dass wir auf der Lernkurve weiter nach oben kommen, dass wir lernen, mit diesem Instrument besser umzugehen. Wir brauchen das Geld aus
der Versteigerung auch für Maßnahmen zur Verbesserung der Energieeffizienz, damit wir bei der vergessenen Säule der Energiepolitik, nämlich der Einsparung
auf der ganzen Breite, endlich vorankommen.
Unser Ziel ist ganz klar: Wir wollen, dass ab 2013
100 Prozent der Zertifikate versteigert werden, und zwar
nicht nur deshalb, weil das ökologisch besser ist - die
Preise bilden dann die ökologische Wahrheit ab -, sondern auch deshalb, weil die derzeitige Zuteilungspraxis
dem Lobbyismus Tür und Tor öffnet. Das kam schon zur
Sprache. Auch das letzte Gesetz war zwar nicht ganz
rund ausformuliert, aber es musste ja überhaupt erst einmal losgehen. Große Teile in der Union wollten das ja
gar nicht. Das Hauptproblem war jedoch dieses Einfallstor für Lobbyismus: Da brauchte dieses Stahlwerk noch
etwas, da brauchte jenes Kraftwerk noch etwas. - Wenn
wir wirklich auf 100 Prozent Versteigerung umstellen,
wird dem Lobbyismus die Tür verschlossen. Das ist genau das, was wir brauchen. Deswegen sagen wir:
100 Prozent Versteigerung.
({8})
Jetzt komme ich zu der Frage: Sind die Regelungen
für die Kohlekraftwerke zu kohlefreundlich? Ja, sie
sind eindeutig zu kohlefreundlich. Es gab bis jetzt die
Regelung, dass ein neues Kraftwerk 14 Jahre lang von
allen Minderungspflichten befreit ist. - Das hat die
Kommission zu Recht mit der Begründung kassiert:
Über 2012 hinaus dürfen keine Festlegungen getroffen
werden.
Was machen Sie jetzt? Sie geben der Kohle - ausgerechnet der Kohle, die besonders klimaschädlich ist doppelt so viele Emissionsrechte wie dem Erdgas. Das
ist klimapolitisch nicht zu verantworten,
({9})
zumal Sie obendrein noch versuchen, der Braunkohle
über die Betriebsstunden durch die Hintertür ein Extraprivileg zu verschaffen.
Wenn man es zusammenfassen wollte, könnte man
sagen: Es gibt in diesem Gesetz keinerlei Anreiz zum
Brennstoffwechsel, also weg von kohlenstoffintensiven
hin zu kohlenstoffarmen Brennstoffen. Sie knipsen bis
2012 das Preissignal für CO2 bei Kraftwerksneubauten
faktisch aus. Das ist falsch.
({10})
Zu den Kohlekraftwerken ganz generell - das ist ja
ein Thema, das uns alle miteinander noch lange beschäftigen wird -: Herr Minister, Sie sagen immer, nicht alle
44 Projekte, die in der Liste der Bundesnetzagentur stehen, würden realisiert; es seien maximal acht oder so geplant. Wir haben uns das einmal genau angeschaut. Im
Moment wird tatsächlich überall geplant. Standortplanungen landauf, landab; Widerstand landauf, landab.
Natürlich ist es besser, wenn ein Kohlekraftwerk beispielsweise statt heute etwa 38 Prozent in Zukunft
44 Prozent Wirkungsgrad hat, aber das Problem ist, dass
diese Kohlekraftwerke dann 40, 45 Jahre laufen,
({11})
damit die Energieversorgungsstrukturen bis 2050 zementieren und es den erneuerbaren Energien schwer machen. Deshalb unsere starke Kritik an der Kohle.
({12})
Es fehlt mir jetzt die Zeit, im Detail auf CCS, die
Kohlenstoffabscheidung, einzugehen. Aber zu dem,
was Sie gesagt haben, Herr Kauch, will ich klarstellen:
Ich bin überhaupt nicht gegen diese Technologie, aber
wir können doch nicht bei unserer gesamten Planung für
die nächsten 10 bis 15 Jahre - gerade jetzt, wo das Fenster der Möglichkeiten offen ist - darauf setzen, dass irgendwann diese Kohlenstoffabscheidetechnologie kommen wird. Die Technologie ist im Moment nicht da. Das
ist unser Problem. Es gibt im Moment keine CO2-freien
Kohlekraftwerke. Deswegen sehen wir mit äußerster
Skepsis, dass dieses Fenster der Möglichkeiten jetzt mit
Kohlekraftwerken vollgestellt werden soll, die vielleicht
irgendwann einmal in einer fernen Zukunft nachgerüstet
werden. Das passt nicht zusammen. Wir dürfen uns diese
Karotte nicht vorhalten lassen, sondern wir müssen auf
der Grundlage dessen, was wir heute haben, entscheiden.
({13})
Es ist wichtig, noch einmal auf Folgendes hinzuweisen: Wir stehen energiepolitisch jetzt an einer Wegscheide. Es geht nicht um die Frage, ob wir in Energieerzeugung investieren, sondern es geht um die Frage,
wie wir in Energieerzeugung investieren. Die Frage lautet: Investieren wir CO2-intensiv oder CO2-arm?
Investieren wir eher zentral oder eher dezentral? Investieren wir eher kapitalintensiv oder eher beschäftigungsintensiv? Konkret gefragt: Wollen wir in Zukunft
die Nummer eins bei erneuerbaren Energien oder bei
Kohle sein? Wollen wir, dass in Zukunft in großen Kohlekraftwerken mit 1 000 Megawatt Leistung, die mit
Importkohle befeuert werden, noch 80 Arbeitsplätze zur
Verfügung stehen, oder wollen wir über die ganze Breite
- erneuerbare Energien, Energieeinsparung, KraftWärme-Kopplung - Arbeitsplätze in Handwerk, Industrie, Landwirtschaft und im Dienstleistungsbereich
schaffen? Das ist die Alternative.
({14})
Hier plädieren wir ganz klar für den beschäftigungsintensiven Weg.
Ich muss zum Schluss kommen und möchte noch
zwei kurze Anmerkungen machen:
Die Klimapolitik ist endlich im Zentrum angekommen, da, wo sie hingehört. Das ist ganz wichtig. Klimapolitik ist aber mehr als nur ökologische Industriepolitik.
Technologisch liegt ein riesiges Feld der Möglichkeiten
vor uns: zum Beispiel bessere Häuser, bessere Transportsysteme, bessere Geräte, bessere Anlagen. Hier muss
man mit einer gewissen Technikfreude und mit einem
gewissen Technikoptimismus herangehen.
Klimaschutzpolitik gibt aber vor allen Dingen eine
Antwort auf die Frage der Gerechtigkeit zwischen Nord
und Süd, aber auch innerhalb unserer eigenen Gesellschaft, und, auch wenn das nicht ganz so populär ist,
bringt mit sich, dass man den eigenen Lebensstil hinterfragt. An der Aufgabe, das rechte Maß zu finden, kommen wir als einzelne und als Gesellschaft nicht vorbei.
Ich persönlich glaube, eine Gesellschaft, deren Funktionieren nur auf einem Immer-mehr basiert, kann auf
Dauer nicht klimaverträglich sein.
({15})
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Wenn es gut
bzw. normal läuft, dann werde ich ab nächste Woche
Freitag in einer anderen Tätigkeit sein und mein Bundestagsmandat im Sommer abgeben. Ich hatte hier fast neun
sehr gute Jahre und habe mich in diesem wunderbaren
Gebäude sehr wohl gefühlt. Man hat sich mit den Kollegen gestritten, aber das gehört ja dazu.
Ganz herzlichen Dank an alle für die gute Zusammenarbeit. Es hat mir Spaß gemacht. Wir werden uns sicherlich auf die eine oder andere Weise wieder begegnen;
darauf freue ich mich.
Schönen Dank.
({16})
Herr Kollege Loske, im Unterschied zu Ihrer Eingangsbemerkung vermute ich, dass das nicht Ihre letzte
Rede vor dem Deutschen Bundestag war.
({0})
Es war möglicherweise Ihre letzte Rede als Mitglied des
Deutschen Bundestages. Für den Fall, dass es so kommt,
wie Sie erhoffen und viele vermuten, stelle ich Ihnen
schon jetzt meine persönlichen Glückwünsche und die
des Hauses für das neue Amt in Aussicht. Für die bislang
hier im Hause geleistete Arbeit möchte ich Ihnen ganz
herzlich danken; dies tue ich sicherlich auch im Namen
aller Mitglieder dieses Hauses. Alles Gute für die weitere Arbeit.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Kelber für die
SPD-Fraktion.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Reinhard, auch ich persönlich wünsche dir
viel Erfolg und Freude im neuen Amt. Ich werde dich
hier in den Debatten vermissen. Wir haben viele Dinge
gemeinsam gemacht, aber auch unterschiedliche Positionen vertreten. Zu der unterschiedlichen Position gehört
- ich muss ja zum Thema finden -, dass ich glaube, dass
der heute vorliegende Gesetzentwurf zum Emissionshandel gut für den Klimaschutz in Deutschland und gut
für den Klimaschutz in Europa ist.
({0})
Viele andere Mitgliedstaaten schauen im Augenblick
darauf, ob Deutschland wirklich die Emissionsberechtigungen auktionieren, ob Deutschland wirklich die
Stromkonzerne härter rannehmen wird. Alle Anzeichen
weisen darauf hin, dass weitere Staaten in den nächsten
Tagen ebenfalls zur Auktion übergehen werden und damit ein klares Signal dafür setzen, dass ab 2013 die
Emissionsrechte vollständig versteigert werden.
Mit dem Zuteilungsgesetz für die Zeit bis 2012 wird
der Emissionshandel endlich zu einem wirksamen Instrument für den Klimaschutz. Darin sind wir uns einig.
Ich erinnere mich, dass das ein bisschen anders bei der
Debatte über die erste Emissionshandelsperiode war. Die
damalige Opposition, bestehend aus unserem heutigen
Koalitionspartner und der FDP, hat da gesagt: Das, was
ihr dort hineinschreibt, ist viel zu ambitioniert. Ihr dürft
den deutschen Unternehmen nicht so viele Zertifikate
wegnehmen. Heute zu sagen, wir täten zu wenig, ohne
daran zu erinnern, dass man früher einmal etwas völlig
anderes gesagt hat, ist nicht ganz ehrlich. Herr Kauch,
ich weiß, dass Sie persönlich anderer Meinung sind; aber
Ihre Partei wechselt an dieser Stelle die Meinung wie das
Chamäleon die Farbe.
({1})
Wir werden in der neuen Emissionshandelsperiode
50 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr einsparen. Alte Kohlekraftwerke müssen bereits 50 Prozent und mehr der
benötigten Emissionsberechtigungen kaufen. Das wird
technologische Verbesserungen und damit mehr Klimaschutz auslösen.
In der Tat hat die Europäische Kommission noch einmal Verbesserungen bei unserem Emissionshandelsplan
gefordert. Aber als Hinweis an die Grünen - auch das
muss in der Erinnerung bleiben und der Wahrheit halber
gesagt werden -: Einer der Punkte, die herausgestrichen
wurden, war die Übertragungsregelung. Diese Übertragungsregelung war grüne Politik pur. Jürgen Trittin hat
sie vor den Verhandlungen mit der SPD vorgeschlagen.
Die Kommission hat sie als klimaschutzwidrig und
rechtswidrig abgelehnt. Das hätte an dieser Stelle erwähnt werden müssen.
Es gibt viel weniger Sonderregelungen als in der ersten Emissionshandelsperiode. Damit wird das Instrument schärfer; alle müssen ihren Beitrag leisten.
Was mich amüsiert: Am Montag wird die Auktionierung perfekt gemacht, und schon heute kann man auf
Basis der öffentlichen Vorschläge eine vierfache Überzeichnung der daraus zu erwartenden Einnahmen feststellen. Meiner Meinung nach müssen die Mittel ganz
eindeutig für Klimaschutz und Effizienzmaßnahmen in
Deutschland ausgegeben werden; denn nur so können
wir die Energiepreise in den Griff bekommen und damit
für weniger Belastungen bei den Bürgern sorgen. Wir
können sie nicht vor steigenden Weltmarktpreisen schützen. Wir können sie auch nur zum Teil vor monopolartigen Steigerungen schützen. Aber wir können dafür sorgen, dass sie durch einen geringeren Verbrauch eine
niedrigere Rechnung haben. Dazu können wir mit den
Mitteln, die wir aus dieser Auktionierung gewinnen, etwas beitragen.
({2})
Wir brauchen auch Mittel für Maßnahmen in Entwicklungs- und Schwellenländern, die zur Anpassung an
den bereits begonnenen Klimawandel beitragen. Das
erste Anzeichen des Klimawandels ist der Rückgang der
Gletscher, der sich auf das Trinkwasser auswirkt. Uns
steht eine große Katastrophe bevor, wenn die Gletscher
im Himalaya abschmelzen, denn dann werden 40 Prozent der asiatischen Bevölkerung - es handelt sich um
Milliarden Menschen - von Trinkwassermangel bedroht
sein. Aktuell sind die Gletscher am Mount Kenia schon
praktisch verschwunden und die Flüsse ausgetrocknet.
Die Katastrophe für die dortige Bevölkerung ist bereits
eingetreten. Wir sind verpflichtet, vor Ort zu helfen und
Zugang zu sauberen Technologien zu ermöglichen.
Auch das können wir mit den jetzt erwarteten Mitteln ein
Stück weit leisten. Es ist unsere Verpflichtung als Industrieländer, die diesen Klimawandel ausgelöst haben, den
Menschen zu helfen, die bereits heute davon betroffen
sind.
({3})
Ich möchte an dieser Stelle auch eine klare Warnung
an die Stromkonzerne aussprechen: Der Emissionshandel ist kein Grund, die Strompreise weiter zu erhöhen.
Die von der Gemeinschaft in der Vergangenheit erhaltenen kostenlosen Zertifikate - also das, was die Gemeinschaft den Stromkonzernen geschenkt hat, um es einmal
auf gut Deutsch zu sagen - sind von den Konzernen bereits in die Bilanzen eingerechnet und auf die Strompreise aufgeschlagen worden. Dieses Geld wandert seit
drei Jahren aus den Taschen der Stromkunden direkt in
die Taschen der Stromkonzerne, die sich damit auf ihren
Bilanzpressekonferenzen brüsten. Wenn man den Kauf
der gleichen Zertifikate nun als Vorwand nimmt, die
Strompreise noch einmal zu erhöhen, dann wäre damit
der Missbrauch von Marktmacht endgültig bewiesen. In
dem Fall hoffe ich auf eine klare Antwort der Politik.
Wir haben alle Möglichkeiten, von der Anwendung des
Kartellrechts bis hin zur Zerschlagung von Konzernen.
Es muss eine klare Antwort geben, wenn dieser Missbrauch stattfindet und versucht wird, die eigenen Taschen zu füllen und der Politik den Schwarzen Peter zuzuschieben. Dieses Spiel ist erkannt, meine Herren!
({4})
Der Emissionshandel ist ein wichtiges Instrument für
den Klimaschutz, aber nicht das einzige. Wir werden
mehr Instrumente benötigen, um die ehrgeizigen Ziele,
die wir uns gemeinsam vorgenommen haben und die auf
dem EU-Gipfel abgestimmt worden sind, zu erreichen.
Die Treibhausgase sollen bis 2020 in Deutschland um
40 Prozent reduziert werden, in Europa um 30 Prozent.
Das sind allein in Deutschland 270 Millionen Tonnen
CO2 weniger pro Jahr. Ich freue mich, dass jetzt in der
Großen Koalition - das war bei meiner letzten Rede
noch nicht der Fall - die Verhandlungen über zwei weitere Klimaschutzinstrumente, das Erneuerbare-Energien-Wärme-Gesetz und das Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz, begonnen haben, wir über die Ausbauziele
bereits Einigung erreicht haben und uns jetzt über die
Details der Umsetzung unterhalten.
Man muss dazu aber auch sagen: Der Entwurf von
Bundesminister Glos zur Förderung der Kraft-WärmeKopplung ist mit Blick auf das Ausbauziel unzureichend. Bis zum Energiegipfel Anfang Juli muss ein
neuer Vorschlag des Ministers auf dem Tisch liegen,
weil im Sommer Entscheidungen über Investitionen getroffen werden. Die Unternehmen müssen wissen, wie
die Rahmenbedingungen für die Kraft-Wärme-Koppelung in Deutschland aussehen. Der Unterschied zwischen dem Vorschlag des einen Koalitionspartners und
dem des Ministers darf nicht so groß sein, dass in Bezug
auf diese Rahmenbedingungen keine Sicherheit vorhanden ist. Wir brauchen einen Vorschlag des Ministers, der
zumindest nahe bei dem liegt, was die Koalitionsfraktionen im Augenblick verhandeln. Sie sind an dieser Stelle
im Ergebnis schon bei ganz anderen Zielen angekommen. Meine dringende Bitte an Michael Glos ist, sich
den Entscheidungen der Großen Koalition zum Klimaschutz anzupassen.
({5})
Bundesminister Sigmar Gabriel hat ein Programm zur
Senkung der Treibhausgasemissionen um 40 Prozent
vorgestellt. Alle Ressorts der Bundesregierung und der
Deutsche Bundestag sind aufgerufen, dieses Programm
bis Ende 2007 umzusetzen. Klimaschutz ist ein Wettlauf
mit der Zeit. Wir müssen diesen Wettlauf gewinnen. Wir
haben alle Technologien und sehr viel Wissen, um diesen Wettlauf zu gewinnen. Heute beschließen wir ein
wichtiges Instrument für diesen Wettlauf. Ich hoffe auf
eine klare Mehrheit.
Vielen Dank.
({6})
Gudrun Kopp ist die nächste Rednerin für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Seit Mitte der 90er-Jahre ist das Instrument des
Emissionshandels Bestandteil der Programmatik der
Bundestagsfraktion und der Partei der FDP, lieber Herr
Kollege Kelber. Man muss einfach sagen: Wir mussten
Herrn Trittin, den früheren Umweltminister, an dieser
Stelle quasi zum Jagen tragen.
({0})
Wir sind überzeugt, dass der Emissionshandel auf
längere Sicht das einzige effiziente Klimaschutzinstrument sein wird, wenn man alle Sektoren in den Blick
nimmt. Wenn sich die Zahl der internationalen Teilnehmer eines Tages hoffentlich erweitern wird, zum Beispiel um China, Indien und die USA, dann könnte es zu
einer großen Erfolgsstory werden. Das Zuteilungsgesetz,
in dem vorgesehen ist, knapp 10 Prozent der Zertifikate
zu versteigern, trifft jedenfalls auf unsere volle Zustimmung.
({1})
Wir müssen uns natürlich um die Einnahmen kümmern. Im Zuteilungsgesetz ist geregelt, dass die rund
800 Millionen Euro, die immerhin eingenommen werden sollen, in den Etat des Bundesumweltministers fließen. Das halten wir für problematisch; denn dies ist
Geld, das den Bürgern und den Unternehmen in diesem
Lande gehört. Damit könnte man beispielsweise auch
die Preise senken. Deshalb meine Bitte an die Haushaltspolitiker, doch darauf zu achten, dass der Etat des Bundesumweltministeriums um diese Summe gesenkt wird,
damit dieses Geld nicht automatisch in den Umlauf
kommt und Begehrlichkeiten weckt. Ich schlage vor, mit
dem Erlös von diesen rund 800 Millionen Euro die
Stromsteuer zum Nutzen aller Verbraucher zu senken.
Das wäre sinnvoll.
({2})
Problematisch ist zudem die Situation der Betreiber
von Prozesswärmeanlagen, die dieses Zuteilungsgesetz
als eine Strafaktion empfinden müssen. Das muss man
so sehen. In diesem Bereich gibt es eine Auslastung von
90 Prozent. Das heißt, für diese Branche - dazu gehören
auch die Brauereien; das ist für manche ja eine ganz
sympathische Branche - wird es unmöglich sein, den
strengen Regeln, die für Kraftwerke gelten, gerecht zu
werden.
({3})
CO2-Einsparungen sind nicht möglich. Deshalb muss an
dieser Stelle nachgebessert werden. Das steht noch aus.
Für die FDP-Bundestagsfraktion ist es außerdem
wichtig, dass es ab 2012 eine Anschlussregelung zum
Kiotoprotokoll, also sozusagen ein Kioto-II-Abkommen, gibt.
Ich sagte eben schon, dass die Zahl der Teilnehmer
am Emissionshandel unbedingt ausgeweitet werden
muss.
Langfristig muss der Emissionshandel von drei Faktoren geprägt sein: Erstens muss er alle Sektoren umfassen, zweitens muss er hinsichtlich der Anlagen und
Benchmarks brennstoff-unabhängig sein, und drittens
muss die Verteilung durch eine komplette Versteigerung
angestrebt werden.
({4})
So ausgestaltet könnte der Emissionshandel in der Tat zu
einer Erfolgsstory werden.
Wir müssen eines immer wieder festhalten: Bei der
Evaluierung der Instrumente ist es erforderlich, genau zu
prüfen, ob die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft innerhalb Europas und global noch gegeben ist;
das ist ein Lernprozess, mit dem wir jetzt beginnen. Es
kann nicht angehen, dass wir auf falschen Wegen weitergehen und nicht korrigieren, wenn es nötig ist. Sonst haben wir irgendwann zwar eine CO2-Minderung, auf der
anderen Seite aber eine Verlagerung von Arbeitsplätzen.
Das darf nicht geschehen. Deswegen müssen wir aufmerksam sein und dafür sorgen, dass dieses Instrument
erfolgreich ist. Das ist im Sinne des Klimaschutzes und
der Wettbewerbsfähigkeit.
Vielen Dank.
({5})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Andreas Jung,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
will zunächst etwas zu den meiner Ansicht nach etwas
hilflosen Versuchen sagen, die Klimapolitik der Bundesregierung infrage zu stellen oder gar einen Spalt zwischen die Bundeskanzlerin und ihre Fraktion, die CDU/
CSU-Fraktion, zu treiben: Klar ist - das wurde in den
letzten Wochen offensichtlich -, dass sich niemand den
Erfolg der Bundeskanzlerin in Heiligendamm im Kampf
für den Klimaschutz so sehr gewünscht hat wie unser
Fraktion und sich niemand mehr über ihren Erfolg gefreut hat.
({0})
Wir unterstützen die internationalen Anstrengungen, damit wir auf diesem Gebiet vorankommen. Darüber hinaus stellen wir uns aber auch im Inland dieser Aufgabe.
Wir bekennen uns dazu, dass Deutschland und Europa
Vorreiter im Klimaschutz sein sollen.
Wir wissen, dass sich manche gern an Worten messen
lassen. Wir hingegen stellen uns der Aufgabe: Messen
Sie uns an unseren Taten! Messen Sie die Große Koalition an dem, was sie in der Klimaschutzpolitik geleistet
hat! Da gibt es kein Vertun: Wir haben all das, was unter
Rot-Grün zur Förderung regenerativer Energien auf den
Weg gebracht wurde, nicht nur fortgesetzt, sondern die
Mittel sogar aufgestockt. Weil Gebäudesanierung ein effektiver Beitrag zum Klimaschutz ist, haben wir die Mittel für das Gebäudesanierungsprogramm mehr als vervierfacht.
Zu den Themen Nationaler Allokationsplan und Zuteilungsgesetz, über das wir heute debattieren, sage ich
nur: Messen Sie uns auch hier an unseren Taten und an
den Zahlen!
({1})
Für den CO2-Ausstoß haben wir die Obergrenze bei
453 Millionen Tonnen festgelegt; mehr dürfen Energieversorger und Industrie in dieser Handelsperiode nicht
ausstoßen. Sehr geehrter Herr Kollege Trittin, Sie wissen, dass unser Plan bei weitem ehrgeiziger ist als der
Plan, den Sie zu verantworten hatten. In jedem Jahr sparen wir über 50 Millionen Tonnen CO2 mehr ein, als
Rot-Grün mit dem Emissionshandel einsparen konnte.
Ich finde, das verdient Respekt und Anerkennung.
Andreas Jung ({2})
({3})
In Politik, Wirtschaft und Wissenschaft ist unbestritten, dass wir mit dieser Vorgabe die Kiotoverpflichtung
erfüllen werden. Deutschland hat im Kiotoprotokoll eine
große Verpflichtung übernommen. Mit diesem Allokationsplan stellen wir sicher, dass wir dieser Verpflichtung gerecht werden. Das halte ich für wesentlich.
Ich will hinzufügen, dass der Nationale Allokationsplan und dieses Zuteilungsgesetz auch ein Bekenntnis
zum Industriestandort Deutschland sind. Deshalb wird
der Sektor Industrie anders behandelt als der Sektor
Energie. Wir wissen, dass sich die Industrie einem harten
globalen Wettbewerb zu stellen hat, und wir wissen, dass
es in der Industrie, beispielsweise in der chemischen Industrie, prozessbedingte Emissionen gibt, das heißt, dass
bei bestimmten Prozessen eine bestimmte Menge an
CO2 entsteht. Unsere klare Ansage lautet: Wir wollen,
dass diese Prozesse, dass diese wirtschaftliche Tätigkeit
auch in Zukunft in Deutschland stattfindet, dass in
Deutschland auch in Zukunft in diesem Bereich Investitionen getätigt werden und damit Arbeitsplätze erhalten
und geschaffen werden.
({4})
Deshalb haben wir selbstverständlich die Industrie in
diesen Plan einbezogen und verlangen auch von ihr Minderungspflichten. Aber wir haben die Latte nicht zu hoch
gelegt. Das gilt für die Minderungspflichten und vor allem für das, was die Union in den Verhandlungen in den
letzten Wochen noch herausholen konnte. Wir haben im
Zuteilungsgesetz ein Mittelstandspaket durchgesetzt.
Wir haben durchgesetzt, dass das Budget für die Härtefallregelung für den Mittelstand deutlich erhöht wird.
({5})
Wir haben durchgesetzt, dass die Standardauslastungsfaktoren in vielen Bereichen erhöht werden und dass dadurch die mittelständische Industrie in den Bereichen
Zement, Kalk und Glas gestärkt wird. Wir haben Verbesserungen zur Förderung von Kraft-Wärme-KopplungsAnlagen zur Herstellung von Bioethanol, zur Versorgung
der Zellstoffindustrie und vieles mehr durchgesetzt.
({6})
Ich glaube, damit zeigen wir, dass es gelingt, beides
zusammenzuführen: Klimaschutz und eine Politik für Industrie und Arbeitsplätze. Das ist der Maßstab, an dem
wir uns messen lassen müssen. Wir in Deutschland müssen zeigen, dass Umweltschutz und Wirtschaft zusammen möglich sind.
({7})
Dann werden wir erreichen, dass andere mitmachen.
Dann können wir das erreichen, was die Bundeskanzlerin in Heiligendamm gesagt hat: Wir wollen einen weltweiten Kohlenstoffmarkt und nicht einen, der auf bestimmte Regionen begrenzt ist. Damit würden sich auch
viele Fragen der Wettbewerbsfähigkeit nicht mehr stellen.
Wir haben die Industrie nicht in die Auktionierung
einbezogen, der wir jetzt nähertreten. Auch das halte ich
für richtig. Denn der Grund für diese Auktionierung ist
doch, dass wir festgestellt haben, dass es im Energiebereich Mitnahmeeffekte gibt. Es hat in der letzten Handelsperiode bei den großen Energieversorgern Mitnahmeeffekte in Höhe von 5 oder 6 Milliarden Euro
gegeben. Diese wollen wir abschöpfen. Wir können das
in Höhe von 10 Prozent machen. In Höhe von 90 Prozent
wird die Zuteilung weiterhin kostenlos erfolgen; auch
das muss man dazusagen. Wir haben aber keine andere
Möglichkeit, weil die Europäische Union uns das so vorgibt. Ich halte es für richtig, das so zu machen. Denn ich
finde, es darf nicht sein, dass manche vom Emissionshandel profitieren und die Bürger, die Stromkunden und
die Wirtschaft letztlich durch höhere Strompreise belastet werden. Deshalb wenden wir dieses Mittel jetzt an.
Herr Kauch, Sie haben die Mittelverwendung angesprochen. Sie haben kritisiert, dass es noch keine klare
Festlegung gibt, wofür wir die Mittel ausgeben. Ich bin
überzeugt: Hätten wir schon eine Verwendung vorgesehen, dann wären wir mit Sicherheit dafür kritisiert worden. Dann wäre gesagt worden: Ihr benutzt dieses Instrument doch nur, weil ihr die Bürger abzocken wollt. Ihr
habt doch nur ein neues Instrument gesucht, mit dem ihr
Einnahmen generieren könnt. - Doch es ist nicht so. Es
geht uns um etwas anderes, nämlich um die Vermeidung
von Mitnahmeeffekten. Es geht uns aber auch darum,
dieses Instrument zu erproben, um in dieser Periode zu
einer Auktionierung von 10 Prozent und ab der nächsten
Periode zu bei weitem mehr - möglicherweise
100 Prozent - zu kommen. Ich halte das für richtig und
für ein gutes Instrument.
Ich freue mich darüber, und ich finde, dass es ein Gewinn für das Parlament ist, dass es im parlamentarischen
Prozess gelungen ist, mehr zu erreichen, als die Bundesregierung, als der Bundesumweltminister vorgelegt hat.
Es zeigt, dass der Parlamentarismus lebendig ist und die
Fraktionen sich hier mit Vehemenz in die Debatte einbringen.
({8})
Ich will eine letzte Bemerkung - ich spreche hier insbesondere die Fraktion der Linken an - zu den Themen
CDM und JI machen. Sie waren doch dabei - wir waren
gemeinsam in Nairobi -, als der Umweltminister von
Kenia uns aufgezeigt hat, dass es in Afrika rund
20 CDM-Projekte gibt und in Kenia nur ein einziges. Er
hat eindringlich auf uns eingeredet: Schafft die Voraussetzungen dafür, dass mehr CDM-Projekte in Kenia geschaffen werden.
({9})
Er hat gesagt: Wir brauchen diese Projekte als Beitrag
zur Entwicklungshilfe. Wir brauchen Sie, um selber Klimaschutz machen zu können. Deshalb schafft die Voraussetzungen dafür.
Genau das haben wir in diesem Gesetzentwurf in den
letzten Tagen durchgesetzt, indem wir die Quote von
Andreas Jung ({10})
20 auf 22 Prozent erhöht haben. Ich finde, wer für Klimaschutz ist und sich für internationale Solidarität ausspricht, darf nicht gegen CDM sein.
({11})
Deshalb sind wir dafür. Ich finde, dass es ein Instrument
ist, das den globalen Ansatz, den wir in der Klimaschutzpolitik brauchen, umsetzt.
Herr Kollege Jung, möchten Sie unmittelbar vor
Schluss Ihrer Rede noch eine Zwischenfrage der Kollegin Bulling-Schröter annehmen?
Gern.
Eva Bulling-Schröter ({0}):
Danke schön, Herr Jung. - Stimmen Sie mit mir überein, dass die CDM-Projekte zusätzlich sein sollten - es
gibt Studien, die belegen, dass viele nicht zusätzlich sind -,
dass wir in diesem Hause gemeinsam dafür sorgen sollten, dass möglichst viel CO2 eingespart wird und dass
alle CDM-Kriterien eingehalten werden, und dass wir
zusätzliche Projekte, die alle Kriterien erfüllen, auf den
Weg bringen sollten?
Ich denke, in diesem Zusammenhang sind zwei Fragen voneinander zu unterscheiden:
Erstens geht es um die Frage, die wir im Rahmen des
Zuteilungsgesetzes beraten: Wie hoch soll die Quote für
die CDM-Projekte in Deutschland sein? Wir sind der
Meinung, dass diese Quote möglichst hoch sein sollte;
denn das wäre ein Beitrag zum Klimaschutz. Was den
Klimaschutz angeht, ist es egal, ob CO2 in Deutschland,
in Mexiko oder in Kenia eingespart wird. Wir glauben,
dass eine hohe Quote ein Beitrag zu mehr Effizienz beim
Klimaschutz ist. Denn dann könnten die Unternehmen
für dasselbe Geld mehr CO2 einsparen. Darüber entscheiden wir jetzt. Wir sind für eine Erhöhung der Quote
auf 22 Prozent.
Zweitens haben Sie die Frage angesprochen: Muss
man noch mehr tun, um diese Projekte wirkungsvoller
und nachhaltiger zu gestalten? In diesem Punkt stimmen
wir selbstverständlich mit Ihnen überein. Hier mag es
noch Handlungsbedarf geben. Größeren Handlungsbedarf sehe ich allerdings bei den Fragen: Wie können wir
dafür sorgen, dass diese Projekte wirkungsvoll bleiben
und noch wirkungsvoller werden, und wie können wir
sie von übermäßiger Bürokratie befreien, damit es für
die Unternehmen tatsächlich interessant wird, hier zu investieren?
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat nun der Bundesminister für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit, Sigmar Gabriel.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beschließen heute den Entwurf eines Gesetzes zum Emissionshandel im Hinblick auf die Zuteilungsperiode 2008
bis 2012. Es geht also um die eigentliche Kiotoperiode,
in der Europa und somit auch Deutschland die Klimaschutzziele bzw. die Senkung der Treibhausgasemissionen bis zum Jahre 2012 erreichen müssen. Das ist deshalb so wichtig, weil natürlich alle internationalen
Verhandlungen über die Zeit nach 2012 - das haben wir
gerade erst beim G-8-Gipfel in Heiligendamm erlebt; die
nächsten Verhandlungen sollen Ende dieses Jahres auf
Bali beginnen - wirkungslos bleiben, wenn es uns nicht
gelingt, in der ersten Handelsperiode deutlich zu machen, dass Deutschland und Europa tatsächlich bereit
sind, die noch relativ niedrigen Klimaschutzziele zu erreichen.
Deswegen ist es von sehr großer Bedeutung, dass die
Koalition heute das Zuteilungsgesetz im Hinblick auf
den Emissionshandel beschließt und damit sicherstellt,
dass Deutschland die im Kiotoprotokoll formulierte Verpflichtung, seine Treibhausgasemissionen im Vergleich
zum Jahre 1990 im Zeitraum 2008 bis 2012 um
21 Prozent zu senken, wirklich erreicht. Das ist der eigentliche Erfolg dieses Gesetzes, und dafür kann die
Bundesregierung den Koalitionsfraktionen nur Dank sagen.
({0})
Wir haben erhebliche Fortschritte gemacht - das wird
im Zuteilungsgesetz deutlich -: Gegenüber der ersten
Handelsperiode sparen wir jedes Jahr bis zu
57 Millionen Tonnen CO2 ein, während wir in der ersten
Handelsperiode lediglich 2 Millionen Tonnen pro Jahr
eingespart haben. Diejenigen, die sagen, dass wir einen
Lernprozess hinter uns haben und dass uns die EU dazu
gebracht hat, diesen Schritt zu machen, haben schlicht
und ergreifend recht. Genau so ist es.
Nur, Herr Loske, Sie sollten so fair sein, auch zu sagen, dass sich die Kritik, die die EU-Kommission am
ersten Entwurf des Allokationsplans der Bundesregierung geübt hat, gegen Regeln gerichtet hat, die Sie selber
in der ersten Handelsperiode geschaffen haben. Die
Kritik der EU-Kommission lautete: Deutschland hat in
der ersten Handelsperiode zu viele Zertifikate ausgegeben; daran waren Sie mitbeteiligt. Deutschland hat eine
14-Jahres-Regelung getroffen, die Sie nun kritisieren;
daran waren Sie allerdings mitbeteiligt. Deutschland
verfügte über eine zu geringe Reserve von nur
3 Millionen Tonnen pro Jahr - jetzt beträgt die Reserve
23 Millionen Tonnen pro Jahr -; diese geringe Reserve
haben Sie mitzuverantworten.
