Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich und wünsche allen Anwesenden im Plenarsaal
und auf den Tribünen einen schönen guten Morgen und
uns gute Beratungen.
Vor Eintritt in die Tagesordnung gibt es zwei Mitteilungen: zunächst den Hinweis darauf, dass der Kollege
Wolfgang Zöller am Montag dieser Woche seinen
65. Geburtstag gefeiert hat.
({0})
Der Beifall bringt offenkundig die guten Wünsche für
die nächsten Lebensjahre nicht nur des Präsidenten, sondern des ganzen Hauses zum Ausdruck.
Außerdem müssen wir, bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten können, noch das vom Deutschen Bundestag zu benennende Mitglied im Stiftungsrat der Stiftung CAESAR wählen. Die Fraktion der CDU/CSU
schlägt den Kollegen Uwe Schummer vor. Er ist sogar
persönlich anwesend und könnte sich notfalls noch einmal kurz vorstellen. Wird das gewünscht? - Das ist nicht
der Fall. Sind Sie mit seiner Benennung einverstanden? - Dies findet eine breite Zustimmung. Es fängt
heute Morgen also gut an. Damit ist interfraktionell vereinbart, dass der Kollege Uwe Schummer in den Stiftungsrat der Stiftung CAESAR einzieht.
Im Übrigen haben wir wiederum eine Vereinbarung
zwischen den Fraktionen, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte
zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN:
Notwendigkeiten einer zukunftsfesten Pflegereform im
Verhältnis zu den pflegepolitischen Vorschlägen der Koalition
({1})
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({2})
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des
Rechts der Verbraucherinformation
- Drucksache 16/5723 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({3})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Mechthild Dyckmans,
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Jörg van Essen, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Verfahrensrechte in Strafverfahren in der Europäischen
Union
- Drucksache 16/5606 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({4})
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jens Ackermann,
Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, Kerstin Andreae, Hüseyin-Kenan Aydin und weiterer Abgeordneter
Ergänzung des Untersuchungsauftrages des 1. Untersuchungsausschusses
- Drucksache 16/5751 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP:
Haltung der Bundesregierung zu den wirtschafts- und finanzpolitischen Vorstellungen von Bundeswirtschaftsminister Glos
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Michael
Goldmann, Angelika Brunkhorst, Patrick Döring, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Schutz und Nutzung der Meere - Für eine integrierte maritime Politik
- Drucksachen 16/4418, 16/5764 Berichterstattung:
Abgeordneter Uwe Beckmeyer
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer,
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Burkhardt MüllerSönksen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vor
dem Kollaps bewahren
- Drucksache 16/5738 Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ({6}),
Omid Nouripour, Rainder Steenblock, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte stärken
- Drucksache 16/5735 ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Herbert Schui,
Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der LINKEN
Für ein Europäisches Kartellamt
- Drucksache 16/5360 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({7})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 12, 16 b und 29 werden ab-
gesetzt. In der Folge werden die Tagesordnungspunkte 13
und 14, 15 und 16, 17 und 18 sowie 19 und 20 jeweils
getauscht.
Das scheint keine besonderen Irritationen hervorzuru-
fen. Auch dazu gibt es offenkundig Einvernehmen. Dann
ist das so beschlossen.
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 3 a
bis 3 f:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Schummer, Ilse Aigner, Michael Kretschmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Willi Brase,
Nicolette Kressl, Jörg Tauss, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Junge Menschen fördern - Ausbildung schaffen und Qualifizierung sichern
- Drucksache 16/5730 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({8})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska
Hinz ({9}), Britta Haßelmann, Brigitte Pothmer, Josef Philip Winkler und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Perspektiven schaffen - Angebot und Struktur
der beruflichen Bildung verbessern
- Drucksache 16/5732 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({10})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Berufsbildungsbericht 2007
- Drucksache 16/5225 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({11})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({12})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Schummer, Ilse Aigner, Michael Kretschmer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Willi Brase, Jörg
Tauss, Nicolette Kressl, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Weiterentwicklung der europäischen Berufsbildungspolitik
- zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz
({13}), Grietje Bettin, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Den Europäischen Bildungsraum weiter gestalten - Transparenz und Durchlässigkeit
durch einen Europäischen Qualifikationsrahmen stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
Hirsch, Dr. Petra Sitte, Volker Schneider ({14}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Anforderungen an die Gestaltung eines europäischen und eines nationalen Qualifikationsrahmens
- Drucksachen 16/2996, 16/1063, 16/1127,
16/5760 Berichterstattung:
Abgeordnete Uwe Schummer
Patrick Meinhardt
Priska Hinz ({15})
e) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Cornelia Hirsch, Dr. Petra Sitte, Volker
Schneider ({16}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der LINKEN eingebrachten
Entwurfs eines Achtundzwanzigsten Gesetzes
zur Änderung des Berufsbildungsgesetzes
- Drucksache 16/2540 Präsident Dr. Norbert Lammert
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({17})
- Drucksache 16/5761 Berichterstattung:
Abgeordnete Uwe Schummer
Patrick Meinhardt
Priska Hinz ({18})
f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({19})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz
({20}), Britta Haßelmann, Ekin Deligöz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Neue Wege in der Ausbildung - Strukturen
verändern
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Berufsbildungsbericht 2006
- Drucksachen 16/2630, 16/1370, 16/5762 Berichterstattung:
Abgeordnete Uwe Schummer
Patrick Meinhardt
Priska Hinz ({21})
Die Fraktionen haben sich darauf verständigt, dass die
Aussprache zu diesen Vorlagen eineinhalb Stunden dauern soll. - Auch das trifft offenkundig auf Einverständnis. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache zu den aufgeführten Beratungsunterlagen. Das Wort erhält zunächst die Frau Bundesministerin Dr. Annette Schavan.
({22})
Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Erfolgreiche Berufsbildungspolitik ist ein wirksamer
Weg zur Sicherung der Zukunftschancen der jungen Generation. Wenn wir von Talenten sprechen, dann meinen
wir nicht nur Akademiker. Heute geht es um die Talente,
denen wir gerecht werden müssen, aus dem weiten Feld
und dem international hoch anerkannten Bereich der beruflichen Bildung in Deutschland.
Herzstück der beruflichen Bildung ist die duale Ausbildung, also die Zusammenarbeit von Schulen und Unternehmen, weshalb wir immer, wenn wir von Berufsbildungspolitik sprechen, Leidenschaft in politischen und
den damit verbundenen Weichenstellungen brauchen.
Aber, meine Damen und Herren, wir brauchen auch Leidenschaft für junge Talente in unseren Unternehmen in
Deutschland. Wir müssen alles tun - das haben wir mit
dem Ausbildungspakt vereinbart -, damit jeder Jugendliche in Deutschland seine Chance bekommt.
({0})
Es sind bei näherer Betrachtung drei Aufgaben, denen
wir uns zu stellen haben:
Die erste, bereits genannte Aufgabe - so steht es auch
im Koalitionsvertrag; das ist für uns eine ganz bedeutsame Aufgabe, und zwar gerade in Zeiten, in denen Dynamik in der Wirtschaft zu verzeichnen ist - besteht darin, dafür zu sorgen, dass jeder Jugendliche qualifiziert,
gebildet und ausgebildet werden kann. Dazu gehören die
schulische Bildung als Voraussetzung für die Ausbildung sowie der Einstieg in die Ausbildung und die Perspektive, nach einer qualifizierten Ausbildung Beschäftigung zu bekommen.
Zweitens. Berufsbildungspolitik heißt heute auch,
dem prognostizierten Fachkräftemangel entgegenzuwirken.
Drittens. Wir müssen Voraussetzungen für europäische Mobilität durch Transparenz und Vergleichbarkeit
der Bildungsgänge schaffen. Dazu gibt es den Kopenhagenprozess in der Europäischen Union, der in der Zeit
unserer Ratspräsidentschaft weiter vorangetrieben werden konnte. Auch hier gilt: Wir dürfen nicht nur von Mobilität sprechen, wenn es um Studierende geht. Für Auszubildende, gerade in bestimmten Grenzregionen in
Deutschland, ist Mobilität ebenso wichtig, um die Chancen, die sich in Europa bieten, auch tatsächlich wahrnehmen zu können.
({1})
Um alle drei Aufgaben gemeinsam zu sehen und um
die verschiedenen notwendigen Strategien aufeinander
abzustimmen, wird die Bundesregierung unter dem Titel
„Jugend, Ausbildung und Arbeit“ im Herbst eine nationale Qualifizierungsinitiative vorlegen, die alle Stufen,
nämlich Bildung, Ausbildung und den Übergang in den
Arbeitsmarkt, betrifft. Diese Initiative betrifft die Aktivitäten des Bundes, der Länder und der Sozialpartner. Es
ist also eine Initiative, die deutlich machen soll, dass
viele Akteure gefragt sind, in den nächsten Jahren sehr
konsequent eine Weiterentwicklung der Berufsbildungspolitik im engeren und weiteren Sinn zu leisten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Lage ist derzeit
durchaus differenziert. Schauen wir uns die Zahlen an:
Der Berufsbildungsbericht 2007 zeigt auf der einen Seite
einen Anstieg der Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge um 4,7 Prozent. Für 2007 sind weitere
Steigerungen zu erwarten. Das heißt in einem Satz - das
wissen auch alle Insider -: Dynamik auf dem Arbeitsmarkt ermöglicht Dynamik auf dem Ausbildungsmarkt.
Alles, was für den Arbeitsmarkt gut ist, ist auch gut für
den Ausbildungsmarkt.
({2})
Der Berufsbildungsbericht zeigt aber auf der anderen
Seite, dass derzeit 1,3 Millionen Schulabgänger im Alter
bis zu 29 Jahren ohne abgeschlossene Berufsausbildung
sind. Das ist eine Gruppe, auf die wir uns, beide Koalitionspartner, in besonderer Weise konzentrieren, weil
- damit komme ich zum dritten Punkt, der zur Lage gehört - uns schon heute gesagt wird, dass es erste deutliche Anzeichen für einen prognostizierten Fachkräftemangel in den Unternehmen gibt. Wenn das so ist, dann
ist es umso wichtiger, diese 1,3 Millionen Menschen in
den Blick zu nehmen und ihnen auf unterschiedlichen
Wegen, über die wir ja in Beratung sind, eine Chance zu
geben.
Ich möchte an dieser Stelle sagen: Die Koalitionsarbeitsgruppe Arbeitsmarkt und der Innovationskreis
Berufliche Bildung, das Arbeitsministerium und das Bildungsministerium arbeiten im Bereich der Berufsbildungspolitik und im Bereich des Ausbildungspaktes des
Wirtschaftsministeriums außerordentlich gut zusammen.
Ich bin überzeugt, wir kommen gerade deshalb gut
voran, weil wir in diesen Fragen einen hohen Konsens
und eine gute Zusammenarbeit haben.
Damit komme ich zu den Maßnahmen und Impulsen
im Einzelnen:
Erstens haben wir die Möglichkeit - schon zu Beginn
der Legislaturperiode eingeführt, sodass uns bereits erste
Erfahrungen vorliegen - der Einstiegsqualifizierung
geschaffen.
Diese entwickeln wir - das ist der zweite Punkt gerade weiter. Wir haben das Bundesinstitut für Berufsbildung beauftragt, in einer Reihe von relevanten Berufsbildern Ausbildungsbausteine zu entwickeln, um
Altbewerbern, die in die Gruppe der 1,3 Millionen
Schulabgänger ohne Ausbildung fallen, aber auch Ausbildungsabbrechern, die bestimmte Kompetenzen erworben
haben und möglicherweise mit einzelnen Ausbildungsbausteinen noch zu einem Abschluss geführt werden
können, eine Chance zu geben. Die Einstiegsqualifizierung wird jetzt also strukturelle Unterstützung erhalten.
Damit werden den besonders gefährdeten Gruppen neue
Möglichkeiten gegeben.
Ich nenne drittens das Ausbildungsstrukturprogramm „Jobstarter“. In der Befragung der Bundesregierung war gestern die Situation in den neuen Ländern
ein Thema. In das Programm „Jobstarter“ werden
125 Millionen Euro investiert, vor allem in den neuen
Ländern und Berlin. Bis 2010 sollen 22 000 betriebsnahe
Ausbildungsplätze geschaffen werden. Wir wissen, dass
wir hier andere Wege gehen müssen. Das, was in anderen Regionen Deutschlands in einer selbstverständlichen
Kooperation zwischen Unternehmen und Schule geschieht, muss hier stärker unterstützt werden: durch Verbundausbildung, überbetriebliche Werkstätten und andere mögliche betriebsnahe Wege.
Viertens muss die vorhandene Überspezialisierung in
dem Bereich der dualen Ausbildung abgebaut werden.
„Dual mit Wahl“ lautet der Vorschlag des Deutschen
Industrie- und Handelskammertages. Ich halte ihn für
gut. Wir wollen natürlich keine Berufe abschaffen, sondern auf diese Weise die Ausbildung zu Spezialberufen,
die nahe beieinanderliegen, bündeln, indem das gemeinsame berufliche Fundament in einer ersten Phase gemeinsam vermittelt wird und die Spezialisierung in der
zweiten Phase getrennt erfolgt. Ich sage voraus: Das
wird auch in struktureller Hinsicht bedeutsam sein, weil
wir, angesichts der Bevölkerungsentwicklung, schon
jetzt die Weichen dafür stellen müssen, dass auch in fünf
oder zehn Jahren gewährleistet ist, dass in allen Regionen in Deutschland gut ausgebildet werden kann. Deshalb müssen die Verbundausbildung gefördert und die
überbetrieblichen Werkstätten stärker in die Erstausbildung hineingenommen werden, damit im Zweifelsfall
Ausbildungsbausteine angeboten werden können, die ein
Unternehmen vor Ort nicht anbieten kann.
Fünftens. Die Zahl der Schulabbrecher muss reduziert werden. Jeder Jugendliche braucht einen Abschluss, eine Qualifikation als Voraussetzung für berufliche Bildung. Das ist mit einem besonderen Appell an die
Länder verbunden. Wir sind im Gespräch über konkrete
Strategien, um in einem überschaubaren Zeitraum eine
Reduzierung der Zahl der Schulabbrecher zu erreichen.
Frau Ministerin, gestatten Sie, bevor Sie zum nächsten Thema kommen, noch eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?
Ich dachte, ich müsste schon zum Ende kommen.
Ja, auch das ist richtig.
({0})
Das ist nicht richtig; ich habe die Uhr im Blick. Bitte schön.
Frau Ministerin, Sie haben hier verschiedene Strategien genannt. Ich warte die ganze Zeit darauf, dass Sie
darauf zu sprechen kommen, dass es bestimmte Gruppen
von Jugendlichen gibt, deren Talente zu fördern nicht
ganz so einfach ist. Ich denke an Migrantinnen und Migranten, aber auch an Menschen mit Behinderungen.
Können Sie mir vielleicht erklären, wieso die Finanzmittel, die für berufsfördernde Bildungsmaßnahmen ausgegeben werden, in den letzten Jahren kontinuierlich sinken, und können Sie mir zweitens erklären, wieso der
relative Anteil an Berufsausbildung für behinderte Menschen im Osten dreimal so hoch ist wie im Westen?
Was Migranten angeht, so werde ich gerade heute
Nachmittag ein sehr positives Beispiel erleben, indem
ich eine große Gruppe türkischstämmiger Abiturienten
empfangen werde. Ich rate uns sehr
({0})
- Sie haben von Migranten und Behinderten gesprochen;
jetzt bleibe ich zunächst einmal bei der ersten Gruppe -,
diese Gruppe der Jugendlichen nicht immer nur als Problemgruppe darzustellen. Wir haben im Dialog mit Unternehmenschefs mit Migrationshintergrund - vor allem
die türkischen Wirtschaftsverbände sind dabei angesprochen - 10 000 zusätzliche Ausbildungsplätze geschaffen. Dazu gibt es Regionalkonferenzen. Wir wissen, dass
diese Unternehmen in den Kreis der Ausbildungsunternehmen aufgenommen werden müssen. Da wird also
vieles getan.
Im Bereich der Förderung von beruflicher Qualifikation Behinderter hat es Veränderungen gegeben, die
nicht allein mit Umschichtungen oder finanziellen Problemen in früheren Jahren zu tun hatten. Da gilt jetzt
vielmehr das exakt Gleiche, was ich eben gesagt habe:
Auf der Ebene der Länder und im Zusammenwirken mit
vielen freien Trägern, die in diesem Bereich engagiert
sind, wird man sich auch in diesem Bereich mit Blick
auf die Entwicklungen der letzten Jahre um eine Wende
bemühen müssen. Ich habe jetzt keinen exakten Überblick über die entsprechenden Zahlen. Diese will ich
aber gerne in meinem Haus aufarbeiten lassen und Ihnen
zur Verfügung stellen.
({1})
Der europäische Qualifikationsrahmen ist ein Aspekt,
den ich im Zusammenhang mit dem vor der Zwischenfrage von mir genannten Punkt für wichtig halte. Deshalb entwickeln wir auch in Deutschland einen nationalen Qualifikationsrahmen.
Der sechste Punkt ist die bessere Verzahnung von
Erst- und Weiterbildung. Weiterbildungssparen ist ein
erster Schritt und nicht der letzte Schritt. Es werden weitere Schritte folgen.
Schließlich zu den benachteiligten Jugendlichen.
Wir haben in 75 Berufen in Deutschland zweijährige
Bildungsgänge eingerichtet. Es zeigt sich, dass der Einstieg über einen zweijährigen Bildungsgang für viele der
richtige Weg ist, um sich weiterzuentwickeln. Meine
Position ist: Da, wo nach einem zweijährigem Bildungsgang gewährleistet ist, dass eine Weiterentwicklung hin
zu einem dreijährigem möglich ist, sollten wir dies offensiv angehen. Wir sollten dies nicht tun, wenn dies zu
Sackgassen für die Jugendlichen führt.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die nationale Qualifizierungsinitiative wird uns Gelegenheit geben, Berufsbildungspolitik in Gänze darzustellen, einen Zusammenhang auch zu dem herzustellen, was für junge Leute im
Bereich des Arbeitsmarktes wichtig ist. Dies wird uns
die Gelegenheit geben, eine strukturelle, konzeptionelle
Weiterentwicklung zu leisten.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Wir sollten in
diesen Debatten nicht vergessen, dass die Berufsbildung
in Deutschland trotz aller identifizierten Schwächen
- Stichwort: Lehrstellenmarkt während vieler Jahre - erfolgreich und die beste Vorbeugung gegen Jugendarbeitslosigkeit ist. Das bestätigt bis heute der europäische Vergleich. Das wird am Interesse anderer Länder
deutlich, diesen Bereich des Bildungssystems zu stärken.
Ich sage auch: Ich mache keinen Hehl daraus, dass
wir uns angesichts unserer Bevölkerungsentwicklung
dauerhaft Gedanken darüber machen müssen, wie wir
Talente aus anderen Ländern nach Deutschland holen
können. Aber eine Priorität muss sein - auch dazu gibt
es Konsens in der Koalition -, Jugendlichen hier in
Deutschland eine Chance zu geben, das Potenzial, das
wir haben, zu nutzen. Deshalb ist die Berufsbildungspolitik ein wirksamer Weg für die Zukunftschancen der
jungen Generation.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort erhält nun der Kollege Patrick Meinhardt
für die FDP-Fraktion.
({0})
Sie bekommen auch gleich wieder die richtige Antwort, Herr Tauss.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau
Ministerin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen!
Da der Handel 5 Prozent mehr Ausbildungsplätze anbietet
und das Handwerk trotz eines Verlusts von 60 000 Arbeitsplätzen mit einer Steigerung von annähernd 4 Prozent weit über den Bedarf ausbildet, fehlt mir wirklich
jedes Verständnis dafür, dass wir in dieser Sitzung heute
wiederum den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung
einer Ausbildungsplatzabgabe beraten, der von der
Linken vorgelegt worden ist und aus der Mottenkiste der
politischen Ideologie stammt. Wir brauchen so etwas in
der Bundesrepublik Deutschland nicht.
({0})
Da die Koalition jetzt ein enormes Problem mit dem
Mindestlohn hat, erfindet sie über Nacht einen sogenannten Bonus für ausbildungswillige Betriebe. Das
hört sich zunächst einmal gut an. Das wollten Sie auch
erreichen.
({1})
Was läuft aber über den Ticker, Herr Kollege Tauss? Auf
den Arbeitgeberbeitrag zur Arbeitslosenversicherung
soll es einen Rabatt geben. Kleine Einzelheiten wie die
Höhe des Rabatts und der Ausbildungsbedarf seien zwar
noch nicht geklärt, angesichts der Unterschiede zwischen SPD und CDU, so die Tickermeldung, sei diese
Einigung aber bemerkenswert. - Meine Damen und Herren, das einzig Bemerkenswerte ist, dass Sie mit einer so
substanzlosen Ankündigung überhaupt an die Öffentlichkeit gehen.
({2})
Ich halte es mit dem DIHK, der Ihnen vorwirft - das
steht heute in einer Tickermeldung -, dass der Vorschlag
nicht zu Ende gedacht ist. Allein die Ermittlung dessen,
was „überdurchschnittlich“ eigentlich konkret heißt,
würde zu unendlichen Diskussionen und noch mehr Bürokratie führen.
({3})
Auch ordnungspolitisch ist das Ganze fragwürdig. Wer
entscheidet? Etwa die Bundesagentur für Arbeit? Daraus
würde sich eine neue Bewilligungsbürokratie entwickeln. Gerade die kleinen Unternehmen würden dadurch
benachteiligt. Nein, das ist der falsche Weg. Wir brauchen weniger bürokratische Bevormundung der ausbildungswilligen Betriebe.
({4})
Frau Ministerin, eine gute Bildung ist die Basis für alles. Bildung muss von Anfang an in ein Konzept lebenslangen Lernens eingegliedert sein. In einer liberalen Bürgergesellschaft haben wir dafür zu sorgen, dass
jeder entsprechend seinen Fähigkeiten gefördert wird.
Das ist unsere Verantwortung. Gerade deswegen können
wir nicht hinnehmen, dass jährlich 80 000 Schüler die
Hauptschule ohne Abschluss verlassen, dass Jahr für
Jahr 250 000 Schüler sitzen bleiben, sich aber trotzdem
keine nachhaltige Verbesserung ihrer Leistungen einstellt, dass 160 000 junge Menschen in berufsvorbereitenden Maßnahmen geparkt werden und 240 000 Berufsschüler die Berufsschule ohne Abschluss verlassen.
Fast eine Dreiviertelmillion junger Menschen erhält
keine optimale Förderung. Das ist für ein Bildungsland
wie die Bundesrepublik Deutschland ein nicht hinnehmbarer Zustand.
({5})
Frau Ministerin, deswegen brauchen wir aber keine
neue europaweite PISA-Studie für den Bereich der Berufsschulen. Die Schulen kommen aus den Studienerhebungen ja gar nicht mehr heraus. Nicht nur angesichts
des Fachkräftemangels muss doch festgestellt werden,
dass wir in Deutschland kein Erkenntnisproblem haben,
sondern es in diesem Land an der Umsetzung hapert.
({6})
Es gibt eine ganze Reihe von sehr konkreten Aufgaben: Wir brauchen ein klares Bekenntnis zum dualen
System und zur Notwendigkeit der Modernisierung des
dualen Systems. Ganz bewusst sage ich hier und heute:
Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie auf der
europäische Ebene für die volle Anerkennung des dualen
Systems und für die volle Anerkennung des Meisters
kämpft.
({7})
In einer Pressemeldung vom 12. Juni ist sehr deutlich
zum Ausdruck gekommen, dass noch nicht klar ist, ob
der Meisterbrief, der in Deutschland Teil des dualen
Ausbildungssystems ist, auf europäischer Ebene voll anerkannt wird. Bis zum 20. Oktober - Stichwort: EURichtlinie zur gegenseitigen Anerkennung von Berufsqualifikationen - haben wir aber nicht mehr viel Zeit.
Das ist eine Hausaufgabe, die diese Bundesregierung im
Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft zu leisten hat.
({8})
Wer der jungen Generation Chancen bieten will, der
muss neue Ausbildungsberufe schaffen, der muss neue
Wege gehen, aber auch kürzere Ausbildungszeiten vorantreiben. Es ist richtig, dass wir dringend mehr zweijährige Ausbildungsgänge brauchen. Nicht nur in der Autowerkstatt zeigt sich das: Die dreijährige Ausbildung zum
Kfz-Mechatroniker ist inzwischen in allererster Linie auf
Realschülern und Gymnasiasten ausgerichtet, während
die zweijährige Ausbildung zum Kfz-Servicemechaniker
fast ausschließlich von Hauptschülern aufgenommen
wird. Wir brauchen also kürzere Ausbildungszeiten in
einem neuen, modernisierten, modularen System. Auf
diesem Weg müssen wir gemeinsam weiter vorangehen.
({9})
Überraschend spät, aber immerhin noch vor Schluss
Ihrer Rede, wünscht der Kollege Tauss, Ihnen eine Zwischenfrage zu stellen.
Ich gestehe, dass es mich gewundert hätte, wenn
keine Zwischenfrage gekommen wäre, Herr Kollege
Tauss.
Bitte, Herr Tauss.
Lieber Kollege Meinhardt, für Erkenntnisgewinn
engagiere ich mich ohne Ende.
({0})
Deswegen stelle ich an dieser Stelle eine Frage. Sie haben soeben beklagt, dass die Ergebnisse der deutschen
Berufsausbildung bis hin zur Meisterausbildung - da
gebe ich Ihnen recht - im europäischen System noch
nicht so anerkannt werden, wie wir es uns wünschen.
Gleichzeitig plädieren Sie jetzt dafür, eine Berufsausbildung light zu machen. Frage: Sind Sie wirklich der Auffassung, dass die Akzeptanz des deutschen Berufsbildungssystems im europäischen Vergleich steigt, wenn
wir systematisch auf verkürzte Ausbildungsgänge, die ja
möglich sind, setzen?
({1})
Besteht nicht vielmehr die Gefahr, dass sie sinkt? Diesen
Widerspruch müssen Sie auflösen und mir gegebenenfalls erklären.
Herr Kollege Tauss, ich sehe den Widerspruch nicht.
({0})
- Nein, nein, ich bin auf der Linie dessen - wenn man
auf einer gemeinsamen Linie ist, sollte man das auch sagen -, was die Ministerin hier gerade gesagt hat.
({1})
Wir wollen eine Stärkung der Ausbildungsgänge im
Bereich der zweijährigen Ausbildung. Es gibt bereits
75 bzw. 77 dieser Ausbildungsgänge. Ich glaube, Sie
und ich sind ein und derselben Meinung, dass wir damit
im modularen System noch nicht am Ende sind, dass
durchaus noch mehr zweijährige Ausbildungsgänge
möglich sind. Hier besteht überhaupt kein Widerspruch.
Das Gegenteil ist der Fall: Mit den zweijährigen Ausbildungsgängen schaffen wir genau für die Jugendlichen
Ausbildungsmöglichkeiten, denen wir eine zweite
Chance eröffnen müssen, und nichts anderes.
({2})
Einen wichtigen Punkt möchte ich an dieser Stelle
noch einmal exponiert ansprechen: Die Weiterbildung
muss in einem solchen System von nachhaltiger Bedeutung sein. Deswegen halten wir als FDP es für äußerst
fragwürdig, dass für ein System des Bildungssparens auf
drei Jahre 45 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden. Sie müssen sich Folgendes vorstellen: 45 Millionen
Menschen als Zielgruppe sollen in drei Jahren 45 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden. Ein Jahr in einer Weiterbildungsmaßnahme ist vorgesehen, und
1 Euro pro Person wird auf drei Jahre verteilt zur Verfügung gestellt. Soll das die neue Weiterbildungsinitiative
der Bundesregierung sein? - Das ist ein politisches Armutszeugnis.
({3})
Wir hoffen, dass die Wählerinnen und Wähler dieser sogenannten Großen Koalition dies merken werden. Wir
wollen für jeden jungen Menschen in unserem Bildungssystem eine zweite Chance.
({4})
Das Wort hat nun der Bundesminister für Arbeit und
Soziales Franz Müntefering.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich will Ihnen zunächst einen Gruß von den Personen draußen in den weißen Zelten bestellen, die uns eingeladen haben, Blut zu spenden. Ich soll Ihnen sagen, Sie möchten vorbeikommen.
Ich war heute Morgen schon da und habe Frau Enkelmann getroffen und festgestellt: Das Blut ist kein Stückchen mehr rot als meins.
({0})
Herr Minister, darf ich mir eine geschäftsleitende Anmerkung erlauben: Es wäre gut, wenn diejenigen, die ohnehin nicht im Plenarsaal sind, von diesem Angebot vorrangig Gebrauch machten.
({0})
Ich nehme an, die sitzen alle in ihren Büros und hören
zu. Ich lade auch die Besucher auf den Tribünen dazu
ein. Man sagte mir, gestern sei eine Prinzessin dagewesen, und sie habe kein blaues Blut gehabt. Kollege Kauder war auch dort. Ich konnte aber nicht sehen, ob sein
Blut schwarz ist oder rot.
({0})
Ganz im Ernst - ich will ja nicht ablenken -: Ich
finde, dass wir den Frauen und Männern, die heute unsere Gäste sind und die viel ehrenamtliches Engagement
investieren, ein Dankeschön sagen sollten. Sie leisten
ganz tolle Arbeit.
({1})
Zum Thema. Frau Kollegin Schavan hat es angesprochen, und ich will das noch einmal aufgreifen. Der Antrag, der von den Koalitionsfraktionen vorgelegt worden
ist, beinhaltet die Fragen: Was machen wir am Ausbildungsmarkt? Was machen wir für die jungen Menschen
insgesamt? Deshalb sind der Wirtschaftsbereich, Arbeit
und Soziales sowie Bildung und Forschung in besonderer Weise herausgefordert, ein gemeinsames Konzept zu
schaffen. In dem Antrag steht die Herausforderung an
uns, an die Koalition, aber auch an die Bundesregierung,
unsere Arbeit in diesem Bereich zu konkretisieren und
weiter voranzutreiben. Dazu wollen wir in diesem
Herbst in aller Deutlichkeit beitragen.
Wenn man die Situation junger Menschen in Deutschland mit der in anderen europäischen Ländern vergleicht, kommt man zu dem Ergebnis, dass es in
Deutschland gut aussieht. Die anderen europäischen
Länder gucken ziemlich neidisch auf Deutschland.
({2})
Trotzdem dürfen wir nicht zufrieden sein. Bei den unter
20-Jährigen läuft das sehr gut, aber zwischen 20 und
25 ist das schon eine kritische Altersgrenze. Wer da
zwei-, drei- oder viermal nicht in den Beruf kommt,
nicht in die Ausbildung kommt, gilt schon als zu alt, als
Altbewerber und schon ein bisschen als aussortiert. Und
deshalb müssen wir uns diesem Komplex insgesamt nähern.
Meistens diskutieren wir darüber unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten: Was liegt in unserem Interesse? Was braucht unsere Gesellschaft? Dazu muss man
allerdings einen Satz sagen: Jeder einzelne Mensch hat
einen Anspruch darauf, Bildung und Ausbildung zu erfahren. Das ist ein Stück Grundlage der Demokratie und
der Freiheitsidee überhaupt.
({3})
Jeder Mensch hat das Recht, unabhängig davon, ob es
sich heute oder morgen volkswirtschaftlich rechnet, die
Chance zu haben, Bildung zu erfahren. Deshalb finde ich
die Feststellung in dem vorliegenden Antrag interessant,
dass wir die Länder dringend bitten zu veranlassen, dass
nicht mehr so viele junge Menschen ohne Abschluss aus
den Schulen kommen. Das kann so nämlich nicht bleiben.
({4})
Das richtet sich an die Bildungsministerin, aber auch an
den Arbeitsminister und den Wirtschaftsminister.
Jungen Leuten, die die Schule mit 16, 17 oder
18 Jahren ohne Abschluss verlassen, zu sagen: „Jetzt organisieren wir für euch soziale Gerechtigkeit“, ist ganz
schwer.
({5})
Wir müssen früher anfangen. Deshalb ist die Debatte,
die in der Koalition über die Bedeutung der vorschulischen Erziehung geführt wird, sehr wichtig. Hier fängt
das Ganze an. Das ist ein Gesamtkomplex, den wir sehen
müssen. Wir werden das Problem der Jugendlichen, die
auch Schwierigkeiten haben, Ausbildung zu finden und
Beruf zu finden, nur lösen können, wenn wir das Ganze
im Gesamtkonzept der Bildungspolitik vernünftigerweise angehen.
({6})
Natürlich müssen wir im Interesse der Leistungsfähigkeit unseres Landes alle Potenziale, die wir haben,
nutzen und vergrößern. Dazu gehört, im Interesse der
jungen Menschen dazu beizutragen - so verstehe ich
eine der Anregungen des Antrags -, dass nicht mehr unterschieden wird zwischen den Kindern von Eltern, die
Arbeitslosengeld-II-Empfänger sind, und den Kindern
von Eltern, die das nicht sind.
({7})
Es kann doch nicht sein, dass wir bei der Berufsvorbereitung den jungen Menschen zunächst einmal vermitteln:
Du gehst zur Arge; denn deine Eltern sind Arbeitslosengeld-II-Empfänger. Die anderen, deren Eltern Arbeitslosengeld-I-Bezieher oder in normaler Beschäftigung sind,
gehen zur BA.
({8})
Das ist für die jungen Menschen nicht gut. Deswegen
finde ich gut, was die Koalitionsfraktionen aufgeschrieben haben: dass wir prüfen, dass der ganze Bereich von
der Schule über die Berufsvorbereitung bis in die erste
Ausbildung, bis in den ersten Job hinein in den Zuständigkeitsbereich der Bundesagentur für Arbeit kommt,
damit es keine Separierung von solchen Jugendlichen
mehr gibt, die aus schwierigen Situationen in der Familie heraus auf die Ausbildung zugehen. Das ist ein guter Gedanke, den wir vertiefen sollten.
({9})
Wir müssen uns mehr als bisher mit der Situation der
besonders benachteiligten Jugendlichen befassen. Zu
diesem Zweck haben wir den Qualifizierungskombi geschaffen. Das ist keine Kleinigkeit. Hier geht es um die
Frage, was wir mit den Jugendlichen unter 25 Jahren
machen, die eine Ausbildung abgeschlossen haben und
danach lange arbeitslos waren oder aber ohne Ausbildung bzw. ohne Ausbildungsstelle dahindümpeln und
keine Möglichkeit haben, ins Erwerbsleben einzutreten.
Das betrifft die zweite Schwelle, aber auch diejenigen,
die von Anfang an gescheitert sind.
Mit dem Qualifizierungskombi, mit Eingliederungszuschüssen und anderen Hilfen versucht die Koalition,
diesen jungen Menschen eine Chance zu geben, ins Berufsleben hineinzuwachsen, und dafür zu sorgen, dass
sie in den Unternehmen eine Qualifizierung erhalten, um
sie möglicherweise doch noch ausbildungsfähig zu machen. Es ist eine Lebensweisheit, dass es Früh- und Spätstarter gibt. Mancher, der mit 16 oder 17 Jahren noch
nicht in der Lage war, eine Ausbildung zu machen,
schafft das vielleicht, wenn er 18 oder 19 Jahre alt ist.
Die jungen Menschen haben einen Anspruch auf eine
zweite und auf eine dritte Chance. Wir müssen uns gemeinsam dafür einsetzen, das zu organisieren.
({10})
Ich möchte noch einen Satz zu den Paten sagen, die
im Antrag erwähnt sind. Ich finde, dass das eine gute
Idee ist. In der Regel fangen wir mit der Berufsvorbereitung zu spät an. Junge Menschen, die in der achten,
neunten oder zehnten Klasse einer Hauptschule sind, lernen Mathematik nicht mehr vor der Tafel. Wenn die aber
Berufspraktika machen können, wenn wir sie an das
praktische Leben heranführen wollen, dann wissen sie
nach einer Woche genau, was ein Quadratmeter ist. Wir
müssen mit ihnen früh darüber sprechen, wo denn ihre
Lebenschancen sind.
({11})
Ich will versuchen zu schauen, ob wir nicht einige Tausend Menschen in Deutschland haben, die berufserfahren und hinreichend pädagogisch ausgewiesen oder taBundesminister Franz Müntefering
lentiert sind, die diese jungen Menschen früh, in
Klasse acht, in Klasse neun, ansprechen und ihnen zeigen, wohin der Weg gehen kann, die diese jungen Menschen begleiten und ihnen eine Chance geben, ins Erwerbsleben, in die Ausbildung hineinzuwachsen, die
also ganz praktisch solche Patenschaften übernehmen.
Wieso soll es keine 50-jährigen Arbeitslosen oder 60-jährigen Frührentner geben, die so etwas kennen und können, die ein paar Jahre lang fünf oder zehn solcher jungen Leute begleiten und ihnen zeigen, wie sie den Weg
finden? Denn diese jungen Leute bekommen von zu
Hause oft keinen Impuls für duale Ausbildung, dort weiß
man gar nicht um die Möglichkeiten der dualen Ausbildung. Denen müssen wir zeigen, wohin die Reise gehen
kann.
({12})
Ich will ein Wort zu der Idee sagen, zu prüfen, ob wir
nicht die Arbeitgeber, die überdurchschnittlich ausbilden, belohnen, ob wir ihnen nicht eine Vergünstigung
geben.
({13})
Natürlich muss man so etwas möglichst unbürokratisch
gestalten. Aber wenn ich mir die Gesamtlage in
Deutschland ansehe, muss ich mich schon wundern, dass
die Wirtschaft insgesamt so gnädig miteinander umgeht:
25, 30, 35 Prozent strengen sich an und schaffen noch einen Ausbildungsplatz und noch einen, während 60 bis
70 Prozent der Unternehmen mit Ausbildung nichts zu
tun haben wollen. Wenn die jungen Leute dann ausgebildet sind, werben sie sie den anderen für zehn Cent mehr
ab. Das kann so nicht sein.
({14})
Deshalb sage ich: Diejenigen, die ausbilden, sollten davon einen Vorteil haben. Wenn wir darüber sprechen,
wie wir die Arbeitslosenversicherung an dieser Stelle in
Zukunft gestalten, sollten wir - ohne dass ich mich jetzt
auf Details festlegen wollte - unvoreingenommen darüber sprechen, wie man es erreichen kann, dass diejenigen, die überdurchschnittlich ausbilden, einen Vorteil
gegenüber denen bekommen, die das ganze System hinterher ausbeuten.
({15})
Das ist so unvernünftig nicht, und diesen Weg sollten
wir zusammen zu gehen versuchen.
({16})
Wir stehen in Europa und in Deutschland vor einer
Qualifizierungsproblematik; das wissen wir alle. Schon
heute sagen manche Branchen, es fehlten ihnen die
Fachkräfte, sie bräuchten eigentlich 20 000 Auszubildende, hätten aber nur 12 000. Weshalb gucken die uns
an? Dann sollen die ausbilden! Die Wirtschaft muss wissen, sie kann nicht einfach die schönsten, besten Maschinen kaufen und dann zur Politik kommen und fragen:
Wo sind die Leute, die die bedienen können? Sie muss
sich rechtzeitig darum kümmern, diese Menschen auszubilden, sie zu qualifizieren.
({17})
Sie muss dafür sorgen, dass wir die Potenziale, die wir in
diesem Lande haben, nutzen, damit daraus Gutes werden
kann.
Ich bedanke mich noch einmal bei den Koalitionsfraktionen. Ich glaube, dass wir in diesem Sommer, in
diesem Herbst miteinander - Frau Schavan, Herr Glos
und ich und andere aus dem Kabinett sicherlich auch in der Gesamtverantwortung für die jungen Menschen in
diesem Land noch einen entscheidenden Schritt tun können. Diese Koalition hat die Chance, in diesen beiden
Jahren noch einen entscheidenden Schritt zu machen und
die Langzeitarbeitslosigkeit bei den jungen Menschen
abzubauen. Keiner soll von der Schule kommend in die
Arbeitslosigkeit fallen, und junge Menschen, die später
arbeitslos werden, sollen nicht länger als drei Monate
draußen sein. Das ist ein Ziel, das wir uns setzen können
und das wir auch erreichen können. Dazu bitte ich um
Ihre Unterstützung.
({18})
Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke ist der nächste
Redner.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
finde, dass kein Grund zur Selbstbeweihräucherung vorliegt, wie wir sie bisher anhören durften.
({0})
Schauen wir doch einmal, wie sich die Zahlen entwickelt haben: Die Zahl derer, die sich um einen Ausbildungsplatz bewerben, ist von 2002 bis heute von
480 000 auf 590 000 gestiegen. In derselben Zeit ist die
Zahl der betrieblichen Ausbildungsplätze um 100 000
zurückgegangen. Das ist ein riesiges Problem, unter dem
jährlich Tausende Jugendliche, die keinen Ausbildungsplatz bekommen, leiden.
({1})
Da hilft es Ihnen auch nicht weiter, dass Sie die Jugendlichen, die Sie in die Warteschleife schicken, aufgrund
eines Tricks einfach nicht mehr mitzählen.
Ich weiß nicht, ob Sie schon einmal Jugendliche, die
sich in der Warteschleife befinden, besucht haben. Es
mag hier und da auch etwas Vernünftiges passieren, aber
der 16-jährige Junge, den ich besucht habe, wickelte die
ganze Zeit Puppen. Na, der war vielleicht bedient. Das
tat er schon den dritten Tag. Trotzdem würde ich ihm
kein Baby anvertrauen. Sie müssen verstehen, dass ihm
das nicht weiterhilft. Das demütigt ihn. Das ist doch kein
Ausbildungsplatz, sondern eine Perspektive ohne Zukunft.
({2})
Ich habe in den letzten Jahren häufig daran gedacht,
dass die allgemeine Schulpflicht zum Glück ja schon seit
vielen Jahrzehnten besteht. Wann sie eingeführt wurde,
ist für die einzelnen Bundesländer unterschiedlich. Stellen Sie sich einmal ernsthaft vor, dass nur die Hälfte unserer Kinder zur Schule ginge und wir vorschlagen würden, dass alle Kinder zur Schule gehen müssen. Dann
würden Sie uns sagen: Unbezahlbar, populistisch, gar
nicht machbar. - Bei der Schule besteht der große Vorteil, dass das Ob überhaupt nicht mehr zur Debatte steht,
sondern nur noch das Wie. Warum bekommen wir es
dann nicht hin, dass eine Ausbildung nach Schulabschluss eine völlige Selbstverständlichkeit wird und wir
nicht mehr über das Ob, sondern nur noch über das Wie
diskutieren?
({3})
Dafür gäbe es eine ganz einfache Möglichkeit. Wir
bekommen hier doch zwei Drittel zusammen. Beschließen wir doch einfach, das Grundgesetz zu ändern und
hineinzuschreiben, dass jede Abgängerin und jeder Abgänger einer Schule einen Anspruch auf Ausbildung hat!
Lassen Sie uns das doch im Grundgesetz verankern!
({4})
Das wollen Sie aber natürlich nicht, weil Sie einen solchen Anspruch nicht wollen. Das ist das Problem. Herr
Müntefering, Sie haben von einem Anspruch gesprochen, aber Sie sind nicht bereit, ihn ins Grundgesetz aufzunehmen.
Lassen Sie mich noch etwas zu den Kosten sagen. Immer wieder höre ich das Argument: Was das alles kostet!
- Es kann ja sein, dass Ausbildung teuer ist, aber ich
sage Ihnen: Jugendgefängnisse sind viel teurer.
({5})
Wenn man jungen Leuten keine Perspektive gibt, dann
zahlt man immer zu.
({6})
Lassen Sie mich noch etwas sagen, auch wenn Sie das
besonders ärgert: In der DDR wurde jede Jugendliche
und jeder Jugendliche ausgebildet, wobei die Wirtschaft
viel maroder war. Nicht alle bekamen den Beruf, den sie
sich wünschten, aber alle bekamen eine Ausbildung.
({7})
Wenn die DDR das bezahlen konnte, dann können Sie
mir nicht erklären, dass die reiche Bundesrepublik
Deutschland außerstande ist, das zu finanzieren.
({8})
- Ich wusste, dass Sie herumschreien. Nicht einmal auf
diesen Punkt können Sie einen objektiven Blick werfen.
Wir können die DDR gemeinsam kritisieren, aber akzeptieren Sie doch: Jeder Jugendliche bekam damals einen
Ausbildungsplatz. Das ist heute nicht der Fall. Das ist
die Wahrheit.
({9})
Die SPD hatte einmal eine gute Idee. Ich erinnere
mich, dass ich mit Frau Nahles auf einer Kundgebung
gesprochen habe. Damals nannten wir das noch Ausbildungsplatzabgabe, inzwischen sagen wir Ausbildungsplatzumlage. Sie reden vom Bonus. Es wäre doch ganz
einfach. Beispiel: Ein Handwerksmeister, der ausbilden
könnte, tut das nicht.
({10})
Daneben gibt es einen, der mehr ausbildet, als er
braucht.
({11})
Sie haben das ja beschrieben. Wenn es eine Ausbildungsplatzumlage gäbe, müsste der eine etwas bezahlen,
was wir dem anderen geben könnten, der mehr ausbildet.
({12})
Zurzeit passiert aber Folgendes: Der eine Handwerksmeister bildet fünf Lehrlinge aus, obwohl er im Anschluss an die Ausbildung nur zwei braucht. Der andere
bildet gar nicht aus, stellt sie aber ein, und zwar kostenlos. Das ist doch einfach nicht hinnehmbar und innerhalb
der Wirtschaft grob ungerecht. Deshalb: Führen Sie die
Ausbildungsplatzumlage ein!
({13})
Zwei Parteien haben das auf ihren Parteitagen beschlossen, nämlich die Grünen und die SPD. Sie haben
sieben Jahre lang regiert. Niemand hat Sie daran gehindert, das einzuführen.
({14})
- Nein, nein, nein, nein. - Dann haben Sie ein Gesetz gemacht.
({15})
Herr Müntefering, kurz, bevor es in Kraft treten konnte,
hat die Wirtschaft bei Ihnen gebettelt. Sie haben dann
gesagt: Na gut, wir setzen es nicht in Kraft, wir machen
mit der ewigen Bettelei bei der Wirtschaft, dass sie Ausbildungsplätze bereitstellt, weiter.
({16})
Seit 1990 bin ich mit einer Unterbrechung im Bundestag. Seit 1990 erlebe ich Jahr für Jahr dasselbe - erst
war es Kohl, dann Schröder, jetzt Merkel -: Es wurden
immer Briefe an die Unternehmen geschrieben, mit der
Bitte, noch ein paar Ausbildungsplätze bereitzustellen.
Diese gab es dann nicht. Jedes Mal blieben Tausende JuDr. Gregor Gysi
gendliche ohne Ausbildung und damit ohne Perspektive
und Zukunft. Ich sage Ihnen: Das bezahlen wir teuer.
Lassen Sie uns hier einfach einmal die Weichen umstellen und sagen, dass die Ausbildung zur Selbstverständlichkeit und im Grundgesetz festgeschrieben wird.
Dann würden wir die Gesellschaft positiv verändern.
Danke.
({17})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Priska Hinz, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will
kurz in Erinnerung rufen, um wen es in unserer heutigen
Debatte eigentlich geht. Es geht um 17 400 junge Menschen, die in diesem Ausbildungsjahr keine Ausbildungsstelle bekommen haben. 40 000 sind zwar zunächst versorgt worden, suchen aber weiterhin einen
regulären Ausbildungsplatz. Des Weiteren gibt es
386 000 Altbewerberinnen und -bewerber aus den Jahren vor 2006, die nach wie vor einen Ausbildungsplatz
suchen.
Jeder einzelne junge Mensch in diesem Land muss
aus unserer Sicht eine qualifizierte Ausbildung bekommen, damit er an unserer Gesellschaft teilhaben kann
und sein ökonomisches Auskommen hat. Es gibt aber
- das hat die Koalition auch anerkannt - keine Entspannung auf dem Ausbildungsmarkt; zudem gibt es Jugendliche, die besonders benachteiligt sind. Vor allem sind
das Jugendliche mit Migrationshintergrund.
Das duale System, das im Antrag der Koalition als
tragende Säule bezeichnet wird, nimmt inzwischen nur
noch weniger als 50 Prozent der Jugendlichen eines
Jahrgangs auf. Vor dieser Situation stehen wir heute.
Der Ausbildungspakt kann nicht alle Probleme lösen. Das hat die Koalition in ihrem Antrag zu Recht festgestellt. Die 60 000 Ausbildungsplätze, die in diesem
Jahr geschaffen werden sollen, sind im letzten Jahr
schon mit dem alten Pakt übererfüllt worden. Von daher
ist dieses Ziel nicht gerade ehrgeizig. Dieser Ausbildungspakt enthält zudem keine Vorgaben hinsichtlich
der Förderung von Migranten.
Wir führen heute eine Debatte, an der zwei Kabinettsmitglieder beteiligt sind. Insofern könnte man konkrete
Ansätze und Lösungsvorschläge für diese Ausbildungsmisere erwarten.
({0})
- Die Analysen waren zwar richtig, aber dem Antrag
merkt man nicht an, dass Sie schon zwei Jahre regieren.
({1})
In dem Antrag werden keine Lösungsansätze vorgestellt,
die die reale Situation verbessern würden.
Herr Müntefering, Sie verweisen auf die Länder, mit
denen man ein gemeinsames Konzept erarbeiten müsse.
Sie haben seinerzeit für die SPD die Föderalismusreform
im Bildungswesen verbockt.
({2})
Jetzt können Sie doch nicht darauf verweisen, dass Bund
und Länder gemeinsam in der Verantwortung stehen und
ein gemeinsames Konzept erarbeiten müssen. Hören Sie
mir damit auf!
({3})
Gestern wurde von der SPD die Nachricht verbreitet, dass besonders ausbildungswillige Betriebe einen
Rabatt beim Arbeitgeberbeitrag zur Arbeitslosenversicherung erhalten sollen. Das ist Ihr konkreter
Wunsch, den Sie gestern über die Ticker verbreiten
ließen. Lassen Sie mich an dieser Stelle aus Ihrem
Antrag zitieren:
Bei dem Gesamtkonzept sollen … folgende Ansätze auf Umsetzbarkeit geprüft und in möglichem
Maße und Umfang einbezogen werden:
({4})
Das ist der Wortlaut, dem dann der Vorschlag folgt, den
Betrieben einen Rabatt bei den Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung zu gewähren.
Bei so viel Selbsttäuschung der SPD finde ich es verwunderlich,
({5})
dass Sie es als Highlight hinausposaunen, dass damit die
Ausbildungsplatzsituation verbessert werden soll.
({6})
Der Ansatz zur qualifizierten Stufenausbildung in
Ihrem Antrag ist zwar gut, aber wir waren 2005 schon
weiter. Die Unionsfraktion stimmte damals dem Antrag
der Grünen und der SPD zu, in dem die Stufenausbildung als Ziel formuliert war. Sie regieren seit fast zwei
Jahren. Seitdem liegt das Vorhaben auf Halde. Jetzt holen Sie mit Ihrem Antrag diese „olle Kamelle“ wieder
hervor.
({7})
Anscheinend sind Ihnen die Innovationsstuhlkreise
inzwischen auch etwas zu langsam. Frau Schavan hätte
schon längst handeln können. Sie hätte das, was damals
beschlossen wurde, durchsetzen und umsetzen können.
({8})
Als eine der wenigen konkreten Maßnahmen in dem
langen Antrag wird gefordert,
({9})
Priska Hinz ({10})
dass die Vermittlung in außerbetriebliche Ausbildung
nicht mehr zwingend davon abhängen soll, dass Bewerberinnen oder Bewerber vorher mindestens sechs Monate lang in einer Warteschleife waren. Super; klasse!
Das haben wir zwar schon länger gefordert, aber jetzt
scheinen Sie es umsetzen zu wollen. Aber das gilt nur
bis zum Ende des Jahres 2007. Warum wollen Sie diese
Vorbedingung überhaupt aufrechterhalten, wenn Frau
Ministerin Schavan permanent erklärt: „Wir müssen
Warteschleifen beenden“?
({11})
Dann tun Sie es doch! Nehmen Sie diese Vorbedingung
aus dem Gesetz heraus! Sie hatten in diesem Frühjahr
bereits die Möglichkeit dazu.
Das EQJ - ({12})
- Natürlich. Wir haben gefordert, das herauszunehmen.
({13})
- Ja, ich kritisiere, dass diese Ausnahme nur bis 2007
gilt. Das ist der Punkt.
({14})
Sie agieren doch wieder nur halbherzig, meine Damen
und Herren von der SPD.
({15})
Die Einstiegsqualifizierung - das EQJ - könnte eine
gute Maßnahme sein, wenn sie bestimmten Kriterien unterworfen wäre. Bislang wird das EQJ in der Hauptsache
von Schulabgängerinnen und Schulabgängern besucht,
die einen höheren Bildungsabschluss oder einen Realschulabschluss haben. Die Zielgruppe der Hauptschüler
oder der Jugendlichen ohne Abschluss wird nur im geringen Maße erfasst.
({16})
50 Prozent gehen während des EQJ nicht in eine Berufsschule. Dies wäre aber Voraussetzung dafür, dass das
EQJ hinterher auf eine Ausbildung anerkannt wird.
Sie sollten jetzt einmal die kritisierten Mitnahmeeffekte, die dadurch bei den Betrieben entstehen, ausschalten. Aber was machen Sie? Sie wollen die Maßnahme
EQJ - so schlecht, wie sie derzeit noch läuft - als Ermessensspielraum ins Gesetz aufnehmen. Das ist der Vorschlag des Arbeitsministers. Sie wollen eine schlechte
Warteschleife jetzt also auch noch gesetzlich normieren.
Da sagen wir: Das ist der falsche Weg. Sie müsste zertifiziert und auf Ausbildungsschritte anerkannt werden.
({17})
Dann wäre es eine gute Maßnahme.
({18})
Aber so, wie es jetzt läuft, ist es keine gute Maßnahme.
({19})
Mit Ihrem Kombilohn, Ihrem Qualifizierungszuschuss für jüngere Arbeitnehmer, entsteht wieder eine
neue Maßnahme.
({20})
Für ein Jahr sollen Jugendliche in einem Betrieb zu einem Kombilohn beschäftigt werden können, wenn sie
dabei einen Qualifizierungsanteil von 15 Prozent erreichen. Hier tritt doch wieder das Problem auf, dass damit
Mitnahmeeffekte entstehen. Es ist nicht geklärt, dass die
Jugendlichen hinterher ein Zertifikat bekommen. Es ist
nicht geklärt, dass sie eine Berufsschule besuchen können. Es ist nicht geklärt, dass sie hinterher in eine Ausbildung übernommen werden.
Meine Damen und Herren, auch dies bedeutet die
Ausweitung des schlechten Übergangssystems, das allerorten beklagt wird. Damit bekommen wir mehr Altbewerberinnen und Altbewerber, die nicht ausreichend für
eine Ausbildung qualifiziert sind.
({21})
Sie können nicht behaupten, dass Ihr Antrag tatsächlich eine Strukturreform oder eine Minimierung des
Übergangssystems bedeutet. Im Gegenteil: Es festigt die
schlechten Strukturen, die wir im Ausbildungssystem
haben.
({22})
Zur Strukturreform. Wir sind in der Diskussion - auch
unter den Bildungspolitikern - schon einmal weiter gewesen, was das Übergangssystem angeht - und vor allen Dingen auch, was die Strukturreform angeht.
({23})
Dies ist im Antrag genauso hasenfüßig ausgedrückt, wie
Frau Schavan in der Umsetzung ist. In Ihrem Antrag
steht wörtlich, es sei Zielsetzung der Bundesregierung,
die duale Berufsausbildung zur Deckung des zukünftigen Fachkräftebedarfs unter Beibehaltung des
Berufsprinzips und der bundeseinheitlichen Abschlussprüfung zukunftssicher zu fördern. Zu diesem Zweck können auch strukturelle Reformen und
verbesserte Übergänge … in Pilotprojekten erprobt
werden;
({24})
Meine Damen und Herren, seit zwei Jahren redet ein
Innovationskreis der Ministerin über Modularisierung,
Zertifizierung, Strukturreform und Anerkennung von
Ausbildungsabschnitten in reguläre Ausbildung.
Priska Hinz ({25})
({26})
Es gibt kein Konzept dafür. Es gibt nichts als Presseerklärungen, die Interviews folgen und umgekehrt. Sie
müssen schon einmal springen, wenn Sie eine echte
Strukturreform wollen!
({27})
In den Diskussionen sind wir doch viel weiter. Wir
sind uns doch einig - das sagen wir ganz ausdrücklich -:
Wir brauchen innerhalb der Ausbildung eine breite
Grundausbildung und dann eine Spezialisierung. Berufsvorbereitende Maßnahmen müssen zertifiziert werden.
Die Ausbildung muss bei Beibehaltung des Berufsprinzips modularisiert werden. Nur dann können Ausbildungsabschnitte, die vor einer regulären Ausbildung begonnen wurden, anerkannt werden. Dann haben wir die
Anschlussfähigkeit bei der Weiterbildung. Dann ist es
möglich, einzelne Ausbildungsabschnitte schneller zu
modernisieren. Die Unternehmen beklagen doch dauernd, dass die Ausbildung nicht so schnell reformiert
werden kann, wie sich die Berufsbilder ändern.
({28})
- Natürlich sind die Klagen teilweise gerechtfertigt.
({29})
Vor allen Dingen könnten wir dann neue Ausbildungsplätze schaffen; denn bestimmte Betriebe sind so sehr
spezialisiert, dass sie eine ganze Ausbildung über drei,
dreieinhalb Jahre gar nicht mehr anbieten können.
({30})
Wenn wir stärker modularisierten, könnten sich mehr
Betriebe, die sich zurzeit weigern, bereit erklären, einen
Teil der Ausbildung zu übernehmen.
({31})
Wir erreichten so eine Flexibilisierung von Lernorten.
Das ist in der heutigen Zeit durchaus sinnvoll.
({32})
Wir haben Ihnen in den letzten zwei Jahren in vielen
Anträgen umfassende Vorschläge über Migrantenförderung, Genderaspekte, Berufsberatung und -orientierung,
Produktionsschulen und sozialpädagogische Begleitung
gemacht, Herr Müntefering. Aber Sie haben alle unsere
Anträge abgelehnt. In unserem nun vorliegenden Antrag
konzentrieren wir uns auf die Beseitigung der Missstände des Übergangssystems - diese habe ich genannt und auf eine Strukturreform, die in diesem Jahr endlich
begonnen werden muss.
Frau Kollegin, denken Sie an Ihre Redezeit.
Nicht nur die Grünen, sondern vor allen Dingen die
Jugendlichen und die jungen Erwachsenen in diesem
Lande werden es Ihnen danken, wenn Sie zumindest diesem unseren Antrag zustimmen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort erhält nun die Kollegin Katherina Reiche,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Hinz, ich empfehle Ihnen: Erst lesen, dann reden.
Alles, was Sie aufgezählt haben, steht in unserem fraktionsübergreifenden Antrag, und zwar Punkt für Punkt.
({0})
- Es ist zwar schön, dass Sie das für uns vortragen. Aber
es wäre hilfreich gewesen, darauf hinzuweisen, dass das
bereits in Angriff genommen wird. Dann hätten Sie das
nicht kritisieren müssen.
({1})
Die berufliche Ausbildung in Deutschland wird gerade im Ausland immer als beispielhaft gelobt. Im Inland nehmen wir dieses Thema insbesondere dann wahr,
wenn wir über fehlende Ausbildungsplätze sprechen.
Aber die duale Ausbildung ist auch ein Erfolgsmodell.
So richtig es ist, darüber zu sprechen, dass es viele gibt,
die noch keinen Ausbildungsplatz haben, so richtig ist es
auch, darüber zu sprechen, dass wir ein einzigartiges Erfolgssystem in Deutschland haben; denn die duale Ausbildung ermöglicht Auszubildenden gleichermaßen eine
solide praktische und berufsnahe Ausbildung in den Betrieben, verbunden mit fachgerechten theoretischen
Kenntnissen über das Berufsbild.
Herr Gysi, was im Hinblick auf den Ausbildungsmarkt wenig hilft, ist eine komplett undifferenzierte Kritik an den Betrieben, die nicht ausbilden; denn diese
Vorwürfe schrecken ab. Sie führen nicht zur Bereitschaft, mehr für junge Leute zu tun. Sie verkennen mit
Ihrer Kritik die weltweit anerkannte Qualität der fundierten Berufsausbildung in Deutschland, die sich - das hat
der Arbeitsminister bereits erwähnt - in einer im
europäischen Vergleich noch immer relativ geringen Jugendarbeitslosigkeit manifestiert. Im Vergleich zum Vorjahr wurde bei den Ausbildungsverträgen ein Plus von
4,7 Prozent erreicht. Das sind 26 000 Ausbildungsplätze
Katherina Reiche ({2})
mehr als zuvor, und das ist der höchste Stand seit Bestehen des Ausbildungspaktes. Das ist ein Erfolg.
({3})
Der Anteil an Altbewerbern bei den Jugendlichen, die
eine Lehrstelle suchen, ist aber spürbar angestiegen. Zum
Stichtag 30. September 2006 waren rund 49 500 Jugendliche ohne Ausbildungsplatz. Aber es ist den Partnern im
Ausbildungspakt in den vergangenen Monaten gelungen,
diese Lehrstellenlücke noch einmal deutlich zu verringern. Die Handwerkskammern und die Industrie- und
Handelskammern in Deutschland werben erfolgreich in
ihren Betrieben um Ausbildungs- und Praktikumsplätze.
Dafür sind wir ihnen dankbar.
({4})
Wir haben in der Wirtschaft, im DIHK und in den
Kammern verlässliche Partner. Die Kammern unterstützen verstärkt die Pilotinitiative des BMBF im Rahmen
der regionalen Umsetzung, damit ausbildungsfähige Jugendliche so schnell wie möglich in die Ausbildung
kommen.
Ich möchte an dieser Stelle aber auch eine Ausbildungsbremse ansprechen. Die Besetzung offener Lehrstellen scheitert immer häufiger auch am Bewerber
selbst. Die Ausbildungsfähigkeit der Schulabgänger
wird von Jahr zu Jahr leider nicht besser, eher schlechter.
Die Betriebe sind immer weniger in der Lage, diese Defizite auszugleichen. Hier sind neben den Elternhäusern
vor allem die Schulen in der Pflicht. Es muss grundlegende Verbesserungen insbesondere in den naturwissenschaftlichen Fächern geben. Mein Appell richtet sich an
die Länder, das zu thematisieren. Denn ohne Mathematik und ohne Physik geht es in den zunehmend technischer werdenden Berufen eben nicht.
Nach wie vor gilt: von der Schule in die Lehre.
58 Prozent eines Altersjahrgangs durchlaufen die duale
Berufsausbildung. Es gibt viele regionale Initiativen.
Ich möchte die Initiative der IHK aus meinem Heimatland Brandenburg „Auf die Plätze. Fertig. Zukunft!“ erwähnen. Das sind wichtige Maßnahmen, um jungen
Leuten klarzumachen, welche beruflichen Chancen sich
eigentlich bieten.
Aber hier müssen auch die regionalen Arbeitsagenturen besser werden. Wir haben 350 Berufe in unserem Land.
Das ist eine Vielfalt von Berufen für eine Vielfalt von Talenten. Aber nur die wenigsten Jugendlichen - dazu gehören vor allem die, auf die wir zielen - wissen, worum es eigentlich geht und welche Vielfalt und welche Auswahl sie
haben. Hier muss es eine noch stärkere Vernetzung geben.
Das heißt, wir müssen frühzeitig in die Schulen gehen und
informieren, damit wir die Jugendlichen erreichen.
({5})
Die demografische Entwicklung zeigt: Wir müssen
uns um jeden Einzelnen bemühen. Wir müssen Talente
erkennen und sie gewinnen. Jeder wird gebraucht, und
jeder soll sich mit seinen Fähigkeiten in die Gesellschaft
einbringen können. Denn eines gilt: Stärker als früher
sorgt das Bildungssystem für die Verteilung von Lebenschancen. Das mag sich banal anhören, hat aber weitreichende Konsequenzen. Ich bin überzeugt, dass es
Chancen beinhaltet. Aber dafür braucht es gute Rahmenbedingungen.
Somit ist die Modernisierung des Systems der
beruflichen Bildung ein wichtiger Punkt. Nicht umsonst hat Annette Schavan gleich nach Amtsantritt dieses Thema ganz oben auf ihre Agenda gesetzt. Sie hat erfolgreich den Innovationskreis berufliche Bildung ins
Leben gerufen mit Praktikern aus Wirtschaftsverbänden,
Unternehmen, Gewerkschaften, Schulen, Ländern und
der Wissenschaft.
Die Ziele sind vielfältig. Es geht um Modernisierung
und um verbesserte Kooperationsstrukturen zwischen
beruflichen Schulen und betrieblicher Ausbildung. Es
geht auch um die Stärkung der Benachteiligtenförderung. Aber wir müssen uns auch um junge Erwachsene
kümmern, die ohne Schulabschluss oder Ausbildungsabschluss sind. Es gilt dafür Sorge zu tragen, dass wir die
Gruppe der Altbewerber beobachten und passgenau mit
Angeboten bedienen. Denn Altbewerber ist nicht gleich
Altbewerber. Es geht also um eine Gesamtstrategie zur
Verzahnung und Optimierung der Förderstrukturen und
um den Abbau von Warteschleifen.
Ich möchte noch einmal das Ausbildungsprogramm
Jobstarter erwähnen. Die Mittel wurden mittlerweile
um 25 Millionen Euro auf 125 Millionen Euro angehoben. Das ist ein wichtiges Signal für junge Menschen mit
schlechteren Startbedingungen.
({6})
Unser Antrag beinhaltet ein ganz konkretes Maßnahmenpaket, wie wir die Ausbildungs- und Arbeitschancen
für Altbewerber und benachteiligte Jugendliche vorantreiben können. Wir setzen vor allem auf die Stufenausbildung und auf Ausbildungsbausteine. Es bleibt unser
gemeinsames Ziel, dass jeder ausbildungswillige und
ausbildungsfähige Jugendliche einen Ausbildungsplatz
erhält.
({7})
Benjamin Franklin bemerkte einst: Eine Investition in
Wissen bringt immer noch die besten Zinsen. - Das gilt
nicht nur für den Einzelnen, sondern für die gesamte Gesellschaft. Er hatte recht.
({8})
Der Kollege Dirk Niebel ist der nächste Redner für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Qualifikation, Leistungsbereitschaft und die beDirk Niebel
gründete Hoffnung auf sozialen Aufstieg sind die Basis
für den Wohlstand weiter Bevölkerungsteile. Für Liberale ist auch deshalb Bildung ein Bürgerrecht. Eine
gute Bildung führt zu guten Teilhabechancen, zu der
Möglichkeit, ein selbstgestaltetes Leben führen und
seine Wünsche erfüllen zu können. Eine gute Bildung ist
auch ein Wettbewerbsfaktor in einer internationalen
Wirtschaft. Deswegen ist es wichtig, dass wir uns hier
nicht nur über Berufsbildung, sondern insgesamt über
Bildung unterhalten.
({0})
Ich möchte trotzdem mit der Berufsbildung beginnen. 376 000 junge Menschen waren Ende Mai arbeitslos gemeldet. Wir dürfen und müssen - gerade wir in
diesem Hause - uns schon die Frage stellen, warum trotz
der guten konjunkturellen Situation der Aufschwung an
diesen Jugendlichen und an den Langzeitarbeitslosen
vorbeigeht. Das sind die Personengruppen, die offenkundig von der konjunkturellen Situation im Moment am
wenigsten profitieren. Man muss sich die Frage stellen,
welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit
Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt werden, und
welche gegeben sein müssen, damit sie besetzt werden
können.
({1})
- Das werde ich Ihnen sagen, Herr Tauss; denn es ist immer gut, wenn auch Sie etwas dazulernen.
({2})
Die Rahmenbedingungen für den Ausbildungsstellenmarkt sind genau die gleichen, die auch am Arbeitsmarkt
wirken. Wenn man durch zu viel Regulierung Freiräume
einengt, dann wird es schwieriger, Menschen in Beschäftigung, aber auch Menschen in Ausbildung zu bringen. Wir wollen aber dafür sorgen, dass die Menschen
eine gute Grundbildung bekommen, damit sie die Möglichkeiten für ihr eigenes Leben nutzen können. Deswegen ist es wichtig, dass der Staat etwas schafft, was Herr
Tauss leider bisher noch nicht verstanden hat: Chancengerechtigkeit am Start und nicht Ergebnisgleichheit am
Ziel. Das ist das Entscheidende, was wir schaffen müssen.
({3})
Anders formuliert: Der Staat muss dafür sorgen, dass
wie bei einem Wettlauf die Läufer zum gleichen Zeitpunkt am Start sind, dass sie die gleichen Startblöcke haben und dass die Laufbahnen gleich lang sind, aber der
Staat muss nicht dafür sorgen, dass die Läufer zur gleichen Zeit am Ziel sind. Das ist der Unterschied zwischen
Ihrer politischen Einstellung und unserer politischen
Einstellung.
({4})
- Sie können sich zu einer Zwischenfrage melden. Dann
werde ich sie beantworten. Ansonsten will ich meine Redezeit nicht mit Ihnen verschwenden, Herr Tauss.
({5})
Nun haben wir die Rede von Herrn Kollegen Gysi
hier gehört. Jetzt könnte man meinen, es seien allein die
Kommunisten, die eine Ausbildungsplatzumlage fordern würden. Das ist aber mitnichten der Fall. Auch die
Sozialdemokraten fordern sie.