Herr Loske, auch uns ist klar, dass sich die Grünen
und andere mehr gewünscht hätten. Es ist doch nicht zu
kritisieren, dass wir gemeinsam einen Lernprozess
durchlaufen haben. Gott sei Dank war das so. Wenn Sie
aber jetzt so tun, als seien Sie diejenigen gewesen, die
alles richtig gemacht hätten, dann muss man feststellen,
dass das die schlichte Unwahrheit ist.
({1})
Der Emissionshandel gehört zu den echten Erfolgsgeschichten der Großen Koalition. Darauf können beide
Fraktionen stolz sein.
({2})
- Frau Künast, weil das nicht alle hören können und Sie
sich offensichtlich nicht trauen, hier zu reden - oder es
nicht dürfen; ich weiß es nicht -, wiederhole ich, was Sie
gesagt haben. Sie haben gefragt: Wer war eigentlich daran beteiligt?
({3})
Frau Künast, vorhin kam die Frage auf, woran es liegt,
dass das Ganze jetzt Erfolg hat. Es hat im Zentrum der
Politik gestanden, und zwar deshalb, weil die Probleme
so groß geworden sind und weil sich die beiden großen
Volksparteien dieses Themas angenommen haben. Das
ist der Grund, warum es jetzt gelingt.
Natürlich haben die Grünen auf diesem Feld weit vor
uns gearbeitet. Das ist ihr Erfolg. Jürgen Trittin hat in
diesem Bereich einiges auf den Weg gebracht.
({4})
Aber Sie müssen doch zugeben, dass es für Sie eher ein
parteipolitisches als ein sachliches Problem ist, dass den
Durchbruch in der Klimapolitik die beiden großen
Volksparteien geschafft haben. Sie werden gestatten,
dass die Koalition auf diese Erfolge stolz sein darf.
({5})
Ich will mich mit ein paar Argumenten, die Sie genannt haben, auseinandersetzen. Wir haben so etwas wie
die k.-u.-k.-Monarchie bei Kohle und Kernenergie.
({6})
Ich will nur auf Folgendes hinweisen: Bis zum
Jahre 2012 sind in Deutschland neun Kohlekraftwerke
- sechs Steinkohlekraftwerke und drei Braunkohlekraftwerke - in Planung bzw. schon im Bau. Das dient der
Modernisierung des Kraftwerksparks. Die neuen Kraftwerke sollen alte Braun- und Steinkohlenkraftwerke, die
viel CO2 emittieren, ablösen, sodass diese stillgelegt
werden können. Bis zu 42 Millionen Tonnen CO2 sollen
dabei pro Jahr eingespart werden. Was wir jetzt erleben,
Herr Loske, ist, dass Sie von den Grünen auch gegen
diese Kohlekraftwerke und sogar gegen Kraft-WärmeKopplungs-Kraftwerke mobilisieren, beispielsweise in
Berlin, aber nicht nur in Berlin. Dann bleiben die alten
CO2-Schleudern am Netz. Das ist die Konsequenz Ihrer
Politik; das muss man einmal offen sagen.
({7})
Dann will ich etwas zur PDS sagen.
({8})
Ich weiß nicht, ob der Kollege Claus hier ist. Ich kann es
ihm aber nicht ersparen, Ihnen, Frau Kollegin, zu sagen:
Wissen Sie, eines geht nicht, nämlich dass Sie hier im
Deutschen Bundestag fordern, wir sollten noch weniger
Emissionsrechte für die Braunkohlekraftwerke vorsehen, aber Ihre örtlichen Abgeordneten von mir Sonderregelungen für die Braunkohlekraftwerke in Ostdeutschland verlangen.
({9})
Ich sage Ihnen Folgendes: Wir machen Klimaschutz;
aber weil wir uns auch dafür verantwortlich fühlen, dass
über 1 000 Arbeitsplätze in solchen Regionen erhalten
bleiben, prüfen wir Härtefallregeln wie bei der
MIBRAG.
({10})
Sagen Sie doch den Leuten vor Ort, dass Sie als PDS
oder Linke - oder was für Abgeordnete auch immer - Ihnen die Jobs kaputtmachen wollen!
({11})
Sie spielen ein doppeltes Spiel: Hier verlangen Sie, für
die Braunkohlekraftwerke weniger Emissionsrechte vorzusehen, vor Ort wollen Sie uns an die Wand nageln mit
dem Vorwurf, wir würden Arbeitsplätze kaputtmachen.
Ich glaube, das haben Sie bei Oskar Lafontaine gelernt;
das ist die Art und Weise, wie der Politik macht.
({12})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Claus?
Mit großer Freude, Herr Kollege Claus.
Herr Bundesminister, ich will Sie fragen: Was veranlasst Sie, mein Engagement für die in der Braunkohle
Beschäftigten hier in dieser Weise zu diskreditieren, wo
Sie doch am Dienstag dieser Woche maßgeblich,
sachkundig und, wie ich fand, konstruktiv nichts anderes
gemacht haben als ich, nämlich mitzuwirken an einem
vernünftigen Kompromiss, bei dem mehr herauskommt
für die Umwelt und für die Sicherheit der Beschäftigten?
Warum regen Sie sich dann hier so künstlich auf?
({0})
Das tue ich überhaupt nicht. Herr Kollege Claus, ich
finde, dass Sie die richtige Position vertreten. Aber Ihre
Fraktionsvorsitzenden oder wer immer von Ihnen hier
im Deutschen Bundestag zu diesem Thema redet, wollen
das Gegenteil. Das kritisiere ich. Das ist pharisäerhaft.
Wenn die so handeln würden wie Sie, wäre alles in Ordnung.
({0})
Ich sage Ihnen noch etwas, Frau Kollegin: Hier zu
kritisieren, dass die Bundesregierung nicht 100 Prozent
Auktionierung durchgesetzt hat, das ist wirklich abenteuerlich. Das europäische Emissionshandelssystem ist
im Jahre 2003 beschlossen worden. Sie sollten der geschätzten deutschen Öffentlichkeit einmal sagen, dass
Deutschland mit den knapp 10 Prozent bei der Auktionierung in diesem Jahr in Europa an der Spitze derer
liegt, die auktionieren. Die anderen Europäer sind froh
darüber, dass wir endlich dafür sorgen, dass ein vernünftiger Preisindikator in den Markt kommt. Erzählen Sie
hier den Leuten doch kein dummes Zeug. Wir werden
mit diesem Gesetz zum Führer in der europäischen Klimaschutz- und Emissionshandelspolitik. Das, und nicht
der Unsinn, den Sie hier der Öffentlichkeit erzählen, ist
das tatsächliche Ergebnis, das mit diesem Gesetz erreicht wird.
({1})
Meine Damen und Herren, zur Kohle. Natürlich brauchen wir in Deutschland auch weiterhin einen preiswerten Grundlaststrom aus der Stein- und der Braunkohle.
Wir können in Deutschland nicht neben den 28 Prozent
des Kernenergiestroms bis 2020 auch noch rund 50 Prozent der Kohleerzeugung ausphasen. Wer das will, hat
entweder von der Lage der deutschen Industrie keine
Ahnung oder er verfolgt einen geheimen Plan zur Rückkehr in die Kernenergie. Es geht nur eines von beiden.
({2})
Herr Kauch, dass Sie in der Sache selber noch nicht
richtig wissen, wohin Sie wollen, machen Sie durch Ihre
Redebeiträge deutlich. Einerseits fordern Sie mehr Klimaschutz in Deutschland, andererseits konnten Sie sich
aber in Ihrer eigenen Fraktion nicht durchsetzen, das
Geld, das wir durch die Auktionierung erhalten, auch für
den Klimaschutz einzusetzen, sondern Sie mussten sich
Ihren Wirtschaftpolitikern beugen, die das Geld letztlich
dort belassen wollen, wo Windfall-Profits abgeschöpft
worden sind, sodass höhere Steuern erhoben werden
müssen, um Klimaschutz in Deutschland bezahlbar zu
machen.
({3})
Sie bleiben die Antwort schuldig, wie wir in Deutschland den Klimaschutz bezahlen können. Wenn die Mittel
der Auktionierung sozusagen zur Senkung der Stromsteuer genutzt werden, dann müssen Sie hier eine Antwort darauf geben, wie Sie im Bundeshaushalt die Hunderte von Millionen Euro aufbringen wollen, um die
Maßnahmen zum Klimaschutz in Deutschland zu finanzieren. Das ginge dann nur über Steuererhöhungen. Damit würden Sie natürlich nicht Ihre Klientel treffen, allerdings würde das die Stromrechnungen der vielen
Menschen in Deutschland erhöhen, die das alles letztendlich schon über ihre Stromrechnung bezahlt haben.
Herr Minister, möchten Sie noch eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Kopp zulassen?
Gerne.
Ich will mir einen Hinweis erlauben: Ich bin mit solchen Zwischenfragen und Kurzinterventionen nachweislich eher großzügig, aber der Zweck dieser Instrumente
besteht eigentlich nicht darin, dass die von den Fraktionen ohnehin gemeldeten Redner auf diese Weise zusätzliche Redezeiten in Anspruch nehmen können, sondern
darin, den nicht für die Debatten gemeldeten Kolleginnen und Kollegen aus den Fraktionen gegebenenfalls die
Möglichkeit einer gezielten Einwirkung zu geben.
Bitte schön, Frau Kollegin Kopp.
Herr Präsident, ich mache es auch sehr kurz.
Ich empfinde es so, dass Minister Gabriel uns falsch
interpretiert hat. Herr Minister, deshalb möchte ich Sie
fragen: Sind Sie bereit, sich hier zu korrigieren und unseren Vorschlag so darzustellen, wie wir es gesagt haben,
dass wir nämlich den Erlös aus der Versteigerung denjenigen zurückgeben möchten, die am Markt die hohen
Energiepreise zu bezahlen haben,
({0})
und dass das Geld eben nicht im Haushalt verschwindet
und für irgendetwas anderes ausgegeben wird?
({1})
Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen?
Ich nehme erst einmal zur Kenntnis, dass Sie dann die
Windfall-Profits nicht richtig abschöpfen, sondern die
Stromsteuer für die Unternehmen senken wollen. Damit
geben Sie es ihnen zurück. Ich nehme auch zur Kenntnis,
dass Sie keine Antwort auf die Frage haben, wie wir in
Deutschland die Klimaschutzpolitik bezahlen sollen.
Am Ende wäre dafür eine Steuererhöhung notwenig.
Das wollen Sie auch wieder nicht. In Wahrheit wollen
Sie eigentlich keine engagierte Klimaschutzpolitik, jedenfalls dann nicht, wenn sich diejenigen in Ihrer Partei
durchsetzen, die nicht für die Umweltpolitik zuständig
sind.
({0})
Meine Damen und Herren, eine letzte Bemerkung zur
Sorge derjenigen, die glauben, dass das Nichtvorhandensein eines Braunkohlebenchmarks die Braunkohlewirtschaft in Deutschland zu sehr benachteiligen würde.
Vor wenigen Wochen wurde uns eine Studie des Verbandes der Elektrizitätswirtschaft vorgelegt. Es war also
keine Studie eines grünen Verbandes, einer NGO oder
des BMUs. In dieser Studie wird gezeigt, dass die verbleibenden und die neu gebauten Braunkohlekraftwerke
in Deutschland auch weiterhin wirtschaftlich arbeiten
können und dass dies insbesondere daran liegt, dass der
Brennstoff konkurrenzlos günstig zur Verfügung steht.
Verschwiegen wird in der Debatte dabei meistens,
dass das Eintreten einiger Bundesländer und von Teilen
der Elektrizitätswirtschaft für einen eigenen Braunkohlebenchmark nichts mit Klimaschutz zu tun hat und dass
es nur um eine Sache geht, nämlich darum, die Emissionsberechtigungen in Deutschland zugunsten eines
Teils der Elektrizitätswirtschaft und zulasten eines anderen Teils der Elektrizitätswirtschaft zu verteilen.
({1})
Die Emissionsobergrenzen gelten für alle. Das Glas mit
Zertifikaten ist nicht zu vergrößern. Es geht nur um die
Frage, wie die Zertifikate verteilt werden.
Würden wir das tun, was die CDU/CSU-geführten
Bundesländer von der Bundesregierung und vom Deutschen Bundestag verlangen, käme es zu einer einseitigen
Umverteilung im Wesentlichen zugunsten eines deutschen Energieversorgers. Bis zu 300 Millionen Euro
würden zugunsten dieses Energieversorgers bzw. zulasten aller anderen Energieversorger umverteilt. Das ginge
übrigens auch zulasten der ostdeutschen Braunkohle,
weil die westdeutsche Braunkohle viel stärker von der
Umverteilung profitieren würde als die ostdeutsche.
Es ginge aber vor allen Dingen zulasten der Stadtwerke in Deutschland. Ich würde gerne wissen, wie die
Ministerpräsidenten der Länder, die von der Bundesregierung verlangen, dass sie einen Braunkohlebenchmark
einführt, das den Oberbürgermeistern, Landräten, Bürgermeistern und Bürgerinnen und Bürgern in den Städten und Gemeinden erklären.
({2})
Herr Minister, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Dieses Vorhaben bedeutet eine Umverteilung zulasten
der Stadtwerke und zulasten klimafreundlicher Energieträger. Deswegen kann ich davon nur abraten.
Ich bitte im Übrigen darum, nicht länger in der Öffentlichkeit internationale Klimaschutzverhandlungen zu
beklatschen - und zwar zu Recht -, aber gleichzeitig im
Inland durch den Widerstand der Ministerpräsidenten im
Bundesrat all das zu torpedieren, was wir mit großer
Mühe durchzusetzen versuchen.
({0})
Klimaschutz kommt nicht im Schlaf zustande, sondern
nur dann, wenn man bereit ist, intensiv zu arbeiten und
die ökonomischen wie die ökologischen Konsequenzen
zur Kenntnis zu nehmen. Das ist bei dem vorliegenden
Gesetzentwurf der Fall.
Ich bedanke mich für die Beratungen mit den Koalitionsfraktionen und hoffe, dass wir letzten Endes zu der
Entscheidung kommen - und zwar im Bundestag, Herr
Kollege Kauch -, wie die durch die Auktionierung erzielten Mittel verwendet werden. Der Bundesumweltminister steckt gar nichts ein; vielmehr setzt die Veranschlagung der Mittel im Bundeshaushalt voraus, dass der
Bundestag zustimmt und präzise vorgibt, wofür sie verwendet werden sollen. Wir haben uns einzig und allein
darauf verständigt, dass die Mittel für nationale und internationale Klimaschutzmaßnahmen genutzt werden.
Das ist nämlich bitter nötig.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Bevor der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt das Wort erhält, gibt es noch eine Kurzintervention der Kollegin Bulling-Schröter.
Ich darf vor allen Dingen die Kolleginnen und Kollegen, die sich liebenswürdigerweise im oberen Teil des
Plenarsaals eingefunden haben, darum bitten, von den
noch hinreichend vorhandenen Sitzmöglichkeiten Gebrauch zu machen, damit wir die Debatte geordnet zu
Ende führen können, bevor die namentliche Abstimmung stattfindet.
Bitte schön, Frau Kollegin.
Sehr geehrter Herr Minister, Sie haben zum wiederholten Male der Linken unterstellt, wir wollten Arbeitsplätze vernichten, weil wir gegen die Privilegierung der
Kohle sind und einen einheitlichen Benchmark wollen.
({0})
Ich möchte deshalb richtigstellen, dass wir keine Arbeitsplätze vernichten wollen. Im Gegenteil: Wir wollen
mehr und existenzsichernde Arbeitsplätze in dieser Republik. Wir wollen allerdings auch den Ausstieg aus der
Nutzung fossiler Rohstoffe. Dass er sozialverträglich erfolgen muss, steht, denke ich, außer Frage.
Ihre Unterstellung trifft insofern nicht zu. Speziell mir
persönlich können Sie nicht unterstellen, für die Vernichtung von Arbeitsplätzen einzutreten. Bevor ich in
den Bundestag gewählt wurde, war ich Betriebsrätin und
war auch in der Legislaturperiode 2002 bis 2005 wieder
drei Jahre im Betrieb. Ich kenne die Ängste der Menschen und weiß, was Hartz IV bewirkt.
Von daher müssen wir, denke ich, über Ausstiegsszenarien und über soziale Absicherung reden. Wie wir wissen, bauen die großen Konzerne zusätzlich Arbeitsplätze
ab. Dazu äußert sich die Bundesregierung nicht. Ich
kann Ihnen auch mitteilen, dass die Anzahl der Beschäftigten in den neuen Kohlekraftwerken nur noch bei
20 Prozent im Vergleich zu den alten Kohlekraftwerken
liegt.
Noch eines: Wenn sich diese Bundesregierung so um
die Arbeitsplätze schert, dann frage ich Sie, warum Sie
sich nicht mehr für die Arbeitsplätze bei der Telekom
einsetzen; denn der Bund verfügt doch über einen Anteil
von 30 Prozent.
({1})
Zur Beantwortung der Kurzintervention hat der Minister das Wort.
Frau Kollegin, nun haben Sie ja mit der Telekom wenigstens ein Thema gefunden, bei dem Sie die Diskussion einigermaßen überstehen können. Aber bei der
Kohle funktioniert das nicht. Ich meine, Sie müssten
über dieses Thema nicht mit mir diskutieren, sondern
eher mit Ihrem Kollegen Claus. Er vertritt in der Sache
eine realistische Position. Sie werden verstehen, dass es
nicht geht, dass wir auf der einen Seite vor Ort - zum
Teil im Einvernehmen mit den Abgeordneten Ihrer Fraktion, in diesem Fall mit Ihrem Kollegen Claus - die Probleme klären und Sie auf der anderen Seite im Deutschen Bundestag Forderungen stellen, die - wenn sie
erfüllt würden - uns vor Ort im Ergebnis überhaupt
keine Handlungsmöglichkeiten mehr geben würden.
({0})
Sie sind in dieser Frage doppelzüngig. Würden wir
das tun, was Sie wollen, dann würden wir in SachsenAnhalt über 1 000 Arbeitsplätze vernichten. Das ist die
Realität. Trauen Sie sich doch beim nächsten Mal, den
Beschäftigten vor Ort vorzurechnen, was die Durchsetzung Ihrer Forderung für sie bedeuten würde: Sie würde
nämlich die sofortige Arbeitslosigkeit für über
1 000 Menschen in Sachsen-Anhalt bedeuten. Das ist
Ihre Politik - darauf werden wir doch wohl hinweisen
dürfen.
({1})
Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist
der Kollege Dr. Georg Nüßlein von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Nach
dieser - wie ich meine - entlarvenden Rede unseres
Bundesumweltministers hätte man gute Lust, noch ein
bisschen mehr Salz in die zahlreichen Wunden aufseiten
der Linken und vielleicht auch an der einen oder anderen
Stelle aufseiten der Grünen zu streuen. Ich kann mir vorstellen, dass es schmerzt, wenn man Ihnen nachweisen
kann, dass Sie mit Ihrer Politik gerne zum Abbau von
Arbeitsplätzen in dieser Republik beitragen würden. Ich
kann mir auch vorstellen, dass es die Grünen nicht besonders freut, zu sehen, dass wir in allen klimarelevanten
und ressourcenschonenden Bereichen Schritt für Schritt
deutlich weiter vorankommen, als es zu der Zeit, als hier
noch ein grüner Umweltminister tätig war, der Fall war.
Meine Damen und Herren, nun gibt es einen breiten
Instrumentenkasten des EEG, das wir demnächst novellieren werden. Das Gleiche gilt für das Thema KWK.
Wir werden im Bereich der Gebäudesanierung feststellen, wie erfolgreich das ist, was wir ausgebaut haben.
Wir beschließen heute ein Instrument, das deutlich
komplexer ist, das aber doppelten Charme hat. Zum einen handelt es sich um ein marktorientiertes System.
Zum anderen ist es ein Instrument, das europäisch abgestimmt ist und so international wirken kann. Wenn ich
von einem marktorientierten System spreche, dann ist
für mich besonders entscheidend, wie dieser Markt funktioniert. Das ist die Erfolgsvoraussetzung für den Emissionshandel; da müssen wir gemeinsam noch etwas tun.
Dieses Instrument wird nur funktionieren, wie wir es uns
vorstellen, wenn wir letztendlich zu einem ausgewogenen Wettbewerb im Energiebereich kommen. Deshalb
sind die Initiativen unseres Bundeswirtschaftsministers
Michael Glos so wichtig und entscheidend.
({0})
Wenn ich sage, wir brauchen ein europäisch abgestimmtes und international wirksames Instrument, dann
bin ich der festen Überzeugung, dass das unsere einzige
Chance ist, im Klimawandel wirklich etwas zu bewegen.
Dieses Land emittiert 3,2 Prozent der klimarelevanten
Gase. China verzeichnet jedes Jahr einen höheren Zuwachs am CO2-Ausstoß, als wir in dieser Republik insgesamt CO2 emittieren. Wir müssen dafür Sorge tragen,
dass sich andere an uns ein Beispiel nehmen. Das tun sie
nur dann, wenn wir an dieser Stelle glaubwürdig vorankommen, also den CO2-Ausstoß bei uns tatsächlich reduzieren. Nur dann können wir von den Schwellen- und
Entwicklungsländern erwarten, dass sie auch etwas tun.
Und sie tun nur dann etwas, wenn wir zeigen, dass unter
diesen Umständen auch Wachstum möglich ist.
({1})
Zudem ist Fingerspitzengefühl bei dem, was wir hier tun
- wir greifen schließlich massiv in die Wirtschaft ein -,
ganz besonders wichtig.
Nun hat der Kollege Schwabe gesagt: Dieses Gesetz
trägt die Handschrift der SPD. Lieber Kollege, es kommt
nicht auf die Handschrift bzw. die äußere Form, sondern
auf den Inhalt an. Diesen haben wir in intensiven Verhandlungen gemeinsam erarbeitet. Wir sind insbesondere im Bereich des Mittelstandes - Stichwort „Härtefallregelung“ - zu einem recht guten Ergebnis
gekommen, das verhindern wird, dass Branchen aufgrund unserer Gesetze ins Ausland gehen und dort weiterhin CO2 emittieren. Das würde weder uns noch dem
Klima helfen.
({2})
Ich gebe zu, dass wir von der Union uns an der einen
oder anderen Stelle etwas mehr auf die Wirtschaft zubewegt hätten. Im Bereich der Braunkohle hätten wir
gerne eine angepasste Benchmark gesehen. Wir hätten
uns zudem vorstellen können, dass Neuanlagen, die auf
Basis der besten Technologie arbeiten, stärker privilegiert werden - schließlich geht es darum, die Ziele, die
man sich gesteckt hat, zu erreichen -, genauso wie
KWK-Anlagen. Aber ich sage ganz offen: Manchmal
ist es wichtig, nicht nur das Klima in dieser Republik,
sondern das Klima in der Großen Koalition zu schützen.
({3})
Heute wurde schon sehr viel über das Thema Versteigerung gesprochen. Natürlich geht es dabei darum,
Windfall-Profits und Mitnahmeeffekte zu verhindern.
Aber aus unserer Sicht geht es in erster Linie darum, auf
das vorbereitet zu sein, was kommt. Wenn es funktioniert, wird das Instrument des Emissionshandels nach
2012 auszubauen sein. Wir müssen daher wissen, was
auf uns zukommt. Es macht mehr Sinn, erst einmal
8,8 Prozent zu versteigern und sich anzuschauen, wie es
sich entwickelt, als ins kalte Wasser geworfen zu werden
und 100 Prozent zu versteigern, obwohl man die Effekte
noch gar nicht absehen kann.
({4})
Bei allem Vertrauen in das Bundesumweltministerium ist für uns im Hinblick auf das Verfahren entscheidend gewesen, dass nicht die administrative Seite das
Vorgehen per Verordnung festlegt. Der Deutsche Bundestag bleibt mit im Boot. Das haben wir erreicht. Das
ist für unsere Rolle als Parlamentarier wichtig.
({5})
Auch über die Mittel und ihre Verwendung wird das
Parlament entscheiden. So weit sind wir allerdings noch
nicht. Wir haben die Mittel erst einmal dem Haushalt des
Bundesumweltministeriums zugeordnet. Wenn ich eine
persönliche Bemerkung machen darf: Dorthin gehören
sie auch. Aber wir müssen sehr wohl darüber nachdenken, wie wir das Geld national und international, insbesondere in den Entwicklungsländern, so für den Klimaschutz einsetzen, dass in diesem Land und auf dieser
Erde wirklich etwas bewegt wird.
Vielen herzlichen Dank.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen zur
Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung der Rechtsgrundlagen zum Emissionshandel
im Hinblick auf die Zuteilungsperiode 2008 bis 2012.
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-
cherheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/5769, den Gesetzent-
wurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf
Drucksache 16/5240 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in die-
ser Fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? -
Das Erste war die Mehrheit. Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen hat hierzu namentliche Abstimmung beantragt.
Sind alle Urnen mit den Schriftführerinnen und Schrift-
führern besetzt? - Der Vorsitzende der SPD-Fraktion,
der die Situation übersieht, hat mir bestätigt, dass das so
sei. Dann eröffne ich hiermit die Abstimmung.
Ist noch jemand anwesend, der seine Stimmkarte
nicht abgegeben hat? - Kennt jemand jemanden, der
seine Stimmkarte nicht abgegeben hat? - Dann schließe
ich hiermit die Abstimmung und bitte die Schriftführe-
rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
nen. Das Ergebnis der Abstimmung werden wir Ihnen
mitteilen, sobald es vorliegt.
Ich weise darauf hin, dass es zahlreiche persönliche
Erklärungen zur Abstimmung gibt, die zu Protokoll ge-
nommen werden.1)
Wir setzen nun die Abstimmungen zu diesem gerade
behandelten Thema fort. Dazu wäre es gut, wenn diejenigen, die an diesen Abstimmungen teilnehmen möchten, sich auf ihre Plätze begeben.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
16/5781. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Das Zweite
war fraglos die Mehrheit. Der Entschließungsantrag ist
abgelehnt.
({0})
1) Anlagen 2 bis 6
Präsident Dr. Norbert Lammert
- Ich habe nichts Gegenteiliges behauptet. Ich habe festgestellt, dass der Antrag zweifellos keine Mehrheit gefunden hat.
({1})
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5769, den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/5617
zur Änderung der Rechtsgrundlagen zum Emissionshan-
del im Hinblick auf die Zuteilungsperiode 2008 bis 2012
für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich
der Stimme? - Dies ist einstimmig angenommen. Damit
können wir diesen Tagesordnungspunkt abschließen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a bis 26 e auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({2}) zu der Unter-
richtung durch die Bundesregierung
Siebter Familienbericht
Familie zwischen Flexibilität und Verlässlich-
keit - Perspektiven für eine lebenslaufbezo-
gene Familienpolitik und Stellungnahme der
Bundesregierung
- Drucksachen 16/1360, 16/4211 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Paul Lehrieder
Caren Marks
Jörn Wunderlich
Ekin Deligöz
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({3})
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung
Bericht der Bundesregierung über den
Stand des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes
Angebot an Kindertagesbetreuung für Kin-
der unter drei Jahren 2006
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordne-
ten Ina Lenke, Sibylle Laurischk, Miriam Gruß,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP zu der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Bericht der Bundesregierung über den
Stand des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes
Angebot an Kindertagesbetreuung für Kin-
der unter drei Jahren 2006
- zu dem Antrag der Abgeordneten Diana Golze,
Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der LINKEN
Kindertagesbetreuung für Kleinstkinder so-
fort ausbauen und Qualität verbessern
- Drucksachen 16/2250, 16/4443, 16/4412,
16/5397 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ingrid Fischbach
Caren Marks
Diana Golze
Ekin Deligöz
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({4})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara
Höll, Dr. Axel Troost, Werner Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Elternbeitragsfreie Kinderbetreuung ausbauen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ekin
Deligöz, Volker Beck ({5}), Grietje Bettin,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Leben und Arbeiten mit Kindern möglich
machen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ekin
Deligöz, Krista Sager, Kai Gehring, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN
Kinder fördern und Vereinbarkeit von Be-
ruf und Familie stärken - Rechtsanspruch
auf Kindertagesbetreuung ausweiten
- Drucksachen 16/453, 16/552, 16/1673, 16/3219 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Eva Möllring
Caren Marks
Diana Golze
Ekin Deligöz
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ekin
Deligöz, Christine Scheel, Volker Beck ({6}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Verbindlichen Ausbau der Kindertagesbetreuung jetzt regeln - Verlässlichkeit für Familien
schaffen
- Drucksache 16/5426 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({7})
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina
Lenke, Carl-Ludwig Thiele, Sibylle Laurischk,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Sofortprogramm für mehr Kinderbetreuung
- Drucksache 16/5114 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({8})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Präsident Dr. Norbert Lammert
Zum Siebten Familienbericht liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP sowie der Fraktion
Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Aussprache eine Stunde andauern. - Dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann haben wir das so
vereinbart.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Bundesministerin Frau Dr. Ursula von der Leyen.
({9})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden
heute über den Siebten Familienbericht und über einen
Bericht zum Stand des Ausbaus der Kinderbetreuung
aus dem Jahr 2006. Zu Letzterem kann man zusammengefasst sagen: Der Fortschritt beim Ausbau der Kinderbetreuung
({0})
war zu diesem Zeitpunkt eine Schnecke. Von 2005 bis
2006 ist das Verhältnis von Plätzen zu Kindern, die die
Plätze in Anspruch nehmen können, gestiegen. Ja, das
Verhältnis ist besser geworden, aber nur um magere
0,7 Prozentpunkte. Es zeichnet sich schon ab, dass es im
Folgejahr nur einen Zuwachs von rund 1,3 Prozentpunkten geben wird. Damit liegen die Angebote in den westlichen Bundesländern immer noch bei unter 10 Prozent.
Das heißt, nicht einmal jedes zehnte Kind hat ein Angebot für einen Tagesmutterplatz, für eine altersgemischte
Gruppe in einer Kita oder für einen Krippenplatz. Ich
denke, diese Dynamik reicht bei Weitem nicht. Wenn
wir so weitermachen würden, dann wären wir vielleicht
in einem Vierteljahrhundert so weit, dass für ein Drittel
der Kinder und ihre Eltern, die Plätze suchen, überhaupt
ein Angebot vorhanden wäre. Das muss schneller gehen.
Sie wissen, was inzwischen vereinbart worden ist. Von
2008 an wird der Bund gemeinsam mit den Ländern und
Kommunen schneller und mehr Plätze in Kindertagesstätten und bei Tagesmüttern schaffen. Wir wollen gemeinsam, dass 2013 bereits für ein Drittel der Kinder ein
Angebot vorhanden ist. Der Bund beteiligt sich bis 2013
mit 4 Milliarden Euro und übernimmt auch über 2013
hinaus verlässlich finanzielle Mitverantwortung.
Damit sind wir schon bei dem großen Thema des
Siebten Familienberichts, nämlich dem Thema Zeit. Das
Thema Zeit zieht sich wie ein roter Faden durch den
Siebten Familienbericht, Zeit sowohl im Alltag der Familie als auch Zeit für Familie und Zeit für gute Arbeit,
aber auch Zeit im Lebensverlauf. Angesichts der aktuellen Diskussion warne ich davor, Familie in unseren Debatten wieder in ein ganz starres Schema zu packen,
nach dem Motto: Einmal mit den Kindern zu Hause, immer zu Hause; einmal mit Kindern erwerbstätig, immer
erwerbstätig; einmal Pflege zu Hause, immer zu Hause.
So ist das Leben eben nicht. Die Wirklichkeit ist wechselvoller, und daran sollten wir uns orientieren.
Deshalb geht es im Siebten Familienbericht vor allem
darum, die Übergänge von einer Lebensphase zur
nächsten möglich zu machen. Ob jemand mit einem
zweijährigen Kind oder mit einem zwölfjährigen Kind
einen neuen Job antreten will, die Probleme sind nicht
anders. Sie sind als Schnittstellenprobleme da, und sie
sind nicht weniger. Wir müssen uns darum kümmern,
dass diese Übergänge für Familien lebbar sind. Dasselbe
gilt, wenn erwachsene Kinder merken, dass ihre alten Eltern nicht mehr alleine zu Hause zurechtkommen und
dass Pflege und Betreuung der alten Eltern zu Hause auf
sie zukommt. Auch hier muss es so sein, dass dies nicht
zum Lebensbruch für die Tochter oder für den Sohn führen darf. Deshalb sagt der Siebte Familienbericht auch
so deutlich, dass ein Mix an Maßnahmen notwendig ist:
Es bedarf einer unterstützenden Infrastruktur, eines Netzes der Hilfe für die Alltagszeit und die Arbeitszeit, und
es bedarf finanzieller Mittel, die gezielt für diese Übergänge zur Verfügung gestellt werden. Deshalb also ein
Elterngeld und die Partnermonate, deshalb die bessere
steuerliche Förderung der haushaltsnahen Dienstleistungen.
In genau das gleiche Thema fallen sowohl der Ausbau
der Kinderbetreuung als auch der Ausbau zum Beispiel
der Pflegestützpunkte, der ambulanten Pflegedienste
oder einer Pflegezeit. Genauso wichtig sind deshalb
auch die Allianzen mit der Wirtschaft, um verlässliche
Zeit für Familie und verlässliche Zeit für die mittlere Generation für gute innovative Arbeit möglich zu machen.
In den letzten zwei Tagen wurde in den Schlagzeilen
zunächst das Szenario gezeichnet, dass zu wenig junge
Menschen in Deutschland akademisch ausgebildet werden. Am Tag danach war die Mahnung der Bundesbildungsministerin zu lesen, dass es zu wenige Ingenieurinnen und Ingenieure in Deutschland gibt. Wir müssen das
auch weiter denken und uns klarmachen, dass hinter den
Fachberufen natürlich auch Familienleben steht. Wir
dürfen nicht nur die Forderung nach besserer Ausbildung in unser Land stellen, sondern wir müssen uns auch
darum kümmern, dass diese Ausbildung später nicht nur
umgesetzt werden kann, sondern dass sie auch mit Kindern, mit älteren Angehörigen gelebt werden kann. Dafür ist entscheidend, dass wir uns um die Übergänge im
Leben kümmern.
({1})
In einer Zeit wie im Augenblick, in der sich so viel für
das Thema Familie bewegt, in der wir so hochspannende, elektrisierende Debatten um dieses große gesellschaftspolitische Thema haben, sollten wir die Gunst der
Stunde nutzen, offen zu sein, neue Wege zu denken und
neue Modelle im Kopf und in der Wirklichkeit zuzulassen. Warum sollten wir uns nicht einmal Hamburgs System der Gutscheine näher anschauen?
({2})
Wenn man sich das einmal näher anschaut, dann sieht
man, dass da Angebote von zwei bis zwölf Stunden
möglich sind.
({3})
Da kann man Kinderbetreuung für einen Vormittag oder
drei Nachmittage oder fünf Werktage finden.
({4})
Da entscheidet auch nicht irgendjemand in der Kommune, welches Angebot es gibt - jeder kennt es aus seinem eigenen Dorf: für die Zeit von acht bis zwölf ist ein
Angebot da; friss oder stirb -, sondern die Eltern entscheiden, was sie an Bildungsangeboten für ihre Kinder
brauchen, welche Zeitkontingente sie brauchen und vor
allem, zu welcher Tagesmutter oder zu welchem Kindergarten sie die Bildungsgutscheine bringen wollen.
Das hat zu einer unglaublich großen Vielfalt im Angebot und im Wettbewerb um Qualität geführt. Wettbewerb um die beste Qualität in der Kinderbetreuung, das
beste Netz, das, meine Damen und Herren, muss doch
unser Ziel sein.
({5})
Ich bitte, auch noch einmal Folgendes zu bedenken:
Wenn behauptet wird, das sei kompliziert, dann kann
man ganz klar erwidern, dass das im 21. Jahrhundert genauso unkompliziert möglich ist, wie jede Bonuskarte
in einem Kaufhaus abgerechnet wird, wie bei jedem
Tanken an der Tankstelle, wenn man zum Bezahlen die
Chipkarte durch das Lesegerät zieht, an einer anderen
Stelle abgerechnet wird. Das passiert jeden Tag tausendfach in Deutschland. Deshalb sollte man nicht suggerieren, es wäre komplizierter als das, was uns die Wirklichkeit jeden Tag in Deutschland schon zeigt.
({6})
Das Einzige, worum ich bitte, ist Folgendes: In dieser
Zeit, in der die Fenster der Möglichkeiten wirklich weit
geöffnet sind, in der es darum geht, anzunehmen, Neues
zu denken und Offenheit zuzulassen, in dieser Zeit, in
der sich jetzt so viel bewegt, sollten wir auch einmal Innovatives ausprobieren, prüfen und nicht gleich die Tür
zuschlagen. Es geht darum, das Bild, das ich eben mit
der Flexibilität in der Kinderbetreuung gezeichnet habe,
in das große Bild des Siebten Familienberichts zu übertragen, nämlich zu sagen: Es müssen Möglichkeiten für
die Übergänge, die Beweglichkeit und die Schnittstellen mit Kindern und mit älteren Angehörigen für die
mittlere Generation geschaffen werden, damit sie entlastet wird und Zeit für ihre Familie findet. Auf diesem Gebiet politisch die Rahmenbedingungen zu gestalten, ist
die Aufgabe, die wir im Augenblick zu bewältigen haben. Dahinter stehen die Menschen, und das wollen wir
fördern.
Ja, wir können es schaffen, wenn wir langfristig Verantwortung für andere übernehmen. Das ist der Grundgedanke einer Familiengründung. Wir sollten uns in der
Welt, wie sie ist, einsetzen, zum Beispiel dafür, Kinder
zu haben oder treu zu denjenigen zu stehen, die uns den
Weg ins Leben geebnet haben. Entscheidend ist das
Grundgefühl, dass die Gesellschaft hinter einem steht
und dass dadurch bestimmte Möglichkeiten geschaffen
werden.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dr. Seifert?
Gerne.
Frau Ministerin, Sie sprechen die ganze Zeit davon,
wie wichtig die Übergänge in bestimmten Lebensphasen
sind. Das will ich nicht in Abrede stellen. Dennoch hätte
ich mir erhofft, dass Sie in Ihrer Rede einige Sätze zur
Lage von Menschen sagen, die ihr ganzes Leben lang
schwierige Situationen zu bewältigen haben. Ich denke
zum Beispiel an Menschen mit Behinderungen, die in
einer Familie leben, oder an behinderte Eltern, die bei
der Betreuung ihrer nichtbehinderten Kinder Elternassistenz brauchen. Auch Ihr Familienbericht nimmt dazu
keine Stellung. Wenn wir Inklusion wirklich wollen,
dann müsste dieses Thema in einer so wichtigen Rede
wie der, die Sie hier halten, eine Rolle spielen. Können
Sie dazu vielleicht noch ein paar Sätze sagen?
Das möchte ich gerne. Als Sozialministerin eines
Bundeslandes war ich unter anderem für Menschen mit
Behinderungen zuständig. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Eltern mit behinderten Kindern oder behinderte Eltern mit Kindern elementar darauf angewiesen
sind, dass die Gesellschaft den Alltag durch eine unterstützende Infrastruktur, durch helfende Netzwerke - darüber reden wir - erleichtert. Für Kinder, an deren Betreuung besondere Anforderungen zu stellen sind, muss
es entsprechende Einrichtungen, zum Beispiel Schulen,
geben. Für Eltern mit Behinderung muss es Angebote
wie Netzwerke, Fahrdienste, besondere Ferien mit den
eigenen Kindern und besondere, in die Familien kommende Hilfsdienste geben. Es geht darum, Unterstützung
dieser Art zu gewährleisten.
Ich erinnere mich sehr gut daran, wie stark das Bestreben des Landes Niedersachsen - zu Recht - gewesen
ist, bestimmte ambulante Dienste auszubauen. Diese
ambulanten Dienste gehen in die Familien - in Familien
mit Menschen mit Behinderungen, seien es die Eltern
oder seien es die Kinder, wird Großartiges geleistet -,
um das Leben zu erleichtern und dafür zu sorgen, dass
kein Familienmitglied aufgrund der Fürsorge für andere
auf ein eigenes Leben völlig verzichten muss. Es geht
um die Schaffung eines Übergangs in ein eigenständiges
Leben und dabei - das ist das Wichtigste - Verantwortung für andere zu übernehmen. Das schafft keiner ganz
allein. Wer das versucht, zerbricht an diesen großen Aufgaben.
Die Aufgabe des Staates und der Gesellschaft besteht
darin, so zu helfen, dass das Zusammenleben in der Familie möglich ist. Notwendig ist dabei die Hilfe von außen durch ambulante Dienste, und zwar im weitesten
Sinne.
Dem liegt im Prinzip das gleiche Gedankenmodell
zugrunde wie der Kinderbetreuung, der Unterstützung
junger Familien und den ambulanten Dienste in der
Pflege. Ich denke an die Pflegestützpunkte, also an die
Unterstützung der pflegenden Familie zu Hause. Der
Grundgedanke ist: Niemand wird alleingelassen. Man
denke an diejenigen, die mitten im Leben mit solchen
Aufgaben konfrontiert werden. Übergänge müssen möglich sein, weil die Gesellschaft geschlossen will, dass
Unterstützung geleistet wird.
({0})
Wir alle wissen, dass die Uhr des demografischen
Wandels tickt. Aber mit dem Blick auf das, was wir in
den vergangenen Jahren erreicht haben, können wir
heute durchaus sagen: Die Zeit ist günstig; sie arbeitet in
unserem Land im Augenblick für die Familien.
Vielen Dank.
({1})
Bevor wir die Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt
fortsetzen, gebe ich das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD zum Emissionshandel im
Hinblick auf die Zuteilungsperiode 2008 bis 2012
- Drucksachen 16/5240 und 16/5769 - bekannt: Abgegebene Stimmen 546. Mit Ja haben gestimmt 360, mit
Nein haben gestimmt 180, und enthalten haben sich
sechs Kolleginnen und Kollegen. Damit ist der Gesetzentwurf angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 546;
davon
ja: 360
nein: 180
enthalten: 6
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Albach
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Dr. Wolf Bauer
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Clemens Binninger
Carl-Eduard von Bismarck
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({1})
Wolfgang Bosbach
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Georg Fahrenschon
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({2})
Dirk Fischer ({3})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({4})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Ralf Göbel
Dr. Reinhard Göhner
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Olav Gutting
Holger Haibach
Gerda Hasselfeldt
Ursula Heinen
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Peter Hintze
Klaus Hofbauer
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({5})
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Kristina Köhler ({6})
Norbert Königshofen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Hermann Kues
Dr. Max Lehmer
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Stephan Mayer ({7})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Laurenz Meyer ({8})
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Eva Möllring
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Hildegard Müller
Carsten Müller
({9})
Stefan Müller ({10})
Bernward Müller ({11})
Bernd Neumann ({12})
Michaela Noll
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Dr. Peter Paziorek
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({13})
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Johannes Röring
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht ({14})
Anita Schäfer ({15})
Hartmut Schauerte
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({16})
Andreas Schmidt ({17})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Kurt Segner
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Jens Spahn
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Thomas Strobl ({18})
Lena Strothmann
Hans Peter Thul
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Volkmar Uwe Vogel
Marcus Weinberg
Peter Weiß ({19})
Ingo Wellenreuther
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Präsident Dr. Norbert Lammert
SPD
Dr. Lale Akgün
Gregor Amann
Gerd Andres
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr ({20})
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Petra Bierwirth
Lothar Binding ({21})
Volker Blumentritt
Kurt Bodewig
Clemens Bollen
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({22})
Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Karl Diller
Martin Dörmann
Dr. Carl-Christian Dressel
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Peter Friedrich
Martin Gerster
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({23})
Monika Griefahn
Achim Großmann
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
({24})
Hubertus Heil
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({25})
Gerd Höfer
Iris Hoffmann ({26})
Frank Hofmann ({27})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Johannes Jung ({28})
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Dr. h. c. Susanne Kastner
Christian Kleiminger
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Volker Kröning
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Angelika Krüger-Leißner
Jürgen Kucharczyk
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange ({29})
Dr. Karl Lauterbach
Waltraud Lehn
Helga Lopez
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Caren Marks
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Petra Merkel ({30})
Dr. Matthias Miersch
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller ({31})
Michael Müller ({32})
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Joachim Poß
Christoph Pries
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Maik Reichel
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel RiemannHanewinckel
Walter Riester
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({33})
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
({34})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({35})
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Marianne Schieder
Otto Schily
Ulla Schmidt ({36})
Renate Schmidt ({37})
Heinz Schmitt ({38})
Olaf Scholz
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({39})
Ewald Schurer
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Dieter Steinecke
Andreas Steppuhn
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Dr. Rainer Tabillion
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Jörn Thießen
Rüdiger Veit
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Gert Weisskirchen
({40})
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Dr. Wolfgang Wodarg
Waltraud Wolff
({41})
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
Nein
CDU/CSU
Günter Baumann
Veronika Bellmann
Klaus Brähmig
Axel E. Fischer ({42})
Hermann Gröhe
Uda Carmen Freia Heller
Bernd Heynemann
Robert Hochbaum
Susanne Jaffke
Dr. Peter Jahr
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Michael Kretschmer
Johann-Henrich
Krummacher
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Michael Luther
Maria Michalk
Ulrich Petzold
Hermann-Josef Scharf
Karl Schiewerling
Michael Stübgen
Arnold Vaatz
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Gerald Weiß ({43})
Willi Zylajew
SPD
Rainer Fornahl
Dieter Grasedieck
Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Stephan Hilsberg
Ernst Kranz
Steffen Reiche ({44})
Silvia Schmidt ({45})
Reinhard Schultz
({46})
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Gunter Weißgerber
Engelbert Wistuba
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Daniel Bahr ({47})
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({48})
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Joachim Günther ({49})
Präsident Dr. Norbert Lammert
Dr. Christel Happach-Kasan
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Dr. Heinrich L. Kolb
Hellmut Königshaus
Jürgen Koppelin
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Michael Link ({50})
Horst Meierhofer
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg Rohde
Frank Schäffler
Dr. Konrad Schily
Marina Schuster
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Christoph Waitz
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({51})
Martin Zeil
DIE LINKE
Karin Binder
Dr. Martina Bunge
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Lutz Heilmann
Hans-Kurt Hill
Cornelia Hirsch
Inge Höger
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Monika Knoche
Jan Korte
Katrin Kunert
Oskar Lafontaine
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Kornelia Möller
Kersten Naumann
Dr. Norman Paech
Elke Reinke
Paul Schäfer ({52})
Volker Schneider
({53})
Dr. Petra Sitte
Frank Spieth
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({54})
Volker Beck ({55})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Grietje Bettin
Alexander Bonde
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Anja Hajduk
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Priska Hinz ({56})
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Sylvia Kotting-Uhl
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({57})
Monika Lazar
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({58})
Winfried Nachtwei
Omid Nouripour
Brigitte Pothmer
Elisabeth Scharfenberg
Irmingard Schewe-Gerigk
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Margareta Wolf ({59})
Fraktionslose Abgeordnete
Henry Nitzsche
Gert Winkelmeier
Enthaltung
CDU/CSU
Monika Grütters
Peter Rzepka
Ingo Schmitt ({60})
Kai Wegner
Karl-Georg Wellmann
SPD
Iris Gleicke
Wir setzen nun die Debatte fort. Nächste Rednerin ist
die Kollegin Ina Lenke für die FDP-Fraktion.
({61})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, weniger an Pathos und mehr an Gesamtkonzeption der Bundesregierung hätte ich von Ihnen erwartet.
({0})
Es geht Ihnen hier nur um den Familienbericht. Aber es
gibt weitere Fragen: Wie wird finanziert? Wie wird organisiert? Dazu habe ich heute wie schon in den letzten
Wochen weiter nichts als Ankündigungen gehört. Sie
können das gut verkaufen, aber wir brauchen auch
Substanz. Die Opposition erwartet wirkliche Konzepte.
({1})
Die Fakten im Siebten Familienbericht sind eindeutig.
Familien brauchen verlässliche Strukturen, eine auf das
Wohl der Kinder ausgerichtete Politik und endlich die
bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Wir wissen, es gibt großen Nachholbedarf, was die Vereinbarkeit
anbelangt.
Gerade meldet das Statistische Bundesamt: Nur
6,5 Prozent der unter Dreijährigen haben eine Ganztagsbetreuung. Wir sind uns im Bundestag doch einig: Wir
wollen dafür sorgen, dass das besser wird. Aber bei Ihnen fehlen wirklich noch die Gesamtkonzepte. Sie
streiten sich. Seit Monaten lesen wir in der Presse substanzlose Wasserstandsmeldungen. Erst hat Frau von der
Leyen 3 Milliarden Euro versprochen; jetzt sind es
4 Milliarden Euro. Die Krönung, Frau von der Leyen, ist
der Vorschlag zur Einrichtung einer Krippenstiftung.
Dazu haben Sie sich überhaupt nicht geäußert. Damit
würden Sie Kommunen, die individuelle Betreuungslösungen vor Ort umsetzen wollen, entmündigen.
({2})
Auch von dem SPD-Finanzierungsvorschlag hören wir
überhaupt nichts mehr. Hier sollen Familien Familien finanzieren. Auch das findet nicht die Zustimmung der
FDP.
Einige Ministerpräsidenten wollen statt des Betreuungsgutscheins den Familien mehr Geld zur Verfügung
stellen. Dem haben wir als FDP auf dem Bundesparteitag gerade eine klare Absage erteilt.
({3})
- Wir haben uns damit überhaupt nicht schwergetan. Wir
Frauen haben mit unseren Männern zusammengestanden. Es hat eine klare Mehrheit gegeben. Wären Sie auf
dem Parteitag gewesen, Frau Humme, hätten Sie gesehen, dass nur 20 von 600 Stimmen für die CSU-Lösung
waren.
({4})
Zu dem Vorschlag, zusätzlich Geld an Familien zu geben, muss ich sagen - damit kann ich, glaube ich, zumindest die weiblichen Abgeordneten von SPD und CDU/
CSU ansprechen -: Viele Kinder gehen trotz 154 Euro
Kindergeld im Monat - bei der Sozialhilfe sind es
204 Euro - ohne Frühstück aus dem Haus, und die Eltern
haben angeblich kein Geld für das warme Mittagessen in
der Schule. Das zeigt doch, dass das Geld über Bildungsgutscheine den Kindern zur Verfügung gestellt
werden muss und nicht den Eltern gegeben werden darf.
({5})
Meine Damen und Herren, die Zeit drängt. Am Ende
des Jahres läuft für viele Paare das Elterngeld aus.
Dann, Frau von der Leyen, fehlt die Anschlussbetreuung. Ihre Strategie - das muss ich leider sagen - ist nicht
aufgegangen. Solange Sie die Eltern nach Ende des einjährigen Elterngeldes - das tritt ab dem 1. Januar 2008
ein - im Regen stehen lassen und keine gesicherte Betreuung da ist,
({6})
ist das Elterngeld wirklich nur ein nettes Starterpaket.
Ich habe mich darüber gefreut, dass Sie heute endlich
einmal auch über Hamburg gesprochen haben. Sie wissen, dass die CDU-FDP-Koalition in Hamburg an dem
Kinderbetreuungsgutschein gescheitert ist, weil die
CDU Herrn Lange nachher kein Geld gegeben hat. Dass
Frau Schnieber-Jastram dieses Konzept jetzt weiterentwickelt hat, auch im Sinne der FDP, finde ich sehr gut.
Ich hoffe, dass Sie daraus Ihre Schlüsse ziehen und auch
endlich dafür werben, dass mehr Kita-GmbHs und mehr
privat-gewerbliche Angebote neben die staatliche Kinderbetreuung treten. Es gehört meines Erachtens zur
Politik einer Familienministerin, ganz klar für solche
marktwirtschaftlichen Konzepte einzustehen.
({7})
Das Zauberwort heißt: Bildungs- und Betreuungsgutschein für jedes Kind unter sechs Jahren. Damit kann die
starke Nachfrage nach mehr Kinderbetreuung schneller
und besser befriedigt werden. Sie haben gerade gesagt,
dass es heute gar nicht möglich ist, ein Kind einmal nur
zwei Tage statt fünf Tage in die Krippe zu geben; jedenfalls muss man dann für fünf Tage zahlen.
({8})
Das ist nicht in Ordnung. Darüber bin ich mit Ihnen
einig. Legen Sie von SPD und CDU/CSU vor der
Sommerpause des Parlaments also endlich ein Gesamtkonzept vor! Dazu gehören auch der Kinderbetreuungsgutschein und eine vernünftige Finanzierung.
({9})
Die FDP - das will ich sehr deutlich sagen - hat bereits ihr Kinderbetreuungskonzept vorgelegt. Mit einem
Sofortprogramm wollen wir mit einem höheren Anteil
aus den Mehrwertsteuereinnahmen, 1,5 Milliarden Euro
jährlich, die Gemeinden direkt unterstützen, denn die
müssen ja die Kinderbetreuung organisieren. Weder die
Länder noch über die Krippenstiftung den Bund wollen
wir mit drin haben. Unser Konzept ist verfassungsrechtlich einwandfrei, weil es schon jetzt mit den 2,2 Prozent
läuft.
Die FDP will, dass privat-gewerbliche Einrichtungen,
Elterninitiativen, Betriebskitas und -krippen mehr Luft
zum Atmen haben. In Frankfurt, Hamburg und in vielen
kleineren Orten läuft es mit der Kita-GmbH ganz gut.
Das hat sich bewährt. Das fordern wir.
Frau von der Leyen, Ihre Aufgabe ist es also, bessere
Rahmenbedingungen im Bund und mit den Ländern zusammen für diese Einrichtungen zu organisieren und den
Kinderbetreuungsgutschein hoffähig zu machen. Ergebnis werden flexiblere Öffnungszeiten sowie bessere und
unterschiedliche Bildungsangebote sein. Die Verkäuferin und die Krankenschwester brauchen ebenfalls unsere
Unterstützung für die Betreuung am Wochenende und in
den langen Schulferien. Sie haben nur über den Siebten
Familienbericht gesprochen, ich über alle Anträge der
Opposition.
Der Familienbericht - das ist mein letzter Satz - zeigt
auf, wie eine neue Balance zwischen Erwerbstätigkeit
und Fürsorge für die Familie gelingen kann.
Meine Damen und Herren - klatschen Sie mit mir -:
Kinderlärm ist Zukunftsmusik!
({10})
Ich erteile das Wort der Kollegin Nicolette Kressl,
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Lenke, für den letzten Satz hätte ich
gerne geklatscht,
({0})
aber man kann ja nicht für einen Satz alleine klatschen.
Für den Rest klatschen wir ausdrücklich nicht.
({1})
Heute wollen wir nicht nur über Einzelfragen im Bereich der Familienpolitik, sondern über den Familienbericht insgesamt diskutieren. Hierbei bietet sich die Gelegenheit, miteinander zu überlegen, was Familien
brauchen. Dafür kann es eigentlich nur zwei Maßstäbe
geben, zum einen den Maßstab, dass Rahmenbedingungen für Frauen und Männer in Deutschland so entwickelt
und ausgebaut werden müssen, dass sie sich für Kinder
entscheiden und ihren Kinderwunsch tatsächlich erfülNicolette Kressl
len können. Der zweite Maßstab kann nur sein: Wir müssen Kindern Rahmenbedingungen geben, damit sie auf
der einen Seite Sicherheit und auf der anderen Seite allerbeste Entwicklungschancen für sich selbst haben.
Denn wir sind davon überzeugt - das sind wir sicherlich
alle -: Jedes Kind ist einzigartig. Jedes Kind verfügt
über ganz individuelle Talente und Fähigkeiten. Unsere
Aufgabe ist, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen,
dass sich diese Talente entwickeln können.
({2})
In den letzten Jahren ist viel passiert, zum einen in der
gesellschaftlichen Realität. Familien haben sich viel
schneller verändert, entwickelt, als manche, die in der
Politik sind, es wahrhaben wollten. Es hat sich Gott sei
Dank aber auch viel im gesellschaftlichen Bewusstsein
verändert. Ich bin der Überzeugung, dass eine politische
Debatte dies unterstützen kann. Darüber hinaus hat sich
in den politischen Handlungen viel verändert. Hier erinnere ich an das Ganztagsschulprogramm und das Gesetz
zum Ausbau der Betreuung für unter Dreijährige, wodurch hinsichtlich der Infrastruktur und der Entwicklungsmöglichkeiten für Kinder einige Veränderungen
auf den Weg gebracht wurden. Auf all diesen drei Feldern hat es Veränderungen gegeben.
Dennoch - der Familienbericht macht es wieder deutlich - gibt es immer noch Defizite. Es gibt Defizite in
der Geschwindigkeit - wir haben es gerade gehört -,
aber auch bezüglich der Frage, wie sozial gerecht die
Entwicklungschancen für Kinder sind. Hier muss man
natürlich auf die gerade neu veröffentlichte Studie des
Deutschen Studentenwerks hinweisen. Die Ergebnisse
finde ich bedenklich und bedrückend: Von 100 Akademikerkindern studieren 83, von 100 Nichtakademikerkindern studieren nur 23. Die Weichenstellung dafür erfolgt nicht im Alter von 18 oder 19 Jahren, sondern
bereits ab einem Jahr. Auch da haben wir eine Aufgabe.
({3})
Eine Erkenntnis aus dem Familienbericht ist auch:
Wir müssen Familienpolitik sehr viel mehr ganzheitlich
betrachten,
({4})
sowohl was die Lebensläufe als auch was die Vernetzung
und Zusammenarbeit der Beteiligten angeht. Das ist in
einem föderalen System zugegebenermaßen etwas
schwieriger als in zentralistischen Systemen. Es bedeutet
aber nicht, dass wir diese Aufgabe nicht lösen können;
es bedarf allerdings einer sehr großen Anstrengung.
Ich bin der Überzeugung, wir brauchen mehr Vernetzung vor Ort in den Familien selbst. Wichtig ist die
Frage: Wie groß ist die Chance, dass Kinder mit ihren
Eltern reden können? Aber auch die Vernetzung zwischen Kita und Schule muss in Deutschland noch verbessert werden. Das Gleiche gilt für die Vernetzung zwischen Eltern, Institutionen und Wirtschaft. Letztere will
ich hier ausdrücklich nicht ausnehmen. Ich finde, auch
die Unternehmen haben eine Verantwortung, denn sie
fordern schließlich Fachkräfte ein.
({5})
Außerdem brauchen wir eine bessere Vernetzung zwischen den föderalen Ebenen; auch da ist eine ganzheitliche Betrachtung gefragt. Ich halte es für ganz wichtig,
dass wir im Rahmen des Ausbaus der Infrastruktur in
Deutschland einfordern, dass die drei Ebenen, die im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe alle auch verfassungsrechtliche Kompetenzen haben, Abschottungstendenzen
aufgeben, sich zusammensetzen und überlegen, wie die
besten Rahmenbedingungen für Kinder und Familien auf
den Weg gebracht werden können.
({6})
Deshalb ist es richtig und gut, wenn auch nicht einfach, jetzt einen schnelleren Ausbau der Kinderbetreuung für unter Dreijährige zu fordern und diesen - das
sage ich ausdrücklich für uns Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten - mit einem Rechtsanspruch abzusichern,
({7})
nicht weil der Rechtsanspruch ein Zwangsinstrument
wäre, sondern weil er im Gegenteil ein flexibles Instrument ist, mit dem auch dort, wo nur ein niedriger Bedarf
vorhanden ist, gehandelt werden kann. Das ist das Gegenteil von Planwirtschaft. Dieses flexible Instrument
gibt - das ist ja ein Thema, das immer wieder angesprochen wird - Eltern und Kommunen Sicherheit. Das muss
im Sinne der Schaffung von optimalen Rahmenbedingungen ausdrücklich unser Ziel sein.
({8})
Ich halte dieses vernetzte Handeln für eine Schlüsselaufgabe in Deutschland. Sie bedarf durchaus einer gewissen Anstrengung; diese Anstrengung sind die Kinder
aber wert. Damit schaffen wir die Rahmenbedingungen,
die erforderlich sind, um den Eltern das zu ermöglichen,
was schon Johann Wolfgang von Goethe formuliert hat
- ich finde, das ist ein schönes Zitat zum Abschluss der
Rede -:
Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.
Es lohnt sich, dafür zu kämpfen.
Vielen Dank.
({9})
Ich erteile das Wort Kollegen Jörn Wunderlich, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Kinder und Familie - kaum ein politisches
Thema beschäftigt uns und die Öffentlichkeit in der letzten Zeit so sehr wie dieses. Noch vor wenigen Jahren
wurden familienpolitische Themen kaum behandelt, als
Gedöns abgetan und je nach Bedarf - quasi nach politischer Tageslage - auf die Tagesordnung gesetzt. Inzwischen ist Bewegung in die Familienpolitik gekommen,
und das ist gut so. Denn die gravierenden sozialen, ökonomischen und demografischen Prozesse zwingen die
Politik zum Handeln. Aus Sicht der Linken war das
schon längst überfällig.
Nun muss man natürlich hinterfragen: Entspricht die
eingeleitete Familienpolitik tatsächlich den veränderten
gesellschaftlichen Realitäten? Ist sie sozial gerecht, modern und zukunftsfähig? Was für mich noch viel wichtiger ist, ist die Frage: Was sind uns in diesem Zusammenhang Kinder wert?
Vor dem Hintergrund, dass Deutschland das Land mit
den sechsthöchsten Rüstungsausgaben im Jahr 2006 war
und beim Export von Rüstungsgütern weltweit an dritter
Stelle nach den USA und Russland steht, bei den sozialen Belangen aber letztlich um jeden Cent gefeilscht
wird, sind meine Fragen wohl mehr als berechtigt. Dies
alles erfüllt meine Fraktion mit großer Sorge.
Mit Selbstverständlichkeit greifen Sie mit Ihren politischen Konzepten Arbeitslosen, Kranken, Geringverdienern und Alleinerziehenden in die Tasche. Familienleistungen werden in der Regel durch die Familien selbst
gezahlt. Sie lassen immer wieder zu, dass in Deutschland
eine Umverteilung von unten nach oben stattfindet. Sie
lassen es zu, dass Armut in breiten Kreisen der Bevölkerung auf Jahre zementiert wird.
({0})
Ergebnis Ihrer verfehlten Politik der letzten Jahre ist
die falsch konzipierte Ausgestaltung des Sozialstaats.
Sie reden von einem vorsorgenden Sozialstaat. Wie irreführend! Wie lange noch, glauben Sie, werden Ihnen das
Ihre Wählerinnen und Wähler abnehmen? Ein vorsorgender Sozialstaat verlangt armutsfeste Konzepte und
nicht die Privatisierung der Lasten von Kindererziehung,
Pflege, Rente und Gesundheit.
({1})
All das machen Sie im Wissen darum, dass nahezu jede
Privatisierung die Preisgabe politischen Einflusses und
gesellschaftlicher Gestaltung bedeutet.
({2})
- Das ist so, Frau Lenke. - Wer in der Kommune, im Gemeinwesen privatisiert, hat über kurz oder lang nichts
mehr mitzuentscheiden. Das können wir aus linker Perspektive nicht akzeptieren.
({3})
Wir brauchen mehr soziale Gerechtigkeit, weil wir anders Hunger und Armut nicht überwinden können. Wir
brauchen keinen Reichtum für eine kleine Gruppe. Vielmehr sind wir angehalten, zum Wohl aller Menschen
Politik zu machen.
In unserem Entschließungsantrag zeigen wir Wege für
eine sozial gerechte Familienpolitik auf. Die Neuorientierung in der Familienpolitik muss aus unserer Sicht folgenden Anforderungen gerecht werden: Gesellschaftliche Solidarität für Familien bedeutet die Übernahme
öffentlicher Verantwortung. Kinder dürfen im Rahmen
der Familienpolitik keine nachgeordnete Rolle spielen
und nicht immer über die Familie definiert werden. Wir
brauchen eine Politik, die Kinder und Jugendliche als eigenständige Bevölkerungsgruppe mit einem eigenen Anspruch auf einen Anteil an den gesellschaftlichen Ressourcen behandelt.
({4})
Kinder haben Rechte, und diese Rechte sollen Verfassungsrang erhalten. Ich finde es schön, dass die Kinderkommission endlich einmal einen damit übereinstimmenden Antrag eingebracht hat,
({5})
auch wenn dies dem Herrn Singhammer nicht so recht
passt.
Ein verbesserter Schutz von Kindern vor Misshandlungen und Vernachlässigung ist durch ein Paket
aus unterstützenden Angeboten und vernetzten Hilfen zu
erreichen, die die Rahmenbedingungen für das Aufwachsen von Kindern letztlich nachhaltig verbessern.
Ausgangspunkt dafür ist die Vernetzung und Stärkung
der Orte, an denen sich Kinder aufhalten: von der Familie über die Kindertagesstätte und die Schule bis hin zum
Jugendhaus. Diskriminierung von Kindern und Familien mit Migrationshintergrund gehört in die Geschichtsbücher. Es darf keine Familien erster und zweiter Klasse mehr geben.
({6})
Wir wollen im Rahmen des Bildungsanspruchs die
Bereitstellung einer qualitativ hochwertigen, auf die Bedürfnisse von Kindern und Eltern - Herr Singhammer abgestimmten ganztägigen und beitragsfreien Kinderbetreuung als Rechtsanspruch. Das ist die wesentliche
Voraussetzung für die Vereinbarkeit von Familie und
Beruf für beide Elternteile. Hier müssen den Worten
endlich einmal Taten folgen. Nach Ihrer zweijährigen
Regierungszeit hat sich in dieser Hinsicht nicht viel bewegt.
Im Siebten Familienbericht wird festgestellt, dass
viele Eltern die Balance zwischen Familie und Erwerbsarbeit als unbefriedigend empfinden. Elternschaft zu leben und zugleich berufliche Integration, soziales oder
auch politisches Engagement zu verwirklichen, ist gerade für junge Eltern schwierig, aber auch sehr wichtig.
Deshalb benötigen wir in der Gesellschaft, insbesondere
in der Wirtschaft, ein neues Leitbild für gelebte Elternschaft, damit der Wunsch auf Kinder endlich wieder
Vorfahrt bekommt.
({7})
In unserem Entschließungsantrag fordern wir eine
Verkürzung der Arbeitszeiten; denn im Moment ist Teilzeitarbeit entweder ein Karrierekiller oder ein Armutsrisiko. Beides muss sich ändern. Väter und Mütter wollen
Beruf und Zeit für Familie; darauf muss sich vor allem
die Wirtschaft stärker einstellen. Aber auch der Gesetzgeber, also wir, sind gefragt:
({8})
Es müssen verstärkt familienbezogene Zeitrechte in
das Arbeits- und Sozialrecht integriert werden. Es muss
flexibler gestaltet und mit einem Arbeitsplatzrückkehrrecht ausgestattet sein. Eine Inanspruchnahme muss mit
entsprechender sozialer und materieller Absicherung
einhergehen.
Jetzt höre ich schon gedanklich die Rufe - noch ruft
aber keiner -: Wer soll das alles bezahlen? Die Linke
fordert und fordert!
({9})
Das ist ein Wolkenkuckucksheim! Es ist doch kein Geld
da!
({10})
Wenn man Finanz- und Wirtschaftsstudien Glauben
schenken darf, setzt Deutschland 43 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildungs- und Sozialleistungen ein.
Frankreich, Schweden, Finnland oder Dänemark geben
50 Prozent und mehr aus. Wer in der Politik auf Rüstung und Krieg setzt, dem fehlen natürlich die Mittel
für die Ausgestaltung des Sozialstaates, der entzieht den
wirklich Bedürftigen die Mittel; das ist doch nicht verwunderlich.
({11})
Ganz aktuell dazu: Der Haushaltsausschuss hat am Mittwoch die Beschaffung von vier weiteren Fregatten im
Wert von mehr als 2 Milliarden Euro bewilligt. Dafür
hätten ungefähr 1 700 Kindergärten gebaut werden können;
({12})
von den Steuergeschenken an die Unternehmen mal
ganz zu schweigen.
Noch Fragen? Sie werden nicht an Ihren Worten gemessen, sondern an Ihren Taten.
({13})
Das ist eine Forderung, die immer wieder aufkommt.
Frau Connemann ist nicht da. Sie hat in dieser Woche so
schön gesagt: Nicht an Ihren Worten, sondern an Ihren
Taten werden wir Sie messen. - Ich denke, das ist ein
Maßstab, der nicht nur an Frau Connemann, sondern
auch an ihre Fraktion und die Koalition angelegt werden
muss.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
- Herr Singhammer, jetzt treiben Sie es nicht zu weit.
Sonst bedauere ich noch, dass Herr Stoiber das Parlament verlassen hat.
Danke schön.
({15})
Ich erteile das Wort Kollegin Krista Sager, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Viele
junge Eltern möchten wissen, wann es endlich losgeht,
wann das Bundesprogramm zum Ausbau der Kinderbetreuung anläuft. Die Antwort darauf sind Sie bislang
schuldig geblieben. Keiner hat diese Frage beantwortet.
({0})
Den Anfang machten Sie, Frau Ministerin, im Februar. Seitdem sind schon einige Monate ins Land gegangen.
({1})
Im Mai gab es angeblich eine Verständigung in der Koalition. Und was ist jetzt? Still ruht der See! Nichts passiert!
({2})
Frau Ministerin, Sie haben es mit den Ihren sicherlich
nicht immer leicht. Die Ihren werden vielleicht sagen:
Wir mit ihr auch nicht. Jetzt ist es aber an der Zeit, dass
Sie endlich in die Puschen kommen; da hat Frau Lenke
recht. Das Elterngeld endet für viele in einem halben
Jahr. Die Uhr tickt. Da muss jetzt endlich etwas passieren.
({3})
Aber was passiert? Das Gezerre unter der großen
Koalitionsdecke geht munter weiter: Gezerre im Unionslager, Gezerre zwischen SPD und CDU. Das ist aber gar
kein Wunder: Aus dem zusammengestrickten Koalitionskompromiss hängen jede Menge lose Fäden raus;
an denen wird jetzt natürlich gezogen. Es gibt keine
klare Gegenfinanzierung und kein Konzept für eine verfassungskonforme Beteiligung des Bundes.
({4})
Es gibt äußerst windige Formulierungen zum Rechtsanspruch und äußerst widersprüchliche Meinungen: Will
man lieber den Ausbau der Kinderbetreuung voranbringen oder eine Prämie zahlen, wenn die Kinder nicht in
die Kinderbetreuung gehen?
({5})
Man hat den Eindruck, dass Sie inzwischen mehr lose
Fäden in der Hand haben als klare Vorstellungen.