({6})
Ich erinnere mich an die Worte Ihrer designierten stellvertretenden Bundesvorsitzenden, Frau Nahles. Sie ist
leider nicht hier. Frau Nahles hat in ihrer Funktion als
Juso-Bundesvorsitzende einmal gesagt - Zitat -: Wer
nicht ausbildet, wird umgelegt. ({7})
Ich sage Ihnen: Wer umgelegt worden ist, kann nicht
mehr ausbilden.
({8})
Das Entscheidende ist, dass trotz der konjunkturellen
Situation viele Betriebe in Deutschland eine fundamentale Eigenkapitalschwäche haben. Sie werden durch ein
Umlagesystem, das die Liquidität der Betriebe zusätzlich einschränkt, Ausbildungsplätze vernichten und nicht
zusätzliche Ausbildungsplätze schaffen.
({9})
Interessant ist es, wenn Sie durch die Republik reisen
und mit Betrieben, die ausbilden, und mit solchen, die
nicht ausbilden, reden und fragen, warum das so ist. Sie
werden feststellen, dass, egal in welcher Region und in
welcher Branche Sie sich bewegen, über die geringer gewordene Ausbildungsfähigkeit der jungen Menschen
geklagt wird. Nun mag dahingestellt sein, ob die Menschen dümmer oder die Schulen schlechter geworden
sind. Eines ist auf jeden Fall klar: Die Berufsbilder sind
komplexer geworden. Vergleichen Sie einmal den heutigen Mechatroniker mit dem Mechaniker und dem Elektroniker. Sie werden feststellen, dass die Welt komplizierter geworden ist
({10})
und dass es immer mehr Menschen gibt, die nicht in der
Lage sind, einen Abschluss auf Kammerniveau zu erreichen. Hier ist es zwingend notwendig und eine echte
Hilfe nicht nur für die betroffenen jungen Menschen,
sondern auch für die Wirtschaft, für die der Fachkräftemangel eine Wachstumsbremse darstellt, über modulare
Ausbildung und lebenslanges Lernen den Einstieg in
qualifizierte Berufe unterhalb des Kammerniveaus zu
schaffen.
({11})
Wenn dann im Beruf, in der Arbeitswelt persönliche Reifung und Kompetenzgewinn hinzukommen, dann muss
das nächste Modul daraufgesetzt werden. Das darf nicht
nur in der Erstqualifizierung so gesehen werden, sondern
im Rahmen lebenslangen Lernens muss man das auch in
den Bereich der Weiterbildung einbeziehen. Es ist doch
schlechterdings nicht möglich, dass diese Bundesregie10716
rung über die Rente mit 67 redet, aber die letzte Weiterbildung für Arbeitnehmer mit 42 bis 44 Jahren stattfindet.
({12})
Das wird nie funktionieren. Deswegen gehört das zwingend dazu.
Bildung ist auch eine staatliche Aufgabe - eine ganz
wichtige -, aber nicht nur eine staatliche Aufgabe. Jeder
einzelne Mensch muss ein fundamentales Eigeninteresse
daran haben, seine Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und
dadurch seine Arbeitsplatzsicherheit zu erhöhen. Deswegen ist Weiterbildung auch eine private Aufgabe, und sie
ist eine Aufgabe der Wirtschaft. Weiterbildung führt
nämlich dazu, dass die Menschen gegenüber ihren Mitbewerbern im Vorteil sind. Wir werden im internationalen Wettbewerb nur dann erfolgreich bleiben können,
wenn wir kompetente und leistungsfähige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben.
({13})
Bildung als Bürgerrecht bedeutet, dass man mit der
Vermittlung von Bildung möglichst früh beginnen muss.
Deswegen sind wir für Bildungs- und Betreuungsgutscheine, auch im frühkindlichen Bereich.
({14})
- Ja, ja. - Diese Gutscheine führen dazu, dass junge
Menschen eine möglichst gute Ausbildung bekommen.
Wir wollen mit Betreuungsgutscheinen und Bildungsgutscheinen dafür sorgen, dass Chancengerechtigkeit am
Start gewährleistet ist und dass die Wahlfreiheit der Eltern gesichert wird. Das führt auch dazu, dass Familie
und Beruf besser miteinander vereinbar sind. Hier sind
die Liberalen Vorreiter. Die Rede des Arbeitsministers
hat gezeigt - das ist Fakt -, dass unsere Regierung blutarm ist. Es wäre besser, wenn Sie sich mehr um die Probleme der Menschen als um Ihre internen Streitereien
kümmerten.
Vielen herzlichen Dank.
({15})
Die Kollegin Kressl erhält nun das Wort für die SPDFraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Zu
Beginn möchte ich meiner Verwunderung darüber Ausdruck verleihen, dass Herr Niebel von der Forderung
nach Betreuungsgeld - bildungspolitisch wäre es ein
Rückschritt im Vergleich zu dem, was Frau Pieper dann
durchgesetzt hat, nämlich die Forderung, tatsächlich in
Bildung zu investieren - Abstand genommen hat. Ich
finde das erstaunlich. Aber eine gewisse Flexibilität sind
wir bei der FDP ja gewohnt.
({0})
Frau Kressl, möchten Sie schon zu diesem frühen
Zeitpunkt eine Frage Ihres Vorredners beantworten?
Wenn der Herr Niebel die Chance braucht, sich zu
rechtfertigen, gern.
Liebe Kollegin Kressl, sind Sie bereit, zur Kenntnis
zu nehmen, dass ich von Anfang an für das Gutscheinsystem war und dass es nur in einer Detailfrage, bei der
Betreuung durch die eigenen Eltern, einen inhaltlichen
Dissens gegeben hat? Ich habe mir sagen lassen, dass
man auch in der Sozialdemokratie ab und zu über Inhalte
streitet. Es ist schade, dass Sie das offenkundig vergessen haben. Aber nehmen Sie zur Kenntnis, dass wir
Liberale an der Sache arbeiten und uns daher auch auseinandersetzen.
({0})
Sehr geehrter Herr Kollege Niebel, ich nehme gern
zur Kenntnis, dass Sie während des Bundesparteitags
offensichtlich von Teilen Ihrer eigenen Partei davon
überzeugt worden sind, dass die Umsetzung Ihres Vorschlags, ein Betreuungsgeld auszuzahlen, bildungspolitisch eine Katastrophe gewesen wäre; denn man hätte
Anreize geschaffen, jungen Kindern keine Frühförderung zukommen zu lassen.
Wie gesagt, wundere ich mich über Ihre Flexibilität,
dies hier als Ihren Vorschlag darzustellen. Wenn Sie dazulernen, dann ist das in Ordnung.
({0})
Wir diskutieren heute über Möglichkeiten und Lösungsansätze, jungen Menschen, die seit mehreren Jahren keinen Ausbildungsplatz gefunden haben, mehr
Chancen zu eröffnen. Um solche Lösungsansätze tatsächlich auf den Weg zu bringen, muss man als Erstes
eine ehrliche Analyse vornehmen. Zu dieser ehrlichen
Analyse gehören zwei Punkte:
Erstens. Der Ausbildungsmarkt an sich - es ist gut,
dass wir das feststellen können - entwickelt sich positiv.
({1})
Im Berufsbildungsbericht wird darauf hingewiesen, dass
wir in diesem Jahr zum ersten Mal damit rechnen können, dass es über 600 000 betriebliche Ausbildungsplätze geben wird. Die Zwischenmeldungen der Kammern zeigen, dass die Entwicklung positiv sein wird:
bisher 12,7 Prozent mehr Ausbildungsverträge im Handwerk, 9,8 Prozent mehr Ausbildungsverträge bei der
IHK. Ich halte es für falsch - ich wende mich an alle Oppositionsparteien -, diese gute Lage schlechtzureden.
({2})
Im Antrag der Grünen steht, dass wir dieses Jahr wieder weniger betriebliche Ausbildungsplätze haben werden. Frau Hinz, Sie beziehen sich wahrscheinlich wider
besseres Wissen auf die reine Meldestatistik der BA, obwohl Sie wissen, dass BA-Statistik und tatsächliche Entwicklung seit mehreren Jahren auseinanderklaffen. Ehrlich gesagt, halte ich das für unredlich. Es dient einer
sachlichen Diskussion über diese Frage überhaupt nicht.
({3})
Zweitens. Zu dieser ehrlichen Analyse gehört natürlich auch, dass wir uns vor Augen führen müssen, dass
seit Ende der 90er-Jahre immer mehr Bewerberinnen
und Bewerber auf dem Ausbildungsmarkt sind, die länger als ein Jahr nach einem Ausbildungsplatz suchen.
Ich will bewusst nicht den technischen Begriff „Altbewerber“ verwenden, weil es um junge Menschen
geht. Dennoch: Von 300 000 Altbewerber im letzten Jahr
konnten wieder 170 000 keinen betrieblichen Ausbildungsplatz finden.
In der Analyse, die nicht so ganz einfach und schematisch zu machen ist, stellen wir fest: Es ist eine neue
Dynamik auf dem Ausbildungsmarkt entstanden. Ich bin
sicher, dass der Ausbildungspakt dazu beigetragen hat.
Aber es sind auch Zeit und Raum notwendig, um sich
über die jungen Menschen Gedanken zu machen, die einen besonderen Förderbedarf haben. Dazu gehört eben
auch ein bestimmter Anteil der Altbewerberinnen und
Altbewerber.
({4})
In diesem Zusammenhang - ich habe dazu heute
Morgen etwas im Ticker gelesen - will ich mich ausdrücklich bei der Wirtschaft und den Unternehmen bedanken, die sich da engagieren. Ich appelliere von dieser
Stelle aus aber auch ausdrücklich zum Beispiel an Herrn
Braun - er hat heute Morgen die Tatsache, dass es junge
Menschen mit Förderbedarf gibt, eine „Qualitätslücke“
genannt -: Ich würde mir wünschen, dieser technische
Begriff würde nicht benutzt,
({5})
und wir würden uns gemeinsam mehr Gedanken darüber
machen, wie wir diesen jungen Menschen helfen können.
Wir schlagen in dem heute vorliegenden Antrag ein
sehr konkretes Maßnahmenpaket vor. Auch da täuschen Sie sich, Frau Hinz. Darin sind sehr viele konkrete
Maßnahmen aufgeführt. Zum Teil sind sie schon auf den
Weg gebracht, zum Teil sind sie noch in der Prüfung. Ich
will hier sechs konkrete Punkte nennen, damit Sie nicht
behaupten können, das sei nur ein vager Text:
Erstens. Wir wollen, dass der Vorschlag des Verwaltungsrats der Bundesagentur für Arbeit - damals unterstützt von Arbeitgebern und Arbeitnehmern - aufgegriffen wird.
({6})
Unternehmen, die zusätzliche Ausbildungsplätze für
benachteiligte junge Menschen schaffen, sollen finanziell unterstützt werden.
({7})
Ich halte das für einen ganz wichtigen und sehr konkreten Schritt.
({8})
- Frau Hinz, Ihre Anträge - um das aufzugreifen - haben
sich vor allem auf außerbetriebliche Ausbildungsplätze
bezogen.
({9})
Die haben wir, wie ich finde, zu Recht abgelehnt. Hier
geht es um betriebliche Ausbildungsplätze.
({10})
Zweitens. Der Einsatz von Paten - Herr Müntefering
hat das angesprochen - soll ausgebaut werden. Wenn wir
Hauptschülerinnen und Hauptschüler im Besonderen
rechtzeitig und frühzeitig begleiten, setzen wir natürlich
viel früher an und verbessern die Situation dergestalt,
dass wir in Zukunft nicht mehr über so viele Altbewerber reden müssen. Ich bin ganz fest der Überzeugung:
Die Begleitung, die individuelle Förderung von jungen
Menschen, deren Elternhaus das manchmal nicht leisten
kann, ist ein entscheidender Ansatz, um hier zu einer
verbesserten Situation zu kommen.
({11})
Drittens. Wir bitten die Bundesregierung zu prüfen,
wie überdurchschnittliches Ausbildungsangebot honoriert werden kann,
({12})
auch gerade mit Blick auf die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung. Das ist noch nicht im Detail durchdacht.
Aber hier einen Stein ins Wasser zu werfen, ist spannend.
({13})
Viertens. Wir wollen mit dem Antrag weiter erreichen
- das ist uns ganz besonders wichtig -, dass ein besonderes Augenmerk auf die Berufsberatung und die Ausbildungsvermittlung gerichtet wird,
({14})
auch was die Frage der Zusammenführung angeht - auf
der einen Seite sind junge Menschen, die Arbeitslosengeld II erhalten, und auf der anderen Seite solche, die
von der Bundesagentur betreut werden -; da gibt es eine
Schnittstellenproblematik, die im Interesse der jungen
Leute gelöst werden muss.
Wir wollen ferner, dass auch genau auf die personelle
Ausstattung der Berufsberatung geschaut wird; denn hier
gilt das Gleiche wie für die Paten: Da rechtzeitig anzusetzen, richtig zu begleiten, gut zu beraten, ist besser, als
nachher Berufsvorbereitung zu bezahlen.
({15})
Fünftens. Wir unterstützen ausdrücklich die geplante
Pilotinitiative des Bundesbildungsministeriums zur Erprobung von Ausbildungsbausteinen, besonders deshalb - das halte ich für den entscheidenden Punkt -, weil
sie ausdrücklich mit der gezielten Förderung von Altbewerbern verbunden wird.
({16})
Da unterscheidet sich das, was Frau Schavan vorhat, von
dem, was die FDP einfordert, nämlich eine allgemein
niedrigere Qualifikation.
({17})
Wir sind uns in diesem Punkt mit der Union absolut einig. Es geht darum, zum Schluss für die jungen Menschen, die Förderbedarf haben, mehr Qualifikation und
eben nicht eine allgemein niedrigere Qualifikation zu erreichen. Ich lege sehr großen Wert darauf, dass wir uns
da von der FDP deutlich unterscheiden.
({18})
Das Unterstützen von jungen Menschen, die Förderung brauchen - das ist der sechste konkrete Punkt -,
muss vor der Ausbildung ansetzen. Es ist aber auch ganz
besonders wichtig, dass das während der Ausbildung
weiter fortgesetzt wird. Deshalb haben wir im Antrag
auch noch einmal ein besonderes Augenmerk auf die
Verstärkung der ausbildungsbegleitenden Hilfen gelegt. Wichtig ist, dass wir diesen Bereich noch einmal
verstärkt auch finanziell fördern und unterstützen. Ich
appelliere aber auch an alle Unternehmen, einen jungen
Mann oder eine junge Frau zu qualifizieren. Häufig wissen sie ja nicht, dass es ausbildungsbegleitende Hilfen
gibt, wenn sie einen jungen Menschen mit Förderbedarf
einstellen. Das ist aber die Chance, denn damit verbunden sind sozialpädagogische Begleitung oder auch Hilfen in der Theorie für den Fall, dass man sich hier überfordert sieht. Hier können politische Rahmensetzungen
und Engagement der Unternehmen ausgezeichnet zusammenspielen. Das ist ein guter Weg; den wollen wir
weiter ausbauen. Auch dieser konkrete Vorschlag ist im
Antrag enthalten. Es lohnt sich also wirklich, diese jungen Menschen zu unterstützen.
({19})
Diese sechs Punkte stellen nur ausgewählte Beispiele
aus dem großen Maßnahmenbündel dar, das wir im vorliegenden Antrag geschnürt haben. Ich bedanke mich
ausdrücklich, wie schon gesagt, für die gute Zusammenarbeit zwischen den beiden Koalitionsfraktionen und den
Berichterstattern. Ich bin nämlich der Überzeugung, dass
wir alle bei dem Vorhaben, jungen Menschen Chancen
zu eröffnen, aus Verantwortung für die jungen Menschen
an einem Strang ziehen müssen. Ich appelliere erstens an
die Länder und an die Wirtschaft, sich an dieser gemeinsamen Anstrengung zu beteiligen.
({20})
Ich appelliere zweitens ausdrücklich an die Opposition,
sich hier von dem Politikritual, alles schlechtzureden, zu
verabschieden. Den jungen Menschen ist damit nämlich,
wie ich glaube, überhaupt nicht gedient.
({21})
Den jungen Menschen ist damit gedient, wenn wir die
heutige Debatte zum Anlass nehmen, gemeinsam zu
überlegen, wie wir die Chancen für junge Leute verbessern können. Das wäre ein lohnenswertes Ziel. Bringen
Sie deshalb gemeinsam mit uns in den Beratungen dieses
Antrages etwas Positives auf den Weg.
Vielen Dank.
({22})
Cornelia Hirsch ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Kressl, wenn den Jugendlichen irgendetwas
ganz sicherlich nicht hilft, dann ist das der Antrag, den
Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen von der Union
uns heute vorlegen. Man kann das, was Sie da machen,
kurz zusammenfassen: Es handelt sich um eine Fortsetzung der bisher wirklich schlechten Berufsbildungspolitik. Sie trampeln auf dem Recht der Jugendlichen auf
Ausbildung herum und buckeln vor den Arbeitgebern.
({0})
- Sie brauchen sich jetzt hier gar nicht künstlich aufzuregen. Wir können einfach den Antrag durchgehen. Ich
möchte Ihnen drei Punkte nennen, bei denen das offensichtlich wird:
Erstens. In diesem Antrag steht wiederum Ihr absolutes Lieblingsinstrument, das jedes Jahr von neuem genannt wird, nämlich der Ausbildungspakt. Ich habe es
hier schon wiederholt ausgeführt: Das offensichtlichste
Ergebnis von diesem Pakt ist, dass die Ausbildungssituation in den letzten Jahren von Jahr zu Jahr schlechter geworden ist.
({1})
Sie aber schreiben in Ihrem Antrag:
Der Ausbildungspakt hat sich als ein Instrument zur
Verbesserung der beruflichen Bildungschancen junger Menschen erwiesen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, erzählen Sie das
einmal den Jugendlichen, die auf der Straße stehen. Sie
geben in Ihrem Antrag selber zu, dass mittlerweile
50 Prozent sogenannte Altbewerberinnen und -bewerber sind. Diesen zu erzählen, Ihr Pakt sei ein Erfolg, ist
einfach eine Lüge. Das ist auch für die ganz große Mehrheit der Jugendlichen mittlerweile offensichtlich.
({2})
Wir als Linke sagen: Eine freiwillige Selbstverpflichtung und der damit verbundene bloße Appell an die Unternehmen stellen die falsche Grundlage dar. Es muss
Schluss gemacht werden mit diesem Pakt.
Frau Kollegin Hirsch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Barth?
Ja, können wir machen.
Frau Kollegin, Sie sagten gerade, die Koalition würde
vor den Arbeitgebern buckeln - ich bin jetzt nicht hier,
um die Koalition zu verteidigen -, und riefen auf, den
jungen Menschen etwas zu erzählen. Ich erzähle nun
Folgendes und schließe, Herr Präsident, eine Frage an.
({0})
Ich schlage vor, mit der Frage relativ zügig aufzuwarten.
Das mache ich. Dann beginne ich mit der Frage.
({0})
Liebe Frau Kollegin, Sie tragen hier einen Anspruch
vor und sind selbst, wie ich weiß, Mitglied in einigen
Gewerkschaften. Ich möchte Sie nun fragen, wie Sie
mir folgende Zahlen erklären wollen: Die IG Metall fordert eine Ausbildungsquote von 7 Prozent. Die DAXUnternehmen in Deutschland bilden mit einer Quote von
4,9 Prozent aus. Die durchschnittliche Ausbildungsquote
in Deutschland beträgt 6,5 Prozent, woran der Mittelstand bekanntermaßen einen großen Anteil trägt. Der
DGB - das ist eine Zahl aus dem Jahresbericht des DGB hat die stolze Ausbildungsquote von 1,95 Prozent.
({1})
Wir streiten uns jetzt nicht darüber, ob es wünschenswert ist, dass sich junge Menschen beim DGB ausbilden
lassen.
({2})
Aber würden Sie nicht meiner Einschätzung folgen,
dass es hier ein eklatantes Missverhältnis zwischen Anspruch und Wirklichkeit gibt?
Die Zahlen, die Sie hier vortragen, sind mir nicht bekannt. Darum möchte ich zunächst infrage stellen, ob
diese in irgendeiner Form ihre Richtigkeit haben.
({0})
Es ist aber auf jeden Fall richtig, dass die Gewerkschaften eine gesetzliche Ausbildungsplatzumlage einfordern. Dies ist die richtige Grundlage, denn dann ginge
es nicht nur um Appelle und Selbstverpflichtungen, sondern um einen Rechtsanspruch, sodass es ein entsprechendes Angebot an Ausbildungsplätzen geben muss.
({1})
Das fordert der DGB ein. Dafür kämpft der DGB. Von
daher halte ich Ihr Fingerzeigen auf andere Leute, um
damit die Ausbildungsplatzumlage oder das gewerkschaftliche Engagement schlechtzureden, für komplett
unangemessen.
({2})
Es bleibt bei unserer Feststellung, dass der Ausbildungspakt die falsche Grundlage ist und dass mit diesem Pakt
Schluss sein muss.
({3})
Der zweite Punkt - auch darauf ist bereits heute Morgen eingegangen worden - sind die sogenannten Einstiegsqualifizierungen. Für die Kolleginnen und Kollegen, die hier oben mithören und die Abkürzung nicht
kennen: Wenn Frau Hinz von EQJ spricht, dann meint
sie die sogenannten Einstiegsqualifizierungen. Es geht
darum, dass Jugendlichen nach ihrer Schulausbildung
gesagt wird: Ihr bekommt jetzt keinen Ausbildungsplatz,
sondern Ihr könnt erst einmal für einige Monate ein
Praktikum in einem Unternehmen machen.
({4})
Das hat für die Unternehmen den Vorteil, dass sie sich
erst einmal ansehen können, was diejenigen im Einzelnen leisten, um dann zu entscheiden, ob sie sie übernehmen oder nicht. Das Arbeitsministerium hat in der Fragestunde klar zum Ausdruck gebracht, dass es das für
sinnvoll, gut, richtig und für nicht verwerflich hält, wenn
Jugendliche auf diese Art und Weise erst einmal eine
Zeit lang ausprobiert werden. Wir halten das für falsch.
Die Linke sagt: Ausbildungsplätze statt Praktika! Darum
ist die Aufstockung der Mittel für die Einstiegsqualifizierungen definitiv der falsche Weg.
({5})
In Ihrem Antrag gibt es - drittens - ein neues Instrument - besser als der Rest ist es aber trotzdem nicht -,
nämlich den Qualifizierungskombilohn. Auch hierbei
geht es um eine Zuwendung an die Arbeitgeberseite,
also nicht um eine Unterstützung der Jugendlichen. Die
Arbeitgeber bekommen einen Zuschuss dafür, dass sie
die Jugendlichen zu Niedrigstlöhnen beschäftigen. Nur
ein minimaler Anteil der Jugendlichen geht in Qualifizierungsmaßnahmen. Dieses Instrument führt also nicht
zum wirklichen Berufsabschluss. Das heißt, diese Jugendlichen sind dauerhaft im Niedrigstlohnbereich geparkt. Das kann nun wirklich nicht die Lösung der Ausbildungsplatzmisere sein.
({6})
Diese drei Punkte in Ihrem Antrag bilden den
Schwerpunkt. Zu allen drei Punkten kann man sagen,
dass es falsch ist, das fortzusetzen, was Sie schon vorher
falsch gemacht haben, und nun noch einen Punkt draufzugeben. Offensichtlich haben Sie das selber gemerkt,
weshalb Sie einen vierten Punkt in den Antrag aufgenommen haben. Das ist nun wirklich ein „Riesenerfolg“.
Sie sagen, die Bundesregierung möge bitte ein Konzept
entwickeln. Herzlichen Glückwunsch, liebe Kolleginnen
und Kollegen! Sagen Sie doch einmal der jungen Frau,
die vor zwei Jahren den Hauptschulabschluss gemacht
hat, im ersten Jahr danach komplett auf der Straße stand,
im zweiten Jahr in irgendeiner Warteschleife geparkt
war, in diesem Jahr wieder unglaublich viele Bewerbungen geschrieben, aber immer noch nichts gefunden hat:
„Machen Sie sich keine Sorgen. Wir haben ja schließlich
die Bundesregierung aufgefordert, ein Konzept zu entwickeln. Alles wird gut.“ Das ist wirklich albern. Auf
diese Weise kann man keine erfolgreiche Berufbildungspolitik machen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, da
hilft es auch nichts, wenn Sie es als einen großen Erfolg
hinstellen, dass Sie eine Hälfte der Ausbildungsplatzumlage untergemogelt haben, indem Unternehmen, die ausbilden, unterstützt werden sollen. Sie haben vergessen,
dass der zentrale Teil bei der Ausbildungsplatzumlage
der erste Satz ist: Wer nicht ausbildet, soll zahlen.
({8})
Das fällt bei Ihnen einfach weg, wenn Sie diejenigen, die
ausbilden, weiter mit Steuermitteln unterstützen wollen.
({9})
Wie Sie mit der Ausbildungsplatzumlage umgegangen sind, ist bekannt. Es gab - darauf ist hingewiesen
worden - klare Beschlüsse von den Bundesparteitagen
der Grünen und auch der SPD. Herr Tauss, Sie behaupten hier immer wieder, Sie hätten das Gesetz entsprechend beschlossen, und die Ausbildungsplatzumlage sei
eingeführt.
({10})
Was Sie hier beschlossen haben, ist ein Gesetz, in dem
unter Punkt zwei und drei etwas von einer Ausbildungsplatzumlage steht.
({11})
Aber unter Punkt eins steht: Wenn es gelingt, einen Ausbildungspakt mit den Spitzenverbänden der Wirtschaft
zu schließen, dann kann man auf den ganzen Rest verzichten. - Was dabei herauskommt, ist bekannt, nämlich
Ihr Ausbildungspakt, der nicht die zentrale Anforderung,
die Ausbildungspflicht der Unternehmen, in den Blick
nimmt; aber anders können wir die Ausbildungsmisere
nicht lösen.
({12})
Deshalb fordert die Linke - auch wenn es der FDP
nicht passt und die SPD sich ein bisschen peinlich berührt anschaut, weil es ursprünglich eigentlich auch ihre
Forderung war ({13})
eine gesetzliche Ausbildungsplatzumlage. Dazu haben
wir einen konkreten Gesetzentwurf vorgelegt, dem Sie
hier zustimmten könnten. Im Ausschuss haben alle Fraktionen außer der Linken konsequent dagegen gestimmt.
Sie halten eine gesetzliche Ausbildungsplatzumlage für
verkehrt; aber damit könnte ein Schritt auf dem Weg zu
einer guten Perspektive für die Jugendlichen in diesem
Land gemacht werden. Deshalb bitten wir nach wie vor
um Unterstützung. Den ersten Teil haben Sie in Ihrem
Antrag schon umgesetzt. Wenn Sie die Ausbildungspflicht der Unternehmen noch hinzunehmen, dann kommen wir hier ein gutes Stück weiter.
Danke schön.
({14})
Das Wort erhält nun der Kollege Uwe Schummer,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Kollegin Hirsch, noch so jung, aber schon so voller
Hass.
({0})
Zur Umlagefinanzierung möchte ich Ihnen nur ein Beispiel nennen: Es gibt sie tariflich vereinbart in der Bauwirtschaft seit den 70er-Jahren.
({1})
Wir wissen, dass der stärkste Ausbildungsplatzabbau in
der Bauwirtschaft seit 1998 stattgefunden hat,
({2})
von 110 000 Plätzen auf 40 000 Plätze. Das heißt, eine
rein fiskalische Maßnahme wird die Zukunft der Jugend
nicht sichern.
({3})
Wir brauchen ein Bündel an Maßnahmen. Im Berufsbildungsbericht steht, dass 1,3 Millionen Schulabgänger bis 29 Jahre keine berufliche Qualifizierung haben. Das sind, politisch betrachtet, die Kinder der FDP,
der Union, der Grünen und der Sozialdemokraten, die
Kinder der demokratischen Opposition und der Regierung hier im Parlament. Deshalb müssen wir gemeinsam
versuchen, ein Bündel an Maßnahmen zu entwickeln,
um die Probleme zu lösen.
({4})
Nur wenn die Probleme nicht gelöst werden, haben die
Kolleginnen und Kollegen aus der Meckerecke von links
außen eine Chance.
({5})
Wenn wir sie lösen, sind wir die starken Kräfte im Parlament und in der Bevölkerung.
Der Antrag „Junge Menschen fördern“ durchbricht
einen ewigen Kreislauf, der im Frühjahr beginnt: dramatische Zahlen, die sich steigern bis zur parlamentarischen
Sommerpause; die einen fordern die Umlagefinanzierung, die anderen wollen die Ausbildungsvergütungen
senken. Wenn im September das Ausbildungsjahr endet
und ein neues beginnt, folgen Relativierungen, und auf
die Schnelle werden Instrumente nachgeschoben. Dieser
Antrag enthält, frühzeitig von der Wirtschaft und den Ministerien für Arbeit und Soziales, Bildung und Forschung,
Jugend und Familie sowie Union und SPD entwickelt, ein
Maßnahmenbündel, das den Berufsberatern, den Schulen, den Auszubildenden und den Betrieben schon vor der
parlamentarischen Sommerpause, vor Beginn des Berufsausbildungsjahres vorliegt, sodass sie sicher wissen, auf
welche Instrumente sie sich verlassen und bauen können,
wenn sie zusätzlich ausbilden.
({6})
Der Ausbildungspakt ist verbessert worden. Eine
entscheidende Verbesserung ist, dass auch der drittstärkste Ausbilder in diesem Lande, die freien Berufe,
und damit der Bundesverband der Freien Berufe Mitglied im Ausbildungspakt geworden ist. Den stärksten
Einbruch bei den Ausbildungsplätzen hatten wir in den
letzten beiden Jahren bei den freien Berufen. Sie haben
9 Prozent weniger ausgebildet; im Handwerk, bei der
IHK, wurde das aber ansatzweise aufgefangen. Dass
jetzt auch die freien Berufe am Ausbildungspakt teilnehmen und unterzeichnet haben, mehr auszubilden, ist ein
wichtiges Zeichen, ein wichtiges Signal, dass in diesem
Jahr allen Schulabgängern im Rahmen des Ausbildungspaktes eine Qualifizierungsmaßnahme angeboten werden kann.
({7})
Aber der Ausbildungspakt allein wird das Problem
der sogenannten Altbewerber nicht lösen können. Es
gibt über 300 000 junge Menschen, die vor mehr als einem Jahr aus der Schule entlassen wurden und jetzt auf
den Ausbildungsmarkt drängen. Ihnen müssen gezielte
Angebote unterbreitet werden.
Es ist gut, dass die Wirtschaft im Rahmen des dualen
Systems 30 Milliarden Euro in die Ausbildung investiert. In kaum einem anderen Land wird die Wirtschaft
mit in die Haftung genommen. Die duale Ausbildung hat
eine große Integrationskraft. Bei uns liegt die Jugendarbeitslosigkeit im europäischen Vergleich bei etwa
9 Prozent, in Frankreich bei 24 Prozent und selbst im
hochgelobten Finnland bei 19 Prozent. Die betriebliche
duale Ausbildung bewirkt also eine große Integrationskraft.
Was Ausbildung bedeutet, zeigt der Fachkräftemangel. Angesichts dessen, dass uns heute vonseiten des Institutes der deutschen Wirtschaft vorgerechnet wird, dass
Aufträge in Höhe von 3,5 bis 5 Milliarden Euro verloren
gehen, weil keine Fachkräfte vorhanden sind, müssen
wir alle Kräfte mobilisieren, damit jeder Jugendliche, jeder junge Mensch, jetzt eine Chance bekommt.
({8})
Das vorgelegte Maßnahmenbündel ist auch deswegen
sinnvoll, weil die Gruppe der Altbewerber sehr unterschiedlich ist. In meiner Heimatstadt in Willich am linken Niederrhein
({9})
liegt die Arbeitslosigkeit wie in Baden-Württemberg bei
5 Prozent. Aber 30 Kilometer weiter in Duisburg-Marxloh liegt sie bereits bei 16 Prozent. In Bautzen liegt sie
bei weit über 20 Prozent. Das heißt, dort, wo wenige Betriebe sind, muss man überbetriebliche bzw. außerbetriebliche Maßnahmen fördern. Deshalb brauchen wir
ein Bündel an Maßnahmen. Es gibt keinen Königsweg,
indem man meint, alle Probleme mit messianischem
Blick nach oben lösen zu können.
Entscheidend ist, dass Einstiegspraktika endlich einmal mit Ausbildungsbausteinen verbunden werden, dass wir
sagen: Es muss auch qualifiziert werden. Dass immerhin
70 Prozent der Jugendlichen, die ein Einstiegspraktikum
machen, anschließend weitervermittelt werden,
({10})
ist ein wesentlicher Fortschritt. Dies zeigt, dass betriebliche Maßnahmen besser sind als Parallelmaßnahmen, die
schulisch oder außerbetrieblich entwickelt werden.
({11})
Die Einstiegspraktika sind eine Brückenmaßnahme in
die reguläre betriebliche Ausbildung.
Zum Bonus für Betriebe. Wenn Betriebe bereit sind,
sich aktiv am Abbau der Zahl der Altbewerber von über
300 000 zu beteiligen, wenn sie nachweislich der letzten
drei Jahre zusätzlich ausbilden oder anfangen, auszubilden, dann ist es auch richtig, ihnen eine Unterstützung in
Form eines Bonus von bis zu 5 000 Euro zukommen zu
lassen. Dies ist preiswerter, als eine Parallelmaßnahme
zu finanzieren. Dies hat auch eine Brückenfunktion für
die betriebliche Ausbildung.
({12})
Wir haben in Deutschland im Zweijahresvergleich
1 Million weniger Arbeitslose. Das sind 1 Million gute
Gründe für die Große Koalition. Mit unserem Antrag
werden wir dafür sorgen, dass dieser Prozess weitergeht.
({13})
Für die SPD-Fraktion erhält nun das Wort der Kollege
Willi Brase.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist gut, dass wir in der Koalition und im Parlament nicht
darüber streiten, was ideologisch vielleicht der richtige
Weg wäre, sondern dass wir den jungen Leuten hier und
heute eine konkrete Perspektive ermöglichen.
({0})
Mit einer solchen Perspektive machen wir ihnen den
Weg frei in eine vernünftige Zukunft. Wir sorgen dafür,
dass sie mit daran wirken, dass die Stärke und Wettbewerbsfähigkeit unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaft vorangetrieben werden. Das ist gut.
({1})
Ich will deutlich sagen - das wurde von einigen offensichtlich nicht gelesen, oder sie haben es schon wieder vergessen -: Wenn wir schon jetzt, zu einem Zeitpunkt, wo wir uns mitten im Ausbildungsjahr befinden,
für das kommende Ausbildungsjahr mehrere zehntausend Ausbildungsplätze zusätzlich schaffen, dann sind
wir - da hat der Kollege Schummer recht - ein ganzes
Stück weitergekommen; denn damit bieten wir den jungen Menschen in unserem Land eine Perspektive.
({2})
Über das Problem der Altbewerber haben wir hier
diskutiert. Die SPD-Fraktion, die Koalition insgesamt ist
dem Bundesarbeitsminister dafür dankbar, dass er den
Weg mitgehen will, um die Sache voranzubringen.
({3})
Es gibt junge Leute, die seit mehreren Jahren arbeitslos
sind. Der Begriff „langzeitarbeitslose junge Leute“ ist
schlecht, beschreibt aber leider einen Zustand. Deswegen sage ich: Es ist richtig, dass wir so etwas wie Qualifizierungskombi auf den Weg bringen. Er resultiert ein
Stück weit aus den Erkenntnissen, die wir in dem Programm „Jugend mit Perspektive“ gesammelt haben. Wir
sollten nicht vergessen, dass wir damals junge Leute damit aus dem Nirwana geholt und ihnen eine Perspektive
gegeben haben.
({4})
Herr Braun vom DIHK hat darauf hingewiesen - Kollegin Kressl hat das eben schon gesagt -, dass es eine
Qualitätslücke gibt.
({5})
Ich finde, es macht Sinn, sich kurz zu vergegenwärtigen,
was das heißt: Das unterstellt doch, dass viele junge
Leute nicht ausbildungsfähig und nicht ausbildungswillig sind. Da fällt mir ein, was wir in meiner Heimat mit
Hauptschulabsolventen machen: In der 10. Klasse absolvieren sie freiwillig - 580 Stunden im Jahr, freitagnachmittags, samstagmorgens, sechs Wochen in den Ferien ein Praktikum in Unternehmen und Ausbildungseinrichtungen. 95 Prozent dieser Jugendlichen finden einen
Ausbildungsplatz. Angesichts dessen kann ich nur sagen: Lieber Herr Braun, es gibt keine Qualitätslücke,
sondern leider immer noch zu wenig betriebliche Ausbildungsplätze.
({6})
Es ist wichtig, dass wir solche Maßnahmen nicht nur
in einzelnen Regionen, sondern überall dort, wo das
möglich ist, vorantreiben. Man muss sich vergegenwärtigen, dass Ausbildungsmärkte regionale Märkte sind.
Die Debatte wird, um bei den Beispielen von Uwe
Schummer zu bleiben, in Bautzen anders zu führen sein
als in Willich oder in Siegen-Wittgenstein.
({7})
Die Strukturen sind regional unterschiedlich. Wichtig ist,
dass man miteinander redet, sich die Problemfälle anschaut und den jungen Leuten ein konkretes, klares und
sauberes Angebot macht. Man darf nicht darauf verweisen, dass irgendwann die Umlagefinanzierung kommt,
und den jungen Leuten sagen: Vielleicht bekommst du
2015 einen Ausbildungsplatz. - Dann ist der Jugendliche
30, dann braucht er ihn nicht mehr.
({8})
Ich möchte noch einen Punkt ansprechen, den ich für
sehr wichtig halte: die hohe Qualität der betrieblichen
Berufsausbildung. In diesem Jahr haben wir erstmals
wieder über 600 000 neu eingetragene Ausbildungsverhältnisse. Das war 2000/2001 zum letzten Mal der Fall.
Das ist gut so. Wenn die Zahl noch weiter nach oben
geht, umso besser.
Wenn man sich Untersuchungen über die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft anschaut, stellt
man fest, worauf sie basiert. Die Wettbewerbsfähigkeit
hat demnach nicht nur mit der steuerlichen Situation, der
finanziellen Ausstattung der Unternehmen und deren
Wettbewerbsbedingungen zu tun, sondern es geht auch
um Innovationsfähigkeit und um die Beschäftigungsfähigkeit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. In
diesen Untersuchungen wird festgestellt, dass die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands vor allen Dingen in der
hohen Einsatzflexibilität der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer begründet ist. Die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer haben eine breite berufliche Qualifikation
und haben ihr Handwerk in Arbeits- und Beschäftigungsprozessen erlernt. Der entscheidende Punkt ist,
dass wir Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben,
die mit unterschiedlichen Fähigkeiten und einer hohen
Qualifikation in vielen Unternehmen tätig sein können.
Es wäre eine Schande, wenn wir diesen Ansatz durch
falsche Modularisierung vorschnell aufgeben würden;
denn darunter würde die ganze Gesellschaft leiden.
({9})
Thema Fachkräftemangel. Ich halte es für ebenso
wichtig, dass wir nicht zu schnell den Rufen mancher
Unternehmen erliegen, die behaupten: Wir haben nicht
genügend qualifizierte junge Leute; wir müssen schauen,
wie wir sie aus dem Ausland zu uns holen.
Solange wir so einen hohen Anteil an Altbewerbern
haben, solange wir eine leider noch relativ hohe Anzahl
jugendlicher Arbeitsloser haben, bin ich dafür, dass wir
diese hier ausbilden, bevor wir einen Schritt außerhalb
des Landes gehen und uns von dort Fachkräfte holen.
Das wäre der falsche Weg; den sollten wir nicht gehen.
({10})
Zur Einstiegsqualifizierung Jugendlicher. Ja, es ist
richtig, sich den Bericht des Bundesrechnungshofes anzusehen. Aber wenn man sich einen Bericht ansieht,
muss man auch beachten, wann er erstellt wurde und
welches Jahr er zum Inhalt hat. Er betrifft die erste Zeit
von EQJ. Wir haben das Programm damals über den
Ausbildungspakt auf den Weg gebracht. Heute stellen
wir fest, dass wir EQJ ein bisschen verbessern wollen.
Deshalb ist es richtig, dass wir die Ausbildungsbausteine
nicht nur in den angedachten Projekten zur Schaffung
von Ausbildungsplätzen und Qualifizierung in Betrieben, sondern auch bei EQJ auf den Weg bringen.
Ich kann mir durchaus vorstellen, dass junge Leute,
die heute in Einstiegsqualifizierungen sind und dort nach
dem Modell der Ausbildungsbausteine qualifiziert werden, danach relativ schnell eine Ausbildung - nicht mehr
für drei, sondern zweieinhalb Jahre oder entsprechend
verkürzt - machen. Das macht Sinn, weil wir Fachkräfte
brauchen. Insofern werden wir EQJ an dieser Stelle weiterentwickeln.
Der zweite Punkt. Wir wollen, dass nicht zu viele
Realschüler oder Gymnasiasten am EQJ-Programm teilnehmen. Wir brauchen EQJ für diejenigen jungen Leute,
für die der Weg in die berufliche Qualifizierung ein
Stück weit über betriebliche Zugehörigkeit, über betriebliches Lernen führt. Ich denke, dass wird die Regierung
in der gebotenen Grundsätzlichkeit und Güte so machen.
({11})
Nicolette Kressl wies darauf hin, dass es richtig ist,
die Berufsberatung im Sinne von Berufsorientierung
auszuweiten. Wenn Sie in den Berufsbildungsbericht
schauen, wenn Sie sich vergegenwärtigen, wie die am
meisten besetzten Ausbildungsplätze aussehen und wie
wir uns wirtschaftspolitisch weiterentwickeln, dann erkennen Sie eine Differenz. Das heißt, es muss durch
mehr Berufsberatung möglich gemacht werden, die
Wünsche der jungen Leute - teilweise auch die ihrer Eltern - ein Stück weit breiter zu streuen, damit wir den
Nachwuchs, den wir für die wirtschaftliche Entwicklung
brauchen, tatsächlich bekommen. Deshalb begrüßen wir
ausdrücklich, dass die Berufsberatung ausgeweitet wird.
({12})
Es ist - ich sage das in aller gebotenen Zurückhaltung ein guter Tag, an dem wir den jungen Leuten und den betroffenen Organisationen - von der Bundesagentur für
Arbeit bis hin zu den Kammern - sagen, was wir vorhaben, welche Maßnahmen wir auf den Weg bringen werden und wo sie Möglichkeiten haben, die Programme
nach dem 30. September oder spätestens nach dem
31. Dezember umzusetzen. Das ist eine entscheidende
Verbesserung gegenüber dem, was in vielen Debatten in
der Vergangenheit über Ausbildungsplätze und die Zukunft der Jugendlichen gesagt wurde. Lassen Sie uns gemeinsam in diesem Sinne fortfahren. Es ist der richtige
Weg.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({13})
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Ilse Aigner, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Als Erstes möchte ich darauf hinweisen, dass heute auch aus meiner Sicht, sehr geehrter Herr
Kollege Brase, ein erfreulicher Tag ist, weil wir weitere
gute Nachrichten zu verkünden haben. Die wirtschaftliche Entwicklung ist die wesentliche Voraussetzung
dafür, dass betriebliche Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt werden. Die Zahl der Ausbildungsplätze
steigt. Wir haben bei der Jugendarbeitslosigkeit einen
Rückgang um 30 Prozent. Ich finde, es ist eine sensationelle Botschaft, wenn wir den jungen Menschen sagen
können: Wir tun etwas für euch, und es wirkt sich dementsprechend aus.
({0})
Deshalb ist es für uns von der Union immer wichtig,
dass die wirtschaftliche Entwicklung vorangetrieben
wird. Für alle Bereiche liegen positive Daten vor. Die
Wirtschaftskraft steigt. Wir verzeichnen Wachstum. Deshalb werden sich auf dem Ausbildungsmarkt positive
Entwicklungstendenzen zeigen.
Wir werden aber auch immer wieder darauf drängen,
dass wir alle in die Pflicht nehmen, und sie daran erinnern, dass betriebliche Ausbildung das Erste und das
Prä ist. Das gilt für alle. Gerade wurden Zahlen vom
DGB angezweifelt, die von Kollegen Barth genannt
wurden. Mir liegen hier von der Berliner Regierung, aus
der Sie, sehr geehrter Herr Gysi, ja nach wenigen Monaten aus der Verantwortung geflüchtet sind, veröffentlichte Zahlen vor.
({1})
Sie fordern eine Ausbildungsquote von 7 Prozent.
({2})
In der Berliner Regierung beträgt die Ausbildungsquote
0,25 Prozent.
({3})
Sie sollten, bevor Sie Forderungen aufstellen, erst einmal Ihrer Pflicht in den Bereichen, in denen Sie Verantwortung tragen, nachkommen. Ich glaube, das wäre ein
richtiges Zeichen.
({4})
Zur Qualifizierungsinitiative ist schon sehr viel gesagt worden. Sie wird zwischen allen Ressorts abgestimmt und gebündelt, und das, sehr geehrte Frau Hinz,
schon nach zwei Jahren. Bis das Berufsbildungsgesetz
verabschiedet wurde, hat es, als Sie an der Regierung
waren, sieben Jahre gedauert: Verabschiedet wurde es im
Jahre 2005, an die Regierung kamen Sie im Jahre 1998.
({5})
Insofern sind wir wohl doch etwas schneller. Ich denke,
das wesentliche Element ist die Bündelung. Ich bedanke
mich ausdrücklich bei allen beteiligten Häusern, dass sie
ihren Beitrag dazu leisten, eine abgestimmte Initiative
auf den Weg zu bringen.
Ich möchte noch auf einen Aspekt eingehen, der mir
äußerst wichtig erscheint - dieser Punkt steht auch auf
der heutigen Tagesordnung -: auf den europäischen
Qualifikationsrahmen. Der Kollege Meinhardt hat bereits darauf hingewiesen, dass die Bedeutung der beruflichen Ausbildung in Deutschland in der Anerkennungsrichtlinie der EU in hohem Maße unterbewertet ist.
({6})
Das geht sogar so weit, dass Meister in die gleiche Stufe
wie Angelernte eingruppiert werden. Das ist ein unhaltbarer Zustand. Dass es dazu kam, war nur deshalb möglich, weil das System unserer beruflichen Ausbildung
von Menschen beurteilt wurde, die damit offensichtlich
nichts anfangen konnten und allein an der schulischen
Leistung gemessen haben, wie die Ausbildung in
Deutschland zu bewerten ist.
({7})
Dies soll mit dem europäischen Qualifikationsrahmen
von Grund auf verändert werden. Es sollen acht Leistungs- bzw. Niveaustufen eingeführt werden. Bei der
Eingruppierung geht es nicht nur um die Stundenzahl,
sondern auch um die Qualifikation, also darum, was deroder diejenige können muss. Das schließt auch die
Handlungskompetenz ein, die man sich in den Betrieben
aneignen kann und über die man verfügen muss, um in
eine bestimmte Stufe eingeordnet zu werden.
Das Entscheidende ist, dass nicht irgendeine europäische Institution über die nationalen Regularien entscheidet und die Festlegungen trifft, sondern dass wir in
Deutschland selbst einen nationalen Qualifikationsrahmen entwerfen können. Dann können wir entscheiden, in
welche Stufe wir unsere Ausbildung einordnen. Das ist
ein Quantensprung. Ich hoffe, dass wir hierfür von allen
Seiten Unterstützung erfahren werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich kann es
nicht oft genug sagen - Herr Kollege Schummer hat das
bereits angesprochen -: In Deutschland liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei 9 Prozent, in Frankreich beträgt sie
25 Prozent. In unserem Land gibt es eine Alternative
zum Studium, nämlich die berufliche Ausbildung. Zwei
Drittel der jungen Menschen durchlaufen eine berufliche
Ausbildung.
({8})
In anderen Ländern gibt es praktisch keine Alternative
zum Studium, keine Lehre. Entweder ist man Akademiker, oder man hat keine Ausbildung.
Ich finde, unser System ist hervorragend. Viele beneiden uns darum. In vielen anderen Ländern wäre es allerdings gar nicht möglich, ein System wie in Deutschland
zu entwickeln und es so auszugestalten, wie es bei uns
ausgestaltet ist. Denn Deutschland verfügt im Gegensatz
zu manch anderen Ländern über eine Wirtschaft, die fähig ist, auszubilden. Diesen Schatz sollten wir bewahren.
Das ist letztlich das, was den Standort Deutschland ausmacht.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zu den Überweisungen und Abstimmungen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 16/5730, 16/5732 und 16/5225 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist so.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Zu Tagesordnungspunkt 3 d liegt eine Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung auf der Drucksache 16/5760
vor. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5760, den Antrag
der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf der
Drucksache 16/2996 mit dem Titel „Weiterentwicklung
der europäischen Berufsbildungspolitik“ in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist mit großer Mehrheit angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss, den Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/1063 mit dem
Titel „Den Europäischen Bildungsraum weiter gestalten
- Transparenz und Durchlässigkeit durch einen Europäischen Qualifikationsrahmen stärken“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig so angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/1127 mit dem
Titel „Anforderungen an die Gestaltung eines europäischen und eines nationalen Qualifikationsrahmens“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe? Enthaltungen? - Das Erste war die Mehrheit. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 3 e. Wir stimmen ab über den
Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke zur Änderung des
Berufsbildungsgesetzes. Der Ausschuss für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5761,
diesen Gesetzentwurf auf Drucksache 16/2540 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das wird nicht reichen.
({0})
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? Ich stelle in der Feststellung der Mehrheitsverhältnisse
breite Übereinstimmung im Hause fest.
({1})
Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt.
({2})
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Tagesordnungspunkt 3 f. Es geht um die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 16/5762.
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis des Berufsbildungsberichts 2006 auf Drucksache 16/1370 den Antrag
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/2630 mit dem Titel „Neue Wege in der
Ausbildung - Strukturen verändern“ abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Ich habe nicht
den Eindruck, dass alle den Gegenstand der jetzt stattfindenden Abstimmung auf Anhieb verstanden haben.
({3})
Wir stimmen über die Beschlussempfehlung des Ausschusses ab, der unter Bezugnahme auf den Berufsbildungsbericht die Ablehnung des Antrags der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen empfiehlt.
({4})
- Nach dieser bemerkenswerten Protokollerklärung des
Kollegen Tauss steht einer unfallfreien Abstimmung eigentlich nichts mehr im Wege.
({5})
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses? - Sage ich doch! - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich der Stimme? - Die Beschlussempfehlung ist
mit der Mehrheit des Hauses angenommen.
Damit sind wir am Ende dieses Tagesordnungspunk-
tes.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörg
van Essen, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
Dr. Karl Addicks, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes
- Drucksache 16/2087 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({6})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Beck ({7}), Irmingard Schewe-Gerigk, Birgitt
Bender, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
Präsident Dr. Norbert Lammert
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes und
anderer Gesetze ({8})
- Drucksache 16/3423 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({9})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Dr. Martina Bunge, Sevim
Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Vielfalt der Lebensweisen anerkennen und
rechtliche Gleichbehandlung homosexueller
Paare sicherstellen
- Drucksache 16/5184 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({10})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache wiederum anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort erhält als erste Rednerin die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger für die FDP-Fraktion.
({11})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Gesellschaftliche Freiheit zeigt sich besonders im
Umgang mit Menschen anderer Herkunft und mit Menschen, die sich zu ihrer sexuellen Identität bekennen.
Das ist gelebte Toleranz.
Familien, in denen Kinder von zwei Männern oder
von zwei Frauen aufgezogen werden, sind heute nichts
Besonderes mehr. Insbesondere nachdem für eingetragene Lebenspartner die Möglichkeit der Stiefkindadoption besteht, ist es an der Zeit, den Familienbegriff den
Entwicklungen der letzten Jahre anzupassen.
({0})
Aufgabe der Politik ist es, die unterschiedlichen Formen
von Familien, von Verantwortungsgemeinschaften zu
akzeptieren und dafür geeignete Rahmenbedingungen zu
schaffen. Ziel von verantwortungsbewusster Politik ist
es, dafür zu sorgen, dass jeder Mensch seinen eigenen
Lebensentwurf frei und unabhängig leben kann.
({1})
Die FDP setzt sich seit vielen Jahren für die rechtliche Gleichstellung von Lesben und Schwulen ein.
Bereits in der 14. und 15. Legislaturperiode haben wir
einen Gesetzentwurf für eine eingetragene Lebenspartnerschaft in den Bundestag eingebracht, und auch in der
letzten Legislaturperiode haben wir einen Entwurf von
Rot-Grün zur Überarbeitung des Lebenspartnerschaftsgesetzes unterstützt und im Bundesrat dazu beigetragen,
dass das Gesetz ohne Anrufung des Vermittlungsausschusses pünktlich in Kraft treten konnte.
({2})
Wir haben immer zum Ausdruck gebracht, dass der
jetzige Rechtszustand - das gilt bis heute - alles andere
als befriedigend ist. Für Lebenspartner gibt es nach wie
vor ein Ungleichgewicht zwischen Pflichten und Rechten: mehr Pflichten als Rechte. Es bedarf Änderungen im
Einkommensteuerrecht, Erbschaftsteuerrecht, Beamtenrecht und Adoptionsrecht. Wir haben es leider auch in
der letzten Legislaturperiode bei einer Mehrheit von
Rot-Grün nicht hinbekommen - obwohl eine Mehrheit
vorhanden war -, hier im Bundestag noch weitere Änderungen vorzulegen.
({3})
Wir legen heute einen Gesetzentwurf vor, bei dem es
um das Erbschaftsteuerrecht geht. Dies tun wir nicht,
weil wir nicht noch mehr Änderungen wollen - ich habe
eben die Bereiche genannt -, sondern weil wir glauben,
dass es am ehesten möglich ist, Veränderungen zu erreichen, wenn wir in einzelnen Schritten vorgehen.
In Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen und
durch Beiträge hier im Bundestag - gerade auch von
Kollegin Frau Granold von der CDU/CSU - habe ich erfahren, dass der Gesetzgeber sehr wohl ein Stück weit
mehr Anpassungen vornehmen muss und dass sehr wohl
Gesprächs- und Kompromissbereitschaft besteht. Ich
hoffe, dass mit einem solchen schrittweisen Vorgehen
jetzt die Chance besteht, hier noch zu weiteren notwendigen Entscheidungen zu kommen.
({4})
Im Grundsatzprogramm der CDU heißt es im einleitenden Kapitel:
Ohne Gerechtigkeit gibt es keine Freiheit … Im
Rechtsstaat heißt Gerechtigkeit gleiches Recht für
alle.
Ich frage Sie: Ist es gerecht, dass zwei Männer oder
zwei Frauen, die eine langjährige Beziehung führen, in
der sie gemeinsam Verantwortung füreinander haben,
nach dem Ableben eines Partners vom Staat wie Fremde
behandelt werden?
({5})
Ist es gerecht, dass Lebenspartner, die wie Eheleute gegenseitig unterhaltspflichtig sind, nach dem Ableben eines Partners nur einen Erbschaftsteuerfreibetrag von
5 200 Euro geltend machen können? Ist es gerecht, dass
der Staat es nach dem Ableben des einen Partners in keiSabine Leutheusser-Schnarrenberger
ner Weise steuerrechtlich berücksichtigt, wenn ein Partner den anderen bei Krankheit und Gebrechen bis zum
Tode pflegt und für ihn sorgt und damit gleichzeitig die
Solidargemeinschaft entlastet?
({6})
Wir als FDP-Fraktion sagen: Nein.
Deshalb fordern wir mit unserem Gesetzentwurf zum
Erbschaftsteuerrecht gerade auch im Hinblick auf die
Steuerklassen, die persönlichen Freibeträge, den besonderen Versorgungsbeitrag und die vermögensrechtlichen
Auswirkungen die gleichen Regelungen wie bei Ehegatten.
({7})
Ich sage deutlich: Das ist für uns ein Schritt zu weiteren notwendigen Änderungen. Gerade in Zeiten, in denen wir immer mehr die Vereinzelung von Menschen
beobachten, ist die Stärkung von Verantwortungsgemeinschaften ein wichtiges und bewusstes Zeichen
des Staates an die Gesellschaft. Wir wollen heute mit unserem Gesetzentwurf dazu beitragen.
Vielen Dank.
({8})
Nächster Redner ist nun der Kollege Georg Fahrenschon für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Frau Leutheusser-Schnarrenberger, kennen Sie das Gleichnis von Buridans Esel? In diesem
Gleichnis steht ein Esel genau in der Mitte von zwei
Heuhaufen. Weil er sich nicht entscheiden kann, von
welchem Haufen er nun fressen soll, verhungert er jämmerlich.
({0})
Bei der Erbschaftsteuer geht es Ihnen offensichtlich
genauso wie Buridans Esel: Sie wissen nicht, was Sie
wollen. Am vergangenen Wochenende haben Sie auf Ihrem Parteitag beschlossen, den Ländern im Rahmen der
Föderalismuskommission II die komplette Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenz bei der Erbschaftsteuer zu übertragen. Keine Woche später fordern Sie
jetzt schnell eine Gesetzesänderung für eine bundeseinheitliche Änderung des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes. Was wollen Sie denn jetzt eigentlich?
({1})
Wollen Sie jetzt eine Gesetzesänderung vornehmen, um
dann im Rahmen der Föderalismusreform eventuell
wieder nachzusteuern, oder wollen Sie langfristig eine
vernünftige und tragfähige Lösung zur künftigen Erbschaftsbesteuerung auch im Sinne des Urteils des Bundesverfassungsgerichts?
({2})
Wenn Sie diese Frage ehrlich beantworten, dann bin ich
mir sicher, dass wir zu demselben Ergebnis kommen.
Aber die Forderung, gleichgeschlechtliche Lebenspartner erbschaftsteuerlich genauso zu behandeln wie
Ehegatten, ist zu kurz gesprungen. Mit der Union, der
CDU/CSU, ist das nicht zu machen.
({3})
Denn für die Union haben Ehe und Familie einen besonderen Rang, der sich auch in einer besonderen rechtlichen und steuerrechtlichen Privilegierung niederschlägt.
Durch das Inkrafttreten des Gesetzes über die eingetragene Lebenspartnerschaft im Jahr 2001 ist in
Deutschland ein rechtlicher Rahmen für gleichgeschlechtliche Beziehungen geschaffen worden.
({4})
Auf Wunsch kann ein gemeinsamer Familienname bestimmt werden. Im Sozialrecht - dazu zählen unter anderem die gesetzliche Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung - sowie im Ausländerrecht werden Lebenspartner
genauso behandelt wie Eheleute.
Bei einer Trennung kann ein Partner vom anderen
entsprechend der vorherrschenden Erwerbs- und Vermögenslage angemessenen Unterhalt verlangen. Auch beim
Erbrecht bestehen keine Unterschiede mehr. Wir als
Union akzeptieren diese Entscheidung, obwohl wir damals mit guten Gründen dagegengestimmt haben.
Aber im Kern bleibt die CDU/CSU-Fraktion dabei:
Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz
des Grundgesetzes und sind mit nichts vergleichbar. Das
Urteil des Bundesverfassungsgerichts gibt uns darin
Recht. Wir werden sogar aufgefordert, die Privilegierung der Ehe entsprechend zu hinterlegen und keine Abstriche daran vorzunehmen.
({5})
- Das stimmt, lieber Herr Kollege. Denn das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 17. Juli 2002
über die Verfassungsmäßigkeit des Lebenspartnerschaftsgesetzes zwar die eingetragene Lebenspartnerschaft als zulässig neben dem Institut der Ehe anerkannt;
ausdrücklich wird jedoch darauf verwiesen, dass eine
eingetragene Lebenspartnerschaft keine Ehe ist, sondern
ein Aliud. Dieser Begriff bedeutet „ein anderes“. Es ist
also nicht das Gleiche und schon gar nicht dasselbe.
({6})
Deshalb widersprechen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf
den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, da Sie mit
Ihrem Vorschlag die grundgesetzlich vorgesehene und
auch begründete Privilegierung der Ehe komplett aushebeln.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Beck?
Ja, gerne.
Ich will nur sichergehen, dass Sie das Urteil ganz gelesen haben, und fragen, ob Sie auch weitere Sätze des
Urteils wie den folgenden zur Kenntnis genommen haben:
Der besondere Schutz der Ehe in Art. 6 Abs. 1 GG
hindert den Gesetzgeber nicht, für die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft Rechte und
Pflichten vorzusehen, die denen der Ehe gleich oder
nahe kommen.
Das begründet das Bundesverfassungsgericht mit
dem Aliud und sieht an dieser Stelle kein Problem des
Abstandsgebots in Bezug auf die Ehe, weil das Lebenspartnerschaftsgesetz ein Aliud zur Ehe ist und insofern
denklogisch nicht in Konkurrenz zur Ehe treten kann.
Denn die Lebenspartnerschaft bezieht sich auf einen anderen Adressatenkreis, und deshalb wird die Gleichstellung vom Verfassungsgericht ausdrücklich für möglich
gehalten. Beim Steuerrecht wird sie angedeutet und womöglich sogar für nötig gehalten.
({0})
Lieber Herr Kollege Beck, ich gehe davon aus, dass
alle, die an der heutigen Debatte teilnehmen, das Urteil
ganz gelesen haben und wir alle darauf verzichten, das
gesamte Urteil vorzulesen. Im Kern bleibt die Problemlage bestehen. Das Bundesverfassungsgericht hat uns
auch mit auf den Weg gegeben, dass wir aufgrund des
besonderen Instituts der Ehe ihre Privilegierung sicherstellen müssen.
({0})
- Ich werde Ihnen das gerne zukommen lassen.
({1})
Wir werden dann in Kontakt treten, und ich freue mich
darauf, wie Sie in Ihrer Antwort darauf Bezug nehmen.
({2})
Im Kern bleiben wir dabei, Herr Kollege Beck: Wenn
wir die gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften
angleichen und genauso privilegieren wie die Ehe, dann
ist die Ehe nicht mehr besonders privilegiert. Das müssen Sie anerkennen.
({3})
Aus diesem Grunde sind wir nicht mehr bereit, bei Ihrem
Vorhaben mitzumachen.
Ich denke allerdings, das gesamte Hohe Haus begrüßt
es, wenn sich Menschen dazu entschließen, füreinander
einzustehen und einander Unterhalt zu gewähren gleich in welcher Lebensform das geschieht. Die Ehe
- ich kann es nur noch einmal betonen - ist aber ein
Wert für zwei Menschen, die auf Dauer füreinander einstehen wollen. Dieses Füreinander ist Grundlage jeder
sozialen Gesellschaft.
Der Staat schützt daher in Art. 6 unseres deutschen
Grundgesetzes die Ehe und die Familie, weil er um diesen speziellen hohen Wert weiß. Dieser hohe Wert
kommt zum Beispiel im Ehegattensplitting zum Ausdruck, aber auch in der erbschaftsteuerlichen Regelung.
Deshalb ist für CDU und CSU klar: Daran wollen wir
auch künftig nichts ändern.
Herzlichen Dank.
({4})
Nun hat die Kollegin Dr. Barbara Höll für die Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Fremdgehen macht glücklich!“ - so der Titel eines Buches, das Micha Schulze und Christian Scheuß zusammengestellt haben.
In diesem Buch fand ich die Lebens- und Liebesgeschichte von Fritz und Josef.
Am 1. August 2001, als auch in Köln alle Fernsehkameras schon abgebaut waren und die Presse schöne Bilder über die ersten „Homo-Trauungen“ hatte:
Da erklommen, um kurz vor halb vier, zwei … ganz
in identisches Weiß gekleidete ältere Herren die
Stufen zum Regierungspräsidium. Nach 46 Jahren
legalisierten Fritz Schäfer und Josef Fischer ihre
„wilde“ und dabei sehr unkonventionelle „Ehe“.
Stellen Sie sich das bitte vor! Nach fast 50 Jahren gemeinsam gelebten Lebens haben diese beiden Herren
nun endlich - spät, aber nicht zu spät - die Möglichkeit
erhalten, in ihrem 71. und 69. Lebensjahr ihre Liebe
amtlich anerkennen und beglaubigen zu lassen.
An einem solchen Bild wird meines Erachtens deutlich, welch großen Schritt die Verabschiedung des Lebenspartnerschaftsgesetzes 2001 bedeutete. Sie führte
tatsächlich zu einer neuen Akzeptanz für schwul-lesbisches Leben.
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal ein Stück bundesdeutscher Geschichte. Fritz Schäfer und Josef Fischer
lernten sich im Februar 1956 kennen und lieben. Davon
durfte zu dieser Zeit aber niemand erfahren. Es galten
immer noch die §§ 175 und 175 a, und zwar der § 175 in
der durch die Faschisten verschärften Form. Coming-out
und unzüchtige Handlungen konnten zu Gefängnisstrafen und sozialer Deklassierung führen.
Viele Menschen waren davon betroffen. Es dauerte
bekanntermaßen sehr lange, bis Juni 1969, ehe im Rahmen der Strafrechtsreform sexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Männern straffrei gestellt wurden.
Allerdings war das Schutzalter damals auf 21 Jahre festgelegt, während es bei heterosexuellen Menschen bei
18 Jahren lag.
1988 verschwand der Begriff Homosexuelle aus dem
Strafgesetzbuch der DDR. Erst 1994 verabschiedeten
wir hier im Bundestag die endgültige Streichung - nach
123 Jahren.
Man muss natürlich auch sagen - das darf man nicht
vergessen -, dass viele Menschen, die während der Zeit
des Faschismus mit rosa Winkel im KZ saßen und vielfach diskriminiert und verfolgt wurden, von der Wiedergutmachung ausgeschlossen waren. 1957 schloss das
Bundesentschädigungsgesetz Homosexuelle explizit von
der Wiedergutmachung aus. Auch jetzt gibt es immer
noch keine materielle Wiedergutmachung.
Als Fritz Schäfer und Josef Fischer 1975, nach
15 Jahren, das erste Mal tatsächlich in einer Wohnung
zusammenleben wollten, hatten sie bei der Anmietung
noch mit etlichen rechtlichen Problemen zu kämpfen.
Nun sind sie verheiratet. Nein, sie sind nicht verheiratet. Sie sind verpartnert. Fritz und Josef dürfen ihr Bekenntnis nun zwar öffentlich machen. Sie durften es
amtlich besiegeln lassen, aber nicht ohne Wenn und
Aber. Sie dürfen dies nur zweiter Klasse.
Sehr ernüchtert haben sie festgestellt:
Was für uns relevant werden könnte, wäre das Auskunftsrecht im Krankheitsfall oder die Möglichkeit,
lebensverlängernde Geräte abzuschalten, wenn man
weiß, dass der andere das nicht wollte.
Beide sind enttäuscht:
Von der Homoehe hätten wir uns mehr erhofft. Du
bist zwar erbberechtigt, musst darauf aber Steuern
zahlen, als wärst du ein Fremder.
Warum stehen verpartnerten Menschen im Erbfall nur
5 200 Euro steuerfrei zu, während Ehegatten bis zu
307 000 Euro steuerfrei zustehen? Warum wird Fritz
oder Josef kein Versorgungsfreibetrag gewährt, während
Ehegatten einen solchen bis zu einer Höhe von
256 000 Euro nutzen können? Auch der Freibetrag für
Hausrat und andere bewegliche Dinge ist bei verpartnerten Menschen um 41 000 Euro niedriger als bei Ehegatten. Das alles können Sie bei einer sehr schönen Postkartenaktion nachlesen, getragen von verschiedenen
politischen Kräften, mit dem Titel „Keine halben Sachen! Gleiche Liebe, gleiches Recht“.
({0})
Vor dem Reichstag findet heute eine Demonstration
statt, um diesen berechtigten Forderungen Nachdruck zu
verleihen. Ich möchte im Namen meiner Fraktion die
Aktivistinnen und Aktivisten herzlich grüßen, die sich
aufgemacht haben, uns noch einmal ein bisschen voranzutreiben. Man kann es nicht oft genug wiederholen:
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil
vom 17. Juli 2002 die Gleichstellung von Ehe und Lebenspartnerschaft für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt. Wir, die Linke, positionieren uns mit unserem Antrag eindeutig. Es ist notwendig, die Gleichstellung von
Ehe und Lebenspartnerschaft endlich zu vollziehen.
Das betrifft das Einkommensteuerrecht, das Schenkungund Erbschaftsteuerrecht, das Beamtenrecht, das Sozialrecht und das Adoptionsrecht.
Daraus ergibt sich, dass wir den Gesetzentwurf von
Bündnis 90/Die Grünen unterstützen, der diese Forderungen detailliert unterlegt, bis auf das Adoptionsrecht.
Von den Liberalen liegt uns der Entwurf eines Gesetzes
zur Änderung des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes vor. Das heißt, wir haben eine große Schnittmenge. Wenn Sie sich die Postkartenaktion genau anschauen, dann stellen Sie fest, dass die Schwusos sowie
die Lesben und Schwulen in der Union das unterstützen.
Alles zusammen haben wir in diesem Punkt eigentlich
eine Mehrheit im Bundestag.
({1})
Ich glaube, Menschen wie Fritz und Josef interessiert
die Koalitionsvereinbarung etwas weniger. Sie möchten
vielmehr Klarheit in den Fragen, die sie betreffen. Das
ist nur recht und billig. Ich bekenne, dass ich Fritz und
Josef nicht persönlich kenne, dass ihre Namen nicht ihre
richtigen sind. Ich denke, sie werden heute nicht aus
Köln nach Berlin gekommen sein. Aber vielleicht verfolgen sie die Debatte vor dem Fernseher. Beiden geht es
gut. Sie werden sicherlich mit der heutigen Debatte
Hoffnung schöpfen. Seien Sie versichert: Wir werden
unser Möglichstes tun.