Nun ist es ja die vornehmste Aufgabe einer guten Opposition, der Regierung aus ihrer Verwirrung zu helfen.
({6})
Das wollen wir gerne tun: Sie diskutieren im Moment
über ein Gutscheinsystem. Das ist im Prinzip vernünftig. Sie haben offensichtlich gemerkt, dass der Vorschlag
der grünen Oppositionsfraktion zur Kinderbetreuungskarte - das ist ja die gleiche Richtung - ganz pfiffig gewesen ist. Wozu kann ein Gutscheinsystem gut sein? Das
Geld des Bundes kann so über die Eltern tatsächlich in
die Kinderbetreuung gehen, und zwar verfassungskonform, was in diesem Land nicht so einfach ist. Es kann
ferner dazu beitragen, dass nicht nur die Länder profitieren, die beim Ausbau der Kinderbetreuung in der Vergangenheit besonders wenig gemacht haben, sondern im
Prinzip jeder Platz, der in Anspruch genommen wird,
gleich behandelt wird. Das Gutscheinsystem kann sicherstellen, dass das Geld des Bundes zielgenau in der
Kinderbetreuung landet. Das ist ganz gut.
Ich sage Ihnen aber auch: Vernünftig ist es nur, wenn
es mit einem Rechtsanspruch auf Betreuung und einer
guten Gegenfinanzierung verbunden wird.
({7})
Herr Kauder hat darüber philosophiert, dass die Eltern,
wenn sie Gutscheine haben, ihre Nachfragemacht in
Richtung mehr Qualität nutzen könnten. Das funktioniert aber nicht, wenn die Eltern um einen Gutschein
betteln müssen und froh sein müssen, wenn sie für ihren
Gutschein überhaupt irgendeinen Platz bekommen. Das
ist dann keine Qualitätsoffensive. Deswegen kann die
Bittstellerrolle der Eltern nur mit dem Rechtsanspruch
beseitigt werden.
Genauso verhält es sich mit der Gegenfinanzierung.
Wir haben vorgeschlagen, 5 Milliarden Euro aus den
20 Milliarden Euro für das Ehegattensplitting zu nehmen. Dadurch wäre die Bundesfinanzierung dauerhaft
gesichert. Sorgen Sie dann aber auch dafür, dass die Länder und die Kommunen Mehreinnahmen haben, sodass
auch sie ihren Beitrag zur Erhöhung der Qualität und zur
Senkung der Elternbeiträge leisten können. Sonst haben
die Eltern am Ende einen Bundesgutschein, aber immer
noch keinen guten und kostengünstigen Krippenplatz für
ihr Kind. Also: Gegenfinanzierung und Rechtsanspruch
sind zwingend erforderlich.
Schauen wir uns einmal die Erfahrungen in Hamburg an. Daraus kann man lernen, was schiefgeht, wenn
der Gutschein ein Mittel der Mangelverwaltung wird. In
Hamburg hat man den Gutschein an die Erwerbstätigkeit
beider Eltern gebunden. Wozu hat das geführt? Das hat
dazu geführt, dass zum Beispiel Kinder aus bildungsfernen Migrantenfamilien keinen Anspruch haben. Wenn
diese Kinder einen Ganztagsplatz hatten, hat man ihnen
den sogar weggenommen.
({8})
Familien, in denen beide Elternteile arbeitslos sind, haben natürlich auch keinen Anspruch. Das heißt, gerade
die Kinder, für die die frühe Förderung besonders wichtig ist, sind massenhaft durch den Rost gefallen. Mit
welchem Ergebnis? In Hamburg ist die Ganztagsbetreuung für Drei- bis Sechsjährige in den sozialen Brennpunkten von 2002 bis 2005 um ein Drittel zurückgegangen. In den sozialen Brennpunkten sind ein Drittel
weniger Kinder in Krippenplätzen als im übrigen Hamburg, weil man den Eltern eingeredet hat: Wenn die Mutter zu Hause ist, soll auch das Kind zu Hause sein.
In den Stadtteilen mit überwiegend sozial benachteiligter Bevölkerung bekommen 20 Prozent der Kinder
vor der Schule überhaupt keine Kinderbetreuung zu sehen. Das sind doppelt so viele wie im übrigen Hamburg.
Das heißt, die Versorgung in den Stadtteilen mit überwiegend armer Bevölkerung ist schlechter als in den
Stadtteilen mit reicher Bevölkerung. So darf man es
nicht machen. Denn es geht nicht um Unterbringung von
Kindern in Gebäuden, sondern um frühe Förderung.
({9})
In diesem Kontext ein Wort zur sogenannten Herdprämie. Die gut ausgebildeten jungen Mütter werden
sich ihre Berufstätigkeit mit einer Herdprämie nicht abkaufen lassen. Aber für eine bildungsferne Migrantenfamilie mit einem niedrigen Einkommen sind 150 Euro
im Monat eine Menge Geld. Es ist doch absurd, solchen
Familien zu sagen: Wenn ihr euer Kind nicht in die Kinderbetreuung gebt, dann kriegt ihr Geld, aber wenn ihr
euren Zweijährigen doch in die Kinderbetreuung geben
wollt, dann bekommt ihr kein Geld.
({10})
Das ist im Hinblick auf alle bildungspolitischen, sozialpolitischen und integrationspolitischen Ziele völlig absurd.
({11})
Herr Singhammer, ich glaube sogar, dass Sie es nicht
böse meinen. Sie sitzen in Ihrer bayerischen mittelständischen Familienidylle und wollen den CSU-Wählern
jetzt zeigen, dass die CSU für solche Familien ein Herz
hat. Aber Sie machen das auf Kosten der schwächsten
Kinder in diesem Land.
({12})
Sie kommen mir vor wie ein Kleingärtner, der darauf besteht, seinen Rasen weiter mit dem Wasserschlauch
sprengen zu dürfen, während nebenan das Haus brennt.
So kann man keine moderne Familienpolitik betreiben.
Ich finde es gut, dass die Frauen und die Familienpolitiker in der FDP sich durchgesetzt haben. Wir überschütten uns sonst nicht mit Komplimenten.
({13})
Ich kann nur hoffen, dass Sie, Frau von der Leyen, Ihren
Leuten diesen Unsinn auch noch austreiben werden.
({14})
Zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen
Singhammer das Wort.
Frau Kollegin Sager, nachdem Sie sich gerade so über
das Betreuungsgeld echauffiert haben, bitte ich freundlich um Kenntnisnahme folgender Zahlen und einen
Prozess des Nachdenkens. Gestern und heute kann man
beispielsweise in einer veröffentlichten Umfrage nachlesen - sie wurde nicht vom „Bayernkurier“ durchgeführt,
({0})
sondern von Forsa und der „Abendzeitung“ -, dass
70 Prozent - genaugenommen 71 Prozent - der Befragten gesagt haben, dass sie das Betreuungsgeld wollen,
dass sie es brauchen und dass sie es als Ausgleich der
unterschiedlichen Familienmodelle wünschen.
({1})
Diesem Wunsch und Willen einer ganz großen Mehrheit
der Menschen in Deutschland wollen wir entsprechen,
weil wir davon überzeugt sind, dass das richtig ist.
({2})
Wenn Sie sich an einer Partei, die seit vielen Jahrzehnten
über 50 Prozent der Stimmen erhält, orientieren wollen,
dann sollten Sie sich auch mit dem Betreuungsgeld anfreunden.
Frau Kollegin Sager, Sie haben jetzt Gelegenheit zur
Reaktion.
Herr Singhammer, ich hätte mir gewünscht, dass Sie
sich, wenn Sie sich zu einer Kurzintervention melden,
argumentativ zumindest auf die Mechanismen einlassen,
die ich beschrieben habe.
({0})
Wenn Sie die Menschen fragen, ob sie mehr Geld haben wollen, sagen sie immer Ja. Aber wie wirkt das in
Bezug auf den Anreiz, ein Kind, das es besonders nötig
hat, in eine frühe Förderung zu bringen?
({1})
Auf diesen Mechanismus lassen Sie sich gar nicht ein.
Ich finde, das geht weder unter sozialpolitischen noch
unter integrationspolitischen noch unter bildungspolitischen Gesichtspunkten.
({2})
Es ist nicht so, dass irgendeiner Familie in Deutschland etwas weggenommen wird. Es ist auch nicht so,
dass Deutschland bei den Transferleistungen im internationalen Vergleich nicht ganz gut dasteht. Es gibt das
Ehegattensplitting,
({3})
und es gibt Betreuungsfreibeträge. Mit diesen Freibeträgen werden die Familien gefördert, auch die Familien,
die sich gegen die Betreuung ihrer Kinder entscheiden.
({4})
Wir stehen vor der Aufgabe, insbesondere die Familien, die bildungsfernen Schichten angehören, und Einwandererfamilien davon zu überzeugen, dass es gut ist,
wenn sie ihr Kind nicht erst mit vier oder fünf Jahren in
den Kindergarten schicken, und dass es gut ist, wenn sie
es dort nicht nur für vier Stunden lassen. Das ist eine riesige Aufgabe.
An dieser Stelle setzen Sie das Signal in die umgekehrte Richtung. Sie wollen es geradezu prämieren,
wenn diese Familien ihre Kinder zu Hause behalten. Das
heißt, wenn die Mutter zu Hause ist, muss auch das Kind
zu Hause sein. Das ist wirklich fatal. Ich glaube, das
wird in der deutschen Wirtschaft inzwischen viel besser
verstanden als in der CSU. In der deutschen Wirtschaft
wird mittlerweile anerkannt, dass eine frühe Förderung
der Kinder wichtig ist.
({5})
Das Wort hat nun Kollege Paul Lehrieder, CDU/CSUFraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Werte Damen und Herren! Frau Sager,
zunächst zu Ihrem Schlusswort: Die CDU/CSU-Fraktion
hat es nicht nötig, von einer Ministerin oder einem Fraktionsvorsitzenden auf Linie gebracht zu werden. Unsere
Fraktion besteht aus selbstbewussten und selbstständigen Abgeordneten, die um eine vernünftige und gute Lösung ringen. Sie dürfen uns durchaus zugestehen, dass
wir dabei ein wohlmeinendes Interesse verfolgen und
gute Absichten haben.
({0})
Der Siebte Familienbericht, über den wir heute im
Plenum diskutieren, wurde bereits im April 2006 vorgelegt; seine Veröffentlichung liegt also schon einige Zeit
zurück. Lassen Sie mich daher zu Beginn meiner Ausführungen die wichtigsten Aussagen des Siebten Familienberichts in Erinnerung rufen.
Seine Kernbotschaft lautet: Familie ist nach wie vor
die attraktivste Lebensform für junge Frauen und Männer. Für 80 Prozent der jungen Menschen ist Familie
auch heute noch wichtig. Die meisten von ihnen wollen
selbst einmal eine eigene Familie gründen. Allerdings
müssen die jungen Menschen zur Verwirklichung dieses
Wunsches heutzutage flexibler und vielseitiger als ihre
Elterngeneration sein.
Angesichts der demografischen Entwicklung und der
Bedeutung der Familie für unsere Gesellschaft als Ganzes kann die Botschaft für uns Familienpolitiker nur lauten: Wir müssen alles dafür tun, damit junge Menschen
ihren Familienwunsch realisieren können. Aufgabe einer
modernen Familienpolitik muss sein, die Rahmenbedingungen für Familien so zu gestalten, dass ein Leben mit
Kindern einfacher zu managen ist.
({1})
Um den Alltag und das Leben insgesamt meistern zu
können, brauchen Familien aus Sicht der Sachverständigenkommission heutzutage dreierlei: erstens finanzielle
Unterstützung in den verschiedenen Lebensphasen,
zweitens Zeit für ein gemeinsames Familienleben und
drittens eine Infrastruktur, durch die familiennahe
Dienstleistungen bedarfsgerecht angeboten werden.
Bundesfamilienministerin Frau von der Leyen hat die
Kernaussagen des Siebten Familienberichts in der Vergangenheit offensiv nach außen vertreten und sie auch in
der heutigen Debatte deutlich gemacht. Sehr geehrte
Frau Ministerin, Sie scheuen keine Auseinandersetzung,
um Familienpolitik zum Wohle aller Familien in unserem Lande zum Topthema schlechthin zu machen. Deshalb freue ich mich, hier und heute feststellen zu können,
dass die zentralen Empfehlungen der Sachverständigenkommission in den vergangenen 14 Monaten bereits
weitestgehend umgesetzt worden sind.
({2})
Denken wir nur an die steuerliche Absetzbarkeit von
haushaltsnahen Dienstleistungen und an die Einführung
des Elterngeldes zum 1. Januar dieses Jahres!
({3})
- Frau Lenke, zu Ihnen komme ich noch.
Auch was die Bündelung der Leistungen für Familien
betrifft, sind wir auf einem guten Weg. Ich selbst bin in
der Arbeitsgruppe „Familienleistungen“, die von meiner
Fraktion eingerichtet wurde, und kann bestätigen, dass
an dieser komplexen Materie intensiv gearbeitet wird.
Diese Maßnahmen haben entscheidend dazu beigetragen und werden entscheidend dazu beitragen, dass die
Rahmenbedingungen für Familien in unserem Land besser werden. Die inzwischen auf 1,4 Kinder pro Frau
leicht gestiegene Geburtenrate bestätigt diese positive
Entwicklung.
({4})
- Sie reden nachher noch selber, Frau Gruß.
Um Wunsch und Wirklichkeit in unserem Land noch
weiter in Einklang zu bringen, war es besonders wichtig,
dass wir auch beim Ausbau der Betreuung für unter
Dreijährige gehandelt haben. Die ideologischen Grabenkämpfe, die diesen enorm wichtigen Schritt hin zur
besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf lange Zeit
blockiert haben, scheinen damit endlich überwunden zu
sein. Die Große Koalition hat beschlossen, dass bis 2013
für 35 Prozent der Kinder ein Krippenplatz bzw. ein
Platz bei einer Tagesmutter geschaffen wird.
({5})
Frau Sager, es geht hier nicht um ein Entweder-oder, es
geht um ein Sowohl-als-auch, es geht um das Recht auf
einen Krippenplatz, aber auch um die Möglichkeit der
Betreuung zu Hause; ich komme noch im Detail dazu.
Wir gehen davon aus, dass etwa ein Drittel der Eltern
ein entsprechendes Angebot benötigen und auch in Anspruch nehmen wird. Die Entscheidung des Koalitionsausschusses vom 14. Mai 2007 wird dazu führen, dass
vor allem der steigenden Zahl von alleinerziehenden
Müttern und Vätern, aber auch all jenen Familien, die
trotz Kind arbeiten wollen - oder arbeiten müssen -, das
Leben in Zukunft erleichtert wird.
({6})
Nicht zuletzt aus diesem Grund ist anzunehmen, dass
wieder mehr junge Menschen in Deutschland den Mut
finden werden, sich für ein Kind zu entscheiden. Es ist
außerdem unser politischer Wille, dass ab 2013 ein
Rechtsanspruch auf Betreuung der unter dreijährigen
Kinder eingeführt wird. Hierdurch erhalten junge Familien wie auch Alleinerziehende Planungssicherheit und
Verlässlichkeit.
({7})
Frau Sager, Sie haben in der Überschrift Ihres Antrags ausdrücklich „Verlässlichkeit für Familien schaffen“ geschrieben. Genau das tun wir; da sind wir sogar
ein Stück weiter als die Grünen.
Frau Kressl, ich gebe Ihnen recht: Natürlich wird die
Steigerung des Angebotes an Krippenplätzen für unter
Dreijährige die Nachfrage beflügeln. Es werden mehr
Krippenplätze für unter Dreijährige nachgefragt, wenn
die Mutter weiß: Es sind Plätze da, und ich kann bewusst
und auch in der heutigen Zeit leichter Ja zum Kind sagen.
Gleichzeitig ist vorgesehen, dass jene, die ihre Kinder
im Alter zwischen einem Jahr und drei Jahren nicht außer Haus betreuen lassen möchten, ab 2013 eine monatliche Zahlung von 150 Euro bekommen. Das sogenannte
Betreuungsgeld ist aus unserer Sicht ein weiterer Schritt
zu echter Wahlfreiheit.
({8})
- Das unter dreijährige Kind wird Ihnen nicht sagen können, ob es die 150 Euro mitnehmen oder lieber mit seinen Kumpels in der Krippe spielen will. Also bitte, Frau
Gruß, ein bisschen Seriosität in der Diskussion sollte
schon sein.
Oberstes Ziel muss es sein, dass Eltern - sie haben
das Erziehungsrecht - selbst entscheiden können, welche Betreuungsform sie für ihre Kinder möchten, und
dass sie, egal wie die Entscheidung ausfällt, vom Staat
Unterstützung und Anerkennung erfahren. Die CDU/
CSU-Fraktion ist der Meinung, dass jede Familie, die
Kinder erzieht, unseren Respekt und unsere Anerkennung unabhängig vom gewählten Lebensmodell verdient.
({9})
Liebe Frau Sager, natürlich wird über das Gutscheinmodell auch bei uns kontrovers und lebhaft diskutiert;
keine Frage. Aber jetzt die bildungsfernen Schichten, die
sie angesprochen haben, oder die Migrationsfamilien unter den Generalverdacht zu stellen, dass die Gelder nicht
bezogen auf die Kinder ausgegeben werden, bzw. zu behaupten, dass die „Herdprämie“ - Sie haben das ohne
Anführungszeichen gemeint - dazu führt, dass die Kinder nicht in Betreuungseinrichtungen gebracht werden das sind Unterstellungen, die Sie nicht ernsthaft aufrechterhalten werden.
({10})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Wer will sie stellen? - Frau Gruß spricht nachher. Ich
verzichte.
({0})
Auf keinen Fall wollen wir die einzelnen Lebensmodelle gegeneinander ausspielen. Leider sind Sie, meine
lieben Kollegen von der Opposition, über das Stadium
der Polarisierung und Diffamierung noch nicht hinaus,
wie die Aktuelle Stunde zur „Herdprämie“ im Mai gezeigt hat. Ich bedauere die Bezeichnung „Herdprämie“
- Sie haben sie auch vorhin verwendet -, weil damit eine
Schärfe in die Diskussion gekommen ist, die den Familien nichts nützt und für die viele Familien kein Verständnis haben.
Das gilt gleichermaßen für die auch von Teilen von
uns verwendete Bezeichnung Fremderziehung.
({1})
Mein Sohn mit seinen gut zwei Jahren ist für ein paar
Stunden am Tag in einer Krippe. Ich würde mich verwahren gegen die Formulierung, meine Frau und ich ließen unser Kind deswegen fremderziehen. Jede Mutter
und jeder Vater, die ihr Kind für vier Stunden am Tag in
die Krippe bringen, erziehen das Kind 20 Stunden am
Tag noch selber. Ich glaube, es ist nicht der richtige Weg,
hier von Fremderziehung zu sprechen. Wir sollten hier
beide rhetorisch abrüsten.
({2})
- Sie brauchen sie nicht anzumelden; ich lasse sie nicht
zu.
({3})
Nehmen Sie doch lieber wohlwollend zur Kenntnis,
dass den Familien in Deutschland ab 2013 durch das Betreuungsgeld zusätzliches Geld - wohlgemerkt: zusätzlich zu den 4 Milliarden Euro, die der Bund für den Ausbau der Kinderbetreuung zahlen wird - zur Verfügung
stehen wird. Es erschließt sich mir nicht, was an mehr
Geld für Familien schlecht sein soll.
Mit der Einführung des Betreuungsgeldes kann eine
Empfehlung der Sachverständigenkommission umgesetzt werden, die vorgeschlagen hat, die Dauer des Elterngeldes auf drei Jahre auszudehnen. Wir bewegen uns
in der Diskussion ja schon in die Richtung, dass wir für
die Familien über das erste Jahr hinaus mehr Leistungen
gewähren wollen. Das hatten Sie vorhin noch moniert,
Frau Lenke.
Lassen Sie uns daher doch die leidige Diskussion
über das richtige Familienbild und die Vorwürfe der Bevormundung beenden. Konzentrieren wir uns lieber darauf, geeignete Instrumente und Wege zu finden, damit
jedes Kind von den geplanten Initiativen profitieren
kann. Maßstab jeder Überlegung kann dabei meiner
Meinung nach nur das Kindeswohl sein. Das Kindeswohl ist dann gewährleistet, wenn ein Kind seine Potenziale frei entfalten kann. Wir alle sind uns wohl darin einig, dass in diesem Zusammenhang gerade der
frühkindlichen Bildung eine zentrale Rolle zukommt.
Ich distanziere mich aber ausdrücklich davon, dass
gute Angebote für Kinder ausschließlich durch institutionelle Betreuungseinrichtungen gewährt werden können. Ich denke, dass immer noch die Eltern am besten
entscheiden können, was der Entwicklung ihres Kindes
gut tut. Die allermeisten Eltern werden das Betreuungsgeld auch zielgerichtet für das Wohlergehen ihres Kindes einsetzen, Frau Sager.
Diejenigen Eltern, die durch entsprechende Probleme
in der Familie nicht dazu in der Lage sind, brauchen bei
der Bewältigung ihrer Probleme Unterstützung. Ihnen
und ihren Kindern ist vielleicht nicht unbedingt durch
mehr Geld geholfen. Ich gebe den Kritikern des Betreuungsgeldes recht, dass das Geld in manchen Fällen wohl
auch nicht bei den Kindern ankommen wird.
({4})
Es ist aber auch klar, dass sozial benachteiligte Familien,
auf die Sie aus der Opposition in diesem Zusammenhang
gerne abzielen, zusätzlich gezielte Hilfestellungen brauchen, damit sich die Situation der Eltern auch wirklich
nicht negativ auf die Entwicklung der Kinder auswirkt.
({5})
Das soziale Frühwarnsystem der Bundesregierung ist
darüber hinaus meiner Meinung nach bereits ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, um Vernachlässigung oder sogar Misshandlung von Kindern wirksam
vorzubeugen.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Jawohl, Herr Präsident, ich bin schon kurz vorm
Ende, obwohl ich noch viel zu sagen hätte.
({0})
Der Bund stellt 10 Millionen Euro für das Programm
bereit. Im Fokus stehen dabei vor allem Kinder bis zu
drei Jahren sowie junge Familien in belasteten Lebenslagen.
Liebe Frau Laurischk, ich freue mich auf die Diskussion im Ausschuss.
({1})
Dort haben wir Zeit dafür. Ich stehe Ihnen für eine Diskussion selbstverständlich gerne zur Verfügung. Ich bitte
aber um Verständnis, dass ich Schaufensterfragen hier
im Plenum aufgrund der vorgerückten Zeit nicht zugelassen habe. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.
Danke schön.
({2})
Es wurden zwei Kurzinterventionen angemeldet. Zunächst Kollegin Sager und dann Kollege Barth.
Herr Lehrieder, eine Sache kann ich so wirklich nicht
stehen lassen, nämlich Ihre Behauptung, ich hätte den
bildungsfernen Migrantenfamilien unterstellt, dass sie,
wenn sie eine staatliche Prämie bekämen, das Geld
nicht für ihre Kinder ausgeben würden. Das habe ich
nicht gesagt.
({0})
Der Sachverhalt ist doch anders: Sie wollen diese Prämie als Belohnung dafür gewähren, dass diese Familien
ihr Kind nicht in eine Kinderbetreuung geben.
({1})
In dem Moment, in dem sich eine solche Familie entscheidet, zum Beispiel ein zweijähriges Kind doch wieder in die Kinderbetreuung zu geben - was meistens mit
zusätzlichen Kosten verbunden ist -, nehmen Sie ihnen
das Geld wieder weg, weil sie die Kriterien für diese
Prämie dann ja nicht mehr erfüllen.
({2})
Das ist das völlig falsche Signal. Darauf lassen Sie
sich argumentativ aber offensichtlich nicht ein. Denken
Sie also noch einmal darüber nach!
({3})
Kollege Barth, bitte.
Herr Kollege Lehrieder, neben der Tatsache, dass ich
die Form und die Art Ihres Umgangs mit den Meldungen
zu Zwischenfragen nicht sehr kollegial fand, finde ich es
besonders verwunderlich, dass Sie am Ende bedauern,
dass Sie noch viel zu sagen gehabt hätten. Dabei hätten
Sie die Gelegenheit gehabt, mehr zu sagen, wenn Sie die
Zwischenfragen zugelassen hätten. Diese Chance haben
Sie nicht genutzt.
({0})
Ich möchte Sie nur kurz darauf hinweisen, dass es
auch in einigen ostdeutschen Ländern, in denen die CDU
meines Wissens mitregiert, einen Rechtsanspruch auf
Kinderbetreuung für Kinder von null bis 14 Jahren gibt.
Das ist in Sachsen-Anhalt zum Beispiel der Fall. Das,
was Sie vorgetragen haben, erscheint mir damit nicht
vereinbar. Vielleicht können Sie auch darauf in Ihrer
Antwort eingehen.
Vielen Dank.
({1})
Herr Kollege Lehrieder, Sie haben Gelegenheit zur
Antwort.
Zunächst zu Ihnen, Frau Sager: Es geht nicht um eine
Belohnung dafür, dass die Kinder zu Hause bleiben, sondern um einen Ausgleich.
({0})
Sie unterstellen, dass die Erziehungsleistung durch Eltern, die ihre Kinder zu Hause erziehen, weniger oder
gar nichts wert ist. Wenn für die Erziehung zu Hause
- auch dort fallen schließlich Ausgaben an - ein AusPaul Lehrieder
gleich in Höhe von 150 Euro gewährt wird, dann ist das
weder eine Diskriminierung noch eine Präferenz.
({1})
Mir geht es darum, dass die Eltern frei zwischen beiden Modellen wählen können, ohne dass eines bevorzugt
wird. Das liegt im Interesse der Eltern wie auch der Kinder.
({2})
Zu Ihrer Frage, Herr Barth: Ich habe kein Problem damit, wenn auf Länderebene ein Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung geschaffen wird. Wir haben uns mit dem
Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz ab 2013 bereits
in diese Richtung bewegt, was Sie auch zur Kenntnis genommen haben. Ob der Rechtsanspruch schneller eingeführt werden kann, bleibt abzuwarten. Auch wenn wir
nicht ganz so schnell vorankommen, wie Sie es sich vorstellen, sind wir auf dem richtigen Weg. Wir denken über
dieses Thema nach. Das wäre vor ein paar Jahren bei uns
noch schlecht vorstellbar gewesen.
Danke schön.
Nun erteile ich das Wort Kollegin Miriam Gruß, FDPFraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte auf zwei Randgruppen
hinweisen, die in der Debatte schlichtweg vergessen
wurden. Der eine oder andere lacht zwar darüber, aber
meiner Ansicht nach werden sowohl die Bedürfnisse und
Rechte der Kinder als auch die Forderungen und Anliegen der Väter in der gesamten Diskussion übersehen.
Niemand aus den Reihen der CDU/CSU fragte bisher
nach dem Recht der Kinder auf Bildung, individuelle
Förderung und Unterstützung bei der Entwicklung der
eigenen Fähigkeiten.
({0})
Statt von Förderung spricht der Kollege Lehrieder nämlich nur von einem Treffen von Kumpels, wenn es um
die Kinderkrippen geht. Sie müssen noch viel dazulernen.
({1})
Niemand aus den Reihen der CDU/CSU fragte bisher
nach den Wünschen, vielleicht aber auch nach den
Ängsten der Väter, wenn es um das Thema Kinderbetreuung ging. Im Siebten Familienbericht werden hingegen in beiden Bereichen Schwerpunkte gesetzt. Darüber
freue ich mich und danke den Autoren für ihre Weitsicht.
Beim Thema Kinder steht die Trias Bildung, Betreuung und Erziehung im Mittelpunkt. Insbesondere die
ersten Lebensjahre sind entscheidend für die Persönlichkeitsbildung von Kindern. Der vorliegende Bericht verweist zu Recht auf wichtige Ergebnisse neuerer Forschungen zur frühkindlichen Sozialisation.
Demnach kommt es nicht nur auf die reine Versorgung in den ersten Lebensmonaten an; ebenso wichtig
sind auch der Aufbau stabiler Bindungen und die Beziehungsqualität, wie es im Bericht heißt. Ein Kind begreift
ab der Geburt, ob es von einer Person nur versorgt oder
aufmerksam betreut, angeregt und gefördert wird. Wir
alle - außer der CDU/CSU - wissen, welche enormen
Effekte frühkindliche Förderung hat:
({2})
selteneres Schulversagen, höhere und frühere Bildungsabschlüsse, bessere Gesundheit und Ernährung und geringere Kriminalitätsraten.
({3})
Deshalb fordert die FDP-Fraktion, dass schon Krippen und Kindergärten unter dem Aspekt der frühkindlichen Bildung begriffen, dass dort die kognitiven Fähigkeiten von Kindern gezielt gefördert werden und dass
die Hilfe dort ankommt, wo sie gebraucht wird, nämlich
bei den Kindern.
({4})
Möglich wird dies mit unserem Konzept der Subjektförderung durch Bildungs- und Betreuungsgutscheine.
Herr Lehrieder, Sie wollen doch eigentlich nur eine
Kindergelderhöhung durchsetzen.
({5})
Wir wollen nicht nach dem Gießkannenprinzip, sondern
bedarfsgerecht fördern. In diesem Zusammenhang will
ich eines klarstellen: Auf Schuldenbergen können Kinder nicht spielen.
({6})
Lassen Sie mich abschließend auf die zweite Minderheit zu sprechen kommen. Im Siebten Familienbericht
wird zu Recht an vielen Stellen darauf verwiesen, wie
unterschiedlich Frauen und Männer mit der Herausforderung Familie umgehen. Es wird aber auch klargestellt,
dass junge Männer am Erziehungsprozess ihrer Kinder
beteiligt werden wollen. In dem Bericht wird deutlich
gesagt: Kinder brauchen ihre Väter. Sie sind ihnen Vorbild, Vertrauensperson und Hilfe zugleich. Ich fordere
mehr männliche Erzieher, vor allem in den Kindergärten,
aber auch in den Grundschulen. Die Väter sind ganz
wichtig, und es ist auch extrem wichtig, dass sie ein Vorbild für ihre Kinder sind.
({7})
Im Sinne der Väter, der Kinder und der Familien machen wir von der FDP eine gute Bildungs- und Familienpolitik.
({8})
Jetzt hat Frau Kollegin Humme von der SPD-Fraktion
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Etwas Erfreuliches aus Bayern: 98,5 Prozent der 3- bis
6-Jährigen gehen dort in einen Kindergarten. Das konnte
man gestern lesen.
({0})
- Das ist richtig, sagen Sie, Herr Singhammer. Das ist
eine sehr beeindruckende Zahl, keine Frage. Warum soll
ich Sie nicht auch einmal loben, wenn es wirklich angebracht ist?
({1})
Ich sage aber gleichzeitig: Das ist so, weil es seit elf
Jahren für die 3- bis 6-Jährigen einen Rechtsanspruch
auf einen Kindergartenplatz gibt. Der Rechtsanspruch
wirkt an dieser Stelle.
Wenn wir uns aber die Situation bei den Krippenplätzen anschauen, dann müssen wir feststellen - das haben
wir heute schon vielfach gehört -, dass die Zahlen wirklich mager sind. In Westdeutschland werden insgesamt
nur 7,8 Prozent der Kinder unter drei Jahren entsprechend betreut. Ich meine, an dieser Stelle ist klar: Auch
im Krippenbereich brauchen wir unbedingt einen
Rechtsanspruch.
({2})
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, vor neun Monaten
haben wir zum ersten Mal über den Siebten Familienbericht debattiert. Im Familienbericht legen uns die Wissenschaftler ein Umdenken in der Familienpolitik nahe:
weg von der bisherigen Politik der reinen Transferleistungen und hin zu einem nachhaltigen familienpolitischen Konzept, einem Mix aus Geld, Betreuungsangeboten und Zeit. Gleichzeitig - das ist ein Aspekt, der heute
noch gar nicht richtig zum Tragen kam - legen uns die
Wissenschaftler nahe, dass gute Familienpolitik immer
auch Gleichstellungspolitik sein muss. Beides gehört zusammen.
({3})
Wer vor anderthalb Jahren gedacht hat, dass die
Große Koalition gar nicht in der Lage sein wird, aus diesem Anspruch heraus etwas zu entwickeln, der wird
- das muss man ehrlicherweise sagen - eines Besseren
belehrt. Ich sage Ihnen: Sie bewegt sich doch, auch wenn
das in den letzten Tagen vielleicht nicht ganz so deutlich
war. Die Große Koalition hat in den letzten neun Monaten eine ganze Menge auf den Weg gebracht. Frau Sager,
so langsam, wie Sie es beschrieben haben, war das mit
Sicherheit nicht.
Denn wer hätte gedacht, dass schon am 1. Januar
2007 - nach einem Jahr - das Elterngeld und die Elternzeit in Kraft treten würden? Und wer hätte gedacht, dass
wir uns schon am 14. Mai 2007 - vor sechs Wochen auf einen Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz verständigen würden?
({4})
Wir haben uns darauf verständigt - und darauf bestehen
wir -, dass dieser Rechtsanspruch auch in dieser Legislaturperiode formuliert wird.
({5})
- Warten wir einmal ab. - Damit erfüllen wir berechtigterweise Schritt für Schritt die Forderungen des Siebten
Familienberichts.
Man stellt ja fest, dass das Elterngeld schon jetzt
dazu geführt hat, dass sich die Anzahl der Anträge der
Männer auf Elternzeit im Vergleich zu früher verdoppelt
hat. Diese Verhaltensänderung der Männer ist der Beweis dafür, dass die Annahme im Siebten Familienbericht richtig ist: Die Familie hat sich verändert, aber auch
die Rollen haben sich verändert.
({6})
Das Elterngeld und die Elternzeit geben den Müttern
und Vätern die Chance, die Vereinbarkeit von Beruf und
Familie letztlich auch in die Tat umzusetzen. Das ist eine
wichtige Voraussetzung auch für das Thema Gleichstellung.
Aber ich gebe Ihnen, Frau Sager, und allen, die vorher
gesprochen haben, natürlich recht: Nach einem Jahr
Elternzeit, das heißt im nächsten Jahr, wird der Druck
zunehmen, einen qualitativ guten Krippenplatz zu finden.
({7})
- Aber der Druck erhöht sich auch, weil die Nachfrage
stärker wird, Frau Lenke. Darin werden Sie mir ja recht
geben. Sie haben das in Ihrer Rede ja deutlich gemacht.
Deshalb ist es richtig, Druck zu machen. Und Frau
von der Leyen macht ja auch Druck, um den Ausbau
der Krippenplätze zu bescheunigen.
({8})
Darum ist richtig, dass wir bei den Krippenplätzen bis
2013 auf 750 000 Plätze kommen wollen. Auch ist es
richtig, die Formulierung eines Rechtsanspruchs zu beschleunigen.
({9})
Wir dürfen keine Zeit verlieren.
({10})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Lenke?
Gerne.
Bitte, Frau Lenke.
Frau Kollegin Humme, da die Ministerin nicht mit
dem Finanzierungskonzept herausgerückt ist, sagen Sie
mir doch bitte, wie Sie den Druck ohne ein Finanzierungskonzept erhöhen wollen mit dem Ziel, eine ausreichende Zahl an Krippenplätzen zur Verfügung zu stellen.
({0})
Sie haben recht: Dafür braucht man Geld. Ich bin sehr
froh und stolz darauf, dass wir in der Großen Koalition
vereinbart haben, dass der Bund die Kommunen nicht
alleine lässt, sondern sich an der Finanzierung der Krippenplätze beteiligt.
({0})
Ich glaube, das ist ein Fortschritt. Das hat es vorher nicht
gegeben. Das müssen Sie anerkennen.
({1})
Beim Krippenausbau geht es nicht nur um Gleichstellung, sondern auch - das wurde in den zuvor gehaltenen
Reden deutlich - um die Bildungschancen unserer Kinder. Frau Kressl hat mit Recht darauf hingewiesen: Solange es Zeitungsmeldungen gibt, dass Akademikerkinder einen besseren Zugang zum Studium haben und eher
ein Studium abschließen, während Kinder aus Familien
mit Migrantenhintergrund noch nicht einmal einen
Hauptschulabschluss erreichen, so lange haben wir die
Pflicht, die Bildung von Anfang an in den Vordergrund
zu stellen. Herr Lehrieder, Sie tun das Konzept der Bildung von Anfang an leider als Spielgruppe mit Kameraden ab. Das kann ich Ihnen nicht durchgehen lassen.
Bitte schauen Sie sich die Bildungsberichte an. Dann
wissen Sie, wie wichtig Bildung von Anfang an ist.
({2})
Sie sehen, dass der Betreuungsausbau bei uns der Tagesordnungspunkt eins ist. Ich sage Ihnen aber ganz
deutlich: Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten steht das Betreuungsgeld nicht auf der Tagesordnung; denn ich stimme allen Vorrednerinnen und Vorrednern zu, die die Auffassung vertreten haben, dass das
Betreuungsgeld eine Geldleistung dafür ist, dass ein
Kind weniger Bildung erhält.
({3})
Es wäre außerdem eine Geldleistung dafür, dass Mütter
- nicht die Väter; um die geht es in der Regel nicht - ihre
eigenen Lebensentwürfe nicht leben können. Oder soll
ich vielleicht sagen: nicht leben sollen? Das wollen wir
auf keinen Fall.
Wir danken den Verfasserinnen und Verfassern des
Siebten Familienberichts für die Anregungen, die alle
ein einziges Ziel haben, nämlich die Neuausrichtung der
Familienpolitik an der Lebenswirklichkeit. Ich garantiere: Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
machen uns diese Anregungen gerne zu eigen.
Schönen Dank.
({4})
Nun hat als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt Kollege Wolfgang Spanier, SPD-Fraktion, das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Bericht, über den wir heute diskutieren, hat 589 Seiten.
Es ist völlig klar, dass wir in einer Stunde Debatte nur
einzelne Punkte herausgreifen können.
Ich möchte das unterstreichen, was Frau Humme gerade gesagt hat: Der Bericht ist ganz ausgezeichnet, und
zwar sowohl in der Analyse als auch in der Orientierung,
die er uns in der Familienpolitik gibt. Eines ist deutlich
- das ist glücklicherweise seit drei, vier Jahren auch in
der öffentlichen Wahrnehmung -: Familienpolitik ist ein
entscheidender Bereich der Gesellschaftspolitik für die
Entwicklung unseres Landes.
Da ich in sechs Minuten nicht alle Aspekte ansprechen kann, will ich mich auf zwei konzentrieren. Ich
möchte einige Anmerkungen zur Veränderung der Familienstrukturen machen und auf einen Aspekt eingehen,
der mir persönlich wichtig ist, nämlich auf die Generationensolidarität.
In dem Bericht wird im europäischen Vergleich sehr
ausführlich beschrieben - das wurde heute schon mehrfach angesprochen -, wie sehr sich die Familienstrukturen im Vergleich zu den 60er-Jahren verändert haben.
Es wird dankenswerterweise mehrfach gesagt, dass alle
Versuche, das zurückzudrehen, einen Schritt zurück in
die 60er-Jahre zu machen, scheitern werden, dass ein
solcher Schritt völlig verfehlt ist. Ich verstehe daher alle,
die das Betreuungsgeld kritisieren; denn hier wird in
der Tat übersehen, dass es im Kindergarten, in der Kindertagesstätte und in der Kinderkrippe nicht nur um Betreuung geht. Es geht doch nicht allein darum, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass beide Elternteile
arbeiten können. In der Kinderkrippe geht es auch um
Bildung und Erziehung. Das ist ganz entscheidend.
({0})
Viele von den Älteren, wie zum Beispiel ich, sind Großeltern. Wir sehen an den Enkelkindern, welchen Entwicklungsschub es bei ihnen gibt, wenn sie diese Einrichtungen besuchen. Kinderkrippen haben eben nicht
hauptsächlich mit Betreuung und Verwahrung zu tun.
An mehreren Stellen gibt es den Versuch - das muss
ich sagen -, zurück in die 50er-Jahre zu gelangen. Wir
müssen einfach die Lebenswirklichkeit und die Vielfalt
im Bereich Familie akzeptieren. Alles Gerede von der
Krise der Familie geht an der Lebenswirklichkeit vorbei.
Die Familie - das bestätigt dieser Bericht ausdrücklich ist die entscheidende Instanz, um beiden Geschlechtern
die gleiche Chance auf Lebensverwirklichung zu geben,
allen Kindern gute Entwicklungsmöglichkeiten zu garantieren und den Zusammenhalt der Generationen zu
gewährleisten. Das leistet nach wie vor die Familie.
Aber sie tut dies angesichts des gesellschaftlichen Wandels unter erschwerten Bedingungen. In einem früheren
Familienbericht wurde das etwas akademisch als die
„strukturelle Rücksichtslosigkeit“ bezeichnet. Denken
Sie nur an die Veränderungen in der Arbeitswelt - Stichwort Arbeitszeit -, die nicht von vornherein familienfreundlich sind.
Ich komme nun zur Generationensolidarität. Es ist
ganz wichtig, dass wir die drei Berichte, nämlich Familienbericht, Kinder- und Jugendbericht und Altenbericht,
im Zusammenhang diskutieren. Das sagen in ihrem Vorwort auch die Verfasser des Familienberichts. Es ist richtig, dass Familie da ist, wo Kinder sind. Das trägt der
Vielfalt der Familien und der unterschiedlichen Formen
des Zusammenlebens Rechnung, die sich im Laufe der
letzten Jahrzehnte herausgebildet haben. Aber es ist auch
richtig, zu sagen - das habe ich der Antwort der Bundesregierung entnommen -: Familie ist noch mehr; sie ist
eine Gemeinschaft mit starken Bindungen, in der mehrere Generationen füreinander sorgen. - Diesen Generationenaspekt halte ich für äußerst wichtig.
({1})
Wir sollten die Generationensolidarität nicht idealisieren. Sie ist aber nach wie vor ein Stützpfeiler unserer
Gesellschaft. Bei der Diskussion über die Pflege und
Pflegeversicherung geht es auch um Generationensolidarität, die die Verbundenheit innerhalb der Generationen
widerspiegelt. Diese Generationensolidarität ist noch in
weiten Teilen intakt. Aber sie ist ebenfalls gefährdet. Im
Bericht taucht dazu der etwas merkwürdige, ebenfalls
akademische Begriff „multilokale Mehrgenerationenfamilie“ auf.
({2})
Diese Entwicklung ist in der Tat festzustellen. Das zeigt,
dass wir versuchen müssen, diesen gesellschaftlichen
Veränderungen Rechnung zu tragen, wenn wir über Rahmenbedingungen nachdenken, die der Staat setzt.
Eine kurze Bemerkung zu den Rahmenbedingungen.
Ich gebe all denjenigen, die heute gesprochen haben,
recht, dass wir bei allen Überlegungen, auch bei allen Instrumenten, die wir in der Familienpolitik einsetzen
- das gilt auch für die unterschiedlichen Arten von Geldleistungen -, immer ein ganz besonderes Augenmerk auf
die sozial benachteiligten Kinder und Familien richten sollten.
({3})
Dazu gehören sehr viele Kinder und Familien mit Migrationshintergrund und auch behinderte Kinder, die wir
ebenfalls einbeziehen sollten. Ich bin Herrn Seifert
dankbar, dass er diesen Punkt in der Debatte heute angesprochen hat.
Unter uns gesagt: Ich halte diesen liebevollen Blick
auf entsprechende Maßnahmen - wie wirken sie sich genau auf diese Gruppe aus? - für besonders wichtig. Ich
will hier ehrlicherweise einräumen: Der Familienbericht
bescheinigt uns, dass wir in der Bundesrepublik in dieser
Hinsicht nicht besonders erfolgreich gewesen sind. Das
muss man leider zur Kenntnis nehmen. Ich halte gar
nichts von Dramatisierung, Skandalisierung und von einem Moralisieren vom Rednerpult aus. Aber dass es verdammt wichtig ist, bei allen Maßnahmen diesen Aspekt
zu berücksichtigen, möchte ich unterstreichen.
({4})
Dabei geht es nicht in erster Linie um Geld. Vielmehr
sind die Verbesserung der Infrastruktur und unterstützende Maßnahmen von ganz entscheidender Bedeutung.
Ich will nur noch einen Hinweis geben, da meine Zeit
abgelaufen ist.
({5})
- Nur die Redezeit, ja. Aber mit 64 Jahren macht man
sich so langsam seine Gedanken.
({6})
Frau Kressl, mir hat das Goethe-Zitat besonders gut
gefallen: Kinder brauchen Wurzeln und Flügel. - Ich
möchte nun Goethe nicht ergänzen, aber ich will sagen:
Auch Abgeordnete brauchen Wurzeln und Flügel, gerade in der Familienpolitik.
Schönen Dank.
({7})
Ich dachte schon, lieber Kollege, Sie wollten Goethe
noch übertreffen.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf
Drucksache 16/4211 zu der Unterrichtung durch die
Bundesregierung auf Drucksache 16/1360 mit dem Titel
„Siebter Familienbericht - Familie zwischen Flexibilität
und Verlässlichkeit - Perspektiven für eine lebenslaufbe-
zogene Familienpolitik und Stellungnahme der Bundes-
regierung“. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der
Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen ge-
gen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen ange-
nommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion der FDP auf Drucksache 16/5782? - Wer stimmt da-
gegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist
gegen die Stimmen der FDP-Fraktion mit den Stimmen
des übrigen Hauses abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 16/5783? - Gegenprobe! -
Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen des
übrigen Hauses abgelehnt.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf
Drucksache 16/5397. Der Ausschuss empfiehlt unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, in Kenntnis des Be-
richts der Bundesregierung auf Drucksache 16/2250
über den Stand des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes
Angebot an Kindertagesbetreuung für Kinder unter drei
Jahren 2006 den Entschließungsantrag der Fraktion der
FDP auf Drucksache 16/4443 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Frak-
tion der FDP und der Fraktion Die Linke angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss in Kenntnis des genannten Berichts die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/4412 mit dem Titel „Kindertagesbetreu-
ung für Kleinstkinder sofort ausbauen und Qualität ver-
bessern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschluss-
empfehlung ist gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke mit den Stimmen des übrigen Hauses ange-
nommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Frak-
tion Die Linke mit dem Titel „Elternbeitragsfreie
Kinderbetreuung ausbauen“. Der Ausschuss empfiehlt
unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/3219, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/453 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit der glei-
chen Mehrheit wie zuvor angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/552
mit dem Titel „Leben und Arbeiten mit Kindern möglich
machen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU, der
SPD und der FDP gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü-
nen angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3219 die
Ablehnung des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen auf Drucksache 16/1673 mit dem Titel
„Kinder fördern und Vereinbarkeit von Beruf und Fami-
lie stärken - Rechtsanspruch auf Kindertagesbetreuung
ausweiten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU, der
SPD und der FDP gegen die Stimmen der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltungen der Frak-
tion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkte 26 d und e. Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlagen auf den Druck-
sachen 16/5426 und 16/5114 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Über-
weisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a und b auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Volker Beck ({0}), Marieluise Beck ({1}),
Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Zur Situation von Roma in der Europäischen
Union, in den EU-Beitrittsländern und im
Kosovo
- Drucksachen 16/918, 16/2197-
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD
Die Rechte der Roma in Europa stärken
- Drucksache 16/5736 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Zu der Großen Anfrage liegen zwei Entschließungsanträge der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten
erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten
Sie mir zunächst, den Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Herrn Romani Rose, und Herrn
Herrn Roßberg recht herzlich zu begrüßen, die auf der
Tribüne Platz genommen haben.
({0})
Volker Beck ({1})
Ich glaube, die Debatte, die wir heute führen, ist
längst überfällig; denn vor unseren Augen, mitten in Europa, ereignet sich der größte sozialpolitische Skandal
seit Ende des Zweiten Weltkriegs. In zahlreichen Staaten
der Europäischen Union entstehen Slums. Roma werden
in ihren Wohnungen entmietet. Sie sind oftmals Opfer
der Politik der Privatisierung des Wohnraums in den osteuropäischen Ländern. Sie verlieren ihre Wohnung ohne
Chance auf eine vergleichbare Ersatzwohnung. Diese
Politik der Entmietung ist keine Politik der sanften Entmietung - das wäre schon schlimm genug -; sondern sie
ist begleitet von rassistischen Maßnahmen und rassistischer Politik von vielen Verantwortungsträgern in diesen
Ländern.
Dazu einige Beispiele: Im Januar 2006 findet eine
Räumung in Rumänien statt. Die Bewohner wurden nur
einen Tag zuvor über das Vorhaben unterrichtet. Schätzungsweise 130 Erwachsene und 70 Kinder wurden bei
einer Temperatur von minus 15 Grad praktisch obdachlos. Ihre persönlichen Besitztümer durften sie nicht mitnehmen. - Der ehemalige Bürgermeister der tschechischen Stadt Wesetin, Jiri Cunek, Parteivorsitzender der
Christdemokraten in der Tschechischen Republik, setzt
230 Menschen im Oktober 2006 vor die Tür und deportiert sie in Container. Er begründet diese Maßnahme im
tschechischen Fernsehen mit den Worten: Ich entferne
doch nur ein Geschwür; das machen die Ärzte doch
auch. Das ist die Sprache, die wir in unserem Land aus
der Mitte des letzten Jahrhunderts kennen. Das ist die
Sprache von Rassismus und von Menschenverachtung,
die wir in Europa nicht dulden dürfen.
({2})
Weitere Räumungen ohne Bereitstellung alternativer
Unterkünfte gab es auch in Patras und Athen, Griechenland, in Mailand, Italien, in Miercurea Ciuc, Spanien,
und Little Waltham, England. In Italien wurde vor zwei
Wochen bekannt, dass in Rom durch ein groß angelegtes
Projekt des Bürgermeisters Tausende Roma in vier Lagern außerhalb von Rom angesiedelt werden sollen.
Meine Damen und Herren, ich glaube, wir sind hier als
Europäer gemeinsam aufgefordert, gegenzusteuern.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat
Kroatien in dieser Woche wegen der Diskriminierung
von Roma und Sinti verurteilt, weil bei einer Gewalttat,
der ein Roma zum Opfer fiel, die Täter nicht strafverfolgt wurden und den Anzeigen nicht entsprechend
nachgegangen worden ist.
Wir haben von unserer Fraktion aus im Frühjahr eine
Reise in die Tschechische Republik und die Slowakei
gemacht, und ich habe mir das vor Ort angeschaut. Es ist
wirklich erschütternd, zu sehen, unter welchen Bedingungen viele Roma am Stadtrand leben, die noch vor
zehn oder 15 Jahren feste Wohnungen und Arbeit hatten
und sozial einigermaßen integriert waren. Diese Menschen leben dort ohne Strom- und Wasserversorgung in
zusammengezimmerten Hütten ohne Heizung. Dort gab
es den Geruch der Armut, den manche von uns aus afrikanischen Flüchtlingslagern kennen. Die Menschen versuchen mühsam, ihre Würde zu wahren. Hier muss die
Europäische Union gemeinsam mit den osteuropäischen
Staaten Abhilfe schaffen. Wir müssen den Teufelskreis
der Segregation - Ausschluss von Bildung, Verlust des
Wohnraums und Chancenlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt - dringend gemeinsam durchbrechen.
({3})
In Banská Bystrica, einer slowakischen Stadt, habe
ich mir ein Lager angeschaut. Dort leben die Roma in einem ehemaligen Frauengefängnis. Ohne dass es dafür
eine Notwendigkeit gibt, stehen um dieses ehemalige
Gefängnis herum noch die Gefängnismauern, die man an
einem Nachmittag spielend abtragen könnte. Sie sind sozusagen manifester Ausdruck des Ausschlusses dieser
Menschen.
80 Prozent der Romakinder in osteuropäischen Staaten landen in Sonderschulklassen, zum Teil deswegen,
weil das finanziell gefördert wird. Ich habe in Banská
Bystrica ein Projekt gesehen, das Hoffnung macht - es
zeigt, wo wir ansetzen können, um wenigstens den Romakindern zu helfen -: Man hat mit Kindern im Vorschulalter gespielt, damit sie die slowakische Sprache
lernen. Keines der Kinder, das an diesem Projekt teilgenommen hat, musste eine Sonderschulklasse besuchen.
Diese Kinder haben den Bildungsweg einer normalen
Schule beschritten. Das zeigt, dass wir - wenn wir uns
gemeinsam anstrengen - den Teufelskreis mit geringen
Mitteln durchbrechen können. Voraussetzung ist aber,
dass der politische Wille dazu besteht.
({4})
Hier liegen verschiedene Anträge von Koalition und
Grünen vor. Wenn man über die Lage der Sinti und
Roma spricht, dann sollte man aber nicht nur auf die
Probleme in anderen Ländern verweisen. Auch in unserem Land gibt es einiges zu tun. Mit Erlaubnis des Präsidenten möchte ich auf einen Skandal in unserem Land
hinweisen.
Aber nur ganz kurz. Ihre Redezeit ist schon überschritten.
Der damalige stellvertretende Vorsitzende des Landesverbandes Bayern des BDK, Peter Lehrieder, hat in
dem Organ des Bundes Deutscher Kriminalbeamter geschrieben, Sinti und Roma seien Trickdiebe, Betrüger
und Sozialschmarotzer, „die sich als ‚Made im Speck’
der bundesrepublikanischen Wohlfahrtsgesellschaft fühlen“. Dies hat weder zu einer Distanzierung dieses Verbandes geführt noch zur Strafverfolgung wegen Beleidigung oder Volksverhetzung. Ich finde, so etwas ist ein
Skandal. Das zeigt, dass auch wir in unserem Land mit
den Vorurteilen aufräumen müssen.
Mit Blick auf den Koalitionsantrag wünsche ich mir,
dass Sie noch einmal darüber nachdenken, ob es den da
suggerierten Zusammenhang zwischen traditioneller Lebensweise der Roma und bestimmten Problemen, die es
unbestreitbar gibt, auf die die Roma aber nicht abonniert
sind, tatsächlich gibt. Denken Sie einmal darüber nach,
ob Vorurteile und Diskriminierungen durch den Duktus
Volker Beck ({0})
an manchen Stellen dieses Antrags nicht eher gefördert
als bekämpft werden.
Herr Präsident, ein letzter Satz. In unmittelbarer Nähe
zum Reichstag soll das zentrale Mahnmal für die während der NS-Zeit ermordeten Sinti und Roma stehen.
Wir als Bundestag sind dazu verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die Entscheidung, dieses Mahnmal zu bauen,
endlich getroffen wird. Es ist ein Trauerspiel, dass wir
uns bis zum heutigen Tag nicht dazu durchringen konnten, die entsprechenden Voraussetzungen zu schaffen.
({1})
Ich erteile das Wort jetzt Kollegin Erika Steinbach,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Volksgruppen der Sinti und Roma sind diejenigen Volksgruppen, die innerhalb der Europäischen
Union bis heute die mit Abstand größten Probleme haben. Das muss man einfach konstatieren. Alle Daten
sprechen dafür.
Auschwitz ist das Symbol für die Ermordung von
Menschen in Gaskammern, nur weil sie als Sinti,
Roma oder Juden auf die Welt gekommen sind. Das
ist die härteste Anklage, das darf am wenigsten vergessen werden.
Auf diese beiden Sätze hat der Publizist Hermann
Langbein das verdichtet, was uns bis heute in die Verantwortung nimmt.
Vor diesem Hintergrund müssen uns auch die Ergebnisse einer 2006 durchgeführten repräsentativen Umfrage des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, deren
Vertreter ich an dieser Stelle sehr herzlich begrüße, über
das Verhalten gegenüber Sinti und Roma hier in
Deutschland nachdenklich stimmen. Das Ergebnis dieser
Umfrage lautet: 76 Prozent der Befragten gaben an, dass
sie Opfer von Diskriminierung am Arbeitsplatz geworden seien. In einzelnen Fällen wurden Personen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Minderheit der Sinti und
Roma sogar entlassen.
Fast die Hälfte aller Befragten, nämlich knapp
46 Prozent, gab an, dass bei Behörden oder der Polizei
die Minderheitenzugehörigkeit erfasst wurde. Das ist
eine Praxis, die nach dem Rahmenübereinkommen zum
Schutz nationaler Minderheiten des Europarats sogar unzulässig ist. Über 90 Prozent der Befragten befürchteten
aufgrund einseitiger Berichterstattung eine Zunahme
von Vorurteilen gegenüber ihrer Gruppe.
Der Antrag von CDU/CSU und SPD macht deutlich
- das ergeben auch die Daten -, dass die größten Probleme beim Schutz von Sinti und Roma derzeit in einigen osteuropäischen Ländern zu finden sind. In verschiedenen Ländern werden Sinti und Roma regelmäßig
und in den unterschiedlichsten Bereichen des Lebens
ganz gravierender Diskriminierung vonseiten der Mehrheitsgesellschaft und auch des Staates ausgesetzt.
Bildung ist der Schlüssel für die Zukunftsgestaltung.
Wenn es um Bildung geht, sieht es für Sinti und Roma
nicht sehr gut aus. Die Kinder dieser Volksgruppen werden häufig getrennt von den Kindern der Mehrheitsbevölkerung unterrichtet, und zwar an Schulen, die nur selten das Durchschnittsniveau in den jeweiligen Ländern
erreichen. Wie katastrophal die Lage der Bildungsversorgung zum Teil ist, mögen folgende Zahlen verdeutlichen: Während zum Beispiel 90 Prozent aller ungarischen Kinder die Sekundarstufe beginnen, tut dies nur
ein Drittel der Kinder von Sinti und Roma. In der slowakischen Republik stieg die Ausfallquote der Kinder von
Sinti und Roma im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts
sogar von 46 auf 63 Prozent. Kinder in der „SpataRoma“-Gemeinde in Griechenland konnten volle drei
Jahre lang überhaupt keine Schule besuchen, weil keine
Transportmöglichkeiten zur nächstgelegenen Schule zur
Verfügung standen oder zur Verfügung gestellt wurden.
Nicht zuletzt aufgrund mangelnder Bildung und Ausbildung ist in vielen Regionen Osteuropas und Südosteuropas ein hoher Prozentsatz der Sinti und Roma arbeitslos. Für viele gibt es kaum Möglichkeiten, ihren
Lebensunterhalt auf legalem Weg zu bestreiten. Die Folgen sind Flucht in die Schattenwirtschaft oder in die Kriminalität. Gleichzeitig können viele Sinti und Roma
ihren Kindern kaum bessere Bildungschancen ermöglichen, als sie selbst erhalten haben. Es entsteht, wie in unserem Antrag deutlich formuliert ist, ein Teufelskreis
aus Armut und Arbeitslosigkeit, der sich nur ganz
schwer durchbrechen lässt.
Darüber hinaus - das hat der Herr Kollege Beck eben
schon sehr eindringlich geschildert - leben viele Sinti
und Roma in Behausungen, die schlicht und ergreifend
menschenunwürdig sind. Ohne Strom, ohne Wasser,
ohne Anbindung an das Abwassersystem und ohne ausreichende Heizmöglichkeiten leben sie häufig am Rande
der Gesellschaft - ausgegrenzt. In unserem Antrag ist
von gettoartigen Siedlungen die Rede. Das ist meiner
Meinung nach eine durchaus nicht völlig abwegige Formulierung.
In einigen Ländern der Europäischen Union wird den
Sinti und Roma außerdem kein ausreichender Zugang zu
Gesundheitseinrichtungen ermöglicht. Es ist deshalb
kein Wunder, dass die Lebenserwartung der Sinti und
Roma in Bulgarien zum Beispiel sechs Jahre niedriger
ist als die von anderen Bevölkerungsgruppen. Die deprimierende Wahrheit ist, dass die Kindersterblichkeit bei
Sinti und Roma in Rumänien etwa dreimal so hoch ist
wie im Landesdurchschnitt.
Solche Zustände im Herzen Europas können wir nicht
übergehen. Wir dürfen nicht darüber hinwegsehen. Wir
müssen helfen, diese Missstände zu beheben.
({0})
Dazu braucht es den Willen und viel Kraft. Infrastruktur,
Bildung und Gesundheitsversorgung sind die elementaren Bereiche, in denen vordringlich Verbesserungen erreicht werden müssen.
Viele dieser Punkte werden im Rahmen der „Dekade
der Roma-Integration 2005 bis 2015“ bereits aufgegriffen. Es ist wichtig und gut, dass sich an diesem Programm auch viele derjenigen Länder beteiligen, die den
größten Handlungsbedarf haben; denn gerade der Beitrag dieser Länder ist entscheidend für den Erfolg des
Plans. Der finanzielle Beitrag Deutschlands kann erst
dann Wirkung entfalten, wenn diese Länder mitmachen.
Geld und administrative Maßnahmen allein können
jedoch nur die gröbsten Missstände mildern. Ein
Umdenken ist wichtig. Es gehört aber zur Wahrheit,
dass auch innerhalb der Gemeinschaften der Sinti und
Roma ein Umdenken stattfinden muss. Verbesserte Rahmenbedingungen haben keinen positiven Effekt, wenn
sie von den betroffenen Volksgruppen nicht als Chance
begriffen werden. Ein verbesserter Zugang zur Schule ist
unbedingt notwendig; darin sind wir uns alle einig. Die
Eltern müssen die Kinder aber auch zur Schule schicken
und versuchen, die Hausaufgaben zu kontrollieren. Die
Gleichstellung von Sinti und Roma in allen gesellschaftlichen Bereichen ist absolut wünschenswert. Solange
aber innerhalb der Familien der Sinti und Roma Frauen
unterdrückt werden, häuslicher Gewalt ausgesetzt sind
und ihr Recht auf Selbstbestimmung nicht wahrnehmen
können, kann eine tatsächliche Gleichstellung von
Frauen nicht erfolgen. Ein verbesserter Zugang zu Gesundheitseinrichtungen soll ermöglicht werden. Dann
müssen aber auch patriarchalische Traditionen weichen,
die zu einer doppelten Diskriminierung der Frauen führen. Erst wenn die Frauen in die Ambulanzen gehen,
können sie von einem medizinischen Angebot profitieren.
Vor diesen Wahrheiten verschließt der Antrag von
CDU/CSU und SPD nicht die Augen. Herr Kollege
Beck, man tut dem Anliegen keinen Gefallen, wenn man
das einfach verschweigt. Sie haben ja eben kritisiert,
dass man in unserem Antrag darüber besser nicht hätte
reden sollen.
({1})
Man muss aber alle Facetten auf den Tisch legen, um am
Ende ein positives Ergebnis im Interesse der betroffenen
Menschen zu erreichen.
({2})
Ich erteile das Wort Kollegen Florian Toncar, FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute drei Anträge und die Antwort auf eine Große
Anfrage zur Situation der Roma in Europa. Damit greifen wir ein wichtiges menschenrechtspolitisches Thema
auf; denn es gehört zu den ganz traurigen Kapiteln europäischer Geschichte, dass die Geschichte der Roma in
Europa über Jahrzehnte hinweg mit Unterdrückung, Diskriminierung und Ausgrenzung verbunden war. Der düsterste Abschnitt war ihre Verfolgung während der Zeit
des Dritten Reiches, der mehrere Hunderttausend Menschen zum Opfer gefallen sind. Insbesondere das Dokumentations- und Kulturzentrum der Sinti und Roma leistet einen unverzichtbaren Beitrag, um diese grausame
Zeit zu dokumentieren und aufzuarbeiten. In diesem Zusammenhang bedauert die FDP die eingetretenen Verzögerungen bei der Errichtung eines Mahnmals für die ermordeten Angehörigen der Sinti und Roma in Berlin.
Wir hoffen sehr, dass es endlich gelingt, dass sich alle
Beteiligten an dieser Stelle bewegen und eine gute Lösung gefunden wird.
({0})
Wenn man die verschiedenen Staaten Europas betrachtet, kann man festhalten, dass sich die gegenwärtige
Situation der Roma sehr unterschiedlich darstellt. Doch
es fällt auf, dass insbesondere in vielen Staaten Mittelund Osteuropas, in denen die meisten Roma heute leben,
die Probleme für die betroffenen Menschen am deutlichsten, streckenweise sogar dramatisch sind. So waren
die Angehörigen der Roma besonders häufig negativ von
den wirtschaftlichen Folgen des Sozialismus betroffen.
Heute ist es so, dass sie in besonderem Umfang nicht
von der wirtschaftlichen Belebung durch die Marktwirtschaft profitieren können. Die häufigsten Probleme sind
schlechte Wohnverhältnisse, hohe Arbeitslosigkeit und
mangelnde Bildungschancen. Noch gravierender ist jedoch die soziale Situation, die oft durch Ausgrenzung
und Isolation geprägt ist. Wenn die Kinder der Roma in
gesonderten Klassen, getrennt von den anderen Kindern,
unterrichtet werden, dann grenzt das an Apartheid. Wenn
die Wohnungen der Roma in räumlich getrennten Gebieten oder Stadtvierteln liegen, dann werden Integrationsprobleme, die in gegenseitige Vorurteile, Aggressionen
und Missverständnisse münden, zementiert.
Diesen Teufelskreis der sozialen Ausgrenzung zu
durchbrechen und die Roma besser zu integrieren, ist
eine Herausforderung, die viele europäische Staaten
noch nicht ausreichend bewältigt haben. Wir müssen die
klare Erwartung an unsere europäischen Partnerländer in
der EU artikulieren, dass es nicht sein kann, dass Roma
in dieser Art und Weise ausgeschlossen werden. Wenn
Staaten diesen Zustand nicht nur dulden, sondern womöglich sogar initiieren und befördern, dann ist das im
vereinigten Europa ein handfester Skandal.
({1})
Wichtig ist allerdings auch, dass Lösungen vor allem
auf kommunaler und regionaler Ebene gesucht werden.
Dezentrale Lösungen sind erforderlich, weil entscheidend ist, wie eine Gemeinde oder eine Region strukturiert ist. Wenn zentrale Programme und breite Förderung
von oben in die Anträge hineingeschrieben werden, ist
das sicherlich von guter Absicht geprägt; aber zielführender ist es, unten anzusetzen, denn die Kommunen
sind unterschiedlich, und dort müssen die Menschen das
umsetzen, was wir uns an Zielen vornehmen.
({2})
Der Antrag der Regierungskoalition fordert die Bundesregierung dazu auf, auf europäischer Ebene entsprechende Initiativen zu ergreifen. Er enthält sicherlich eine
ernsthafte und zutreffende Zustandsbeschreibung. Allerdings sind die Absichtserklärungen und Ziele, die in dem
Antrag enthalten sind, so allgemein gehalten, dass man
kaum ernsthaft darüber streiten kann, dass er als Umsetzungsmaßstab in gewisser Weise an Wert verliert. Er ist
insgesamt recht wolkig formuliert. Aber zumindest hat
er die heutige Debatte ermöglicht; insofern hat er etwas
bewirkt und einen sinnvollen Beitrag geleistet.
In den Entschließungsanträgen der Grünen kann
ich dem, was im europapolitischen Teil steht, vollumfänglich zustimmen. Ansonsten habe ich aber das Gefühl, dass man im Grunde versucht hat, allzu viel Konkretes zu vermeiden - dasselbe Dilemma wie im
Koalitionsantrag -, indem man einen ziemlich umfangreichen Strauß an Forderungen vorgelegt hat, von denen
aus meiner Sicht nicht jede einzelne umsetzbar ist bzw.
umgesetzt werden sollte.
Beispielsweise steht die Forderung, dass geduldete
Roma generell eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23
des Aufenthaltsgesetzes bekommen, nicht unbedingt im
Zusammenhang mit möglichen Benachteiligungen in
Deutschland. Das Aufenthaltsrecht ist ein Recht, das gerade im Fall von Duldungen Härten bei Abschiebungen
vermeiden soll, das insbesondere aus humanitären Gründen das weitere Verbleiben im Bundesgebiet ermöglichen soll. Aber warum das nun gerade bei der Gruppe
der Roma und nicht, wenn wir über den Kosovo sprechen, auch bei Serben oder Albanern der Fall sein soll,
erschließt sich mir nicht. Ich glaube, dass hier unzulässig
differenziert wird.
Interessant ist die Forderung nach der Ratifizierung
des Protokolls Nummer 12 zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Diese Forderung unterstützt die FDP
voll und ganz.
({3})
Auffällig ist allerdings, dass es gerade einmal zwei Jahre
her ist, dass dieses Haus mit den Stimmen von Rot und
Grün ebendiese Forderung abgelehnt hat. Das ist eine
Wende in der Haltung der Grünen, die vielleicht damit
zu erklären ist, dass man jetzt in der Opposition ist und
das, was man fordert, nicht mehr unmittelbar umsetzen
muss. Es wäre zumindest konsequent gewesen, die Haltung, die man früher an den Tag gelegt hat, zu vertreten.
Aber ich begrüße, dass hier ein Lernprozess stattgefunden hat.
({4})
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Die Bekämpfung der Diskriminierung von Sinti und Roma ist
eine europäische Aufgabe. Ich glaube, dass wir den betroffenen Staaten gegenüber klar artikulieren müssen,
was wir von ihnen erwarten, und dass wir auch in
Deutschland etwas tun müssen. Aber da sehe ich den
Ansatz eher im Bereich Bildung und Integration als in
den konkreten gesetzgeberischen Maßnahmen, die zum
Teil auch in dem Antrag der Grünen vorgeschlagen worden sind. In diesem Sinne sollten wir uns dem Thema
weiter widmen.
Vielen Dank.
({5})
Ich erteile das Wort Kollegen Johannes Jung, SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Roma gelten zwar als die größte ethnische Minderheit in Europa; aber zuallererst sind sie genau das,
was alle anderen auch sind: Sie sind Europäer, und sie
sind Teil unserer Gesellschaften und unserer europäischen Kultur. Roma sind nicht Opfer und trotz schwieriger gemeinsamer Geschichte sind sie auch nicht „die anderen“.
Ich möchte dazu eine Aussage von Herrn Romani
Rose zitieren, die er unlängst hier in Berlin auf der
UNICEF-Konferenz gemacht hat. Sie lautet:
Wir wollen keine Musikfeste, sondern die gleichen
Rechte wie alle anderen in unseren Heimatländern.
- Ich füge hinzu: Roma und Sinti müssen diese Rechte
wahrnehmen können.
({0})
Die Lebenswirklichkeit von Roma in Europa ist sehr
vielfältig. Von daher ist Vorsicht vor Verallgemeinerungen angebracht. Vorsicht ist auch angebracht in Bezug
auf Beispiele, die den Eindruck allgemeiner Zustände erwecken wollen. Ebenso ist Vorsicht im Umgang mit
Zahlen vonnöten. Denn es gibt aus verschiedenen nachvollziehbaren Gründen kaum gesicherte Daten über
Roma in Deutschland bzw. über Sinti und Roma in Europa. Wir wollen und sollten nicht mit dem Finger auf
andere Länder zeigen. Die Probleme lassen sich nicht
auf bestimmte Länder oder Ländergruppen begrenzen.