Nehmen wir als Beispiel die konkreten Umstände, unter denen die Lebenspartnerschaft vollzogen werden
kann. Seit dem 1. August 2001 gibt es diese Möglichkeit. In Sachsen hat es hingegen bis zum Oktober 2005
gedauert, bis eine Vereinbarung getroffen wurde, die erlaubt, dass die Zeremonie im Standesamt stattfindet. Nebenbei gesagt: In einzelnen sächsischen Kommunen
muss man für die eingetragene Lebenspartnerschaft noch
immer mehr Gebühren zahlen, als wenn man die Eheschließung vollzieht. Das ist doch nicht normal. Es ist
notwendig, dass wir uns in diesen Punkten verständigen,
und zwar vorwärtsweisend.
Ich möchte darauf hinweisen, dass wir in unserem
Antrag nicht nur die Gleichstellung von Ehe und Lebenspartnerschaft fordern, sondern dass wir darüber hinausgehen. Dies kann nur der erste notwendige Schritt
sein. Wir müssen weitergehen. Wir müssen zu einer Entprivilegierung der Ehe kommen und ein Konzept erarbeiten, das neue Gestaltungsmöglichkeiten erlaubt und
der Vielfalt der realen Lebensweisen Rechnung trägt.
Ehe und Lebenspartnerschaft sind die öffentliche Dokumentation von Verantwortungsübernahme. Aber Verantwortung übernehmen auch andere Menschen.
Was ist zum Beispiel mit der alleinstehenden, kinderlosen Dame, die ein Zimmer an eine Studentin vermietet
hat, woraus sich eine Wahlverwandtschaft entwickelt?
Dieses Verhältnis kann dazu führen, dass die Studentin
die ältere Dame im Alter pflegt. Sollen sie sich jetzt verpartnern? Ziehen wir damit die Institution der Ehe und
die Lebenspartnerschaft nicht ein wenig in die Lächerlichkeit?
Was ist mit einem Bekannten von mir, der seit
20 Jahren in einer glücklichen Partnerschaft lebt? Seine
Gefährtin ist arbeitslos geworden und ist nun in
Hartz IV. Sie haben geheiratet, weil sie es sich nicht anders leisten können. Denn wenn sie nicht verheiratet wären, wäre sie nicht mitversichert und müsste den Krankenversicherungsbeitrag extra zahlen. Kann es sein, dass
Menschen heiraten, um in den Genuss des Ehegattensplittings zu kommen und um den Krankenkassenbeitrag
zu sparen? Nein, das kann nicht sein.
({2})
Dieses Durcheinander im Sozial- und Steuerrecht
kann man nur aufheben, indem man die Menschen als
Individuen innerhalb der Ehe und innerhalb der Lebenspartnerschaft mit eigenen Ansprüchen wahrnimmt und
dem auch Rechnung trägt. Einen konkreten Vorschlag
machen wir in unserem Antrag zum Erbschaftsteuerrecht, über den wir bereits einmal diskutiert haben und
auf den wir noch zurückkommen werden.
Ich glaube, wir haben eine große Verantwortung, aber
auch die Möglichkeit, das Leben ein Stück fröhlicher zu
gestalten, indem wir dafür sorgen, dass Menschen lieben
und leben können, wie sie es selbst bestimmen, dass sie
Verantwortung übernehmen und sie dabei unterstützt
werden, unabhängig davon, ob sie verheiratet sind oder
nicht.
Zur Verdeutlichung, um was es geht, möchte ich mit
dem Gedicht „Was es ist“ von Erich Fried schließen:
Es ist Unsinn
sagt die Vernunft
Es ist was es ist
sagt die Liebe
Es ist Unglück
sagt die Berechnung
Es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst
Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht.
Es ist was es ist
sagt die Liebe
Es ist lächerlich
sagt der Stolz
Es ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich
sagt die Erfahrung
Es ist was es ist
sagt die Liebe
Menschen sollten sich danach entscheiden können frei von Erwägungen im Steuer- oder im Sozialrecht.
Ich danke Ihnen.
({3})
Für die Bundesregierung hat nun Frau Bundesministerin Brigitte Zypries das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal
meinen herzlichen Dank an die Regie von Bundestagspräsidium und Ältestenrat. Wir haben heute die Gelegenheit, drei Gesetzentwürfe von drei Oppositionsparteien
auf einmal zu behandeln. Daran können wir sehen, wie
sich die Opposition einen Wettlauf um die Gunst der Betroffenen liefert.
Aber das ist nicht das, um was es geht. Es geht nicht
darum, schöne Anträge zu schreiben,
({0})
zumal nicht zu Gegenständen, die man hätte behandeln
können, als man selbst jahrelang an der Regierung war.
Es geht vielmehr darum, etwas für die Menschen zu tun.
Was man da erreicht, zeigt sich im Bundesgesetzblatt
und nirgendwo anders.
({1})
Wir haben bei den Verhandlungen mit der Union im
Koalitionsvertrag festgeschrieben:
Unsere Gesellschaft ist toleranter geworden. Sie
nimmt auf Minderheiten Rücksicht. Sie akzeptiert
unterschiedliche Lebensentwürfe. Unsere Rechtspolitik wird diese Entwicklung weiter begleiten und
fördern.
Diese Verpflichtung aus dem Koalitionsvertrag nehmen
wir - wie auch den gesamten Vertrag - sehr ernst.
Wir haben mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz im vergangenen Jahr eindeutig festgestellt,
dass auch Diskriminierungen wegen der sexuellen Identität unzulässig sind. Das betrifft das Arbeitsrecht, aber
auch die zivilrechtlichen Massengeschäfte und die privatrechtlichen Versicherungen. Wir haben damit die eindeutige Botschaft ausgesandt: Bei uns herrscht Chancengleichheit.
Diese Entscheidung der Koalition ist insbesondere einem Koalitionspartner weiß Gott nicht leichtgefallen.
Aber wir haben sie getroffen. Ich habe mich gefreut,
dass die Kollegin Granold in diesem Zusammenhang
konstatiert hat: Wir leben in einer Zeit, in der sich die
Lebensentwürfe geändert haben. Sie begrüßt, wenn sich
Menschen dazu entschließen, füreinander einzustehen.
Dazu gehört dann auch, dass es eine Gesprächsbereitschaft bei der Union, wenigstens in Teilen der Union,
gibt, damit es im Steuer- und Beamtenrecht gegebenenBundesministerin Brigitte Zypries
falls zu Verbesserungen für die Lebenspartnerschaften
kommen kann. Das hat ein bisschen auch mit den rechtlichen Voraussetzungen zu tun. Den Disput darüber haben wir eben hier verfolgen können. Das hat auch etwas
damit zu tun, ob man bereit ist, einen Schritt weiterzugehen. Ich glaube, es ist wichtig, dass die Union sagt, dass
sie bereit ist, darüber zu reden
({2})
und gegebenenfalls noch zu Ergebnissen zu kommen.
Das ist besser, als hier Schaufensterreden zu Anträgen zu
halten, von denen jeder weiß, dass es für sie aus naheliegenden Gründen keine Mehrheiten gibt.
({3})
- Nein. Aber es ergibt Sinn, dann Anträge zu stellen,
sehr verehrter Herr Westerwelle, wenn man sie durchsetzen kann. - Frau Leutheusser-Schnarrenberger, Sie haben vorhin kritisiert, dass man unter Rot-Grün nicht
mehr machen konnte. Ich frage mich, was Sie für die
Gleichstellung von Schwulen und Lesben unter SchwarzGelb gemacht haben.
({4})
Solange Sie in der Regierung waren, gab es keinen einzigen Fortschritt.
({5})
Was hier dargestellt wird, ist sehr an den Haaren herbeigezogen. Wenn man die Gelegenheit hat zu regieren,
sollte man sie nutzen. Denken Sie an die Vergangenheit.
({6})
Wir setzen uns - ich als Vertreterin des Justizbereichs
ganz besonders - beim Steuer- und beim Beamtenrecht konsequent für die Gleichstellung von Lebenspartnerschaften ein. Es ist ein besonderes Ärgernis - das
sehe ich ganz genauso -, dass Lebenspartner zwar ein
gesetzliches Erbrecht und ein gesetzliches Pflichtteilsrecht haben, dass sie steuerrechtlich im Erbfall aber als
Fremde behandelt werden. Es ist auch wenig konsequent,
dass wir die Lebenspartner zwar in die Hinterbliebenenversorgung in der gesetzlichen Rentenversicherung einbezogen haben, nicht aber in die Beamtenversorgung.
({7})
Deswegen teile ich die Einschätzung, dass wir den Weg,
den wir mit der Einführung der eingetragenen Lebenspartnerschaft beschritten haben, konsequent weitergehen
sollten.
({8})
Es ist nicht so, dass wir in dieser Legislaturperiode
neben dem AGG keine weiteren Erfolge erzielt hätten.
Wir haben beispielsweise mit der Reform des Personenstandsrechts, die wir im Dezember 2006 verabschiedet
haben, eine alte Forderung endlich verwirklicht: Das
Standesamt für alle. Das Bundesrecht sieht vor, dass
Lebenspartnerschaften künftig genauso wie Ehen in allen Bundesländern vor dem Standesamt geschlossen
werden. Es ist Sache der FDP, dafür zu sorgen, dass in
den Ländern, in denen sie mitregiert, nicht von diesem
Bundesrecht abgewichen wird.
({9})
Das können die Länder nämlich nach der Föderalismusreform. Das ist eine echte Aufgabe zur Verwirklichung
der Gleichbehandlung. Mit dieser Regelung des Personenstandsrechts setzen wir das fort, was wir mit dem
Lebenspartnerschaftsrecht 2001 begonnen haben. Wir
schaffen ein solides rechtliches Fundament, um Lebensentwürfe zu verwirklichen und Diskriminierungen zu
verhindern.
Dieses solide Fundament muss man, so meine ich wenigstens, im Rahmen der Diskussion über das Adoptionsrecht erschaffen. Wir haben bereits die Stiefkindadoption. Dagegen wird beim Bundesverfassungsgericht
geklagt. Deswegen, so glaube ich, kann auch im Hinblick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse so leicht
niemand sagen, dass man die Adoption von Kindern
durch ein lesbisches oder schwules Paar generell erlauben sollte. Einer der Einwände besteht darin, dass die Erziehungssituation so kompliziert ist. Deswegen haben
wir jetzt einen Forschungsauftrag erteilt, um wissenschaftliche Erkenntnisse über die Situation in Regenbogenfamilien zu gewinnen. Dieses Forschungsvorhaben
wird im Laufe der Legislaturperiode beendet sein. Ich
hoffe sehr, dass wir dann eine rationale Debatte auf der
Grundlage der Ergebnisse dieser Forschung führen können. Man muss schon konstatieren, dass es diesbezüglich
keine einhellige Überzeugung gibt. Die Ansicht des
Herrn Bundespräsidenten, der gesagt hat, dass die Vorbereitung der Kinder auf das Leben auch in Familien von
Homosexuellen gelingen kann, wird weiß Gott noch
nicht von allen Menschen geteilt.
Das europäische Übereinkommen über die Adoption von Kindern haben wir inzwischen geändert. Das
heißt, die rechtlichen Voraussetzungen für eine Adoption
durch Lesben und Schwule sind inzwischen auf internationaler Ebene gegeben. Dieses Übereinkommen muss
jetzt von Deutschland gezeichnet und ratifiziert werden.
Dieses letzte Beispiel zeigt, wie weit wir bei der
rechtlichen Gleichstellung von schwulen und lesbischen
Menschen schon gekommen sind. Es bedarf, so meine
wenigstens ich, keiner symbolischen Debatte mehr, um
Tabus zu brechen oder um Weckrufe hören zu lassen.
Wir sind längst bei der gesetzgeberischen Kärrnerarbeit
angekommen. Das wird sich bei der anstehenden Debatte über das Erbschaftsteuerrecht bald wieder zeigen.
Ich persönlich werde mich dafür einsetzen, dass wir
auch da an der rechtlichen Gleichstellung schwuler und
lesbischer Menschen weiterarbeiten.
({10})
Nächster Redner ist nun der Kollege Volker Beck für
die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Ministerin, Sie haben zu Recht das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz erwähnt, in dem vom Bürger verlangt
wird, im Rechtsgeschäft niemanden aufgrund seiner
sexuellen Identität und anderer Kriterien zu benachteiligen. Wir haben dieses Gesetz zu Recht so ausgestaltet.
Ein Gesetzgeber, der solche Gesetze macht, muss sich
auch selber an diese Vorgaben halten, und darum geht es
heute beim Lebenspartnerschaftsgesetzergänzungsgesetz.
({0})
Wir haben 2001 mit der Verabschiedung des Lebenspartnerschaftsgesetzes einen großen gesellschaftlichen
Erfolg für die lesbischen und schwulen Paare erreicht.
Das war eine symbolische Aktion der Integration dieser
Minderheit in die Gesellschaft. Wir haben ganz viele
rechtliche Probleme praktisch gelöst. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Probleme binationaler Lebensgemeinschaften, die ihre Liebe daraufhin überhaupt
erst leben konnten. In der zweiten rot-grünen Wahlperiode haben wir dieses Gesetz mit Blick auf die Rentenversicherung und die Krankenversicherung im zustimmungsfreien Bereich verbessert. Außerdem haben
wir eine Regelung zur Stiefkindadoption eingeführt. Bei
sämtlichen zustimmungspflichtigen Fragen - Beamtenrecht und Steuerrecht - haben wir nichts zustande gebracht.
Das, was wir für die Ehe im Erbschaftsteuerrecht, im
Einkommensteuerrecht, aber auch bei der Beamtenversorgung bezüglich Hinterbliebenenversorgung und Beihilfeberechtigung des Lebenspartners vorsehen, ist eine
Rechtsfolge der ehelichen Unterhaltsverpflichtung. Wir
können nicht sagen: Da, wo es uns passt, bei der Sozialhilfe, beim Unterhaltsrecht, nehmen wir die Unterhaltsverpflichtung zur Kenntnis, und zwar zulasten der Lebensgemeinschaften; aber da, wo es ihnen einmal zugute
kommt, wo ein Ausgleich für die gesetzliche Verantwortungsübernahme vorgesehen ist, schauen die Betroffenen
gänzlich in die Röhre. Das ist nicht fair.
({1})
Nur wer nach der Übernahme bestimmter Pflichten
gleiche Rechte hat, wird wirklich gleich behandelt. Der
Gesetzgeber hat sich in einen Widerspruch zu seinem
gesetzgeberischen Programm begeben, das er sich mit
der Verabschiedung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes zu Recht zu eigen gemacht hat.
Von 2001 bis 2005 gab es ständig Fortschritte bei der
Gesetzgebung für gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften. 2001 war Deutschland noch Vorreiter in Europa bei der rechtlichen Anerkennung der Lebensgemeinschaften. Deutschland war das erste große EULand, das ein solches Gesetz auf den Weg gebracht hat.
Heute haben uns viele Länder überholt, zum Beispiel
- als letztes Land - Tschechien. In Spanien, in den Niederlanden, in Kanada und Südafrika können homosexuelle Paare sogar die Ehe schließen und müssen nicht
auf ein Ersatzinstitut, ein Aliud, zurückgreifen.
Wir wären schon froh, wenn sich hier im Hohen Haus
eine Mehrheit - eigentlich gibt es sie - für die Abschaffung der Benachteiligung auf den verschiedenen Rechtsgebieten fände. Wir haben mit unserem Lebenspartnerschaftsgesetzergänzungsgesetz ein Gesetz vorgelegt,
durch das all diese Rechtsfragen minutiös abgearbeitet
werden. Frau Ministerin, da braucht man nicht mehr viel
Kärrnerarbeit zu leisten. Man muss nur sein Herz über
die Hürde werfen. Wenn Sie es mit der CDU/CSU nicht
zustande bringen, dann treten Sie dafür ein, dass die Abstimmung in der Koalition freigegeben wird. Ich bin sicher, dass viele Kolleginnen und Kollegen der Union bei
uns wären.
({2})
Herr Kollege Fahrenschon, was Sie vorhin zu Art. 6
Abs. 1 des Grundgesetzes gesagt haben, war die alte
Leier der Union. Dasselbe haben Sie uns vor der Verabschiedung des Lebenspartnerschaftsgesetzes erzählt. Damals haben Sie gesagt, unser Gesetz sei verfassungswidrig.
({3})
Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, dass Sie unrecht haben: There is no Abstandsgebot.
Es gibt keinen Grund, die Lebenspartnerschaften
schlechter zu stellen als die Ehe,
({4})
weil sie zwei verschiedene Adressatenkreise haben und
weil die Rechtsfolgen, um die es hier geht, Ausfluss des
ehelichen bzw. partnerschaftlichen Unterhaltsrechts
sind.
({5})
Sie müssen also schon sagen, dass Sie Schwule und Lesben diskriminieren wollen.
({6})
Aber verstecken Sie sich bitte nicht hinter Art. 6 Abs. 1
Grundgesetz.
({7})
Die Konservativen haben das Urteil nicht zu Ende gelesen. Genauso wenig gelingt es ihnen in der Regel, den
Art. 6 zu Ende zu lesen. Der hat nämlich noch einen
Absatz 5, und darin geht es um die Gleichberechtigung
von ehelichen und, wie man 1949 formulierte, „unehelichen“ Kindern. Das ist ein Auftrag an den Gesetzgeber.
Auch in den Lebenspartnerschaften leben Kinder.
Wenn Sie diese Familien steuerrechtlich benachteiligen,
Volker Beck ({8})
beeinträchtigen Sie auch die Lebenschancen der Kinder,
die in diesen Lebensgemeinschaften leben. Deshalb rate
ich Ihnen, bald gesetzgeberisch zu handeln, bevor Ihnen
Karlsruhe das erneut aufgibt. Sie haben kürzlich mit Ihrer Unterhaltsrechtsnovelle hier im Hohen Hause Schiffbruch erlitten, weil Sie bei der Rangfolge nichteheliche
Kinder erneut schlechter behandeln wollten als eheliche.
({9})
Das sieht das Grundgesetz nicht vor. Die von der Ehe geprägte Familie ist nur eine der möglichen Familienformen. Unser Verfassungsgericht musste Sie immer dazu
treiben - so bei der Kindschaftsrechtsreform, jetzt bei
der Unterhaltsrechtsreform -, auch die verfassungsrechtlichen Vorgaben zugunsten der Kinder, die nicht die konservative Ideologie widerspiegeln, zu beachten.
({10})
Dass Konservativismus auch anders geht als in der
CDU/CSU, erkennt man, wenn man ins Nachbarland
Frankreich schaut. Herr Sarkozy und Ségolène Royal
hatten einen Disput über die Frage: Was machen wir mit
den gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften? Frau
Royal hat gesagt, sie wolle die Ehe für sie öffnen. Herr
Sarkozy hat versprochen, ein Gesetz auf den Weg zu
bringen, das einen anderen Namen für das Rechtsinstitut
vorsieht, aber rechtlich identische Inhalte hat. Lassen Sie
sich einmal von Ihrer französischen Bruderpartei beraten! Vielleicht hilft das bei den Gesprächen, die Sie mit
der Justizministerin führen.
({11})
Was im Entwurf Ihres neuen Grundsatzprogramms zu
diesen Fragen steht, zeigt das ganze Dilemma Ihrer ideologischen Position auf. Darin heißt es:
Wir werben für Toleranz und wenden uns gegen
jede Form von Diskriminierung.
({12})
Eine Gleichstellung mit der Ehe zwischen Mann
und Frau als Kern der Familie lehnen wir jedoch
ebenso ab wie ein Adoptionsrecht für Homosexuelle.
({13})
Ja, was denn nun? Sie können nicht einerseits sagen,
wir sind gegen Diskriminierung, und andererseits sagen,
Schwule und Lesben wollen wir diskriminieren. Alles
andere als Gleichberechtigung ist erneute Diskriminierung.
({14})
In der Gesellschaft sind diese Fragen durch. Sie missbrauchen Ihre Position in der Großen Koalition faktisch
dazu, den Fortschritt in dieser Frage zu blockieren. Aber
die Lesben und Schwulen in Ihrer eigenen Partei, in der
Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, in der liberalen Partei, in der grünen Partei und in der Linkspartei
sind sich einig: Sie wollen gleiche Rechte, sie wollen die
steuerrechtliche Gleichstellung, und sie wollen, dass mit
der Diskriminierung Schluss gemacht wird. Deshalb gab
es heute vor dem Reichstag eine Allparteienallianz.
({15})
Sozusagen draußen vor dem Bundestag ist sie möglich.
Es wäre schön, wenn sie auch hier möglich wäre.
Ich will Ihnen das einmal zeigen - mit Erlaubnis der
Präsidentin selbstverständlich -: Auf dem Plakat steht
„Keine halben Sachen“.
({16})
Es ist unterschrieben vom Lesben- und Schwulenverband, vom FDP-Bundesverband, vom grünen Bundesverband, von den schwulen Sozialdemokraten, von den
Lesben und Schwulen in der Union und von der Arbeitsgruppe „Queer“ der Linkspartei. So viel Einigkeit ist
möglich - außerhalb des Hauses. Lassen Sie uns dafür
sorgen, dass zur Beseitigung von Diskriminierung dieser
Menschen auch hier im Bundestag endlich etwas getan
wird! Der jetzige Rechtszustand ist einfach nicht zu halten.
Wir werden über das Erbschaftsteuerrecht reden.
Haben Sie sich einmal überlegt, was das in realen Lebenssituationen bedeutet? Da hat sich ein schwules oder
lesbisches Paar eine Eigentumswohnung zusammengespart. Dann stirbt einer vor dem anderen, was im Leben
vorkommt. Auf einmal gehört ein ganz großer Teil dieser Eigentumswohnung nicht etwa der buckligen Verwandtschaft - erbberechtigt ist der Partner ja -, sondern
dem Finanzamt. Da müssen die Leute ihre Wohnung verkaufen und verlassen, weil das Erbschaftsteuerrecht sie
benachteiligt. Ein Ehepaar hat in dieser Situation einen
Steuerfreibetrag in Höhe von 563 000 Euro; so viel muss
man erst einmal haben. Die Lebenspartner haben gerade
einmal einen Steuerfreibetrag in Höhe von 5 200 Euro.
Dann kommt der höchste Steuersatz zur Anwendung,
den wir im Erbschaftsteuerrecht kennen. Das ist einfach
nicht fair. Das ist Enteignung von Staats wegen. So etwas dürften Sie als christlich-demokratische Partei eigentlich nicht weiter zulassen.
({17})
- Das gefällt selbst dem Herrn Westerwelle.
Wir allerdings sagen, wir wollen Gleichberechtigung
bei der Erbschaftsteuer schaffen, aber die Erbschaftsteuer durchaus belassen und auch größere Erbschaften
etwas stärker belasten. Das ist aber ein anderes Thema
als die Frage: Darf man im Erbschaftsteuerrecht bestimmte Gruppen dauerhaft anders behandeln bzw. benachteiligen? Diese Benachteiligung ist nicht fair. Sie
Volker Beck ({18})
kann keinen Bestand haben. Deshalb fordere ich Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, auf: Reden Sie ernsthaft mit uns in den Ausschüssen über diese
Frage, und überlegen Sie sich einmal, was jenseits des
Vorurteils ein vortragbarer Grund für die Aufrechterhaltung des jetzigen Rechtszustandes wäre.
({19})
- Ich glaube, dass Sie intelligent genug sind, Herr Kollege, um festzustellen, dass es einen solchen Grund für
die Beibehaltung der jetzigen Rechtslage einfach nicht
mehr gibt.
Machen Sie deshalb den Weg frei - notfalls durch
Freigabe des Abstimmungsverhaltens in der Koalition -,
damit sich die gesellschaftliche Mehrheit, die auch im
Parlament vorhanden ist, endlich zugunsten der Betroffenen durchsetzen kann.
({20})
Nun hat das Wort die Kollegin Daniela Raab für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich gar nicht bemühen, nachzuzählen,
wie oft wir wegen dieser Thematik nun schon hier zusammengekommen sind. Um es gleich vorwegzuschicken - das dürfte keinem neu sein; ich sage es auch
ausdrücklich in Richtung unserer Bundesjustizministerin -:
Das Vorgehen nach dem Motto „Steter Tropfen höhlt den
Stein“ funktioniert bei dieser Thematik mit der Union sicher nicht. Ein noch Mehr an Gleichstellung zwischen
Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft wird es mit
uns nicht geben.
({0})
Wir akzeptieren die bisherige Gesetzgebung dazu, mehr
aber auch nicht.
Wir wollen auch eines nicht verkennen - der Kollege
Fahrenschon hat es, wie ich finde, schon sehr ausführlich
dargestellt -: Es hat sich einiges getan. Am 1. Januar
2005 trat das schon viel zitierte Gesetz zur Überarbeitung des Lebenspartnerschaftsrechts in Kraft. Seither haben wir die weitgehende Anwendung des ehelichen Güter- und Unterhaltsrechts auf die Lebenspartnerschaft,
die Einführung des Versorgungsausgleichs, die Einbeziehung der Lebenspartner in die Hinterbliebenenversorgung sowie die Möglichkeit zur Stiefkindadoption. Zu
Letzterer liegt - Gott sei Dank, möchte ich sagen - ein
Normenkontrollantrag des Freistaates Bayern beim Bundesverfassungsgericht vor. Wir werden noch sehen, wie
das Gericht da entscheidet.
Also noch einmal: Es hat sich viel getan. Wir als
Union haben diese Entwicklungen nicht mitgetragen.
Wir tragen insbesondere nach wie vor nicht mit, dass im
Gesetz die Möglichkeit zur Stiefkindadoption festgeschrieben wurde; aber wir müssen das notgedrungen so
hinnehmen. Alle weiteren Ansätze, die darüber hinausgehen und die insbesondere dazu führen, dass es keinerlei Unterschied mehr zwischen Ehe und eingetragener
Lebenspartnerschaft geben soll, halten wir für gesellschaftspolitisch verfehlt und außerdem für verfassungswidrig.
({1})
Werfen wir trotzdem einen kurzen Blick auf den Antrag und die zwei Gesetzentwürfe, die vorliegen. Die Damen und Herren der Linken schreiben in ihrem Antrag,
sie fänden zwar die eingetragene Lebenspartnerschaft
ganz prima, meinen aber, sie sei nun doch der Ehe wieder zu ähnlich, um wirklich gut zu sein. Das verstehe ich
intellektuell nicht. Vielleicht entscheiden Sie sich, ob Sie
nun eine Angleichung wollen oder nicht, ob Sie etwas
ganz anderes wollen oder was auch immer. Aber wahrscheinlich verfahren Sie auch hier nach dem bei Ihnen
üblichen Motto: Alles kann, aber nichts muss.
({2})
Liest man dann weiter, stößt man auf die schier wegweisende Feststellung, dass die eingetragene Lebenspartnerschaft der Lebensweise von zum Beispiel Singles
nicht gerecht werde. Wer hätte jetzt das gedacht? Das ist
sehr interessant. Vielleicht überarbeiten Sie Ihren Antrag, um logische Brüche zu vermeiden. Dann können
wir noch einmal darüber reden. Jedes weitere Wort an
dieser Stelle wäre, mit Verlaub, Zeitverschwendung.
Die Grünen haben den weitestgehenden Gesetzentwurf vorgelegt. Es war nicht anders zu erwarten,
({3})
dass er mich logischerweise nicht überzeugt. Er ist aber
zumindest erheblich intelligenter formuliert als der Antrag der Linken. Und der FDP geht es nur um die Erbschaft- und Schenkungsteuer.
({4})
- Bitte, gerne. Wenn Sie weitere Beratung brauchen,
stehe ich zur Verfügung.
Lassen Sie mich aber noch einen Punkt herausgreifen,
der für uns von ungeheurer Wichtigkeit ist. Die Union
hat sich schon in der letzten Legislaturperiode klar gegen
die Stiefkindadoption ausgesprochen. Ein noch weitergehendes Adoptionsrecht für homosexuelle Paare
kommt für uns definitiv nicht infrage.
({5})
Das Wohl des Kindes - es geht nicht um das Wohl eines schwulen oder lesbischen Paares, sondern einzig und
allein um das Wohl des Kindes ({6})
ist für uns in dieser Konstellation in keiner Weise gewährleistet.
Daneben - Herr Beck, Sie werden sicherlich gleich
versuchen, Urteilsstellen zu finden - gibt es Art. 6
Abs. 1 Grundgesetz, der Ehe und Familie nach wie vor
in unveränderter Weise unter den besonderen Schutz der
staatlichen Ordnung stellt.
({7})
Diese Verfassungsbestimmung enthält nach ständiger
Rechtsprechung sowohl ein Grundrecht auf Schutz vor
Eingriffen des Staates in die Ehe als auch eine Institutsgarantie der Ehe und - das ist für uns ganz wichtig - eine
wertentscheidende Grundsatznorm. Dem fühlen wir uns
als Union verpflichtet.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil
vom Juli 2002 zwar entschieden, dass das damalige Lebenspartnerschaftsgesetz verfassungsgemäß sei. Es hat
aber auch deutlich gemacht - der Kollege Fahrenschon
hat es, wie ich finde, in richtiger Art und Weise betont -:
Lebenspartnerschaft ist nicht gleich Ehe.
({8})
Es ist etwas anderes. Deswegen ist auch die andere
gesetzgeberische Behandlung der Ehe und Lebenspartnerschaft gerechtfertigt.
({9})
- An keiner Stelle des Urteils, Herr Beck, findet sich die
Aufforderung des Verfassungsgerichts an den Gesetzgeber, eine völlige Angleichung dieser beiden Lebensformen herbeizuführen.
({10})
- Ich habe alles gelesen, Herr Beck, ich bin dessen
mächtig. - Vielmehr hat die Senatsmehrheit erklärt, dass
es Aufgabe des Staates ist, einerseits alles zu unterlassen, was die Ehe schädigt, und sie andererseits in geeigneter Weise zu fördern. Sagen Sie mir doch einmal, wie
Sie in Zukunft, wenn Sie alles gleichstellen wollen, die
Ehe besonders privilegieren und fördern wollen!
({11})
Aber darauf warten wir bei Ihnen lange.
Die Ehe ist also etwas Besonderes und deswegen etwas besonders Schützenswertes. Wenn man nun etwas
schafft, das einen anderen Namen trägt, aber exakt die
gleichen Rechte und Strukturen aufweist, dann entspricht das aus Sicht der Union nicht den verfassungsrechtlichen Vorgaben.
({12})
So hat es im Übrigen auch ein nicht ganz unwesentlicher Verfassungsrichter namens Papier in seiner beachtlich abweichenden Meinung zum damaligen Urteil gesehen. Ich meine, diese abweichende Meinung, Herr Beck,
können auch Sie nicht ganz ignorieren.
Die Begründung für diesen besonderen Schutz der
Ehe liegt doch schlicht und ergreifend auf der Hand,
auch wenn Sie es nicht gerne hören: Der Verfassungsgeber hat die Ehe deshalb unter eine besondere Schutznorm gefasst, weil eine Ehe zwischen Mann und Frau
zumindest die potenzielle Möglichkeit bietet, Kinder zu
bekommen. Allein aufgrund dieser von der Natur gegebenen Voraussetzung ist die Ehe exklusiv und deswegen
vom Gesetzgeber zu privilegieren. So einfach ist das.
({13})
Kurzum: Wir halten uneingeschränkt am Abstandsgebot zwischen Ehe und allen weiteren Lebensformen fest.
Wir akzeptieren und schätzen andere Lebensformen und
Lebensentwürfe, aber Gleichmacherei in dieser so entscheidenden gesellschaftspolitischen Frage wollen wir
definitiv nicht.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat nun der Kollege Michael Kauch für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man kann
die Inhalte der Reden der beiden Unionsabgeordneten
wie folgt zusammenfassen: jung an Jahren, aber alt im
Denken.
({0})
Ich finde es sehr bemerkenswert, dass bisher nur Abgeordnete der CSU gesprochen haben
({1})
- ich weiß, da kommt gleich noch einer - und dass die
Rechtspolitiker, die für dieses Thema eigentlich zuständig sind, nämlich Frau Granold und Herr Gehb, heute
lieber gleich fehlen. Die Union im Norden dieser Republik wundert sich wahrscheinlich gerade, welches Gesellschaftsbild hier als Position der Union insgesamt verbreitet wird. In Hamburg werden Sie mit den Positionen,
die Sie hier vortragen, keine Wahlen gewinnen können.
({2})
Es gibt in diesen Minuten eine Aktion des Lesbenund Schwulenverbandes vor dem Bundestag; der Kollege Beck hat darauf hingewiesen. Der Bundesverband
der FDP unterstützt diese Aktion. Ich versichere Ihnen,
es gibt nicht nur grüne, sondern auch gelbe Plakate.
Ich möchte an dieser Stelle Herrn Kauder eine kleine
Information mit auf den Weg geben. Sie haben gesagt,
die sollten lieber Blut spenden. Ich weise Sie darauf hin,
dass das in dieser Republik verboten ist. Das Gesundheitsministerium hat eine Richtlinie herausgegeben,
nach der Schwule kein Blut spenden dürfen. Auch das
können wir gerne einmal politisch besprechen.
({3})
Herr Fahrenschon hat die Frage der Erbschaftsteuerbeschlüsse unseres Parteitages angesprochen. In der Tat,
der Parteitag hat die Forderung beschlossen, dass die
Gesetzgebungskompetenz auf die Länder übergeht. Ich
habe bisher nicht erkannt, dass die Union dieser Forderung, die eine Zweidrittelmehrheit benötigt, zustimmt.
Wenn das ein Angebot war, freuen wir uns darüber. Aber
unabhängig davon werden Sie im Herbst noch die Gesetzgebungskompetenz im Bundestag haben. Sie werden
eine Erbschaftsteuerreform beschließen. Die Frage ist,
mit welchen Inhalten. Vielleicht können Sie über den
Baustein, den wir Ihnen diesbezüglich heute vorschlagen, noch einmal nachdenken.
({4})
Am Wochenende ist der Christopher Street Day in
Berlin, und viele weitere in der Republik werden folgen.
Überall werden die Vertreter der Regierung und der Koalition heucheln, wie sehr sie die Anliegen der Schwulen
und Lesben unterstützen. Doch die Wahrheit sehen wir
heute, insbesondere vonseiten der Union.
Es wurde schon viel über die ungleiche Verteilung der
Pflichten und Rechte gesagt. Am ungerechtesten - deshalb bringen wir das heute hier auf den Tisch - ist die
Situation im Erbschaftsteuerrecht. Das Erbrecht
- Pflichtteil und gesetzliche Erbfolge - ist gleich. Bei der
Erbschaftsteuer hingegen bekommen Ehegatten gegenüber eingetragenen Lebenspartnern den 59-fachen Freibetrag. Selbst wenn Sie der Meinung sind, es müsse einen Unterschied geben, muss dieser aber nicht 59-fach
sein. Das ist ungerecht.
Noch dreister: Der Staat kassiert weniger Erbschaftsteuer, wenn ich etwas von meiner Tante erbe, als wenn
ich etwas von meinem eingetragenen Lebenspartner
erbe, mit dem ich mein Leben verbracht habe. Wenn ich
meinen Lebenspartner bis zum Tode gepflegt habe,
werde ich bei der Erbschaftsteuer wie ein Fremder behandelt. Der Kollege Beck hat ausgeführt, was das bedeutet. Es ist eine ganz existenzielle Frage für die Menschen: Können sie beispielsweise in der Wohnung, die
sie gemeinsam angeschafft haben, wohnen bleiben?
Wenn wir ein Recht haben, das dazu führt, dass jemand nach dem Tod seines Lebenspartners aus der Wohnung herausmuss, nachdem das Paar über Jahrzehnte zusammengelebt hat und der eine den anderen in guten und
in schlechten Tagen begleitet hat, dann ist das unanständig. Eine Partei, die sich dem Anstand verpflichtet fühlt,
sollte das erkennen.
({5})
Auch in der Hinterbliebenenversorgung kommt es
zu absurden Situationen. Wenn der verstorbene Lebenspartner Mitglied in der gesetzlichen Rentenversicherung
war, dann gibt es eine Hinterbliebenenrente. Wenn er
aber Bundesbeamter war, dann gibt es nichts. Jetzt
könnte man denken, das habe wieder die Union oder der
Bundesrat beschlossen; aber nein, es war der SPD-Innenminister Otto Schily, der in der letzten Wahlperiode
eine Angleichung dieses Rechts verhindert hat. Deshalb
muss sich auch die SPD fragen, was sie in der letzten
Wahlperiode gemacht hat.
({6})
Es gibt immer noch kein gemeinsames Adoptionsrecht. Sie können zwar sagen, eine Adoption von Kindern durch schwule oder lesbische Paare schade dem
Kindeswohl. Aber ich würde Ihnen, Frau Raab, einmal
empfehlen: Schauen Sie in die einschlägigen erziehungswissenschaftlichen Studien. Sehen Sie sich die Evaluierung der Programme an, die es seit vielen Jahren ermöglichen, dass schwule und lesbische Paare hier in Berlin
Pflegeeltern sein können. Sie werden feststellen: Das hat
den Kindern nie geschadet.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Beck?
Ja.
Herr Kollege Kauch, ich bin ja bekanntermaßen nicht
der engste Freund von Otto Schily gewesen.
({0})
- Das halte auch ich eher für ein Kompliment. - Aber
Ehre, wem Ehre gebührt. In diesem Fall gebührt ihm
diese Ehre nicht.
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass das in
den Jahren 2000 und 2001 geplante Lebenspartnerschaftsergänzungsgesetz, das auch im Bundesrat beraten
wurde, diese rechtlichen Folgen beinhaltete und es leider
die mit von der FDP regierten Länder waren, die dieses
Gesetz gemeinsam mit CDU- bzw. CSU-regierten Ländern verhindert haben?
({1})
Dies gilt übrigens auch für das sozial-liberal regierte
Rheinland-Pfalz. Dies hat also nicht an der SPD gelegen,
sondern eher an konservativen Kräften in Ihrer Partei.
Ich finde, man sollte auch in solch einer Debatte der
Wahrheit die Ehre geben.
Volker Beck ({2})
({3})
Frau Künast, Sie können zetern, wie Sie wollen; aber
wir werden die historischen Fakten schon auf den Tisch
legen.
Die Situation ist inzwischen eine andere. Es gibt das
Verfassungsgerichtsurteil, das Sie angeführt haben.
({0})
- Ich beantworte gerade Ihre Frage, Herr Beck.
({1})
- Herr Pronold, möchten Sie vielleicht zuhören?
({2})
Sie haben die entsprechende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts angeführt. Seitdem ist die
Rechtslage klar. 2001 war sie noch nicht klar. Die FDP
hat sich immer für die eingetragene Lebenspartnerschaft
ausgesprochen. Wir haben uns zu dieser Zeit angesichts
der damals unklaren Verfassungslage nur mit der Ausgestaltung auseinandergesetzt. Im Jahr 2004 - das hat die
Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger bereits gesagt hat die FDP dem Überarbeitungsgesetz nicht nur im
Bundestag, sondern auch im Bundesrat zugestimmt. Damals war es in der Tat die SPD, die an dieser Stelle keine
Gleichstellung vorgesehen hat.
Jetzt komme ich zurück zur Union. Sie sollten sich
einmal die einschlägigen Studien anschauen. Vielleicht
kommen Sie dann zu dem Ergebnis, dass das, was dort
niedergelegt ist, nicht völliger wissenschaftlicher Unsinn
ist. Ich frage Sie: Ist es dem Kindeswohl denn tatsächlich zuträglicher, Frau Raab, wenn Kinder im Heim aufwachsen und nicht in einer stabilen Zweierbeziehung, in
der sie ein behütetes Heim und Menschen haben, die
sich um sie kümmern? Frau Raab, so wie Sie hier argumentieren, geht es doch nur um Ihre verstaubte Ideologie
und nicht um das Wohl der Kinder.
({3})
Wir Liberale werden uns mit der Untätigkeit dieser
Regierung nicht zufriedengeben. Sie können unsere Anträge im Rechtsausschuss monatlich vertagen, wie Sie
das bisher tun, weil Sie keine Entscheidung herbeiführen
wollen. Jetzt ist ein weiterer Ausschuss mit unserem Gesetzentwurf befasst. Sie haben neue Chancen. Ich würde
mich freuen, wenn sich die Kräfte in der Union, die liberaler sind, in dieser Debatte einmal zu Wort melden würden.
Aus unserer Sicht ist es jetzt zunächst einmal an der
Zeit, zu praktischen Verbesserungen zu kommen. Deshalb haben wir die Erbschaftsteuer, die das größte Unrecht darstellt, in den Mittelpunkt gestellt. Es ist eine
Frage des Anstands von Politik, den Menschen, die Verantwortung füreinander übernehmen, auch die Fairness
zu gewähren, die sie verdienen.
Unbeschadet des jetzigen Gesetzentwurfes gilt für
uns Liberale: Wer gleiche Pflichten hat, muss auch gleiche Rechte haben. Das ist und bleibt unser Ziel bei den
Steuern, beim Beamtenrecht und beim Adoptionsrecht.
Vielen Dank.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Florian Pronold für
die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Kauch, ich glaube, Sie haben gezeigt,
worum es in dieser Debatte geht. Es geht darum, die Taten der Länder, in denen man mitregiert, vergessen zu
machen, indem man einen Schaufensterantrag einbringt.
Es ist eine Inszenierung! Sie haben kein Interesse daran,
wirklich etwas voranzubringen. Die FDP hätte nämlich
schon vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
dazu beitragen können, dass das, was der Bundestag zur
Zeit von Rot-Grün beschlossen hat, nicht im Bundesrat
blockiert wird; schließlich hat sie in einigen Ländern
mitregiert. Wenn das, was wir damals vorgelegt haben,
heute Gesetz wäre, müssten wir diese Debatte nicht führen; dann wären wir schon weiter.
({0})
Sie sollten hier nicht so scheinheilig tun, wenn Sie das,
wofür Sie die Verantwortung tragen, in den Mantel des
Schweigens hüllen und nichts dafür tun, dass es besser
wird.
Vor uns liegt die Reform des Erbschaftsteuerrechts.
Da sind erst einmal die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu erfüllen. Wir werden vermutlich eine
ganze Menge machen; eine Kommission ist schon eingesetzt worden. Die SPD will die Gleichbehandlung von
Lebenspartnerschaften und Ehen auch im Erbschaftsteuerrecht implementieren. Das haben wir unter Rot-Grün
schon versucht, sind damals aber im Bundesrat gescheitert. Das Bundesverfassungsgericht schreibt in dem Urteil ganz eindeutig - das ist vorhin schon vorgetragen
worden -, dass es keinen Grund gibt, die Lebenspartnerschaften nicht genauso zu behandeln wie die Ehe. Das ist
keine Schlechterstellung der Ehe.
Frau Raab hat gesagt, man dürfe all das nicht zulassen, was die Ehe schädigt. Das klingt zwar schön, aber
wenn ich mir die Medienberichterstattung anschaue,
klingt das nur lustig. Das soll wahrscheinlich nicht nur
für die Gesetzgebung gelten, sondern auch für andere
Verhaltensweisen.
({1})
Mir ist wichtig, dass wir zu einer tatsächlichen
Gleichbehandlung kommen. Das ist möglich. Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich festgestellt, dass
das möglich ist. Seitens der Grünen und der Linkspartei
wird uns vorgeschlagen, den Koalitionsvertrag einfach
nicht zu berücksichtigen und „richtig“ abzustimmen;
dann werde alles gut. Wir hatten aber schon einmal eine
Mehrheit im Bundestag, sind damals aber an den Mehrheitsverhältnissen im Bundesrat gescheitert. Es ist also
nicht damit getan, im Bundestag für Mehrheiten zu sorgen.
Ich gehe davon aus, dass es gelingen wird, weil es in
dem vor uns liegenden Prozess so sein wird, wie es bei
anderen Themen war, zum Beispiel beim Antidiskriminierungsgesetz - jetzt: Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz - oder bei der Schulpolitik. Ich schaue einmal
nach Bayern: Bis vor wenigen Jahren galten Ganztagsschulen dort als Teufelszeug, und jetzt werden Lobreden
darauf gehalten, wenn man eine neue eröffnet. Ich
glaube, dass das auch bei der Gleichbehandlung von Lebenspartnerschaften und Ehe so sein wird. Wir werden
die Dinge Schritt für Schritt so voranbringen, dass wir
nicht nur im Bundestag, sondern auch im Bundesrat eine
Mehrheit für die dringend notwendige Gleichstellung
haben.
Herzlichen Dank.
({2})
Nun hat das Wort der Kollege Otto Bernhardt für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Von der Union reden in dieser Debatte nicht nur
Abgeordnete aus dem Süden der Republik. Ich komme
aus dem schönsten Bundesland Deutschlands, und das
heißt Schleswig-Holstein.
({0})
In dieser Debatte geht es wieder einmal um die Frage
einer weiteren Annäherung der Rechte der eingetragenen Partnerschaften an die der Ehe. Uns liegen drei
unterschiedliche Anträge vor. Die Freien Demokraten
wollen bei der anstehenden Erbschaftsteuerrefom einen
Schritt in diese Richtung machen. Sie wollen auf diesem
Gebiet eine Gleichbehandlung herbeiführen. Die Grünen
wollen mit ihrem Antrag im Grunde in allen Bereichen
die Gleichbehandlung herstellen. Wenn man den Antrag
der Linken genau liest, dann stellt man fest, dass es den
Linken darum geht - so heißt es in ihrem Antrag -, „die
Privilegierung der Ehe“ ein Stück weit abzubauen. Die
gehen also noch einen deutlichen Schritt weiter.
Deshalb sage ich gleich zu Beginn dieser Debatte:
Wie auch immer Sie die Entwicklung in der Bevölkerung einschätzen, die Ehe ist nach wie vor die häufigste
Lebensgemeinschaft. Ich bin sicher: Das wird auch so
bleiben.
({1})
Davon müssen wir bei allen unseren Überlegungen ausgehen.
({2})
Ausgangspunkt für die Debatte ist das Gesetz aus
dem Jahre 2001, das die eingetragenen Gemeinschaften
ermöglicht hat. Wir haben es damals gemeinsam mit den
Freien Demokraten abgelehnt. Die rot-grüne Regierung
hatte das Gesetz vorgelegt und verabschiedet. Inzwischen hat es in Richtung Annäherung manche Entscheidung durch den Gesetzgeber, aber auch durch höchste
Gerichte gegeben. Auch wenn wir diese Entwicklung
abgelehnt haben und das in der Debatte immer deutlich
zum Ausdruck gebracht haben, ist selbstverständlich
auch für uns bindend und wird von uns toleriert, was per
Gesetz beschlossen wurde oder vom Verfassungsgericht
kommt.
Wenn wir uns einmal die Frage stellen, wie weit wir
heute bei der Annäherung sind, kann ich der Justizministerin nur zustimmen: Wir sind schon erheblich weit, um
das einmal klar zu sagen. Es gibt heute im Wesentlichen
in drei Bereichen noch Unterschiede: zum einen im
Adoptionsrecht, zum anderen im Beamtenrecht und zu
einem erheblichen Umfang im Steuerrecht. Das sind
zentrale Bereiche.
Wenn wir uns die Rechtslage ansehen - ich bin kein
Jurist; ich habe also klaren Menschenverstand -,
({3})
dann sage ich sehr deutlich: Das ist nicht so sehr ein juristisches Problem.
({4})
Ich begründe dies wie folgt. Das Verfassungsgericht gibt
uns weitere Möglichkeiten. Das ist für mich unbestritten.
Hier gibt es einen politischen Entscheidungsraum. Die
Kernfrage ist: Wie weit wollen wir diesen Entscheidungsraum nutzen? Es handelt sich also um eine politische Entscheidung. Das Verfassungsgericht steht uns dabei nicht im Wege, um das klar zu sagen.
({5})
Jetzt müssen wir uns natürlich mit folgender Frage
auseinandersetzen: Was ist aus der eingetragenen Lebensgemeinschaft geworden? Es gibt für Deutschland
keine verbindlichen Zahlen, wenn ich das richtig sehe.
Aber wir können von einer Größenordnung von etwa
10 000 eingetragenen Lebensgemeinschaften ausgehen.
Für Berlin wird die Zahl 4 000 veröffentlicht. Für SchlesOtto Bernhardt
wig-Holstein liegt die Zahl 170 vor. Also: 10 000 in
Deutschland. Wenn wir uns einmal den Kreis der Potenziellen ansehen, die für eine solche Gemeinschaft infrage
kommen, dann werden Sie mir zustimmen: Diese
10 000 sind nur ein ganz kleiner Teil, den wir jetzt
enorm privilegieren.
Dazu können Sie sagen: Jeder kann ja diese Form
wählen.
({6})
Wir müssen uns aber die Frage stellen: Gehen wir mit
dieser Gemeinschaft, die so wenig genutzt wird, vielleicht an den Empfindungen und an dem, was die Betroffenen wirklich wollen, ein Stück vorbei?
({7})
Wir müssen uns auch immer die Frage stellen: Wie weit
ist der gesellschaftliche Kontext in Deutschland? Meine
Wahrnehmung ist, dass wir hier im Bundestag schon viel
weiter sind als das Empfinden der Bevölkerung. Ich
glaube, vielen in der Bevölkerung sind wir schon viel zu
weit gegangen, als wir uns sogar in den Grenzbereich
Adoption gewagt haben. Das ist mein Eindruck.
Ich sage an die FDP: Wenn wir jetzt bei der Erbschaftsteuer die Gleichheit einführten - ich vermute,
mit dem Verfassungsgericht bekommen wir dabei keine
Probleme -, dann wäre das die erste Öffnung im Steuerrecht. Als Nächstes müsste dann auch das Ehegattensplitting erweitert werden. Dazu sagen Sie: Prima!
Okay!
({8})
Ich sage aber: Wir müssen uns genau überlegen, ob wir
das wollen.
({9})
Entspricht das dem Diskussionsstand in der Bevölkerung? Ich nehme ihn anders wahr, um das klar zu sagen.
Ich meine also: Wer die Tür öffnet, muss sich über die
Konsequenzen im Klaren sein.
Meine Vorredner von der Union haben schon gesagt:
Wir sind den bisherigen Weg nicht mit großer Begeisterung gegangen. Wir akzeptieren allerdings, was vereinbart wurde. In den Koalitionsverhandlungen ist über dieses Thema diskutiert worden. Wenn Sie sich den
Koalitionsvertrag ansehen, stellen Sie fest: Darin steht
zu diesem Thema nichts. Wir sind uns in dieser Frage
nämlich nicht einig geworden. Das heißt, im Koalitionsvertrag wird kein Rahmen vorgegeben, um sich in dieser
Frage weiter zu bewegen.
Ich bin mir allerdings darüber im Klaren, dass die
Meinungsbildung und die Diskussionen in der Bevölkerung und in den Parteien fortgesetzt werden. Der vorliegende Gesetzentwurf der FDP ist als einziger sehr aktuell. Wir werden über dieses Thema zu einem späteren
Zeitpunkt erneut ernsthaft diskutieren müssen, weil wir
noch in diesem Jahr eine Reform des Erbschaftsteuerrechts verabschieden wollen.
Nur, ich kann mir nicht vorstellen, dass es dafür in der
Union eine Mehrheit gibt; das sage ich an dieser Stelle
sehr deutlich. Wir haben diese Diskussion noch nicht abgeschlossen. Aber ich sage schon jetzt: Ich glaube, die
meisten Kollegen aus meiner Fraktion nehmen in ihren
Wahlkreisen wahr, dass wir die bestehenden Möglichkeiten schon in erheblichem Umfang ausgeschöpft haben.
({10})
Meiner Einschätzung nach sind sie nicht bereit, noch
weiter zu gehen. Ich sage erneut: Unter rechtlichen Gesichtspunkten könnten wir wahrscheinlich weiter gehen;
das ist aber nicht das Problem. Es geht um die Frage, ob
wir das wollen und ob wir das für richtig halten.
Meine Damen und Herren, allen drei Fraktionen, die
entweder einen Antrag oder einen Gesetzentwurf vorgelegt haben, kann ich nur sagen: Wir werden uns an einer
konstruktiven Diskussion natürlich beteiligen. Aber unsere Bereitschaft, auf diesem Weg weiter zu gehen, hält
sich in engen Grenzen, weil wir nach wie vor davon
überzeugt sind - ich wiederhole das -, dass die Ehe die
vorherrschende Form des Zusammenlebens ist und dass
sie vom Grundgesetz besonders geschützt wird. Dies ist
ein Grundsatz unserer politischen Arbeit, zu dem wir
auch in Zukunft stehen werden.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich nun
dem Kollegen Guido Westerwelle.
Herr Kollege Bernhardt, ich möchte mich ausdrücklich dafür bedanken, dass Sie als möglicherweise letzter
Redner der Unionsfraktion in dieser Debatte für die
CDU das Wort ergriffen haben. Ich finde, Sie haben sehr
ehrlich argumentiert.
({0})
Das ist wohltuend. Denn bisher haben die Redner Ihrer
Fraktion gesagt: Wir können nicht anders, weil uns das
Bundesverfassungsgericht nicht mehr erlaubt.
({1})
Sie haben gerade gesagt: Sie wollen nicht anders, weil
das Ihrer Meinung nach nicht den Empfindungen weiter
Teile der Bevölkerung entspricht. Das ist schon ein ganz
bemerkenswerter Fortschritt. Wenn wir gemeinsam zu
dem Ergebnis kommen, dass wir auch vor den Augen
des Bundesverfassungsgerichts mehr machen könnten,
wenn wir dies wollten, dann ist das der erste wichtige
Fortschritt in dieser Debatte. Wir können nämlich mehr
tun.
Ich möchte einen Aspekt aufgreifen, der unter anderem vom Kollegen Beck bereits angesprochen worden
ist - auch ich habe in diesem Hause bereits mehrfach zu
diesem Thema gesprochen -: die Rechtsentwicklung.
Der Unterschied der heutigen Debatte zu früheren Debatten ist, dass mittlerweile rechtliche Klarheit besteht.
Darauf wollte ich auch Sie, Herr Kollege, hinweisen. Als
die Regelung im Jahre 2001 getroffen wurde, gab es sehr
unterschiedliche Einschätzungen, wie das Bundesverfassungsgericht entscheiden und ob diese Regelung vor
dem Bundesverfassungsgericht Bestand haben würde.
Auch ich hatte damals übrigens juristische Zweifel, dass
die Standesamtslösung beim Bundesverfassungsgericht
durchgeht.
Jetzt ist die Lage eine andere. Mittlerweile liegt eine
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vor. Nun
kann man nicht mehr ernsthaft behaupten, man würde
die Ehe „abschaffen“, indem man die Diskriminierung
von Menschen, die in anderen, nämlich nichtehelichen
Lebensgemeinschaften leben und sich für die eingetragene Partnerschaft entscheiden, aufhebt. Das ist für mich
eine politische Frage.
Sie sagen: Die Empfindungen der Bevölkerung lassen nicht mehr zu. Ich möchte Ihnen meinen persönlichen Eindruck, der ein anderer ist, schildern: Ich glaube,
dass es die allermeisten Menschen in Deutschland nicht
als Werteverlust empfinden, wenn zwei Menschen füreinander Verantwortung übernehmen, sondern als einen
ganz klaren Wertegewinn. Die Bevölkerung weiß: Gerade in einer Gesellschaft, in der die Vereinzelung zunimmt, ist es gut, wenn sich Menschen zueinander bekennen und in guten wie in schlechten Zeiten
Verantwortung füreinander übernehmen. Daher bin ich
der Überzeugung, dass die Mehrheit, die es in dieser
Frage in diesem Hause gibt, die Mehrheit in der Bevölkerung widerspiegelt. An die Bürgerinnen und Bürger,
die Sorge haben, die sagen: „Das geht uns zu weit!“,
sollten wir aufgeklärte Bürgerinnen und Bürger uns
wenden und ihnen sagen: Die Ehe, die Familie steht unter dem besonderen Schutz des Staates, und niemand
will das ändern. Aber es ist nicht schlecht, wenn gleichzeitig andere, in unserer modernen Zeit neu entstandene
Lebensgemeinschaften den Respekt des Staates bekommen, den auch sie verdie-nen - weil Menschen ganz
persönlich füreinander Verantwortung übernehmen.
Ich glaube, die Hinwendung des Menschen zum Menschen entspricht auch Ihrem Menschenbild. Wir sollten
dann am gesellschaftlichen Fortschritt arbeiten und nicht
meinen, da sei nicht mehr drin!
({2})
Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Christine Lambrecht für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Nach dem Beitrag von Herrn Kauch war klar, warum wir uns heute zu so prominenter Zeit und mehr als
90 Minuten lang diesem Thema widmen. Wenn Sie ehrlich sind, müssen Sie zugeben, es geht Ihnen nicht um
die Sache, sondern darum, dass am Wochenende Christopher-Street-Day-Veranstaltungen stattfinden und dass
sich die FDP mit großen Plakaten als Kämpfer für die
Rechte der Lesben und Schwulen darstellen will. Solche
Schaufensteranträge werden wir hier nicht durchgehen
lassen, Herr Kauch.
({0})
Ihre Vorwürfe an uns Sozialdemokraten lasse ich mir
nicht gefallen. Ich war nämlich bei dem Gesetzgebungsverfahren in der 14. und der 15. Legislaturperiode dabei
und habe mitbekommen, wie Sie - der Kollege Westerwelle hat es angesprochen - hier im Bundestag gegen
dieses Gesetz gestimmt haben und wie Sie dafür gesorgt
haben, dass auch im Bundesrat dagegen gestimmt
wurde; wie Sie sich an einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht beteiligt haben. All das, was in diesen
Anträgen steht - mit Ausnahme der Volladop-tion -, wäre
längst Realität, wäre längst Gesetzeslage, wenn Sie es
damals nicht verhindert hätten. Das stand nämlich im ursprünglichen Gesamtentwurf alles drin. Wir haben es
dann aufsplitten müssen, weil es auch an der FDP gescheitert ist. Ich finde, das muss deutlich gesagt werden.
({1})
Wenn jetzt der Kollege Westerwelle sagt: „Wir wollten erst einmal schauen, ob das mit dem Bundesverfassungsgericht klappt, ob das verfassungsgemäß ist“, muss
ich sagen: Ein bisschen mehr Mut in der Politik darf es
schon sein! Man kann doch nicht jedes Mal abwarten,
was das Bundesverfassungsgericht dazu sagt.
({2})
Wir sind doch dafür da, Entwicklungen aufzunehmen
und politisch zu gestalten; wir sind nicht dafür da, lediglich das nachzuvollziehen, was uns die Richter aus
Karlsruhe vorgeben. Da haben wir ein anderes Politikverständnis und hatten es auch schon damals. Vielleicht
sind wir schon damals näher an den Leuten dran gewesen als Sie. Ich finde, das muss einmal gesagt werden,
damit hier nicht der Eindruck entsteht, die FDP sei schon
immer dafür gewesen und würde das Ganze unterstützen. Nein, Sie sind aufgesprungen, als Rot-Grün den
Weg bereitet hat.
Ein weiterer Punkt, Herr Kauch: Wenn Sie heute tatsächlich mit Leib und Seele dabei sind und dieses Anliegen unterstützen wollen, dann frage ich mich, wieso beispielsweise in einem Land wie Baden-Württemberg, wo
die FDP immerhin mit in der Regierung sitzt, Menschen,
die eine eingetragene Lebenspartnerschaft eingehen wollen, heute noch zum Landratsamt oder zur Stadtverwaltung gehen müssen und nicht, wie in anderen Ländern,
zum Standesamt. Da könnten Sie doch einmal Ihren Einfluss geltend machen! Spielen Sie das doch einmal den
Kollegen zu, damit die da, wo sie es können, all das, was
Sie hier fordern, entsprechend umsetzen!
({3})
Des Weiteren muss ich sagen, ich bin heute sehr überrascht über den Verlauf der Debatte in Bezug auf die
Kolleginnen und Kollegen von der CDU und der CSU.
Da waren wir aber schon deutlich weiter; das ist auch angesprochen worden. Die Kolleginnen, die ansonsten zu
diesem Thema reden und die entsprechenden Berichterstatterinnen sind, sind heute nicht einmal anwesend.
Ich kann mir gut vorstellen, warum: weil sie sich für die
Einstellung, die zumindest bei den ersten beiden Debattenbeiträgen zum Ausdruck gekommen ist, wahrscheinlich schämen.
({4})
Frau Granold hat in den beiden Reden zu dieser Debatte,
die sie in den letzten Jahren gehalten hat, klargemacht,
dass sehr wohl etwas zu machen ist, dass man die Hinweise aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts in
Bezug auf Steuerrecht, in Bezug auf Beamtenrecht aufgreifen will. Bei der Adoption ist das etwas anderes; ich
glaube, da braucht es tatsächlich noch eine umfassende
Diskussion. Wir waren, wie gesagt, viel weiter. Deswegen bin ich verwundert und frage mich: Wohin geht die
Reise bei der Union? Werden sich die konservativen
Kräfte durchsetzen, wie sie es beim Unterhaltsrecht versucht haben? Ich weiß nicht, wie da die Mehrheitsverhältnisse sind. Ich kann nur sagen: Halten Sie sich an
das, was Sie in mehreren Beiträgen versprochen haben daran werden Sie gemessen! Diese Debatte haben wir
mittlerweile im Halbjahresrhythmus; aber das ist gut:
Von der Wiederholung lernt man. Das hat man auch bei
Ihnen von der FDP gesehen: Irgendwann hat es Früchte
getragen. Vielleicht klappt es ja auch bei der Union.
Deswegen kann ich Sie nur auffordern: Lassen Sie
uns wirklich noch einmal sachlich darüber sprechen, wie
die Lebenssituation dieser Menschen aussieht. Es gibt
eine Ungleichbehandlung. Es kann nicht sein, dass man
akzeptiert, dass Menschen Pflichten füreinander übernehmen und über Jahre hinweg bereit sind, das zu tun,
ihnen aber entsprechende Rechte versagt. Ich finde,
diese Ungleichbehandlung liegt so offensichtlich auf der
Hand, dass man nicht einfach mit dem Hinweis darüber
hinweggehen kann, dass die Ehe doch etwas anderes ist.
Natürlich ist die Ehe etwas anderes. Das soll sie auch
bleiben. Kein Mensch will das ändern. Wir wollen aber
nicht, dass Menschen, die Verantwortung füreinander
übernommen und das durch eine eingetragene Lebenspartnerschaft zum Ausdruck gebracht haben, weiterhin
ihrer Rechte beraubt werden. Diese Rechte stehen ihnen
zu.
Zumindest für die Sozialdemokraten kann ich sagen:
Wir werden weiter an diesem Thema arbeiten, weil wir
wollen, dass es hier zu einer Gleichbehandlung und gerechten Behandlung kommt; denn nur darum geht es. Es
geht um keine Privilegierung, es geht um keine Abschaffung und es geht um keine Einschränkung der Ehe. Es
geht nur darum, dass Menschen, die Verantwortung füreinander übernommen haben, diese Rechte zugestanden
bekommen. Deswegen werden wir hier weiter bohren.
Das wird kein einfacher Weg. Das sind wir gewohnt.
Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen. Vielleicht kommen wir am Ende doch zu einem guten Ergebnis.
Vielen Dank.
({5})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Lothar Binding für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrte Damen und Herren! Komischerweise hat
sich heute in dieser Debatte sehr viel auch um die FDP
gedreht. Ich habe mich gefragt, woran das eigentlich liegen könnte. Das liegt natürlich zum einen daran, dass Sie
Ihre Meinung im Laufe der gesamten Entwicklung
mehrfach geändert haben. Zum anderen hängt das auch
damit zusammen, dass wir immer wieder versuchen, die
FDP ernst zu nehmen.
({0})
Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen: Angenommen, wir nehmen die FDP ernst und schaffen die
Erbschaftsteuer ab. Dann brauchen wir auch kein Erbschaftsteuerrecht mehr. Dieses Recht würde es dann
nicht mehr geben. Wenn wir die FDP weiter ernst nehmen, dann würden wir die Kompetenz hinsichtlich dieses Rechts, das es dann nicht mehr gibt, in die Länder
verweisen. Gleichzeitig würden wir ungerechte Freibetragsregelungen anpassen. Das wäre natürlich ein Problem.
Wir könnten auch zuerst die Freibetragsregelungen
ändern, dann die Kompetenz in die Länder geben und
anschließend das Gesetz abschaffen.
({1})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kauch?
Nein, ich möchte erst zu Ende vortragen.
Heißt das, dass Sie grundsätzlich keine Zwischenfrage zulassen?
Nein, aber ich glaube, es ist immer gut, wenn man
Widersprüchlichkeiten aufzeigt. Ich wollte vermeiden,
Lothar Binding ({0})
dass die Widersprüchlichkeiten dadurch konterkariert
werden, dass man die Darlegung der logischen Folge
dieser in sich widersprüchlichen Konsequenzen stört.
Wir könnten ja auch sagen, dass wir die Kompetenz
erst in die Länder geben und dann das Recht auf Bundesebene abschaffen, um hinterher den Vorschlag zu machen, uns die Freibetragsregelungen anzuschauen.
Genau daran erkennt man, dass Herr Fahrenschon mit
seinem schönen Eselbeispiel sehr recht hat und dass wir
deshalb nicht auf diese Fährte kommen sollten. Das
würde nämlich genau zu dem führen, was Sie heute auch
wieder reklamieren: Sie wollen die angebliche Untätigkeit der Regierung überwinden, geben sich damit aber
nicht zufrieden. Ich glaube, man merkt sehr schön, dass
man nicht gleichzeitig Beschleuniger und Bremser sein
kann. Das zeigt auch eine gewisse Unehrlichkeit. Umso
wichtiger war es Herrn Westerwelle wahrscheinlich, in
dieser Debatte das Wort Ehrlichkeit zu benutzen.
({1})
In den Anträgen der Opposition geht es um zwei fachliche Schwerpunkte: Erstens geht es um das Urteil des
Bundesverfassungsgerichts vom 17. Juli 2002 hinsichtlich der erbschaftsteuerlichen Unterschiede zwischen
Ehepartnern und Lebenspartnern, zweitens geht es um
die Beschlussfassung des Bundesverfassungsgerichts
vom 7. November 2006 hinsichtlich der Bewertungsunterschiede unterschiedlicher Vermögensarten. Ich glaube, dass das auch die beiden Dinge sind, die wir angehen
müssen.
Daraus ergibt sich auch etwas hinsichtlich der Arbeitsfolgen. Im ersten Schritt hat man nämlich zunächst
die Bewertungsgesetze zu ändern, um überhaupt herauszufinden, worauf man eine Erbschaftsteuer erhebt;
denn dort gibt es heute fundamentale Probleme hinsichtlich der Fragen, was ein Betriebsvermögen ist, was ein
Grundvermögen ist und wie es bewertet wird und wie
man land- und forstwirtschaftliches Vermögen definiert.
Beim Kapitalvermögen ist es etwas einfacher, weil das
heute schon anhand des Verkehrswertes ermittelt wird.
Erst im zweiten Schritt, nachdem also diese Bewertungsfragen geklärt wurden, lohnt es sich, über die Anpassung des Erbschaftsteuerrechts in allen anderen Fällen nachzudenken. Erst in dieser Phase lohnt es sich
auch, Spezialfälle, wie die Freibeträge bei eingetragenen Lebenspartnerschaften, zu regeln. Ich glaube, dass
es auch klug ist, so vorzugehen.
Apropos Beschleunigen des Regierungshandelns:
Heute ist tatsächlich ein guter Tag; denn heute tagt im
Bundesrat der Finanzausschuss. Im Anschluss daran tagt
die Finanzministerkonferenz der Länder. Gerade heute
wird die Arbeitsgruppe der 16 Länder, die sich mit diesen Bewertungsfragen befasst, der FMK ihre ersten Vorschläge zu einer soliden erbschaftsteuerlichen Regelung
der Bemessungsgrundlage vorlegen. Ich glaube, dass
heute ein guter Tag ist, um dieses Thema zu diskutieren.
Aber man sollte sich auf diesen Schwerpunkt beschränken, statt beliebig alles mit einzubeziehen, was einem
dazu einfällt.
Wie wir wissen, führt die weitgehende Übernahme
der Steuerbilanzwerte bei der Bewertung von Betriebsvermögen systematisch an einer korrekten Lösung vorbei.
({2})
Wenn wir im Gesetzentwurf eine systematische Fehlbewertung zugrunde legen, dann widerspricht das einer
vernünftigen Steuergesetzgebung. Differenzen zwischen dem Verkehrswert eines Wirtschaftsguts und seinem niedrigeren Buchwert müssen gesetzlich abgebildet
und aufgefangen werden.
Ähnlich komplex stellt sich die Rechtslage bei bebauten Grundstücken dar. Denn das Ertragswertverfahren,
das wir mit einem Einheitsvervielfältiger versehen, führt
ebenfalls systematisch zu ungerechten Bewertungszusammenhängen. Auch das muss überwunden werden.
Wenn wir unser Ziel quasi systematisch verfehlen,
dann wird deutlich, wie komplex die Aufgabe ist, die wir
den Ländern übertragen haben. Noch komplizierter wird
es bei Erbbaurechten und mit Erbbaurechten belasteten
Grundstücken. Denn der Grundbesitz wird auch hier
mit einem konstanten Faktor von 18,6 bewertet.
({3})
Auch damit wird das Ziel systematisch verfehlt. Die Regelung führt an einer gerechten Besteuerung vorbei. Auf
die unbebauten Grundstücke will ich an dieser Stelle
nicht näher eingehen.
Sie wundern sich und regen sich auf, aber Sie müssen
Verständnis dafür haben, dass ich als Finanzpolitiker
rede und mich deshalb mit der Erbschaftsteuer befasse.
Unsere Rechtspolitiker haben die anderen Sachverhalte
bereits hinreichend beleuchtet.
({4})
Ich konzentriere mich im Regelfall auf die Themen, in
denen ich mich etwas auskenne. Ich glaube, es ist auch
klug, dazu Stellung zu nehmen.
({5})
Noch komplizierter verhält es sich bei den Anteilen
an Kapitalgesellschaften, bei denen es die zu schätzenden, nicht börsennotierten Anteile zu beachten gilt. Auch
dabei reicht gegenwärtig die Rechtsgrundlage nicht aus.
Deshalb glaube ich, dass wir gut beraten sind, uns mit
diesen Themen auseinanderzusetzen und uns mit den
Vorschlägen der Arbeitsgruppe zur Schaffung der gesetzlichen und strukturellen Voraussetzungen für eine
kluge zukünftige Erbschaftsteuerregelung zu befassen.
Ich glaube, dann können wir alle weiteren Probleme in
diesem Kontext lösen.
Schönen Dank.
Lothar Binding ({6})
({7})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich nun
dem Kollegen Michael Kauch.
Herr Kollege, da Sie leider keine Zwischenfrage zugelassen haben, möchte ich Ihnen - weil Sie die FDP
ernst nehmen, wie Sie gesagt haben ({0})
auf diesem Wege mitteilen, welche Beschlüsse wir auf
dem Bundesparteitag gefasst haben.
Wir haben erstens beschlossen, dass wir die Gesetzgebungskompetenz für die Erbschaftsteuer auf die Länder übertragen wollen. Dazu ist eine Zweidrittelmehrheit
in beiden Häusern des Parlaments notwendig.
Zweitens ist ein Änderungsantrag abgelehnt worden,
in dem die Abschaffung der Erbschaftsteuer gefordert
wurde.
Drittens wird die FDP-Bundestagsfraktion in Anbetracht der Gesetzgebungskompetenz des Bundes, die für
eine Reform der Erbschaftsteuer genutzt werden soll, eigene Vorschläge zur Erbschaftsteuerreform vorlegen.
Dazu gehören viele Punkte. Sie haben schon einige angesprochen. Dazu gehört aber auch das Thema, über das
wir heute schon gesprochen haben. - So viel zur Klarstellung, was die FDP möchte.
({1})
Herr Kollege, wollen Sie etwas erwidern?
Nein, ich verzichte.
Dann schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen16/2087, 16/3423 und 16/5184 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das
ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlos-
sen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 d
sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 c auf:
33 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Pflichtversicherungsgesetzes
und anderer versicherungsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 16/5551 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Deutsches Mobilfunk Forschungsprogramm
fortsetzen
- Drucksache 16/4762 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick
Döring, Hans-Michael Goldmann, Horst Friedrich ({2}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Überregulierung in der Sport- und Freizeitschifffahrt verhindern
- Drucksache 16/5269 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3})
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Tourismus
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bodo
Ramelow, Ulla Jelpke, Hüseyin-Kenan Aydin,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Überwachung von Abgeordneten durch den
Verfassungsschutz beenden
- Drucksache 16/5455 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({4})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
ZP2a)Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Verbraucherinformation
- Drucksache 16/5723 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({5})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Mechthild Dyckmans, Sabine Leutheusser-Schnarren10744
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
berger, Jörg van Essen, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Verfahrensrechte in Strafverfahren in der Europäischen Union
- Drucksache 16/5606 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({6})
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jens
Ackermann, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, Kerstin Andreae, Hüseyin-Kenan Aydin
und weiterer Abgeordneter
Ergänzung des Untersuchungsauftrages des
1. Untersuchungsausschusses
- Drucksache 16/5751 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist auch das so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 34 a bis o auf.
Dabei handelt es sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 34 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Rindfleischetikettierungsgesetzes
- Drucksache 16/5338 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({7})
- Drucksache 16/5739 Berichterstattung:
Abgeordnete Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Marlies Volkmer
Dr. Kirsten Tackmann
Ulrike Höfken
Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5739, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 16/5338 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte nun diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf auch in der dritten Beratung einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Ablösung des Abfallverbringungsgesetzes
und zur Änderung weiterer Rechtsvorschriften
- Drucksachen 16/5384, 16/5614 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({8})
- Drucksache 16/5767Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Brand
Gerd Bollmann
Horst Meierhofer
Sylvia Kotting-Uhl
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/5767, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 16/5384 und 16/5614 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf
in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei
Gegenstimmen der FDP-Fraktion und Enthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu den Internationalen Gesundheitsvorschriften ({9}) ({10}) vom 23. Mai 2005
- Drucksache 16/5387 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({11})
- Drucksache 16/5651 Berichterstattung:
Abgeordnete Elisabeth Scharfenberg
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5651, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/5387 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf
in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion der FDP und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion Die
Linke angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in
der zweiten Lesung angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 d:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Aufhebung des Freihafens Bremen
- Drucksache 16/5580 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({12})
- Drucksache 16/5750 Berichterstattung:
Abgeordneter Ortwin Runde
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5750, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/5580 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf
in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses
angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf auch in dritter Beratung mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({13}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Patrick Döring, Horst Friedrich ({14}), Hans-Michael Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Schienenanbindung des Jade-Weser-Ports
sicherstellen
- Drucksachen 16/2091, 16/3670 Berichterstattung:
Abgeordneter Enak Ferlemann
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3670, den Antrag der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/2091 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkte 34 f bis 34 o: Das sind die Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 34 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 232 zu Petitionen
- Drucksache 16/5637 Wer stimmt dafür? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 232 ist damit mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 233 zu Petitionen
- Drucksache 16/5638 Wer stimmt dafür? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 233 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 234 zu Petitionen
- Drucksache 16/5639 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 234 ist ebenfalls mit
den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 235 zu Petitionen
- Drucksache 16/5640 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 235 ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion der FDP und
der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 j:
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 236 zu Petitionen
- Drucksache 16/5641 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 236 ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP und der Fraktion
Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 237 zu Petitionen
- Drucksache 16/5642 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 237 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion der FDP und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen
der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 238 zu Petitionen
- Drucksache 16/5643 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 238 ist damit mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 239 zu Petitionen
- Drucksache 16/5644 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 239 ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der
Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 240 zu Petitionen
- Drucksache 16/5645 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 240 ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion der
FDP und der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 o:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24})
Sammelübersicht 241 zu Petitionen
- Drucksache 16/5646 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 241 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Damit kommen wir zum Zusatzpunkt 3:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der FDP
Haltung der Bundesregierung zu den wirtschafts- und finanzpolitischen Vorstellungen
von Bundeswirtschaftsminister Glos
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Rainer Brüderle für die FDP-Fraktion
das Wort.
({25})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Bundeswirtschaftsminister hat mit seinem Papier „Goldener Schnitt 2012“ die Zeichen der Zeit im Kern richtig
erkannt.
({0})
Die derzeitige gute wirtschaftliche Entwicklung erfordert es, dass wir steuerliche Entlastungen und Haushaltssanierungen vornehmen. Man muss es nur schneller machen.
Haushaltssanierung und steuerliche Entlastung - Stichwort Steuerreform - sind zwei Seiten einer Medaille.
Jetzt müssen auch die Arbeitnehmer und die Selbstständigen durch eine einfache, gerechte und niedrigere
Steuer eine Entlastung erfahren. Sie dürfen nicht mit einer Fata Morgana jenseits der nächsten Bundestagswahl
vertröstet werden. Jetzt muss man entsprechende Maßnahmen anpacken, weil die wirtschaftliche Entwicklung
dies jetzt hergibt.
({1})
Unser Goldener Schnitt ist, die eine Hälfte der Steuermehreinnahmen zur Steuersenkung und die andere
Hälfte zur Haushaltssanierung zu verwenden, und zwar
jetzt und nicht in ferner Zukunft.
Herr Glos hat recht: Die Sozialabgaben müssen reduziert werden. Aber die Große Koalition macht das Gegenteil. Sie müsste zur Entlastung bei den Lohnnebenkosten die sozialen Sicherungssysteme intelligenter,
zukunftsfähiger und effizienter organisieren. Aber genau
das tut sie nicht; sie erhöht nur die Beiträge. Man kann
daher nur mahnend feststellen: Die Regierung schafft es
noch nicht einmal bei guter Konjunktur, eine Entlastung
bei den Lohnnebenkosten in nennenswertem Umfang
auf den Weg zu bringen.
Äußerste Vorsicht ist bei dem geboten, was Herr Glos
fordert, nämlich ein Programm für zusätzliche Ausgaben, quasi ein Investitionsprogramm. Wir haben kein
Ausgabenproblem; wir haben ein Strukturproblem auf
der Ausgabenseite. Die Schwerpunkte sind falsch gesetzt. Die Investitionen wurden zu wenig vorangebracht;
man geht nicht an die Subventionen und an den Konsumsektor heran. Deshalb muss es auf der Ausgabenseite eine Umstrukturierung geben. Man sollte aber nicht
an eine Steigerung der Ausgaben denken. Hier liegt der
Bundeswirtschaftsminister falsch.
({2})
Aber immerhin hat Minister Glos eine Zielmarke gesetzt. Es ist eine Art Selbstverpflichtung, die er öffentlich kundgetan hat. Daran wird man ihn noch messen
müssen. Bloße Ankündigungen helfen nicht weiter. Es
bedarf der konkreten Umsetzung. Man darf nicht bei
Handlungsanweisungen stehen bleiben, die erst in
30 Jahren gelten. Jetzt muss angepackt werden.
Herr Glos spricht in seinem Papier davon, dass ein
Tugendkreislauf eingeleitet werden soll. Für Tugend
kann es nie zu früh sein. Er soll ruhig schon einmal anfangen, in Tugend die Strukturen zu verändern, damit es
gibt, was wir brauchen, nämlich ein auf Dauer höheres
Wachstum und eine wirtschaftliche Dynamik, die langfristig angelegt ist und unser Land voranbringt.
Herr Glos will mit seinem Konzept dem Kabinett eine
Art Keuschheitsgürtel gegen falsche politische Empfängnis anlegen. Seine Kollegen verweigern sich aber
offenbar. Man hört, dass die Kanzlerin dagegen ist. Die
SPD betrachtet das Papier als Provokation, und die
CDU/CSU ist damit beschäftigt, ihre angebliche Verhinderung des Mindestlohns zu feiern, obwohl sie ihn durch
die Hintertür einführt. Sie sollten sich mit den Kernüberlegungen von Herrn Glos, die - ich wiederhole es - richtig sind, beschäftigen. Es muss aber mehr sein als eine
Medieninszenierung.
({3})
Es muss eine Umsetzung erfolgen - und zwar jetzt -,
sonst wird aus seinem goldenen Schnitt schnell eine goldene Ananas.
Die Überlegungen sind also richtig. Die Regierung
weigert sich aber, wirtschaftspolitischen Sachverstand
walten zu lassen.
({4})
Das ist leider so. Deshalb muss der Wirtschaftsminister
auf den Tisch hauen. Franken gelten als mutige Menschen. Ich wünsche ihm den Mut, nicht nur Papiere in
die Öffentlichkeit zu bringen, sondern sie auch umzusetzen. Gemessen werden Sie an den Taten.
({5})
Auch für Christdemokraten gilt: Diejenigen, die das
nicht schaffen, erreichen das Himmelsreich nicht.
({6})
Herr Andres, Sie verstehen es anscheinend nicht; es
ist immer das Gleiche. Sie sollten einmal nachlesen, was
Ihr Kollege Glos geschrieben hat. Das ist im Kern richtig. Er muss es nun umsetzen. Wenn Sie ihn dabei unterstützten, würden Sie etwas Vernünftiges tun.
({7})
Dann hätte ich großen Respekt vor Ihnen. Aber ich
fürchte, Sie weigern sich wie immer, das Richtige zu tun.
Ich gebe die Hoffnung nicht auf: Irgendwann beugen
auch Sie sich der Wahrheit.
Vielen Dank.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Laurenz Meyer für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Brüderle, ich
kann nachempfinden, dass das für Sie verdammt schwierig ist: Da kommt etwas auf den Tisch, was Sie eigentlich ganz gut finden, und dann sollen Sie immer noch daran herumkritisieren. Es ist klar, dass Ihnen das
schwerfällt. Sie sprachen vorhin von der goldenen Ananas. Ich habe den Eindruck, Sie haben vorhin extra in
eine Zitrone gebissen, damit Sie überhaupt so ein Gesicht hingekriegt haben.
({0})
Worum geht es eigentlich wirklich bei dem, was hier
vorliegt? Ich finde, es ist gut, dass wir uns vor dem Hintergrund der Vorschläge von Michael Glos einmal
grundsätzlich und, wie ich hoffe, nicht nur heute, sondern über längere Zeit mit der Frage beschäftigen: Wie
können wir das, was wir angefangen haben, was Teil der
Koalitionsvereinbarung und Teil der Genshagener Beschlüsse ist, verstetigen und dafür Sorge tragen, dass die
Entwicklung, die sich im Wachstum der Volkswirtschaft,
auf dem Arbeitsmarkt und bei den öffentlichen Finanzen
zeigt, fortsetzt und nicht eine konjunkturell bedingte
Episode bleibt?
Herr Brüderle, ich bitte Sie, an der Stelle ganz ernsthaft nachzudenken; das meine ich keinesfalls polemisch.
Wir müssen darüber nachdenken, wann zusätzliche
Maßnahmen greifen müssen. Für welche Zeitpunkte
müssen wir Überlegungen anstellen? Genau darum geht
es. Wir haben jetzt eine gute wirtschaftliche Entwicklung. In Genshagen ist übrigens beschlossen worden, mit
öffentlichen Investitionsprogrammen Forschung und
Entwicklung zu fördern. Darauf möchte ich Sie aufmerksam machen. An anderer Stelle begrüßen Sie das,
und hier kritisieren Sie es. Sie haben das Papier von Michael Glos doch sicher gelesen; das unterstelle ich zumindest.
({1})
Laurenz Meyer ({2})
Darin schlägt er eine Ausgabensteigerung von 0,1 Prozent vor. Wenn wir 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes
für den Bereich Forschung und Entwicklung ausgeben
wollen, dann ist das nur möglich, wenn wir ein kontinuierliches Wirtschaftswachstum und steigende Steuereinnahmen verzeichnen können. Darauf ist die Aussage
ausdrücklich bezogen. Wenn die Einnahmen steigen,
dann können auch die Ausgaben steigen, wenn wir nicht
unglaubwürdig werden wollen. Es ist übrigens eine Riesenaufgabe für unsere Haushälter hier im Bundestag, daran mitzuwirken und diese Erwartungen zu erfüllen. Wir
sind sehr dafür, dass die entsprechenden Vorgaben eingehalten werden.
({3})
Michael Glos schlägt vor, den Prozess zu verstetigen.
Wir müssen zusätzliche Entlastungen bei den Beiträgen
zur Sozialversicherung erreichen. Wir haben immer den
Zusammenhang zwischen sinkender Arbeitslosigkeit,
mehr Beschäftigung, Mehreinnahmen in den sozialen
Sicherungssystemen und Steuermehreinnahmen betont.
Es zeigt sich, dass der Vorrang für Arbeit, den wir immer
wieder gepredigt haben und der immer wieder von verschiedenen Leuten infrage gestellt wurde, der entscheidende Faktor schlechthin ist. Die beste Sozialpolitik besteht darin, die Menschen in Arbeit zu bringen, und die
beste Finanzpolitik ist das darüber hinaus auch noch.
Das gilt es zu beachten.
({4})
Wir sollten über eines grundsätzlich in diesem Haus
über die Parteigrenzen hinweg weiter diskutieren. Michael Glos sagt, dass wir in den Jahren ab 2010 Steuersenkungen vornehmen und den Menschen zurückgeben
müssen, was ihnen insbesondere durch die Inflation genommen wird. Ich bin im Prinzip dafür, dass man eine
Anpassungsklausel in unser Steuerrecht einführt.
({5})
- Ich bin dafür, dass wir über eine Indexierung reden,
({6})
weil in unserem System inflationsbedingt dauerhafte
Steuererhöhungen angelegt sind. Das ist eine Sache, die
wir nicht für gut halten können, wenn wir den Leuten
nicht ständig mehr Steuern abverlangen wollen. Das ist
völlig klar.
Ich glaube, dass wir in diesem Parlament über einen
Punkt einmal grundsätzlich reden sollten, nämlich über
die richtige Reihenfolge. Ich persönlich bin dafür, dass
wir zunächst darüber sprechen, die versicherungsfremden Leistungen nicht mehr über die Sozialversicherungssysteme, sondern über Steuern zu finanzieren.
({7})
- Natürlich. Diese Frage wird im dem Glos-Papier implizit behandelt. Es ist die Rede davon, dass man die Sozialabgaben senken will. ({8})
Ich glaube, dass das die richtige Reihenfolge wäre.
Es besteht ein eindeutiger Zusammenhang zwischen
den Beiträgen zu den sozialen Sicherungssystemen und
dem Wirtschaftswachstum. Wir sind auf dem richtigen
Weg: Wachstum, mehr Beschäftigung, mehr öffentliche
Ausgaben in den Bereichen Forschung und Entwicklung
- dort werden die Weichen für die Zukunft gestellt - und
weitere Reformen. Dadurch haben wir einen Prozess in
Gang gesetzt, den wir über diese Wahlperiode hinaus
verstetigen müssen, wenn wir für unsere Bevölkerung
das Beste erreichen wollen. Das hat Michael Glos vorgetragen, nicht mehr und nicht weniger. Das ist aus meiner
Sicht völlig unstrittig. Wir sollten uns alle mit den Einzelheiten beschäftigen, wenn wir uns für die Menschen
dieses Landes einsetzen.
Vielen Dank.
({9})
Nun hat der Kollege Dr. Herbert Schui für die Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebhaber politischer Lyrik kommen bei Minister Glos’ Papier
„Goldener Schnitt 2012“ auf ihre Kosten. Bis 2012 wollen Sie mit einem imaginären Koalitionspartner einen
„Tugendzirkel“ in Gang setzen; Staat und Wirtschaft befänden sich schon jetzt in einem „Tugendkreislauf“.
Denken wir dagegen ganz traditionell weiter in Wirtschafts- und nicht in Tugendkreisläufen, dann kommen
wir zu folgenden Schlüssen: Die Konjunkturzyklen in
Deutschland haben eine Länge von sieben bis zehn Jahren. Der letzte Zyklus von 1993 bis 2003 war außergewöhnlich lang. Was wird geschehen, wenn der nächste
Tiefpunkt schon 2010 eintritt, der Abschwung also bereits im Herbst 2008 einsetzt?
Loslegen wollen Sie im kommenden Jahr mit einer
Verringerung des Staatsanteils am Bruttoinlandsprodukt.
Welche tugendsame Koalition soll das beschließen? Die
Staatsausgaben für die Infrastruktur, also die öffentlichen Investitionen, und für die Berufsausbildung sollen
trotz der Senkung dieses Anteils steigen. Folglich müssen die Ausgaben für den öffentlichen Dienst und für Soziales allgemein erheblich gekürzt werden. „Entlastungen, z. B. im Bereich der sozialen Vorsorge“ sind in
Ihrem Papier „Goldener Schnitt 2012“ ausdrücklich vorgesehen. Es stellt sich die Frage, ob das familien- und
kinderpolitische Programm von Frau von der Leyen ungeschoren bleibt.
Ein Investitionsprogramm legen Sie bei dieser Gelegenheit allerdings nicht vor. Sie planen vielmehr eine in
jeder Beziehung unsoziale Haushaltskonsolidierung.
({0})
Sie wird die Armen ärmer machen und die Hilfsbedürftigen noch weniger versorgen.
Diese Methode der Haushaltskonsolidierung wird das
Wirtschaftswachstum abbremsen - das ist der entscheidende Punkt -; denn wenn Sie die Staatsausgaben im
Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt absenken, dann
fehlt es an gesamtwirtschaftlicher Nachfrage. Damit arbeitet Ihre Politik darauf hin, dass der Konjunkturabschwung tatsächlich schon nach sieben Jahren einsetzt,
also im Herbst 2008. Die Arbeitslosigkeit nimmt dann
wieder zu. Wollen Sie in dieser Lage tatsächlich die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung absenken?
({1})
Schließlich sind mehr Arbeitslose zu versorgen. Werden
Sie dann das Arbeitslosengeld absenken? Ich traue Ihnen
das zu.
({2})
Die Frage ist nur, ob Ihr Koalitionspartner das mitmacht,
weil er sich an schlechte Umfrageergebnisse vielleicht
bereits restlos gewöhnt hat, weil ihn also im Grunde genommen nichts mehr erschüttern kann.
Im Jahr 2009 wollen Sie die Sozialabgaben um
1,75 Prozentpunkte senken. Das bedeutet: Wer im Monat
brutto 3 500 Euro verdient, der hat dann monatlich netto
rund 30 Euro mehr. Wird er aber arbeitslos oder geht er
in Rente, dann hat er weniger, weil die Sozialkassen
eben kein Geld haben.
({3})
- Ich habe von „eindreiviertel Prozent“ gelesen. Aber
kleiden Sie das bitte in eine Frage, damit mir die Redezeit nicht flöten geht! ({4})
Wer aber Unternehmer ist und 100 Leute beschäftigt,
spart jeden Monat 3 000 Euro Sozialabgaben. Ihre Rechnung ist jetzt, dass die Beschäftigten sich für 30 Euro im
Monat dafür einsetzen, dass ein Unternehmer mit
100 Leuten eine Entlastung von 3 000 Euro im Monat
erfährt. - Ich hoffe sehr, dass sich da niemand einseifen
lässt.
Überhaupt - letzter Punkt - haben Sie eine wirklich
merkwürdige Theorie. Sie schreiben:
Günstige Steuern schaffen Arbeitsanreize - gerade
für die Fach- und Führungskräfte und die mittelständische Wirtschaft, die im Kern die wirtschaftliche Dynamik mitverantworten.
Damit behaupten Sie, Fach- und Führungskräfte sowie
die mittelständischen Unternehmer hätten bei geringem
Einkommen weniger Anreiz, zu arbeiten. Und umgekehrt: Viele Leute verdienen 3 Euro in der Stunde oder
- allgemein gesagt - viel weniger als den von uns, von
der Linken, geforderten gesetzlichen Mindestlohn. Da
behaupten Sie offenbar, dass ein geringer Lohn den Arbeitsanreiz nicht senkt; sonst würden Sie den gesetzlichen Mindestlohn ja befürworten.
Weiter: Wenn wegen Hartz IV vor allem die vormaligen Bezieher von Arbeitslosenhilfe auf halbe Rationen
gesetzt werden, dann nennen Sie das „Anreizverbesserungen am Arbeitsmarkt“. Damit behaupten Sie: Die Arbeitsbereitschaft der einen Gruppe nimmt bei höherem
Einkommen offenbar zu, die Arbeitsbereitschaft der anderen nimmt bei höherem Einkommen ab.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.
Ich bin sofort am Schluss. - Worin sehen Sie den
Grund für diesen fundamentalen Unterschied zwischen
den beiden Gruppen? Welche sozialwissenschaftliche
Theorie haben Sie dafür?
({0})
Ich bin sicher: Wenn Sie bei den Geistes- und Sozialwissenschaften weiter kürzen, dann werden Sie erreichen,
dass nur noch Ihre Theorie vorkommt.
Danke.
({1})
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Rainer Wend für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Herr Staatssekretär Schauerte, ich weiß nicht, ob
Sie oder Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schon
den Mut hatten, dem Bundeswirtschaftsminister die öffentlichen Reaktionen auf sein Papier vorzulegen.
({0})
Vielleicht beginnen wir mit den positiven Äußerungen. Positiv haben sich die FDP und namentlich der Kollege Brüderle geäußert. Herr Brüderle hat heute noch
einmal gesagt: Das Papier ist in den Kernüberlegungen
richtig; das bewegt sich in eine vernünftige Richtung.
({1})
Parallel dazu hat Die Linke durch Gesine Lötzsch erklärt: Glos nimmt Kurs auf Die Linke.
({2})
Es ist richtig, dass der Wirtschaftsminister ein Investitionsprogramm fordert. Die Bundesrepublik ist im internationalen Vergleich im Rückstand damit. Der Bundesminister übernimmt damit eine alte Forderung der
Linken. - Oder: Es ist gut, dass der Wirtschaftsminister
vor allem die unteren Einkommensgruppen entlasten
will. Auch das ist eine alte Forderung der Linken.
({3})
Herr Staatssekretär, ich glaube, der Bundeswirtschaftsminister muss sich Gedanken machen, wenn ein
Papier gleichzeitig von der FDP und von der Linkspartei
gelobt wird. Dafür kann es nur zwei Erklärungen geben.
Die eine Erklärung ist: Eine der beiden Fraktionen hat es
verpasst, die inhaltliche Tiefe dieses Papiers richtig zu
erfassen.
({4})
Die andere Erklärung ist: Das Papier enthält so viele
Pirouetten, dass es für viele politische Meinungsträger in
diesem Saal möglich ist, es zu unterstützen. - Ich will
einmal offenlassen, welche Erklärung zutrifft.
({5})
So viel zu den Befürwortern.
Jetzt zu den Gegnern. Ich habe gelesen, gestern
Abend habe Merkel in der Koalitionsrunde unmissverständlich klargemacht, was sie von Glos’ Wachstumskonzept halte: Nichts. - Das ist, finde ich, unfair, Herr
Staatssekretär. Dem, der von Tugendzirkel spricht, der
vom Goldenen Schnitt spricht, kann man doch nicht sagen, dass man von einem solchen Papier gar nichts hält.
Deshalb würde ich dem Bundeswirtschaftsminister
gerne ein bisschen entgegenkommen, nachdem ich drei
ideologische Punkte aufgegriffen habe, die ich nicht
teile.
Erster Punkt. Der Bundeswirtschaftsminister erklärt,
die Erfolge, die wir gegenwärtig bei der Wirtschaftspolitik zu verzeichnen haben, seien ausschließlich auf
angebotspolitische Maßnahmen zurückzuführen. Das
überrascht mich. Wir haben damals in den Koalitionsverhandlungen - ich war ja dabei - auf Drängen von
SPD und CSU ein 25-Milliarden-Euro-Programm für Investitionen in die Koalitionsvereinbarung aufgenommen, unter anderem für Häusersanierung, was im Handwerk viele Arbeitsplätze geschaffen hat. Das als eine
angebotspolitische Maßnahme zu bezeichnen, wäre ja
wohl gänzlich absurd. Das ist ein klassisches Beispiel
für eine nachfragepolitische Maßnahme.
({6})
Wenn wir uns von ideologischer Argumentation wegbewegen, stellen wir fest: Die Erfolge, die wir zurzeit zu
verzeichnen haben, resultieren, soweit sie überhaupt auf
politische Maßnahmen zurückzuführen sind, aus einer
Kombination von Angebots- und Nachfragepolitik. Dabei sollten wir bleiben und nicht wieder alte ideologische
Gräben ausheben.
({7})
Zweiter Punkt: Staatsquote. Der Bundeswirtschaftsminister fordert wieder einmal, wir müssten die Staatsquote weiter reduzieren. Ich will nur darauf hinweisen,
dass wir im Vergleich aller EU-Länder inzwischen an
fünftletzter Stelle bei der Staatsquote liegen, also bereits
Erfolge im Sinne des Wirtschaftsministers erzielt haben.
Es stellt sich aber die Frage, ob es wirklich einen automatischen Zusammenhang zwischen der Höhe der
Staatsquote und der Höhe des Wirtschaftswachstums
gibt. So gibt es durchaus Länder mit einer hohen Staatsquote und einem hohen Wirtschaftswachstum wie auch
Länder mit niedriger Staatsquote und niedrigem Wirtschaftswachstum. Die Höhe der Staatsquote zu einem
erstrangigen Faktor bei der Wirtschaftspolitik zu machen, halten wir Sozialdemokraten nach wie vor für verfehlt.
Dritter Punkt: Steuern und Abgaben. Ja, wer wünscht
sich nicht niedrigere? Senkungen werden sicherheitshalber erst für die nächste Legislaturperiode angekündigt.
Aber hier ist doch eine Schwerpunktsetzung gefragt,
meine Damen und Herren: Was wollen wir in erster Linie? Wir Sozialdemokraten wollen in erster Linie zwei
Dinge:
Das Erste ist Haushaltskonsolidierung. Was für ein
Erfolg der Großen Koalition wäre es, wenn wir am Ende
dieser Legislaturperiode sagen könnten, wir müssen keinen einzigen Euro für neue Schulden mehr aufnehmen;
unser Staatshaushalt ist ausgeglichen. Das wäre ein großer wirtschaftspolitischer Erfolg, der bei uns hohen Vorrang genießt.
({8})
Das Zweite ist die Stärkung von Zukunftsinvestitionen. Hier greift, wie ich finde, Herr Glos etwas Richtiges
auf. Wir stehen in der EU an drittletzter Stelle in Bezug
auf die Ausgaben für Bildung im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt und an vorletzter Stelle in Bezug auf die
Investitionen.
Deswegen sagen wir: Lasst uns, bevor wir den Bürgerinnen und Bürgern für die nächste Legislaturperiode
wieder viel versprechen, erst einmal den Haushalt konsolidieren und die Gelder, die uns dann noch als Spielraum bleiben, für Zukunftsinvestitionen ausgeben. Das
ist eine vernünftige Politik. Wenn der Bundeswirtschaftsminister das vorher mit uns besprochen hätte, hätten wir ihm das auch erklärt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Ich erteile das Wort Kollegin Kerstin Andreae, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Wend, Sie haben gesagt, der Bundeswirtschaftsminister müsse sich Gedanken machen, wenn sowohl die FDP als auch Die Linke sein Konzept loben.
Ich glaube eher, der Bundeswirtschaftsminister muss
sich Gedanken machen, wenn der Koalitionspartner in
einer derartigen Art und Weise, unter anderem mit den
Worten „gänzlich absurd“, einen Vorschlag aus dem
Wirtschaftsministerium kommentiert und beurteilt.
({0})
Das lässt wirklich tief blicken, was den Zustand der Großen Koalition angeht. Ich befürchte, dass da noch einiges
auf uns zukommt.
({1})
Tatsächlich finden auch wir es erstaunlich, was aus
dem Hause Glos kommt. Wenn man die letzten anderthalb Jahre überblickt, erstaunt man noch mehr über die
Ankündigungen und Vorschläge, mit denen der Minister
Glos immer wieder losgezogen ist, die er aber letztlich
nicht durchsetzen konnte. Was, bitte, ist in den letzten
anderthalb Jahren tatsächlich aus dem Wirtschaftsministerium gekommen und wurde umgesetzt? Es wurde der
Vorschlag gemacht, die Einkommensteuer zu senken;
tatsächlich ist die Mehrwertsteuer erhöht worden. Es
wurde klar gesagt, das Wirtschaftsministerium stehe zur
Abschaffung des Briefmonopols; es steht nicht dazu. Es
wurde versucht, sich gegen Tiefensee beim Börsengang
der Bahn zu stellen. Das funktionierte nicht. Es wurde
die Mittelstandslücke bei der Unternehmensteuerreform
angesprochen. Wir haben sie genau so umgesetzt. Im
Bereich der Abgeltungsteuer sind Änderungen vorgeschlagen worden. Sie sind nicht durchgesetzt worden.
Wir müssen konstatieren, dass die Vorschläge aus dem
Wirtschaftministerium - manche sind gut, manche sind
nicht gut - nicht durchsetzungsfähig sind, dass die
Koalition dem Wirtschaftsminister Glos keine Rückendeckung gibt.
({2})
Einige Punkte aus dem Programm unterstützen wir ja.
Es ist richtig, die Defizite abzubauen. Aber fangen Sie
beim Bundeshaushalt an. Unter den jetzigen Bedingungen könnten Sie den Bundeshaushalt bis zum Jahr 2009
ausgleichen. Aber was erleben wir? - Wir erleben den
absurden Zusammenhang von Ankündigung, Anspruch
und Wirklichkeit. Jedes Ressort des Kabinetts hat tolle
Vorschläge für weitere Ausgaben. Fangen Sie beim Bundeshaushalt an. Den können Sie bis 2009 ausgleichen.
Das wäre ein realistisches Ziel. Die gesamtstaatliche Betrachtung ist richtig, aber der Bundeshaushalt ist der eigentliche Defizittreiber. Fangen Sie hier an.
({3})
Der zweite Punkt, den Sie in dem Konzept vorschlagen, bezieht sich auf die Belastung durch Steuern und
Abgaben. Die Mehrwertsteuer habe ich bereits angesprochen. Es ist immer gut, zu sagen, man wolle die
Steuern senken. Das kommt gut an und freut die Leute.
De facto haben Sie mit der Mehrwertsteuererhöhung
eine der größten Steuererhöhungen auf den Weg gebracht. Sie kündigen immer wieder Steuersenkungen an
und machen das Gegenteil. Sie kündigen Abgabensenkungen an und machen das Gegenteil. Ich bin nicht der
Meinung, dass im Augenblick die Zeit für Steuersenkungen ist. Verstehen Sie mich da nicht falsch. Dieser Meinung bin ich nicht.
({4})
Ich will nur darauf hinweisen, dass auf der einen Seite
angekündigt und auf der anderen Seite etwas ganz anderes gemacht wird. Wir glauben, Konsolidierung und Investitionen sind der richtige Weg. Deswegen möchte ich
auf diesen dritten Punkt zu sprechen kommen: Sie sagen,
Sie wollen den Anteil öffentlicher Investitionen erhöhen,
und wollen Prioritäten setzen. Das ist ein bisschen verschwiemelt, das heißt, Sie wollen nicht nur in Beton,
sondern auch in Bildung und berufliche Förderung investieren. Wir erkennen immer wieder, dass Sie sehr viel
mehr in den Bereich des Straßenbaus und der Infrastruktur investieren, anstatt wirklich in Bildung und Forschung zu investieren. Dies fänden wir richtig. Investieren Sie in Bildung und Forschung. Hier sind wir weit
hinten dran. Hier müssen wir die Prioritäten setzen. Wir
müssen unseren Standort als Wissensökonomie ausbauen. Das ist unser Kapital, unsere Ressource. Mit
Blick auf den Fachkräftemangel, der auf uns zukommt,
ist es ganz wichtig, dass wir in Bildung und Forschung
investieren.
Die 70 Milliarden Euro, die Sie in dem Programm ansprechen, sind eine Luftbuchung, das sind ungedeckte
Schecks. Ich finde es sehr erstaunlich, dass Sie bis zum
Jahre 2012 eine Wachstumsrate von 3 Prozent anlegen.
Das lässt zunächst einmal jegliche ökonomische, konjunkturelle Grundvoraussetzung außer Acht. Über diesen langen Zeitraum können Sie überhaupt nicht kalkulieren, was die Wachstumsrate angeht. Das funktioniert
nicht. Wenn wir als Rot-Grün das gemacht hätten, wenn
wir es gewagt hätten, über einen solchen Zeitraum in
dieser Größenordnung Wachstumsraten anzusetzen,
dann hätte ich Ihre Rede hören wollen.
({5})
Ich habe bereits erwähnt, dass Sie keine Rückendeckung haben. Wir haben gerade vom Kollegen Wend geschildert bekommen, dass die SPD nicht dahintersteht.
Gleichlautende Meldungen gab es ja heute auch von der
Kanzlerin und vom Finanzministerium.
Lassen Sie mich noch auf einen Punkt eingehen, der
- das verblüfft mich - immer wieder fehlt: Wenn man
heute Wirtschaftspolitik bespricht, sich Gedanken darüber macht, wie die wirtschaftliche Entwicklung eines
Landes vonstatten gehen soll, dann muss man zwingend
die Ökologie mit berücksichtigen. Mich erstaunt es immer wieder, dass Sie ein Programm bis zum Jahr 2012
auflegen, eine Perspektive aufzeigen, sich aber keine
Gedanken darüber machen, was es eigentlich heißt, jährlich ein dreiprozentiges Wachstum zugrunde zu legen.
Was ist der Preis, der für dieses Wachstum gezahlt wird?
Wie kommen wir hin zu einem ressourcenschonenden
Wirtschaften? Wie kommen wir hin zu einer vom
Wachstum unabhängigeren Wirtschaft, damit wir nicht
in die Knie gehen, wenn es einmal nicht so gut läuft?
Wie schaffen wir es, von endlichen Ressourcen unabhängiger zu werden? Wie bekommen wir die Energiewende hin? Wir sagen: Eine gesunde ökonomische
Entwicklung schaffen Sie nur mit einer gesunden ökologischen Entwicklung. Jedes Wirtschaftsprogramm, das
heute geschrieben wird, muss die Ökologie mit berücksichtigen, denn sonst greift es zu kurz und sonst nehmen
Sie die wichtigen notwendigen Herausforderungen, vor
denen wir stehen, nicht mehr an.
Deswegen können wir, was dieses Programm aus dem
Hause Glos angeht, nur sagen: Es ist eine Ankündigung,
es ist nicht seriös gerechnet, und vor allem lässt es den
entscheidenden Punkt der Ökologie außer Acht.
Vielen Dank.
({6})
Ich erteile das Wort Kollegen Alexander Dobrindt,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Andreae, Sie
wollten hier darstellen, dass es keine Rückendeckung für
Michael Glos gibt. Falscher kann man die Situation eigentlich nicht einschätzen, als Sie das gemacht haben.
({0})
Deutschland ist Gipfelstürmer beim wirtschaftlichen
Wachstum, und Michel Glos ist der Bergführer des Aufschwungs; das muss man hier festhalten.
({1})
Damit nicht genug: Mit dem Programm, das er vorgelegt hat - konsolidieren, investieren und die Bürger entlasten -, ist für alle deutlich geworden - das zeigen auch
die Reaktionen der Menschen vor Ort -, dass Michel
Glos der wirtschaftliche und finanzpolitische Vordenker
dieser Bundesregierung ist. Auch das muss man festhalten.
Lieber Kollege Wend, ich muss hier auch auf Sie eingehen. Wir sind ja zurzeit in einer gemeinsamen Koalition.
({2})
Der Kollege Poß hat in den Medien verkünden lassen,
dass es sich hier unter Umständen um eine „Provokation
des sozialdemokratischen Regierungspartners“ handeln
könnte. Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn Sie sich jetzt
schon von guten Ideen provozieren lassen, dann wird es
in den nächsten Wochen vielleicht noch schwer für Sie,
denn Sie müssen mit weiteren guten Ideen aus der Union
rechnen. Aber wir werden damit zurechtkommen. Ihr
Kollege hat auch gesagt: „warme Worte, falsche Versprechungen und ungedeckte Schecks“. Ich bin heute
gnädig mit Ihnen, weil wir in einer gemeinsamen Koalition sind. Aber wer sieben Jahre Rot-Grün erlebt hat,
weiß, was ungedeckte Schecks, warme Worte und falsche Versprechungen sind.
({3})
Herr Brüderle, der Grund für eine Aktuelle Stunde
über dieses Thema erschließt sich mir auch nach Ihrer
Rede ehrlich gesagt noch nicht ganz. Sie haben den
Wirtschaftsminister mehr gelobt als kritisiert. Vielleicht
war es ein kleiner Versuch einer Bewerbungsrede als
Parlamentarischer Staatssekretär bei Minister Glos;
({4})
aber ich bin mir nicht ganz sicher. In früheren Aussagen
bezüglich unserer Politik, gerade nach Genshagen, haben Sie deutlich gemacht, dass wir die Konjunktur
abwürgen und das kleine Pflänzchen Wachstum niedertreten würden und dass sich bei unserem Wirtschaftsprogramm nichts mehr entwickeln würde. Die Geschichte
hat gezeigt, dass Sie da vollkommen falsch gelegen haben. Das Investitionsprogramm der Bundesregierung,
die Mittelstandsförderung und auch die Reduzierung der
Lohnnebenkosten
({5})
sind für den Aufschwung, den die Menschen in Deutschland heute erleben, zum großen Teil verantwortlich. Das
ist das, was Wirtschaftsminister Glos in der Bundesregierung durchgesetzt hat.
({6})
Auf dieser Basis will der Wirtschaftsminister weiterarbeiten. Konsolidieren, investieren und entlasten
({7})
heißt natürlich auch, die Probleme in der jetzigen Zeit zu
lösen, statt sie auf die Zukunft und die nächste Generation zu verschieben. Das ist ein entscheidender Punkt,
den man sich merken muss. Die Menschen haben früher
immer gern gesagt: Ich will, dass es meinen Kindern einmal besser geht. - Der Leitgedanke des Papiers von
Michel Glos ist, dass wir die bestehenden Probleme
heute angehen und lösen, statt sie auf die Zukunft zu verschieben. Es ist notwendig, sie in der Gegenwart zu lösen, damit wir eine bessere Zukunft für die Generation
unserer Kinder erwirtschaften können.
Dafür stehen die Vorschläge von Michel Glos: öffentliche Verschuldung abbauen, Steuern und Abgaben dauerhaft senken und öffentliche Investitionen erhöhen. Ich
kann nicht verstehen, wenn Kolleginnen und Kollegen
sagen, das sei aber beim aktuellen Regierungshandeln
nicht festzustellen. Wir sind dabei, die Verschuldung abzubauen; das ist hier deutlich dargestellt worden. Diesen
Weg werden wir konsequent weitergehen. Das hat
Michel Glos eingefordert.
({8})
Wir sind dabei, die Lohnnebenkosten zu senken. Wir
haben dies bei der Arbeitslosenversicherung bewiesen.
Wir haben sehr deutlich klargemacht, welche Wirkungen
das auf das Wirtschaftswachstum und auf die Beschäftigung hat. Diesen Weg wollen wir weiter beschreiten.
In allen Beschlüssen, die zurzeit getroffen werden,
steht deutlich: Öffentliche Investitionen werden erhöht. - Auch Michel Glos fordert das weiterhin ein. Deswegen ist sein Programm ein echtes Zukunftsprogramm.
Deswegen ist es ein Programm, das über die jetzige
Wahlperiode hinausreicht. Deswegen ist es ein Programm, das die Wählerinnen und Wähler bestätigen
werden.
Danke schön.
({9})
Ich erteile das Wort Kollegin Ulrike Flach, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Dobrindt, es wäre ja schön, wenn Herr Glos als
Bergführer die Verschuldung abbauen würde. Nur, diese
Regierung kann froh sein, wenn sie überhaupt die Neuverschuldung in den Griff bekommt; das ist doch der
Punkt. Sie machen den Bürgern vor, Sie würden an die
Verschuldung herangehen und sie nach unten drücken.
In Wirklichkeit kämpfen Sie aber jeden Tag gegen die
verschiedenen Ansprüche der Minister - diese sind übrigens Ihre eigenen - und müssen dafür sorgen, dass die
Neuverschuldung, das, was neu aufgenommen wird,
endlich auf null zurückgefahren wird. So stelle ich mir
einen Bergführer nicht vor - und offensichtlich auch die
gesamte Regierung nicht, wenn ich die Resonanz dazu
so höre.
({0})
Wenn es ein Wort gibt, welches auf Herrn Glos besser
zutrifft als die Bezeichnung „Bergführer“, dann ist es das
Stichwort „Beständigkeit“. Er hat in den letzten Monaten - da stimme ich Ihnen, Frau Andreae, völlig zu - in
dieser Koalition immer wieder als Brandbombenwerfer
gewirkt.
({1})
- Das hat jetzt einen großen Erfolg bei Ihnen hervorgerufen - das freut mich -, führt aber nicht so richtig zum
Ziel. - Diesmal ist es ein 70-Milliarden-Programm mit
kräftigen Investitionsspritzen und einem eleganten
Schwung von der qualitativen Haushaltssanierung, Herr
Staatssekretär Diller, die Herr Steinbrück uns immer vorträgt, zur reinen Ausnutzung der derzeit guten Konjunktur und nichts anderes. Es geht hier nicht um einen qualitativen Schritt, den ich von einem Wirtschaftsminister
erwarten würde, sondern darum, dass Sie etwas ausnutzen, was Ihnen sozusagen von selbst in die Kassen fließt.
({2})
Dass die Kanzlerin das für unvereinbar mit den Etatplänen für 2008 und der Finanzplanung bis 2011 hält, ist
nun wirklich nicht verwunderlich. Unsere Priorität - das
haben wir Liberale in den letzten Monaten immer wieder
klargemacht - muss in der qualitativen Sanierung liegen.
Gerade dann, wenn es uns gut geht, gerade dann, wenn
die Konjunktur sprudelt, müssen wir dafür sorgen, dass
der Haushalt endlich ins Reine kommt. Denn wann sonst
wollen Sie dies tun? Das ist doch genau der Punkt. Der
Glos’sche Tugendkreislauf - boomende Wirtschaft, steigende Steuereinnahmen, sinkende Schulden und damit
wachsende Gestaltungsspielräume - entbehrt vor diesem
Hintergrund, in der derzeitigen Konstellation, jeglicher
Realität.
({3})
Haushalt sanieren, Lohn- und Einkommensteuer senken
und oben drauf mehr investieren, das ist in dieser politischen Konstellation nicht machbar. Das wäre übrigens
auch mit uns nicht machbar, lieber Herr Schauerte. Ich
kann Herrn Müntefering eigentlich nur zustimmen, der
in diesem Zusammenhang von einem sehr theoretischen
Impuls gesprochen hat. Ich bin einmal gespannt, wie er
das in den nächsten Koalitionsgesprächen umsetzt.
3 Prozent des BIP für Forschung und Entwicklung
auszugeben, hat Herr Glos vorgeschlagen. Bei dieser
Konjunktur sind das bis 2010 75 Milliarden Euro; denn
wir haben ja eine nach oben gehende Konjunktur. Vor
ein paar Jahren waren es noch deutlich weniger. Das ist
haushalterisch - das muss man an dieser Stelle sagen absolut illusorisch und hat mit dem schönen Goldenen
Schnitt absolut nichts zu tun. Herr Steinbrück, auf den
ich mich an dieser Stelle beziehen möchte, hat das sehr
richtig als kein aktuelles Regierungshandeln bezeichnet.
({4})
Wenn Sie denn schon etwas Gutes tun wollen, meine
Damen und Herren von der CDU/CSU, dann bleiben Sie
doch bei seinen ursprünglichen Vorschlägen. Er hat ja
einmal ganz gut angefangen: erst den Haushalt sanieren
und dann die Bürger entlasten; das hat auch Rainer Brüderle eben vorgetragen. Jetzt macht er einen schönen
Sprung, greift den Bürgern in die Tasche und meint, er
müsse ihnen noch etwas schenken. Lassen Sie den Leuten doch das Geld! Dann boomt auch die Wirtschaft. Das
war bisher eigentlich immer die Politik der CDU/CSU.
({5})
Es ist für mich etwas neu, dass wir an dieser Stelle von
der SPD hören müssen, wie man solider mit Steuergeldern umgeht.
Seit zehn Monaten leben wir übrigens mit der Umsetzung Ihres ersten Versuches - lassen Sie mich diesen
kleinen Schlenker in diesem Zusammenhang noch machen -, Arbeitsplätze im wissensorientierten Bereich zu
schaffen: mit der Hightechstrategie. Ich will an dieser
Stelle die Antwort der Bundesbildungs- und -forschungsministerin zitieren, die auf unsere Frage, ob
überhaupt schon ein Erfolg zu merken ist und ob die Arbeitsplätze, die mit solchen Investitionsprogrammen geschaffen werden sollen, schon bestehen, klipp und klar
gesagt hat: Dies ist nicht messbar. Nun setzt Minister
Glos ein Programm auf, das messbare Erfolge hervorbringen soll. Nein, so geht das nicht. Dieses Perspektivpapier, das mit der Kanzlerin Gott sei Dank nicht abgestimmt war, wird ein Flop werden; davon gehen wir aus.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch etwas sagen: Da
ich schon etwas länger in der Politik bin, erinnere ich
mich sehr gut an ein anderes Perspektivpapier, und zwar
von jemandem aus unseren Reihen, von Graf Lambsdorff.
Nun kann man zwar sagen, dass Michel Glos Meilen
oder sogar Lichtjahre von Graf Lambsdorff entfernt ist;
es ist aber wieder einmal so, dass an einer entscheidenden Stelle der deutschen Geschichte plötzlich ein Papier
auf den Tisch gelegt wird und man davon ausgehen
muss, dass es eine Bedeutung hat. Hier ist ein Signal gegeben worden. Seitdem dieses Papier auf dem Tisch
liegt, können wir die Stunden dieser Koalition zählen.
Darüber sind wir erfreut. Das einzig gute Signal ist:
Deutschland braucht eine neue Bundesregierung. Ich
denke, das Perspektivpapier war ein guter Schritt dahin.
({6})
Nun erteile ich dem Parlamentarischen Staatssekretär
Hartmut Schauerte das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist schon erstaunlich, welche unterschiedlichen
Stellungnahmen, Erklärungen, Interpretationsversuche
und Deutungen vorgebracht und welche historischen Zusammenhänge hergestellt werden, wenn der Wirtschaftsminister einen Brief an die Abgeordneten schickt, in
dem er ein Modell für eine in der gegenwärtigen Situation vernünftige Kombination aus Wirtschafts- und
Finanzpolitik vorstellt.
({0})
Er schickt dieses Papier zu einem Zeitpunkt, wo wir
seit 18 Monaten an der Regierung sind. Wir haben
1 Million Arbeitslose weniger, 1 Million Beschäftigte
mehr als zu Beginn, die Zahl der offenen Stellen hat sich
verdoppelt, die Zahl der Pleiten ist um ein Viertel zurückgegangen,
({1})
die Staatsquote ist von 47 auf 45 Prozent gesunken, die
Nettoneuverschuldung ist kraftvoll zurückgeführt worden und das Staatsdefizit ist von 3,7 Prozent auf 1,7 Prozent gesenkt worden; all das nach 18 Monaten.
({2})
Erstmals ist ein Staatsdefizit von null möglich; es ist
in greifbarer Nähe. Die Steuereinnahmen sprudeln kräftig, und zwar nicht, weil wir widersprüchlich gehandelt
haben, Frau Andreae, sondern, weil wir vor der Wahl gesagt haben, dass wir die Mehrwertsteuer erhöhen. Diesen
Mut hat noch keine Partei in einem Wahlkampf gehabt.
Das hätte uns fast das Leben gekostet. Wir haben es getan, weil es notwendig und richtig war.
({3})
Der Bundesfinanzminister hat unsere volle Unterstützung, wenn es darum geht, den Haushalt zu konsolidieren und einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Davon gibt es überhaupt kein Abweichen.
({4})
Über diese Priorität brauchen wir nicht zu diskutieren.
Es steht fest, dass die Konsolidierung der Staatsfinanzen
höchste Priorität hat. Erstmals können wir einen Bundeshaushalt mit null Verschuldung erreichen. Einige Sachverständige sagen, das sei schon 2009 möglich, andere
sagen, es sei 2010 möglich. Ich hoffe, dass es so früh wie
möglich der Fall sein wird. Darüber sollten wir nicht
groß diskutieren. Es ist klar, dass das Priorität hat.
Jetzt komme ich zu der entscheidenden Veränderung,
über die wir uns unterhalten müssen. Hohe Steuereinnahmen und volle Kassen der Sozialversicherungssysteme führen in diesem unserem Lande stets zu neuen Begehrlichkeiten.
({5})
Die Begehrlichkeiten wachsen schneller als die Einnahmen.
({6})
Dass diese Situation so schnell eintreten würde, haben
wir zu Beginn unserer Regierungszeit nicht geglaubt.
Der Turnaround kam schneller als angekündigt. Dass wir
weitergekommen sind, als wir am Anfang gedacht haben, stellen Sie fest, wenn Sie sich unsere Planungen und
Zusagen ansehen. Da ist es absolut legitim und geboten
zu überlegen, mit welcher Strategie man ein Signal aussenden kann, damit die neuen Gestaltungsmöglichkeiten
nicht zerfleddert werden, nicht in neue Programme umgegossen werden, sondern man hart an der Linie bleibt.
Damit befasst sich dieses Modell in besonderem Maße;
das sollte man bitte nicht verkennen.
Es gibt einen zweiten Ansatz. Wir erklären ja im Zusammenhang mit diesem Modell, wie man mit der elenden, wachsenden Staatsverschuldung endlich einmal ins
Reine kommen kann. Das ist eine Sorge, die viele Bürger umtreibt. Ich glaube, da müssen wir Vertrauen dahin
gehend signalisieren, dass wir das beherrschen können.
({7})
Wenn Sie sich das Modell einmal anschauen, dann sehen
Sie, dass es zu diesem Punkt eine klare und gute Botschaft gibt. Dort steht, dass es möglich ist, in einem
überschaubaren Zeitraum von fünf oder sechs Jahren - je
nachdem, welche Zahlen wir dem Modell zugrunde leParl. Staatssekretär Hartmut Schauerte
gen - von einer Staatsverschuldung in Höhe von 67 Prozent auf etwa 60 Prozent zu kommen. Das wäre ein
enorm wichtiges Signal. Wir müssen dies den Bürgern
kommunizieren, damit das Vertrauen in die Stabilität unseres Gemeinwesens wieder wachsen kann. Das ist eine
wichtige Voraussetzung für einen anhaltend guten konjunkturellen und wirtschaftlichen Verlauf.
({8})
Genau das will Michel Glos mit dem Papier erreichen. Wir wollen den Begehrlichkeiten nicht nachgeben.
Wir wollen sagen: Wir müssen die Schuldenrückführung
und die intelligenten Investitionen und Umschichtungen
in den Haushalten konsequent gestalten. Da sind wir
doch völlig einer Meinung. Man kann sich jetzt vielleicht über das Zustandekommen des Papiers ärgern.
Hätte man es erst im Kabinett vorlegen sollen? Hätte es
der Finanzminister schreiben sollen? Möglicherweise
wäre dann aus dem Wirtschaftsressort Widerstand gekommen. Möglicherweise gibt es da ganz viele Elemente. Ich bin nur nicht gefragt worden. In der Sache
sehe ich den Widerspruch, der hier zum Teil künstlich
geschaffen wird, nicht.
({9})
Die Prioritäten heißen: erstens, weiter konsolidieren;
zweitens mehr investieren - vor allem durch richtige
Prioritätensetzungen in den Haushalten bei Bund und
Ländern; das kann man auch strukturelle Konsolidierung
nennen; die kommt immer wieder vor in unseren gemeinsamen Papieren - und drittens, Abgaben und Steuern senken. Dabei gibt es keinen Widerspruch. Wir werden einige Steuern umschichten, um Abgaben senken zu
können. Die Diskussion darüber läuft ja zum Beispiel in
der Gesundheitspolitik. Das ist unvermeidbar.
Aber trotzdem: Wenn Gestaltungsräume da sind, wollen wir Aufgaben des Staates nicht aufblähen, sondern
wir wollen sie zurückführen und die Mittel, die frei werden, den Bürgern zurückgeben, entweder in Form von
Abgabensenkungen oder Steuersenkungen. Ich gebe
Laurenz Meyer völlig recht: Für die Wettbewerbsfähigkeit der Arbeitsplätze in Deutschland hat die Abgabensenkung Vorrang vor der Steuersenkung.
({10})
Aber deswegen verzichte ich doch nicht einfach auf das
Gestaltungselement Steuersenkung.
({11})
Auf welcher Ebene diskutieren wir hier eigentlich miteinander? Die Reihenfolge ist auch da klar.
Das vorgelegte Modell beruht auf Wachstumsannahmen und Annahmen für die Einnahmen- und Ausgabenentwicklung. Das sind keine neuen Zahlen; das sind die
Zahlen der Finanzplanung. Sie sind realistisch. Wir nehmen ein Wachstum von nominal 3 Prozent an. Das ist ein
reales Wachstum von 1,75 Prozent.
({12})
Wir gehen davon aus, dass wir aufgrund unserer guten
Position im Wettbewerb - oder aus welchen Gründen
auch immer - ein etwas stärkeres Wachstum erwarten
dürfen. Wir wollen dafür arbeiten. Dann sind wir bei Reformen. In dem Modell spielt das keine Rolle.
({13})
- Entschuldigen Sie einmal, das ist nicht die Kernaussage des Papiers. Es ist so schon lang genug! Ich hätte es
mir lieber kürzer gewünscht.
({14})
- Entschuldigen Sie einmal, es macht doch keinen Sinn,
jetzt zusätzlich all das hineinzuschreiben, was man auch
noch hätte schreiben können.
In aller Klarheit: Das sind ausgesprochen realistische
Daten. Wir sprechen von einer Ausgabenlinie für den
Gesamtstaat von 2 Prozent. Das ist für eine Planung realistisch und immerhin höher als die erwartete Inflationsrate. Darin ist Wachstum enthalten. Wir sind bisher
einheitlich davon ausgegangen, dass das staatliche Ausgabeverhalten nicht überproportional zum Wachstum organisiert werden soll. Das soll doch so bleiben. Nichts
anderes steht in dem Papier. Das ist eine der Annahmen.
Ich komme zum Punkt. Das Modell ist seriös gerechnet. Es ist plausibel. Es zeigt - das habe ich schon gesagt zum Beispiel hinsichtlich der Staatsverschuldung ein
Bild, das für die Menschen nachvollziehbar ist. Dadurch
sehen sie: Ich muss mir keine Sorgen machen, was mit
meiner Rente und meinem Ersparten passiert.
({15})
Diese Regierung geht die Staatsverschuldung an. Das
kann man mit einem solchen Modell erläutern. Es zeigt
einen realistischen, wünschenswerten und vor allen Dingen notwendigen Weg, um unser Land in eine nachhaltig
stabile Zukunft zu führen.
Wer ein besseres Modell zur Erklärung dieser Zusammenhänge hat, ist herzlich gebeten, es vorzustellen. Wir
würden gerne mit Ihnen über eine Optimierung des Modells und über seine verschiedenen Stellschrauben diskutieren. Warum nicht? Dieses Modell steht jetzt als Werkstück in der politischen Debatte. Es lohnt sich, sich
weiter damit zu beschäftigen.
Was die Beteiligung an dieser Debatte heute angeht:
Wir haben hier schon Debatten über wirtschaftspolitische Themen geführt, die noch wichtiger waren. Aber
damals war die Beteiligung deutlich schlechter.
({16})
Daran zeigt sich: Ganz offensichtlich haben wir bei vielen von Ihnen den richtigen Punkt getroffen, der Sie daran erinnert hat, dass es wichtig ist, offen und in Modellen über Wirtschaftspolitik zu diskutieren.
Herzlichen Dank.
({17})
Ich erteile das Wort Kollegen Ortwin Runde, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Man sollte die Dinge des Lebens, erst recht in so heißschwülen Tagen wie diesen, mit Humor nehmen. Dazu
hat der Bundeswirtschaftsminister einen besonderen
Beitrag geleistet. Ein besonderes Amüsement bietet dabei der Gedanke, die Wirtschaft lasse sich in einer Art
Tugendkreislauf bewegen. Bundesminister Glos führt in
seinem Brief für die Altsprachler unter uns freundlicherweise eine lateinische Bezeichnung an, die ein regelrechter Pointentreiber ist: Ein Circulus virtuosus soll
das, was er in der deutschen Wirtschaft anstrebt, sein. Da
liegt der Circulus vitiosus, der Zirkelschluss, nicht nur
grammatikalisch ziemlich nahe. Die letzten Intellektuellen, die entdeckt haben wollten, dass sich gesellschaftliche Prozesse in Kreisläufen vollziehen, waren die deutschen Romantiker um 1820.
Wenn man das weiß, kann man diese Überhöhung im
Brief des Bundeswirtschaftsministers mit einem Augenzwinkern mal als starken Verweis auf die tief konservative Struktur seines Denkens begreifen, mal als Tribut an
seine fränkische Heimat, von der die Straße der Romantik nicht sehr weit entfernt ist, mal als Honneurs an den
bayerischen Ministerpräsidenten in der Warteschleife,
der ja auch aus dieser romantischen Ecke, aus Franken,
kommt.
({0})
Dass die FDP beim Goldenen Schnitt leuchtende Augen bekommt, ist nachvollziehbar,
({1})
aber nur, wenn man den Goldenen Schnitt nicht historisch betrachtet, sondern wenn man an den Schnitter
denkt, der etwas für seine Klientel einfährt.
({2})
Das war Herrn Brüderle deutlich anzusehen.
Herr Schauerte sagte, Herr Glos hätte das Papier auch
selbst schreiben können. Hätte er es selbst geschrieben,
hätte er vielleicht ein anderes Bild gewählt, nämlich das
von der Josephslegende, also das von den sieben mageren und den sieben fetten Jahren. Das hätte ihn dann
vielleicht sogar auf eine makroökonomisch richtigere
Spur gebracht, als es die Anleihe bei der Romantik getan
hat.
({3})
Wir müssen feststellen: Wir befinden uns gegenwärtig
in den sieben fetten Jahren. Ich glaube, es liegt nicht
nahe, 70 Milliarden Euro auszugeben, wenn man weiß,
dass nach sieben fetten Jahren - es sei denn, man hängt
dem Glauben des immerwährenden Aufschwungs an in aller Regel sieben magere Jahre folgen.
({4})
Wenn man in den sieben fetten Jahren 70 Milliarden
Euro ausgibt, wie viel will man dann in den sieben mageren Jahren ausgeben? Bei diesem Beispiel wäre Herrn
Glos, einem alten Müller, deutlich geworden, dass es
viel klüger ist, in den fetten Jahren mehr Geld für die
kommenden mageren Jahre zurückzulegen. Das wäre
auch unter makroökonomischen Gesichtspunkten der naheliegende Ansatz gewesen.
Die Debatten, die wir führen, sind ja teilweise miteinander verzahnt: die Debatte über die Schuldenbremse
und die Diskussion, die wir im Rahmen der Föderalismusreform über die Staatsverschuldung führen. Jeder,
der sich die Fakten ansieht, wird feststellen, dass
Deutschland kein Ausgabenproblem hat, Herr Brüderle,
({5})
sondern dass Deutschland in der gesamten Zeit nach der
Wiedervereinigung ein Einnahmeproblem hatte. Dieses
Einnahmeproblem hat zu der hohen Staatsverschuldung
geführt. Wir sind, was die Ausgabenseite angeht, in den
letzten Jahren Weltmeister gewesen: Wir hatten die niedrigsten Ausgabenquoten in den öffentlichen Haushalten.
Damit lagen wir noch vor der Schweiz. Das muss man
bei solchen Verschuldungsdebatten immer bedenken. Insofern ist die Ankündigung von Entlastung als viertem
Punkt, als Annex, als Anhängsel an das, was die Regierungspolitik ist, konjunkturpolitisch und auch vom
Denkansatz her ein Stück weit verfehlt, und es wäre gut,
wenn Herr Glos die Bilder mehr seinen christlichen Ursprüngen entlehnt hätte und sich etwas in der Disziplin
der Dame geübt hätte.
Schönen Dank.
({6})
Nun hat Kollege Michael Fuchs, CDU/CSU-Fraktion,
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Werter
Herr Kollege Runde, Sie sprachen von den sieben fetten
und den sieben mageren Jahren. Die sieben mageren
Jahre hatten wir: unter Rot-Grün, sie liegen hinter uns.
({0})
Zwei der sieben fetten Jahre, Frau Kollegin Andreae, haben jetzt begonnen. Wir befinden uns auf dem richtigen
Weg.
({1})
Deswegen ist es richtig, jetzt von einem „goldenen
Schnitt“ zu sprechen und darüber nachzudenken, welche
Visionen wir für die Zukunft haben. Es macht doch keinen Sinn, in der Situation, die wir jetzt haben, nicht in
die Zukunft zu denken. Ich finde es richtig, dass Michel
Glos eine Planung bis zum Jahr 2012 machen will. Das
ist die Aufgabe des Wirtschaftsministers. Das Wort „goldener Schnitt“, Sectio aurea, kommt aus der Architektur
und bezeichnet das Verhältnis zweier Größen zueinander, sozusagen die richtige Proportion.
({2})
Diese richtige Proportion hat Michel Glos in seinem Papier gefunden:
Erstens. Dauerhafte Vermeidung von Defiziten in öffentlichen Haushalten. Ich denke, wir sind uns einig, das
es nicht so weitergehen kann, dass wir eine Politik nach
dem Motto „Kinder haften für ihre Eltern“ machen und
dass unsere Kinder irgendwann für die Schulden, die wir
machen, weil wir nicht in der Lage sind, unsere Probleme jetzt zu lösen, aufkommen müssen. Das kann so
nicht weitergehen, das müssen wir ändern.
({3})
Zweitens. Erhöhung der öffentlichen Investitionen.
Natürlich brauchen wir Investitionen der öffentlichen
Hand, vor allen Dingen in Bildung und Forschung, aber
auch in Hardware: Wir brauchen auch mehr Investitionen in die Infrastruktur. Ich habe mir vom ADAC die
Zahlen besorgt: Die Deutschen stehen im Jahr 67 Stunden im Stau und vergeuden dabei 14 Milliarden Liter
Sprit. Da müssten Sie als Grüne als Allererste sagen:
„Verdammt noch mal, da müssen ein paar vernünftige
Straßen gebaut werden, damit sich das bessert!“
({4})
- Wir haben erhebliche Investitionen in die Schiene: jedes Jahr 2,5 Milliarden Euro. Das müsste Ihnen bekannt
sein.
({5})
Drittens. Senkung der Lohnzusatzkosten. Jeder von
uns hier im Saal weiß: Eine Senkung der Lohnzusatzkosten um 1 Prozentpunkt bedeutet 100 000 zusätzliche Arbeitsplätze.
({6})
Wir müssen die Lohnzusatzkosten senken, wo immer
wir das können. Ich bin unbedingt dafür, dass wir die
Beiträge für die Arbeitslosenversicherung um mehr als
die 0,3 Prozentpunkte, die der Koalitionsbeschluss vom
Montag vorsieht, senken. 0,3 Prozentpunkte sind zu wenig.
({7})
Ich habe mir die Zahlen aus Nürnberg besorgt: Im letzten Jahr hatten wir einen Überschuss von
11 Milliarden Euro. Für dieses Jahr war mit einem Minus von 4,3 Milliarden Euro gerechnet worden. Nun
geht es dieses Jahr bereits in Richtung eines Plus von
6 Milliarden Euro. Das heißt, wir haben durchaus Spielraum für eine deutlichere Senkung der Beiträge, wir
können in die Größenordnung von 3,5 Prozentpunkten
kommen. Ich würde es als einen gewaltigen Erfolg der
Großen Koalition betrachten, wenn es uns gelingt, die
Lohnzusatzkosten allein bei der Arbeitslosenversicherung innerhalb von zwei Jahren von 6,5 auf 3,5 Prozentpunkte zu senken. Daran sollten wir gemeinsam arbeiten.
Es ist richtig, wenn Michel Glos in seinem Papier
schreibt - ich möchte zitieren -:
Auch der Bund muss bei Forschung und Entwicklung … mehr tun, damit sein Haushalt nicht allein
von sozialer Umverteilung geprägt ist, sondern sich
Wachstums- und Beschäftigungszielen unterordnet.
Genau das müssen wir tun: Investitionen in Forschung und Entwicklung, Investitionen in die Bildung,
Investitionen in diese Ressourcen. Das bedeutet nämlich,
dass wir Deutschland voranbringen.
Wir haben in Deutschland keine Ölquellen; wir haben
keine Natural Resources, wie das so schön heißt. Die
Kohle können wir gleich vergessen. Es kostet uns jedes
Jahr 2,5 Milliarden Euro, sie aus dem Boden zu bekommen. Gott sei Dank hat diese Koalition hier einen vernünftigen Weg des Ausstiegs gefunden.
Wir haben nur eine Ressource, nämlich die Köpfe unserer Menschen. Das sind die Unternehmer in Deutschland, die innovativ sind und bleiben müssen, damit die
Exportfähigkeit unseres Landes weiter gegeben ist. Gott
sei Dank ist das so. Durch die neuesten Zahlen, die Sie
heute und gestern in den Zeitungen lesen konnten, wird
gezeigt, dass es weiter aufwärts geht - auch beim Export. Wir sind nach wie vor Exportweltmeister. Wir haben eine Reihe von guten Forschern. Die Zahlen der Patentanmeldungen gehen nach oben; auch das ist eine
positive Botschaft. Wir müssen dafür sorgen, dass unsere
jungen Menschen eine vernünftige Ausbildung erhalten,
damit sie im internationalen Wettbewerb bestehen können.
Dafür müssen Gelder in die Hand genommen werden.
Das ist wichtig. Deswegen sind die Wege, die Michel
Glos hier aufgezeigt hat, richtig. Wir sollten ihn dabei
möglichst alle gemeinsam unterstützen.
({8})
Ich erteile Kollegin Edelgard Bulmahn, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Man könnte ja versucht sein, zu sagen: Die
Philosophen haben ihn nur unterschiedlich interpretiert.
({0})
Lassen Sie uns aber mit der Realität auseinandersetzen. Die Konjunktur in unserem Land befindet sich im
Aufschwung. Dies kann und muss uns zuversichtlich
stimmen. Gerade dadurch wird von der Politik aber ein
konsequentes und zielgerichtetes Handeln gefordert, um
die Früchte dieses Erfolges auch für die Zukunft zu erhalten.
({1})
Es reicht nicht aus, einfach nur von einem anhaltenden
Wirtschaftswachstum zu träumen.
Unsere Politik muss es erstens sein, dafür zu sorgen,
dass dieses Wirtschaftswachstum, das wir jetzt haben,
wirklich langfristig stabil ist.