Es wurden verschiedentlich Beispiele genannt; ich
möchte drei hinzufügen, die das aus meiner Sicht ein
wenig verdeutlichen. Da äußert sich beispielsweise der
tschechische Vizepremier extrem abfällig über Roma.
Diese Wortwahl hätte in unserem Land hoffentlich einen
Rücktritt erforderlich gemacht. In Slowenien, das sonst
das Musterländle der EU-Erweiterung ist und das ich oft
und gerne als Erfolgsbeispiel im Hinblick auf alle möglichen Politikbereiche anführe, verhindern militante Dörfler, ein bewaffneter Mob, in finsterer, geradezu mittelalterlicher Manier die Durchsetzung von Grundrechten der
Roma in ihren Landgemeinden. Die staatlichen Autoritäten ziehen es vor, sich von der Europäischen Union rüffeln zu lassen, und greifen nicht durch.
Aber auch in Koblenz - es liegt bekanntlich in der
Bundesrepublik - haben Mitarbeiter der Kreisverwaltung laut darüber nachgedacht, ob man Roma aus dem
Johannes Jung ({1})
Kosovo, die in diesem Landkreis als Flüchtlinge ihr Leben fristen, einfach in die Slowakei abschieben könne,
wo schließlich viele Romagruppen lebten.
Das sind Beispiele, die klarmachen, dass sowohl individuelles Verhalten von Staatsbürgern, von Angehörigen
der sogenannten Mehrheitsgesellschaften, als auch das
Handeln von staatlichen Behörden viel Kritik geradezu
herausfordern. Hier muss Abhilfe geschaffen werden.
Die „Frankfurter Rundschau“ bringt es auf den Punkt
- Zitat -:
… in Bezug auf die jeweilige Roma-Minderheit
kann so gut wie jedes EU-Land getrost vor der eigenen Haustür kehren.
Dazu sage ich: Vor der eigenen Haustüre sollten wir
zwar anfangen, aber im vereinten Europa nicht damit
aufhören.
Dass wir uns in angemessener Art und Weise mit den
Schwierigkeiten der Roma in den EU-Staaten auseinandersetzen, bedeutet nicht - dies kann es nicht bedeuten -,
dass wir die Augen vor den bei uns zu Hause bestehenden Problemen verschließen. Roma sind in Europa nach
wie vor Diskriminierungen und Benachteilungen ausgesetzt. Ihnen gegenüber bestehen Vorurteile. Sie begegnen rassistisch motivierter Gewalt und struktureller Diskriminierung durch Polizei und Behörden. Das Leben
vieler Familien ist durch soziale Probleme geprägt; auch
darüber darf man nicht hinwegsehen.
Dies darf nicht so bleiben. Wir wollen unseren Teil
dazu beitragen, dass sich das ändert. Wir haben die Verpflichtung, alle Formen von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung entschieden zu bekämpfen
und für den Schutz von Minderheiten einzutreten.
({2})
Rund eine halbe Million Sinti und Roma wurde
Opfer des Völkermords in der Nazizeit. Dieser Völkermord ist lange verdrängt, bagatellisiert oder sogar geleugnet worden. Es bedarf weiterhin hartnäckiger Aufklärung, um die Geschichte der Verfolgung und
Vernichtung der Roma bewusst zu machen.
Ich füge hinzu: Es gibt natürlich einen unmittelbaren
Horrorzusammenhang mit der Vernichtungspolitik der
Nazizeit und weniger auffallenden Schwierigkeiten im
Umgang mit der Minderheit der Roma in der Bundesrepublik sowie der Lage in den EU-Beitrittsländern und im
weiteren Osteuropa; das sollte man nicht vergessen. Man
trifft auch aus diesem Grund mehr Angehörige der
Romaminderheit in Osteuropa an als in der Bundesrepublik Deutschland. Das ist ein Umstand, der immer unter
den Tisch fällt und in der öffentlichen Diskussion keine
Rolle spielt. Dies ist zwar ein Horrorzusammenhang,
aber eigentlich auch ein sehr einfacher und direkter Zusammenhang. Ich frage mich, warum wir uns mit Verweis auf die Lebensumstände in Osteuropa häufig in die
eigene Tasche lügen.
Ich begrüße, dass in der vergangenen Woche offenbar
endlich eine Einigung über die Gestaltung des Mahnmals für die im Zweiten Weltkrieg ermordeten Sinti und
Roma erzielt wurde. Die Bundesregierung unterstützt
den Bau dieses Mahnmals und die Arbeit des Dokumentations- und Kulturzentrums direkt.
Sinti und Roma sind als eine von vier nationalen Minderheiten in Deutschland anerkannt und werden entsprechend gefördert. In Deutschland leben aber nicht nur
deutsche Sinti und Roma, sondern auch zahlreiche
Romaflüchtlinge aus anderen Ländern und Regionen,
vor allem aus dem Kosovo. Meine Vorrednerinnen und
Vorredner haben die teils sehr schlechte Lage dieser
Flüchtlinge bereits beklagt. Wir sollten uns allerdings
klarmachen, dass viele dieser Schwierigkeiten klassische
Flüchtlingsprobleme und keine klassischen Romaprobleme sind und dass hier keine Unterschiede bestehen;
um es einmal vereinfacht darzustellen. Das macht die Situation nicht besser. Daher sollten wir dringend etwas
ändern.
Ein weiterer Schritt im Hinblick auf die Bemühungen
der Europäischen Union und auf europäischer Ebene insgesamt wäre übrigens getan, wenn sich die Staats- und
Regierungschefs auf dem jetzt tagenden EU-Gipfel auf
die Rechtsverbindlichkeit der EU-Grundrechtecharta einigen könnten. Auch aus diesem Grunde sollten wir der
Bundesregierung für die schwierigen Verhandlungen Erfolg wünschen.
({3})
Zum Antrag der Koalitionsfraktionen möchte ich
Folgendes ausführen: Es ist mir unverständlich, wie Herr
Beck sagen kann, wir hätten eine bestimmte Konnotation in diesem Antrag; die vermag ich beim besten Willen nicht zu erkennen. Es gab allerdings ein monatelanges Hin und Her zwischen Innenministerium und den
Innenpolitikern der Unionsfraktion - ich betone: den Innenpolitikern -, das mich ein bisschen ins Zweifeln gebracht hat. Ich habe mich gefragt, wo eigentlich die inhaltlichen Schwierigkeiten liegen. Ich hatte den
Eindruck, dass die Innenpolitiker die große, über allem
schwebende Sorge hatten, dass die Bundesrepublik bei
diesem Thema schlecht abschneiden könnte. Diese
Sorge ist, glaube ich, nicht begründet. Falls diese Sorge
existiert, bricht sie an der konkreten Lebenslage, die man
nicht ignorieren und wegwischen kann.
Gewiss zählen Roma in Osteuropa in der Mehrheit zu
den Verlierern der Transformation. Die Schwierigkeiten
dieser Minderheit nach Osten zu verschieben, würde den
Menschen und der Sache aber überhaupt nicht gerecht.
Auch diesbezüglich sind Aufklärung und eine intensive
Auseinandersetzung mit dem Thema offenbar notwendig.
Die Probleme, denen sich Roma in Europa gegenübersehen, sind im Laufe dieser Aussprache bereits ausführlich dargestellt worden. In der Antwort der Bundesregierung auf Ihre Frage, Herr Beck, werden sie
ebenfalls umfassend ausgeführt. Deshalb kann ich mich
an dieser Stelle kurz fassen. Völlig außer Frage steht,
dass wir Diskriminierung und Rassismus in Europa in
keiner Form dulden wollen. Hier gilt: Null Toleranz. Die
Johannes Jung ({4})
sozialen Probleme lassen sich mit vier Stichpunkten umreißen: Bildung, Arbeit, Wohnung und Gesundheit.
Die Bildung spielt auch hier selbstverständlich die
Schlüsselrolle. Wir müssen diesen Teufelskreis durchbrechen.
Wir sollten nicht vergessen, dass in der Bundesrepublik Deutschland diverse Studien und die allgemeine Lebenserfahrung - in diesem Fall ist das deckungsgleich gezeigt haben, dass das deutsche Schulsystem kaum geeignet ist, den unterschiedlichen Bildungshintergrund
von Kindern auszugleichen, sondern die Gräben vertieft.
Das Schulsystem muss drastisch geändert werden, auch,
damit es der Lebenssituation von Roma und Sinti in der
Bundesrepublik gerecht werden kann; das gilt aber nicht
nur für Romakinder.
Bei allen Bemühungen, die Situation von Roma zu
verbessern, sollten die Hürden in der Romagemeinschaft
nicht vergessen werden; auch sie müssen überwunden
werden. Das ist ein heikles Thema, über das wir in den
Ausschüssen noch weiter beraten müssen.
Ich komme zum Schluss: Der Bundestag hat zuletzt
1986 einen maßgeblichen Antrag zum Thema „Sinti und
Roma“ verabschiedet. Damals ging es - man muss sagen: endlich - um die Entschädigung von Naziopfern. In
den letzten 20 Jahren ist viel geschehen, nicht zuletzt
durch die Zeitenwende in Europa von 1989/90. Wir sollten in den nächsten Jahren unseren Teil dazu beitragen,
dass entscheidende Verbesserungen der Lebensverhältnisse und beim Umgang der Mehrheitsbevölkerung mit
der Minderheitsbevölkerung erreicht werden können.
Die Arbeitsleistung und die Sensibilität von uns Parlamentariern sind hierbei gefragt.
Vielen Dank.
({5})
Ich erteile das Wort Kollegen Michael Leutert, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gegen Diskriminierung und Rassismus vorzugehen, ist die
eine Sache, der wir uns stellen müssen. Eine andere Sache ist es, unserer historischen Verantwortung gegenüber den Sinti und Roma gerecht zu werden.
Von allen Rednerinnen und Rednern wurde bereits erwähnt - auch ich erinnere noch einmal daran -, dass
500 000 Sinti und Roma dem Holocaust der Nazis zum
Opfer gefallen sind. Aus diesem Grund halte ich es für
einen Fehler, dass sich der Koalitionsantrag hauptsächlich den Roma mit deutscher Staatsangehörigkeit widmet und nicht den Roma als ethnischen Minderheit. In
Deutschland gibt es - das ist mehrfach angesprochen
worden - 33 000 geduldete, hauptsächlich Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Balkan. Ich denke, wir sind allen
Roma und Sinti verpflichtet und nicht nur denen mit
deutscher Staatsangehörigkeit.
({0})
Diese geduldeten Flüchtlinge haben mit drei Diskriminierungen zu kämpfen: Erstens. Sie sind Menschen
ohne deutsche Staatsangehörigkeit, in dem Sinne Ausländer. Zweitens. Wir sprechen über spezifische Diskriminierungen von Roma und Sinti. Die Ressentiments in
der Bevölkerung sind bekannt: Sie sind Roma. Drittens.
Als Flüchtlinge fallen sie unter das Asylbewerberleistungsgesetz. Das heißt, sie haben so gut wie keinen Zugang zum Arbeitsmarkt, einen sehr schlechten Zugang
zum Bildungssystem, einen sehr schlechten Zugang zum
Gesundheitswesen, unterliegen einer Residenzpflicht,
wohnen in Massenunterkünften usw. Die Liste ist lang
fortsetzbar.
Letztendlich fallen sie nicht unter die Bleiberechtsregelung, die die Innenministerkonferenz im November
2006 beschlossen hat - Kollegin Steinbach hat darauf
hingewiesen -, da sie faktisch davon ausgenommen sind,
weil sie ihren Lebensunterhalt meistens nicht aus eigener
Kraft bestreiten können. Das ist ein Spezifikum der Sinti
und Roma. Deshalb fallen sie nicht unter diese Bleiberechtsregelung.
Ganz im Gegenteil, wie der „Zeit“ vom 24. Mai 2007
zu entnehmen ist: In Rheinland-Pfalz wurde vor einiger
Zeit versucht, 500 Sinti und Roma in ihr sogenanntes
Stammland, in die Slowakei, abzuschieben. Zu dieser
Aktion ist es dann dank der Öffentlichkeit nicht gekommen. Für mich stellt sich die Frage: Wie können wir in
Deutschland trotz unserer historischen Verantwortung
dulden, dass Opfer von Krieg und Terrorismus von
uns noch einmal zu Opfern, nämlich zu Vertreibungsopfern, gemacht werden, indem wir sie umsiedeln wollen? Frau Steinbach, Sie werden mir auch in diesem
Punkt zustimmen, dass diese Menschen zum zweiten
Mal in ihrem Leben Opfer werden. Das sollten wir hier
in Deutschland eigentlich nicht dulden.
({1})
Wir haben also die Chance, wenigstens diesen
33 000 Menschen im Zuge einer historischen Wiedergutmachung ein dauerhaftes Bleiberecht zu geben und ihren
Status als Flüchtlinge - das war die dritte Diskriminierungsebene - einfach zu streichen. Im Zuge dessen würden wir natürlich auch etwas für die Menschenrechte
tun. Das ist völlig klar.
Ein Vorbild dafür könnte Folgendes sein: Die letzte
DDR-Regierung hat 1990 eine Aufnahmeregelung für
jüdische Flüchtlinge aus der Sowjetunion beschlossen.
Diese wurde 1991 von den Regierungschefs des Bundes
und der Länder nach Beratung durch die Innenministerkonferenz erneut beschlossen. Heute geht es nicht um
eine Aufnahme. Heute geht es nur um den Verzicht auf
Abschiebung und um ein Bleiberecht. Zu diesem Schritt
sollten wir in der Lage sein. Wenn dieser Schritt nicht
möglich ist, sind alle anderen Maßnahmen nur Lippenbekenntnisse.
Ich danke.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Es ist beantragt worden, die Entschließungsanträge
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksachen 16/5784 und 16/5785 zu Tagesordnungspunkt 27 a
zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe und zur Mitberatung
an den Auswärtigen Ausschuss, den Innenausschuss, den
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend,
den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung sowie an den Ausschuss für Kultur und
Medien zu überweisen. Der Entschließungsantrag auf
Drucksache 16/5785 soll zusätzlich an den Ausschuss
für die Angelegenheiten der Europäischen Union überwiesen werden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/5736 zu Tagesordnungspunkt 27 b an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, Klaus
Brähmig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gabriele
Groneberg, Dr. Sascha Raabe, Stephan Hilsberg,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Klimawandel global und effizient eindämmen - Klimaschutz und Anpassungsmaßnahmen in Entwicklungsländern entschieden
voranbringen
- Drucksache 16/5740 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Gabriele Groneberg, SPD-Fraktion, das Wort.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Heute steht ein Antrag
auf der Tagesordnung, der sich mit dem Klimaschutz beschäftigt. Alle Welt redet über den Klimaschutz. Wir im
Bundestag tun das natürlich auch. Die Bedeutung dieses
Themas zeigt sich heute schon daran - deshalb mein
Dank an die dafür Zuständigen und Beteiligten -, dass
wir mehr Redezeit als gewöhnlich für ein solches Thema
zur Verfügung haben. Das unterstreicht, denke ich, die
Bedeutung dieses Antrages.
Wir sprechen hier nicht über ferne Zukunftsszenarien.
Wir sprechen über die Gegenwart. Nur wenn wir heute
anfangen, umzusteuern, haben wir noch eine Chance, die
schlimmsten Auswirkungen der Erderwärmung zu verhindern. Klimaschutz muss unserer Meinung nach als
globale Aufgabe begriffen werden. Das heißt nichts anderes, als mit der ganzen Welt zusammen daran zu arbeiten.
Wir wissen, dass das nicht immer ganz einfach ist.
Die Industrienationen tragen die Hauptverantwortung
für den Ausstoß von CO2 und die dadurch verursachten
Folgen. Wir haben uns damit auseinandergesetzt, nicht
zuletzt im Rahmen des G-8-Gipfels und in den EU-Ländern. Wir haben uns mit den anderen darauf verständigt,
den Klimawandel aktiv zu bekämpfen. Wir haben uns
gerade im Rahmen der EU konkrete und ehrgeizige Ziele
gesetzt.
Es gibt natürlich auch Staaten, die sich nur mit Mühe
überhaupt darauf einlassen, die Gefahren des Klimawandels zuzugeben und anzuerkennen. Von den aktiven Zielen einer Bekämpfung des Klimawandels sind diese weit
entfernt.
Außerdem gibt es die Schwellenländer - zum Beispiel China und Indien -, in denen der wirtschaftliche
Aufbruch und die wirtschaftliche Entwicklung im Zeitraffer geschehen und die einen großen Energiehunger
entwickeln, der befriedigt werden will.
Die dritte Gruppe sind die Entwicklungsländer. Sie
sind in hohem Maße von der Agrarwirtschaft abhängig.
In diesen Ländern wirken sich Wetterextreme aufgrund
der schon immer schwierigen klimatischen Bedingungen
besonders gravierend aus. In den ländlichen Räumen
dieser Länder gibt es abgesehen von der Landwirtschaft
kaum andere Möglichkeiten, einer Beschäftigung nachzugehen und Einkommen zu erzielen. Die Menschen
und ihre Lebensgrundlagen sind akut bedroht, wenn die
wichtigste Produktionsressource, der Boden, aufgrund
des Klimawandels degradiert und zerstört wird und einfach ausfällt.
Ein weiteres Problem ist die Bedrohung durch Unwetter. Jüngstes Beispiel ist das Unwetter, das vor ein
paar Tagen in Bangladesch gewütet hat. Diese Regenfälle - die heftigsten seit Jahrzehnten in Bangladesch haben schwere Verwüstungen angerichtet. Viele Bewohner der Hafenstadt Chittagong wurden von diesem Unwetter überrascht. Sie ertranken oder wurden unter Erdrutschen begraben. Natürlich widerfuhr das nicht den
Menschen, die in festen Häusern wohnen, sondern denjenigen, die in den Elendsvierteln in Stroh- und Bambushütten wohnen. Nach einem heftigen Monsunregen war
ein Hügel über der Siedlung teilweise abgerutscht und
hatte die dort lebenden Menschen mitgerissen. Solche
Ereignisse häufen sich. Unwetter machen vor keinem
Kontinent Halt, ob es Lateinamerika, Asien, Afrika oder
Europa ist.
Der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur
wird die Bedrohung durch den Klimawandel weiter verschärfen. Ganze Staaten, etwa die kleinen Inselstaaten
im Pazifik oder in der Karibik, werden in ihrer Existenz
bedroht. Durch den Anstieg des Meeresspiegels sind sie
der Gefahr der völligen Überflutung ausgesetzt. Sie werden schlichtweg von der Landkarte gelöscht werden.
Die Vernichtung der Urwälder trägt zur Klimakatastrophe bei. Brasilien und Indonesien sind Länder, mit
denen wir schon seit vielen Jahren Entwicklungszusammenarbeit betreiben. Gleichzeitig halten sie aber auch
den traurigen Rekord, was die Vernichtung von Wäldern
angeht. Die Produktion von Palmöl, das nicht zuletzt in
den Industriestaaten als Biosprit verwendet wird, und die
damit einhergehenden Brandrodungen haben dazu geführt, dass Indonesien, was das Ausmaß der CO2-Emissionen angeht, weltweit mittlerweile an dritter Stelle
steht. Die zunehmende Verknappung von Boden und
Trinkwasser war und ist immer auch eine Ursache politischer Krisen und Konflikte. Durch die drohende Erderwärmung werden wir in Zukunft auch mit einer Zunahme der Migrationsströme rechnen müssen.
UN-Generalsekretär Ban Ki Moon hat vor einiger
Zeit darauf hingewiesen, dass der Klimawandel seiner
Meinung nach gefährlicher als ein Krieg sei. Demnach
flüchten die Menschen in Zukunft nicht nur vor Krisen
und Konflikten, sondern vor allem auch vor dem Klimawandel.
Die besondere Verwundbarkeit der Entwicklungsländer korreliert mit einem niedrigen Prokopfeinkommen.
Diese Länder sind durch ein extrem hohes Niveau der
Armut ihrer Bevölkerungen gekennzeichnet. Sie verfügen kaum über wirtschaftliche oder institutionelle Ressourcen. Fast zwei Drittel der Menschen in diesen Ländern leben von weniger als 1 Dollar pro Tag, fast
90 Prozent von weniger als 2 Dollar pro Tag. Um die
Größenordnung dieses Problems deutlich zu machen: Es
handelt sich hierbei um rund 50 Länder, und die meisten
von ihnen liegen in Afrika.
Die Industrieländer tragen die Hauptverantwortung
für den bereits eingeleiteten Klimawandel. Wir sind uns
sicherlich einig, dass wir alle aufgefordert sind, den Ländern, die den Klimawandel am wenigsten zu verschulden haben, aber am stärksten von ihm betroffen sein
werden, zu helfen. Der Verantwortung, die wir hier haben, müssen wir mit wirksamen Klimaschutzstrategien
Rechnung tragen.
({0})
Für uns heißt das im Klartext: Die entwicklungspolitische Zusammenarbeit muss sich auf die neuen Erfordernisse einstellen. Sie muss in ein ressortübergreifendes
Klimaschutzkonzept eingebettet werden, um einen substanziellen Beitrag zur Bewältigung dieser einzigartigen
Herausforderung leisten zu können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, leider fehlt mir die
Zeit, auf unseren Antrag im Einzelnen einzugehen. Darin
haben wir uns umfassend mit diesem Thema auseinandergesetzt. Wir haben eine Beschreibung der Situation
vorgenommen und geeignete Strategien entwickelt, um
diese Aufgabe anzugehen. Ich denke, es ist sinnvoll und
notwendig, dass wir darüber im Ausschuss diskutieren.
Nichtsdestotrotz hoffe ich, dass Sie unsere Beschreibung der Situation teilen und dass wir Ihre Unterstützung bekommen, was die Maßnahmen betrifft, die wir in
Zukunft durchführen wollen und die wir in Deutschland
bereits in Angriff genommen haben. Das, was hier heute
Morgen stattgefunden hat, war unserer Meinung nach
ein gutes Beispiel. Es ist schade, dass die Fraktion der
Grünen unserem Vorschlag nicht folgen konnte.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich erteile das Wort Kollegen Karl Addicks, FDPFraktion.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der globale Klimawandel macht die Entwicklungspolitik zu einer noch größeren Herausforderung, als sie es
ohnehin ist. Es ist wirklich gut, dass wir alle in diesem
Hohen Hause diese Herausforderung angenommen und
akzeptiert haben. Viel zu lange hat es gedauert, bis der
Zusammenhang zwischen den Emissionen und den globalen Klimaänderungen akzeptiert worden ist. Nachdem
das endlich in den Köpfen angekommen ist, ist es allerhöchste Zeit, die Konsequenzen zu ziehen und endlich
konkret zu handeln.
({0})
Natürlich sind an erster Stelle die Industrienationen
gefordert. Aber eine zukunftsgerichtete Entwicklungspolitik ist gut beraten, den Klimawandel und den Umweltschutz bei jeder einzelnen Maßnahme zu berücksichtigen und das in den Entwicklungsländern zum Teil
erst rudimentär entwickelte Umwelt- und Klimabewusstsein gezielt zu fördern. Fatal wäre es, wenn die Entwicklungsländer die Fehler wiederholen würden, die die Industrienationen bei ihrer eigenen Entwicklung gemacht
haben. Aus Fehlern kann und muss man lernen. Hier stehen alle Nationen in einer globalen Verantwortung.
({1})
- Danke.
Im Moment sind die Emissionen der Entwicklungsländer zwar relativ gering. Aber die Schwellenländer
zeigen uns, wie schnell, geradezu exponentiell diese
Emissionen wachsen. Wenn das Maß an Entwicklung,
das wir uns für alle Menschen auf der Welt wünschen,
erreicht wird - und es wird kommen -, wäre es verhängnisvoll, diese Entwicklung verliefe ohne entsprechenden
Klimaschutz.
Die Expertenberichte zum Klimawandel haben uns
eindringlich gezeigt, dass es eigentlich schon fünf nach
zwölf ist. Denn die Auswirkungen des Klimawandels
treffen erst nach einer gewissen Latenzzeit ein. Das Szenario ist mittlerweile jedem bekannt. Ich will es hier
nicht noch einmal im Einzelnen beschreiben, aber festhalten: Es trifft vor allem die Entwicklungsländer mit
ihren dichtbevölkerten Küstenregionen, es gibt Dürreperioden - wir erinnern uns an unseren Besuch in Nordkenia -, es gibt Flutkatastrophen wie in Mosambik. Die
Kosten der Beseitigung solcher Schäden werden die
weltweiten Ausgaben für EZ bei weitem übertreffen,
wenn wir dieses Problem nicht sofort entschieden angehen. Deshalb müssen die Entwicklungsländer in jede
Klimaschutzstrategie von Anfang an einbezogen werden.
Klimapolitik heißt, Energieversorgung und Umweltschutz gleichermaßen zu berücksichtigen. Es wäre
gut, wenn die großen Industrienationen dabei mit gutem
Beispiel vorangingen.
({2})
Die Vereinigten Staaten sind leider bis dato kein besonders gutes Beispiel. Immerhin hat Präsident Bush beim
G-8-Gipfel einen Hoffnungsschimmer erkennen lassen,
auch wenn das noch immer nicht das erforderliche konzertierte Handeln ist.
Vor allen Dingen brauchen wir eine substanzielle Verstärkung des Ausbaus der erneuerbaren Energien.
({3})
Es kann nicht sein, dass in der Wüste bei 40 Grad Hitze
und senkrecht stehender Sonne ein Generator dröhnt, um
Strom zu erzeugen. Mir würden da ad hoc viele Maßnahmen einfallen. Wir haben das ja bei unseren Besuchen
selber sehen können.
Natürlich muss jede Technik, die wir in die Entwicklungsländer bringen, angepasst sein. Es macht keinen
Sinn, ultimative, hochsensible Technik nach Afrika zu
bringen - wir brauchen eine dem dortigen Entwicklungsstand angepasste, einfach beherrschbare Technik, das ist
Trumpf.
({4})
Sonst geht es den Projekten so wie dem im Senegal, das
wir neulich gesehen haben: Die Solaranlage der örtlichen Wasserversorgung war weg, und es wurde ein Dieselgenerator hingestellt, weil die Menschen mit der
Solartechnik noch nicht zurechtkamen, vielleicht auch
weil wir sie damit alleingelassen haben. Bei jedem Projekt müssen die Folgemaßnahmen - Maintenance etc. berücksichtigt werden. Wir können nicht einfach Fertigprojekte hinstellen und dann nach Hause gehen. Wir
müssen die notwendigen Maßnahmen zusammen mit
den Regierungen der Entwicklungsländer angehen.
Wichtig ist dabei, dass der Postkiotoprozess anläuft.
Das macht nur Sinn, wenn alle mitmachen. Ich rufe von
dieser Stelle aus die USA, Indien und China auf, sich
dieser Aufgabe zu stellen und sich auf verpflichtende
Maßnahmen zu verständigen. Die Zeit für Ausflüchte
und für Vogel-Strauß-Politik ist abgelaufen.
({5})
Ich komme zu dem Antrag der Koalition. Dieser Antrag zeigt uns leider wieder einmal, dass die Rechte nicht
weiß, was die Linke tut; mein Kollege Kauch hat das
heute Morgen schon angesprochen. Ich gebe sinngemäß
die Forderung 8 Ihres Antrages wieder: Im Rahmen der
Haushaltsaufstellung ist festzulegen, wie die Einnahmen
aus dem Emissionshandel für die Entwicklungsländer
verwendet werden könnten. - Demnach müssten diese
Einnahmen also in den Haushalt des BMZ fließen. Ich
hoffe, ich verstehe das richtig.
({6})
In dem Gesetzentwurf, den Sie am Mittwoch im Ausschuss behandelt und heute Morgen verabschiedet haben, steht sinngemäß: Die Erlöse aus der Veräußerung
der Emissionsrechte werden in den Haushalt des Bundesumweltministers eingestellt. - Was denn nun?
({7})
Lieber Herr Kollege Raabe, wir haben am Mittwoch
ja darüber gesprochen: Das ist das Ergebnis, wenn man
umfangreich geänderte Entwürfe bei laufender Sitzung
einfach einmal eben so vorlegt und abnickt, ohne dass
man wirklich Kenntnis davon nehmen konnte. So kann
man nicht mit seiner parlamentarischen Verantwortung
umgehen. Das ist nicht nur in der Sache kontraproduktiv,
sondern das ist auch kein vernünftiger Umgang mit dem
Parlament. Machen Sie das in Zukunft bitte nicht mehr
so.
Vielen Dank.
({8})
Dr. Georg Nüßlein spricht jetzt für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Lieber Kollege Addicks, wie wir letztendlich Geld einsetzen, das wir noch nicht einmal vereinnahmt haben, sondern dessen Vereinnahmung wir heute erst einmal
beschlossen haben, entscheidet, mit Verlaub, dieser
Deutsche Bundestag. Das werden wir hier mit der Großen Koalition zu gegebener Zeit auch tun. Wahrscheinlich werden Sie dann bemängeln, dass Sie als FDP nicht
haben mitreden dürfen. Das macht uns dann aber auch
nichts aus.
({0})
Der „Spiegel“ titelte im März dieses Jahres: „Abschied vom Weltuntergang“. Wenn man diesen Artikel
liest, in dem all die Szenarien, die man bisher zum Klimawandel gelesen hat, infrage gestellt werden, dann
merkt man deutlich, dass es den Journalisten jetzt wahrscheinlich nur darum geht, eine andere, eine neue Sau
durchs Dorf zu treiben und einen anderen journalistischen Akzent zu setzen, nachdem der Klimawandel
scheinbar nicht mehr geeignet ist, die Gazetten so wie
bisher zu füllen.
Nun gipfelt dieser Artikel aber in dem Satz:
So dürfte Deutschland zweifellos zu den Gewinnern des Klimawandels gehören.
Unabhängig davon, dass der Konjunktiv „dürfte“ sprachlich nicht mit dem Wort „zweifellos“ zusammenpasst, ist
das natürlich ein Unding. Wir die Gewinner des Klimawandels? Da ziehe ich für mich die Schlussfolgerung:
Wenn es Gewinner gibt, dann gibt es ja offenkundig
auch Verlierer. - Bei diesem heutigen Antrag, mit dem
wir das Thema Klimawandel nicht nur vorrangig unter
Umwelt- und Wirtschaftsgesichtspunkten betrachten,
geht es uns hier im Deutschen Bundestag um genau
diese Verlierer.
Wenn man unabhängig von der Frage, was sich hier in
Deutschland tut, ein bisschen weiterdenkt, dann weiß
man, dass Krieg seit alters her Begleiter der Menschheit
ist und dass es in Kriegen immer um Verteilungskämpfe geht. Wenn es durch den Klimawandel zu einer
Verstärkung dieser Verteilungskämpfe - vielleicht nicht
bei uns, aber in anderen Regionen dieser Erde - kommt,
dann werden wir erbitterte Kriege und Auseinandersetzungen um Wasser, um Nahrung und um den Zugang zu
Rohstoffen erleben. Das kann einen doch schon aufgrund der christlichen Verantwortung nicht einfach kaltlassen.
({1})
Ich sage dazu aber auch: Das kann uns auch aus einem gewissen Eigeninteresse nicht kaltlassen.
({2})
- Es ist ja nichts Schlimmes, wenn man beide Seiten
sieht, nämlich auf der einen Seite die christliche Verantwortung, die Sie vielleicht nicht ganz so stark betonen
wie wir, und auf der anderen Seite das Eigeninteresse.
({3})
- Sie kommt bei uns als Erstes zum Tragen, lieber Herr
Kollege.
Wenn ich von unserem Eigeninteresse spreche - das
ist bei einem Bundespolitiker schließlich sinnvoll; wir
müssen an die Interessen der Bundesrepublik Deutschland denken -, dann habe ich vor Augen, dass Migrationsströme in allergrößtem Ausmaß auf uns zukommen. Ich persönlich glaube im Übrigen nicht, dass das
eine Fünftel - die Reichen - auf dieser Welt in Frieden
und Wohlstand leben kann, wenn es den anderen vier
Fünfteln zunehmend schlechter geht. Dazu wird der Klimawandel nämlich beitragen.
Deshalb ist es wichtig, Klimaschutz nicht nur als Teil
der Umweltpolitik zu betrachten, sondern auch als entscheidenden Bestandteil der Sicherheitspolitik und der
Entwicklungspolitik. Wir haben die Gründe dafür schon
von den Vorrednern gehört. Entwicklungsländer sind in
der Regel Agrarstaaten mit extremen Klimazonen, denen
die Mittel fehlen, um sich an die Veränderungen anzupassen.
Gerade die Schwellenländer sind erhebliche Mitverursacher dieser Veränderungen. Der jährliche Anstieg
der CO2-Emissionen Chinas ist so hoch wie die gesamten CO2-Emissionen Deutschlands in einem Jahr. Deshalb müssen wir uns aus meiner Sicht damit befassen,
wie wir international etwas bewegen können. Das ist nur
dann möglich, wenn wir in Deutschland und Europa
glaubwürdig Klimaschutz betreiben und zeigen, dass
sich etwas tut und dass wir in der Lage sind, die CO2Emissionen zu reduzieren und gleichzeitig den Wohlstand zu mehren und weiter zu wachsen.
({4})
- Ich weiß, dass das den Grünen nicht gefällt. Aber glauben Sie nicht, dass Sie in den Schwellenländern weiterkommen, wenn Sie darauf verweisen, dass kein weiteres
Wachstum möglich ist, weil wir sonst das Klima nicht
weltweit retten können!
({5})
Wir müssen zeigen, dass wir Wachstum von Klimaschutz und Ressourcenschonung entkoppeln können und
dass Ökologie und Ökonomie sinnvoll miteinander vereinbar sind.
({6})
Deshalb haben wir heute den Gesetzentwurf zum Emissionshandel beschlossen. Wir haben uns wohlüberlegt,
den Emissionshandel bei uns weiter zu implementieren,
und zwar auch mit Rücksicht auf bestimmte Branchen,
die wir nicht aus dem Land vertreiben dürfen, nur damit
sie woanders CO2 emittieren. Auch das muss man sich
vergegenwärtigen.
Wir haben die Versteigerung von Zertifikaten beschlossen. Im ersten Schritt ist der Verkauf von Zertifikaten für 40 Millionen Tonnen CO2 vorgesehen. Auf
Basis der derzeitigen Preise entspricht das etwa
800 Millionen Euro. Der Bundestag wird, wie gesagt,
darüber entscheiden, wie diese Einnahmen verwendet
werden. Persönlich würde ich mir wünschen, dass sie zugunsten des Klimaschutzes eingesetzt werden,
({7})
und zwar nicht nur auf nationaler, sondern auch auf internationaler Ebene, vor allem in den Entwicklungsländern, weil dort die Auswirkungen des Klimawandels am
gravierendsten sind und die stärkste Wirkung erzielt
werden kann.
({8})
In welchem Haushalt die Ausgaben veranschlagt werden, ist insofern zunächst unwichtig. Zu gegebener Zeit
werden wir zu einer sinnvollen Entscheidung darüber
kommen.
({9})
- Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen, lieber
Kollege, dann melden Sie sich bitte. Ich lasse sie gerne
zu.
({10})
Ich gehe davon aus, dass Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Aydin zulassen wollen.
Ja.
Bitte schön.
Sie haben vorhin gesagt, dass die Einnahmen nicht
nur auf nationaler Ebene, sondern vor allem auch in den
Entwicklungsländern für den Umweltschutz ausgegeben
werden sollen. Heißt das, dass die Bundesregierung Sie
dabei unterstützt? Ist das, was Sie gerade gesagt haben,
Gegenstand Ihrer Politik in den nächsten Jahren?