({2})
Zweitens müssen wir dafür sorgen, dass alle Menschen
von diesem Wirtschaftswachstum profitieren. Wenn uns
dies gelingt, dann wäre das tatsächlich ein ganz wesentlicher und wichtiger Erfolg der Großen Koalition.
({3})
Wir haben heute ein gutes Wirtschaftswachstum. Das
liegt vor allen Dingen daran, dass wir eine gute Balance
zwischen Angebot auf der einen Seite und Nachfrage auf
der anderen Seite gefunden haben. Wir wissen: Nur
dann, wenn die Menschen Geld in der Tasche haben,
profitieren auch die Unternehmen - gerade die kleinen
und mittleren - davon.
Dazu gehört, dass die Menschen für ihre Arbeit auch
vernünftig und gut bezahlt werden.
({4})
Das gilt gerade für diejenigen, die zurzeit mit Hungerlöhnen abgespeist werden. Wir als Koalition haben hier
eine wichtige und schwierige Aufgabe vor uns, die wir
noch nicht gelöst haben. Wir haben zwar einen Schritt
gemacht, aber wir haben sie noch nicht gelöst. Wir werden sie in den kommenden Monaten und Jahren aber lösen müssen.
({5})
Dazu gehört aber auch, dass wir die Sozialversicherungsbeiträge weiterhin stabil halten. Wir haben sie
leicht gesenkt und müssen sie jetzt stabil halten.
Dazu gehört schließlich eine solide und vernünftige
Finanz- und Steuerpolitik. Ich finde, das, was wir hier
erreicht haben, dass nämlich unser Staatshaushalt endlich wieder auf festem Boden steht, sollten wir nicht
durch einseitige Positionierungen wieder kleinreden,
sondern wir sollten alles dafür tun, dass wir das auch erhalten. Darauf, dass wir die Sorgen der vielen Menschen
ernst nehmen müssen, haben meine Vorredner ja hingewiesen.
Wir wissen, dass zu einem langfristigen Wachstum
schließlich auch eine solide Haushaltspolitik gehört.
({6})
Deshalb will ich das noch einmal ausdrücklich unterstreichen: Das ist notwendig, und entsprechend werden
wir auch in Zukunft handeln.
({7})
Da das so ist, müssen wir uns allerdings auch gemeinsam die Frage stellen, ob Wünsche tatsächlich die Basis
für seriöses Regierungshandeln sein können. Lassen Sie
mich hierzu noch auf zwei Punkte eingehen.
In dem Positionspapier wird behauptet, die verbesserte Wirtschaftslage der letzten Monate sei das Ergebnis
einer konsequenten Angebotspolitik.
({8})
Wir haben in den Koalitionsverhandlungen gemeinsam beschlossen - auch wenn der Kollege Wend zu
Recht darauf hingewiesen hat, dass die SPD und vor allen
Dingen die CSU darauf gedrängt haben -, ein 25-Milliarden-Investitionsprogramm durchzuführen. Der Finanzminister hat zu Recht darauf gedrungen und auch dafür
gesorgt, dass dieses Programm umgesetzt wurde, weil es
notwendig war, um die Wirtschaft anzukurbeln. Das ist
uns auch gelungen.
({9})
Deshalb war es richtig, dass wir diesen Schritt gegangen
sind, durch ein großes Investitionsprogramm den so
dringend benötigten Wirtschaftsaufschwung auch auf
dem Binnenmarkt zu erreichen.
Exportweltmeister sind wir seit vielen Jahren. Wir
wissen aber, dass ein stabiles Wirtschaftswachstum zu
wackeln beginnt, wenn es sozusagen nur auf einem Bein
steht. Wir brauchen ein stabiles Wirtschaftswachstum,
das auf beiden Beinen steht. Daher ist die Stärkung des
Binnenmarktes ein wichtiger Schritt, den wir auch in den
kommenden Jahren tun werden und tun müssen.
Sicherlich werden auch Sie von der FDP das leisten
können, was in den USA schon längst geschafft wurde.
Die starren ideologischen Vorstellungen, die alleinige
dogmatische Betonung der Angebotspolitik sind dort
längst ad acta gelegt worden. Selbst die politischen Erben Reagans haben sich davon getrennt. Auch Sie sollten das endlich tun, meine Damen und Herren von der
FDP.
({10})
Wenn wir auch weiterhin ein stärkeres und stabiles
Wachstum des Binnenmarktes wollen, dann müssen wir
die bereits begonnenen Investitionen verstärken - das
werden wir auch tun -, um ein nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum zu erreichen.
An die Adresse der Grünen gerichtet will ich darauf
hinweisen, dass rund 10 Milliarden Euro aus dem großen Investitionsprogramm in den Klimaschutz und die
energetische Gebäudesanierung fließen. Das ist ein sehr
wichtiges Programm, von dem viele kleine und mittlere
Unternehmen profitieren.
({11})
Aber auch diejenigen, die ihre monatliche Energiekostenrechnung senken konnten, profitieren davon. Das
Programm kommt also beiden Seiten zugute. Wir werden es fortsetzen. Dies ist ein wichtiger Investitionsbereich.
Die Industrie profitiert von unseren Investitionen in
regenerative Energien. Auch diese werden wir fortsetzen. Alles in allem brauchen wir eine qualitativ gute Infrastruktur.
Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen, den
ich ausdrücklich in den Mittelpunkt stellen will. Bei vielen Fragen, über die wir uns streiten, ist eines klar: Stabiles wirtschaftliches Wachstum hängt heute nicht von der
Regulierung oder Deregulierung des Arbeitsmarktes ab.
Das geht aus allen wissenschaftlichen Untersuchungen
hervor. Es hängt auch nicht von der Höhe der Staatsquote ab.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Es hängt allein davon ab, ob es uns gelingt, in die
Köpfe der Menschen zu investieren.
Deswegen ist das 6-Milliarden-Euro-Programm richtig. Es reicht aber bei weitem nicht aus.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Ja. - Da wir im Vergleich zu anderen wichtigen
OECD-Ländern viel zu wenig in Bildung investieren,
müssen wir zu einer Umkehr kommen. Ich weiß, dass
das nicht einfach ist, weil der Bund auf diesem Gebiet
wenig Handlungsmöglichkeiten hat. Aber das ist die
Schlüsselaufgabe, vor der wir stehen. Wir sollten versuchen, sie gemeinsam zu bewältigen.
({0})
Ich erteile das Wort Kollegen Eckhardt Rehberg,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich denke, der eine oder andere in der Regierungskoalition hätte sich zu diesem Zeitpunkt - wir regieren seit
18 Monaten gemeinsam - fragen sollen: Wo kommen wir
her? Wo sind wir heute? Wo wollen wir hin?
Wir kommen von 5 Millionen Arbeitslosen und einem Haushaltsdefizit von über 3 Prozent; das Wirtschaftswachstum tendierte mehrere Jahre gegen null.
Heute erzielen wir nicht vorhergesehene Steuermehreinnahmen.
({0})
Der Finanzplanungsrat prognostiziert uns die Möglichkeit, schon vor dem nächsten Haushaltsplan eine
schwarze Null zu erreichen. Drei Länder haben das bereits erreicht: Bayern, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern.
In dieser Debatte wird die Gesamtverantwortung, die
Bund, Länder und Kommunen bei der Finanz- und
Haushaltspolitik haben, völlig außen vor gelassen.
({1})
Herr Kollege Brüderle, diese Koalition kann die Akzente nicht falsch gesetzt haben. Schauen Sie sich nur
einmal die neuen Bundesländer an. Ich habe vor einigen
Monaten hier gesagt, dass wir keine abgekoppelte Wirtschafts- und Arbeitsmarktentwicklung haben. Die Entwicklung verläuft in West und in Ost parallel. Das besagen alle Zahlen.
Daher kann es nicht falsch gewesen sein, die Investitionszulage in den neuen Bundesländern zu verlängern
und die Wirtschaftsförderung um 42 Millionen Euro aufzustocken. Die ERP- und KfW-Programme wurden in den
letzten zwei Jahren um 66 Prozent mehr in Anspruch genommen.
({2})
Frau Kollegin Andreae, wenn man von Ökonomie
und Ökologie redet, ist das CO2-Gebäudesanierungsprogramm doch das allerbeste Beispiel.
({3})
Manche Beiträge haben mich ein bisschen an das
Motto „Lyrik, Jazz und Prosa“ erinnert, Herr Kollege
Wend und Herr Kollege Runde. Für die Technologieund Wirtschaftsprogramme ist das Bundeswirtschaftsministerium verantwortlich, für das CO2-Gebäudesanierungsprogramm das Bundesverkehrs- bzw. das Bundesbauministerium.
({4})
Wir sollten unsere gemeinsamen Erfolge nicht
schlechtreden, sondern eine positive Bilanz ziehen. Das
sollten wir alle miteinander tun.
({5})
In Bezug auf das Glos-Papier werden hier teilweise
Legenden gebildet, die so überhaupt nicht haltbar sind.
Dort steht - ich zitiere wörtlich -:
Zeitlichen Vorrang hat in jedem Fall der Defizitabbau. Solange die öffentlichen Haushalte sich zu
Lasten der Zukunft zusätzlich verschulden, um laufende Ausgaben zu finanzieren, sind höhere Ausgaben oder Steuer- und Abgabenentlastungen nicht
verantwortbar und auch nicht zweckmäßig. Die
Schulden von heute müssten durch zusätzliche
Zinsausgaben in der Zukunft finanziert werden und
reduzierten damit künftige Handlungsspielräume.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, diesen Sätzen ist doch nichts, aber auch gar nichts hinzuzufügen.
Das ist doch der richtige politische Ansatz.
Ich habe hier vier Programme angeführt. Wir müssen
uns an dieser Stelle doch Gedanken für die Zukunft machen. Nehmen wir einmal die Technologieprogramme;
Frau Kollegin Bulmahn ist darauf eingegangen. Wie
können wir sie noch effizienter gestalten? Wie können
wir sie ausbauen?
Das ist in dieser Situation doch das eigentlich Entscheidende. Hier müssten wir miteinander tätig werden.
({6})
FuE, Verkehrsinfrastruktur, Investitionen in die Köpfe das ist nach meinem Dafürhalten in der Tat das Gebot
der Stunde.
Ich sage Ihnen aber auch eines, meine sehr verehrten
Damen und Herren: Herr Kollege Schui, es lohnt sich
normalerweise nicht, auf Sie einzugehen. Wer wie Sie
behauptet, wer Sozialabgaben senke, sorge für Mehreinnahmen bei den Unternehmern, der entfacht eine Neiddebatte.
({7})
Wir müssen uns für diesen Bereich schon Gedanken machen. Ich stimme mit dem Kollegen Laurenz Meyer völlig darin überein, dass wir eine Debatte über die Steuerfinanzierung versicherungsfremder Leistungen führen
müssen.
Das Senken von Sozialabgaben senkt nämlich die Arbeitskosten und stärkt den Standort Deutschland, bringt
aber insbesondere mehr Geld ins Portemonnaie gerade
der einkommensschwachen Gruppen. Bei 1 000 Euro
brutto macht 1 Prozent weniger 10 Euro mehr im Portemonnaie, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({8})
Wenn wir das miteinander in Einklang bringen, können wir, glaube ich, nächstes Jahr über eine Arbeitslosenzahl von deutlich unter 3 Millionen reden.
Herzlichen Dank.
({9})
Nun hat Frau Kollegin Ute Berg von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Rehberg, ich hätte es gut gefunden, wenn
Sie am Anfang Ihrer Rede die Erfolge, die in der Arbeitsmarkt- und der Wirtschaftspolitik in der Tat zu verzeichnen sind, nicht für sich reklamiert hätten, sondern
fairerweise auch das Vorspiel erwähnt hätten,
({0})
das tatsächlich vonseiten der rot-grünen Regierung stattgefunden hat. Dieser Hinweis hätte dazugehört. Das
wäre anständig gewesen.
({1})
Aber zurück zu Wirtschaftsminister Michael Glos. Er
ist ja immer wieder für Überraschungen gut. Unabgestimmte Vorstöße werden allmählich zu seinem Markenzeichen. Ein Qualitätssiegel ist das allerdings nicht. Die
Überraschung in dieser Woche ist sein wirtschafts- und
finanzpolitisches „Grundsatzpapier“. Es basiert - das
wurde hier schon mehrfach gesagt - auf der irrigen Annahme, dass die Erfolge bei Wachstum und Beschäftigung, die es wirklich gibt und auf die wir alle stolz sind,
nur einer konsequenten angebotsorientierten Wirtschaftspolitik geschuldet sind. Wie das eben von Edelgard Bulmahn erwähnte 25-Milliarden-Euro-Programm,
mit dem die Große Koalition gestartet ist und das sehr
segensreich auf Wachstum und Beschäftigung gewirkt
hat und noch wirkt, in dieses Angebotsschema passt, erschließt sich mir allerdings nicht.
({2})
Meiner Fraktion ist klar, dass wir beides brauchen: Reformen auf der Angebotsseite und Reformen, die zu steigender Nachfrage führen.
Zur von Herrn Glos geforderten Senkung der Staatsquote und zu weiteren Steuer- und Abgabensenkungen
haben meine Kollegen schon einiges gesagt. Deswegen
brauche ich das nicht weiter zu vertiefen.
({3})
Ich möchte mich daher besonders auf das für unser
Land existenziell wichtige Thema Zukunftsinvestitionen
konzentrieren,
({4})
die ohne soliden Finanzrahmen nicht machbar sind,
nämlich Investitionen in Bildung, Forschung und Technologie. Das unterstreicht Herr Glos zwar. Aber er sagt
leider nicht, woher er das Geld neben allem anderen, was
er auch noch vorhat, nehmen will. Der Minister schreibt
in seinem neunseitigen Papier dazu kurz, dass die öffentlichen Investitionen in Bildung und berufliche Fähigkeiten erhöht werden müssen.
({5})
Damit hat er natürlich recht. Darin sind wir uns alle einig. So investiert Deutschland beispielsweise ganze
4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes in Bildung. Nur
die Slowakei und Griechenland geben im europäischen
Vergleich dafür noch weniger aus. Die Dänen hingegen
setzen dafür - um eine andere Vergleichszahl zu nennen 8,3 Prozent des BIP ein. Unstrittig ist: Wir müssen die
Qualität unseres Bildungswesens verbessern. Das ist
nicht nur, aber auch eine Frage des Geldes. Investitionen
in diesen Bereich müssen also absolute Priorität haben.
Hier liegen wir auf einer Linie.
Ein wichtiger Punkt, der zunehmend in den Fokus der
Öffentlichkeit gerät, ist in diesem Zusammenhang das
Fehlen qualifizierter Fachkräfte. Schon im vergangenen
Jahr fehlten laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung 48 000 Ingenieure. Die Wirtschaftsleistung wurde so um 3,5 Milliarden Euro gedrückt. Der Fachkräftemangel wird also zu einer direkten Gefahr für den
Boom. Unternehmen aus fast allen Bereichen klagen
darüber, dass ihr Geschäft ausgebremst wird. Verstärkte
Anstrengungen im Ausbildungs- und Weiterbildungsbereich sind also aktive Wirtschaftspolitik.
Bei den Ausgaben für Forschung und Entwicklung
müssen wir uns - das wurde schon erwähnt - noch
enorm anstrengen; das ist unstrittig. Wenn wir es tatsächlich schaffen wollen, bis 2010 zusätzlich 6 Milliarden
Euro für Forschung und Entwicklung auszugeben, dann
gilt auch hier die Devise „Nicht kleckern, sondern klotzen“. Unser Augenmerk als Wirtschaftspolitiker muss
besonders auf dem Technologiesektor liegen, für den das
Wirtschaftsministerium originär zuständig ist. Wir müssen alles daransetzen, dass marktfähige Produkte in den
Markt integriert werden und sich dort halten. Auf die
Wirtschaft allein können wir uns in diesem Zusammenhang nicht verlassen. Wir müssen verstärkt darauf
hinwirken, dass die Wirtschaft weiterhin zwei Drittel der
F-und-E-Ausgaben übernimmt, wie es in der Vergangenheit der Fall war. Das ist auch für den Arbeitsmarkt der
Zukunft entscheidend. Gerade Firmen, die viel für Forschung und Entwicklung tun, sorgen für Beschäftigung
und bringen den Standort Deutschland voran.
({6})
Ich würde mich freuen, wenn sich der Wirtschaftsminister etwas stärker um die Herausforderungen, die er
jetzt stemmen muss, kümmerte, statt in einem sehr spekulativen Papier, in dem zum Beispiel Haushaltsrisiken
gar nicht aufgeführt sind, der erstaunten Öffentlichkeit
zu erklären, dass er es schaffen kann, gleichzeitig den
Gesamthaushalt zu konsolidieren, die staatlichen Investitionen zu steigern sowie Steuern und Abgaben weiter
zu senken.
({7})
Nach der Lektüre seines Papiers hat man jedenfalls den
Eindruck, endlich den Erfinder der eierlegenden Wollmilchsau ausfindig gemacht zu haben.
Das Konzeptpapier des Wirtschaftsministers hält leider nicht das, was er verspricht. Aber was ist auch von
einem Papier zu halten, das zunächst über die Medien
lanciert und dann erst den Ministerkollegen und den
Wirtschaftspolitikern der eigenen Koalition präsentiert
wird? Die Kanzlerin hatte darauf die passende Antwort,
nämlich: nichts.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss.
Es wäre schön, wenn Herr Glos mehr Teamgeist bewiesen, sich abgestimmt hätte und in der Regierung als
Mannschaftsspieler aufgetreten wäre. So wäre sicher ein
schlüssigeres Konzept entstanden, hinter dem sich dann
vielleicht alle Koalitionäre hätten versammeln können.
Aber wieder einmal hat er eine Chance vertan. Alleingänge à la Glos können diese Regierung, diese Koalition
und dieses Land nicht länger verkraften.
({0})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
Internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo
zur Gewährleistung eines sicheren Umfeldes
für die Flüchtlingsrückkehr und zur militärischen Absicherung der Friedensregelung für
das Kosovo auf der Grundlage der Resolution
1244 ({1}) des Sicherheitsrates der Vereinten
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Nationen vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der
Internationalen Sicherheitspräsenz ({2})
und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien ({3}) und der
Republik Serbien vom 9. Juni 1999
- Drucksachen 16/5600, 16/5753 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
Detlef Dzembritzki
Monika Knoche
Marieluise Beck ({4})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({5})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/5763 Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Carsten Schneider ({6})
Jürgen Koppelin
Dr. Gesine Lötzsch
Alexander Bonde
Hierzu liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP sowie der Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen vor. Über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Staatsminister Gernot Erler.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wird seit dem
26. März um einen Konsens über den zukünftigen Status
des Kosovo gerungen. Grundlage dieser Bemühungen ist
die Empfehlung des UN-Vermittlers Martti Ahtisaari.
Die Beratungen gestalten sich schwierig. Bisher ist es
nicht gelungen, Russland für das vorgelegte Statuspapier
zu gewinnen, sodass wir keine vernünftige Alternative
sehen.
Die Bundesregierung setzt sich nachdrücklich für
eine baldige Sicherheitsratsresolution zur Zukunft des
Kosovo ein als Ablösung der Resolution 1244 aus dem
Jahr 1999. Aber noch ist kein Ergebnis absehbar. Möglicherweise gibt es weitere mehrmonatige Verhandlungen.
Das führt - wenig überraschend - im Kosovo selbst zu
Reaktionen der Frustration und der Nervosität.
Vor diesem Hintergrund entscheidet der Bundestag
heute über die Fortsetzung des deutschen Beitrages zu
der Internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo,
abgekürzt KFOR. Man braucht, so glaube ich, nicht besonders zu betonen, wie wichtig gerade jetzt die Sicherheit und die Stabilität sind, die von der Internationalen
Sicherheitspräsenz im Kosovo garantiert werden. KFOR
wird weiter gebraucht, und KFOR braucht den deutschen Beitrag; denn wir stellen das bedeutendste Kontingent für die Schutzmacht.
Das Ziel der internationalen Gemeinschaft, die
Grundlagen für dauerhaften Frieden und dauerhafte Demokratie in der Region zu schaffen, die eine Präsenz internationaler militärischer Kräfte nicht länger erforderlich machen, bleibt unverändert bestehen. Gleichzeitig
gilt es, ein mögliches Sicherheitsvakuum durch eine vorschnelle Reduzierung der internationalen Präsenz zu vermeiden.
({0})
Eine Truppenreduzierung oder Mandatsveränderung wäre in der jetzigen delikaten Phase der Verhandlungen über eine UN-Resolution in New York das falsche Signal und könnte negative Auswirkungen auf den
politischen Prozess im Kosovo und auf die Stabilität der
gesamten Region haben.
({1})
Gerade jetzt ist es wichtig, Kontinuität bei der internationalen Truppenpräsenz zu signalisieren. Deshalb
hat die Bundesregierung dem Bundestag einen Antrag
zur zunächst inhaltlich unveränderten Fortschreibung
der deutschen Beteiligung an KFOR zur konstitutiven
Zustimmung vorgelegt. Wir hoffen nach wie vor auf eine
zeitnahe Verabschiedung einer neuen Resolution des
UN-Sicherheitsrates für das Kosovo.
Im Vorschlag des UN-Vermittlers Ahtisaari ist auch
eine Übergangsphase von 120 Tagen vorgesehen, während derer das alte UN-Mandat aus Resolution 1244
weiter gelten soll. Da die Geltung des Bundestagsmandats an die Fortgeltung eines Sicherheitsratsmandats geknüpft ist, bedeutet das, dass diese Übergangsfrist zeitlichen Spielraum für die eventuell notwendige Anpassung
des Mandats an eine neue Sicherheitsratsresolution geben würde. Dieses neue Mandat würde dann selbstverständlich erneut dem Bundestag zur Beschlussfassung
vorgelegt werden.
Eines bleibt klar: Deutschland wird gemeinsam mit
der internationalen Staatengemeinschaft die Menschen
in der Region auf dem Weg zu nachhaltigem Frieden im
Rahmen einer gemeinsamen europäischen Perspektive
begleiten.
({2})
Wir stehen zu den Zusagen, die von der Europäischen
Union erstmals 2003 gemacht und danach immer wieder
bestätigt wurden. In diesem Zusammenhang freuen wir
uns darüber, dass die jüngsten Fortschritte Serbiens bei
der Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien es der EU erlauben, die seit Mai 2006 ausgesetzten Verhandlungen über
ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen seit
dem 13. Juni fortzuführen.
Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung zu dem vorliegenden Antrag der Bundesregierung. Dies ist eine wichtige
Entscheidung für die Menschen im Kosovo sowie in der
ganzen Region. Diese Entscheidung ist auch wichtig als
Zeichen der Unterstützung für den Auftrag, den unsere
Soldatinnen und Soldaten in einer schwierigen Zeit vor
Ort in einer von allen Seiten anerkannten Weise hervorragend erfüllen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Ich erteile nun Kollegen Rainer Stinner, FDP-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Gleich vorweg: Wir, die FDP-Fraktion, werden
heute dem Antrag der Bundesregierung zustimmen, weil
es aus unserer Sicht völlig unverantwortlich wäre, in der
jetzigen kritischen Situation etwas an dem Mandat zu
ändern.
({0})
Wir befinden uns vor einer wichtigen Weichenstellung im Kosovo. Ich habe seit Monaten vor einem Horrorszenario gewarnt und bin dafür hier und auch woanders abgewatscht worden. Aber das Horrorszenario ist
nahe davor, einzutreten. Was passiert nämlich, wenn es
keine UN-Resolution gibt, die Vereinigten Staaten, wie
von Bush in Tirana angedeutet,
({1})
eine einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo
anerkennen würden und einige europäische Staaten dem
folgen würden und einige nicht? Es gibt bisher keine
Aussagen darüber, wie die deutsche Bundesregierung in
diesem Falle handeln darf. Ganz im Gegenteil: Auf wiederholte Nachfragen und Beschreibungen dieses Szenarios habe ich von der Bundesregierung immer eher ausweichende, schönfärberische Antworten nach dem Motto
bekommen: Na ja, wird schon irgendwie klappen. ({2})
Das heißt, es galt bisher das Motto: Es kann nicht sein,
was nicht sein darf. Das ist die Position der Bundesregierung. Das reicht zum heutigen Zeitpunkt nicht aus;
({3})
denn sowohl durch die Rede von Bush als auch durch
den neuen Kontext, den die Russen durch die Putin-Rede
hergestellt haben, ist das Kosovo nicht mehr isoliert zu
sehen; er ist vielmehr Teil einer gesamtrussischen Außen- und Sicherheitspolitik.
({4})
Deshalb, so glaube ich, müssen wir heute hier klare Antworten auf klar zu formulierende Fragen bekommen.
Eine Denkpause hilft da nicht weiter. Denn eine Denkpause wäre eher eine Pause vom Denken und nicht eine
Pause zum Denken. Es ist genug gedacht worden. Wir
müssen jetzt handeln.
({5})
In aller Bescheidenheit darf ich Ihnen sagen, dass
meine Fraktion vor dreieinhalb Jahren den Vorschlag gemacht hat, das Problem des Status des Kosovo zu europäisieren, einen stärkeren europäischen Footprint, wie
man so schön sagt, anzubringen.
({6})
Wir wären heute gemeinsam besser dran, wenn Sie damals diesen Antrag nicht abgelehnt hätten. Aber das ist
Geschichte.
({7})
- Herr Kauder, auch Sie können klüger werden. Das
schließe ich auch bei Ihrer Fraktion nicht aus. ({8})
In unserem heutigen Entschließungsantrag stellen wir
vier Forderungen:
Erstens. Wir erwarten von der Bundesregierung - sie
hat das zugesagt, aber der Bundestag sollte es bestätigen -,
dass weiterhin aktiv für den Ahtisaari-Vorschlag geworben wird.
Zweitens. Wir fordern die Bundesregierung auf, eine
gemeinsame europäische Position zu definieren. Ich
stimme Ihrer Aussage, Herr Staatsminister, zu, dass Sie
und die Bundesregierung daran aktiv gearbeitet haben.
Das kritisieren wir überhaupt nicht. Wir möchten allerdings deutlich machen, wie wichtig genau diese Frage
für die Funktionsfähigkeit einer Europäischen Außenund Sicherheitspolitik ist und welche negativen Auswirkungen es hätte, wenn es nicht gelänge, eine gemeinsame europäische Position zu entwickeln.
({9})
Die europäische Politik wäre dann leider - das ist im Bewusstsein der Öffentlichkeit leider noch nicht angekommen - ein Scherbenhaufen. Wie können wir Europäer
glauben, dazu in der Lage zu sein, weltweit Verantwortung wahrzunehmen, wenn wir noch nicht einmal in der
Lage sind, in Europa gemeinsam zu handeln?
Ich glaube, bei diesen beiden Punkten herrscht hier im
Hause weitestgehend Einigkeit. Wir fordern darüber hinaus - das sind die Forderungen drei und vier - zwei weitere Klarstellungen von der Bundesregierung - diese
Klarstellungen sind politisch bedeutsam, und ich bin gespannt, wie sich die Bundesregierung darauf einlässt -:
Drittens. Wir fordern eine klare, eindeutige Aussage,
dass die Bundesrepublik Deutschland eine einseitige und
unkonditionierte Selbstständigkeitserklärung des Kosovo nicht anerkennen wird.
({10})
Konditionierungen sind bei dem, was Herr Ahtisaari
tut, ganz wichtig. Es ist völlig undenkbar, dass der
Kosovo ohne jede Konditionierung hinsichtlich der Minderheitenrechte und der großalbanischen Idee in die Unabhängigkeit entlassen wird. Wir müssen dafür sorgen,
dass das klar ist. Ich fordere die Bundesregierung auf,
hierzu eindeutig Stellung zu nehmen. Das wäre übrigens
auch ein Signal an andere europäische Staaten.
({11})
Viertens. Wir erwarten hier und heute eine Klarstellung, was den Einsatz deutscher KFOR-Soldaten betrifft. Diesem Einsatz stimmen wir, wie ich eingangs gesagt habe, zu. Wenn dieses Szenario eintritt, was heißt
das dann für unsere deutschen KFOR-Soldaten? Eine
einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo wäre
ein Bruch der Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrats,
die wiederum die Basis für die Existenz und für die Stationierung deutscher Soldaten ist. Was sollen deutsche
Soldaten dann tun? Sollen sie die kosovarische Regierung festnehmen? Sollen sie vielleicht sogar - um es einmal auf die Spitze zu treiben - den amerikanischen Botschafter festnehmen?
({12})
Oder aber wäre durch einen solchen Schritt die völkerrechtliche Legitimierung unseres Einsatzes dahin?
Müsste das nicht automatisch den Rückzug deutscher
Soldaten bedeuten?
({13})
Ich finde, die Öffentlichkeit und vor allen Dingen unsere deutschen Soldaten, die im Kosovo stationiert sind,
haben ein Anrecht darauf, von der Bundesregierung zu
erfahren, für wie hoch sie die Wahrscheinlichkeit des
Eintretens dieses Szenarios hält.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Fragen werden Ihnen nicht nur von uns als FDP, sondern auch von
Bürgern in Ihren Wahlkreisen und auch von Soldatinnen
und Soldaten gestellt. Daher rechnen wir heute selbstverständlich mit einer großen Zustimmung dieses Hauses.
Ich bedanke mich ganz herzlich.
({14})
Als nächster Redner hat Kollege Ruprecht Polenz,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So
wie es aussieht, geht von dieser Parlamentsdebatte ein
sehr klares Signal an die internationale Öffentlichkeit
und auch an unsere Soldatinnen und Soldaten im Kosovo
aus: Die weit überwiegende Mehrheit dieses Hauses,
auch die CDU/CSU-Fraktion, unterstützt den Antrag der
Bundesregierung.
Gerade weil die Situation im Augenblick schwierig
ist - der Herr Staatsminister hat auf die Beratungen im
Sicherheitsrat hingewiesen -, halte ich nichts davon, alle
möglichen hypothetischen Fragen und hypothetischen
Antworten hier mit der Emphase zu erörtern, wie das
mein Vorredner getan hat.
({0})
Wir sollten klar Position zu dem beziehen, was anliegt.
Es ist wichtig, sich an die Anfänge zu erinnern.
Als der Einsatz deutscher Streitkräfte im Kosovo begann, gab es kein Mandat der Vereinten Nationen. Diesem Einsatz ging eine schwere Entscheidung voraus. Ich
erinnere an die Aussage des damaligen Außenministers
Fischer - ich zitiere -:
Ich habe nicht nur gelernt: Nie wieder Krieg. Ich
habe auch gelernt: Nie wieder Auschwitz.
Ich halte von solchen historischen Vergleichen nicht so
viel. Ich schließe mich im Rückblick mehr der Bewertung von Wolfgang Schäuble an, der damals gesagt hat:
Worum es geht, ist, Morden zu verhindern und zu
helfen, daß der Friede so rasch wie möglich überall
in Europa, auch in Jugoslawien und vor allem im
Kosovo, wiederhergestellt wird … daß eine Tragödie für Hunderttausende von Menschen so rasch
wie möglich beendet wird. Darum … geht es.
Den Terror, das Leid, die Massengräber, die Vergewaltigungen, die über eine Million Flüchtlinge - dieses
Elend hat der KFOR-Einsatz im Kosovo beendet. Das
sollten wir als Erstes festhalten.
({1})
Wenn man eine Mandatsverlängerung beschließt,
muss man auch eine Zwischenbilanz ziehen und fragen:
Wie weit sind wir jetzt gekommen? Die Europäische
Union hat eine solche Bilanz gezogen. Sie beschreibt die
Sicherheitslage als ruhig, aber nicht stabil. Es gibt FortRuprecht Polenz
schritte bei der Aufgabenübertragung auf die Institutionen der Selbstverwaltung. Allerdings wird auch kritisch
angemerkt, die Verwaltung sei überbesetzt und wenig
leistungsfähig, Nepotismus herrsche vor, die Justiz sei
nicht unabhängig, die Zahl unbearbeiteter Fälle wachse,
es gebe große Defizite bei der Korruptionsbekämpfung,
und das Verhältnis zwischen Kosovo-Albanern und Kosovo-Serben sei nach wie vor spannungsgeladen. Diese Defizite beim Wiederaufbau sind nach meiner festen Überzeugung allerdings auch - nicht nur, aber auch Folge der ungeklärten Statusfrage.
Nehmen Sie das Beispiel der Flüchtlingsrückkehr!
Der Bürgermeister einer Gemeinde entscheidet sich, mit
Zuschüssen der internationalen Gemeinschaft 50 Häuser
für rückkehrwillige Serben zu bauen, und setzt das um.
Die Serben kommen dann aber nicht, weil sie sich noch
unsicher fühlen oder aus welchen Gründen auch immer.
Die Häuser stehen leer. Der Geldgeber fragt: Was ist
jetzt eigentlich mit unserem Geld? Die Albaner fragen:
Können nicht wir jetzt in diese Häuser einziehen? - Da
haben Sie nur einen kleinen Eindruck von den Problemen, die die ungeklärte Statusfrage aufwirft.
Ein anderer Fall: Bei einer Investitionsförderung für
neue Arbeitsplätze, etwa auch für rückkehrwillige Serben, kann der gleiche Effekt entstehen. Es wird die Ansiedlung einer Hühnerfarm gefördert, und die serbischen
Arbeitskräfte, für die sie eigentlich gebaut wird, bleiben
aus.
Also: Vieles hängt von der Statusfrage ab. Erst wenn
die geklärt ist, weiß jeder, woran er in Zukunft sein wird.
Nicht zuletzt hängen natürlich auch all die Investitionen des Auslandes, die das Land dringend braucht, sehr
stark von der Klarheit in der Statusfrage ab. Deshalb
wird eine Entscheidung über den Status auch bei der
weiteren Verbesserung der politischen und demokratischen Standards helfen.
Der Herr Staatsminister hat die Vorschläge des UNSondervermittlers Ahtisaari bereits skizziert. Es ist im
Grunde die Politik als Kunst des Möglichen, die diesen
Vorschlägen zugrunde liegt. Ideallösungen gibt es nicht.
Man kann sich nur - das muss man nüchtern anerkennen über schlechte und weniger schlechte Lösungen unterhalten.
Jetzt sollten wir als Bundestag schon klar sagen, dass
der Weg zu einer Statusänderung über den UN-Sicherheitsrat führen muss.
({2})
Das ist die gemeinsame Position der Europäischen
Union.
Wir sind jetzt mit einer Weigerung Russlands konfrontiert. Russland sagt: Wir stimmen nur einer Lösung
zu, die zwischen den Serben und den Kosovo-Albanern
einvernehmlich verhandelt ist, der also beide Seiten
zustimmen. - Weil die serbische Seite der Unabhängigkeit nie zustimmen wird und Priština weniger als der Unabhängigkeit die Unterschrift nicht geben wird, bedeutet
die russische Position eine dauerhafte Verfestigung des
Status quo. Das ist nicht akzeptabel. Das müssen wir
auch den russischen Partnern klarmachen.
Die Art und Weise, wie Russland sich bei diesem Problem verhält, hat zwingend Rückschlüsse darauf zur
Folge, wie Russland sein Verhältnis zur Europäischen
Union sieht. Daran können wir nicht vorbei.
Die USA engagieren sich mit uns bei KFOR als
Hauptpartner. Auch von ihnen erwarten wir, dass sie
keine einseitigen Schritte unternehmen und dass sie
diese Gemeinschaft nicht aufkündigen. Wir erwarten ein
entsprechendes Einwirken der Bundesregierung auf unsere amerikanischen Partner.
Last, but not least: Priština bleibt auch nach einer
Statusänderung ganz entscheidend auf die Hilfe der Europäischen Union angewiesen. Deshalb erwarten wir
von den Verantwortlichen in Priština, dass sie einseitige
Schritte unterlassen; denn diese würden die Lage
schlechter und komplizierter machen. Das könnte sich
wie der Funke an einem Pulverfass auswirken. Auch dieser Appell an Priština muss von unserer Debatte heute
hier ausgehen.
({3})
Natürlich bleibt die KFOR-Präsenz in dieser sensiblen und kritischen Phase unabdingbar. Die jetzige
Rechtsgrundlage - völkerrechtlich einwandfrei - ist die
Sicherheitsratsresolution 1244. Es ist klar, dass bei einer
Veränderung eine rechtzeitige neue Befassung des Bundestages erfolgen muss. Es ist genauso klar, dass der
Bundeswehreinsatz in jedem Fall und zu jedem Zeitpunkt eine eindeutige rechtliche Grundlage haben muss.
All das sicherzustellen, ist die Aufgabe der Bundesregierung. Ich bin überzeugt, dass das gelingen kann,
und danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Ich erteile das Wort Kollegin Monika Knoche, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Herr Polenz, sehen Sie,
so verschieden können die Auffassungen sein: Während
wir der Meinung sind, Russland bewegt sich auf dem
Boden des internationalen Völkerrechts, verlangen Sie,
dass Russland die kosovarische Position, die sich jenseits der völkerrechtlichen Position bewegt, anerkennt.
Grundsätzlich verschiedener kann man an die Problematik wohl gar nicht herangehen.
({0})
Ich sehe auch die großen Widersprüche, die Ungereimtheiten und sogar Sinnverkehrungen, die in der
heute dargelegten Position der Regierung zum Ausdruck
gekommen sind. Ignorieren Sie doch bitte nicht die
ungeheuer großen rechtlichen, politischen, menschenrechtlichen, aber auch staatsrechtlichen Fragen, die wir
im europäischen Kontext zu spüren bekommen werden,
wenn wir hier eine Position vertreten würden, die der Sezession des Kosovo das Wort redet. Die Regierung kann
doch nicht ernsthaft erwarten, dass alle im Bundestag
vertretenen Parteien dieser Position zustimmen, wenn
gleichzeitig klar ist, dass der Ahtisaari-Plan gescheitert
ist.
Die Bundesregierung - Herr Erler, Sie haben es deutlich gesagt - will unbedingt zeitnah eine neue UN-Resolution. Aber welche Rechtsgrundlage sollte damit geschaffen werden? Die müsste sich doch von der der
Resolution 1244 unterscheiden.
({1})
Dabei ist uns doch klar, dass eine neue Resolution völkerrechtlich gar nichts anderes zu leisten vermag, als
ebenso wie die Resolution 1244 darauf zu bestehen, dass
beide Seiten, Kosovo und Serbien, sich einvernehmlich
einigen. Das ist doch die Grundlage, auf der verhandelt
werden muss.
({2})
Nichts ist also klar, aber Sie wollen weiter Soldaten
hinschicken. Für uns ist das irgendwie eine paradoxe Situation.
({3})
Sie können nicht erwarten, dass wir dem einfach zustimmen. Sie sagen ja selbst, dass nach wie vor die UN-Resolution 1244 gilt. Gerade diese sollte doch eine neue
Nachkriegsordnung schaffen.
({4})
Dabei wurde in den vergangenen acht Jahren im Hinblick auf dieses Ziel nahezu nichts erreicht. Sie wissen
das genau. Sie selber sprechen doch von der Allmacht
der UÇK, von der Allmacht der nationalistischen albanischen Bestrebungen, von der Kriminalität, der Korruption und dem Frauenhandel, für den das Kosovo eine
wichtige Drehscheibe ist; ganz abgesehen von den hohen
sozialen Problemen, die in diesem Land bestehen, weil
keine wirtschaftliche Entwicklung stattfindet. Wohin ist
all das Geld geflossen, das die Jahre über investiert worden ist?
({5})
Genau diese Situation aber hat der Ahtisaari-Plan zu
manifestieren versucht, indem er auf eine faktische Unabhängigkeit hin orientiert war. Wie kann eine neue UNResolution das notwendige beidseitige Einverständnis
herstellen, wenn allenthalben davon gesprochen wird, es
solle die Unabhängigkeit des Kosovo erreicht werden?
Wir erwarten von der Bundesregierung auf jeden Fall,
dass sie - ebenso argumentiert ja auch die FDP - keiner
einseitigen Unabhängigkeitserklärung zustimmt. Das
darf Deutschland nicht tun.
({6})
Wir sind der Auffassung, dass nach wie vor Chancen für
eine Neuaufnahme der Verhandlungen bestehen. Das
geht natürlich nicht so, wie Präsident Sarkozy es in Heiligendamm dargestellt hat, als er die Absicht äußerte,
einfach 120 Tage weiterzuverhandeln und dann auf Basis der bisherigen Intention weiterzumachen. Wir sind
vielmehr der Meinung, dass es richtig und wichtig ist,
Neuverhandlungen aufzunehmen und seitens der UN
eine Neuzusammensetzung der Kontaktgruppe herzustellen, in der alle Mitglieder des Sicherheitsrates vertreten sind. Das wäre eine neue Initiative. Wir im Auswärtigen Ausschuss sprechen ja auch darüber, dass sich in
Europa eine international - selbst bis nach Südafrika hoch beachtete Entwicklung abspielt. Es kann letztlich
nichts anderes herauskommen als die territoriale Integrität und ein hoher Grad an Autonomie des Kosovo.
Nun noch ein Wort zum KFOR-Mandat. Welches
Szenario würde entstehen? - Es käme infolge einer unilateralen Unabhängigkeitserklärung und einzelstaatlichen Anerkennungen des Staates Kosovo dennoch so,
dass die UN-Resolution 1244 gelten würde. Die dort stationierten Soldaten müssten die Resolution 1244 dann
gegen die neue Regierung im Kosovo durchsetzen, unter
Umständen mit gewaltsamen Mitteln.
({7})
Was für eine Logik! Man hat gegen Jugoslawien einen Krieg geführt, um die Multiethnizität sicherzustellen, und müsste jetzt auf der Seite Serbiens auf der Basis
der Resolution 1244 gegen Kosovo vorgehen. Was ist
das für eine Logik, was würde das für eine Problematik
heraufbeschwören?
({8})
Stünde ein solches Szenario an - ich bin der Auffassung, hier müssten wir alle einer Meinung sein -, müssten die deutschen Truppen sofort abgezogen werden, damit sie nicht in gewaltsame Auseinandersetzungen
verwickelt werden. Warum wollen Sie jetzt die Soldaten
in eine so hochgradig ungeklärte Situation hineinschicken, wo nicht klar ist, auf welcher neuen internationalen völkerrechtlichen Grundlage Sie dann agieren wollen? Das halten wir für paradox. Einer solchen Politik
können wir nicht zustimmen.
({9})
Das Wort hat nun Kollegin Marieluise Beck, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Hätte diese Position Macht, dann würde das
den Abzug der KFOR-Truppen in einer Situation höchster Angespanntheit zwischen den Serben und den Kosovo-Albanern bedeuten.
({0})
Marieluise Beck ({1})
Das heißt, man würde in Kauf nehmen, dass morgen vor
Ort kriegerische und gewaltsame Auseinandersetzungen
stattfinden.
({2})
Die Truppen, die durch die UN mandatiert dort eine
höchst brisante und gefährliche Situation beruhigen, sollen gehen, damit freies Feld für Nationalismus, Extremismus und Gewaltexzesse entsteht. Das kommt heraus,
wenn wir Ihre Vorschläge, Frau Knoche, die Sie heute
gemacht haben, konsequent zu Ende denken.
({3})
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wird der Verlängerung des KFOR-Mandats zustimmen.
({4})
Um es noch einmal klar zu sagen: Diese Entscheidung
bewegt sich auf völkerrechtlich glasklarem Boden, nämlich der UN-Resolution 1244.
({5})
Ich möchte kurz daran erinnern, womit wir es zu tun
haben. Es geht um Geschichte und damit um Menschen
und nicht um irgendwelche Soldaten und Institutionen,
die man auf dem Papier hin- und herschieben kann. Unter den Augen der OSZE hat die jugoslawische Armee
innerhalb von wenigen Tagen 170 000 Albaner vertrieben - das sind im Übrigen fast 10 Prozent der kosovoalbanischen Bevölkerung -, und der Sicherheitsrat war
handlungsunfähig. Damit gab es in der Tat ein völkerrechtliches Dilemma. Die UN-Charta setzt zwei Aufgaben, nämlich das Verbot eines Angriffskrieges, aber auch
das Gebot zum Schutz der Menschenrechte.
({6})
Zwischen diesen beiden völkerrechtlichen Setzungen
war zu entscheiden.
({7})
Ich bin übrigens sehr froh, dass die Mütter von Srebrenica vor den Internationalen Gerichtshof gezogen sind,
um genau diese Frage klären zu lassen: Wie ist es mit der
Verantwortung der internationalen Völkergemeinschaft,
einzugreifen und aktiv zu werden, wenn Gewalt gegen
die Menschen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit
und Völkermord stattfinden? Das ist die von Kofi Annan
uns sehr zu Recht mitgegebene „responsibility to protect“, die im Völkerrecht der UN weiterentwickelt werden muss.
({8})
Wir wissen, dass wir es in Darfur faktisch mit einer
sehr ähnlichen Situation zu tun haben. - Heute kann man
sagen, dass Ahtisaari quasi vor der Quadratur des Kreises stand angesichts der Aufgabe, eine Lösung zu finden,
die dem Völkerrecht entspricht und die gleichzeitig das
Selbstbestimmungsrecht des kosovarischen Volkes - und
zwar nachdem Vertreibung und Übergriffe durch die, im
Grunde eigene, Staatsmacht stattgefunden hatten - und
das Recht Serbiens auf territoriale Integrität sichert.
Auch das ist ein Dilemma, das es zu bewältigen galt.
Eine erzwungene Abspaltung ist keine gute Lösung; aber
Krieg ist eine noch schlechtere.
Wir brauchen also - da sind wir uns einig - eine neue
UN-Resolution. Wir sehen, dass der Druck im Kessel
wächst. In der Tat muss man auch an die Bundesregierung die Frage richten: Wie waren die Ergebnisse der
Abstimmungen in der Kontaktgruppe, die Ahtisaari auf
den Weg der Kompromisssuche mitbekommen hat? Was
waren die Rahmenbedingungen? Wer hatte wem zugestimmt, und wo war nicht zugestimmt worden? Denn wir
müssen uns doch heute fragen: Was will Russland? Wie
kann es passieren, dass im letzten Moment in nicht abgesprochener Weise gehandelt wird? Denn Russland ist
ganz offensichtlich bereit, die Abkühlung des Verhältnisses zur Europäischen Union auf dem Rücken der Kosovo-Albaner auszutragen, während auf der anderen
Seite Präsident Bush in unverantwortlicher Weise in Tirana einseitige Schritte vorschlägt. Beide Seiten handeln
unverantwortlich. Auch das muss hier gesagt werden.
({9})
Der Deutsche Bundestag muss deutlich machen, dass
- das hat auch Herr Polenz eben hervorgehoben - dieses
Haus bei einer Änderung der Geschäftsgrundlage neu
entscheiden muss. Das KFOR-Mandat gilt nur in Verbindung mit der UN-Resolution 1244.
({10})
Ein kurzer Satz noch an uns selber. Seit Miloševic’
Rede auf dem Amselfeld 1989 hat sich das Problem Kosovo vor unseren Augen entfaltet, von Jahr zu Jahr mehr.
Europa war nicht handlungsfähig. Die Großmächte USA
und Russland haben ihre Rivalität auf dem Rücken des
Kosovo ausgetragen. Der UN-Sicherheitsrat war gelähmt. Wir wissen, dass es Nationalismus auf beiden
Seiten gibt. Wir wissen auch, dass die Opfer nicht vor
Fehlern und Verbrechen gefeit sind. Aber wir dürfen
dem Nationalismus nicht nachgeben. Serbien muss verstehen, dass es umdenken muss, und die ehemalige Minderheit der Kosovo-Albaner muss verstehen, dass Minderheiten im eigenen Land Rechte haben müssen.
Schönen Dank.
({11})
Ich erteile das Wort Kollegin Uta Zapf, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Herr Stinner, Sie sind so ungestüm, und deshalb schießen Sie immer ein bisschen über das Ziel hinaus.
({0})
Ich denke, die Abfolge der geschichtlichen Ereignisse bis
hin zu dem Ahtisaari-Plan und zu dem, was die Europäische Union im Rahmen dieses Ahtisaari-Planes bereits als
Planung vorgelegt hat, was vom Gipfel in Thessaloniki
bis zum heutigen EU-Gipfel immer wieder bestätigt wird,
entspricht durchaus Ihrem Anliegen - wenn es Ihnen vielleicht auch ein bisschen zu langsam ging -: Es geht um
eine europäische Perspektive und um eine europäische
Verantwortung. Also brauchen Sie jetzt niemanden zu kritisieren und schlechtzumachen.
Ich finde allerdings, dass eine einseitige, unkonditionierte Anerkennung des Kosovo - eine solche brauchen
Sie eigentlich überhaupt nicht zu erwähnen; alle Redner
haben das bisher so gesehen - über den Horizont des
Denkens hinausgeht. Eine solche Anerkennung kann
nicht infrage kommen.
Sie haben es sich dann aber wieder zu leicht gemacht
- denn wir befinden uns ja in einer Catch-22-Situation,
in einer Zwickmühle; völkerrechtlich gesehen verlängern wir heute auf der Grundlage der Resolution 1244
das Mandat für das Kosovo; das, was Herr Polenz gesagt
hat, gilt selbstverständlich -: Ich halte es für nicht richtig, dass manche leugnen, Frau Knoche, dass der UN-Sicherheitsrat in der Lage sei, eine neue Legitimationsgrundlage für eine andere Lösung im Kosovo zu finden
und auszusprechen. Denn in der Resolution 1244 steht
ausdrücklich, dass eine Lösung gefunden werden soll.
Die Völkergemeinschaft war sich einig: Dies kann nicht
der Status quo ante sein.
({1})
Wir haben in der Tat sehr lange damit zugebracht, eine
Lösung zu finden, die wir alle für gut halten.
Warum halten wir sie für gut, Frau Knoche? Erstens
sind in ihr die Minderheitenrechte ausdrücklich und sehr
gut verankert. Zweitens werden die serbischen Kulturgüter geschützt. Drittens ist das, was den Kosovaren - viele
von uns meinen, mit Recht - als unzumutbar erscheint,
nämlich unter der Ägide von Serbien zu bleiben, ausgeschlossen. Gleichzeitig ist aber eine überwachte Souveränität vorgesehen. Das heißt, es gibt einen Übergangsprozess im Hinblick auf eine gute Entwicklung. Wenn
der Prozess nach allen Seiten gut verläuft, dann entsteht
hier eine Region, die wir an die Werte Europas heranführen und in der sich die einzelnen Teilnehmerstaaten ganz
bestimmt nicht mehr die Köpfe einhauen.
({2})
Ich möchte uns gegenüber noch zwei Dinge kritisch
anmerken. Ich glaube, wir hatten zwei Fehleinschätzungen. Eine Fehleinschätzung bezog sich auf Serbien. Von
Serbien haben wir gedacht, dass es mit einer aufoktroyierten Lösung schon leben könne, dass man ihm nur genügend anbieten müsse.
({3})
Aber wir haben unterschätzt, dass es eine ganze Reihe
von Empfindlichkeiten und gesellschaftlichen Spannungen zwischen denjenigen gibt, die Reformen wollen, und
denjenigen, die radikal-nationalistisch rückwärtsgewandt sind. Da hat es ganz offensichtlich nicht ausgereicht, dass wir Serbien trotz nicht ganz ausreichender
Compliance, also trotz nicht ausreichender Übereinstimmung mit den Forderungen des Tribunals, PfP, also eine
Partnerschaft für den Frieden und damit eine Annäherung an die NATO, angeboten und die Verhandlungen im
Rahmen des Stabilitätsabkommens wieder aufgenommen haben.
Serbien fühlt sich als Verlierer. Ich fordere uns auf,
noch einmal darüber nachzudenken, wie wir dieses Gefühl vermeiden können, welche Zuwendung wir geben
müssen, damit die Serben selber spüren: Europa ist etwas Positives, das unsere Lebensbedingungen voranbringt und uns nicht nur ein Drittel unseres Territoriums
wegnimmt.
({4})
Eine zweite Fehleinschätzung ist - ein bisschen klang
es bei Herrn Polenz an; aber ich setze den Akzent etwas
anders -: Warum haben wir geglaubt, dass Russland im
Rahmen der Kontaktgruppe am Ende den Ahtisaari-Plan
im Sicherheitsrat ohne Veto passieren lassen würde?
Plötzlich kommt sukzessive ein Bündel an Motiven auf
den Tisch, sodass wir merken, dass Russland auch diese
Möglichkeit nutzt, um zu zeigen: Russland ist noch immer ein Staat, der auch in Europa mitzureden hat. Es ist
eine große Macht. Es ist weiterhin eine Weltmacht und
lässt sich in seinen Interessen zum Beispiel in Bezug auf
die Raketenabwehr, die KSE-Verträge, darauf, dass wir
mehr und mehr Staaten in die NATO aufnehmen, und in
Bezug auf andere Fragen der internationalen Staatengemeinschaft, wie zum Beispiel die Kosovofrage, nicht
übergehen. Ich glaube, es ist kein Wunder, dass wir noch
nicht zu einem strategischen Abkommen zwischen der
EU und Russland gekommen sind; dafür ist das Verhältnis zwischen der EU und Russland noch nicht gut genug.
Wir sollten die Frist, die jetzt möglicherweise für Verhandlungen eingeräumt wird, nutzen, um diese beiden
Felder zu bearbeiten. Wir können nicht hoffen, dass Serbien von sich aus sagt: Jawohl, es ist alles prima. Wir
können aber auch nicht verlangen, dass die Kosovaren
von sich aus sagen: Na ja, dann eben nicht. Es kann nicht
sein, dass sich alle weigern, sich auf neue Verhandlungen einzulassen.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich weiß. Jetzt kommt mein letzter Satz.
Eines ist sicher: Wir müssen eine neue, legitime
Grundlage für das schaffen, was die internationale Staatengemeinschaft im Kosovo tut. Wir wollen nämlich
nicht, dass diese Region im Chaos versinkt, sondern wir
wollen zur Stabilität in dieser Region beitragen.
({0})
Das Wort hat nun der Bundesminister der Verteidigung, Franz Josef Jung.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Beteiligung der Bundeswehr am KFOREinsatz im Kosovo erfolgt auf der Grundlage der
Resolution 1244 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. Diese Resolution ist zwar wie das auf ihr beruhende
Bundestagsmandat unbefristet, die Bundesregierung hat
sich aber gegenüber dem Deutschen Bundestag verpflichtet, jährlich vor den Deutschen Bundestag zu treten, um eine Verlängerung zu erbitten, wenn eine Fraktion dies verlangt.
Im Bundeskabinett haben wir am 13. Juni den diesbezüglichen Beschluss gefasst. Heute bitten wir das Parlament um Zustimmung zur Fortsetzung des Einsatzes der
Bundeswehr im Rahmen der NATO-geführten Mission
KFOR, weil diese Mission für die Stabilität und die
friedliche Entwicklung gerade in der jetzigen Situation
im Kosovo notwendig ist.
({0})
Wir befinden uns mitten im Entscheidungsprozess
hinsichtlich der Statusfrage; das wurde schon angesprochen. Deshalb ist es notwendig, dass wir jetzt keine falschen Signale setzen. Im Rahmen der Verhandlungen haben wir unser Kontingent teilweise durch Reservekräfte
verstärkt, damit diese Statusverhandlungen in einer
friedlichen und stabilen Situation stattfinden können.
Hier ist vorhin gesagt worden, dass sich im Kosovo
nichts getan habe. Dazu muss ich deutlich sagen: Wer so
etwas sagt, ist in der letzten Zeit offensichtlich nicht im
Kosovo gewesen.
({1})
Erstens. Es gibt eine durchaus stabile und friedliche Entwicklung. Zweitens. Ich habe selten ein Land gesehen,
in dem so viele neue Häuser gebaut werden. Es gibt ferner eine positive Entwicklung im wirtschaftlichen Bereich. Die Zukunftsperspektive hängt aber davon ab,
dass die Statusfrage positiv gelöst wird. Deshalb gilt es,
alle Anstrengungen zu unternehmen, um genau diesen
Prozess zu einem guten Ende zu führen.
Wir haben sowohl im Rahmen der Konferenz der europäischen Verteidigungsminister als auch im Rahmen
der Konferenz der NATO-Verteidigungsminister in der
letzten Woche einstimmig unterstrichen, dass wir den
Ahtisaari-Vorschlag für eine gute Grundlage für die
Lösung der Statusfrage durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen halten. Herr Ahtisaari, der in der vergangenen Woche die Manfred-Wörner-Medaille erhalten
hat, hat uns gegenüber noch einmal versichert, wie wichtig es für den Prozess ist, dass die NATO und die Europäische Union diese Position gemeinsam unterstützen.
So tragen sie zu einer friedlichen und guten Lösung der
Statusfrage bei.
({2})
Ich denke, jetzt sind drei Dinge erforderlich:
Erstens. Wir müssen die Diskussion auf allen Ebenen
intensivieren, um eine positive Lösung erreichen zu können. Das beinhaltet auch Gespräche mit Serbien. Die
NATO hat Serbien jetzt „Partnership for Peace“ angeboten. Ich denke, wir müssen auch über die europäische
Perspektive nachdenken. Wir müssen unseren Beitrag
leisten, um zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen.
Zweitens. Ich denke, es gilt, alles daranzusetzen, dass
hier unilaterale Schritte unterlassen werden. Herr Kollege Stinner, ich habe die herzliche Bitte: Wir sollten von
unserer Warte aus keine Diskussion über unilaterale
Schritte führen. Das würde ein völlig falsches Signal
senden. Wir brauchen eine multilaterale, eine gemeinsame Lösung. Denn andere Lösungen würden nur in eine
falsche, schlechte Entwicklung im Kosovo führen.
({3})
Vielleicht gibt es nach dem Gespräch am 1. und
2. Juli dieses Jahres der Präsidenten in Maine noch eine
weitere Perspektive. Ich kann nur hoffen und wünschen,
dass die Lösung nicht allzu lange auf sich warten lässt.
Denn eine alsbaldige Lösung ist - das ist auch die Beurteilung unseres kommandierenden Generals Kather vor
Ort - im Interesse einer friedlichen Entwicklung von Bedeutung.
Drittens. Herr Ahtisaari hat gesagt: Auch wenn wir
eine Statuslösung haben, brauchen wir eine Übergangszeit von vier Monaten. Wir brauchen dann auf jeden Fall
noch weitere sechs Monate für den Einsatz von KFOR.
Ich denke, wir brauchen darüber hinaus auch den Einsatz
von KFOR zur Unterstützung der Entwicklung im Kosovo. Das will ich hier deutlich sagen. Denn dann ist die
Überführung in die Polizei- und Rechtsstaatsmission der
Europäischen Union und die weitere Ausbildung beispielsweise der Sicherheitskräfte im Kosovo vorgesehen,
damit der Kosovo nachher in der Lage ist, in eigener
Verantwortung für seine Sicherheit und damit für eine
friedliche Entwicklung im Land zu sorgen.
Wir haben jetzt rund 2 200 Soldaten im Kosovo. Sie
leisten, wie ich finde, einen hervorragenden Einsatz.
Wenn Sie mit den Soldaten in Prizren oder Priština in die
Stadt gehen, dann merken Sie, wie die Bevölkerung sie
positiv aufnimmt, wie sie freudig darauf reagiert, dass
unsere Soldaten diesen Beitrag leisten.
Deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung zur Verlängerung dieses Mandates. Denn es ist im Hinblick auf
Stabilität und eine friedliche Entwicklung im Kosovo
wichtig. Es ist aber auch wichtig zur Unterstützung unserer Soldatinnen und Soldaten, die im Interesse unserer
Sicherheit, aber auch im Interesse einer friedlichen Entwicklung in Europa einen bedeutenden Beitrag leisten.
Besten Dank.
({4})
Als letzter Redner in dieser Debatte hat Kollege Gerd
Höfer, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Bundesverteidigungsminister hat die Bitte
ausgesprochen, der Verlängerung des Mandats im Kosovo zuzustimmen. Dieser Bitte wird die SPD-Fraktion
entsprechen.
Er hat eine Randbemerkung gemacht, auf die ich
gerne zurückkomme. Er hat gesagt, dass viele über das
Kosovo reden, aber nur wenige schon einmal dort gewesen sind. Ich war seit 1999 sehr oft dort, das letzte Mal
vor sechs Wochen.
Zu den Kosten. Diese wurden heute in der Berichterstattung in den Zeitungen etwas übermächtig dargestellt. Es gibt keinen Grund, im Deutschen Bundestag
die Kosten der Verlängerung des Mandats um ein Jahr,
die auf zwei Haushaltsjahre verteilt sind, nicht zu nennen. Sie sind mit 154 Millionen Euro veranschlagt.
Wenn man diese 154 Millionen Euro streichen würde,
dann wären im Kosovo keine deutschen und auch keine
anderen Soldaten mehr. Wie das Szenario dort dann aussehen würde, haben die Vorredner zum Teil schon beschrieben, obwohl Wahrheit und Realität auf der äußersten linken Seite dieses Hauses nicht wahrgenommen
werden.
Wahrheit und Realität sind - man kann sie aus bestimmten Zahlen, die in der Presse immer wieder falsch
wiedergegeben werden, ableiten -: Wir haben einmal
mit einem Idealmandat von 8 500 Soldaten begonnen.
Die größte Stärke, die von der Bundesrepublik Deutschland jemals entsendet worden ist, waren 6 440. Ich berichtige den Bundesverteidigungsminister ungern, aber
nach meinen Daten ist es so, dass zurzeit 2 167 Soldatinnen und Soldaten im Kosovo sind. Das ist eine Differenz
von 3 Soldatinnen und Soldaten; das werden wir aber
noch auseinanderdividieren können.
Das heißt, schon allein an der Zahl der Soldatinnen
und Soldaten kann man einen Fortschritt feststellen. Ich
habe vor sechs Wochen mit General Kather gesprochen.
General Kather soll hier nicht seiner Nationalität beraubt
werden. Er ist Deutscher, aber er ist im Auftrag der
KFOR, der NATO dort.
Die Soldatinnen und Soldaten, die schon zwei- oder
dreimal im Kosovo waren, sagen: Die Art und Weise,
wie man dort miteinander umgeht, hat sich eindeutig
verändert. Der Stab von General Kather hat klar zum
Ausdruck gebracht: Das, was im Jahre 2004 passiert ist
und seinen Niederschlag darin gefunden hat, dass sich
der Verteidigungsausschuss in einen Untersuchungsausschuss umgewandelt hat, könne und werde sich so nicht
wiederholen. Der Ansatz, bestimmte Probleme kriegerisch zu lösen, ist zurzeit auf keiner der beiden Seiten,
weder bei den Kosovaren noch bei den Serben, vorhanden. Dass in der „delikaten Phase“, wie sie der Kollege
Erler bezeichnet hat, kleinere Demonstrationen oder Unruhen nicht auszuschließen sind, wissen die im Rahmen
von KFOR Verantwortlichen. Sie wissen darauf auch in
einer Art und Weise zu reagieren, die den Grundsätzen
des Peacekeeping sehr nahe kommt.
Ich denke, es ist viel zu kurz gesprungen, die Anwesenheit der Soldatinnen und Soldaten aus den verschiedensten Nationen nur auf haushalterische Gründe
zurückzuführen. Dafür gibt es auch andere Gründe. Im
Zusammenhang mit dem, was dort geschehen ist, habe
ich, als ich in Belgrad und im Kosovo war, eines festgestellt - das hat mich verblüfft -: Die Serben sagen, sie
brauchten ihr Territorium, und das Kosovo gehöre dazu.
Von der Bevölkerung haben sie allerdings überhaupt
nicht gesprochen. Ich hatte das Gefühl, sie wollen das
Territorium, aber nicht die Bevölkerung. Die Serben haben mir gesagt: Für die Sicherheit sorgt die NATO, und
die Flüchtlingsfragen klärt die EU. Wir erwarten, bis
zum Jahre 2008 zu Verhandlungen über einen Beitritt
zur EU aufgefordert zu werden, und im Jahre 2012 wollen wir mit Sicherheit Mitglied der EU sein.
Die Kosovaren haben mir gesagt: Wir sind vorbereitet. Wir haben eine eigene Regierung. Es ist sogar ein
britischer Generalmajor im Kosovo, der dort quasi den
Verteidigungsminister darstellt. Die Kosovaren denken:
Wenn wir frei und selbstständig sind, wird sich schon
während des ungefähr 120 Tage dauernden Monitorings
alles zum Guten wenden. Dann wird die EU für die
Schaffung geeigneter Strukturen und für die Behebung
der noch vorhandenen Defizite zahlen. Daran wird deutlich: Beide Seiten sind zurzeit in bestimmten Bereichen
äußerst naiv.
Da sowohl die Serben als auch die Kosovaren ein sehr
großes Bestreben haben, in die EU aufgenommen zu
werden, habe ich zu beiden Seiten gesagt: Tut doch so,
als wärt ihr bereits Mitglieder der EU. Überlegt euch
einmal, was ihr tun müsstet, um die Standards, deren
Einhaltung die EU verlangt, zu erreichen. Fangt bitte an,
in dieser Reihenfolge zu denken. Ihr wollt im Jahre 2012
Mitglieder der EU werden. Im Jahre 2012 bestünde dann
Freizügigkeit zwischen Serbien und dem Kosovo, egal
welcher Status vorhanden ist. Darüber hinaus stünde die
Rückführung der Flüchtlinge an. Außerdem wäre zu klären, wie Minderheiten zu behandeln sind. All das wäre
kein Problem. Ihr müsst allerdings mit diesem Gedanken
beginnen. Sonst funktioniert das nicht. Ohne die Zustimmung der Bevölkerung beider Teile des Landes, der Serben und der Kosovaren, wird das nicht funktionieren.
Ich hoffe - das ist mir bei meinen Besuchen gesagt
worden -: Egal wie die Statusfrage geklärt wird, die
KFOR-Truppen sind vorbereitet, das Mandat so lange
nach den Grundsätzen des Peacekeeping fortzuführen,
bis eine neue Resolution verabschiedet wurde.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses auf Drucksache 16/5753 zu dem An-
trag der Bundesregierung auf Fortsetzung der deutschen
Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz im
Kosovo. Der Ausschuss empfiehlt, dem Antrag auf
Drucksache 16/5600 zuzustimmen. Es ist namentliche
Abstimmung verlangt. Zu dieser namentlichen Abstim-
mung liegt eine schriftliche Erklärung der Kollegin Petra
Hinz vor.1)
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind die Plätze an
den Urnen besetzt? - Es fehlt noch ein Schriftführer von
der Opposition. Ich eröffne die Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der
Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen
später bekannt gegeben.
Wir setzen die Abstimmungen fort.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag
der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/5778? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungs-
antrag ist mit den Stimmen von SPD und CDU/CSU bei
Gegenstimmen der FDP und Enthaltung der Fraktionen
des Bündnisses 90/Die Grünen und Die Linke abgelehnt. -
Die Linke hat nicht abgelehnt. - Also, ich revidiere: Die
Fraktion Die Linke hat abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck-
sache 16/5779? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD,
CDU/CSU und Fraktion Die Linke bei Enthaltung der
FDP und Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen
abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c sowie
Zusatzpunkt 4 auf:
6 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Laurenz
Meyer ({0}), Dirk Fischer ({1}), Eck-
hardt Rehberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
1) Anlage 2
Uwe Beckmeyer, Dr. Margrit Wetzel, Dr. Rainer
Wend, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Für eine zukunftsgerichtete europäische Mee-
respolitik
- Drucksache 16/5731 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Laurenz Meyer ({3}), Eckhardt
Rehberg, Wolfgang Börnsen ({4}), weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Margrit Wetzel,
Garrelt Duin, Dr. Rainer Wend, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD
Maritime Wirtschaft in Deutschland stärken
- Drucksachen 16/4423, 16/5437 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Patrick Döring
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder
Steenblock, Marieluise Beck ({5}), Volker
Beck ({6}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für eine nachhaltige und umfassende Meerespolitik für die Europäische Union
- Drucksache 16/5428 ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({7}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Angelika Brunkhorst, Patrick Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Schutz und Nutzung der Meere - Für eine
integrierte maritime Politik
- Drucksachen 16/4418, 16/5764 Berichterstattung:
Abgeordneter Uwe Beckmeyer
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Eckhardt Rehberg,
CDU/CSU-Fraktion.
({8})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Abgeordnete! Manche werden fragen, was ein
Grünbuch Meerespolitik soll.
Seit einem Jahr liegt das Grünbuch zur Beratung im
Deutschen Bundestag. Durch das Grünbuch wurde bewirkt, dass sich über das Parlament, den Deutschen Bundestag, hinaus auch die Landesparlamente und der Bundesrat in vielfältiger Art und Weise mit dem Ansatz der
Europäischen Kommission befasst haben, die Meerespo10772
litik zum ersten Mal nicht nur sektoral zu betrachten.
Das heißt, die Schiffbauindustrie, der Seeverkehr, der
Küstenschutz, die Offshorefischerei und die Meeresumwelt wurden nicht separat, sondern mit einem integrativen Ansatz betrachtet.