({0})
Lieber Kollege, ich gehe davon aus, dass Sie aufmerksam verfolgt haben, was Angela Merkel auf internationalem Parkett zu diesem Thema gesagt hat: Sie hat
klipp und klar gesagt - im Übrigen auch bei der letzten
Regierungserklärung -, dass wir uns mit diesem Geld in
den Entwicklungsländern entsprechend engagieren werden.
({0})
Ich setze auf das Wort der Kanzlerin und bin davon überzeugt, dass wir als Koalitionsfraktionen ihr auch an dieser Stelle folgen werden; denn sie macht eine überzeugende, gute und wohlüberlegte Klimapolitik.
({1})
Es gibt auch noch andere Themen, über die wir uns
unterhalten sollten, zum Beispiel ist das Thema CDM
heute schon angesprochen worden. Wir müssen uns im
Ausschuss darüber Gedanken machen, ob es einen Ansatzpunkt gibt, um das eine oder andere zu entbürokratisieren.
Wir müssen uns in einem nächsten Schritt überlegen,
wie man den Emissionshandel so ausbaut, dass andere
Bereiche - zum Beispiel der Luftverkehr - mit einbezogen werden können.
Wir sollten uns auch Gedanken über das Thema
Waldschutz machen. Das ist ein ganz entscheidendes
Thema - gerade in den Entwicklungsländern. Mit kann
in diesem Bereich nur etwas erreichen, wenn man denjenigen, die jetzt Wald roden, andere Möglichkeiten aufzeigt, um zu überleben und ökonomisch weiterzukommen.
Einen letzten Aspekt halte ich für ganz entscheidend:
Wir müssen bei dem Thema erneuerbare Energien vorankommen. Es ist wichtig, dass wir in diesem Land die
entsprechenden Techniken entwickeln und hier auch anwenden. Ich will keinen zweiten Transrapid, der dann
bei uns nicht zum Einsatz kommt, sondern ich will Technologien, bei denen man hier nachweisen kann, dass sie
funktionieren. Denn dann werden sie andernorts erst
recht funktionieren. Lassen Sie uns das in einem sinnvollen Technologietransfer voranbringen.
({2})
Es gibt also viel zu tun. Wir stehen noch am Anfang.
Aber ich bin froh, dass wir das Thema Klimaschutz auch
unter entwicklungspolitischen Gesichtspunkten beleuchten.
Vielen Dank.
({3})
Jetzt spricht Heike Hänsel für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Nüßlein, ich hoffe, Ihre christliche Nächstenliebe richtet
sich nicht nur auf Menschen, die in Ländern des Südens
leben, sondern auch auf diejenigen, die hierherkommen,
um hier einen Platz zu finden.
({0})
Der sogenannte Klimawandel ist kein Phänomen,
sondern durch den Menschen verursacht. Das hat nach
langem Anlauf jetzt auch die Große Koalition erkannt.
Damit ist aber auch schon Schluss mit der Erkenntnis.
Die konkreten Ursachen der Klimazerstörung werden in
Ihrem Antrag nur unzureichend benannt; dementsprechend sind auch die Antworten.
({1})
Ganz klar ist - wir haben es analysiert -: Das Weltenergiesystem, das immer noch auf fossile und atomare
Energien setzt, ist zerstörerisch. Der Kampf um Öl und
die militärische Nutzung der Atomkraft sind Konfliktursachen und fördern Kriege. Deshalb ist es entscheidend, dass wir die Umstellung unserer Energiesysteme
massiv vorantreiben.
({2})
Ein Instrument dabei - jetzt kommt der entscheidende
Punkt, der aber in Ihrem Antrag gar nicht genannt wird ist die Vergabepolitik der Weltbank und anderer Banken, zum Beispiel der Europäischen Investitionsbank.
Die gesamte Vergabepolitik dieser Banken muss kritisiert werden. Es wird hauptsächlich immer noch auf
großdimensionierte Erdöl-, Erdgas-, Staudamm- und Industrieprojekte gesetzt. Darüber liest man in Ihrem Antrag gar nichts. Es ist klimapolitisch verantwortungslos,
in diesem großen Maße immer noch auf fossile Energien
zu setzen und damit die großen Öl- und Energiekonzerne
zu subventionieren.
({3})
Wir fordern ganz klar den Ausstieg dieser Banken aus
der Förderung fossiler Energien und eine konsequente
Förderung regenerativer Energien. Frau Wieczorek-Zeul
hat sich ja bereits dahingehend geäußert. Ich frage mich,
warum in dem gesamten Antrag nichts darüber zu finden
ist.
Der andere für mich entscheidende Punkt ist, dass Klimaschutz auch eine andere Welthandelspolitik erfordert. Die jetzige Weltwirtschaftsordnung führt zu einer
unverantwortlichen Ausbeutung der Natur und einem damit verbundenen drastisch steigenden Rohstoff- und
Energieverbrauch, zur Abholzung der Urwälder und zu
einem stetig steigenden Transportvolumen an Waren.
({4})
Mit dem Wald- und Klimaschutz verbinden sich auch
Fragen nach den Lebensperspektiven der Menschen in
den Ländern des Südens und unserer Art des Wirtschaftens, dem System von Profitmaximierung auf Kosten der
Entwicklungschancen der Menschen in den Ländern des
Südens. Genau diese Handelspolitik treibt die Bundesregierung im Rahmen der Europäischen Union - Stichwort „Global Europe“ - und der aktuell geplanten Freihandelsabkommen mit Lateinamerika, den EPAs mit den
AKP-Staaten, voran. Davon sind die Existenzgrundlagen
von Millionen Menschen betroffen. Wenn Menschen
keine Perspektiven haben, weil ihre Existenzgrundlage
zerstört wurde, wenn beispielsweise die einheimischen
Bauern mit den Waren aus den Ländern des Nordens
nicht konkurrieren können, dann greifen sie auf andere
Ressourcen zurück und holzen zum Beispiel die Wälder
ab. Ein Beispiel von vielen ist Haiti. Eine Haupteinnahmequelle Haitis ist die Holzkohle. Die meisten Urwälder
in Haiti sind mittlerweile zerstört. Die Folgen sind klar;
das alles haben Sie beschrieben. Das sind Auswirkungen
der neoliberalen Handelspolitik. Wir fordern eine andere, eine solidarische Handelspolitik, wenn es um die
Länder des Südens geht.
({5})
Es gibt neue, interessante Vorschläge aus Lateinamerika. Ich möchte als aktuelles Beispiel einen Vorschlag aus Ecuador nennen. Dieses Land hat angeboten,
auf die Erdölförderung im Amazonasgebiet zu verzichten, wenn es dafür einen Ausgleich auf bilateraler Ebene
oder aus einem Kompensationsfonds, angesiedelt bei
den Vereinten Nationen, gibt. Hier könnte die Bundesregierung initiativ werden.
({6})
Bislang gibt es vonseiten der Bundesregierung keine Reaktion. Sie hätte aber zum Beispiel die Möglichkeit,
Ecuador die 50 Millionen Euro, mit denen es bei der
Bundesrepublik verschuldet ist, zu erlassen und diese
Mittel in einen Fonds einzuzahlen, mit dem die Kompensation für nichtgefördertes Erdöl finanziert wird.
({7})
Das ist für mich die Zukunft und ein konkreter Beitrag
zum Klimaschutz. Wir müssen solche Initiativen unterstützen.
Die Vereinten Nationen müssen eine aktive Rolle
spielen, wenn es um Weltenergiefragen geht. Noch besser wäre es, statt eines undemokratischen UN-Sicherheitsrates einen demokratischen Weltenergierat zu
installieren - und zwar unter breiter Beteiligung der Zivilgesellschaft -, der über die wichtigsten klimapolitischen Fragen entscheidet. Das wäre zukunftsweisende
Politik.
({8})
Wenn ein solcher Rat noch über die 900 Milliarden
Euro, die derzeit weltweit für Rüstung ausgegeben werden, verfügen könnte, dann wären wir auf dem richtigen
Weg.
Danke.
({9})
Jetzt spricht die Kollegin Ute Koczy für Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Große Koalition mag mit ihrem Antrag
zufrieden sein. Aber ich sage: Dieser Antrag streut Sand
in die Augen. Zwar werden unter der Überschrift „Klimawandel global und effizient eindämmen“ durchaus
ehrgeizige Maßnahmen beschrieben, die dem Schutz der
Entwicklungsländer und der Rettung des Klimas dienen.
Aber das ist der vielfach vereinbarte Sachstand. Liebe
Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen,
Sie wecken mit Ihrer korrekten Analyse - der Klimawandel hat dramatische Folgen für die Entwicklungsländer - große Erwartungen, weil jeder denkt: Jetzt geht es
los; jetzt wird in die Hände gespuckt; jetzt wird wirklich
etwas getan! Wenn man sich aber den Forderungsteil genau anschaut, dann stellt man fest, dass der Antrag der
Koalitionsfraktionen gerade einmal ein Stückchen über
das hinausreicht, was eigentlich schon vereinbart ist. Ich
werte das nicht als Erfolg, nicht weil ich die Fortschritte nicht erkennen kann, die dieser Antrag aufzeigt,
sondern weil die gigantische Aufgabe, vor der wir stehen, nicht im Schneckentempo und erst recht nicht
stückchenweise angegangen werden kann.
({0})
Wenn wir den Klimawandel nicht in den nächsten
zehn Jahren abbremsen, werden das Austrocknen des
Amazonasregenwaldes und das Ausbleiben des asiatischen Monsuns zur Realität. Wir werden unseren Planeten nicht mehr wiedererkennen. Für all das braucht man
heutzutage noch nicht einmal die Fähigkeiten einer Kassandra. Uns ist klar, dass das 2-Grad-Ziel erreicht werden muss. Es ist gut, dass Schwarz-Rot diese Ziellinie
als die ihre erkannt hat.
Wir Grünen fordern ein multilaterales, völkerrechtlich
verbindliches Klimaregime, das Emissionsminderungsverpflichtungen mit Technologiekooperation verbindet.
Wir Grünen fordern weiter ein ambitioniertes Abkommen Kioto-plus, und zwar unter dem Dach der UN-Klimarahmenkonvention. Spätestens bis 2013 muss dieses
Kioto-plus in Kraft treten.
Wenn wir jetzt nicht gegensteuern, werden sich die
globalen jährlichen Emissionen bis 2050 noch einmal
verdoppeln. Weil das so ist, muss man sofort handeln. Es
zählt jeder Monat. Da müsste doch eigentlich mehr drin
sein als beispielsweise nur die schwache Formulierung
im Antrag zum Emissionshandel, es bei einem Versteigerungssystem nicht zu Standortnachteilen im Bezug auf
internationale Investitionen kommen zu lassen.
({1})
Das ist echt mager.
Zum Glück steigt die Bundesregierung endlich - sozusagen zum Jagen getragen - mit 10 Prozent in die Versteigerung ein. Wir Grünen weisen da in die Zukunft
und fordern, dass 100 Prozent der Zertifikate ab 2013
versteigert werden. Das hätte in Ihren Antrag aufgenommen werden können.
Es geht darum, endlich Geld - und zwar viel Geld - in
die Hand zu nehmen, um dem Klimawandel entgegenzuwirken und um zu verhindern, dass er uns eines Tages so
teuer zu stehen kommt, dass kein Geld mehr ausreichen
wird, um die Schäden rückgängig zu machen.
Dass es in ganz wesentlichen Bereichen nur ganz geringe Fortschritte gibt, zeigt die G-8-Initiative zur Stärkung des Tropenwaldschutzes, genauer gesagt zur vermiedenen Entwaldung. Dass es diese Initiative gibt, ist
gut. Dass die Bundesregierung 40 Millionen Euro beisteuern will, ist auch gut. Das Problem werden wir aber
mit solch kleinen Beiträgen nicht lösen. Wir alle wissen,
dass die Zerstörung des Waldes die zweitwichtigste Ursache von Treibhausgasen ist. 20 bis 25 Prozent der
Emissionen gehen auf die Waldzerstörung zurück.
Nicholas Stern beziffert die Kosten für einen effizienten
Waldschutz mit jährlich 15 Milliarden Dollar.
Nach Schätzungen der Weltbank wird die Anpassung
an unvermeidbare Auswirkungen des Klimawandels
jährliche Zusatzkosten von 10 bis 40 Milliarden US-Dollar verursachen. Bis 2030, so die Mindestschätzung,
müssten für Energie in Entwicklungs- und Schwellenländern jährlich circa 319 Milliarden US-Dollar ausgegeben werden.
Ich habe mich gefreut, bezüglich der Frage, was die
Deutschen machen, im Antrag zu lesen, dass die Bundesregierung in rund 40 Partnerländern erneuerbare
Energien und eine effiziente Energienutzung mit einem
Volumen von jährlich 1,6 Milliarden Euro fördert. Aber
diese Summe hat mich stutzig gemacht; denn das wäre
ganz schön viel Geld. Da stimmt etwas nicht. Wenn ich
die Quelle richtig interpretiere, dann geht es hier um das
Gesamtvolumen laufender Vorhaben in 50 Partnerländern. Ich hoffe, Sie korrigieren das, damit dieser falsche
Eindruck nicht bestehen bleibt.
Wir brauchen eine konzertierte Aktion zur Finanzierung von Maßnahmen für die Anpassung an Klimaveränderungen in Entwicklungsländern. Die Bundesregierung muss endlich ihre internen Streitigkeiten über die
Einführung von Ticketabgabe, Kerosinsteuer und Devisenumsatzsteuer überwinden. Wir wollen konkrete
Schritte und keine Vertröstungen auf morgen sehen.
Es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage, Frau
Präsidentin.
Leider ist die Redezeit schon so weit überschritten,
dass die Zwischenfrage außerhalb liegen würde. Deshalb
ist meine Bitte, mit der Rede zum Ende zu kommen.
Das tue ich.
Wenn Sie nicht wollen, dass dieser Antrag auf Sand
baut, dann steht Ihnen noch gewaltig viel Arbeit bevor.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Für die SPD-Fraktion spricht nun Marco Bülow.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Gestern hat die SPD-Fraktion eine kleine Feierstunde
durchgeführt. Der Anlass war, dass wir das Ziel, das wir
mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz erreichen wollten, nämlich dass die erneuerbaren Energien im Jahr
2010 einen Anteil von 12,5 Prozent haben, schon in diesem Jahr erreichen.
Die erneuerbaren Energien leisten den größten Beitrag zum Klimaschutz in Deutschland. Es handelt sich
um etwa 77 Millionen Tonnen CO2 jährlich. Die Potenziale der erneuerbaren Energien sind riesig. Ergänzt man
diese durch das Potenzial der Energieeffizienz, dann
wäre das der wichtigste Beitrag, den man weltweit zum
Klimaschutz leisten könnte. In diesem Zusammenhang
spielt die Entwicklungszusammenarbeit eine wichtige
Rolle, die man nicht nur deshalb nicht unterschätzen
darf, weil es im Prinzip - das wurde schon gesagt - egal
ist, wo man Klimaschutz praktiziert und CO2 einspart,
sondern auch deshalb, weil es viele Regionen auf der
Welt gibt, die auf der einen Seite den Lebensstandard erreichen wollen, den wir haben, denen aber auf der anderen Seite bestimmte Technologien nicht zur Verfügung
stehen, weil sie sich diese nicht leisten können.
Ich bin froh, dass wir diesen Antrag auf den Weg gebracht haben, der auf wichtige Punkte aufmerksam
macht. Ich möchte als Umweltpolitiker hier betonen,
dass ich es für wichtig halte, dass sich Entwicklungspolitik mit dem Thema auseinandersetzt, aber auch andere
Politikfelder dies tun müssen. Wir müssten eigentlich
Klimaschutzanträge im Zusammenhang mit der Außenpolitik und der Wirtschaftspolitik diskutieren. Letztendlich ist das auch eine soziale Frage, und zwar international wie auch national. Was passiert denn, wenn die
Katastrophen über uns hereinbrechen? Der Hurrikan
über New Orleans in den USA hat gezeigt, welche Menschengruppen als Erste und damit auch am stärksten von
der Katastrophe betroffen sind, wer sich nicht so schnell
retten kann. Weltweit sind die Verursacher von CO2Emissionen nicht die Hauptopfer der Katastrophe.
Auch das wissen wir. Deshalb ist es gerade im Rahmen
der Entwicklungszusammenarbeit wichtig, Mittel zur
Verfügung zu stellen, um erneuerbare Energien und
Energieeffizienz zu fördern.
Ich will ein Beispiel nennen. Es werden oft Zahlen
genannt, die sich auf das „böse“ China und andere Länder beziehen, die alle so viel CO2 produzieren. Ja, es ist
wahr, wir müssen sehen, dass es auch dort nicht so weitergeht. Das gelingt aber nur, wenn wir mit gutem Beispiel vorangehen. In diesem Zusammenhang muss man
die Wahrheit sagen und feststellen, dass Deutschland alleine immer noch mehr CO2 ausstößt als alle afrikanischen Länder zusammen.
({0})
Daran zeigt sich, welch große Vorbildfunktion wir haben. Nehmen wir den Vergleich mit China: Der ProKopf-Ausstoß von CO2 beträgt in Deutschland
10 Tonnen, in China 4 Tonnen. Das zeigt: Wenn wir wollen, dass Schwellenländer und Entwicklungsländer nicht
den Pfad beschreiten, den wir beschreiten, dann müssen
wir mit gutem Vorbild vorangehen.
({1})
Deswegen ist Klimaschutz eine internationale, aber auch
eine nationale Aufgabe.
Das G-8-Signal ist sehr wichtig, aber es kann nur der
erste Schritt sein. Wir müssen über Ziele sprechen, wir
müssen Kioto-plus angehen, und wir müssen Vereinbarungen treffen. Bei all dem müssen aber auch die Instrumente vorhanden sein, um die Ziele umzusetzen, und
zwar sowohl national als auch international. Darauf
nimmt der Antrag Bezug. Ich will einen Punkt herausgreifen, über den wir auch beim Emissionshandel gesprochen haben, nämlich die Mechanismen Joint Implementation und CDM, die wir verstärkt haben und die
wichtig sind. Man muss natürlich darauf achten, dass sie
wirklich funktionieren und auch kleine Projekte auf den
Weg gebracht werden können. Man muss auch nachprüfen können, ob wirklich CO2 eingespart wird. Dann ist
das eine gute Maßnahme, und dann sollten wir sie fördern.
Ich möchte Herrn Nüßlein zustimmen: Das Wichtigste wird für uns als Vorreiter sein, dass wir die Entkopplung von Wachstum einerseits und Energieverbrauch und CO2-Ausstoß andererseits hinbekommen.
Das wird für uns eine der größten Herausforderungen in
der Zukunft sein. An diesem Anspruch werden wir uns
international messen lassen müssen, weil viele Länder
auf Deutschland schauen.
Ich möchte zum Schluss betonen, dass die Entwicklungshilfe besonders wichtig ist und dass der Klimawandel in Zukunft dabei eine besondere Rolle spielen wird.
In diesem Zusammenhang sind die erneuerbaren Energien zu erwähnen, die ein riesiges Potenzial haben. Ich
glaube, dass wir mit ihrer Erschließung erst am Anfang
stehen. Es gibt in jedem Land Möglichkeiten, erneuerbare Energien in großem Umfang zu nutzen. Dazu
braucht man die entsprechenden Technologien, die wir
zum Teil liefern können und liefern sollten. Wir brauchen aber auch eine internationale Agentur für erneuerbare Energien, die das koordiniert und fördert und diese
Aufgabe mit den nationalen Parlamenten - ich hoffe, mit
Deutschland an erster Stelle - weltweit angehen wird.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({2})
Josef Göppel hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit diesem Antrag öffnen wir die Umweltpolitik in
Richtung Umwelt und Entwicklung und vor allem auch
in Richtung unseres Nachbarkontinents Afrika. Diese
Betonung ist wichtig. Da schließe ich mich dem
Kollegen Marco Bülow an, der ja auch gerade darüber
gesprochen hat, und danke ausdrücklich den Initiatoren
dieses Antrags, Gabriele Groneberg und Christian Ruck.
Ich möchte mich auf zwei Anliegen konzentrieren,
die in der Debatte noch nicht so ausführlich angesprochen worden sind, nämlich die Frage des Walderhalts auf
internationaler Ebene und auch die Frage einer klimagerechten Landnutzung.
Die globale Entwaldung im Jahre 2006 umfasste
7 Millionen Hektar. Das sind 1,5 Prozent des gesamten
Waldbestandes der Erde. Jährlich 1,5 Prozent - das kann
man gut hochrechnen - führen in zehn Jahren zu einem
Verlust von etwa 15 Prozent. Daran wird deutlich, dass
wir dringend ein Instrumentarium benötigen, das dem
Erhalt der weltweiten Wälder dient. Dabei liegen die
Schwerpunkte natürlich auf den tropischen Wäldern.
So zielt der Antrag darauf ab, dass wir in den Kiotomechanismus für nachhaltige Entwicklung eine Möglichkeit für den Walderhalt einbauen. Das jetzige Kiotoprotokoll kennt noch keinen solchen Mechanismus. Es
hat nur ein einziges CDM-Projekt zur Wiederaufforstung
auf der gesamten Erde gegeben. Das war in China. Mehr
gab es bisher nicht. Deswegen ist dies ein Schwerpunkt.
Der zweite Schwerpunkt ist der illegale Holzeinschlag. Das gehört hier mit hinein. Es gibt auf europäischer Ebene ein Aktionsprogramm namens FLEGT Forest Law Enforcement, Governance and Trade. Das ist
schön, hat aber einen entscheidenden Nachteil: Es gibt
keine Kontrollmechanismen. Bei der Konferenz der internationalen Parlamentariergruppen zum G-8-Gipfel,
die hier vor kurzem stattfand, sagte ein indonesischer
Abgeordneter: Sie müssen den Handel mit illegalem
Holz unterbinden, dann unterbleibt auch der Raubbau. Da sind wir gefordert. Wir müssen dafür sorgen, dass an
den europäischen Außengrenzen wirklich die Importverbote für illegal eingeschlagene Hölzer umgesetzt
werden. Wir kommen nicht darum herum, die Zertifizierungen so vorzunehmen, dass sie auch Wirkung zeigen.
Ein freundschaftliches Gespräch mit dem einen oder anderen Holzkonzern, der international arbeitet, bringt da
wenig.
Noch einmal zu dem Mechanismus für den Walderhalt. Die Weltbank hat eine Initiative gestartet - Forest
Carbon Partnership -, die mit sage und schreibe
50 Millionen US-Dollar ausgestattet ist. Das ist natürlich
international gesehen zu wenig. Aktuell hat die deutsche
Entwicklungsministerin den neuen Weltbankchef aufgefordert, da mehr hineinzugeben. Das heißt aber auch für
uns deutsche Abgeordnete, dass wir Haushaltsmittel bereitstellen müssen, weil wir die Weltbank zu einem großen Teil mitfinanzieren. Deswegen sind alle diese Dinge
auch haushaltswirksam. Das ist unserer Fraktion bewusst.
Ich will noch kurz etwas zu dem Stichwort klimagerechte Landnutzung sagen, zu der auch etwas in diesem Antrag zu finden ist. Wälder binden Kohlenstoff
deutlich stärker als andere Landnutzungsformen. Eine
Wiese bindet doppelt so viel Kohlenstoff wie Ackerland.
Wir sollten uns daran erinnern, dass 80 Prozent der terrestrischen Kohlenstoffvorräte in der Humusschicht des
Bodens und nur 20 Prozent in der oberirdischen Pflanzenmasse gebunden sind. Notwendig ist also eine Landnutzung, die auf die Kohlenstoffspeicherung in der Humusschicht Rücksicht nimmt.
({0})
Die gute alte Forderung, Humusaufbau zu betreiben
- Vertreter des alternativen Landbaus haben sie immer
wieder erhoben -, und die Forderung, beim Ackerbau
flache Bodenbearbeitungsformen zu wählen, bekommen eine ganz neue Bedeutung.
Die klimagerechte Landnutzung wird für unsere eigenen landwirtschaftlichen Produktionsverfahren eine Herausforderung sein. Wir sind damit am Beginn eines
Weges, der ganz neue Prioritätensetzungen von uns fordert.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/5740 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina
Lenke, Christian Ahrendt, Daniel Bahr ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Steuerklasse V abschaffen - Lohnsteuerabzug
neu ordnen
- Drucksache 16/3649 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Es wurde verabredet, hierüber eine halbe Stunde zu
debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann
ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als Erster der
Kollegin Ina Lenke für die FDP-Fraktion das Wort.
({2})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Wozu
der ganze Stress?“ - so lautet die Überschrift eines Zeitungsartikels, in dem es um die Behandlung von Familien und Frauen im Steuer- und Sozialversicherungsrecht
geht. Wenn Ehefrauen oder Ehemänner neben der Familienarbeit erwerbstätig sein wollen, dann bringt ihnen
der aufgrund von Steuerklasse V sehr niedrige Nettozweitverdienst nur Frust.
Die Benachteiligung von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen mit Steuerklasse V ist eklatant. Das betrifft
nicht nur den Lohnsteuerabzug, sondern auch die Höhe
der Transferleistungen Erziehungsgeld, Elterngeld usw.
Es sind zu 95 Prozent Frauen, die von den negativen
Auswirkungen von Steuerklasse V betroffen sind. Wenn
diese Frauen dann auch noch staatliche Leistungen beanspruchen - ich habe diese Leistungen gerade erwähnt -,
dann werden sie doppelt diskriminiert: einmal beim Einkommen aus Erwerbsarbeit und außerdem, wenn die
Höhe staatlicher Leistungen nach dem Nettoeinkommen
berechnet wird.
Frauen mit Steuerklasse V erhalten weniger Geld als
jemand mit Steuerklasse III oder IV. Man muss ganz
deutlich sagen, dass es nicht darum geht, dass Ehepaare
weniger Steuern zahlen; vielmehr geht es darum, dass
die Steuern, die ein Ehepaar zahlt, wenn beide erwerbstätig sind, anders verteilt werden, damit es Frauen wirklich Spaß macht, etwas hinzuzuverdienen, um das Familieneinkommen aufzubessern.
({0})
Seit Jahren besteht für Ehepaare das antiquierte
Steuerklassensystem III/V oder IV/IV. Ich will nur auf
Steuerklasse V eingehen. Diese Steuerklasse stammt aus
einer Zeit, in der es selbstverständlich war, dass der Ehemann der Ernährer ist, während die Ehefrau die Kinder
erzieht und den Haushalt managt. In der heutigen Zeit
reicht das Einkommen eines Einzelnen oftmals nicht
aus, um eine Familie zu ernähren - das wissen wir alle -,
und daher müssen beide arbeiten gehen. Die Erwerbstätigkeit einer Frau hat dann nichts mit Selbstverwirklichung zu tun oder damit, dass sie eine Rabenmutter ist.
Viele Frauen - viele Männer ebenfalls - wollen nämlich
sowohl Kinder haben als auch arbeiten. Ich wiederhole:
Diese Frauen sind weder Rabenmütter, noch sind sie auf
Selbstverwirklichung aus.
Ehepaare mit einem Alleinverdiener stehen finanziell
oftmals besser da, weil diejenige Person, die nicht arbeitet, familienkrankenversichert ist. Auch diesen Aspekt
müssen wir sehen.
All das verfestigt die konservative Arbeitsteilung in
einer Ehe, und das wollen Liberale nicht.
({1})
Ich möchte eine Anmerkung zum Ehegattensplitting
machen. Sie alle wissen, dass die SPD das Ehegattensplitting abschaffen will. SPD und CDU/CSU haben hier
im Bundestag aber auch ganz anderslautende Gesetze
verabschiedet. Ich erinnere nur an die Einführung der
sogenannten Reichensteuer. Beim normalen Ehegattensplitting ist es so, dass Ehepaare bei gutem Einkommen
bis zu 8 000 Euro sparen können, wenn einer der beiden
zu Hause bleibt. Durch die sogenannte Reichensteuer
wird der Vorteil für dieses Familienmodell auf bis zu
15 000 Euro jährlich angehoben. Das bedeutet: Wenn
der eine der beiden Ehepartner reich ist und der andere
zu Hause bleibt, schenkt der Staat ihnen - das ist Folge
der guten Ideen der SPD - 15 000 Euro.
({2})
Diese eklatante Diskrepanz durch die Kombination von
Ehegattensplitting und sogenannter Reichensteuer werden Sie mir bestimmt erklären. Dass es in der Tat bis zu
15 000 Euro sind, hat Frau Hendricks mir in der Antwort
auf meine Anfrage an die Bundesregierung mitgeteilt.
({3})
Es ist deshalb nur logisch, dass in dem heute vorliegenden Antrag der FDP gefordert wird, die Steuerklasse V abzuschaffen und das ganze Steuerklassensystem zu reformieren.
({4})
Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass durch
das System von Ehegattensplitting und der Steuerklasse V die Arbeitsanreize für Zweitverdiener - das
sind gerade Frauen - vermindert werden.
Ein typisches Beispiel aus der Praxis: Die Frau will
nach der Kinderziehungspause wieder in den Beruf einsteigen.
({5})
Das Paar setzt sich an den Küchentisch und fragt sich, ob
sich das überhaupt lohnt, was die Frau dann netto verdient. Bei Einstufung in die Steuerklasse V - das wissen
ja viele von Ihnen - bleibt sehr wenig übrig. Hinzu
kommt, dass die Berufstätigkeit vielleicht noch ein zweites Auto erfordert. Wenn Kinder da sind, ist zu berücksichtigen, dass wegen der Einkommensabhängigkeit der
Kindergartengebühren auch hier noch höhere Kosten anfallen. Das heißt, mit Steuerklasse V und den zusätzlichen Kosten lohnt es sich manchmal wirklich nicht
mehr, dass die Ehefrau wieder in das Berufsleben einsteigt. Das wollen wir alle hier im Bundestag ändern.
Die FDP hat schon in der letzten Legislaturperiode
über das Solms-Konzept eine Steuerklassenreform vorgeschlagen. Am 29. November letzten Jahres haben wir,
weil bei Ihnen nichts passiert ist, einen Antrag dazu vorgelegt, den wir heute beraten. Wir fordern die Bundesregierung auf, das Steuerklassensystem für unbeschränkt
steuerpflichtige Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen
zu überarbeiten, indem erstens das geltende System abgeschafft wird und zweitens unbürokratische Vorschläge
für die Neuregelung des Lohnsteuerabzugs vorgelegt
werden, die sich stärker am jeweiligen Arbeitslohn der
Ehepartner orientieren.
({6})
Der Vorschlag der Großen Koalition, den ich in der
Zeitung gelesen habe, ist meines Erachtens falsch und
kommt zu spät. Es ist ein politischer Skandal, wie ich
finde, dass die Frauen bis 2009 durch die Steuerklasse V
weiterhin beim Elterngeld benachteiligt werden sollen.
Wenn jemand 2 000 Euro brutto verdient, würde bei
Steuerklasse V das Elterngeld monatlich um 390 Euro
geringer ausfallen als bei Steuerklasse III. Daran sieht
man, dass diese Steuerklasse unbedingt abgeschafft werden muss. - Das kann ich Ihnen gern schriftlich geben.
Ich komme zum Schluss: So wie es sich heute darstellt, bleibt es nach dem Willen von SPD und CDU/
CSU beim jetzt gültigen Steuerklassensystem. Es wird
nur auf die derzeit schlechte Regelung eine zusätzliche
draufgesetzt. Das ist keine echte Reform. Ich gehe davon
aus, dass Ihr Vorschlag in den Ausschussberatungen
noch verbessert wird und dass wir gemeinsam zu einer
besseren Steuerklassenreform kommen, die allen Frauen
und allen Familien in Deutschland nützt und Frauen Lust
auf Arbeit macht.
({7})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt die Kollegin
Patricia Lips.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir stehen in der Tat vor der Einlösung jahrelanger frauenpolitischer Forderungen. Ich meine das
nicht ironisch,
({0})
sondern absolut im Ernst. Damit bekommt ein eher steuersystematisches Thema einen gesellschaftspolitischen
Hintergrund.
Je länger Sie gesprochen haben, Frau Lenke, desto
mehr habe ich meine Rede verkürzt, weil wir - das werden wir auch sehen - im Ansatz durchaus ähnliche Ziele
haben. Wer will verkennen, dass wir das Gleiche als
Ausgangspunkt, als Problem, identifiziert haben? Im
Prinzip ist Ihnen sogar dafür zu danken, dass an dieser
Stelle eine parlamentarische Debatte stattfindet, also
wieder einmal Öffentlichkeit hergestellt wird.
({1})
Sie passt in ihrer Grundsätzlichkeit hervorragend zu den
anderen Debatten am heutigen Tage.
Allerdings, Kolleginnen und Kollegen der FDP, sind
Sie sicherlich mit Ihrem Antrag nicht die ersten und einzigen - das haben Sie auch erwähnt -, die das zugrundeliegende Problem erkannt haben. Worum geht es noch
einmal? - In Kürze: Wenn Ehepartner annähernd gleichviel verdienen, bedienen sich beide in der Regel der
Lohsteuerklasse IV. Liegen jedoch die Einkünfte weiter
auseinander, wählen sie - zurzeit sind es etwa 4 Millionen Ehepaare - die Kombination aus den Steuerklassen III und V. Durch einen Ausgleich im Rahmen der
Veranlagung ist es bis zu diesem Punkt vor allem die
Optik, die im Jahresverlauf und pro Monat eine Hürde
aufbaut, mit der erforderlichen Begeisterung die Berufstätigkeit aufzunehmen bzw. auszuüben, und dies trifft
natürlich mehrheitlich auf Frauen zu. Viel wichtiger sind
deshalb für viele die, nennen wir es, Nebenwirkungen
- Sie beschreiben es -, nämlich die vom Nettolohn abhängigen Leistungen wie Arbeitslosengeld und alles andere mehr.
Dabei sollten und dürfen wir jedoch nicht den Eindruck hinterlassen, es sei einzig eine Aufgabe des Steuersystems, regulatorisch einzuwirken, um zu einer wie
auch immer gearteten erhöhten Bereitschaft, berufstätig
zu werden, zu kommen. Wenn wir an anderer Stelle - nur
ein Beispiel - über den Ausbau von Kinderbetreuung reden, wie auch am heutigen Vormittag, dann drehen wir ja
gesamtwirtschaftlich natürlich genauso an einem Rad,
das perspektivisch direkt Auswirkungen auf dieses traditionelle Steuerklassensystem III/V haben wird, da sich
Einkommen verändern werden oder sollen. Das dürfen
wir nicht vergessen; das müssen wir immer im Hinterkopf behalten.
Kehren wir nun zurück und fragen uns, was die Ziele
sein sollen, wenn Änderungen an Steuerklassen vorgenommen werden: erstens eine Stärkung der Anreize insbesondere für Frauen, eine Arbeit aufzunehmen; zweitens eine ausgewogenere Verteilung der Lohnsteuerlast
zwischen den Ehepartnern. Drittens. Die Gesamtsteuerlast beider per anno darf nicht höher sein als heute, aus
haushaltspolitischer Verantwortung allerdings auch nicht
niedriger. Viertens. Die erwähnten Lohnersatzleistungen, wenn der Fall eintritt, sollen/werden dann höher
ausfallen. Fünftens soll unter Berücksichtigung des Ehegattensplittings die Wahlfreiheit in der Lebensgestaltung
aufrechterhalten werden, beispielsweise könnte bei Einführung eines neuen Modells ein Wahlrecht eingeräumt
werden, das bisherige beizubehalten. - Wer möchte das
nicht alles unterschreiben?