Deswegen, glaube ich, ist es wichtig und gut, dass der
Deutsche Bundestag eine eigene Stellungnahme erarbeitet hat, was zeitlich leider erst nach der Bremer Konferenz möglich war, die ich als sehr erfolgreich bezeichne
- ich bin hier den Kolleginnen und Kollegen der SPD für
die schnelle und konstruktive Zusammenarbeit ganz ausdrücklich dankbar -, und dass wir auch noch einmal unterstrichen haben, dass wir erst durch diesen ganzheitlichen Ansatz, also diese ganzheitliche Betrachtung der
Ozeane und Meere, nicht nur die wirtschaftlichen und
sozialen Aspekte, sondern zugleich auch die ökologischen Aspekte sehen. Dies muss ein Dreiklang sein:
wirtschaftlich, sozial und ökologisch.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, warum haben Meere und Ozeane in Deutschland möglicherweise
nicht die Aufmerksamkeit - sie stehen nicht so im Fokus wie in Großbritannien, Spanien, Portugal oder Frankreich? Ich glaube, dass dem einen oder anderen gar nicht
klar ist, dass zum Beispiel 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Europäischen Union an den Küsten erzeugt
werden, dass durch 400 000 Beschäftigte in der maritimen Wirtschaft in Deutschland 54 Milliarden Euro an
Bruttowertschöpfung erbracht werden - das ist fast das
Dreifache wie in der Luft- und Raumfahrtindustrie - und
dass 95 Prozent des interkontinentalen Warenverkehrs
über den Seeweg erfolgen. Ich sage ganz ausdrücklich,
dass ich sehr froh darüber bin, dass neben unserer Stellungnahme zum Grünbuch auch der Antrag „Maritime
Wirtschaft in Deutschland stärken“ verabschiedet werden soll.
Ich will noch auf den einen oder anderen Punkt eingehen. Man kann in der Kürze von fünf Minuten nicht alle
Aspekte ansprechen. Ich will noch einmal deutlich machen, dass wir uns gerade in der Nord- und in der Ostsee
- in zwei relativ kleinen Meeren - zunehmend mehr dem
Thema Schiffssicherheit widmen müssen.
Ich nenne einige Stichworte und sage das sehr drastisch und ausdrücklich: Die Schrott- und Seelenverkäufer - Stichwort: Einhüllentanker - gehören runter von
den Weltmeeren. Schrott gehört auf den Müll.
({1})
- Herr Kollege Steenblock, das kann man tun. Ich habe
das bewusst überspitzt gesagt: Schrott gehört auf den
Müll. - Daneben nenne ich die Lotsenpflicht für die Kadetrinne, feste Seerouten für Öltanker und andere gefährliche Schiffe, Einführung des Weitbereichsradars.
Wir müssen auch über ein internationales Küstenzonenmanagement reden und die Nutzungskonflikte nicht nur
national, sondern auch international lösen. Wir brauchen
eine integrierte Meeresforschung. Wir sind Technologieführer zum Beispiel im Schiffbau und haben durch effiziente Schiffsantriebstechniken die Chance, sehr stark
dafür zu sorgen, dass die Energieeffizienz auf den Schiffen steigt. Schließlich nenne ich auch das Thema Cleanship-Entsorgung. Auch hier können und sollten wir mit
deutscher Technologie ganz einfach nach vorne schreiten.
Lassen Sie mich zum Schluss noch zwei Dinge anfügen. Ich denke, wir sollten alle gemeinsam - hier sind
nicht nur die Küstenländer gefordert - den Stellenwert
maritimer Technologien nach vorne stellen. Es kann
nicht sein, dass der Umfang der maritimen Technologien
nur 0,4 Prozent gegenüber den Raumfahrttechnologien
und nur 0,75 Prozent gegenüber den Energietechnologien ausmacht. Wenn wir diese ganzheitliche Betrachtung wirklich ernst meinen, dann müssen wir in diesem
Bereich auch mehr investieren.
Ich will zum Schluss einen Satz aus dem Grünbuch
zitieren: „Die Eindämmung des Klimawandels ist für
den Schutz unserer Wirtschaft entscheidend.“
Wer unseren Antrag als unausgewogen kritisiert, den
bitte ich: Lesen Sie ihn von vorne bis hinten durch!
Herzlichen Dank.
({2})
Ich komme zurück zu Tagesordnungspunkt 5 und
gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern
ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung
über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der Internationalen
Sicherheitspräsenz im Kosovo, Drucksachen 16/5600
und 16/5753, bekannt: Abgegebene Stimmen 576. Mit
Ja haben gestimmt 515, mit Nein haben gestimmt 58,
Enthaltungen 3. Die Beschlussempfehlung und damit
der Antrag der Bundesregierung sind angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 576;
davon
ja: 515
nein: 58
enthalten: 3
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Peter Albach
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Clemens Binninger
Carl-Eduard von Bismarck
Renate Blank
Peter Bleser
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Anke Eymer ({1})
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({2})
Dirk Fischer ({3})
Axel E. Fischer ({4})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({5})
Jochen-Konrad Fromme
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Ralf Göbel
Dr. Reinhard Göhner
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Olav Gutting
Gerda Hasselfeldt
Ursula Heinen
Uda Carmen Freia Heller
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Dr. Peter Jahr
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Andreas Jung ({6})
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({7})
Volker Kauder
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Jens Koeppen
Kristina Köhler ({8})
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Johann-Henrich
Krummacher
Dr. Hermann Kues
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Stephan Mayer ({9})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Laurenz Meyer ({10})
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Dr. Gerd Müller
Hildegard Müller
Carsten Müller
({11})
Stefan Müller ({12})
Bernward Müller ({13})
Bernd Neumann ({14})
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Dr. Peter Paziorek
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Johannes Röring
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht ({15})
Anita Schäfer ({16})
Hermann-Josef Scharf
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Andreas Schmidt ({17})
Ingo Schmitt ({18})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Wilhelm Josef Sebastian
Kurt Segner
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Thomas Strobl ({19})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Hans Peter Thul
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß ({20})
Gerald Weiß ({21})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Dr. Lale Akgün
Gerd Andres
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr ({22})
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Petra Bierwirth
Lothar Binding ({23})
Volker Blumentritt
Kurt Bodewig
Clemens Bollen
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Bernhard Brinkmann
({24})
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Karl Diller
Martin Dörmann
Dr. Carl-Christian Dressel
Garrelt Duin
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Iris Gleicke
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({25})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
({26})
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Iris Hoffmann ({27})
Frank Hofmann ({28})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Johannes Jung ({29})
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Ulrich Kelber
Christian Kleiminger
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Volker Kröning
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Angelika Krüger-Leißner
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christian Lange ({30})
Dr. Karl Lauterbach
Waltraud Lehn
Helga Lopez
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Petra Merkel ({31})
Dr. Matthias Miersch
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller ({32})
Michael Müller ({33})
Gesine Multhaupt
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Christoph Pries
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Steffen Reiche ({34})
Maik Reichel
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel RiemannHanewinckel
Walter Riester
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({35})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({36})
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Marianne Schieder
Otto Schily
Dr. Frank Schmidt
Ulla Schmidt ({37})
Silvia Schmidt ({38})
Heinz Schmitt ({39})
Carsten Schneider ({40})
Olaf Scholz
Ottmar Schreiner
Reinhard Schultz
({41})
Swen Schulz ({42})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Dieter Steinecke
Ludwig Stiegler
Christoph Strässer
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Dr. Rainer Tabillion
Jella Teuchner
Jörn Thießen
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Andreas Weigel
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
({43})
Lydia Westrich
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Engelbert Wistuba
Dr. Wolfgang Wodarg
Waltraud Wolff
({44})
Heidi Wright
Manfred Zöllmer
FDP
Dr. Karl Addicks
Christian Ahrendt
Daniel Bahr ({45})
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({46})
Dr. Wolfgang Gerhardt
Joachim Günther ({47})
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Birgit Homburger
Michael Kauch
Dr. Heinrich L. Kolb
Hellmut Königshaus
Gudrun Kopp
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Michael Link ({48})
Markus Löning
Horst Meierhofer
Jan Mücke
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({49})
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Frank Schäffler
Dr. Konrad Schily
Marina Schuster
Dr. Max Stadler
Carl-Ludwig Thiele
Florian Toncar
Christoph Waitz
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({50})
Martin Zeil
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({51})
Volker Beck ({52})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Grietje Bettin
Alexander Bonde
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Priska Hinz ({53})
Ulrike Höfken
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Ute Koczy
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({54})
Monika Lazar
Dr. Reinhard Loske
Anna Lührmann
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({55})
Omid Nouripour
Krista Sager
Elisabeth Scharfenberg
Silke Stokar von Neuforn
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Wolfgang Wieland
Nein
CDU/CSU
Wolfgang Börnsen
({56})
Willy Wimmer ({57})
SPD
Gregor Amann
Petra Hinz ({58})
FDP
Jürgen Koppelin
DIE LINKE
Hüseyin-Kenan Aydin
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Dr. Lothar Bisky
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Heidrun Bluhm
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Heike Hänsel
Lutz Heilmann
Hans-Kurt Hill
Inge Höger
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Dr. Hakki Keskin
Katja Kipping
Jan Korte
Katrin Kunert
Oskar Lafontaine
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Kersten Naumann
Dr. Norman Paech
Petra Pau
Bodo Ramelow
Elke Reinke
Paul Schäfer ({59})
Volker Schneider
({60})
Dr. Ilja Seifert
Dr. Petra Sitte
Frank Spieth
Dr. Axel Troost
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Sylvia Kotting-Uhl
Hans-Christian Ströbele
Fraktionslose Abgeordnete
Henry Nitzsche
Enthaltung
CDU/CSU
Dr. Wolf Bauer
FDP
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Irmingard Schewe-Gerigk
Nächster Redner in unserer Debatte ist der Kollege
Hans-Michael Goldmann, FDP-Fraktion.
({61})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vielleicht interessiert es auch die Zuhörer: Es geht heute
um zwei Anträge. Ein Antrag trägt den Titel „Maritime
Wirtschaft in Deutschland stärken“. In dem anderen Antrag geht es um das Grünbuch der Europäischen Kommission „Die künftige Meerespolitik der EU“.
Nicht jeder weiß, was ein Grünbuch ist.
({0})
- Es ist gut, dass Sie das wissen. Das freut mich. - Auf
europäischer Ebene werden aus Grünbüchern Weißbücher entwickelt, die sich dann in Gesetzen und Verordnungen niederschlagen. Dabei muss man gut aufpassen,
dass die maritimen Interessen so zum Tragen kommen,
wie wir es uns wünschen. Das machen die FDP und auch
ich persönlich, seit ich die Aufgabe des Sprechers für
diesen Bereich wahrnehme.
Wir haben über 50 parlamentarische Initiativen eingebracht. Dabei war uns immer wichtig, gleiche Wettbewerbschancen zu schaffen. Sie erinnern sich sicherlich
an den Kampf um die Tonnagesteuer. Des Weiteren geht
es uns um den Meeres- und Küstenschutz, um die
Schiffssicherheit und um eine leistungsfähige Wasserund Schifffahrtsverwaltung, die ihre Aufgaben erfüllen
kann. Sie nimmt gerade in dieser Zeit besondere Aufgaben wahr, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Realisierung des Jade-Weser-Portes in Wilhelmshaven. Ein
weiterer wichtiger Punkt ist aus unserer Sicht der aktivierende Staat. Das bedeutet, dass möglichst viele Aufgaben des Staates an Private übertragen werden. Auch
darüber können wir noch sprechen, wenn es um Rettungskonzepte geht. Außerdem geht es uns um eine bedarfsgerechte Infrastruktur.
Wir werden dem Antrag zur Stärkung der maritimen
Wirtschaft zustimmen, weil wir uns in dieses Vorhaben
eingebunden sehen und weil wir es für klug halten, die in
einzelnen Punkten erzielte Übereinstimmung auch gemeinsam zum Ausdruck zu bringen.
({1})
Wir werden uns bei Ihrem Antrag zum Grünbuch der
Stimme enthalten, Herr Rehberg, obwohl auch dieser
Antrag viele wichtige Punkte enthält. Es ist aber ein bisschen blamabel, Herr Rehberg
({2})
- doch, Herr Rehberg; es ist blamabel -, wenn Sie darauf
hinweisen, dass das Vorhaben seit einem Jahr auf dem
Weg ist. Ich weiß, dass die Konferenz in Bremen nicht
ein Jahr zurückliegt, sondern später war. Sie haben aber
erst zwei Tage vor der Abstimmung im Parlament, am
Dienstagabend, eine Vorlage eingebracht, die ich im Übrigen in vielen Bereichen für sehr qualifiziert halte. Ich
habe sie intensiv gelesen.
({3})
- Warum verzichten Sie dann auf eine Beratung im Ausschuss, Herr Rehberg? Warum sind Sie mit Ihrer Leistungsfähigkeit als Große Koalition nicht in der Lage, ein
geordnetes Verfahren auf den Weg zu bringen, bei dem
wir dann gemeinsam feststellen könnten, dass wir auch
mit dem Grünbuch auf einem guten Weg sind? Ihren
Vorschlägen kann man inhaltlich in vielen Punkten zustimmen, aber der Verfahrensweg, den Sie beschritten
haben, ist eine Blamage für Ihre Arbeit.
({4})
Lassen Sie mich einige Punkte ansprechen, die uns sicherlich gemeinsam am Herzen liegen und die auch die
Staatssekretärin beim Deutschen Seeschifffahrtstag in
Emden und der Herr Bundespräsident angesprochen haben. Es gibt Personalprobleme, was die Qualifikation
derjenigen angeht, die auf den Schiffen beschäftigt sind.
Das ist kein neues Phänomen. Wir haben schon 1990 im
Ausschuss für Häfen und Schifffahrt des Niedersächsischen Landtags Klagen darüber gehört, dass Personal in
diesem Bereich unterqualifiziert ist. Daraus erwachsen
Sicherheitsprobleme auf den Seewegen.
Ich glaube, dass wir gemeinsam Anstrengungen unternehmen müssen, um hierbei Verbesserungen zu erreichen. Das gilt auch für die Länder. Ich finde es gut, dass
in Niedersachsen - auch durch die Seefahrtsschule in
Leer und mit Ihrer Unterstützung, Herr Duin - erreicht
wurde, dass sich die Reeder engagieren, damit qualifizierter Nachwuchs gesichert werden kann. Dann können
wir auch ernst machen mit dem Zurückflaggen der
Schiffe, die bis jetzt zum Teil im Ausland registriert
sind.
In Bezug auf die Realisierung des Schiffbaus in
Deutschland haben wir nach wie vor ein Problem. Das
Problem der Zinsschranke ist für das eine oder andere
Werftunternehmen auch im Zuge der Beratungen zur
Unternehmensteuerreform nicht bereinigt worden. Ich
habe gehört, dass es in diesem Zusammenhang ein Omnibusgesetz geben soll, das manches einsammeln will,
was in diesem Bereich falsch gelaufen ist. Ich bitte Sie
noch einmal, sehr genau darauf zu achten, dass man gerade Unternehmen, die hohe kreditfinanzierte Investitionen auf den Weg bringen, nicht das Wasser abgräbt;
denn das wäre jammerschade.
({5})
Heute ist ja ein Jubeltag. Endlich ist die Notfallschlepper-Ausschreibung auf den Weg gebracht.
({6})
- Dazu können wir uns gerne selbst gratulieren, liebe
Kollegen. Aber warum haben Sie so lange dafür gebraucht? Mir ist auch wirklich schleierhaft, warum die
Verwaltung in diesem Bereich einiges vereumelt hat.
Lassen Sie uns jetzt aber froh und glücklich sein. Hoffentlich kommen die Schlepper dann auch nach den Ansprüchen, die wir gestellt haben, die wir in diesem Bereich vielleicht ein bisschen mehr Ahnung haben als der
eine oder andere Verwaltungsbeamte.
Es ist gut, dass das jetzt auf den Weg gebracht ist;
denn nichts ist für unsere Meere so schlimm wie Unsicherheit und Gefährdung durch Schiffsunfälle. Das haben wir erlebt. Jeder, der Leistungsfähigkeit im Hafenbereich will, will auch auf den Zufahrtswegen und auf
den Binnenwasserstraßen Sicherheit haben.
Wer die Deutsche Bucht ein bisschen kennt, der weiß,
dass Sicherheit dort eine der größten Herausforderungen
ist; denn ansonsten ist der Nationalpark Wattenmeer - demnächst wahrscheinlich sogar Weltnaturerbe - überhaupt
nicht mit unseren Vorstellungen von der Nutzung der
Häfen und der Nutzung der Chancen in den Häfen in
Einklang zu bringen.
Die europäische Ebene geht jetzt mit dem Grünbuch
in bestimmte Bereiche hinein. Das begrüße ich sehr. Diesen integrativen Ansatz haben Sie auch zum Ausdruck
gebracht, Herr Rehberg. Ich bin ebenfalls dafür, dass wir
Raumordnungspläne auflegen und sagen: Das ist unsere europäische Zielsetzung.
Ich bin aber strikt dagegen, dass die europäische
Ebene bestimmt, welcher Hafen übernationale Bedeutung hat und welcher Hafen möglicherweise nur nationale Bedeutung hat. Einen solchen Eingriff der europäischen Ebene in unsere Gestaltungsmöglichkeiten sollten
wir auf jeden Fall abwenden.
({7})
- Sie haben ihn nicht abgewendet. In Ihrem Antrag steht,
dass das auf den Weg gebracht werden soll. Bisher haben
Sie gar nichts abgewendet, Herr Rehberg.
Auch an anderen Stellen - zum Beispiel bei ILO-Vereinbarungen - haben Sie die Dinge nicht so auf den Weg
gebracht, wie Sie es hier eben darzustellen versucht haben.
Wir können uns sehr gerne über gemeinsame
Schritte in diesem Bereich einigen. Ich biete das noch
einmal ausdrücklich an. Der maritime Bereich eignet
sich dafür, dass wir uns gemeinsam aufstellen; denn er
ist extrem chancenreich. Ich bin dafür, dass wir diese
Dinge gemeinsam abklären.
Allerletzter Punkt: Das gilt zum Beispiel auch für den
Fischfang. Ich bin froh darüber, dass es dort jetzt - auch
mit Unterstützung des Bundesministeriums, auch durch
Herrn Minister Seehofer - zu Verbesserungen kommt.
Herr Kollege Goldmann!
Wir müssen klipp und klar sagen: Die Überfischung
ist nicht hinzunehmen. Gemeinsam kriegen wir es aber
hin.
Ich hoffe, dass wir in diesen Fragen weiterhin an einem Strang ziehen können.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich gebe dem Kollegen Uwe Beckmeyer, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ein Wort vorweg zu Herrn Goldmann: Dieser
Antrag des Deutschen Bundestages ist heute eine Premiere. Wir wenden uns als Deutscher Bundestag nämlich
zum ersten Mal direkt an die Europäische Kommission.
Das ist in dieser Frage auch absolut angemessen, denke
ich.
Natürlich erwartet der Deutsche Bundestag von der
Bundesregierung, dass sie diesen Beschluss auch an die
Europäische Kommission weiterleitet.
Wir haben in diesem klaren Text auch zum Ausdruck
gebracht, welche besonderen Erwartungen wir an die
Diskussion haben, die sich auf der europäischen Ebene
an das Grünbuch anschließt.
Wir wollen nicht, dass es - wie Sie es in Ihrem Antrag
teilweise formuliert haben - in diesem Prozess zu weiter
gehenden Kompetenzverlagerungen kommt.
({0})
- An die EU.
({1})
- Nein.
({2})
Wir sind der festen Überzeugung: Einiges muss konsolidiert, zusammengeführt und abgestimmt werden.
Dies soll auch erfolgen.
({3})
Dabei sollte Folgendes nicht außer Acht gelassen werden: Verlagerungen von wichtigen Entscheidungen an
die EU sind - auch nach dem Subsidiaritätsprinzip nicht einfach hinzunehmen. Wir haben in Europa
27 Kommissare und entsprechende Aufgabenfelder.
Wenn nun ein neues Aufgabenfeld kreiert werden soll,
dann müssen wir aufpassen, dass wir unsere nationalen
und landespolitischen Handlungsspielräume behalten.
Herr Kollege Beckmeyer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Goldmann?
Nein, Frau Präsidentin.
({0})
Lieber Herr Goldmann, zum Verfahren selbst: Der
Antrag Ihrer Fraktion ist eigentlich ein Reflex auf eine
Konferenz, die schon fast ein Jahr zurückliegt. Wir vertreten in unserem Koalitionsantrag Positionen, die deutlich machen, was wir von der Europäischen Kommission
erwarten.
({1})
Wir wollen zeigen, dass die Meerespolitik und der maritime Sektor insgesamt für Europa und insbesondere für
Deutschland eine große Bedeutung haben, und zwar auf
den verschiedenen ökonomischen Feldern, nicht nur im
Außenhandel, im Seehandel, in der Hafenwirtschaft und
der maritimen Wirtschaft. Es gibt Hunderttausende Arbeitsplätze, die davon direkt abhängig sind, und eine
vielfache Zahl mehr, die davon indirekt abhängig sind.
Das machen die im Grünbuch aufgezeigten Schwerpunktthemen deutlich.
Wenn es um Beschäftigung, Wettbewerbsfähigkeit,
Forschung und Innovation sowie das Leben an der Küste
und die gemeinsame Verantwortung für die Meere geht,
müssen wir gemeinschaftlich handeln. Richtig ist: Kaum
ein anderer Wirtschaftszweig muss sich in gleichem
Maße im globalen Wettbewerb behaupten wie der maritime Sektor. Insofern ist es wichtig, unsere Konkurrenzfähigkeit auf internationaler Ebene zu sichern, indem wir bisher isoliert betrachtete einzelstaatliche
Politiken künftig stärker miteinander verzahnen und gemeinsam vorantreiben. Die Europäische Union kann uns
hier helfen. Dafür ist sie weltweit in den entsprechenden
Gremien tätig. Sie ist die Instanz, die die jeweiligen nationalen Interessenlagen vertreten muss.
In den Bereichen Seeverkehr, Schiffbautechnik, Offshore-Energien und maritime Dienstleistungen sind wir
auf einem guten Wege. Hier ist Europa hilfreich. Wir
brauchen in der Frage, wie wir uns national aufstellen
und wie wir ökonomische Interessen durchsetzen können, im Hinblick auf die Menschen sowie die Arbeitsplätze und die Dienstleister an der Küste abgestimmte
Strategien. Diese müssen unser Politikverständnis und
unsere Gestaltungskraft widerspiegeln. Wir betreiben
Politik vor Ort. Das ist wichtig. Wir wollen mit einer solchen Politik unsere Stärken stärken. Das ist der entscheidende Punkt.
Den Europaskeptikern, die kritisch fragen, ob wir
überhaupt Meerespolitik betreiben müssen, sage ich: Ja.
Einige sagen, Deutschland sei ein - das habe ich erst gelernt - Kurzküstenstaat. Das stimmt aber nicht; denn mathematisch gesehen ist Küste ohnehin ein fraktales Gebilde und insofern unendlich. Das ist sicherlich nur
Mathematik. Aber man darf nicht vergessen, dass an der
Küste Menschen leben. Wenn man sich die Karte Europas anschaut, dann stellt man fest, dass Europa eine
große Halbinsel ist, umgeben von Wasser, und zwar von
Mittelmeer, Nordostatlantik und Ostsee, dem Baltischen
Meer. Und wir sind mitten drin. Wir sollten gemeinschaftlich alles tun - das haben auch wir in der Koalition
verabredet -, dass die genannten Bereiche eine Zukunft
haben und dass die Profilbildung, die Spezialisierung
und das Schaffen von Netzwerken auf diesem Gebiet unterstützt werden. Insofern ist der Plan der Europäischen
Kommission hinsichtlich der Zukunft und des Clusterings, der dazu dient, Synergien zu verstärken, der richtige Ansatz. Die deutschen Seehäfen verfolgen diese
Strategie. Sie sind hier zu einem großen Erfolg gekommen.
Ich habe die Hoffnung, dass wir - auch mit Unterstützung der Europäischen Kommission - die enormen Zukunftspotenziale, die wir auf diesen Feldern haben, ausschöpfen werden. Das ist unsere Aufgabe. Wir bitten
Brüssel, sich hier einzubringen, den Informationsaustausch zu verbessern und unsere Interessen international
zu vertreten. Alle politischen Seiten sollten sich bemühen, ein gutes Ergebnis zu erzielen.
Herzlichen Dank.
({2})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem
Kollegen Goldmann.
Lieber Kollege Beckmeyer, ich bin schon erstaunt
und auch ein bisschen traurig darüber, dass Sie das Angebot der FDP, in dieser Frage zusammenzuarbeiten, sozusagen mit Füßen treten. Angesichts der Tatsache, dass
Bremen und Niedersachsen - in Niedersachsen haben
wir eine CDU/FDP-geführte Landesregierung ({0})
gemeinsam den Jade-Weser-Port auf den Weg bringen,
mit dem Bremer Interessen berührt werden, finde ich Ihr
Verhalten nicht sehr geschickt. Angesichts der Tatsache,
dass wir gemeinsam versuchen, an der Elbe eine Lösung
zu finden, die der Metropole und dem Seehafenstandort
Hamburg gerecht wird, bedaure ich sehr, dass Sie hier
mit Unterstellungen arbeiten.
Weil Sie meine Zwischenfrage nicht zugelassen haben, möchte ich Sie an dieser Stelle herzlich bitten, mir
die Frage zu beantworten, an welcher Stelle der FDPAntrag Kompetenzen auf die europäische Ebene zum
Nachteil nationaler Interessen verlagern will. Das werden Sie an keiner einzigen Stelle finden. Wir sind nämlich für Ausgewogenheit.
Ich will noch etwas zu den Häfen sagen, die auch Sie
angesprochen haben. Herr Kollege Beckmeyer, ich gehe
davon aus, dass Sie das Grünbuch intensiv studiert haben. Es liegt schon lange Zeit vor. Aber es ist nicht richtig, dass sich unser Antrag auf das Jahr davor bezieht. In
Ihrer schönen Hansestadt haben wir zu diesem Bereich
eine Maritime Konferenz durchgeführt und einen entsprechenden Antrag vorgelegt, der Ihnen seit langem bekannt ist.
Sie wissen doch hoffentlich genauso gut wie ich, dass
die Häfen nicht im Grünbuch aufgenommen wurden.
Oder ist Ihnen das entgangen? Sie wissen doch, dass die
europäische Ebene nach dem Desaster, das wir bei Port
Package zweimal erlebt haben, die Häfen ausgespart hat.
Sie bringen mit Ihrem Antrag zum Ausdruck, dass Sie
die Häfen in eigener Regie betreiben wollen. Sie wollen
also genau das, was Sie uns unterstellen. Denn in Ihrem
Antrag heißt es auf Seite 6: „... dass es keine europäische
Politik der Konzentration auf wenige ‚mainports’ gibt“.
Weil ich Sie in dieser Frage in meinen Ausführungen
unterstützt habe, weiß ich also wirklich nicht, was Ihre
Unterstellungen sollen, wir würden den Grundvorstellungen kluger maritimer Politik mit unserem Antrag entgegenstehen.
Herr Kollege Beckmeyer, bitte.
Lieber Kollege Goldmann, ich antworte Ihnen wie
folgt:
Erstens. Die Maritime Konferenz in Bremen, von der
Sie gesprochen haben, fand vor zweieinhalb Jahren statt.
({0})
- Die letzte Maritime Konferenz hat in Hamburg stattgefunden.
({1})
Was in Bremen stattgefunden hat, war eine Anhörung
zum Grünbuch der Europäischen Kommission.
({2})
Daran habe ich teilgenommen und einen Arbeitskreis geleitet. Insofern weiß ich schon, wovon ich rede.
({3})
Zweitens. Wenn ich Ihren Antrag richtig gelesen
habe, dann fordern Sie die Gründung einer maritimen
Agentur,
({4})
die mit zusätzlichen Kompetenzen ausgestattet ist. Man
muss da genau unterscheiden und aufpassen, was man
tut.
Wir unterstützen die auf Brüsseler Ebene vorhandenen Tendenzen, in Europa quasi einen Aufgabenklau
vorzunehmen, nicht. Die Kommissare sollen sich vielmehr auf ihre Aufgaben konzentrieren und ihre Arbeitsfelder entsprechend abgrenzen. Was national zu entwickeln ist und was national zu erledigen ist, bleibt auch
zukünftig auf nationaler Ebene.
({5})
Zum Thema Häfen, Herr Goldmann. Ich weiß, was
Hafenpolitik ist. Sie sprechen von einer Konzentration
auf Mainports. Dabei wissen Sie ganz genau, dass die
Seehafenpolitik in unserem Land eine Mainport-Strategie nicht zulässt. Denn eine Mainport-Strategie wird in
der Szene als eine Strategie zugunsten von Rotterdam
und Antwerpen verstanden.
({6})
Wir haben in Deutschland klipp und klar gesagt, eine
solche Konzentration werden wir nicht mitmachen. Wir
wollen unter anderem, dass Hamburg, die bremischen
Häfen und zukünftig auch Wilhelmshaven im Fokus stehen.
Jetzt zu den nachgelagerten Häfen mit vielfältigen
Feederfunktionen: Die brauchen wir alle in Europa an
der Küste dieses Kontinents. Da gibt es kein Vertun.
Diese Position haben wir deutlich beschrieben.
({7})
Sie sagen, wir hätten dazu nichts gesagt. Schauen Sie
hinsichtlich der Gestaltung der Spielräume der regionalen und nationalen Ebene doch einmal auf Seite 5 unseres Antrags. Da schreiben wir, „dass die inhaltlichen und
administrativen Vorgaben durch die EU-Meerespolitik
auf den notwendigen Umfang beschränkt und Gestaltungs- und Handlungsspielräume auf regionaler und nationaler Ebene erhalten werden“ sollen. Das ist die Position der Koalition in dieser Frage, ganz eindeutig und
klipp und klar.
({8})
Ich gebe das Wort der Kollegin Eva Bulling-Schröter,
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist schön, dass wir im Bundestag bis zur
Sommerpause zweimal Gelegenheit haben, uns mit dem
Meeresschutz zu beschäftigen. Ich denke, in der Debatte
zu unserer Großen Anfrage in der nächsten Sitzungswoche können wir uns detailliert damit befassen, was zu tun
ist, um die anhaltende Überfischung der Weltmeere zu
stoppen, und auch darüber, wie wir mit der Versauerung
der Meere umgehen. Wenn es heute vorrangig um einen
integrierten Ansatz, also einen übergreifenden EU-Meeresschutz, gehen soll, dann dürfen wir nicht den gleichen
Fehler machen wie den, der sich durch das EU-Grünbuch zum Meeresschutz durchzieht.
Die Kommission schreibt dort eingangs, sie wolle in
der EU-Meerespolitik einem integrativen Ansatz folgen, einem Ansatz, der die Meere nicht nur als Wirtschaftsraum, sondern auch als Ökosystem begreift. In
der Logik des übrigen Textes geht es aber fast nur noch
um Anforderungen zur Nutzung an das Meer: Es soll der
Schifffahrt dienen, Rohstofflager sein, Energie liefern,
Erholung bieten und natürlich vor allem der Fischerei
zur Verfügung stehen. In dem Grünbuch geht es lediglich darum, die konkurrierenden Nutzungsansprüche an
die Ozeane besser aufeinander abzustimmen. Die Meeresumwelt ist den Autoren eher fremd. Das Problem ist
aber gerade: Das Meer wird nicht als Ökosystem nachhaltig genutzt, sondern rücksichtslos ausgebeutet. Der
schutzwürdige Eigenwert der Meeresökosysteme und
ihrer Tier- und Pflanzenwelt spielt jenseits einiger spektakulärer Tierarten so gut wie keine Rolle.
Dass im Grünbuch irgendwo auch etwas zur Eindämmung der illegalen Fischerei steht, ist begrüßenswert.
Im Kontext dürfte der Passus aber eher dem Schutz der
legalen Fischerei als einem Umweltgedanken geschuldet
sein. Konsequenterweise lautet die erste der gestellten
Fragen im Grünbuch, welchen Mehrwert eine integrierte
Meerespolitik in der EU gegenüber nationalen Maßnahmen haben könnte. Da werden dann jede Menge marine
Wirtschafts- und Wachstumspotenziale aufgezeigt, um
eine gemeinsame EU-Politik zu rechtfertigen. Nun
könnte man argumentieren, das Grünbuch sei nur eine
Säule im EU-Meeresschutz, die eigentliche Umweltsäule sei die Meeresstrategierichtlinie, welche gerade
auf die abschließende Lesung im EU-Parlament wartet.
({0})
Da kann ich nur antworten: Erstens, was nutzt die
Umweltsäule, wenn über das Grünbuch und die folgenden Aktionsprogramme Fakten geschaffen werden, die
die Meeresumwelt nachhaltig schädigen? Was nutzt eine
isolierte Umweltpolitik für die europäischen Meere,
wenn wachsender Seeverkehr, Rohstoffförderung, immer mehr Gentechnik sowie zunehmender Fischereidruck immer stärker in die ohnehin gestresste Meeresumwelt einwirken?
({1})
Zweitens möchte ich darauf hinweisen, dass die berühmte Umweltsäule reichlich brüchig ist. Der Meeresschutz wird mit dem Richtlinienvorschlag der Kommission weitgehend zurück in die Verantwortung der
einzelnen Mitgliedsländer gelegt. Absurderweise sind
genau jene Politikfelder aus der Richtlinie ausgeklammert, in denen die EU über die Kompetenzen verfügt.
Das betrifft zum Beispiel die gemeinsame Fischereipolitik. Dabei ignoriert beispielsweise der Fischereiministerrat seit Jahren die Empfehlungen des Internationalen Rates für Meeresforschung, die Kabeljau- bzw.
Dorschfischerei in der Nord- und Ostsee zu stoppen.
Ausgeklammert ist auch die EU-Landwirtschaftspolitik, die etwa bezüglich der Problematik Überdüngung
und Algenblüte sehr viel mit dem Schutz der Meere zu
tun hat. Das EU-Parlament hat im Zuge der ersten Lesung einige Verbesserungen am Richtlinienvorschlag
vorgenommen. Leider wurden sie alle vom Umweltministerrat wieder kassiert. Ich kann nur hoffen, dass das
EU-Parlament seine Einwände nach der Sommerpause
erneut erhebt.
({2})
Wenn wir bis 2021 einen guten Zustand der Meere erreichen wollen, so geht das nur mit einer wirklich integrierten Meeresschutzpolitik. Diese muss den Schutz der
Ozeane über die wirtschaftliche Nutzung stellen. Ist dies
gesichert - nächste Woche werden wir uns darüber sehr
intensiv unterhalten -, werden auch die Fische zurückkehren. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, nennt man
dann Nachhaltigkeit.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Rainder Steenblock,
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist sicherlich ein gutes Zeichen - auch im Hinblick
auf die Europatauglichkeit unseres Parlaments -, dass
wir uns hier mit diesem Grünbuch beschäftigen und dass
wir versuchen, den Prozess der Beteiligung nationaler
Parlamente an europäischen Entscheidungen durch solche Beratungen zu stärken.
Lassen Sie mich vorausschicken: Ich wünsche mir allerdings, dass das Zusammenspiel zwischen parlamentarischer Diskussion und Stellungnahme gegenüber der
Europäischen Union ein bisschen professioneller wird.
Wir Grünen haben in den Konsultationsprozess der
Europäischen Union eine ausführliche Stellungnahme - sie
umfasst über 50 Seiten; damit können wir uns hier nicht
befassen - eingespeist. Ich stelle fest, dass die Bundesregierung bisher überhaupt nichts vorgelegt hat. Die
Koalition hat wirklich auf den letzten Drücker ein Papier
vorgelegt, das man in den Konsultationsprozess nicht
einbringen kann.
({0})
Angesichts dessen muss ich sagen: Wir behandeln zwar
das richtige Thema; aber die im Hause praktizierten Verfahren lassen sich insgesamt durchaus noch verbessern,
wenn wir in Brüssel bezüglich dieser zentralen Fragen
Gehör finden wollen.
({1})
Das Grünbuch, das die EU vorgelegt hat, verdient
Kritik.
({2})
Dieses Grünbuch wird seinem Anspruch nicht gerecht;
da stimme ich dem, was die Kollegin der Linken gerade
gesagt hat, ausdrücklich zu. Ich will das an drei Beispielen deutlich machen.
Erstes Beispiel: Fischerei. Die Kabeljaubestände in
Nord- und Ostsee sind nahezu leergefischt. Das weiß jeder. Alle Wissenschaftler sagen, dass wir ein Verbot des
Fangs von Kabeljau brauchen, wenn sich diese Bestände
überhaupt wieder regenerieren sollen.
({3})
Trotzdem hat der EU-Ministerrat für Landwirtschaft und
Fischerei unter Vorsitz von Herrn Seehofer für das nächste
Jahr eine Fangquote für Kabeljau von 23 000 Tonnen beschlossen. Es ist immer wieder das gleiche Spiel. Wir
haben praktische, konkrete Vorstellungen über die Nutzung des Meeres. Wenn es aber um den Schutz des Meeres geht, dann benutzen wir häufig nur Worthülsen.
({4})
Sieht man einmal von dem ab, was die Kollegin der Linken gesagt hat, ging es in der ganzen bisherigen Debatte
zu etwa 5 Prozent um den Schutz des Meeres und zu
95 Prozent um Nutzungsstrategien. Mit diesem Vorgehen werden wir das Meer kaputt machen.
({5})
Wir brauchen eine europäische Fischereipolitik, die
die Fangquoten reduziert. In bestimmten Bereichen müssen die Fangquoten bei null liegen. Die Grundnetzschlepperei muss verboten werden.
({6})
Unsinnige Subventionen müssen abgebaut werden. Außerdem brauchen wir - auch das ist noch nicht erwähnt
worden - Meeresschutzgebiete, wenn wir das Meer für
uns und die nachfolgenden Generationen erhalten wollen.
({7})
Zweites Beispiel: Schiffsemissionen. Das Schiff hat
das Potenzial zum ökologisch verträglichsten Verkehrsmittel. Wenn wir uns einmal anschauen, was die Schiffe
zurzeit noch emittieren, dann erkennen wir, dass das
echte Dreckschleudern sind. Das muss man so sagen. Es
gibt Schiffe, auf denen Kraftstoffe verbrannt werden, die
an Land als Sondermüll entsorgt werden müssten. Wir
brauchen mehr Forschung und Entwicklung. Wir brauchen alternative Kraftstoffe und alternative Antriebe.
({8})
Wir sind da schon sehr weit. Deutschland kann auf diesem Gebiet sehr gut sein.
„European Clean Ship“ ist eine Strategie, die wir unterstützen. Hier können wir technologisch vorangehen.
Notwendig ist, dass die CO2-Emissionen von Schiffen in
den Handel mit Emissionszertifikaten einbezogen werden.
({9})
Dafür muss sich die Bundesregierung einsetzen. Herr
Tiefensee hat das einmal angesprochen. Das ist aber wieder untergegangen.
({10})
Das ist etwas, was beim Thema Meer häufiger passiert.
So etwas sollte in der Bundesregierung aber seltener passieren.
({11})
Drittes Beispiel: Offshorewindenergie. Die Offshorewindparks sichern nachhaltige Energiegewinnung,
und sie sichern Arbeitsplätze. In Werften und im Maschinenbau werden dadurch in den nächsten Jahren
20 000 neue Jobs an der Küste entstehen. Der Exportanteil in Deutschland ist enorm. Das Investitionsvolumen
beträgt 50 Milliarden Euro.
({12})
- Halten Sie doch endlich einmal Ihr Sprechwerkzeug
ruhig!
({13})
Sie können sich immer gern zu einer Zwischenfrage
melden; dann habe ich mehr Redezeit.
({14})
Dieses Potenzial an Dualität, was reden angeht, Herr
Goldmann, ist wirklich unter Ihrer Würde.
({15})
Gerade der Offshorebereich macht deutlich, dass wir
technologische Innovationen brauchen. Wir brauchen
Forschung auf diesem Gebiet. Im maritimen Bereich ist
eine ganze Menge an ökologischer Forschung, gerade im
Energiebereich, über die Windenergie möglich. Ich
nenne Gezeitenkraftwerke und Strömungskraftwerke. In
diesem Bereich haben wir enorme Potenziale. Deutschland und die Europäische Union können hier Vorreiter
sein.
Wenn wir in diese Richtung Politik machen, wenn wir
Meeresschutz ernst nehmen - nur dann - und die wirtschaftlichen Potenziale zusammenführen,
({16})
werden wir eine Perspektive haben, bei der wir das Meer
den nachfolgenden Generationen so überlassen können,
dass auch sie noch eine Nutzungsmöglichkeit haben.
({17})
Das ist machbar. Dafür steht unser Antrag. Ich bitte
um Zustimmung zu diesem Antrag.
Wenn ich zum Schluss noch Folgendes sagen darf:
Frau Merkel hat in Bremen auf der Grünbuch-Konferenz
eine Rede gehalten - Herr Beckmeyer, Sie waren da -,
die ausgesprochen gut war.
({18})
- In Bremen. - Ihr Antrag ist leider nur ein Abklatsch
davon. Die Rede von Frau Merkel müsste Sie eigentlich
dazu zwingen, unserem Antrag zuzustimmen; denn er
entspricht genau der Intention ihrer Rede damals.
Vielen Dank.
({19})
Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Dagmar Wöhrl.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Kollege Steenblock, ich glaube, auch Ihnen ist bekannt, dass die Bundesregierung von Anfang an aktiv
am Grünbuch mitgearbeitet hat. Wir haben schon im
Mai 2005, als es das Licht der Welt erblickt hat, ein abgestimmtes Positionspapier vorgelegt.
({0})
Wir sprechen über das Meer, über einen Wirtschaftssektor mit einer sehr großen Zukunft. Wir als Regierung
haben das Ziel, die Wirtschaftspotenziale der Küstenregionen und der Meere zu erschließen. Kollege Rehberg
hat zu Recht darauf hingewiesen: Dass wir Exportweltmeister sind, haben wir zum großen Teil der deutschen
maritimen Wirtschaft zu verdanken. Man muss sich vor
Augen führen, dass über 90 Prozent des Welthandels
über die Meere gehen und dass die maritime Wirtschaft
Potenziale auch im Bereich von Entwicklung und Beschäftigung hat.
Es ist kaum bekannt, dass zwei Drittel der Grenzen
der Europäischen Union Küste sind. Das ist bei weitem
mehr als bei Russland oder den Vereinigten Staaten.
Was denken wir, wenn wir an die Meere denken?
Manche denken vielleicht an Urlaub. Man denkt auch an
Nahrungsquellen, an Transportwege. Aber denkt man an
Hochtechnologie? Eher selten. Dabei sind die Ozeane
inzwischen Standorte von Hochtechnologiewindkraftanlagen. Wir fördern submarin lagernde Öl- und Gasvorräte - mit steigender Tendenz. Allein in dem Bereich
wird sich die Förderung von 2005 bis 2019 verdoppeln.
Wir wollen in diesen komplexen Hightechbereichen
weiter forschen und Entwicklung betreiben. Es gibt gezielte Forschungsförderung in maritimen Zukunftsfeldern mit hohen Innovationspotenzialen. Wir wollen auch
die maritime Wissensbasis noch mehr erweitern, zum
Beispiel wenn es um die Förderung von Öl und Gas in
den eisbedeckten Gebieten der Arktis geht
({1})
oder um die Gasgewinnung aus Methanhydrat, auch in
Verbindung mit der Deponierung von CO2. Wir sind auf
einem guten Weg. Wir haben in Deutschland ein sehr
großes Potenzial, ein sehr großes Know-how. Wir haben
unwahrscheinlich leistungsfähige Forschungseinrichtungen in diesem Bereich.
Die Meerestechnologie ist also ein Bereich, der sehr
große Zukunftschancen hat. Weltweite Nachfrage wird
es in der Zukunft in diesem Bereich geben. Damit birgt
diese wichtige Zukunftsbranche große Beschäftigungspotenziale. Das heißt natürlich für uns: Wir müssen dafür werben - diese Botschaft müssen wir vermitteln -,
dass junge Leute in dieser Zukunftsbranche aktiv werden
und sich beruflich auf diese Branche hin orientieren.
({2})
Es ist etwas Weiteres sehr wichtig - ich bin froh, dass
das angesprochen worden ist -: Neben unseren Bemühungen um Optimierung der wirtschaftlichen Nutzung
der Ozeane - das heißt im Rahmen der Lissabonstrategie
Stärkung von Wachstum und Beschäftigung - müssen
wir auch Verantwortung für den Schutz der Meere
übernehmen. In dem Zusammenhang sage ich aber auch,
dass sich diese beiden Ziele nicht gegenseitig ausschließen, sondern sich gegenseitig ergänzen. Es ist nämlich,
wie ich glaube, wichtig, zu erkennen, dass die Verfolgung leistungsfähiger Umweltstrategien nur auf der Basis einer gesunden wirtschaftlichen Entwicklung möglich ist.
Nehmen wir das Beispiel Schiffbau. Schiffbau ist bei
beiden Komponenten unwahrscheinlich stark: Er bildet
nicht nur in einigen strukturschwachen Küstenländern
das industrielle Rückgrat, sondern er stellt auch einen
Aktivposten beim Umweltschutz und beim Klimaschutz
dar. Der Schiffbau in Deutschland macht in Bezug auf
Schutzbestimmungen weit mehr, als es gesetzlich vorgeschrieben ist.
({3})
Zu Recht fragen sich aber unsere Schiffbauer, die die
europäischen Vorschriften einhalten oder sogar übertreffen, wieso es auf internationaler Ebene nicht diese Vorschriften gibt.
({4})
Hier müssen wir zusehen, dass wir weltweit gleiche
Wettbewerbsbedingungen schaffen, damit nicht durch
europäische Vorschriften ein Wettbewerbsnachteil für
den europäischen Schiffbau entsteht.
Es ist richtig - das ist schon angesprochen worden -,
dass wir zu einer integrierten Meerespolitik kommen
müssen. Eine integrierte Meerespolitik kann nicht ein
Mitgliedstaat allein machen. Nichtsdestoweniger muss
trotzdem auch in Zukunft das Subsidiaritätsprinzip beachtet werden. Deswegen sollten wir in Deutschland
Einfluss auf den weiteren Werdegang nehmen; die Kommission wird ja jetzt im Oktober ein Maßnahmenpapier
vorlegen. Die zwei Anträge der Regierungsfraktionen,
die heute hier zur europäischen Meerespolitik und zur
maritimen Wirtschaft vorliegen, kann man diesbezüglich
eigentlich schon als ein einheitliches Positionspapier bezeichnen. Neben der Einflussnahme auf europäischer
Ebene - das möchte ich noch dazusagen - ist es aber
auch ganz wichtig, dass wir hier ein eigenes nationales
Meerespolitikkonzept erarbeiten.
Ich möchte mich ganz herzlich bei den Kollegen bedanken, die hier mitgearbeitet haben. Es handelt sich um
gute Anträge. Ich glaube, auf diesen Anträgen kann man
aufbauen und weiterarbeiten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Garrelt Duin, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es wird in
dieser Debatte ein falscher Gegensatz aufgebaut, indem
sehr unterschiedliche Schwerpunkte gelegt werden: zum
einen auf wirtschaftliche, zum anderen auf ökologische
Fragestellungen. Das Grünbuch übrigens bezieht auch
soziale Fragestellungen ein.
({0})
Ich denke, gerade darin besteht der Vorteil dieses Grünbuchs, dass endlich ein integrierter Ansatz vorliegt. Es
wird nicht versucht, die verschiedenen Politikbereiche
gegeneinander auszuspielen, sondern danach gesucht,
wie sie miteinander statt jeweils auf Kosten der anderen
nach vorne gebracht werden können.
({1})
Ich will Ihnen das an ein paar Beispielen deutlich machen.
Wir alle sind stolz, wenn auf unseren Werften - die
Staatssekretärin hat gerade noch einmal darauf hingewiesen - hochmoderne Schiffe gebaut werden. Als Beispiel nehme ich nur noch einmal, weil sie relativ häufig
in der „Tagesschau“ erwähnt wird, die Meyer Werft in
Papenburg, die Luxusliner baut. Alle sind begeistert,
dass Deutschland in diesem Bereich marktfähig ist.
Gleichzeitig gibt es aber große Probleme bei der Überführung der Schiffe von der Werft bis zur Nordsee. Das
führt immer wieder zu Diskussionen über die ökologische Verträglichkeit von Flussvertiefungen.
Zurzeit wird eine Gaspipeline durch das Wattenmeer gelegt. Diese ist Voraussetzung für eine Milliardeninvestition im Bereich der chemischen Industrie, die
wir uns sehr wünschen, weil das für die Arbeitsplätze in
einer extrem strukturschwachen Region von großer Bedeutung ist. Gleichzeitig wissen wir aber um die ökologischen Probleme, die eine solche Verlegung durch das
Wattenmeer mit sich bringt.
Wir wissen, um ein drittes Beispiel zu nennen, welche
Entwicklung der Containerumschlag weltweit, aber
auch an den deutschen Häfen nehmen wird. Wir sind dabei, den Jade-Weser-Port zu realisieren. Natürlich wird
auch Hamburg nach Möglichkeiten suchen, an diesem
wachsenden Markt teilzuhaben. Von daher wissen wir,
dass bei der Realisierung eines solch neuen Hafens wie
auch bei Flussvertiefungen ökologische Probleme und
Probleme zu berücksichtigen sind, die zum Beispiel die
Menschen betreffen, die an der Elbe wohnen.
Als vorletztes Beispiel möchte ich Ihnen die Fischerei nennen. Auch in Deutschland hängen viele Arbeitsplätze an der Fischerei. Es ist nicht nur Folklore, wenn in
kleinen Orten wie Greetsiel und andernorts ein paar Kutter liegen. Aber das ist, was den Tourismus angeht,
natürlich auch ein Anziehungspunkt. Wir müssen uns
fragen, ob wir die Fischerei ausreichend gegen internationale Konkurrenz unterstützen. Ich gebe Herrn Steenblock recht, wenn er sagt, wir müssen etwas gegen die
Überfischung tun und dort konsequenter werden. Aber
wir dürfen nicht unsere Fischer im Regen stehen lassen,
wenn die internationale Konkurrenz ihnen bei Verstoß
gegen internationale Regeln das Leben so schwer macht.
({2})
Der letzte Punkt - er ist bereits angesprochen worden ist das Thema Offshore. Das ist energiepolitisch absolut
sinnvoll. Allerdings spielen die Sicherheit und die Frage,
wie die gewonnene Energie an Land weitergeleitet wird,
eine große Rolle. Deswegen ist es so wichtig, dass wir es
integriert machen. Wir schaffen es nicht im Ressortdenken. Wir brauchen eine bessere Verknüpfung von Wirtschaft, Umwelt, Forschung, Verkehr und Sozialem in
diesen Fragen. Ebenso wenig lösen wir diese Probleme
nur rein national. Vielmehr brauchen wir die europäische
Herangehensweise. Deswegen sollten wir den Ansatz,
der in dem Grünbuch vorgegeben ist, unterstützen.
Wir selbst haben in Deutschland seit 1999 - ausgelöst
durch Gerhard Schröder - durch die erste maritime Konferenz die maritime Koordination. Wir sind froh, dass es
sie nach einer kleinen Phase der Abstinenz wieder gibt.
Ich finde, wir sind mit der jetzigen Amtsinhaberin auf einem guten Weg. Diese Koordinierung brauchen wir aber
auch auf europäischer Ebene, und zwar ohne Substanzverlust, was die nationalen politischen Möglichkeiten
angeht. Das steht für uns fest, und das haben wir in diesem Antrag zum Ausdruck gebracht. Deswegen bitten
wir um Zustimmung.
Vielen Dank.
({3})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Enak Ferlemann,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Goldmann, Sie haben ja heute schon sehr viel Schelte bekommen. Nun bekommen Sie von mir ein Lob: Ich finde es
gut, dass Sie inhaltlich unsere Politik unterstützen und
deutlich zum Ausdruck gebracht haben, dass Sie mit
dem, was wir erarbeitet haben, einverstanden sind. Dass
Sie hier und da das Verfahren kritisieren, verstehe ich insoweit nicht ganz. Wir unterhalten uns doch immer über
maritime Politik; gerade wir beide tun das in Niedersachsen immer. Insofern ist das, was wir beraten, nicht
neu, sondern es ist in einer wirklich lesbaren Art und
Weise durch die Große Koalition zusammengefügt worden.
({0})
Ich finde es gut, dass Sie sich dazu bekennen, dass die
Politik, die die Große Koalition auf diesem Feld betreibt,
richtig ist.
Es ist wirklich ein Tag der großen Freude, dass die
Ausschreibung für den Notschlepper jetzt endlich in
Gang gesetzt worden ist. Natürlich waren wir Politiker
viel besser als die Verwaltung. Aber dafür gibt es ja auch
die Politik, denn sonst würde die Verwaltung alles alleine machen,
({1})
was nicht im Sinne der Bürger wäre. Die Bürger wählen
uns ja deswegen, damit wir aufpassen und bei notwendigen Dingen Druck machen, das voranzubringen. Das haben wir, wie ich finde, alle gemeinsam an der Küste
beim Notschlepper in beeindruckender Weise geschafft.
Wenn man sich vor Augen hält, dass etwa 95 Prozent
des interkontinentalen Warenverkehrs über den Seeweg
abgewickelt werden, dann weiß man, dass im Zeitalter
der Globalisierung gerade die maritime Politik einen besonderen Stellenwert hat und haben muss. Der internationale Handel wächst doppelt so stark wie das weltweit
wachsende Bruttoinlandsprodukt. Das macht deutlich,
wie intensiv wir uns, als Exportnation Deutschland vom
Welthandel abhängig, über den Seeweg unterhalten müssen. Der Seeverkehr spielt eine große Rolle für uns.
Vorhin ist vom Kollegen Duin zu Recht angesprochen
worden, dass wir uns sehr freuen, dass das Grünbuch einen integrierten Ansatz für die verschiedenen Felder der
maritimen Politik findet, ob es der Tourismus, die
Fischerei, die Fischwirtschaft, der Schiffbau, die Offshoreenergie oder Verkehr und Logistik sind; auch Umweltschutz und vieles andere mehr sind dazu zu zählen.
Diese integrierte Politik muss dafür sorgen, dass das,
was über die Weltmeere geschickt wird, auch ankommt
bzw. abgesendet werden kann.
Damit sind wir bei einem Problemschwerpunkt, den
auch unsere Anträge beinhalten, nämlich dem der Seehafenpolitik. Es gibt zwar Fazilitäten an den Seehäfen,
aber nicht die entsprechenden Hinterlandanbindungen.
In unserem Antrag machen wir deutlich, dass wir verbesserte Hinterlandanbindungen auf der Schiene - dies
muss zu einer stärkeren Berücksichtigung in Form einer
besseren Dotierung im Rahmen der transeuropäischen
Verkehrsnetze führen -, auf der Straße und auch auf den
Wasserwegen brauchen, um die Waren vom Binnenland
zu den Häfen und von den Häfen zum Binnenland zu
bringen.
Hierzu braucht man intermodale Verkehrssysteme.
Ich will auf die Details nicht eingehen; das haben wir im
Ausschuss getan. Die genannten Strategien „Motorways
of the Sea“ und „Short Sea Shipping“ sind sicherlich
zwei Ansätze, die sehr zu begrüßen sind. Wir müssen sie
allerdings noch von vielen bürokratischen Hemmnissen
befreien. Ich denke, dass wir den Seeverkehr als Schlüsselbindeglied durch die angesprochenen Maßnahmen
fördern müssen.
Auch ich darf mich herzlich bei unserer maritimen
Koordinatorin für die exzellente Arbeit bedanken, für
die Stellungnahme zum Grünbuch durch unsere Fraktion
und insbesondere bei meinem sehr geschätzten Kollegen
Eckhardt Rehberg, der die Dinge mit viel Engagement
vorangetrieben hat. Ich bitte Sie alle herzlich, die Anträge zu unterstützen, denn sie sind unterstützenswert.
Herzlichen Dank.
({2})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Margrit Wetzel, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich freue mich, dass ich zum Abschluss dieser Debatte
ein bisschen zusammenfassen kann, was schon gesagt
wurde.
({0})
- Das ist das Los der letzten Redner.
Zum einen zu Herrn Goldmann und gleichzeitig zu
Herrn Steenblock: Sie haben sich ein bisschen über das
Verfahren beklagt, dass wir hier im Parlament sozusagen
in letzter Minute eine Debatte führen und eine eigene
Stellungnahme abgeben wollen. Wir haben das sehr bewusst gemacht, weil wir gesehen haben, wie viele Stellungnahmen abgegeben werden und wie der Konsultationsprozess abläuft. Wir haben das für wichtig gehalten,
nachdem wir erfahren haben, dass die EU-Kommission
auf das Grünbuch kein Weißbuch folgen lässt, sondern
einen Aktionsplan, dass sie also sehr konkret aktiv werden wird. Aus diesem Grund war es uns wichtig, Schlaglichter zu präsentieren und mit Blick auf den Aktionsplan deutlich zu machen, wo wir Schwerpunkte gesetzt
haben wollen.
Es ist zweifellos wichtig, isoliertes Ressortdenken zu
überwinden, aber gleichzeitig die nationalen Kompetenzen zu bewahren und die Instrumente der Gemeinschaft
nur dort zu nutzen, wo es darum geht, unsere Interessen
besser durchzusetzen oder mehr Effizienz zu erreichen.
Dafür brauchen wir Transparenz, fairen Wettbewerb und
gute Marktinformationen. Programme wie „Leadership 2015“ zeigen zum Beispiel für den Bereich Schiffsbau, wie erfolgreich die gemeinschaftliche Arbeit sein
kann.
Maritime Wirtschaft stärken heißt gleichzeitig Beschäftigung sichern. Herr Rehberg hat die Zahlen schon
genannt: 54 Milliarden Euro Umsatz, 400 000 Beschäftigte. Im maritimen Bereich gibt es sichere Arbeitsplätze. Wenn wir unsere Führungsrolle in der EU in Bezug auf maritime Technologien weiter ausbauen, wenn
wir weiter in Forschung und Entwicklung aktiv sind,
dann schaffen wir automatisch sichere Arbeitsplätze im
Bereich Produktion und Logistik, nicht nur in den genannten Bereichen. Wir brauchen qualifizierte Arbeitsplätze, hohe Qualifikationen an der Küste. Das gilt nicht
nur für den Schiffbau, sondern für alle wirtschaftlichen
Bereiche an der Küste. Auch im Bereich der Meeresforschung wird sich ein Potenzial erschließen, dessen
Dimensionen wir heute noch nicht absehen können.
Ein Problem im Bereich der Seefahrt - es ist genannt
worden - ergibt sich bei den Seeleuten. Wir können nur
über die Gemeinschaft versuchen, die maritime Ausbildung sowohl in der Quantität als auch in der Qualität zu
verbessern. Das werden wir alleine nicht schaffen. Dazu
beitragen wird sicherlich die gemeinschaftliche Bemühung um das konsolidierte Seearbeitsübereinkommen.
Wir müssen in jedem Fall - auch das wird nur in der
Gemeinschaft gehen - die Sicherheit auf den Meeren
erhöhen, das heißt zum einen die Sicherheit des Standortes Küste und zum anderen die Sicherheit beim Küstenschutz. Das betrifft die Sicherheit am Meer und die
Sicherheit des Meeres als Ökosystem. Ökosystem Meer
bedeutet aktiver Klimaschutz. Zudem geht es um die Sicherheit auf dem Meer; das ist schon erwähnt worden.
Hier geht es gerade um die Ostsee und die dortigen
Schrotttanker; ich verkürze und vereinfache ein bisschen. Das ist das gemeinschaftliche Bemühen bei dem
schweren Unterfangen, im Überseebereich eine Lotsenannahmepflicht zum Beispiel in der Kadetrinne oder für
Tankerrouten zu erreichen.
Wir müssen aber auch aufpassen, dass die EU nicht
überzieht, zum Beispiel in Bezug auf ISPS. Dabei geht
es darum, dass man vernünftige Kosten-Nutzen-Analysen aufstellt, um festzustellen: Wo besteht noch Nutzen,
und wo besteht ein Schaden? Da geht es zum Beispiel
um die ewig gleiche Forderung in der EU nach einer
EU-Küstenwache. Auch da brauchen wir eine Chancenund Risikoabwägung. Auch da brauchen wir eine Nutzen- und Kostenanalyse,
({1})
um zu sehen, dass wir nicht etwas kaputt machen. Denn
eine Bündelung von Kompetenzen ist zwar gut und richtig
({2})
- halten Sie doch einmal den Mund, Herr Goldmann; das
ist ja wirklich schrecklich -,
({3})
aber diese Bündelung darf nicht dazu führen, dass man
plötzlich nicht mehr weiß, wer zuständig ist; denn diese
Gefahr ist viel größer.
In der Meeresforschung liegt sowohl für die Umwelt
als auch für die Wirtschaft eine ganze Menge Zukunft.
Hier kommt es darauf an, dass wir die Wirtschafts-, die
Wissenschafts- und die Umweltbelange gut verzahnen,
dass wir Forschernetzwerke unterstützen und eigene
Förderprogramme für die Tiefseeforschung, die Polarmeerforschung,
({4})
die sichere CO2-Speicherung und für den Energiebereich
auflegen. Das heißt, wir brauchen vor allem vernünftige
Datenbasen,
({5})
um dann auf europäischer Ebene unsere Stärken auszuspielen.
Deshalb bitte ich um Zustimmung zu unserem Antrag
und zur Beschlussempfehlung zu unserer Stellungnahme
zum Grünbuch.
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache
16/5731 mit dem Titel „Für eine zukunftsgerichtete eu-
ropäische Meerespolitik“. Wer stimmt für diesen An-
trag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der An-
trag ist mit den Stimmen der Koalition bei
Gegenstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü-
nen und der Fraktion Die Linke und Enthaltung der
Fraktion der FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 b: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem An-
trag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD mit dem
Titel „Maritime Wirtschaft in Deutschland stärken“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/5437, den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/4423 anzu-
nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen der
SPD, der CDU/CSU und der FDP bei Gegenstimmen der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der Frak-
tion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 c: Abstimmung über den An-
trag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/5428 mit dem Titel „Für eine nachhaltige
und umfassende Meerespolitik für die Europäische
Union“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den
Stimmen der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU und
der FDP bei Gegenstimmen der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke
abgelehnt.
Zusatzpunkt 4: Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem An-
trag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Schutz und
Nutzung der Meere - Für eine integrierte maritime Poli-
tik“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 16/5764, den Antrag der Frak-
tion der FDP auf Drucksache 16/4418 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, der SPD,
des Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/CSU bei
Gegenstimmen der Fraktion der FDP angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul
Schäfer ({0}), Monika Knoche, Hüseyin-Kenan
Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN
Keine neuen Raketen in Europa - stattdessen
Stärkung der globalen Sicherheit durch Rüstungskontrolle und Abrüstung
- Drucksache 16/5456 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Paul Schäfer ({3}), Monika Knoche,
Hüseyin-Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der LINKEN
Stopp von staatlichen Bürgschaften für Rüs-
tungsexporte
- Drucksachen 16/3697, 16/4602 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Gudrun Kopp
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Paul
Schäfer ({5}), Monika Knoche, Hüseyin-Kenan
Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN
Verzicht auf den Verkauf und das Überlassen
von überschüssigem Wehrmaterial
- Drucksachen 16/3350, 16/5353 Berichterstattung:
Abgeordnete Ernst-Reinhard Beck ({6})
Andreas Weigel
Birgit Homburger
Inge Höger
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Paul Schäfer, Fraktion Die Linke.
({7})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Linke beantragt, dass sich Deutschland ganz energisch
der Aufstellung neuer Raketen in Osteuropa widersetzen und alle Möglichkeiten nutzen möge, um diese Stationierung zu verhindern.
Der Antrag meiner Fraktion beginnt mit dem Satz:
„Die Welt ist durch Massenvernichtungswaffen bedroht.“ Die Situation ist in der Tat brandgefährlich: Die
Welt könnte noch immer mehrfach durch Atombomben
vernichtet werden, Atomsprengköpfe werden modernisiert, wie jüngst in Großbritannien, und die Zahl der
Atomwaffenmächte wächst.
Wir unterscheiden dabei allerdings nicht zwischen
guten und bösen Atomraketen. Das ist genau der Punkt.
Die gegenwärtigen Atommächte, die sogenannten Guten, wollen ihr Monopol an diesen Terrorwaffen behalten, weil sich nicht zuletzt daraus ihre weltpolitische
Geltung ableitet. Damit verletzen sie aber ständig und
eklatant den Nichtverbreitungsvertrag und schaffen eine
Situation, die zu neuen Rüstungsrunden und Gefährdungslagen führen muss.
({0})
Wer so elementare Verträge wie den Nonproliferationsvertrag verletzt, kann nicht von anderen deren Einhaltung verlangen, geschweige denn erzwingen. Im
Gegenteil: Er fordert andere geradezu heraus, nachzuziehen. Die Antwort auf die neuen Risiken, die es durchaus
gibt, lautet also: strikte Einhaltung und Durchsetzung
des Völkerrechts und energischer Einstieg in die Abrüstung aller Massenvernichtungswaffen in Ost, West,
Nord und Süd.
({1})
Das ist der Maßstab, an dem auch die deutsche Haltung
zu den Raketenabwehrplänen gemessen werden muss.
Russland sieht sich durch die Aufstellung neuer Raketenabwehrsysteme in Tschechien und Polen herausgefordert. Das ist zwar nicht die alles entscheidende
Frage, aber gewiss eine sehr wichtige. Es ist das Gegenteil von kluger, vorausschauender Politik, wenn die
NATO Russland erst mit militärischer Infrastruktur und
Waffen immer mehr auf den Pelz rückt und dann mit Unschuldsmiene verkündet, man bedrohe ja niemanden.
Russland muss reagieren. Natürlich ist der Vorschlag
Putins, statt der einseitigen Stationierung in Osteuropa
die aserbaidschanische Radaranlage gemeinsam zu nutzen, ein taktischer Schachzug. Er trifft aber den entscheidenden Punkt: die zu erwartende Ablehnung. Die Ablehnung zeigt nämlich, dass es den USA im Grunde nicht so
sehr um die vermeintliche iranische Bedrohung im
Jahr 2020 geht, sondern vor allem darum, sich in Osteuropa treue Verbündete zu sichern, die EU durcheinanderzubringen und zu schwächen und zu demonstrieren,
dass die USA als einziges Land der Welt unverwundbar
sind. Das ist der grundlegende Irrtum.
Wer sich unangreifbar macht, will auch allein herrschen. Schwert und Schild gehören zusammen. Oder hat
man gehört, dass die USA ihre Offensivwaffensysteme
abrüsten wollen? Im Gegenteil: Es werden die Möglichkeiten ausgebaut, überall auf der Welt militärisch zu intervenieren.
Es ist allerhöchste Zeit, dass dieser Irrweg der Politik
beendet wird. Die Bundesregierung muss eine eindeutige Position beziehen. Es reicht nicht aus, Bedenken
vorzubringen und Eiertänze zu veranstalten. Es geht eindeutig darum, dafür zu sorgen, dass es keine neuen Raketen gibt. Hierzu erwarten wir eine eindeutige Position
der Bundesregierung.
({2})
Angesichts der Gefahr eines neuen Wettrüstens sind
drei Dinge hilfreich: mit gutem Beispiel vorangehen,
also abrüsten, den Dialog suchen, also mit Teheran zäh
verhandeln, und drittens Kooperationen anbieten. Der
Konflikt mit Nordkorea hat gezeigt, dass es möglich ist,
durch Dialog und Kooperation gefährliche Entwicklungen abzublocken und Spannungen aufzulösen. Milliarden in neue Radar- und Raketensysteme zu stecken,
macht die Welt nicht friedlicher, im Gegenteil.
Das gilt auch für die weltweit wieder ansteigenden
Zahlen im Zusammenhang mit dem Rüstungsexport.
Deutschland ist leider ganz vorne dabei. Es ist Augenwischerei, wenn Sie davon reden, wir würden eine äußerst
restriktive Politik bei der Ausfuhr von Waffen verfolgen.
Die neuesten Zahlen belegen eindeutig das Gegenteil:
Wir sind auf Rang drei der Weltrangliste hochgerutscht.
An dieser Stelle wären wir besser Schlusslicht. Im vergangenen Jahr hat die Bundesrepublik - nach SIPRI Rüstungsgüter in einem Umfang von 3,9 Milliarden Dollar geliefert. Gegenüber 2005 ist das eine Verdoppelung. Ich finde, das ist eine Schande.
({3})
Deshalb beantragt die Fraktion Die Linke zwei Dinge,
die von der Regierung unmittelbar umgesetzt werden
könnten: Exportbürgschaften, die diese immensen
Waffengeschäfte überhaupt erst möglich machen, müssen gestoppt werden, und zweitens muss die Überlassung von Wehrmaterial, das aus den Beständen der
Bundeswehr ausgemustert wird und an einer anderen
Stelle der Welt zu einer Aufrüstung führt, beendet werden. Bei den Bürgschaften geht es zum Beispiel um
Großaufträge wie die Lieferung von U-Booten an Israel
oder Pakistan. Hiermit wird doch systematisch gegen
den Grundsatz verstoßen, keine Waffen in Spannungsgebiete zu liefern. Das gilt im Übrigen auch für die Überlassung von Wehrmaterial. Da geht es um Kampfpanzer
und Kampfflugzeuge, die auch in Krisenregionen geliefert werden.
Deshalb ist es allerhöchste Zeit, mit diesem Unfug
Schluss zu machen. Genau das fordert die Linke in ihren
drei Anträgen, die wir hier behandeln.
Danke.
Paul Schäfer ({4})
({5})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Freiherr Dr. KarlTheodor zu Guttenberg, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Schäfer, Sie sprachen von Eiertänzen und Irrwegen. Das ist eine treffende Beschreibung
Ihrer Anträge. Mir hat sich nicht einmal der innere Zusammenhang dieser drei Anträge erschlossen. Man
musste sich Mühe geben, den Kernantrag zum geplanten
Raketenabwehrsystem, der, glaube ich, der Ausgangspunkt Ihrer Rede war, mit Grundverständnis zu begleiten.
Der Eingangssatz ist richtig: „Die Welt ist durch Massenvernichtungswaffen bedroht.“ Das können wir als
solches gänzlich unterschreiben. Die Welt ist allerdings
auch durch das Streben nach Massenvernichtungswaffen bedroht.
({0})
Diesen Aspekt blenden Sie aus. Sie scheinen ihn bewusst auszublenden, weil er nicht in Ihr Konzept passt.
({1})
Dieses Konzept rückt eben nicht nur abrüstungspolitische
Motive und Ideale in den Vordergrund. Wäre es anders,
hätte man über diesen Einleitungssatz hinaus gerade mit
Blick auf das Raketenabwehrsystem doch eine intellektuell herausfordernde Auseinandersetzung mit dieser
wichtigen und bewusst streitigen Fragestellung erwarten
können. Aber das geschah nicht. Wäre es anders, hätten
die Einleitungssätze nicht zwangsläufig wieder in eine
Betonung bereits bekannter Einstellungen - das ist nichts
Überraschendes - gegenüber den Vereinigten Staaten geführt.
Eines besorgt mich derzeit noch mehr: Ein Unterton
wird immer deutlicher. Ich weiß, dass Sie, Kollege Schäfer, nicht so denken, aber Sie müssen versuchen, diesen
Unterton aus einem solchen Antrag herauszubekommen.
Denn in Ihren Anträgen kann man zunehmend antiisraelische Töne lesen und vernehmen.
({2})
Das sollte man mit aller Klarheit benennen. Die Bevölkerung in diesem Lande hat es verdient, dies zu erfahren.
({3})
Wie wäre es sonst möglich, dass Sie von „Unterstellungen der US-Regierung hinsichtlich der Intentionen
und Handlungen des Iran“ sprechen? Das umfasst im
Übrigen nicht nur - in Ihrem Sinne - Unterstellungen
der Vereinigten Staaten, sondern auch die der Europäischen Union und mittlerweile auch Russlands. Ich deute
die Situation im Hinblick auf Aserbaidschan grundlegend anders als Sie. Ich glaube nämlich, dass man in
Russland durchaus imstande und bereit ist, einzuräumen,
dass es ein Bedrohungspotenzial gibt.
Aber das Wort Unterstellung muss man sich einmal
auf der Zunge zergehen lassen. Ist es denn eine Unterstellung, dass der Iran seit Jahren die Staatengemeinschaft in Fragen der Aufrüstung und der Nukleartechnologie hintergangen hat? Ist es eine Unterstellung, dass
der Iran seit Beginn der 80er-Jahre den Bau und den Betrieb von Nuklearanlagen und Nukleartechnologie verschleiert hat? Ist es eine Unterstellung, wenn behauptet
wird, dass die Hamas und die Hisbollah von Teheran unterstützt werden? Ist es eine Unterstellung, dass der Präsident des Irans, Ahmadinedschad, aufruft, einen Staat
von der Landkarte zu tilgen, und den Holocaust leugnet?
Herr Kollege Schäfer, das sind keine Unterstellungen,
das sind Fakten.
({4})
Das meine ich, wenn ich sage, dass hier antiisraelische
Grundtöne nicht nur durchscheinen, sondern mittlerweile sehr klar geäußert werden.
({5})
Ich unterstelle Ihnen nichts, wenn ich behaupte, dass
Sie mit solchen Fragen ein Regime unterstützen, dessen
Präsident sich derart verhält, ein Regime - ich komme
jetzt noch einmal zu den abrüstungspolitischen Motiven
-, das gerade hoch ehrgeizige Aktivitäten entwickelt, an
Raketenträgertechnologie heranzukommen, und diese
auch selbst auf den Weg bringt und entwickelt und das
auf den Proliferationsmärkten tätig ist. Sie unterstützen
damit ein Regime - damit greife ich einen aktuellen
Punkt dieser Tage auf; das hängt jetzt nicht mit der Abrüstung zusammen -, das laut Presseberichten öffentliche Steinigungen offenbar wieder aufgenommen hat; auch
das muss einmal gesagt werden.
Es gibt, wie in Ihrem Antrag zu lesen ist, keinen
Nachweis einer Bedrohung. Jetzt kann man natürlich die
Grundsatzdebatte führen - wir müssen sie auch führen -:
Sprechen wir von realen derzeitigen Bedrohungen, und
wie stellen wir uns auf potenzielle künftige Bedrohungen ein? Den Nachweis potenzieller Bedrohungen haben Sie mit Ihrem Antrag eigentlich selbst geliefert. Sie
werden sehr genau darauf achten müssen, dass Sie sich
durch die Vergabe eines Persilscheins an die Ahmadinedschads dieser Erde nicht selbst zur Triebfeder späterer
realer Bedrohungen machen.
({6})
Wir alle teilen die Zielsetzung, dass die nukleare Abrüstung zwingend auf friedlichem Wege erreicht werden muss. Wir teilen allerdings auch das Bedürfnis nach
dem Schutz unserer eigenen Bevölkerung, auch für
den Fall, dass der Vernunftmaßstab, den wir anlegen,
manchen Irrlichtern auf dieser Welt möglicherweise
nicht als Maßstab gilt; auch darauf müssen wir Antworten finden. Dieser Aspekt ist sicherlich einer der schwierigsten Punkte in dieser Debatte. Aber auch das gehört
zu unserer Verantwortung.
Von daher ist es dringend geboten, mit unseren Partnern und denen, die sich als unsere Partner bezeichnen,
eine gemeinsame Sicherheitsanalyse vorzunehmen. Ich
nehme Russland an dieser Stelle ausdrücklich mit ins
Boot. Wir müssen gemeinsam in der Lage sein, eine Sicherheitsanalyse durchzuführen, durch die nicht nur die
Gegenwart abgebildet wird, sondern durch die wir auch
in die Lage versetzt werden, einige Jahre in die Zukunft
zu blicken. Wir müssen aufgestellt sein, falls einmal ein
Ereignis eintritt, das nicht mehr von unserem Vernunftmaßstab gedeckt ist. Denn guter Glaube, den wir heute
an den Tag legen, könnte irgendwann einmal in Naivität
abgleiten.
Vielen Dank.
({7})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Werner Hoyer,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir behandeln heute drei Anträge. Ich kann mich angesichts meiner kurzen Redezeit allerdings nur zu einem
Antrag ausführlicher äußern, nämlich zu dem Antrag, in
dem es um das Hauptthema Raketenabwehr geht. Die
übrigen Themen werden, wie ich denke, von anderen
Kollegen intensiv erörtert.
Vermutlich werden sie zu dem Ergebnis kommen,
dass es nicht ausreicht, nur zu sagen, dass es gut ist, gegen Rüstungsexporte zu sein, sondern dass man präziser definieren muss, was man damit meint. Es geht dabei
mit Sicherheit immer wieder um die schwierige Frage:
Geraten Rüstungsgüter, die aus Deutschland stammen,
in die falschen Hände? Dann müssen Bundesregierung
und Bundestag dagegen vorgehen. Wenn man aber generell sagt, Rüstungsexporte sind zu dämonisieren, macht
man damit eine vernünftige Ausrüstung und Bewaffnung
unserer eigenen Streitkräfte unmöglich bzw. völlig unbezahlbar;
({0})
ich empfehle daher dringend, einen differenzierteren Ansatz zu verfolgen. Daher können wir die Anträge der
Linksfraktion nicht mittragen.
Zur Raketenabwehr. Meine Damen und Herren, selten hatte man das Gefühl, dass ein Thema so unprofessionell und unsensibel angegangen worden ist, wie es bei
der amerikanischen Raketenabwehr der Fall war. Umgekehrt hat es selten ein Thema gegeben, bei dem die Reaktionen so bedenklich waren wie im Falle der Reaktion
Russlands auf die Vorschläge Amerikas. Vielleicht besteht jetzt, nach dem G-8-Gipfel in Heiligendamm, endlich die Chance, die alten Planungen in der Versenkung
verschwinden zu lassen, völlig neu anzufangen und rational über die Fragen zu diskutieren: Was brauchen wir,
und wie können wir dieses Thema gemeinsam angehen?
Meine Damen und Herren, es ist nicht illegitim, darüber nachzudenken, ob es Bedrohungen gibt, die eines
Tages akut werden könnten und etwas damit zu tun haben, dass sich Massenvernichtungswaffen in den Händen von unverantwortlich handelnden Regimen oder von
Non-State-Actors, von nichtstaatlichen Akteuren, befinden. Aber wir müssen immer darauf hinweisen: Ein
Grund, warum wir uns heute mit diesem Thema beschäftigen müssen, ist, dass in der Abrüstungspolitik und in
der Rüstungskontrollpolitik zehn Jahre lang eigentlich
nichts geschehen ist. Der erste Schritt, den wir machen,
muss darin bestehen, dass wir der Rüstungskontrollpolitik und der Abrüstungspolitik wieder mehr Schwung
verleihen. Danach können und müssen wir auch über die
anderen Fragen diskutieren.
({1})
Wenn es nicht gelingt, die Rüstungskontrollpolitik
wieder auf Kurs zu bringen, werden wir es eines Tages
nicht nur mit Iran und Nordkorea zu tun haben, sondern
mit einer unbeherrschbar großen Anzahl von Mächten,
die über Massenvernichtungswaffen verfügen, ganz abgesehen von nichtstaatlichen Organisationen.
Für Europa ist es unverzichtbar, dass ein Raketenabwehrsystem, so dieses für erforderlich gehalten wird, auf
einer gemeinsamen Bedrohungsanalyse Europas - das
heißt der EU -, der europäischen NATO-Staaten, der
Amerikaner und der Russen basiert. Darin sehe ich den
Charme des Aserbaidschanvorschlags: dass Russland zu
erkennen gibt, dass es grundsätzlich nicht unvernünftig
ist, darüber nachzudenken, ob es Bedrohungen gibt, vor
denen man sich mit einer Raketenabwehr schützen muss;
diesen Hoffnungsschimmer sollten wir erkennen.
Eine erneute Spaltung Europas in dieser Frage wäre
fatal. Ich trage am heutigen Tage bewusst die Krawatte
der deutschen Ratspräsidentschaft. Ein großes Ziel, das
in dieser Woche erreicht werden muss, ist, die Europäische Union in der Außen- und Sicherheitspolitik
handlungsfähig zu machen. Wenn wir in einer so wesentlichen Frage wie der Raketenabwehr wieder wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen dastehen, dann ist das für
die Zukunft der europäischen Integration eine Katastrophe.
({2})
Deswegen ist das Erste: Haltet Europa an dieser Stelle
zusammen!
Das haben auch unsere amerikanischen Freunde nicht
hinreichend beachtet. Der Vorschlag, das Abwehrsystem
mit Polen und Tschechien aufzubauen, ist zwar mit
technischen und geografischen Erwägungen begründbar,
und der Satz von Präsident Bush, dass sich das System ja
nicht gegen Russland richtet, trifft zu. Das bestreitet hier
auch keiner. Nur, wenn Sie mit den Kolleginnen und
Kollegen in Warschau und Prag darüber diskutieren,
werden Sie wenig über iranische und nordkoreanische
Bedrohungen hören, aber viel über russische. Das hat etwas zu tun mit nicht lange zurückliegender Geschichte,
von Russland und anderen übrigens auch nicht aufgearbeiteter Geschichte und daraus resultierenden Traumata.
Ich halte es auch für einen Fehler, dass die Illusion
genährt wurde, dass die USA für Warschau und Prag,
wenn diese mit ihnen ein solches Abkommen schließen,
Sicherheitsgarantien übernähmen, die über das hinausgehen, was die Beistandsverpflichtungen des NATOVertrages umfassen. Das setzt die Axt an den Zusammenhalt des Bündnisses. Deswegen ist das gefährlich.
({3})
Es wird sicherlich erforderlich sein, Russland zu beteiligen, aber nicht, weil sich Russland sonst bedroht
fühlen müsste, sich Gedanken machen müsste, dass die
stationierten Raketen umgewidmet werden könnten. Es
darf nicht der Eindruck entstehen - der Begriff ist heute
schon gefallen, Herr Schäfer -, es gehe hier um die Herstellung von Unverwundbarkeit. Ich bin davon überzeugt, dass die Zusammenarbeit zwischen Russland, den
Vereinigten Staaten und Europa in dieser Frage deshalb
so wichtig ist, weil jeder Versuch eines dieser drei Blöcke, auf Kosten eines oder mehrerer anderer exklusiv für
sich Sicherheit zu reklamieren, einen vermeintlich uneinholbaren Vorsprung zu reklamieren, zu Misstrauen
führt und scheitern muss. Denn so etwas wird die überwunden geglaubten Reflexe des Kalten Krieges und damit auch die Rüstungswettläufe wieder in Gang setzen.
Wir müssen gemeinsam vorgehen; denn wir wissen, die
Logik der Entspannungspolitik basiert auf der Erkenntnis, dass Sicherheit unteilbar ist und dass es darum geht,
wieder Vertrauen zu schaffen. Auf dieser Basis müssten
vernunftbegabte, verantwortliche Politiker in Amerika,
in Russland, in Europa eigentlich in der Lage sein, über
dieses wichtige Thema rational zu diskutieren.
Danke sehr.
({4})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Rolf Mützenich,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mir scheint, es ist richtig, dass wir im Deutschen Bundestag erneut über lebenswichtige Fragen, insbesondere
über Abrüstung und Rüstungskontrolle und über Frieden
und Sicherheit, sprechen. Denn diese vier Elemente gehören zusammen. Es war gute Tradition Europas und damit auch Deutschlands, dies gemeinsam zu denken, um
die Blockkonfrontation zu überwinden und um eine Perspektive für Europa zu schaffen, aber auch um Vorbild
für andere Regionen in der Welt zu sein.
Deswegen ist es richtig, zu sagen: Ja, wir haben eine
Krise der Abrüstung und Rüstungskontrolle, und
zwar nicht erst seit den letzten Monaten. Im Grunde genommen haben wir sie - das ist eigentlich verwunderlich seit dem Ende des Ost-West-Konflikts. Eigentlich wäre
es gerade nach dem Ende des Ost-West-Konflikts notwendig gewesen, die Chance zu nutzen, für Abrüstung
und Rüstungskontrolle zu sorgen.
({0})
Es geht aber nicht um eine einseitige Abrüstung und
Rüstungskontrolle, sondern wir wollen eine verabredete,
verbindliche, überprüfbare und in die Zukunft gerichtete
Abrüstung und Rüstungskontrolle.
({1})
Ich glaube, das Problem ist, dass wir nicht nur eine
Krise der Abrüstung und Rüstungskontrolle haben, sondern dass auch die noch bestehenden Verträge nicht
mehr angewandt werden oder auslaufen. Auf diese Verträge wird man sich in wenigen Jahren nicht mehr beziehen können. Auch das ist ein großes Problem. Ich meine,
dass wir über diesen Aspekt reden müssen.
Der zweite Aspekt, über den wir hier im Deutschen
Bundestag sprechen müssen, ist: Kernwaffen spielen
plötzlich eine neue Rolle, und zwar unabhängig von den
jeweiligen Ländern, also den Kernwaffenbesitzern. Dies
muss zu denken geben. Früher waren Kernwaffen Waffen, die nicht eingesetzt werden sollten. Sie waren vorhanden und dienten im Grunde genommen zur Abschreckung, sollten aber nicht eingesetzt werden. Das war
zumindest die Logik. Ob man sich ihr unterwerfen
wollte, war eine politische Frage. Dieser Aspekt wurde
aber zumindest von denjenigen, die Kernwaffen befürwortet haben, vertreten.
Davon lösen sich mehr und mehr Länder. Das sind
nicht die USA alleine, das sind auch Russland und die
Volksrepublik China. Leider modernisieren auch unsere
europäischen Partner Frankreich und Großbritannien ihre
Waffen. Auch darüber muss man offen reden. Das dient
nach meinem Dafürhalten nicht dem guten Gedeihen gemeinsamer Sicherheitsinteressen in unserer Region.
({2})
Zu einem anderen Punkt, bei dem ich das unterstütze,
was mein Kollege Guttenberg gesagt hat - ich verstehe
nicht, warum Sie in Ihrem Antrag die Augen davor verschlossen haben -: Wenn man schon über die Kernwaffenländer spricht, dann muss man auch über die Länder
sprechen, die Kernwaffen anstreben, die also darüber
nachdenken und alles dafür unternehmen, sie zu erhalten. Das haben Sie in Ihrem Antrag leider nicht getan.
Im Gegenteil! Es verwundert mich weiterhin, dass zum
Beispiel der Kollege Lafontaine vom unmittelbaren
Recht Irans auf die gesamte Beherrschung des Brennstoffkreislaufes spricht,
({3})
obwohl er doch weiß - nicht nur, weil die USA das sagen; das muss er ja nicht glauben -, dass die Internationale Atomenergiebehörde vor einer Woche in ihrem
Gouverneursbericht über die Frage, ob Sicherheitsgarantien eingelöst worden sind, dem Iran erneut ein
Extrakapitel gewidmet hat. Die Internationale Atomenergiebehörde sagt doch die ganze Zeit: Der Iran verstößt dagegen. Er benutzt sein Programm zu militärischen Zwecken. - Dass Sie das nicht zur Kenntnis
nehmen, verwundert mich wirklich. Man kann nicht insgesamt für Abrüstung und Rüstungskontrolle streiten,
wenn man davor die Augen verschließt.
({4})
Ein anderer Punkt ist - das muss man genauso benennen -, dass es nicht nur um den Iran, sondern beispielsweise auch um Brasilien, Pakistan und Indien geht. Man
könnte eine ganze Palette aufzählen. Wenn man sich hier
im Deutschen Bundestag ernsthaft über Rüstungskontrolle und Abrüstung unterhalten will, dann hätte man
das nach meinem Dafürhalten zumindest benennen müssen.
Ein weiterer Punkt, über den man diskutieren sollte
- das sind ja auch wichtige Erfahrungen in der internationalen Politik -, lautet: Wie gehen wir mit denjenigen
Staaten um, die Kernwaffen anstreben? In den letzten
Jahren haben wir zwei Erfahrungen machen können. Die
beiden Länder Libyen und Nordkorea haben auf ihre
Kernwaffenprogramme verzichtet - das eine nachprüfbar, das andere hoffentlich bald nachprüfbar.
Ich glaube, der wichtigste Ansatz, aufgrund dessen
diese diplomatischen Erfahrungen gemacht werden
konnten, war, dass insbesondere auch die USA die Regime anerkannt und einen Dialog geführt haben. Sie haben zwar keine Sicherheitsgarantien gegeben - das kann
man auch nicht unmittelbar verlangen -, aber sie haben
zumindest akzeptiert, dass auf der anderen Seite jemand
sitzt, mit dem man versuchen muss zu sprechen. Das entspricht auch unserer Erwartungshaltung gegenüber der
Bundesregierung, und das unterstützen wir: Sie muss
versuchen, die USA auch an den Iran heranzuführen.
Es war ein wichtiger Punkt, dass sich Delegierte der
US-Administration mit iranischen Regierungsvertretern
zusammengesetzt haben. Dazu hat unter anderem die
Bundesregierung mit beigetragen.
({5})
Das war wichtig und ist Teil des Entspannungsprozesses.
Dann wurden zum Beispiel bei Verwandtenbesuchen
im Iran amerikanische Staatsbürger inhaftiert, und dieses
zarte Pflänzchen der Hoffnung wurde wieder zerstört.
Aber deswegen dürfen wir nicht aufgeben, den Versuch
einer diplomatischen Lösung weiter zu unterstützen.
({6})
Ich möchte noch auf den Raketenschirm eingehen,
weil wir in Europa davon besonders betroffen sind. Das
Thema gehört ins Plenum des Deutschen Bundestages
und in die Ausschüsse, aber auch bei den Regierungskonferenzen muss hinter verschlossenen Türen offen
darüber geredet werden.
({7})
Ich akzeptiere die militärischen Reaktionen Russlands in dieser Frage nicht. Sie sind empörend.
({8})
Man kann nicht den KSE-Vertrag sozusagen als Geisel
nehmen und ein Moratorium verkünden. Das ist in dem
Vertrag gar nicht vorgesehen. Aber allein das Aussprechen dieser Drohung ist fatal. Sie kann aus unserer Sicht
auch nicht unsere Unterstützung finden. Wir können allenfalls eine Diskussion über die Frage unterstützen, wie
der KSE-Vertrag möglicherweise ratifiziert oder angepasst werden kann. Das ist ein wichtiger Punkt.
({9})
Umso empörender war, dass Russland angekündigt
hat, vielleicht mit russischen Atomraketen neue Ziele in
Europa in den Blick zu nehmen. Eine solche Reaktion
erwarten wir meines Erachtens zu Recht nicht von Russland.
({10})
Festzustellen ist - das meine ich nicht ironisch -, dass
wir im Zusammenhang mit der Diskussion über den Raketenschirm eine lupenreine Krise in Europa haben. Das
ist nicht nur gegenüber Russland eine Herausforderung,
sondern insbesondere auch gegenüber den europäischen
Staaten und den Staaten, die sich verpflichtet haben, innerhalb eines Verteidigungsbündnisses - nämlich der
NATO - nach gemeinsamer Sicherheit zu streben.
Es ist fatal, dass die USA mit ihrem unsensiblen Vorgehen bilateral mit Ländern über die Frage sprechen, wie
Sicherheit hergestellt werden kann. Das mag zwar für
deren diplomatisches Vorgehen wichtig sein; es ist aber
falsch. Es widerspricht den Erfahrungen mit Europa und
unseren Erfahrungen mit der deutschen Außenpolitik.
Ein weiterer Punkt, der mir Sorge bereitet, ist die Begründung. Es sind hauptsächlich militärische Gründe,
die wahlweise immer wieder angeführt werden. Vor einigen Monaten galt Nordkorea als besondere Herausforderung, was den nationalen Raketenschirm angeht. Jetzt
hat man mit diplomatischen Mitteln versucht, Nordkorea
mit ins Boot zu holen, und sieht den Iran als Herausforderung an.
Wenn es aber Bedrohungen gibt - das haben wir letzte
Woche im Auswärtigen Ausschuss gelernt -, dann ist
diese Herausforderung durch Pakistan gegeben. Dieses
Land ist politisch sehr instabil, rüstet auf, verfügt über
Raketen und exportiert diese Raketentechnologie. Das
sind besondere Herausforderungen, die nach meinem
Dafürhalten die USA sensibilisieren müssten, mit den
pakistanischen Verbündeten darüber zu sprechen.
({11})
Zurzeit können nur wenige europäische Länder den
Versuch machen, sich mit Empathie in den anderen hineinzuversetzen und mit Rücksicht auf dessen Sicherheitsempfinden zu diskutieren. Ich glaube, dabei ist
Deutschlands Rolle gegenüber Russland sehr wichtig.
Wir sollten uns vielleicht mit antirussischen Reflexen
zurückhalten. Wir dürfen nicht in die alte Wortwahl verfallen. Vielmehr sollten wir durchaus mit Respekt gegenüber einem Nachbarn, der auch unsere Sicherheit in
Europa in Zukunft mitverantwortet, den Versuch machen, ihm zuzuhören. Ich glaube, das hat die Bundesregierung in den vergangenen Wochen und Monaten getan. Das muss man unterstützen. Es geht sicherlich nicht
darum, dass nur irgendwelche kritischen Geister darüber
nachdenken. Vielmehr hat sich auch Ulrich Weisser, den
man nicht in eine bestimmte Ecke einordnen kann - er
schreibt für die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige
Politik interessante Artikel über Russland -, entsprechend geäußert.
Ich glaube, das sollten wir an dieser Stelle übernehmen. Dabei handelt es sich um sehr kluge Hinweise.
Darunter ist ein wichtiger Punkt, den wir in diesem Zusammenhang bedenken müssen: Wir brauchen Russland
für vielfältige Fragen der Sicherheit auch in Europa.
Wir haben eben über den Kosovo gesprochen; wir
brauchen ihn für den Iran. Russland aber war das Land,
das letzte Woche versucht hat, die nordkoreanische
Atomkrise über Bankengeschäfte ein wenig zu entproblematisieren. Das war wichtig. Daran sieht man, wo
Russland wichtig ist.
Ich glaube - da unterstütze ich Sie, Herr Kollege Hoyer -, dass wir genügend Zeit haben zu versuchen, an
dieser Stelle wieder zur Rationalität zurückzufinden,
({12})
um mit Russland - aber auch mit anderen Ländern;
China fühlt sich durch die unterschiedlichen Systeme,
die vonseiten der USA aufgestellt werden, genauso herausgefordert - im NATO-Russland-Rat, aber auch in
anderen Institutionen zu reden. Der Punkt ist doch, dass
Verträge, gemeinsame Sicherheit, aber natürlich auch
Verteidigungsfähigkeit die Wiedervereinigung Europas
möglich gemacht haben. Dieses Geschenk muss man bewahren. Ich glaube, dass wir es zusammen mit Russland
bewahren müssen. Das ist nach meinem Dafürhalten an
dieser Stelle der Auftrag.
({13})
Lassen Sie mich zum Schluss einen Vorschlag unterbreiten - dass ich der Regierungskoalition angehöre, bedeutet ja nicht, dass ich nicht auch einmal einen Vorschlag in Richtung der Regierungsbank machen kann -:
Ich hätte mir schon gewünscht, dass bei dem G-8-Gipfel
in Heiligendamm das Thema „Abrüstung und Rüstungskontrolle“ aufgenommen worden wäre. Wir werden die Chance, dieses Thema aufzugreifen, allerdings
noch in den nächsten Monaten haben; denn die deutsche
Bundesregierung hat weiterhin den Vorsitz in der G 8.
Ich hielte es für gut, wenn man gemeinsam mit den Partnern in der G 8 noch einmal über die hier besprochenen
Herausforderungen nachdenken würde, und zwar nicht
nur über die Frage des Raketenschirms.
Ich glaube, dass wir auf einem guten Weg sind. Die
Bundesregierung hat in der Vergangenheit gute Vorschläge gemacht. Sie beteiligt sich an dem Verbot von
Streumunition. Außenminister Steinmeier hat einen Vorschlag für den internationalen Brennstoffkreislauf unterbreitet. Die deutsche Bundesregierung bereitet die Überprüfungskonferenz zum Nichtweiterverbreitungsvertrag
2010, wie ich denke, sehr gut vor. Dabei haben Sie unsere Unterstützung.
({14})
Nach meinem Dafürhalten sind vier Punkte von Ihnen
positiv abgearbeitet.
Vielen Dank.
({15})
Ich gebe dem Kollegen Gert Winkelmeier das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Albert Einstein sagte einmal: Die Zuflucht zum Militär
ist die ultimative Dummheit der Politik. - Wenn ich ihn
beim Wort nehme, muss ich feststellen: Seit 1990 ist
Deutschland wieder Wegbereiter in diese ultimative
Dummheit. Wie die jüngsten Zahlen des Friedeninstituts
SIPRI belegen, ist Deutschland auf dem dritten Platz der
Waffenexporteure. Das ist falscher olympischer Ehrgeiz.
Mit Waffenexporten heizt die Bundesregierung
Spannungen in der Welt an. So schaffen Sie internationale Probleme und rechtfertigen damit eine weitere
Hochrüstung der Bundeswehr. Die bevorstehende Beschaffung von vier Fregatten der 125er-Klasse für die offensive Hochseekriegsführung, die den Steuerzahler in
den nächsten Jahren fast 3 Milliarden Euro kosten wird,
ist ein Beleg dafür.
Es verwundert nicht, dass die CDU/CSU für den offensiven Rüstungsexport ist.
({0})
Ich freue mich zwar, dass die SPD an einer restriktiven
Rüstungspolitik festhalten will. Das ist aber zu wenig.
Ausgemusterte Waffensysteme müssen verschrottet werden. Sie dürfen nicht in Spannungs- oder andere Gebiete
geliefert werden. Dass die FDP nach Einzelfallprüfung
einen kurzfristigen Exporterlös erzielen will, ist unerträglich. Daraus resultierende Konflikte, die dann international gelöst werden müssen, kosten den deutschen
Steuerzahler ein Vielfaches dieses Erlöses. Die SPD handelt heute in der Waffenexportfrage leider nicht nach den
Worten ihres ehemaligen Vorsitzenden Brandt, der
immer betonte, dass von deutschem Boden nie wieder
Krieg ausgehen dürfe.
Selbst die Grünen schließen sich dem Antrag der Linken nur in der Forderung an, dass die Bundesregierung
veröffentlichen soll, welche Waffen in den nächsten fünf
Jahren ausgemustert werden und was mit ihnen passieren soll. Für ein generelles Waffenexportverbot treten
auch sie nicht ein.
Die Linke hat in der konsequenten Forderung nach einem Waffenexportverbot ein Alleinstellungsmerkmal,
und das werden die Wähler honorieren. Warum liefert
die Bundesregierung U-Boote nach Pakistan, ein Land,
das für die Weitergabe von Rüstungstechnologie an fragwürdige Abnehmer berüchtigt ist, ein Land, das Nuklearmacht ist und den Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet hat? Frieden und Sicherheit gibt es in der
Welt nur gemeinsam oder gar nicht. Vertrauensbildende
Maßnahmen sind erste Schritte zum Frieden. Das wusste
die Politik einst in Deutschland. Daran sollten Sie sich
erinnern, anstatt Vertrauen zu verspielen, wie Sie das gerade in Afghanistan praktizieren.
Die Rüstungsausgaben und die Rüstungsexporte der
Industriestaaten sind im Vergleich zur Entwicklungshilfe
einfach obszön. In unserer Welt sterben täglich
40 000 Kinder an Hunger. Machen Sie sich bewusst,
dass während meiner Redezeit 85 Kinder an Hunger gestorben sind!
Vielen Dank.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Winfried Nachtwei,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn ich nun zu den drei Anträgen Stellung nehme,
kann ich dazu selbstverständlich nicht mehr als nur einige Anmerkungen machen.
In den letzten Jahrzehnten wurde in Europa eine Abrüstungsarchitektur gebaut, die weltweit einmalig ist.
Wer kann sich heute noch vorstellen, welche Lager an
Atomwaffen es in West- und Ostdeutschland gab, die für
Einsätze sogar im eigenen Land vorgesehen waren? Das
war heller Wahnsinn! Es ist fantastisch, zu sehen, wie
viel sich verändert hat.
Die Befürworter der geplanten Raketenabwehrsysteme in Polen und Tschechien behaupten, damit auch
der europäischen Sicherheit zu dienen. Diese Behauptung ist, wie wir alle - auch in diesem Haus - mitbekommen haben, auf breiten Widerspruch gestoßen, zuletzt
sogar auf der NATO-Parlamentarierversammlung in Portugal. Einige kritische Anmerkungen dazu: Es wird
Schutz vor Raketenbedrohungen versprochen, die es
zurzeit nicht gibt und in den nächsten Jahren nicht geben
wird. Vielmehr kommt es darauf an, das Anwachsen solcher Bedrohungen politisch zu verhindern. Man verspricht sich Schutz von Systemen, deren Wirksamkeit
zum Stationierungszeitpunkt in keiner Weise erprobt und
nachgewiesen sein wird.
Es ist aber kein Antiamerikanismus, sondern Realismus, dieses Vorhaben nicht als einen Akt der Nächstenliebe unter Verbündeten zu bewerten, sondern in den
Kontext der Gesamtstrategie der USA zu stellen. Das ist
sicherlich nicht der einzige, aber auch ein Aspekt. Mir ist
auf der NATO-Parlamentarierversammlung aufgefallen,
was ein norwegischer Delegierter sagte. Er verwies auf
das schlichte Weltmachtinteresse der USA. Die Defensiv- und die Offensivpotenziale müssen also im Zusammenhang gesehen werden. Es geht um Unverwundbarkeiten, Handlungsfreiheit und Dominanz. Es liegt auf
der Hand, dass das Wirkung auf die Perzeption anderer
hat. Diese fühlen sich vielleicht ins Visier genommen.
Das fördert also Misstrauen und verstärkt die Rüstung.
Das nun angebahnte Projekt scheint mir insgesamt
Ausdruck einer falschen Prioritätensetzung in der Sicherheitspolitik zu sein. Es kommt vielmehr darauf an,
eine andere Prioritätensetzung vorzunehmen. Der Kollege Mützenich hat, genauso wie die Bundesregierung,
deutlich betont, dass man - vertragsgestützt und diplomatisch - eine Politik mit dem Ziel der Nichtverbreitung
verfolgen muss.
Nun zu dem Antrag „Stopp von staatlichen Bürgschaften für Rüstungsexporte“. Wie zu hören war, unterrichtete das Finanzministerium den Haushaltsausschuss
darüber, dass für drei U-Boote an die pakistanische
Marine eine Exportbürgschaft über 1,2 Milliarden Euro
gewährt werden soll. Ich muss zugeben: Auch unter RotGrün hat es einige sehr fragwürdige Rüstungsexporte gegeben. Aber der jetzt beabsichtigte Export verstößt so
eindeutig und massiv gegen die geltenden Rüstungsexportrichtlinien wie wohl kein anderer zuvor.
({0})
Dieser Export geht nicht nur in ein eindeutiges Spannungsgebiet; mit ihm würde auch das Risiko weiterer
Spannungen steigen. Der Export geht nämlich in ein
Land - Kollege Mützenich hat es selbst angesprochen -,
das in Sachen Verbreitung von Nukleartechnologie und
Raketentechnologie äußerst unzuverlässig ist und dessen
Perspektive mehr als ungewiss ist. Hier besteht also
schlichtweg die Gefahr, dass die großen Fehler der 70erund 80er-Jahre, als Militärgüter in den Irak und in den
Iran geliefert wurden, wiederholt werden. Das heißt, mit
einem solchen Handeln konterkariert die Bundesregierung das, was sie sonst zu Recht als Ziel deutscher Außen- und Sicherheitspolitik benennt, die ja Friedenspolitik sein soll.
({1})
Für Rüstungsexporte sollte es generell keine HermesBürgschaften geben. Insofern besteht Übereinstimmung
mit dem Antrag der Linksfraktion. Wir stoßen uns allerdings an einer Empfehlung, die darin enthalten ist, nämlich dass die Veröffentlichung über Exportbürgschaften
erst nach der Beschlussfassung im Interministeriellen
Ausschuss geschehen soll. Wir halten uns da an die entWinfried Nachtwei
sprechende OECD-Richtlinie, die besagt, das solle bis zu
30 Tagen vorher geschehen, damit noch die Möglichkeit
zur Einwirkung besteht. Deswegen werden wir dem Antrag nicht zustimmen.
Nun zum Antrag „Verzicht auf den Verkauf und das
Überlassen von überschüssigem Wehrmaterial“. Wir haben in den 90er-Jahren gesehen, dass es unter der KohlRegierung ein großes Problem war, dass NVA-Material
an die Türkei geliefert wurde, weil dies zum Teil gegen
die Kurden eingesetzt wurde. Eine pauschale Absage an
die Abgabe von Wehrmaterial ist allerdings nach unserer Auffassung nicht sinnvoll. Ein solches Verbot würde
auch die Weitergabe an verlässliche Verbündete ausschließen, ebenso Lieferungen an die Vereinten Nationen und an Peacekeeping-Truppen. Es schlösse sogar die
Abgabe von Sanitätsmaterial aus.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ja, ich komme jetzt zum Schluss. - Insofern ist die
Unterrichtung in diesem Punkt, die Sie schon angesprochen haben, sehr angebracht.
Ich fasse zusammen.
Nein, Herr Kollege. Eine Zusammenfassung lasse ich
jetzt nicht mehr zu. Ich lasse nur noch einen Schlusssatz
zu.
Gerade in diesem Zusammenhang kommt es darauf
an, dass wir als Parlament unsere Verantwortung auch
auf diesem Feld der Sicherheitspolitik endlich mehr
wahrnehmen und an der Kontrolle mitwirken. - Das war
mein Schlusssatz.
Danke schön.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Erich
Fritz, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Die Anträge der Linksfraktion sind nach
dem Motto gestrickt „Ich male mir eine Welt“. Da wird
ausgeblendet, da wird überpointiert, da werden Dinge so
zusammengestellt, wie man es benötigt, um ein bestimmtes Bild zu zeichnen.
Dabei ist jedem klar, dass im Bereich der internationalen Sicherheit drei Punkte zusammengehören: erstens
die Stärkung internationaler Regime - da kann man
Deutschland nun wirklich nichts vorwerfen; damit hat
sich die deutsche Politik immer schon lange und intensiv
beschäftigt -, zweitens die militärische Sicherheit, ohne
die alle anderen Maßnahmen wirkungslos wären, und
drittens das diplomatische Bemühen um Lösungen dort,
wo es Konflikte gibt und neue Gefahren drohen. Wenn
Sie der Auffassung sind, Sie könnten einen Pfeiler herauslösen, dann gefährden Sie damit den Erfolg jeder europäischen Sicherheitspolitik.
({0})
Zu dem ersten Antrag ist schon genug gesagt worden.
Ich will mich deshalb den beiden anderen Anträgen zuwenden.
Da gibt es einen Antrag, in dem gefordert wird, Bürgschaften für Rüstungsexporte gänzlich zu verbieten. In
diesem Antrag wird der Eindruck erweckt, als setze die
Bundesregierung bewusst zur Steigerung eines möglichen Rüstungsexports Hermes-Kreditbürgschaften ein.
({1})
Das ist falsch; das trifft in keinem Fall zu. Ich will Ihnen
einmal sagen, wie groß dieser Anteil ist, damit wir wissen, wovon wir sprechen: Die Gesamtexporte lagen
2004 bei 733,5 Milliarden Euro. Davon waren durch
Hermes-Bürgschaften 21,1 Milliarden Euro gedeckt; das
sind 2,9 Prozent. Der Anteil gedeckter Militärexporte an
allen Hermes-Bürgschaften, die es gibt, betrug 0,62 Prozent. Der Anteil gedeckter Militärexporte an den Gesamtexporten lag bei 0,0002 Prozent. - Das ist eine Debatte, die keine reale Bedeutung hat. Wenn Sie dann
noch wissen, dass es sich in den meisten Jahren ausschließlich um den Export von Schiffen gehandelt hat,
die nun einmal eine wesentlich längere Vertragslaufzeit,
Produktionszeit und Bereitstellungszeit als andere Güter
haben, dann können Sie vielleicht nachvollziehen, dass
im Verhältnis zweier Staaten, die mit diesen Rüstungsaktivitäten zu tun haben, solche Bürgschaften von Bedeutung sind. Sie sind kein Exportförderinstrument.
Wollen Sie eigentlich Südafrika in der jetzigen Situation den Erwerb von drei Schiffen, die wir geliefert haben und die im Wesentlichen der Verhinderung von
Raubfischerei dienen, wirklich verwehren? Sprechen Sie
eigentlich souveränen Staaten völlig ab, dass sie selbst
entscheiden müssen, was für ihre Sicherheit, die Sicherheit ihrer Küsten und ihrer Fischereigewässer notwendig
ist?
({2})
- Tatsächlich ist das so. - Es gibt im zwischenstaatlichen
Verhältnis viele Gründe, auch die Interessen anderer
Staaten anzuerkennen. Jetzt aus diesem Handel auszusteigen, so zu tun, als ob wir einen eigenen Weg gehen,
und zu sagen, dass wir damit nichts mehr zu tun haben,
gleichzeitig aber den Anspruch zu erheben, eine gemeinsame europäische Rüstungspolitik und eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu betreiben, ist
auch falsch. Im Gegenteil: Wir haben das Interesse - deshalb ist die Bundesregierung seit Jahren eine der intensivsten Verfechterinnen gemeinsamer europäischer Rege10794
lungen -, dass wir Grundsätze haben, die für Frankreich,
für Großbritannien, für Spanien und für Italien genauso
gelten wie für uns. Sie wissen, wie schwierig dieser Weg
ist und dass Deutschland keine Rüstungswirtschaft betreibt, die von vornherein auf Export angelegt ist,
({3})
sondern dass unser Bestreben immer war, durch die gemeinsame Politik dazu beizutragen, dass die Kapazitäten
so angepasst werden, dass es diesen Exportdruck nicht
gibt und Rüstungsexport als Teil einer Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik rational im Interesse Europas betrieben werden kann.
Was Sie ganz ausblenden - das hat auch etwas mit
Rüstungsexport zu tun -, ist, dass wir in verstärktem
Maße Nation Building betreiben, dass wir dazu beitragen, dass Staaten, in denen staatliche Gewalt überhaupt
nicht mehr vorhanden ist, wieder eigenständig Sicherheit
gewährleisten können. Wie sollen wir Polizei und Militär ausbilden, wenn wir nicht gleichzeitig das Material,
das man dafür braucht, liefern können? Die Welt hat sich
ein bisschen geändert. Sie können doch nicht die gleichen Sätze wie vor 20 Jahren aufschreiben. Sie müssen
doch die veränderte Rolle, auch die veränderte Sicherheitslage, zur Kenntnis nehmen. Wenn Sie das nicht tun,
dann sind Sie hier, so glaube ich, falsch am Platz oder
sprechen nur Stammtischforderungen nach, die ohne Relevanz bleiben.
Der dritte Antrag gehört eigentlich ins Kuriositätenkabinett. Schon die Grundannahmen darin sind falsch;
deshalb können auch die Forderungen, die daraus abgeleitet werden, nur falsch sein.
Darüber hinaus ist der Antrag von einer unglaublichen Unkenntnis geprägt. Können Sie mir einmal sagen,
wie die buchstabengetreue Umsetzung der Grundsätze
des Rüstungsgüterexports funktionieren soll? Wissen Sie
denn nicht, dass sowohl in der Außen- und Sicherheitspolitik als auch in der Exportpolitik in jedem Einzelfall
abgewogen werden muss und dass es an keiner Stelle
eine einfache Entscheidung gibt? Aus diesem Grund
dauern die Entscheidungsfindungsprozesse unserer verantwortlich handelnden Regierung zum Teil viel länger,
als man es sich eigentlich wünscht. Wenn Sie das einfach leugnen und so tun, als gäbe es einfache Lösungen
und als könne man vor der Verantwortung fliehen, indem
man sagt: „Wir beschäftigen uns damit gar nicht mehr“,
dann tut mir das leid. So werden Sie jedenfalls nicht
ernst genommen werden können.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/5456 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 7 b. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem An-
trag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Stopp von
staatlichen Bürgschaften für Rüstungsexporte“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/4602, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 16/3697 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU
und FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke an-
genommen.
Tagesordnungspunkt 7 c. Beschlussempfehlung des
Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der Fraktion
Die Linke mit dem Titel „Verzicht auf den Verkauf und
das Überlassen von überschüssigem Wehrmaterial“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/5353, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 16/3350 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit dem-
selben Stimmergebnis wie zuvor angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 d sowie
die Zusatzpunkte 5 und 6 auf:
8 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Erika Steinbach, Holger Haibach, Carl-Eduard von Bismarck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie
der Abgeordneten Christoph Strässer, Angelika
Graf ({1}), Niels Annen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Stärkung der Menschenrechtspolitik der Europäischen Union
- Drucksachen 16/3607, 16/4497 Berichterstattung:
Abgeordnete Alois Karl
Burkhardt Müller-Sönksen
Volker Beck ({2})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe ({3}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
EU-Jahresbericht 2006 zur Menschenrechtslage
Ratsdok. 5779/07
- Drucksachen 16/4635 Nr. 2.2, 16/5603 Berichterstattung:
Abgeordnete Holger Haibach
Burkhardt Müller-Sönksen
Volker Beck ({4})
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
c) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD
Den Europäischen Gerichtshof für Menschen-
rechte reformieren und durch die konsequente
Befolgung seiner Urteile stärken
- Drucksache 16/5734 -
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe ({5})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Holger Haibach, Erika Steinbach, Eduard Lintner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Christoph Strässer,
Doris Barnett, Kurt Bodewig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Den Erfolg des Europäischen Gerichtshofes
für Menschenrechte durch die konsequente
Befolgung seiner Urteile sichern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Werner
Hoyer, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
Burkhardt Müller-Sönksen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vor dem Kollaps bewahren
- zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck
({6}), Omid Nouripour, Rainder Steenblock,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte stärken
- Drucksachen 16/4417, 16/4062, 16/4405, 16/
5768 Berichterstattung:
Abgeordnete Holger Haibach
Burkhardt Müller-Sönksen
Volker Beck ({7})
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Werner
Hoyer, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Burkhardt Müller-Sönksen, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vor dem Kollaps bewahren
- Drucksache 16/5738 ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({8}), Omid Nouripour, Rainder Steenblock,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte stärken
- Drucksache 16/5735 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Christoph Strässer, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren in dieser Debatte unter anderem über den achten Jahresbericht der
EU zur Menschenrechtslage. Dieses Dokument beschäftigt sich mit der internen und der externen Menschenrechtspolitik der Europäischen Union. Es hat ein stolzes
Volumen von weit über 250 Seiten. Ich möchte mich auf
drei Bereiche beschränken, die mit der Umsetzung menschenrechtlicher Grundsätze und Standards in den europäischen Staaten mittelbar und unmittelbar zu tun haben.
Der erste Bereich wird in diesem Bericht zwar nicht
ausdrücklich erwähnt; dennoch glaube ich, dass er gerade angesichts der zu Ende gehenden deutschen EURatspräsidentschaft eine ganz wichtige Rolle spielt. Ich
meine damit zumindest einen Teil des sogenannten Verfassungsprozesses.
In diesen Tagen sind in unseren Wahlkreisen die sogenannten Europabusse unterwegs. Durch diese Busse
wird Europa vielen jungen Leuten, vielen Schülerinnen
und Schülern vorgestellt. Man spricht über Grundsätze
des Zusammenlebens auf unserem Kontinent. Als Ergebnis meiner eigenen Erfahrungen kann ich nur sagen: Den
jungen Leuten geht es nicht um Quadratwurzeln und andere Dinge - so wichtig das für uns und für das Funktionieren der Europäischen Union ist -; vielmehr stellen sie
die Frage: Wie leben wir eigentlich materiell in diesem
europäischen Verbund?
Das Allerwichtigste ist aus meiner Sicht - ich glaube,
das gilt für viele andere auch - die Verbindlichmachung
der sogenannten Grundrechtecharta, die wir bereits beschlossen haben. Wenn man Europa an dieser Stelle für
die Menschen lebbar, erfahrbar und greifbar machen
will, dann gilt es, sich verbindlich auf die gemeinsamen
Werte Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und
Menschenrechte zu berufen. Dafür sollten wir uns auch
heute noch einsetzen. Ich bitte die Bundesregierung
herzlich, an dieser Stelle nicht nachzugeben und klarzustellen, dass die Europäische Union eine verbindliche
Grundrechtecharta braucht; sonst wird vieles unglaubwürdig.
({0})
Ich möchte einen zweiten Bereich ansprechen, der in
diesem Bericht, der sich auf die Zeit von Mitte 2005 bis
Juni 2006 bezieht, eine große Rolle spielt. Das ist die
Handlungsfähigkeit der Europäischen Union in den Vereinten Nationen in internationalen Zusammenhängen.
Ich möchte einen Bereich herausgreifen, der gerade in
den letzten Tagen in unseren Debatten eine große Rolle
gespielt hat, nämlich die Einrichtung und die Arbeit des
Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen. Wir alle,
die wir uns mit diesem Thema befassen, sind nicht in
letzter Konsequenz glücklich mit dem, was dort passiert.
Aber - das sollten wir zur Kenntnis nehmen und gebührend werten - dass es einen Menschenrechtsrat gibt und
dass er sich jetzt auf verbindliche Arbeitsformen verständigt hat, ist ein Verdienst der Ratspräsidentschaft,
ein Verdienst der westlichen Staaten. Deshalb sage ich
für unsere Fraktion einen ganz besonders herzlichen
Dank an Michael Steiner, der das in ganz harter Arbeit
durchgesetzt hat.
({1})
Da ist nicht alles Gold, was glänzt. Aber wir haben
uns darauf verständigt, im Menschenrechtsrat weiterhin
Länderberichterstattungen durchzuführen. Dabei gehen
wir von einem Quorum aus, das es nicht von vornherein
unmöglich macht, sich mit menschenrechtswidrigen
Vorfällen zu befassen. Das ist für uns ganz wichtig.
Ohne das System der sogenannten Peer-Reviews zur
Überprüfung menschenrechtlicher Standards, ohne die
Aufrechterhaltung des Systems der Berichterstatter wäre
der Menschenrechtsrat ein zahnloser Tiger. Das ist das
Einzige, was im Moment von dem großen Reformprozess der Vereinten Nationen übrig geblieben ist. Wenn
der Menschenrechtsrat keine vernünftige Arbeit im
Sinne der Menschen in der ganzen Welt machte, dann
würde den Vereinten Nationen ein wichtiges Standbein
genommen. Deshalb sind wir sehr froh darüber, dass unter unserer Führung, unter der Führung der westlichen
Staatengemeinschaft, diese Werte verankert worden sind
und der Menschenrechtsrat in Zukunft, so hoffe ich, eine
erfolgreiche Arbeit leisten kann.
({2})
Ich möchte einen dritten Bereich ansprechen. Da wird
ein Stück weit Selbstkritik und auch Blick über den eigenen Horizont hinaus vermittelt. Die europäischen Werte
der Aufklärung, der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit
und der allgemeinen Geltung der Menschenrechte sind
für viele Menschen in anderen Teilen der Welt eine
große Hoffnung. Deshalb ist es sehr gut, dass es gelungen ist, in der Arbeit der Europäischen Kommission die
sogenannten Leitlinien zur Menschrechtspolitik in bestimmten Bereichen weiterzuentwickeln.
Ich finde es ausgesprochen gut, dass in diesen Tagen
von Italien ein Angebot zur Ächtung der Todesstrafe
weltweit gekommen ist. Wir sollten uns dieser Initiative
anschließen und sie massiv unterstützen. Das ist eines
der zentralen Anliegen deutscher Menschenrechtspolitik.
({3})
Das Gleiche gilt für die Leitlinien zur Verhütung von
Folter und erniedrigender Behandlung. Auch dazu haben wir klare Positionen. Ich möchte an dieser Stelle etwas Selbstkritisches sagen: Wir müssen uns nach dem
Wertekanon der Europäischen Union fragen lassen, ob in
unseren eigenen Strukturen alles in Ordnung ist. Ich
habe bestimmte Berichte gelesen, deren Wahrheitsgehalt
ich noch nicht beurteilen kann. Wenn es aber so ist, dass
es in Europa, im Europa der 27, Gefängnisse gibt, in denen gefoltert wird, wenn es zutrifft, dass es von europäischem Boden aus, gegebenenfalls mit Zustimmung der
Regierung, zu Überstellungen in Länder kommt, in denen gefoltert wird und die Todesstrafe gilt, dann ist das
ein Thema, vor dem wir in der Europäischen Union nicht
die Augen verschließen dürfen. Diese Vorwürfe müssen
aufgeklärt werden. Ich hoffe und erwarte, dass dies gelingt und dass auch wir hier im Deutschen Bundestag
mit den Ausschüssen, mit den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, Klarheit schaffen. Von europäischem Boden dürfen keine Menschen in Systeme überführt werden, in denen es eine menschenrechtswidrige Praxis gibt.
Das sollte für uns ganz selbstverständlich sein.
({4})
Einen letzten Punkt möchte ich noch ansprechen - ich
habe mir geschworen, dass er bei allen menschenrechtlichen Debatten eine Rolle spielen soll -: Auf Seite 65 des
hier zu diskutierenden Berichtes heißt es unter der Überschrift „Strategische Ziele 2005-2009“ - es geht hier um
die EU-Kommission -: Die Rechte des Kindes sind uns
ein vorrangiges Anliegen. Im April 2005 wurde eine besondere Initiative mit Blick auf die weitere Förderung,
den Schutz und die Berücksichtigung der Rechte des
Kindes bei den internen und externen Maßnahmen der
EU auf den Weg gebracht. - Das ist gut. Ich interpretiere
das so: Das ist ein Auftrag an uns, an die Bundesregierung.
({5})
Es wäre ein grandioser Erfolg für die deutsche Menschenrechtspolitik, wenn die Bundesregierung zum Schluss ihrer Ratspräsidentschaft erklären würde, dass die noch
existierenden Vorbehalte zur Kinderrechtskonvention zurückgenommen werden.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Burkhardt Müller-Sönksen
von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute unter dem Tagesordnungspunkt 8
nicht nur den EU-Jahresbericht 2006 zur Menschenrechtslage, sondern auch einen wahren Wust von Anträgen und Beschlussempfehlungen. Allein zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte finden wir auf
der Tagesordnung drei Anträge und außerdem eine Beschlussempfehlung zu drei weiteren Anträgen, die bereits für erledigt erklärt wurden. Der Grund für dieses
heillose Durcheinander besteht darin, dass wir im Menschenrechtsausschuss den Versuch unternommen haben,
auf der Basis des ursprünglichen FDP-Antrags „Den
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vor dem
Kollaps bewahren“ auf Drucksache 16/4062 zu einem
fraktionsübergreifenden Antrag zur Stärkung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu kommen.
Dieser Versuch ist in letzter Minute gescheitert; denn der
zuständige Berichterstatter der CDU/CSU im Haushaltsausschuss meldete an, dass er eine Kernforderung des
gemeinsamen Antrags nicht mittragen könne. Es handelt
sich dabei um die Forderung, eine - ich zitiere aus dem
ursprünglichen Antrag - „angemessene Erhöhung der
finanziellen Mittel“ für den Gerichtshof vorzusehen, damit dieser in die Lage versetzt wird, seine jetzige und
künftige Arbeitslast zu bewältigen.
Meine Damen und Herren, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist - da sind wir uns alle einig die bedeutendste Einrichtung für den Menschenrechtsschutz in Europa. In seiner Aufgabe und seinen
Mechanismen ist der Gerichtshof weltweit einzigartig.
Er ist nicht nur Symbol, sondern auch Maßstab und Bewahrer des hohen Menschenrechtsstandards in Europa.
Ebendieser Gerichtshof befindet sich allerdings auch in
der tiefsten Krise seit seiner Errichtung. Diese tiefe
Krise wurde auch durch den Menschenrechtskommissar
des Europarates, Thomas Hammarberg, bei einer Ansprache letzte Woche in Berlin konstatiert.
Um es etwas bildhafter auszudrücken: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte droht in absehbarer Zeit zu kollabieren, weil er durch eine immer größer
werdende Flut an Klagen geradezu erstickt wird. Sie alle
kennen die schier unglaubliche Zahl von 90 000 anhängigen Verfahren. Jedes Jahr kommen 50 000 hinzu.
50 000 neue Verfahren jährlich - auch das wissen Sie sind mit kleineren Reformen, wie etwa dem kürzlich ratifizierten 14. Zusatzprotokoll, überhaupt nicht zu bewältigen. Das war ein Tropfen auf den heißen Stein. Das
wirkungsvollste und deshalb entscheidende Mittel zur
Stärkung des Gerichtshofes besteht darin, die enorme
Unterfinanzierung des Gerichtshofes schnellstmöglich
zu beenden.
({0})
Wer eine deutliche Erhöhung der finanziellen Mittel für den Gerichtshof ablehnt, ist bereit, sehenden Auges die fortschreitende Paralysierung des Gerichtshofes
in Kauf zu nehmen.
({1})
Er spielt damit Staaten wie Russland in die Hand, die offenbar zielgerichtet das Interesse verfolgen, den Gerichtshof schlicht durch quantitative Überbeanspruchung
auszuschalten.
({2})
Über welche Beträge reden wir hier eigentlich? Das
Jahresbudget des Gerichtshofes belief sich für das Jahr
2006 auf 44 Millionen Euro.
({3})
Nur zum Vergleich: Der G-8-Gipfel in Heiligendamm
hat Kosten von mehr als 100 Millionen Euro verursacht.
Herausgekommen ist als eines der wichtigsten Ergebnisse eine Fußnote zum Klimaschutz. Der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte hat allein im Jahr 2005
in 1 105 Fällen - Herr Kollege Haibach, ich kann auch
die Zahlen ganz genau vorlesen - Recht gesprochen und
damit einen wesentlichen und unmittelbaren Beitrag
zum Schutz der Menschenrechte von 800 Millionen
Menschen in 47 Mitgliedstaaten des Europarates geleistet. Verstehen Sie, meine Damen und Herren, mich bitte
nicht falsch: Ich möchte die guten Ergebnisse des Heiligendammer G-8-Gipfels nicht kleinreden oder gar die
Bedeutung des Klimawandels infrage stellen. Vielmehr
geht es mir darum, zu zeigen, welch wichtigen Beitrag
der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte angesichts seiner extrem knappen Finanzausstattung leistet.
Das muss hier erlaubt sein.
Ich finde es schon sehr erstaunlich, wenn die Regierungskoalition mit ihrem nunmehr eingebrachten Antrag
zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sogar hinter das zurückfällt, wozu sie sich vorher bereits
selbst bekannt hatte. In ihrem Antrag zur Stärkung der
Menschenrechtspolitik in der Europäischen Union, der
vor Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft eingebracht wurde, lässt die Regierungskoalition durchaus
mehr Problembewusstsein erkennen, was die dürftige
Finanzierung des Gerichtshofes angeht.
In diesem Antrag wird die Bundesregierung unter
Punkt 25 aufgefordert - ich zitiere -, „sich für eine
finanzielle Stärkung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte einzusetzen“. Der Rückschritt, der seit
der Einbringung dieses Antrags bei der Regierungskoalition eintrat, ist beachtlich. Denn der angestrebte fraktionsübergreifende Antrag ist - ich erwähnte es bereits daran gescheitert, dass ein Haushaltspolitiker aus der
Koalition die finanzielle Stärkung des Gerichtshofes
nicht mittragen wollte. Das ist das genaue Gegenteil von
konsequenter Politik! Eine solche Politik ist angesichts
der großen Bedeutung des Europäischen Gerichtshofes
für Menschenrechte unwürdig und für meine Fraktion
nicht hinnehmbar.
Ein anderes Beispiel, bei dem die hier regierende
Koalition ein eklatantes Maß an Inkonsequenz gezeigt
hat, ist Usbekistan. Im Antrag der Regierungskoalition
zur Stärkung der EU-Menschenrechtspolitik wird die
Bundesregierung unter Punkt 8 aufgefordert, „bei der regionalen Schwerpunktsetzung ,Zentralasien‘ während
ihrer Ratspräsidentschaft auf die Achtung der Menschenrechte großes Gewicht zu legen“. Wir haben in diesem Hause bereits häufig darüber gesprochen. Auch hier
sind Sie hinter Ihren eigenen Vorgaben und Wertvorstellungen zurückgeblieben.
Meine Damen und Herren, mit einer solchen Politik,
die selbst vor so offensichtlichen Inkonsequenzen nicht
zurückschreckt, untergraben wir die Glaubwürdigkeit der Menschenrechtspolitik unseres Landes, der
Bundesrepublik Deutschland. Meine Fraktion wird sich
daran nicht beteiligen.
({4})
Das Wort hat nun der Kollege Alois Karl von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir befassen uns heute zum wiederholten Male im
Deutschen Bundestag mit dem Querschnittsthema Menschenrechtspolitik, mit einem Thema, das weit über die
flüchtige Tagespolitik hinausgeht. Es war daher gut, dass
die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im letzten halben
Jahr das Thema Menschenrechtspolitik häufig aufgegriffen hat.
Das vergangene halbe Jahr war ein gutes Jahr für
Europa, gerade auch aus der Sicht der Menschenrechte.
Manches wurde im ersten Halbjahr 2007 erfüllt; vieles
hat die deutsche Ratspräsidentschaft in Bewegung gebracht. Die Arbeit der Ratspräsidentschaft, der Bundesregierung und der Kanzlerin auf diesem Feld verdienen
unseren Respekt.
In unsere Ratspräsidentschaft fiel der 50. Jahrestag
der Römischen Verträge und die Berliner Erklärung. Der
Weg von Rom nach Berlin war weit. Die europäische Einigung, 1957 durch die Staatsmänner Europas begonnen,
ist eine Erfolgsgeschichte für unseren Kontinent, gleichsam ein goldenes Zeitalter. Wir können auf 50 Jahre
Frieden und Freiheit im westlichen Europa zurückschauen. Die vom Kommunismus ihrer Freiheit beraubten Völker Mittel- und Osteuropas sind heute ganz natürlich Glieder der Europäischen Union. In Deutschland
haben wir wirtschaftlichen Wohlstand erleben dürfen,
dazu die deutsche Wiedervereinigung. Der Weg von der
Wirtschaftsgemeinschaft zur Europäischen Union wurde
in logischen Schritten zurückgelegt. Die positive wirtschaftliche Entwicklung ging Hand in Hand mit einer
stärkeren Respektierung der Menschenrechte. Sie sind
heute stärker denn je im Fokus unserer Politik.
In diesem Zusammenhang ist die Berliner Erklärung
vom März 2007 wertvoll. Ein Meilenstein ist es, dass
sich die 27 Staats- und Regierungschefs feierlich zu den
Bürger- und Freiheitsrechten bekannt haben. Sie haben
zum Beispiel proklamiert, dass die abscheulichsten
Feinde der Menschenrechte, nämlich Rassismus und
Fremdenfeindlichkeit, nie wieder auf unserem Kontinent
eine Chance erhalten sollen. Allein dies rechtfertigt es,
von einem guten Halbjahr zu sprechen.
Unser Ziel bleibt es nach wie vor, die Charta der
Grundrechte in einen europäischen Verfassungsvertrag aufzunehmen.
({0})
Wir wissen, dass dieser Vorgang ins Stocken geraten ist.
Wir erkennen die Bemühungen der Bundesregierung
und der Kanzlerin an, den dümpelnden Tanker des Verfassungsvertrages wieder flott zu bekommen. Wir wissen, so lange die Charta der Grundrechte nicht in einem
irgendwie gearteten Verfassungsvertrag steht, so lange
die Grundrechte in Europa nicht kodifiziert sind, kommen sie gleichsam hinkend daher. Das muss jede Regierung in Europa erkennen. Die Bemühungen um eine europäische Einigung einerseits und die Stärkung der
Menschenrechte in der Europäischen Union andererseits
lassen sich nicht trennen. Auch sie sind quasi eineiige
Zwillinge.
Das sollten auch unsere östlichen Nachbarn erkennen.
Wenn es in deren Hymne heißt „Noch ist Polen nicht
verloren“, rufen wir ihnen zu: Auch der europäische
Grundlagenvertrag darf nicht verloren gehen! Im Gegenteil, er muss gerade um der Menschenrechte willen vorangebracht werden.
Themen der Menschenrechtspolitik sind vielfach angesprochen worden. Ich erwähne ausschnittsweise den
EU-Russland-Gipfel in Samara, bei dem Bundeskanzlerin Merkel gegenüber Putin ganz offen die Gewalttätigkeiten russischer Sicherheitsbehörden gegen friedliche Demonstranten angesprochen hat. Diese Offenheit
und dieser Mut haben ihr Respekt eingebracht. Die
Kanzlerin blieb ihrer Linie treu. So wie sie gegenüber
George Bush auf die Unerträglichkeit des Lagers von
Guantánamo hingewiesen hatte, hat sie dem russischen
Präsidenten unmissverständlich die Meinung gesagt, und
das war, wie ich denke, die Meinung des Deutschen
Bundestages insgesamt. Auch die Reisebeschränkungen
zulasten des früheren Schachweltmeisters Garri
Kasparow sind deutlich angesprochen worden.
In Heiligendamm haben die Repräsentanten der acht
Länder bekräftigt, dass sie die grundlegende Bedeutung
des Schutzes und der Förderung der Menschenrechte anerkennen. Bemerkenswert ist, dass sie nicht bloß finanzielle Entwicklungshilfe leisten wollen, sondern die
Menschenrechte in Afrika an oberste Stelle setzen. Wir
sehen darin eine Chance, Bürgerkriege zu vermeiden
und uns eines der unseligsten Kapitel der Gegenwart, der
Kindersoldaten, anzunehmen. Bis zu 300 000 Kinder
weltweit sollen als Soldaten missbraucht werden. Wir
danken der Bundesregierung, dass sie diese massive
Form der Menschenrechtsverletzung ausdrücklich angesprochen hat, zuletzt bei der Pariser Konferenz am
5. Februar dieses Jahres.
({1})
In Heiligendamm haben sich die acht Staaten verpflichtet, 60 Milliarden Dollar für bessere Gesundheitssysteme in afrikanischen Staaten aufzuwenden. Das ist
ein augenscheinlicher Erfolg. HIV/Aids, Tuberkulose
und Malaria können auf diese Art und Weise eingedämmt werden. Viele Flüchtlinge der Bürgerkriege, deren Bürgerrechte mit Füßen getreten werden, können so
wenigstens medizinische Versorgung erlangen.
In diesem Zusammenhang denke ich auch an die
furchtbare Situation in Darfur. Um dort menschenwürdige Zustände herbeizuführen, haben die Machthaber
zugestimmt, jetzt endlich internationalen Beobachtern
und Friedenstruppen Zugang zu gewähren. Die von HeiAlois Karl
ligendamm ausgehende Darfurerklärung hat offensichtlich den internationalen Druck auf das Regime im Sudan
entscheidend erhöht.
({2})
Wir hoffen, dass die Machthaber dort ihre Zusagen nicht
widerrufen, wie das schon häufiger der Fall war.
Manches ist in Bewegung gekommen: Der Internationale Strafgerichtshof wurde gestärkt. Die Zusammenarbeit mit der serbischen Regierung ist in Gang gekommen; der gesuchte General Tolimir wurde ausgeliefert.
Die Europäische Agentur für Grundrechte, also
das Kompetenzzentrum für Menschenrechte, hat in Wien
ihre Arbeit aufgenommen.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bedarf einer Reform; Herr Müller-Sönksen hat es angesprochen. 40 000 neue Klagen pro Jahr
({3})
machen dieses Gericht in der Tat fast handlungsunfähig.
Vor einer neuen Aufgabe stehen wir dadurch, dass mit
der Aufnahme von Rumänien und Bulgarien
10 Millionen Sinti und Roma in die Europäische Union
gekommen sind. Ihre Situation ist, auch in menschenrechtlicher Hinsicht, bedenklich.
Die Menschenrechtsdialoge mit China vor den Olympischen Spielen, mit Russland und Iran müssen fortgesetzt werden. Ebenso müssen die Zustände in Usbekistan
und Turkmenistan weiterhin auf der Tagesordnung bleiben.
Zusammenfassend darf ich sagen: Das letzte halbe
Jahr unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft war ein gutes halbes Jahr, gerade aus Sicht der Menschenrechtspolitik. Wir haben gute Entwicklungen gesehen. Rückblickend können wir problemlos festhalten: Die deutsche
EU-Ratspräsidentschaft war auf dem Feld der Menschenrechtspolitik erfolgreich. Der Einsatz der Bundesregierung und der Kanzlerin verdienen ausdrücklich unseren Respekt und unsere Anerkennung.
Vielen herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Michael Leutert von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mein Beitrag heute wird vielleicht etwas unkonventionell, aber, so denke ich, angemessen sein. Uns liegen
heute mehrere Beschlussvorlagen vor, unter anderem ein
Antrag der Koalition mit dem Titel „Stärkung der Menschenrechtspolitik der Europäischen Union“. Ich darf zitieren:
Die Europäische Union hat mehrfach bekräftigt,
dass Terrorismusbekämpfung unter Wahrung von
Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit erfolgen
muss. Die EU sollte deshalb der Welt ein Vorbild
sein.
Weiter:
Die deutsche EU-…Ratspräsidentschaft sollte ihren
Einfluss geltend machen, damit weder innerhalb
Europas noch mit Wissen oder Mitwirkung von
EU-Staaten außerhalb Europas Menschen im Namen des Anti-Terror-Kampfes entführt, gefoltert
oder erniedrigend behandelt und illegal an geheimen Orten festgehalten werden.
({0})
Dies ist ein klarer Verstoß gegen die EMRK.
({1})
- Ja, das ist zustimmungsfähig.
Weiterhin liegt uns eine Beschlussempfehlung zum
EU-Jahresbericht 2006 zur Menschenrechtslage vor. Ich
zitiere wieder:
Der Deutsche Bundestag anerkennt die Bemühungen der EU für ein weltweites Folterverbot. Er fordert die Bundesregierung auf, gemeinsam mit den
EU-Partnern weiterhin für eine weltweite Ratifizierung des VN-Übereinkommens gegen Folter bzw.
des Zusatzprotokolls sowie für Maßnahmen der
Verhütung von Folter und der Rehabilitierung von
Folteropfern einzutreten. Mit Sorge hat der Deutsche Bundestag eine aktuelle Studie von amnesty
international zur Kenntnis genommen, in der Defizite der EU-Verordnung … für den Handel mit zur
Folter geeigneten Elektroschockgeräten festgestellt
wurden. Der Deutsche Bundestag empfiehlt der
EU, die Verordnung auf ihre Wirksamkeit hin zu
überprüfen.
So weit das, was auf dem Papier steht.
({2})
Ich komme jetzt zu den Fakten. In einer der letzten
Menschenrechtsausschusssitzungen war dieser AmnestyInternational-Report Anlass, uns vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie unterrichten zu lassen. Auf zweimalige Nachfrage von mir wurde mir dann
bestätigt: Jawohl, es wurden Fußfesseln nach SaudiArabien geliefert, die wohl unter das Exportverbot fallen.
Ich habe mir das schriftlich geben lassen. Die schriftliche Antwort der Bundesregierung ist es meines Erachtens wert, hier ebenfalls zitiert zu werden:
Frage …
Wann und mit welcher Begründung genehmigte die
Bundesregierung … die Ausfuhr von 69 Fußfesseln
nach Saudi-Arabien im Jahre 2002 ({3})?