({2})
Nun zur Lösung: Gestatten Sie mir, dass ich zwei
Quellen bemühe, weil sie mir bei der Vorbereitung so
gut gefallen haben:
Statt der bisherigen Steuerklassen werden wir ein
Anteilssystem einführen, mit dem jeder Ehegatte
künftig soviel Lohnsteuer zahlt, wie es seinem Anteil am gemeinsamen Bruttolohn entspricht.
Die andere Quelle besagt: Die Bundesregierung wird
aufgefordert,
möglichst unbürokratische Vorschläge für die Neuregelung des Lohnsteuerabzugs insgesamt vorzulegen, wobei die Abzugsbeträge bei Ehegatten sich
stärker am jeweiligen Anteil am Bruttoarbeitslohn
orientieren.
Die ersten Worte stammen aus dem Koalitionsvertrag,
einem Werk, mit dem man als FDP-Abgeordneter nicht
einverstanden sein muss, dessen Inhalte jedoch - das ist
unbestritten - konsequent umgesetzt werden, für manch
einen in diesem Land zu schnell. Die zweite Quelle - wir
können lange darüber diskutieren, woher was stammt ist ein wörtliches Zitat aus Ihrem Antrag. Ein Unterschied ist selbst für Steuerexperten zum Teil nur schwer
erkennbar.
({3})
Fazit bis dahin: Ein Problem wurde allgemein erkannt
und soll bzw. wird bereits einer Lösung zugeführt. Es
gibt Ihren Antrag. Es gibt Vorschläge aus dem Ministerium; sie sind Ihnen bekannt. Beide verfolgen das gleiche Ziel. Über den Weg werden wir noch diskutieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Politik immer
einfach wäre, könnten wir damit theoretisch den heutigen
Tag beschließen. Die Sache hat allerdings - natürlich den sprichwörtlichen Haken: Mit der Begründung, ein
einzelnes Element, nämlich die Lohnsteuerklasse V - darum ging es zu 90 Prozent in Ihrem Antrag und in Ihrer
Rede - zu überarbeiten, abzuschaffen, wie auch immer
Sie es nennen wollen, oder, besser formuliert - das ist ja
das eigentliche Anliegen -, Frauen über das Steuersystem einen größeren Anreiz zur Berufsaufnahme zu geben
- das ist ja das eigentliche Ziel -, kommen Sie in Ihrem
Antrag zu der Forderung, das gesamte bestehende Steuerklassensystem umzuarbeiten bzw. aufzulösen.
({4})
Auch wenn dem viele grundsätzlich eine gewisse Sympathie entgegenbringen, ähnelt Ihr Vorgehen - gestatten
Sie mir bitte, das zu sagen - im bisher beschriebenen Zusammenhang so ein bisschen der berühmten Kanone, mit
der man auf Spatzen schießt.
Wir haben nicht vergessen, dass Sie einen Gesetzentwurf zur Änderung des Gesamtsteuersystems vorgelegt haben. Hierzu gab und gibt es unterschiedliche Ansichten; so ist eben Demokratie. Dennoch war die
Vorgehensweise Ihrer Fraktion an dieser Stelle konsequent. Es macht aber nur bedingt Sinn, Teilelemente eines Gesamtsystems separat zu behandeln. Heute ist es
die Lohnsteuerklasse V, morgen ist es in einem anderen
Ausschuss ein anderes Thema. Bitte denken Sie darüber
nach. Diese Splitteranträge gehen an dem ordnungspolitischen Anspruch, den Sie für sich selbst gerne reklamieren, deutlich vorbei. Ihr ganzes Ansinnen heute wirkt damit innerlich zerrissen zwischen den Anliegen der
Finanz- und denen der Familienpolitiker Ihrer Fraktion.
Lassen Sie mich noch ein Zitat aus Ihrem Antrag
bringen.
Würden Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke
zulassen?
Nein, ich bin gleich am Ende meiner Rede. - Das Zitat aus Ihrem Antrag lautet:
Aber auch innerhalb des geltenden Einkommensteuerrechts ist die Aufteilung der insbesondere von
Ehegatten zu zahlenden Lohnsteuer … möglich.
Das heißt, Sie haben dort einen Weg aufgezeigt, in welche Richtung man gemeinsam weiter diskutieren kann.
Deshalb mein Appell: Lassen Sie uns gemeinsam das
eigentliche Problem lösen! Da sind wir nicht weit auseinander. Aber diese Teil- bzw. Rumpfanträge, um familienpolitische Duftnoten zu setzen, helfen uns an dieser
Stelle nicht weiter. Ich freue mich auf die Auseinandersetzung der kommenden Wochen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Die Kollegin Lenke zu einer Kurzintervention.
Frau Kollegin, mich ärgert wirklich, dass Sie zu den
mit der Steuerklasse V zusammenhängenden Problemen
sagen, das seien Splitterprobleme bzw. es gehe um einen
Splitterantrag. Sie haben selber gesagt, 4 Millionen
Frauen würden darunter leiden. Es geht uns nicht darum,
Frauen dazu zu drängen, berufstätig zu werden, sondern
darum, dass doppelte Diskriminierung durch die Steuerklasse V beseitigt wird. Die Steuerklasse V ist vor 40
oder 50 Jahren eingerichtet worden, als die Verhältnisse
entsprechend waren. Heute sind die Verhältnisse anders.
Ich bitte, hier nicht von Splitteranträgen zu reden, vor allem, nachdem Sie selber zu Anfang Ihrer Rede gesagt
haben, dass es hier auch um ein frauenpolitisches Anliegen gehe.
Frau Lips, möchten Sie antworten?
Ich antworte kurz. - Sehr geehrte Kollegin, ich habe
das nicht in Bezug auf die Wichtigkeit gesagt. Ich
glaube, ich habe in meiner Rede genauso wie Sie auf die
Dringlichkeit und Wichtigkeit hingewiesen, das Thema
anzugehen. Damit spreche ich sicher für alle Fraktionen
in diesem Haus, und zwar nicht nur für die Frauen, sondern auch für die Männer.
Ich habe allerdings darauf verwiesen, dass es von Ihnen durchaus ein Gesamtkonzept gibt, wie es auch von
anderen steuerpolitische Gesamtkonzepte gibt. In dem
Zusammenhang habe ich mir erlaubt, darauf aufmerksam zu machen, dass der Umgang mit der Lohnsteuerklasse V auch Bestandteil Ihres Gesamtkonzeptes ist, Sie
dieses Problem aber nun daraus herausgegriffen haben.
Vor diesem Hintergrund handelt es sich um den heute
vorliegenden Antrag um einen Splitterantrag.
Die Frage ist: Wie kommen wir im Rahmen des bestehenden Systems zu einer möglichst breiten Lösung in
diesem Haus, also ohne das gesamte Steuerklassensystem aufrollen zu müssen? Auch dazu haben Sie in Ihrem
Antrag einen Weg aufgezeigt und zugleich deutlich gemacht, dass Sie zu einer Diskussion bereit sind. Das war
der ganze Hintergrund meiner Rede am heutigen Tag.
Danke schön.
({0})
Jetzt hat die Kollegin Dr. Barbara Höll für Die Linke
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Kollegin Lips,
gerade in Bezug auf die Kinderbetreuung finde ich, dass
der Worte genug gewechselt sind. Lassen Sie endlich Taten folgen, damit zumindest die Frauen, die heute
schwanger sind, die Hoffnung haben können, dass sie
eine Kinderbetreuung angeboten bekommen, und zwar
in Ost und West.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, 36,3 Prozent aller
erwerbstätigen Frauen arbeiten in Teilzeitjobs, meist
nicht freiwillig. Das ist die höchste Quote in Europa. Sie
zeigt eindeutig, wie wenig die Wertschöpfung aus weiblicher Arbeit in Deutschland gefragt und gefördert wird.
Das konservative Familienmodell mit dem Mann als
Hauptverdiener scheint in Deutschland besonders stabil
zu sein. Gestützt wird es unter anderem durch das Steuerrecht und ganz besonders durch das veraltete Ehegattensplitting, dessen Neuausgabe in Form des Familiensplittings nicht viel moderner und nicht viel gerechter
daherkommt.
Das deutsche Steuerrecht, insbesondere das Einkommensteuerrecht, bringt, gelinde gesagt, hohe Risiken bezüglich der Verteilungswirkung, aber vor allem auch für
gleichstellungspolitische Maßnahmen mit sich. In fast
allen europäischen Nachbarländern ist es Usus, alle individuell zu besteuern. Eine Zusammenveranlagung, wie
es in Deutschland im Rahmen des Ehegattensplittings
der Fall ist, gibt es dort nicht. Ungereimtheiten im System kommen zum Ausdruck, wenn man beispielsweise
an die Kombination der Steuerklassen III und V denkt.
Ich nenne dazu ein Beispiel: Eine gut ausgebildete PRAssistentin - verheiratet, Mutter eines Sohnes -, die Teilzeit arbeitet, da sie keine Kinderbetreuung hat, verdient
monatlich 1 600 Euro brutto und bekommt 800 Euro auf
die Hand. Ihr Mann - Referatsleiter im Gesundheitsamt,
natürlich in der Steuerklasse III -, der Vollzeit arbeitet,
verdient dreimal so viel und bekommt 3 000 Euro heraus.
Zusätzlich erhält er am Jahresende einen Ausgleich in
Form der Steuerrückzahlung, weil sowieso alles über sein
Konto läuft. Falls diese Frau dann krank oder arbeitslos
wird, in Mutterschaftsurlaub geht oder Elterngeld beantragt, sind die in diesen Fällen zu zahlenden Leistungen
natürlich wesentlich geringer, weil sie in der Steuerklasse V ist. Das ist grob ungerecht.
Nicht zu unterschätzen ist - Frau Kollegin Lenke, Sie
haben das nebenbei erwähnt - die psychologische Wirkung;
({0})
denn es wird durch dieses System immer wieder suggeriert, die Frau trage weniger zum Familieneinkommen
bei, obwohl es nicht so ist. Wir halten das nicht für eine
Nebensache.
Ich muss Ihnen allerdings sagen: Ich finde es gut,
wenn die Regierungskoalition darüber nachdenkt - sie
hat es im Koalitionsvertrag zum Ausdruck gebracht; inzwischen hat sich die Diskussion ein bisschen weiterentwickelt -, dieses System zu ändern. Sie schlägt das Anteilsverfahren vor. Aber die Probleme wird sie damit
nicht in den Griff bekommen.
Gerade aufgrund der Aufteilung in die Steuerklassen III und V - ich habe es vorhin beschrieben flüchten viele Frauen in 400-Euro-Jobs. Sie brauchen
dann keine Steuern zu zahlen und haben das Gefühl,
dass zumindest anerkannt wird, was sie arbeiten, da sie
ein entsprechendes Einkommen dafür erhalten.
Mit dem vorgeschlagenen optionalen Anteilsverfahren werden Sie diese Probleme nicht lösen.
Zum einen werden sich, wenn das Gesamteinkommen
beider insgesamt stärker besteuert wird, die Ehepartner
auf freiwilliger Basis wohl kaum für dieses Verfahren
entscheiden. Nach dem, was uns bisher aus den Medien
bekannt ist, ist dann, wenn man diese Option wählt, damit der Pferdefuß verbunden, dass eine gemeinsame
Veranlagung de facto entfällt. Steuerberater gehen davon
aus, dass dies zu Mindereinnahmen bei den Familien
und damit zu Mehreinnahmen beim Staat in Höhe von
etwa 500 Millionen Euro führen wird.
Datenschützer verweisen darauf, dass dieses Verfahren umstritten ist, weil die Arbeitgeber der Ehepartner
wissen, was der jeweils andere Ehepartner verdient.
({1})
Das kann natürlich auch wieder gegen die Frauen genutzt werden, nach dem Motto: Dein Mann verdient
doch genug. Was kommst du jetzt hier an und möchtest
noch mehr verdienen!
Letztendlich schwenken auch Sie, Frau Lenke, mit
dem, was Sie in Ihrem Antrag vorschlagen, auf die Linie
des Anteilsverfahrens ein.
Ich bin froh, dass sich Bündnis 90/Die Grünen, seit es
in der Opposition ist, wieder darauf besonnen hat, dass
die einzige konsequente Lösung der Übergang zur Individualbesteuerung ist. Diesen Ansatz verfolgen auch wir.
Hinzu muss die Übertragbarkeit des steuerfreien Existenzminimums kommen. Es sollte uns vielleicht zu denken geben, dass wir diese Woche einen Aufruf bekommen haben,
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.
- der genau dieses vorschlägt, Frau Präsidentin. Diesen Aufruf haben unter anderem AWO, DGB und Deutscher Frauenrat, aber auch die Evangelische Aktionsgemeinschaft für Familienfragen und die Katholische
Arbeitnehmerbewegung unterschrieben. Darüber sollte
sich die Koalition informieren und dann mit uns diesen
konsequenten Weg gehen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Jetzt spricht Gabriele Frechen für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Frau Lenke, Sie haben sich hier fürchterlich über den immensen Splittingvorteil empört und
so getan, als ob mit Abschaffung der Steuerklasse V der
Splittingvorteil verschwinden würde. Oder war das ein
Antrag, die Splittingtabelle gleich mit abzuschaffen?
Das kann ja sein; vielleicht habe ich Sie missverstanden.
({0})
In Ihrer Rede habe ich einen weiteren kleinen Widerspruch entdeckt, den ich gern aufklären möchte. Sie haben gesagt, dass eine Frau viel weniger Elterngeld bezieht, wenn sie vor der Geburt Steuerklasse V und nicht
Steuerklasse III hatte.
({1})
Wenn wir die Steuerklasse V abschaffen, gibt es die
Steuerklasse III aber auch nicht mehr. Was wollen Sie
denn nun? Wollen Sie das Elterngeld nach
Steuerklasse III berechnen oder die Steuerklasse V abschaffen?
({2})
Es ist nicht möglich, beides gleichzeitig zu machen. Lesen Sie das Protokoll einmal nach. Ich hoffe, dass Sie die
Widersprüche zumindest dann feststellen.
({3})
Wir beraten heute über einen Antrag, der zu zwei
Dritteln der Antrag der Grünen ist, über den wir vor ein
paar Wochen, am 2. Februar 2007, debattiert haben. Die
Steuerklasse V wird auch in Ihrem Antrag - das ist
schon gesagt worden - als großes Beschäftigungshindernis dargestellt. Sie weisen, wie ich finde, völlig zu
Recht, auf die Diskrepanz bei den Lohnersatzleistungen
hin. In den meisten Fällen haben die Ehegatten die Lösung dieser beiden Probleme selbst in der Hand. Sie
müssen nicht die Steuerklassen III und V wählen. Man
kann die Steuerklassenkombination IV und IV wählen.
Da man länger als drei Monate schwanger ist, kann man
auf die Steuerklassenkombination IV und IV wechseln
und erhält dann das Elterngeld nach Steuerklasse IV
ausgezahlt.
({4})
Frau Frechen, möchten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Lenke zulassen?
Ja, klar.
Frau Lenke, bitte.
Im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ist das Elterngeld federführend beraten worden.
Wenn es so wäre, wie Sie sagen, wäre eine Überlegung,
den Durchschnittsbruttoverdienst der letzten drei Monate vor der Geburt als Berechnungsgrundlage für das
Elterngeld heranzuziehen. Nach dem Elterngeldgesetz
werden jetzt aber die letzten zwölf Monate vor der Geburt zur Berechnung herangezogen. Sie können mir doch
nicht erzählen, dass man weiß, dass man zwölf Monate
später schwanger wird.
Diese Regelung ist ganz bewusst so gemacht worden,
damit die Ehepartner die Lohnsteuerklassen nicht ändern
können. In der Fachpresse können Sie lesen, dass das
Ändern der Steuerklasse gefährlich ist. Wenn nämlich
derjenige, der mehr verdient, arbeitslos wird, hat er das
gleiche Problem wie die Frau mit Steuerklasse V.
Erzählen Sie hier nicht so etwas, sondern schauen Sie
sich erst einmal das Elterngeldgesetz und die Regelungen, die Sie festgelegt haben, an. Ich finde es ziemlich
mies, dass hier so über diesen Antrag gesprochen wird.
Ich möchte sagen: Das war wieder typisch Lenke.
({0})
Sie wollen die Steuerklasse III für beide, für die Frau,
die Elterngeld beziehen möchte, und für den Mann, der
womöglich arbeitslos wird. Ich denke, es ist am besten,
Sie nehmen die Steuerklasse IV, dann brauchen Sie sich
mit solchen Einzelproblemen nicht herumzuschlagen.
({1})
Ich widerspreche Ihnen ja gar nicht: Bei den Lohnersatzleistungen macht das wirklich etwas aus. Da
stimme ich Ihnen gerne zu. Aufgrund meiner Erfahrung
als Steuerberaterin kann ich aber sagen, dass die Menschen sehr viel bewusster mit der Steuerklassenkombination umgehen, als Sie uns glauben machen wollen. In
meiner langen Berufstätigkeit habe ich Ehepaare erlebt,
die ganz bewusst Steuerklasse IV gewählt haben.
({2})
Sie haben gesagt: Im Frühjahr bekommen wir etwas
Geld raus, das legen wir beiseite, das sparen wir für den
Urlaub. Andere haben gesagt: Wir können mit unserem
Geld viel besser umgehen als der Staat. Wir wählen ganz
bewusst die Steuerklassen III und V. Ich gehe zwar das
Risiko ein, nachzahlen zu müssen. Das Geld dafür legen
wir aber jeden Monat zurück. Je nachdem, wie viel wir
nachzahlen müssen, gehen wir am Ende des Jahres ein
Kölsch trinken oder Essen. Frau Lenke, Sie können mir
meine Erfahrungen nicht streitig machen. Bei aller Wertschätzung, ich weiß, wovon ich rede.
({3})
Bei der Steuerklassenkombination III und V zahlt
derjenige, der Steuerklasse III hat, unverhältnismäßig
wenig Steuern und derjenige, der Steuerklasse V hat, unverhältnismäßig viel Steuern. Am Ende des Jahres wird
das aber ausgeglichen.
In Ihrem Antrag steht nicht - das haben Sie aber hier
in Ihrer Zwischenfrage gesagt -, dass überwiegend
Frauen die Steuerklasse V haben. Aber liegt es daran,
dass sie Frauen sind, oder liegt es nicht vielmehr daran,
dass Sie die niedrigeren Einkommen haben?
({4})
- Ja, das denke ich auch.
Wir leben mit der Vorstellung, dass Mann und Frau
sich Erwerbsarbeit und Familienarbeit gerecht untereinander aufteilen müssen. Das ist sehr schön. Das wollen
wir alle. Aber es entspricht nicht den Tatsachen. Mann
und Frau teilen sich Erwerbs- und Familienarbeit meist
nur so lange, bis sie Eltern werden. Spätestens ab diesem
Zeitpunkt ändert sich die Situation schlagartig.
Warum ist das so? Diese Fragen müssen wir uns zu
Recht immer wieder stellen. Ich glaube nicht, dass das
durch eine Abschaffung der Steuerklasse V geregelt
werden kann. Es geht darum, dass Frauen für die gleiche
Arbeit weniger Lohn, weniger Gehalt bekommen und
dass sie regelmäßig mehr Teilzeit arbeiten als Männer.
Das ist kein Problem aufgrund der Steuerklasse V. Das
ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Das können
wir mit einem Herumdoktern an Steuerklassen, wie Sie
uns glauben machen wollen, nicht ändern.
({5})
Nichtsdestoweniger - das sage ich versöhnlich zum
Wochenende, Frau Lenke - gibt es auch bei uns Überlegungen, die Steuerlast unter den Ehegatten unterjährig
gleichmäßiger zu verteilen.
({6})
Aber - das betone ich ausdrücklich - das ist freiwillig.
Das ist nur für die Ehegatten, die diese Kombination
wählen wollen. Freiheit und Selbstbestimmung gelten
überall, nur nicht bei der Wahl der Steuerklassen. Die
Menschen wissen selber ganz gut, welche Steuerklassenkombination für sie die richtige ist. Warum müssen wir
Ehegatten vorschreiben, wie sie ihre Steuerlast, die sie
beim Familieneinkommen zu tragen haben, verteilen
sollen? Ich glaube, die Menschen sind in diesem Punkt
viel weiter als Sie, Frau Lenke. Es tut mir leid.
({7})
Wir wollen, dass die Menschen die Steuerlast anders
verteilen können, nämlich so, wie sie es für richtig empfinden. Alle Kolleginnen und Kollegen kennen sicherlich den Referentenentwurf zum Jahressteuergesetz
2008. Wir alle haben uns da schon sehr eingearbeitet.
Darin ist das Anteilsverfahren enthalten. Wir bieten die
Möglichkeit an, die Steuerlast freiwillig gleichmäßiger
zu verteilen.
Ob damit die Probleme gelöst werden, ob es praktikabel ist und ob es angenommen wird, kann ich noch nicht
sagen. Noch sind wir nicht im Geschäft. Denn das parlamentarische Verfahren beginnt deutlich später. Ich bin
auf die Diskussionen, die dabei entstehen, gespannt. Ich
freue mich darauf.
Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage von
Frau Dr. Höll zulassen?
({0})
Ja.
Frau Frechen, ich habe meine Position genannt. Ich
finde den konsequenten Übergang zur Individualbesteuerung richtig. Ich weiß, dass die Arbeitsgemeinschaft
Sozialdemokratischer Frauen dies auch so sagt bzw. so
sieht. Es erschließt sich mir daher nicht - auch nicht vor
dem Hintergrund der Ergebnisse der neuen BertelsmannStudie, in der eine eindeutige Positionierung erfolgt -,
warum Sie jetzt das optionale Anteilsverfahren bevorzugen.
Liebe Frau Kollegin Höll, wir können das in der Tat
auch im Ausschuss besprechen. Sie haben meine Position dazu aber schon am 2. Februar 2007 gehört - so Sie
denn anwesend waren -, als wir über den Antrag der
Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen
zur Abschaffung der Splittingtabelle gesprochen haben;
da habe ich sie dargestellt. Ich glaube, es würde uns beiden keine Freude machen - und vor allen Dingen keine
Freunde -, wenn ich jetzt meine Rede vom 2. Februar
wiederholen würde.
({0})
- Nein, ich stimme ihr nicht zu.
Ich glaube aber nicht, dass Sie so lange stehenbleiben
könnten, bis ich das erklärt habe. Es gibt da noch ganz
andere Gründe, warum ich mich in diesem Punkt etwas
anders verhalte als die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen. Es ist noch nicht ausdiskutiert, wer
von uns beiden da recht hat. Lesen Sie das in meiner
Rede einfach nach. Dann erschließt es sich Ihnen mit Sicherheit sofort.
Ich bleibe dabei: Mit der Änderung des Steuerrechts
erreichen wir weder eine Erhöhung der Beschäftigung
von Frauen noch erreichen wir, dass die Gehälter zwiGabriele Frechen
schen Frauen und Männern gleich hoch sind. Das werden wir mithilfe des Steuerrechts nicht schaffen.
Die Kinderbetreuungskosten werden in allen Berechnungsmodellen vom Gehalt der Mutter abgezogen werden. Ich frage Sie: Wo leben wir eigentlich?
({1})
Ist der Vater nicht auch für die Kosten der Kinderbetreuung verantwortlich?
({2})
Solange es so bleibt, dass die Kinderbetreuungskosten in
allen Berechnungsmodellen vom Nettogehalt der Mutter
abgezogen werden,
({3})
sind wir nicht auf einem partnerschaftlichen Weg: weder
bei der Erwerbsarbeit noch bei der Familienarbeit.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Jetzt hat das Wort die Kollegin Britta Haßelmann für
das Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau
Staatssekretärin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Im Jahr 2001 waren von den in Lohnsteuerklasse III, der Steuerklasse mit dem niedrigen Lohnsteuerabzug, eingestuften Personen 83,1 Prozent Männer
und 16,9 Prozent Frauen. Gleichzeitig waren von den in
Lohnsteuerklasse V, der Steuerklasse mit dem hohen
Lohnsteuerabzug, eingestuften Personen 10,4 Prozent
Männer und 89,6 Prozent Frauen. Frau Frechen, ich
musste ein bisschen schmunzeln, als ich hörte, wie Sie
die Position der SPD dargestellt haben.
({0})
Sie sagten, das sei frei gewählt, und Männer und Frauen
entschieden solidarisch miteinander, wie das innerhalb
der Familie verteilt wird. Zumindest die Frauenpolitikerinnen in Ihrer Fraktion wissen, dass das nicht so ist.
Deshalb setzen sie sich an anderer Stelle genauso wie ich
für die Abschaffung der Steuerklasse V ein.
Die Steuerklasse V ist antiquiert, ungerecht und leistungsfeindlich, und sie benachteiligt einseitig die
Frauen. Deshalb ist es dringend an der Zeit, sie abzuschaffen. Dieser Diskurs wird nicht nur bei den Grünen
geführt. Auch viele Frauenpolitikerinnen und Frauenpolitiker in Vereinen und Verbänden, selbst in der Wirtschaft, sowie in der SPD und in anderen Fraktionen erheben diese Forderung seit langem.
Rund 90 Prozent derjenigen, die in diese diskriminierende Steuerklasse eingestuft sind, sind Frauen. Das liegt
daran, dass Frauen in diesem Land selbst für die gleiche
Arbeit immer noch deutlich weniger verdienen als Männer. Deshalb werden sie in diese Steuerklasse eingestuft.
Das gesamte System der Lohnsteuerklassen für Ehepaare zementiert diese Ungleichheit. Es muss dringend
an die Lebensrealität angepasst werden und darf nicht
weiter Arbeitsanreize für Zweitverdiener, in der Regel
für Frauen, vermindern.
({1})
Liebe Frau Lenke, die Vorstellungen der FDP zur
Neuregelung des Lohnsteuerabzugs sind allerdings sehr
karg gehalten. Ihr Antrag bringt diese Debatte aus meiner Sicht überhaupt nicht voran. Wir Grüne haben schon
vor ein paar Monaten - Frau Frechen hat das gerade angesprochen - eine Alternative vorgelegt. Unser Antrag
mit dem Titel „Steuervereinfachung - Lohnsteuerklassen III, IV und V abschaffen“ befindet sich schon seit
Februar dieses Jahres im parlamentarischen Verfahren.
Nun zur Großen Koalition. Welchen Beitrag leistet sie
eigentlich zur Gleichstellung von Frauen im Steuerrecht? Die Große Koalition plant, im Lohnsteuerabzugsverfahren ab 2009 ein Optionsrecht einzuführen. Die
bisherigen und aus meiner Sicht antiquierten Steuerklassen bleiben also bestehen, und das Optionsrecht wird zusätzlich obendrauf gesattelt.
({2})
Damit liegt die Große Koalition schon im Ansatz daneben. Denn das Lohnsteuerabzugsverfahren wird dadurch
nicht etwa einfacher, sondern komplizierter. Diesen Vorschlag machen ausgerechnet Sie, die Sie sich an anderer
Stelle vehement für den Bürokratieabbau einsetzen.
Die Option erlaubt den Ehepartnern, sich nach ihrem
jeweiligen Anteil am gemeinsamen Gesamtbruttolohn
besteuern zu lassen. Das bedeutet letztlich nichts anderes, als dass die ungerechten und leistungsfeindlichen
Verteilungswirkungen des Ehegattensplittings unverändert bleiben. Es wird lediglich an den Symptomen herumgedoktert, letztlich aber nichts verändert. Wer für
das Anteilsverfahren optiert - Frau Lenke, dafür spricht
sich übrigens auch die FDP aus -, zahlt so viel Lohnsteuer, wie es seinem Anteil am Familieneinkommen
entspricht.
Der hohe Lohnsteuerabzug bei Lohnsteuerklasse V ist
eine Folge des Ehegattensplittings. Deshalb wollen wir
das Ehegattensplitting in eine gerechte und zeitgemäße
Individualbesteuerung umwandeln, wobei die gegenseitigen Unterhaltspflichten der Partnerinnen und Partner dadurch berücksichtigt werden, dass ein Höchstbeitrag an den Ehegatten übertragbar ist. Jede Frau und
jeder Mann macht die Steuererklärung für sich - die
Steuerklassen III, IV, V können somit ersatzlos wegfallen.
Lassen Sie mich zuletzt noch die datenschutzrechtliche Krux des Anteilverfahrens ansprechen, für das sich
die Große Koalition und die FDP aussprechen: Die eigenen Einkünfte müssen dem Arbeitgeber des Partners
bzw. der Partnerin bekannt gemacht werden. Eine solche
weitreichende Offenlegung persönlicher Daten geht uns
zu weit. Deshalb lehnen wir dieses Verfahren ab.
Ich sehe in der Individualbesteuerung und dem Vorschlag, den wir Grüne gemacht haben, den Weg, der
Emanzipation der Frau im Steuerrecht ein Stückchen näher zu kommen.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3649 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 31 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Oskar
Lafontaine, Dr. Barbara Höll, Hüseyin-Kenan
Aydin, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der LINKEN eingebrachten Entwurfs eines ...
Gesetzes zur Änderung des Aktiengesetzes
- Drucksache 16/4659 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Damit sind Sie einverstanden.
Die Reden der Kolleginnen und Kollegen Leo
Dautzenberg, Klaus Uwe Benneter, Mechthild
Dyckmans und Margareta Wolf ({1}) gehen zu
Protokoll.1)
Ich erteile das Wort dem Kollegen Professor Herbert
Schui für Die Linke.
({2})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Ak-
tiengesetz weist dem Aufsichtsrat die Aufgabe zu, die
Geschäftsführung zu überwachen. Das scheint nötiger
denn je zu sein. Die Konzerne Siemens, Daimler, EADS
und Telekom beispielsweise machen nicht den Eindruck,
gut geführt und hinreichend beaufsichtigt zu sein. Das
wundert auch deswegen nicht, weil die ehemaligen Vor-
stände regelmäßig Aufsichtsräte werden.
Der unternehmerische Ehrgeiz der Vorstände richtet
sich gegenwärtig weniger auf Ziele wie langfristige Pla-
nung und technischen Fortschritt - noch weniger auf
technischen Fortschritt, der der Umwelt zugute käme.
Vielmehr verlegen sie alle Energie darauf, ihren Beleg-
schaften unbezahlte Mehrarbeit und den Verzicht auf
Lohn abzupressen - dies alles vor dem Hintergrund, dass
die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermö-
1) Anlage 7
gen im vergangenen Jahr um 38 Milliarden Euro zugenommen haben.
Ähnlich nachdrücklich gehen die Vorstände bei der
Erhöhung der Managementvergütung vor: Bei den
DAX-Unternehmen haben sich diese Vergütungen während der letzten sechs Jahre verdoppelt. Die realen Nettolöhne dagegen sind, wie Sie wissen, gesunken. Bei den
Managervergütungen gibt das Aktiengesetz dem Aufsichtsrat eine klare Verantwortung: Er hat dafür zu sorgen, dass die Vorstandsbezüge in einem angemessenen
Verhältnis zu den Aufgaben des Managements und zur
Lage der Gesellschaft stehen. Bei einer wesentlichen
Verschlechterung der Lage der Gesellschaft können die
Managementbezüge sogar abgesenkt werden - ich bezweifle allerdings, ob das je der Fall war.
Mit der unternehmerischen Dynamik sieht es schlecht
aus, daran arbeiten die Vorstände allenfalls verhalten:
Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung beispielsweise liegen mit 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
unter dem Richtwert des Lissabonprozesses, der bei
3 Prozent liegt.
Bei Siemens wurde der Vorstandsvorsitzende Kleinfeld
von seinem Vorgänger von Pierer, der in den Aufsichtsrat gewechselt war, überwacht. In dieser Zeit sah sich
der Konzern nicht in der Lage, mit der Entwicklung der
Handyproduktion Schritt zu halten. Korruption grassiert.
Gelbe Gewerkschaften werden mit Konzerngeldern
hochgepäppelt, um die IG Metall zu schwächen. Zeitgleich mit der BenQ-Pleite kündigte der Aufsichtsrat
von Siemens an, die Vorstandsgehälter um 30 Prozent zu
erhöhen. Erst massiver öffentlicher Protest hat dafür gesorgt, dass diese Vorhaben verschoben und möglicherweise auch ganz aufgegeben wurden.
Der Fall Siemens ist typisch für viele deutsche Unternehmen: schleppende Innovation, beschleunigte Lohnsenkung, keine Hemmungen der Vorstände und ineffiziente Aufsichtsräte. Ein Grund dafür ist, dass der Aufsichtsrat als Versorgungsposten für ehemalige Vorstände
herhält, die die Folgen ihrer eigenen Entscheidungen
dann schließlich selbst überwachen sollen.
Von den 21 seit 2002 ausgeschiedenen Vorstandsvorsitzenden der im DAX vertretenen Unternehmen landeten 16 im Aufsichtsrat desselben Unternehmens, zwölf
wurden sogleich Aufsichtsratsvorsitzende. Das ist ganz
offensichtlich Missbrauch. Durch das Aktienrecht wird
nicht umsonst verboten, dass ein Aufsichtsratsmitglied
zugleich Vorstandsmitglied ist. Nicht viel anders liegen
die Dinge, wenn ein direkter Übergang vom Vorstand in
den Aufsichtsrat erfolgt.
Durch das Aktienrecht wird die Beachtung des
Corporate-Governance-Kodex nahegelegt. Darin verpflichten sich die Unternehmen in freiwilliger Übereinkunft, einen unmittelbaren Wechsel des Vorstandschefs
in den Aufsichtsrat in der Regel auszuschließen. Wie die
Erfahrung aber zeigt, ist diese Selbstverpflichtung nichts
wert. Umso erstaunlicher ist, dass die Koalition so nachdrücklich darauf setzt. Durch die freiwilligen Verhaltensregeln wird auch die Veröffentlichung der Vorstandsgehälter vorgeschrieben. Befolgt wurde diese
Regel jedoch erst, nachdem die entsprechenden Passagen dieses Kodex Gesetz geworden sind.
Deshalb schlägt Die Linke vor, den Übergang von
Vorstandsmitgliedern in den Aufsichtsrat erst nach einer
Übergangsfrist von fünf Jahren zu erlauben. Die Forderung ist Ihnen bekannt. Sie wurde so ähnlich auch von
Volker Kauder vertreten. Das Gesetz wäre also nichts
weiter als die rechtliche Normierung des freiwilligen
Corporate-Governance-Kodex.
Ich gehe davon aus, dass all diejenigen, die den Inhalt
der freiwilligen Vereinbarungen gutheißen, auch unseren
Antrag gutheißen werden. An sich sollte die überwiegende Mehrheit des Hauses unserem Antrag zustimmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Es ist verabredet, den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/4659 an die Ausschüsse zu überweisen, die in
der Tagesordnung vorgeschlagen werden. - Damit sind
Sie einverstanden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 32 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Cornelia Behm, Hans-Josef Fell,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Mit Bioraffinerien in Deutschland die Biomasse effizienter nutzen und zusätzliche Ressourcen erschließen
- Drucksache 16/5529 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Die Reden der Kolleginnen und Kollegen
Flachsbarth, Mühlstein, Brunkhorst, Bulling-Schröter
und Kotting-Uhl sind zu Protokoll gegeben.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/5529 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die in der Tagesordnung stehen. - Auch damit sind Sie
einverstanden.
Wir sind am Schluss der heutigen Tagesordnung angekommen.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages, auf Mittwoch, den 4. Juli 2007, 13 Uhr, ein.
Genießen Sie das Wochenende und die gewonnenen
Einsichten.
Die Sitzung ist geschlossen.