Antwort:
Die Genehmigung zur Ausfuhr von 69 … Fußfesseln zur Endverwendung in Saudi-Arabien im Wert
von 3.140 EURO wurde am 22. März 2002
- leider zu Zeiten von Rot-Grün, muss ich hinzufügen durch das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle … erteilt. Es handelte sich um eine Zulieferung an eine schweizerische Firma, die ihrerseits
von einem anderen schweizerischen Unternehmen
beauftragt worden war. Die ausgeführten Fußfesseln dienten der Ausbildung und dem Training von
Einheiten staatlicher Sicherheitskräfte in SaudiArabien und wurden an ein entsprechendes Trainingszentrum geliefert. Eine Endverbleibserklärung
lag vor. Die beantragte Ausfuhr wurde genehmigt,
da dem BAFA das Gesamtprojekt der Ausrüstung
der Trainingszentren bekannt und die Verwendung
der Fußfesseln im Rahmen des Projekts plausibel
waren. Anhaltspunkte für Menschenrechtsverletzungen im Rahmen des Trainingsprojektes
- es wäre ja auch absurd, wenn es im Trainingsprojekt zu
Menschenrechtsverletzungen kommt oder Anhaltspunkte für eine zweckwidrige Verwendung bestanden nicht.
Der Genehmigungsbescheid unterliegt … als Betriebs- und Geschäftsgeheimnis der Geheimhaltung.
Deutschland ist also nicht bloß bei Waffen Exportweltmeister, sondern auch bei Dingen, die zur Folter verwendet werden können.
Nun fragt man sich natürlich: Was trainieren saudiarabische Sicherheitskräfte in einem Trainingslager mit
Fußfesseln?
({4})
Im Jahresbericht 2002 von Amnesty International steht
zu Saudi-Arabien unter der Überschrift „Folterungen in
der Haft“ - Zitat -:
Kalesh, ein indischer Staatsangehöriger, der des
Diebstahls beschuldigt und ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft gehalten worden war, gab nach seiner Freilassung im Dezember 2000 Folgendes an:
„Da waren drei Personen in Zivilkleidung ({5}) Sie
hatten einen Knüppel mit Seilen an jeder Seite ({6})
Ich wurde aufgefordert, mich auf den Boden zu setzen ({7}) Während ich mit Handschellen und Fußketten gefesselt war, wurde der Knüppel mit den
Seilen durch meine Kniekehlen hindurchgeführt
({8}) und die Seile an meine mit Handschellen gefesselten Hände gebunden. Ich wurde so zu einem
Fußball ({9}) Ich saß bzw. lag auf dem Boden und
diese drei Teufel ({10}) begannen, mich zu treten und
brutal mit einer Stange auf mich einzuschlagen ({11})
Es gibt noch immer Spuren ({12}) von diesem Tag
auf meinem Körper …“
Für den Fall, dass diese Amnesty-Berichte im Ministerium nicht bekannt sind, können wir sie gern weiterleiten.
Vielleicht ist auch etwas anderes noch nicht bekannt
- dies ist der Amnesty-Bericht für 2003 -:
Saudische Gerichte verhängten weiterhin routinemäßig Körperstrafen bis hin zu körperlichen Verstümmelungen, die ebenso routinemäßig vollstreckt
wurden.
Und weiter:
Ein im März freigelassener gewaltloser politischer
Gefangener gab an, man habe ihn in der Haft an
Händen und Füßen gefesselt, geschlagen und am
Schlafen gehindert.
Auch wenn das etwas unkonventionell war, so glaube
ich doch, dass all diese Zitate für sich sprechen. Im Namen der Linken sage ich: Solange solche Tatsachen nicht
in unseren Papieren stehen, sind die Papiere es nicht
wert, hier behandelt und womöglich beschlossen zu werden. Die Linke lässt sich an Taten und nicht an Worten
messen. Wir werden die Vorlagen deshalb ablehnen.
({13})
Das Wort hat der Kollege Volker Beck von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kurz vor
Ende der EU-Ratspräsidentschaft der Bundesrepublik
Deutschland diskutieren wir heute über die Menschenrechtspolitik in der Europäischen Union.
Man muss leider sagen, dass die EU-Ratspräsidentschaft in Sachen Menschenrechte etwas unglücklich gestartet ist. In dem einschlägigen Dokument zur Ratspräsidentschaft taucht das Thema Menschenrechte nicht ein
einziges Mal auf. Auf unsere Nachfrage hin hat man uns
gesagt, das sei ein Versehen gewesen, das Thema werde
selbstverständlich berücksichtigt, man habe aber leider
vergessen, es in dem Text aufzuführen.
Gerettet werden soll das Ganze durch den Antrag der
Koalition, der heute zur Beschlussfassung vorliegt. Dadurch soll der Bundesregierung gesagt werden, was im
Rahmen der Ratspräsidentschaft hinsichtlich der Menschenrechtspolitik zu tun ist. Die Bundesregierung hat
nicht mehr viel Zeit, das umzusetzen.
({0})
Das ist vom Parlament nicht ganz fair.
Insgesamt zeigt das, dass es bei der Priorisierung in
Sachen Menschenrechte offensichtlich Mängel gibt. Das
sieht man auch, wenn man sich die konkrete Politik der
EU-Ratspräsidentschaft anschaut, zum Beispiel zu Usbekistan. Mitglieder der Koalition haben bei der Abstimmung über unseren Änderungsantrag im Ausschuss
durch ihr Abstimmungsverhalten deutlich gemacht, dass
sie das eigentlich so sehen wie wir.
Volker Beck ({1})
Dass man der usbekischen Regierung eine Erleichterung der Sanktionen angeboten und in Brüssel durchgesetzt hat, ist mir unerklärlich. Es gibt zwar jede Menge
Absichtserklärungen der usbekischen Regierung, sich
künftig menschenrechtskonformer zu verhalten, aber
nicht eine einzige Tat, die in diese Richtung deutet, weder bei der Kontrolle der Gefängnisse durch das Internationale Rote Kreuz, noch gibt es bei den Menschenrechtsdialogen mehr als Blabla.
({2})
Wir würden gerne etwas Konkretes sehen. Die vielen politischen Gefangenen, die seit dem Massaker von Andischan einsitzen, müssen es als Hohn empfinden, dass die
Bundesregierung für einen Teil der Verantwortlichen in
Brüssel die Einreise nach Europa erkämpft hat. Das ist
kein gutes Kapitel der deutschen EU-Ratspräsidentschaft.
({3})
Amnesty International hat gestern in einer Pressekonferenz die Arbeit der deutschen Ratspräsidentschaft
in diesem Bereich bewertet: außen hui, innen pfui. „Außen hui“ bezieht sich auf die Erwähnung der Menschenrechte im Rahmen der Zentralasienstrategie.
({4})
Das ist zwar gut und schön, zumindest auf dem Papier,
aber an der Tatsache, dass die Sanktionen für Usbekistan
erleichtert wurden, zeigt sich, dass Papier und tatsächliche Politik nicht zusammenpassen.
An der Kritik von Amnesty International - innen
pfui - zeigt sich, dass die Europäische Union Defizite
hat, wenn es um die Menschenrechte im Innern der EU
geht. Bisher fehlen uns die Instrumente, um das aufzuarbeiten. Bei beitrittswilligen Ländern schauen wir sehr
genau hin, aber nur bis zum Beitritt. Danach fehlen uns
die Möglichkeiten, um kontrollieren zu können. Wir
brauchen ein Monitoring, damit Menschenrechtsstandards auch innerhalb der Europäischen Union eingehalten werden. Amnesty International erwähnt mehrere
Minderheiten, die in zahlreichen Mitgliedsländern der
Europäischen Union Probleme haben: Das sind die
Roma, über die wir morgen reden werden, Muslime, andere ethnische Minderheiten und Homosexuelle.
Ich hoffe, dass die neue EU-Grundrechteagentur, die
von vielen eher erduldet als mit Begeisterung begrüßt
wird, zu einer neuen Qualität führt. Wir müssen genauer
auf die Entwicklung hinsichtlich der Menschenrechte innerhalb der Europäischen Union achten. Auch die justizielle und polizeiliche Zusammenarbeit innerhalb der
Europäischen Union muss genau unter die Lupe genommen werden. Denn bei der gemeinsamen Bekämpfung
des internationalen Terrorismus brauchen wir - wir
haben vorhin alle beschworen, wie wichtig die Grundrechtecharta ist; darüber sind wir uns in diesem Haus einig - eine europäische verfassungsrechtliche und grundrechtliche Basis, um kooperierenden europäischen
Institutionen bei Eingriffen in die Rechte der Bürgerinnen und Bürger Grundlagen zu geben. Diese kann man
ihnen nur geben, wenn die Grundrechtseingriffe gleichzeitig verfassungsrechtlich beschränkt sind. Das wäre
mit der Grundrechtecharta zu erreichen.
({5})
Die Bundesregierung hat sich bei der Menschenrechtspolitik in der EU unter anderem für neue Leitlinien
zum Schutz der Rechte von Kindern eingesetzt. Dazu
sage ich: Wunderbar, das wäre eine schöne Sache, wenn
man gleichzeitig im Inland glaubwürdig gewesen wäre
und die Vorbehalte gegen die UN-Kinderrechtskonvention zurückgenommen hätte.
({6})
Man kann nicht nach außen predigen, was man innen
nicht vollzieht.
Lassen Sie mich, Herr Präsident, vielleicht noch einen
Satz zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
sagen; das betrifft den zweiten Teil der Debatte. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist für die Bürgerrechtler und Menschenrechtler vieler Länder im Europarat die einzige Remedur gegen Willkür und Repression.
Unter den Menschenrechtlern in Russland erzählt man
sich immer den Witz: Was ist der beste Gerichtshof in der
Russischen Föderation? - Der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte in Straßburg. Denn das ist das einzige
Gericht, das nach rechtsstaatlichen Grundsätzen urteilt, zu
dem russische Staatsbürger Zugang haben.
Deshalb müssen wir ein Interesse daran haben, die
Boykottpolitik der Russischen Föderation gegen das
14. Zusatzprotokoll - ohne dieses Protokoll ersäuft der
Gerichtshof in Arbeit, und es gibt keine schnellen Urteile - abzustellen,
({7})
indem wir sagen: Wenn das Zusatzprotokoll nicht unterschrieben wird, müssen wir den Gerichtshof finanziell
und personell so ausstatten, dass er dieser Arbeit Herr
werden kann und den Menschenrechten zum Durchbruch verhilft. Das sind wir gerade den mutigen Menschen in Russland und in anderen Staaten, die sich an
den Gerichtshof wenden, schuldig. Deshalb finde ich es
traurig, dass wir hier einen Streit über Formulierungen in
den Anträgen hatten. Ich hoffe, dass diese Debatte am
Ende dazu führt, dass wir bei den Haushaltsberatungen
gemeinsam - darauf kommt es mehr an als auf das Papier hier - mehr Geld aufbringen.
Herr Beck.
Ansonsten würden wir Herrn Putin unnötigerweise einen Gefallen tun.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Herta DäublerGmelin.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
heute vorliegenden Anträge, über die wir beraten, enthalten in der Tat eine Fülle von Menschenrechtsfragen.
Das ist gut so. Wir werden diese Beratungen sehr viel
häufiger durchführen müssen, weil wir alle - ich glaube,
das eint uns - davon ausgehen, dass Menschenrechtspolitik eben kein Sahnehäubchen auf dem Kuchen, sondern
ein essenzieller Pfeiler jeder stabilen und menschenwürdigen Gesellschaft ist. Sie gehört in jeden Politikbereich.
({0})
Dies gilt - lassen Sie mich das sagen - nicht nur national, sondern selbstverständlich auch für die Europäische Union. Ich würde gern im Anschluss an Kollegen
Beck sagen: Wir haben im Bereich der Europäischen
Union eine ganze Menge während unserer EU-Ratspräsidentschaft erreicht. Das finde ich gut. Als eines der
Beispiele will ich die EU-Zentralasienpolitik erwähnen, die jetzt einen außerordentlich starken und, wie ich
finde, auch guten Menschenrechtsteil hat. Er muss jetzt
umgesetzt werden. Ich erwähne das nicht allein, um die
Regierung zu loben, obwohl ich es gut finde, wenn man
sie da lobt, wo man sie loben kann. Ich erwähne das vielmehr deshalb, weil es durch unser gemeinsames Eintreten im Ausschuss über alle Fraktionsgrenzen hinweg erreicht werden konnte.
({1})
Das ist unser Erfolg. Meiner Ansicht nach sollte man das
nicht kleinreden.
Ich würde jetzt sehr gerne einiges zum Europäischen
Menschenrechtsgerichtshof sagen. Lieber Herr MüllerSönksen, wir, das ganze Haus, sind uns alle einig, dass
dieser Gerichtshof eine einzigartige Institution ist. Wir
wissen, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte für 850 Millionen Europäerinnen und Europäer
die einzige Möglichkeit darstellt, ihre Menschenrechte
geltend zu machen. Sie können sich an den Gerichtshof
wenden und ihren Staat bzw. seine Behörden verklagen,
wenn diese in ihre Menschenrechte eingegriffen haben
oder sie ihnen vorenthalten. Das ist außerordentlich
wichtig.
Für uns Deutsche ist das selbstverständlich, weil es
die Möglichkeit, sich auf dem Wege der Verfassungsbeschwerde an das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe
zu wenden, bei uns schon lange gibt. In anderen Staaten
ist das längst nicht üblich, auch nicht in allen Staaten Europas. In einigen Ländern hält man das auch heutzutage
immer noch für ein gewisses Sakrileg, übrigens auch in
solchen Staaten, die der Europäischen Menschenrechtskonvention beigetreten sind.
Weil wir dieser Auffassung sind, haben wir in den
vorliegenden Anträgen gemeinsam die Forderung nach
einer Erhöhung der finanziellen Unterstützung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte aufgestellt.
Lieber Herr Müller-Sönksen, auch ich finde es ziemlich
peinlich, dass man manchmal Seitenwind von Leuten
bekommt, die eine andere Auffassung vertreten. Wir
sollten uns als Deutscher Bundestag vornehmen, über
die Fraktionsgrenzen hinweg eine größere finanzielle
Unterstützung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte durchzusetzen. Allein durch die Bündelung
unserer Kräfte könnten wir eine ganze Menge erreichen.
Dazu möchte ich heute einen Beitrag leisten.
Aber wir brauchen noch mehr: Ich meine die Verfahrensänderungen, die in unseren Anträgen enthalten sind.
Sie wurden von der Gruppe der Weisen erarbeitet, der
wir für ihre Vorschläge sehr danken. Dadurch wird gewährleistet, dass der Gerichtshof nicht total überfordert
wird.
Auch dadurch, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist
nicht sichergestellt, dass der Gerichtshof auf Dauer das
ist, was er sein muss, nämlich ein Leuchtturm der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit. Das kann er nur
dann sein, wenn geeignete Persönlichkeiten als Richter
gewählt werden. Es müssen Juristen sein, die eine hohe
juristische Qualifikation haben, die unabhängig sind und
die den Menschenrechten und Europa verpflichtet sind.
Das ist heute noch nicht durch alle Verfahren zur Auswahl gewährleistet. Dazu werden wir nicht nur im Deutschen Bundestag und im Ministerrat des Europarates,
sondern auch in der Parlamentarischen Versammlung
des Europarates, der in dieser Hinsicht eine ganz besondere Aufgabe zu erfüllen hat, Überlegungen anstellen
müssen.
Lassen Sie mich auf einen weiteren Punkt hinweisen,
der politisch noch nicht hinreichend durchdacht worden
ist, den wir allerdings genau deshalb in den Mittelpunkt
rücken müssen: Kein europäisches Gericht kann, auch
wenn es noch so gute Arbeit macht, ein Menschenrechtsschutzsystem auf nationaler Ebene ersetzen.
({2})
Das, was der Kollege Beck gerade als Witz dargestellt
hat, ist leider Gottes kein Witz, sondern die bittere Wahrheit. Manchmal vermisse ich, dass die Regierungen, deren Vertreter sich im Europarat, aber auch im Rahmen
der Europäischen Union - auch hier gibt es in dieser
Frage Ansprechpartner - regelmäßig treffen, mit dem
nötigen Durchsetzungsvermögen darauf hinwirken, dass
in den einzelnen Staaten nationale Menschenrechtsschutzsysteme errichtet und funktionierende, effiziente
und unabhängige Gerichte geschaffen werden. Wenn das
nicht gelingt, dann wird der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte in Straßburg immer weniger den Einfluss geltend machen können, den er haben könnte und
haben müsste. Immerhin vertritt er die Interessen von
850 Millionen Europäern und hat Vorbildfunktion für
die ganze Welt.
Hinzu kommt Folgendes: Es geht nicht an, dass Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg nicht umgesetzt werden. Wir müssen
uns Gedanken darüber machen, wie wir das ändern können. Wir alle wissen, wie es in Deutschland ist: Eine
Entscheidung, die das Bundesverfassungsgericht trifft,
hat Gesetzeskraft. Sie gilt für und gegen alle. Wehe, man
hält sich nicht daran! Dann kommt der Gerichtsvollzieher, und es folgt die Zwangsvollstreckung. Was den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg
betrifft, ist das noch nicht so. Seine Entscheidungen gelten nur für oder gegen das betreffende Land. Wenn sich
dieses Land nicht an die Entscheidung hält, kann man lediglich eine individuelle Entschädigung verlangen, mehr
nicht. Das heißt, auch hier muss die Durchsetzung stärker vorangetrieben werden. Ich habe die Bitte an die
Bundesregierung und an die beteiligten Ministerien, in
Straßburg, aber auch in den anderen Bereichen, wo man
das kann, auf diese beiden notwendigen Veränderungen
zu drängen. Sie sind genauso wichtig wie die personelle
oder die finanzielle Verstärkung.
({3})
Lassen Sie mich noch einen kleinen Punkt erwähnen,
den ich bei allen vorliegenden Anträgen nicht gut finde:
die Verwendung des Wortes „Klageflut“. Das ist meiner
Ansicht nach kein gutes Wort, es ruft negative Eindrücke
hervor. Doch es geht nicht um etwas Negatives. Im Gegenteil, die 850 Millionen Bürgerinnen und Bürger, deren Länder Mitglied im Europarat sind, haben verstanden, dass sie die Menschenrechte brauchen, dass die
Menschenrechte ihnen persönlich zustehen, und wollen
sie wahrnehmen.
({4})
Wenn sie das tun, ist das keine „Klageflut“, sondern ist
das eine hohe Anerkennung der Werte, die uns in Europa
verbinden. Dabei soll es bleiben.
Ganz herzlichen Dank.
({5})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
das Wort der Kollege Holger Haibach von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich
glaube, es ist richtig und wichtig, dass wir am Vorabend
des Endes der deutschen EU-Ratspräsidentschaft zurückblicken und, wie es viele Rednerinnen und Redner
schon getan haben, schauen, was im letzten halben Jahr
im Bereich der Menschenrechte geschehen ist.
Die Europäische Union hat im letzten halben Jahr sicherlich viele wichtige Entscheidungen erlebt. Nicht zuletzt hat uns die Entscheidung, wie es mit dem Menschenrechtsrat weitergeht, lange beschäftigt. Ich
glaube, der Kollege Strässer hat die richtige Formulierung gefunden: Wir können nicht mit allem glücklich
sein. Wir sind zufrieden, dass sich die Prozeduren in einem Rahmen bewegen, mit dem wir leben können.
Wir können sicherlich nicht damit leben, dass Länder
wie Belarus oder Kuba von der Liste der zu beobachtenden Länder gestrichen worden sind. Das ist ein Angriff
auf die Glaubwürdigkeit dieses Gremiums, und da müssen wir nacharbeiten.
({0})
Kollege Strässer hat zu Recht Herrn Botschafter
Steiner gedankt, der dort, wie wir wissen, schon seit Jahren eine sehr wichtige Arbeit macht. Ich möchte in diesen Dank ausdrücklich Herrn Rothen vom Auswärtigen
Amt und unseren Menschenrechtsbeauftragten, Günter
Nooke, mit einschließen, der an dieser Stelle auch eine
wichtige Arbeit geleistet hat.
({1})
Der Kollege Müller-Sönksen hat am Anfang dieser
Debatte die Genese der verschiedenen Anträge zum
Thema Menschenrechtsgerichtshof aus seiner Sicht dargestellt und - ich erlaube mir die Bemerkung - ein bisschen Geschichtsklitterung betrieben. Ich würde das
gerne an dieser Stelle richtigstellen, damit kein falscher
Zungenschlag bleibt, nach dem Motto: Die FDP ist die
Partei des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, ansonsten setzt sich keiner dafür ein. - Sie haben
zu Recht darauf hingewiesen, dass wir schon in unserem
Antrag zur Stärkung der Menschenrechtspolitik der Europäischen Union vom November hereingeschrieben haben:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, … sich für eine finanzielle Stärkung des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
einzusetzen;
Ich bitte Sie, darüber hinaus Punkt 7 auf Seite 3 des Antrags, den Sie so heftig kritisiert haben, zu lesen:
Letztlich bleibt aber als elementare Voraussetzung
für eine wirkungsvolle Arbeit des Gerichtshofs die
Anpassung der finanziellen und personellen Ausstattung des Gerichtshofs.
Wenn wir sagen, elementar ist die finanzielle Ausstattung, was, mein lieber Kollege Müller-Sönksen, meinen
wir dann, wenn wir über notwendige Grundlagen sprechen? Doch genau das.
({2})
Insofern finde ich diese Debatte, mit Verlaub, scheinheilig,
({3})
vor allen Dingen vor dem Hintergrund, dass die Kollegin
Däubler-Gmelin darauf hingewiesen hat, dass die Sache
komplizierter ist
({4})
und nicht „nur“ eine Geldfrage.
Denn, Herr Kollege Müller-Sönksen, es geht natürlich
auch darum, andere Staaten davon zu überzeugen. Sie
wissen, dass der Europarat ein internationales Gremium
ist. Da macht nicht nur Deutschland mit, am Schluss
müssen auch 46 andere Staaten sagen: Jawohl, wir sind
bereit, uns nicht nur finanziell, sondern auch personell
mehr zu engagieren. - Da hat der Kollege Beck recht,
wenn er sagt: Wir sind ja nicht einmal so weit, dass wir
das 14. Zusatzprotokoll haben, reden aber schon darüber, wie wir weitere Verbesserungen erreichen können.
An dieser Stelle möchte ich auch sagen: Die Erhöhung des Budgets des Gerichtshofs im letzten Jahr ist
nicht zuletzt auf das Drängen dieser Koalition und dieser
Bundesregierung zurückgegangen. Auch das hätten Sie
in dieser Debatte ruhig erwähnen können!
({5})
Weil es ja auch um die Zahlen ging, will ich im Übrigen darauf hinweisen, dass es sehr interessant ist, festzustellen, dass bis zum 1. Januar 2007 - das geht aus einer
gerade herausgekommenen Studie der Universität Bielefeld hervor - 3 950 Fälle gegen Deutschland anhängig
waren, wobei zum Schluss aber tatsächlich nur acht Verurteilungen erfolgt sind. Deutschland gehört zu den Ländern, die die Urteile regelmäßig sofort und im geforderten Umfang umsetzen.
Der Bereich Menschenrechtsgerichtshof ist sicherlich ein wichtiger Teil der Dinge, über die wir heute diskutieren. Wir werfen den Blick aber auch auf die Menschenrechtspolitik der Europäischen Union insgesamt.
Das hat auch der Herr Kollege Leutert in seiner ihm eigenen Art und Weise getan.
Ich will nur auf zwei Dinge hinweisen, Herr Kollege
Leutert: Diejenigen, die sich hier als die Hüter der Menschenrechte gerieren, waren, als wir das letzte Mal über
den Menschenrechtsgerichtshof diskutiert haben, nicht
in der Lage, auch nur einen Redner oder einen präsenten
Abgeordneten oder eine präsente Abgeordnete zu stellen. Deshalb finde ich es schon ganz beachtlich, dass Sie
sich heute hier hinstellen und uns erklären, wie wir das
tun sollen.
({6})
Ich glaube übrigens auch - ich denke, darin sind wir
uns alle in diesem Hause einig -, dass es kein Land gibt,
in dem es keine Menschenrechtsverletzungen gibt. Es
gibt auch nicht das Europa, in dem es keine Menschenrechtsverletzungen gibt. Hoffentlich kommen sie dort
weniger vor als in anderen Staaten. Was uns aber unterscheidet - ich glaube, das verpflichtet uns auch -, ist,
dass wir Gremien haben, die die Einhaltung der Menschenrechte überwachen und bei denen die Menschen
Beschwerde einlegen können. Der Menschenrechtsgerichtshof ist ein solches Gremium, es gibt aber auch
noch viele andere. Ich finde, wenn man etwas despektierlich über die Menschenrechtspolitik der Europäischen Union redet, dann muss man zumindest das zur
Kenntnis nehmen.
({7})
Natürlich stellt sich bei der Würdigung einer Ratspräsidentschaft immer die Frage, wo man die Schwerpunkte
setzt. In sechs Minuten Redezeit kann man nun beileibe
nicht alles abdecken. Es ist auch schon vieles genannt
worden, zum Beispiel der Menschenrechtsrat und der
Gerichtshof.
({8})
Es gibt aber natürlich noch sehr vieles zu tun. Ich
wünsche der Bundesregierung beim jetzt anstehenden
Gipfel sehr viel Glück; denn ich glaube, dass es richtig
ist, dass wir die europäische Grundrechtecharta als
wichtigen und unerlässlichen Bestandteil des europäischen Grundlagenvertrages erhalten müssen, egal welche Stimmen wir sonst dazu hören. Ich glaube, das sollte
eines der herausragenden Ziele sein.
Es gibt Länder, die über Quadratwurzeln oder den
Tod diskutieren. Ich finde, wir sollten die Menschenrechte weiterhin zu einem unserer wichtigsten Punkte
machen und uns nicht den Kopf über Quadratwurzeln
zerbrechen.
Herzlichen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu
dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD
mit dem Titel „Stärkung der Menschenrechtspolitik der
Europäischen Union“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4497, den
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf
Drucksache 16/3607 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke und des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf Drucksache
16/5603 zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung über den EU-Jahresbericht 2006 zur Menschenrechtslage. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt
für diese Empfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist wiederum mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und des
Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/5734 mit
dem Titel „Den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte reformieren und durch die konsequente Befolgung seiner Urteile stärken“. Wer stimmt für diesen
Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf Drucksache 16/5768. Der
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5768, den Antrag
der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf
Drucksache 16/4417 mit dem Titel „Den Erfolg des
Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte durch
die konsequente Befolgung seiner Urteile sichern“ für
erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das scheint einstimmig gewesen zu sein.
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der Fraktion der FDP
auf Drucksache 16/4062 mit dem Titel „Den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vor dem Kollaps
bewahren“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5768,
den Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 16/4405 mit dem Titel „Den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte stärken“ ebenfalls für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 5. Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der FDP auf Drucksache 16/5738 mit dem Titel
„Den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vor
dem Kollaps bewahren“. Wer stimmt für diesen Antrag? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke und
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Zusatzpunkt 6. Abstimmung über den Antrag der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/5735 mit dem Titel „Den Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte stärken“. Wer stimmt
für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Antrag ist wiederum abgelehnt mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen bei Zustimmung der FDP-Fraktion,
der Fraktion Die Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Kai Gehring, Marieluise Beck ({0}), Volker
Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Jugendliche in Deutschland: Perspektiven
durch Zugänge, Teilhabe und Generationengerechtigkeit
- Drucksachen 16/1554, 16/4818 Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten
erhalten soll. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist
nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem
Redner das Wort dem Kollegen Kai Gehring von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist erfreulich, dass wir heute endlich über unsere Große
Anfrage zu „Jugendlichen in Deutschland“ und die bisherige Jugendpolitik der Bundesregierung debattieren
können. Wir haben sehr lange auf Ihre Antwort gewartet,
Frau von der Leyen. Ich muss Ihnen leider sagen: Das
Warten hat sich überhaupt nicht gelohnt.
({0})
Welches Bild haben wir vor Augen, wenn wir an Jugendliche denken? Denken wir an Killerspiele, Komasaufen, Happy Slapping, Gewaltexzesse, Pornorapper
und Werteverfall, oder denken wir an hohe Engagementbereitschaft, gute Zukunftsaussichten und das Revival
von Familienwerten?
Als jugendpolitischer Sprecher sage ich deutlich:
Beide Bilder sind Zerrbilder. Die Jugend ist wesentlich
vielfältiger, als sie wahrgenommen wird. Wenn ich als
jüngster Abgeordneter meine vielen Gespräche mit Jugendlichen reflektiere, dann kann ich feststellen, dass die
heutige Jugendgeneration viel besser ist als ihr Ruf. Ich
bin von der Zielgruppe ja noch nicht allzu weit entfernt.
({1})
- Sie auch nicht? Das ist erfreulich. - Jugendliche wollen vor allem ernster genommen werden. Sie brauchen
Freiräume und gute Angebote.
({2})
Ich stelle fest: Die von der Shell-Jugendstudie vorgenommene Beschreibung „pragmatische Generation unter
Druck“ passt sehr gut. Denn noch überwiegt der Optimismus; gefühlte und echte Perspektivlosigkeit nehmen
aber zu.
Genau an diesem Punkt muss Jugendpolitik ansetzen. Die Potenziale einerseits und die Problemlagen
andererseits von Jugendlichen gehören in den Mittelpunkt der Debatte.
({3})
Ihrem eigenen richtigen Anspruch „Jugendpolitik als
Querschnittsaufgabe“ werden Sie, Frau von der Leyen,
leider nicht gerecht. Ihre Antwort zeigt: Statt ein jugendpolitisches Gesamtkonzept vorzulegen, liefern Sie nichts
als einen Flickenteppich.
Überall dort, wo Exklusion droht oder stattfindet und
wo Jugendliche zurückgelassen werden, ist Jugendpolitik besonders gefordert.
Was aber bietet diese schwarz-rote Koalition benachteiligten Jugendlichen an? Welche Perspektiven schaffen
Sie für Schulabbrecher und für Jugendliche ohne Ausbildungs- oder Arbeitsplatz? Wie stärken Sie eigentlich die
Rechte und Chancen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund?
Die Situation benachteiligter Jugendlicher ist beschämend. Ihre Antworten darauf sind mehr als dürftig. Die
Analyse ist oft richtig; die Lösungen sind aber mangelhaft.
({4})
Es ist überaus bezeichnend: Auf unsere zentrale Frage
nach konkreten Maßnahmen für benachteiligte Jugendliche antwortet die Bundesregierung mit dem Ausbau der
Kinderbetreuung. Der Ausbau der Kinderbetreuung ist
zwar ein richtiges und lohnenswertes Ziel; der heutigen
Jugendgeneration hilft dies jedoch überhaupt nicht.
({5})
Es ist doch offensichtlich so, dass in diesem Bundeskabinett eine engagierte Jugendministerin fehlt. Frau
von der Leyen, solange Sie sich im Konflikt um Krippenplätze in den eigenen Reihen abmühen müssen, werden Jugendliche die „vergessene Generation“ dieser
Großen Koalition bleiben.
({6})
Zwischen Krippenplätzen und Mehrgenerationenhäusern klafft eine ganz gewaltige Lücke. Eine starke Jugendpolitik findet kaum statt - und die muss es endlich
geben.
Sie ignorieren, dass es offenkundig akute Probleme
von Jugendlichen gibt. Sie reagieren kaum auf neue Herausforderungen. Man muss sich doch anschauen, welche Auswirkungen der demografische Wandel und der
Klimawandel auf heutige und künftige Jugendgenerationen haben. Vor diesem Hintergrund kann man nur sagen:
Sie vernachlässigen die Chancen auf Teilhabe dieser Generation und künftiger Generationen.
Wir brauchen endlich eine Jugendpolitik, die Exklusion, Armut und Bildungsbenachteiligung bekämpft.
Frau von der Leyen, daher fordern wir Sie in unserem
Entschließungsantrag auch auf, im Herbst hier einen
„Aktionsplan für mehr Teilhabe“ von Jugendlichen
vorzulegen.
Sorgen Sie dafür, dass arbeitslose Jugendliche nicht in
1-Euro-Jobs und in Ersatzmaßnahmen gesteckt werden,
sondern dass ihnen echte Qualifizierung und echte Jobperspektiven offenstehen! Sorgen Sie dafür, dass aus der
Generation Warteschleife nicht eine Generation Sackgasse wird! Sorgen Sie dafür, dass das bestehende Ausbildungssystem von einem Engpass hin zu einem System
mit breiten Zugängen entwickelt wird! Und sorgen Sie
dafür, dass sich die Beteiligung Jugendlicher auch auf
der Bundesebene verbessert - unter anderem mit einer
Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre,
({7})
mit starken Jugendverbänden und einer starken Unterstützung dieser Jugendverbände sowie mit mehr Freiwilligendiensten!
Ich möchte an dieser Stelle ganz deutlich Folgendes
sagen: Ich würde mir wünschen, dass Sie auch eine klare
Anwältin der Kinder- und Jugendhilfe werden. Die
Kinder- und Jugendhilfe ist ein sehr wichtiges gesellschaftliches Frühwarnsystem und auch ein Problemlöser
in dieser Gesellschaft. Sie steht nicht erst im Fokus,
wenn spektakuläre Einzelfälle und Ereignisse nach einer
Feuerwehr rufen.
Deshalb ist es mir so wichtig, dass die Strukturen und
Verfahren der Kinder- und Jugendhilfe in den einzelnen
Bundesländern auch nach der Föderalismusreform nicht
zerschlagen werden, so wie es gerade in Niedersachsen
passiert. Das ist der falsche Weg.
({8})
Die Eltern wollen auch künftig wissen, an wen sie sich
wenden können, wenn es Probleme gibt.
Deshalb wünsche ich mir, dass Sie endlich auch Anwältin der Generation der Zwölf- bis 20-Jährigen werden, Frau von der Leyen. Werden Sie Anwältin der Jugendlichen in diesem Land! Stellen Sie nicht nur Kinder,
sondern auch Jugendliche in den Mittelpunkt Ihres Handelns! Jugendliche dürfen nicht länger die vergessene
Generation von Schwarz-Rot sein.
({9})
Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Dr. Ursula
von der Leyen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beide
scheinen in der Tat die Shell-Jugendstudie gelesen zu haben. Als ich Ihnen eben zuhörte, wie Sie den durchschnittlichen Jugendlichen bzw. die durchschnittliche
Jugendliche gezeichnet haben, wurde mir aber angst und
bange. Wenn man die Shell-Jugendstudie genau liest,
dann stellt man fest, dass der bzw. die Jugendliche eher
pragmatisch ist, etwas erreichen will und seine Familie
schätzt. Die größte Sorge ist, keinen Arbeitsplatz zu finBundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
den. Das sind die groben Umrisse, die die Shell-Jugendstudie ganz deutlich macht. Aber in der Tat wissen wir,
dass die Gruppe der Zwölf- bis 20-Jährigen enorm heterogen ist, was Lebenslagen, Probleme, Gefährdungen
oder Erfolge angeht. Genau deshalb muss eine aktivierende Jugendpolitik gleichermaßen Querschnitts- und
Ressortpolitik sein. Sie muss auf diese vielfältigen Anforderungen reagieren.
Ich will Ihnen gerne konkret sagen, welches die einzelnen Schwerpunkte sind und welche konkreten Maßnahmen wir getroffen haben. Für mich sind in diesem
Zusammenhang die wichtigsten Schlüsselbegriffe:
Chancengerechtigkeit, Teilhabe und Integration sowie
der Schutz von Kindern und Jugendlichen. Sie brauchen
von Anfang an gleiche Chancen, um ihre vielfältigen Fähigkeiten zu entwickeln. Die Ausgangslagen sind aber
unterschiedlich. Deshalb haben wir uns drei zentrale
Handlungsschwerpunkte gesetzt, die ich gerne ausführen
möchte.
Erstens. Die soziale und berufliche Integration der
Jugendlichen muss gestärkt werden. Hier gilt für uns auf
Bundesebene, im Bundesfamilienministerium und in Zusammenarbeit mit den anderen Ressorts und Ebenen,
dass die Jugendlichen an den Übergängen, an den
Schnittstellen von Schule, Ausbildung und Beruf nicht
scheitern dürfen. Genau das ist der Grund, warum wir
explizit sagen: Dort haben die Bundesländer zwar große
Aufgaben. Aber wir kümmern uns gemeinsam mit
Ländern und Kommunen sowie den Eltern und Jugendämtern. Das geschieht zum Beispiel mit dem Modellprogramm „Die 2. Chance“ für hartnäckige Schulverweigerer, die aus der Schule längst heraus sind und den
Kontakt verloren haben. Wir sorgen dafür, dass diese
wieder den Weg in die Schule finden, und bringen sie
mithilfe vernetzter Strategien dazu, Anschluss zu finden
und einen Schulabschluss zu machen. Damit bauen wir
eine Brücke, um Ausbildung und Berufseinstieg zu
schaffen.
({0})
Genau denselben Ansatz der vernetzten Strategie
- das ist in der Jugendpolitik richtig - verfolgen wir mit
dem Modellprogramm „Lokales Kapital für soziale
Zwecke“. Mithilfe von 5 000 Mikroprojekten wurden im
vergangenen Jahr Beschäftigungspotenziale in sozialen
Brennpunkten erschlossen. Da vor Ort die Bedingungen
ganz unterschiedlich sind, setzen wir uns mithilfe dieser
Mikroprojekte für benachteiligte Jugendliche ein. Dabei
gilt vor allem: Keine Angebote von der Stange! Die Probleme sind so unterschiedlich und vielfältig, dass wir vor
Ort passgenaue, maßgeschneiderte und individuelle Angebote brauchen. Ein Beispiel dafür sind die 200 Kompetenzagenturen, die wir für benachteiligte Jugendliche
aufgebaut haben. Diese Agenturen kümmern sich passgenau und individuell um Jugendliche, die ein echtes
Problem haben, den Übergang von der Schule zum Beruf zu schaffen. Wir hatten in der Modellphase 15 solcher Kompetenzagenturen. Diese haben es immerhin geschafft, 90 Prozent der Jugendlichen - 90 Prozent! -, die
von ihnen betreut wurden, eine Berufsausbildung zu ermöglichen. Das ist eine hervorragende Quote. Das zeigt,
dass das richtig ist.
({1})
Zweitens. Ein weiterer Schwerpunkt, der mir wichtig
ist, ist, dass wir die Zivilgesellschaft und die Beteiligung Jugendlicher, also ihre Eigeninitiative, stärken.
Wir wissen aus Befragungen, dass Jugendlichen Werte
wie Offenheit, Ehrlichkeit, Toleranz und vor allem Gewaltfreiheit nicht nur im Privaten sehr wichtig sind, sondern dass sie sich auch gesellschaftlich dafür einsetzen.
Wir wissen aber auch, dass es bei den Jugendlichen heutzutage eine große Distanz und Skepsis gegenüber etablierten Organisationen und Verbänden gibt. Das heißt,
wir müssen neue Wege und Programme finden, um sie
anzusprechen und zum Mitmachen zu gewinnen. Das
gilt vor allem auch für junge Migrantinnen und Migranten, die bereit sind, sich einzumischen und mitzumachen.
({2})
Diese brauchen dafür die richtigen Strukturen.
Zur Erreichung dieses Ziels haben wir die generationenübergreifenden Freiwilligendienste eingeführt. In
diesem Zusammenhang sind auch die inzwischen über
200 Mehrgenerationenhäuser zu nennen, die gerade
auf Jugendliche zugehen, und die Möglichkeit, ein freiwilliges soziales oder ökologisches Jahr zu absolvieren.
Mit diesen Angeboten, die anders sind als die klassischen Angebote, bekommen die Jugendlichen die Möglichkeit, mitzumachen und sich einzumischen.
({3})
Beim Thema Zivilgesellschaft ist ein wichtiger
Punkt, sich mit dem Teil der Jugendlichen zu beschäftigen, die nicht mehr erreicht werden können und die sich
von den Grundpfeilern unserer demokratischen Gesellschaft immer weiter entfernen. Die Bekämpfung von
Extremismus jeglicher Art muss gesamtgesellschaftlich
und von allen demokratischen Kräften geschlossen vorangetrieben werden. Die Prävention muss bereits an den
Wurzeln von Radikalisierungsprozessen ansetzen, die
wir sehr ernst nehmen. Deshalb hat die Koalition den
Kampf gegen den Rechtsextremismus in den Fokus eines neuen, auf Dauer angelegten Programms gestellt.
Ich möchte mich an dieser Stelle besonders bei den
Abgeordneten aller Fraktionen bedanken, die ganz entscheidend mitgeholfen haben, dass hier eine gemeinsame Linie zwischen Bund, Ländern und Kommunen
gefunden worden ist. Aber wir brauchen nicht nur die
gemeinsame Linie zwischen den staatlichen Ebenen,
sondern auch das Engagement der Zivilgesellschaft. Wir
brauchen die Verantwortung der Bürgerinnen und Bürger vor Ort, angefangen beim Feuerwehrmann über die
Lehrerin in der Schule bis hin zum Bürgermeister in der
Gemeinde. Das heißt, alle sind hier gefordert: die
Kommunen und Jugendverbände, die staatlichen Ebenen, aber genauso die Schulen und die Kirchen.
({4})
Der dritte Schwerpunkt umfasst die Verbesserung des
Schutzes von Kindern und Jugendlichen. Hier sind
die Übergänge fließend. Wir können an dieser Stelle
nicht nur von Jugendlichen sprechen; das betrifft auch
schon Kinder.
Jugend bedeutet unbeschwert sein und vieles ausprobieren. Das ist in Ordnung; das muss auch so sein. Das
ist eine spannende bis gefährliche Phase und braucht
deshalb Leitplanken. Wenn wir uns die kritischen Stellen
anschauen, dann können wir erkennen, dass es vor allen
Dingen den Schutz vor Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung betrifft, aber auch den Schutz vor Alkohol, Drogen und jugendgefährdenden Medieninhalten.
Ich möchte mit den Kindern anfangen. Wir wissen,
dass es in Deutschland Familien gibt, in denen Kindern
Gefahr durch ihre eigenen Eltern droht, weil diese mit
ihren eigenen Problemen vollkommen überfordert sind.
Wir haben gemeinsam ein Frühwarnsystem entwickelt.
Ich kann Ihnen berichten, dass das Nationale Zentrum
Frühe Hilfen im April seine Arbeit aufgenommen hat.
Hier ist also etwas ganz Konkretes entstanden, um auf
Bundesebene das Wissen um ein gut funktionierendes
Frühwarnsystem, das auf kommunaler Ebene gesammelt
worden ist, aufzubereiten und vor Ort zur Verfügung zu
stellen. Damit können Gemeinden und Kommunen diese
Hilfesysteme mit Blick auf Jugendhilfe und Gesundheitssystem zum Schutz der Kinder effizient aufbauen.
({5})
Wenn die Kinder älter werden, spielt das Thema
Jugendmedienschutz eine Rolle. Dies ist ein ganz aktuelles Thema. Wir haben deshalb mit dem Land Nordrhein-Westfalen, das den Vorsitz bei diesem Thema in
der USK innehat, im Frühjahr ein Sofortprogramm zum
wirksamen Schutz von Kindern und Jugendlichen vor
extrem gewalthaltigen Computerspielen ins Leben gerufen.
Dieses Programm basiert auf vier Säulen: erstens die
Verschärfung des Jugendschutzgesetzes, zweitens - das
ist fast der wichtigste Punkt - die Verbesserung des gesetzlichen Vollzuges - was im Gesetz steht, muss vor Ort
auch umgesetzt werden -, drittens die Verbesserung der
Qualitätssicherung bei den Jugendschutzentscheidungen - dazu gehören die Fragen: was wird auf den Index
gesetzt, wo erfolgt eine Altersbegrenzung und was wird
freigegeben?; da müssen wir genauer hinschauen - und
schließlich viertens die verbesserte Information von Eltern, aber auch von Händlern darüber, wie das Gesetz
gestrickt ist und wie Verstöße geahndet werden.
Darüber hinaus gilt es, die Jugendlichen selber fähig
zu machen, verantwortungsbewusst mit Computern, Medien und dem Internet umzugehen. Deshalb stärken wir
die Medienkompetenz der Jugendlichen, aber auch der
Eltern und der pädagogischen Fachkräfte.
Schließlich und endlich ist der Schutz vor Drogen,
Tabak und Alkohol ein vorrangiges Ziel. Dabei gilt es,
den Einstieg - den Anfang - zu verhindern oder, bei Tabak und Alkohol, zumindest so weit wie irgend möglich
hinauszuzögern. Hier sind und bleiben die Erwachsenen
das wichtigste Vorbild. Deshalb habe ich mich sehr gefreut, dass das Nichtraucherschutzgesetz am 1. September dieses Jahres in Kraft tritt. Das ist ein richtiger
Schritt.
({6})
Frau von der Leyen, Sie dürfen nach der Geschäftsordnung so lange reden, wie Sie wollen, aber das geht
auf Kosten der Regierungsfraktionen. Da die CDU/CSU
keine Redezeit mehr hat, ginge Ihre Redezeit auf Kosten
der SPD-Fraktion.
Das werde ich jetzt nicht machen. Ich habe das Programm dargelegt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Miriam Gruß von der FDPFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Wir reden hier zwar über
289 Seiten, aber jedenfalls meiner Meinung nach zählt in
diesem Hohen Haus nicht die Quantität, sondern die
Qualität. Ich kann Herrn Gehring nur zustimmen: Es
fehlte bisher schon an einer eigenständigen Jugendpolitik, und auch in diesem Dokument reihen sich nur Unkonkretes und Unschlüssiges aneinander.
({0})
Ich bin den Kolleginnen und Kollegen von den Grünen insofern dankbar, als sie mit ihrer Großen Anfrage
den Finger in eine Wunde gelegt haben, die seit Amtsantritt der Bundesfamilienministerin klafft. All Ihren Eifer,
Frau Ministerin, Ihre Ideen und Ihr Engagement für die
zahlreichen „Babys“ aus Ihrem Ministerium in Ehren,
aber die Jugendpolitik vernachlässigen Sie stiefmütterlich.
({1})
Das wird schon gleich in der Beantwortung der ersten
Frage deutlich. Das wird uns schwarz auf weiß in der
Antwort auf die Große Anfrage dokumentiert. Dort zählen Sie als gelungene Beispiele für die Förderung von
Kindern und Jugendlichen das Elterngeld, die angestrebte Verbesserung der Kinderbetreuungssituation und
das Aktionsprogramm „Mehrgenerationenhäuser“ auf.
Ganz ehrlich, das erschließt sich mir nicht. Nennen Sie
mir einen Jugendlichen in Deutschland, der von diesen
Programmen auch nur ein Stückchen weit profitiert
hätte.
({2})
Genau das ist die Krux Ihrer Politik. Sie verstehen unter Kinder- und Jugendpolitik die Förderung der Eltern.
Das wird auf jeder einzelnen Seite der Antwort deutlich.
Sie begreifen Kinder- und Jugendpolitik als Anhängsel
der Familienpolitik, nicht aber als die Unterstützung der
Kinder und Jugendlichen selbst. Es mangelt an einer eigenständigen Jugendpolitik und an einem Gesamtkonzept, das sich auf die Lebenswirklichkeit und die tatsächlichen Bedürfnisse der jungen Menschen konzentriert.
Vertrauen in die zukünftigen Generationen, Glaubwürdigkeit und Wertschätzung signalisiert man meines Erachtens anders.
({3})
Die FDP-Bundestagsfraktion denkt in der Kinderund Jugendpolitik vom Kind und vom Jugendlichen aus,
und wir denken gemeinsam mit den Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Der Entschließungsantrag
der Grünen geht in die richtige Richtung und spricht
wichtige Aspekte der Gegenwart von Jugendlichen an.
Die FDP ist allerdings in einigen Punkten anderer Meinung und wird sich deshalb enthalten. Aber im Grundsätzlichen sind wir beisammen. Wir müssen mit den
Kindern reden, nicht nur über sie. Partizipation heißt
das Zauberwort. Daher müssen wir meines Erachtens
vor allen Dingen die Verbände und die Jugendarbeit in
Deutschland stärken; denn sie leisten unersetzliche Arbeit.
Gerade heute wurde eine dimap-Studie veröffentlicht,
die uns Politikern vorwirft, wir würden insbesondere im
Internet nicht angemessen mit Jugendlichen kommunizieren. Die FDP-Bundestagsfraktion ist hier schon einen
Schritt weiter. Wir machen den Jugendlichen ein Angebot. Dieses Angebot heißt www.jugendfraktion.de und
ist seit gut einer Woche online.
({4})
Als erste Fraktion im Deutschen Bundestag machen wir
Politik verständlich, diskutieren mit den Jugendlichen
und lassen sie zu Wort kommen. Wir wollen ihre Meinung hören und diese in unsere Entscheidungen einfließen lassen. Wir dürfen die politische Kommunikation
nämlich nicht den rechten und linken Lagern in diesem
Lande überlassen.
({5})
Die demokratischen Parteien sind aufgefordert, hier tätig
zu werden.
Wir setzen auf frühestmögliche Bildung und auf Sensibilisierung für Politik. Nur so schaffen wir die Grundvoraussetzung für verantwortungsbewusste Wähler. Kinder und Jugendliche müssen für Politik gewonnen und
dürfen nicht von ihr abgeschreckt werden. Mit diesem
Mammutwerk gewinnen Sie keinen einzigen Jugendlichen, weder für Ihre - allenfalls spärlichen - Inhalte
noch für die Politik als Ganzes.
Ich lasse eine halbe Minute Redezeit schweigend verstreichen. Sie können diese Zeit nutzen, um über das
nachzudenken, was ich soeben gesagt habe.
({6})
Wir müssen unsere kostbare Zeit vor dem Sommerfest der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft aber
nutzen, und deswegen erteile ich jetzt das Wort der Kollegin Kerstin Griese von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte diese Gelegenheit nutzen, um über die Antwort
auf die Große Anfrage „Jugendliche in Deutschland“ zu
diskutieren. Ich möchte nicht allein Programme aufzählen, sondern den roten Faden unserer Jugendpolitik aufzeigen.
({0})
Dieser rote Faden - er ist mir ganz wichtig - orientiert
sich an der Stärkung von Jugendlichen durch mehr Beteiligung und mehr Chancen.
Ich glaube, dass wir in der Kinder- und Jugendpolitik
Kontinuität an den Tag legen. Liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen, ich habe mich ein bisschen
gewundert, dass Sie diese Kontinuität in Ihrem Entschließungsantrag kritisieren. Ich darf an das erinnern,
was wir gemeinsam auf den Weg gebracht haben. Wir
haben auch schon einmal gemeinsam eine Große Anfrage zum Thema Jugend gestellt, nämlich im Jahr 2001.
Die Große Anfrage damals beinhaltete nur 81 qualitativ
anspruchsvolle Fragen. Ihre Große Anfrage beinhaltet
230 Fragen. Die Beantwortung dieser Fragen hat dazu
geführt - ich will mich bei der Bundesregierung dafür
ganz herzlich bedanken -, dass wir nun ein sehr umfangreiches Nachschlagewerk zur Kinder- und Jugendpolitik
in Deutschland haben.
({1})
Aus dieser Antwort wird deutlich: Jugendpolitik ist
eine Querschnittsaufgabe: Sie reicht von der Arbeitsund Sozialpolitik über die internationale Politik und über
die Innenpolitik bis hin zur Stadtentwicklung. Mit all
diesen Bereichen sind Fragen zur Zukunft von Kindern
und Jugendlichen verknüpft. Ich will an ein paar Punkten deutlich machen, warum gerade uns als SPD-Fraktion das Thema „Partizipation Jugendlicher“ so wichtig ist. Partizipation heißt: Chancen für Kinder und
Jugendliche. Unsere Bundesregierung tut viel im Bereich der gesellschaftlichen Teilhabe, des Engagements
in der Zivilgesellschaft, des Freiwilligendienstes von Jugendlichen und des Einsatzes für Demokratie und Toleranz.
({2})
Ich glaube, wir alle sind uns einig, dass es für den Lebensweg von jungen Menschen von ganz entscheidender
Bedeutung ist, dass sie früh erleben können, dass sie beteiligt, gehört und ernst genommen werden. Gerade die
Arbeit der Jugendverbände - deren Prinzip ist ja die
Selbstorganisation Jugendlicher - ist für den weiteren
Lebensweg sehr prägend.
Ich bin der festen Überzeugung - das hat auch die
Shell-Jugendstudie gezeigt -: Jugendliche interessieren
sich für politische Themen. Ich habe das gerade wieder
intensiv auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag
- das ist das größte regelmäßige Jugendtreffen in
Deutschland - in Köln erlebt, wo ich mit vielen Jugendlichen diskutieren konnte. Ich habe dort auch mit Jugendlichen gesprochen, die im In- oder im Ausland ein
freiwilliges soziales Jahr gemacht haben. Ich will ausdrücklich sagen: Es ist ein großer Fortschritt, dass wir es
geschafft haben, dass inzwischen mehr Jugendliche ein
solches Jahr absolvieren können.
({3})
Es ist begrüßenswert, dass diese Dienste ausgeweitet
werden. Demnächst wird es für junge Menschen auch im
Bereich der Entwicklungspolitik bis zu 10 000 entsprechende Plätze geben. Aber ich teile auch die Kritik, dass
wir dort noch mehr machen müssen. Der Bedarf ist höher: Noch mehr Jugendliche möchten sich auf diesem
Gebiet engagieren. Mein Traum ist - ich weiß, dass der
Bundestag darüber aufgrund des Föderalismus keine
Entscheidung treffen kann -, dass sich die Schulen daran
beteiligen, jedem Jugendlichen ein Angebot für ein freiwilliges Jahr, Halbjahr oder Vierteljahr zu machen. Nur
dann erreichen wir nämlich wirklich alle Jugendlichen
aus allen Bereichen der Gesellschaft.
({4})
Die Fragesteller fordern in Ihrer Anfrage, im Herbst
ein neues Programm zum Thema Partizipation aufzulegen. Ich sage ganz deutlich: Wir tun schon etwas. Das
Aktionsprogramm für mehr Jugendbeteiligung ist ein
gutes Programm. Es ist das Ergebnis der Programme der
letzten beiden Wahlperioden und kam in Kooperation
mit dem Deutschen Bundesjugendring, der Bundeszentrale für politische Bildung und dem Bundesministerium
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zustande.
Viele, die zum Beispiel über „Come in Contract“ mit Jugendverbänden einen Vertrag geschlossen haben, haben
erlebt, wie eine gute Zusammenarbeit zwischen Politik
und Jugendverbänden aussehen kann.
Ich betone auch deshalb, dass dies der rote Faden unserer Jugendpolitik ist, um hervorzuheben, wie wichtig
Kontinuität ist. Jugendpolitik ist kein Strohfeuer, sondern ein wichtiges Feld, auch für diese Regierungskoalition.
Ganz wichtig ist mir, dass wir noch mehr tun - Ansätze dafür haben wir -, um Jugendliche aus bildungsfernen Schichten, Jugendliche, die von zu Hause nicht
unbedingt mitbekommen, dass sie sich engagieren könnten oder sollten, oder auch Jugendliche mit Migrationshintergrund zu erreichen. Deshalb ist es wichtig, dass
wir zielgenau hinschauen und neue Engagementformen
ermöglichen.
Wir haben auch in einem anderen Bereich Kontinuität
gezeigt - darüber bin ich sehr froh -, nämlich in der Arbeit gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus und
Fremdenfeindlichkeit. Wir weiten diese Arbeit durch
die Förderung von Beratungsnetzwerken mit zusätzlich
5 Millionen Euro noch aus. Was in den neuen Bundesländern schon gut funktioniert - ich sage das ausdrücklich -, ist sozusagen ein Angebot an die alten Bundesländer, in der Beratung fortzufahren.
({5})
Mein Fazit ist: Kinder und Jugendliche zu stärken, ihnen Chancen zu geben, sie als Subjekt mit ihren Anliegen ernst zu nehmen und ihre Zukunftschancen in den
Mittelpunkt zu stellen, sie ganz besonders zu schützen,
das ist Schwerpunkt unserer Politik, und das ist der rote
Faden, der uns leitet. Wir engagieren uns mit Jugendlichen und für Jugendliche.
Ich will mich an dieser Stelle einmal ganz herzlich bei
allen bedanken, die sich in der Zivilgesellschaft in diesem Bereich engagieren. Das ist wichtig für den sozialen
Zusammenhalt. Das wird weiterhin ein Schwerpunkt unserer Arbeit sein.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Diana Golze von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte zur Antwort der
Bundesregierung auf die Große Anfrage der Grünen und
zu deren Entschließungsantrag als Reaktion darauf ist
wirklich schon etwas paradox. Ich hätte mir, nicht nur im
Interesse der Fragesteller, eine etwas inhaltsvollere und
zum Teil etwas aktuellere Antwort gewünscht. Das Datenmaterial ist löchrig und zum Teil auch veraltet. Da
stellt sich die Frage: Warum ist das so?
Die Antwort der Bundesregierung macht einmal mehr
deutlich, dass die Bundesregierung ohne einen Hauch
von Innovation oder neuen Ideen eine Jugendpolitik betreibt, die ohne Gesamtkonzept und ohne einen roten
Faden ist. Es ist eine Politik, in der jenseits der beiden
Leuchtturmprojekte - Elterngeld und Mehrgenerationenhäuser - nicht viel mehr zu finden ist als halbfertige
Baustellen, an denen seit Jahren nur Stückwerk betrieben wird.
({0})
Schlimmer noch: Der Bauherr selbst kürzt seit Jahren
sogar das Budget für die eigenen Vorhaben, indem er
zum Beispiel kontinuierlich die Zuwendungen für die
Jugendhilfe senkt ({1})
und das leider unabhängig davon, ob die aktuelle Modefarbe rot-grün oder schwarz-rot ist.
Soziale, kulturelle, politische und ökonomische Teilhabe sollte das Recht eines jeden und einer jeden sein
und nicht als Chance gesehen werden, die man nur zufällig bekommt, wenn man im richtigen Staat, im richtigen
Bundesland oder sogar in der richtigen Familie geboren
wird.
({2})
Die Forderung nach Teilhabe sollte sich auch nicht allein darauf gründen, dass der demografische Wandel einzelne Gruppen zu Minderheiten in der Gesellschaft
macht, wie es sich in Ihrem Antrag, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, wiederfindet.
({3})
Die Realität ist dadurch gekennzeichnet, dass sich die
Schere zwischen Arm und Reich immer weiter öffnet,
was sich unmittelbar auf die Teilhabemöglichkeiten und
Zukunftschancen in der Gesellschaft auswirkt. Die ständig steigende Ungleichheit erhielt mit Hartz IV und mit
der Schröder’schen Agenda 2010 zusätzliche Dynamik.
Daran haben auch Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Ihren Anteil.
({4})
Sie haben mit Ihrer Zustimmung zu diesen Gesetzen
Schulkindern die staatliche Absicherung auf Säuglingsniveau gekürzt, nämlich auf 60 Prozent des Regelsatzes
eines alleinstehenden Erwachsenen. Wie können Sie von
Teilhabe oder auch nur von der Chance darauf reden,
wenn durch wachsende Kinder- und Jugendarmut
zum Beispiel Nachhilfe, Musikschulunterricht oder Vereinsbeiträge nicht mehr bezahlbar sind?
({5})
Ich sage dies auch, um deutlich zu machen, dass die richtige Forderung in Ihrem Entschließungsantrag nach
Rücknahme der Verschärfungen für die unter 25-jährigen Erwerbslosen wohl eher nur ein kleiner Schritt sein
kann, wenn auch, zugegebenermaßen, endlich in die
richtige Richtung.
Ihre Forderung nach einer Systemumstellung in Richtung modulare Berufsausbildung wird durch die Realität Lügen gestraft. Seit Jahren sind nicht genügend Ausbildungsplätze vorhanden. Das zeigt auch die Antwort
der Bundesregierung, wonach 40 Prozent der Hauptschülerinnen und Hauptschüler keinen Ausbildungsplatz
bekommen. Das muss sich endlich ändern.
({6})
Wir brauchen ein sofortiges Umdenken und neue
Handlungsansätze in vielen Bereichen. Das betrifft natürlich auch das vorschulische Angebot. Die Ministerin
hat ohne weiteres Recht damit, dass wir mit den Angeboten ganz früh anfangen müssen. Wir sagen: Wir brauchen eine gebührenfreie Kita mit Bildungscharakter.
Ganztagsschulangebote müssen flächendeckend vorhanden sein. Die Stärkung der Jugendverbände wird meines
Erachtens in dieser Antwort zu wenig betont.
Wir brauchen eine Stärkung der Kinder- und Jugendhilfe. Da haben die Grünen mit der Forderung in ihrem
Entschließungsantrag, dass wir da mehr tun müssen und
weitere Kürzungen verhindern müssen, recht.
Es geht aber auch darum - darüber sollten wir nachdenken -, wie wir mit dem Begriff „Gerechtigkeit“ umgehen. Darauf möchte ich zum Schluss noch eingehen.
Dieses Thema wird ja auch im Antrag der Grünen wieder aufgegriffen. Wie so häufig wird das Wort „Generationengerechtigkeit“ sozusagen als Feststellung für einen angeblichen Kampf zwischen den Generationen
missbraucht. Dabei berücksichtigt man nicht, dass die
wirklichen Widersprüche in der Gesellschaft nicht zwischen Alt und Jung, sondern zwischen Arm und Reich
liegen.
({7})
Die Forderung nach Generationengerechtigkeit ist deshalb kein Ersatz für die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit, sondern oftmals nur ein ideologischer Versuch
zur Instrumentalisierung der Generationen. Das ist mit
uns, der Linken, nicht zu machen.
Vielen Dank.
({8})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt der Kollege Jürgen Kucharczyk von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die
vorliegende Antwort auf die Große Anfrage beschreibt
die gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Teilhabe von Jugendlichen als entscheidende Voraussetzung
für eine gerechte Jugendpolitik. Die Opposition greift
damit ein wichtiges Thema schon aus der letzten Legislaturperiode auf.
Das Fehlen von Chancen und Perspektiven und die
damit verbundene Zukunftslosigkeit stellt die größte Gefahr für die nachfolgende Generation dar. Deshalb stellt
die Koalition nicht nur Fragen, sondern baut konkret auf
die erfolgreiche Kinder- und Jugendpolitik der Vorgängerregierung auf. Ich erinnere an drei Maßnahmen: Das
TAG legt den Grundstein für eine gute und bedarfsgerechte Kinderbetreuung für die unter Dreijährigen. Das
Ganztagsschulprogramm sorgt dafür, dass jedes Kind
gleiche Zukunftschancen hat. Die bundesweite Initiative
„Lokale Bündnisse für Familie“ stärkt die Familienfreundlichkeit in den Kommunen. - So weit, in Ansätzen, das bereits Realisierte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle unterstützen das politische und soziale Engagement von Kindern
und Jugendlichen und wollen, dass sie die aktive Beteiligung an der Demokratie und am Gemeinwesen ernst
nehmen. Mit der Unterstützung von gezielten Projekten
zur Förderung von Beteiligung - ich erinnere hier beispielsweise an das „Projekt P“ - investieren wir bereits
in die berufliche wie gesellschaftliche Zukunft der Jugend. Politische Beteiligung ist nur eine von vielen
Möglichkeiten. Das Wahlalter nach unten zu setzen,
stellt dabei sicherlich nicht die alleinige Lösung dar. Jüngere Jugendliche dürfen keineswegs außen vor stehen,
wenn es darum geht, sich gesellschaftlich zu engagieren.
Dass dies funktioniert, erlebe ich am Beispiel der Jugendstadträte in Solingen und Remscheid. Mit einer
Wahlbeteiligung von über 65 Prozent haben hier Kinder
und Jugendliche ihre Vertretung selbst gewählt.
Fakt ist auch: Wir können es uns gesellschaftlich und
menschlich nicht leisten, dass Jugendliche beruflich oder
sozial auf der Strecke bleiben. Wir müssen den jungen
Menschen die Möglichkeit zur Integration sowie Aufgaben und Perspektiven geben. Die Bereiche Jugendarbeitslosigkeit und Ausbildungsplatzmangel brauchen
unsere besondere Aufmerksamkeit. Jeder einzelne Jugendliche, der heute keine Lehrstelle findet und nicht
ausgebildet wird, ist einer zu viel. Die derzeitige Situation können wir so nicht hinnehmen.
({0})
Langzeitpraktika oder Qualifizierungsschleifen sind für
Bewerber ohne Lehrstelle nicht ausreichend. Hier erwarte ich etwas mehr Kreativität von den Arbeitsagenturen sowie den Industrieverbänden vor Ort.
Mit der Ausweitung und Verlängerung des Ausbildungspaktes gehen wir einen praktikablen Weg. Mit
dem Koalitionsantrag „Junge Menschen fördern - Ausbildung schaffen und Qualifizierung sichern“ von heute
Morgen verstärken wir die notwendigen Maßnahmen.
Der aktuelle Gesetzentwurf zur Änderung des Dritten
Buches Sozialgesetzbuch flankiert unser gemeinsames
Ziel: Jungen Menschen muss eine berufliche Perspektive
geboten werden. Das muss Politik, aber insbesondere
auch die Wirtschaft leisten.
({1})
Auch die Stärkung der Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen gehört zum Thema Jugendliche
in Deutschland.
({2})
Der korrekte Umgang mit elektronischen Medien gehört
heutzutage zur Basisqualifikation und ist die Grundlage
für einen selbstständigen und verantwortlichen Umgang
der Jugendlichen mit den neuen Medien. Dazu gehört
ein eng geflochtenes soziales Netz in den Stadtteilen. Es
muss so eng geknüpft sein, dass keine Kinder und Jugendlichen durchfallen. Das ist der beste Schutz vor gewalttätigen Handlungen.
({3})
Die Aufnahme der Kinder- und Jugendrechte ins
Grundgesetz, wie von der Kinderkommission gefordert,
wäre ein weiterer Schritt,
({4})
der auch den Jugendlichen deutlich signalisiert: Hier
kümmert sich jemand um euch! Wir nehmen euch ernst!
Das deutsche Schulsystem hat nicht nur durch die
PISA-Studie schlechte Noten bekommen. Auch der UNSonderbeauftragte für das Recht auf Bildung hat die fehlende Chancengleichheit und das verschenkte Bildungspotenzial in unserem Land deutlich kritisiert.
Wir sind uns sicherlich einig, dass wir an dieser Stelle
noch viele Punkte anführen könnten. Ich möchte zum
Schluss noch Folgendes ausführen: Kinder und Jugendliche gehören in den Mittelpunkt unserer Gesellschaft.
Das sicherzustellen, ist unsere Aufgabe. Packen wir es
gemeinsam an!
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 16/5780. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung von
Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten
Jahresbericht 2006 ({0})
- Drucksache 16/4700 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Reinhold Robbe.
Bevor Herr Robbe das Wort nimmt, bitte ich die Kolleginnen und Kollegen, die an der Aussprache nicht teilVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
nehmen wollen, zügig den Saal zu verlassen, sodass die
anderen der Aussprache folgen können.
Herr Robbe, bitte schön.
Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter des Deutschen
Bundestages:
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Soldatinnen und Soldaten auf
der Zuschauertribüne!
({1})
Vor ziemlich genau drei Monaten habe ich dem Deutschen Bundestag und damit gleichzeitig der deutschen
Öffentlichkeit meinen jüngsten Tätigkeitsbericht vorgelegt. Vorweg will ich mich ganz herzlich bei Ihnen allen,
insbesondere beim Verteidigungsausschuss, dafür bedanken, dass wir bereits heute Gelegenheit haben, diesen
Tätigkeitsbericht zu behandeln.
({2})
Bevor ich auf die wichtigsten Punkte meines Berichts
zu sprechen komme, gestatten Sie mir einige Hinweise
zur Situation unserer Soldatinnen und Soldaten im Einsatzgebiet Afghanistan. Vor wenigen Tagen bin ich von
einem Truppenbesuch aus den Einsatzgebieten Afghanistans zurückgekehrt. Deshalb stehe ich, wie Sie sich
vorstellen können, noch sehr unter dem Eindruck dieses
Besuches, insbesondere mit Blick auf die Situation in
Kunduz, wo - das wissen wir alle - drei Bundeswehrsoldaten durch einen schrecklichen Terroranschlag der Taliban ums Leben kamen. Wie Sie sich vorstellen können,
trauern die in Kunduz stationierten Soldatinnen und Soldaten nach wie vor um ihre gefallenen Kameraden, und
die Stimmung bei allen Gesprächen, die ich vor Ort führen konnte, war verständlicherweise gedrückt.
Unabhängig davon haben mir die Soldaten in aller
Offenheit zwei Punkte genannt, die sie in gar keiner
Weise nachvollziehen können und die bei ihnen in gleichem Maße Enttäuschung und Wut hervorgerufen haben. Zum einen bezieht sich der Unmut der Soldaten auf
die Art und Weise, wie über den jüngsten Anschlag in
Kunduz berichtet wurde. Die Veröffentlichung von Fotos, auf denen die schmerzverzerrten Gesichter der
schwerverletzten deutschen Soldaten zu sehen sind, hat
nicht nur bei den Bundeswehrangehörigen, sondern weit
darüber hinaus Empörung und Proteste hervorgerufen.
Erstmalig wurde in deutschen Medien auf eine Unkenntlichmachung der Gesichter offensichtlich ganz bewusst
verzichtet.
Meine Damen und Herren, ich denke, es ist in jeder
Hinsicht nachvollziehbar, wenn sich sowohl die Soldatinnen und Soldaten wie auch deren Angehörige über
diese - gestatten Sie mir den Ausdruck in diesem Zusammenhang - unmenschliche Form der Berichterstattung empören.
({3})
Ich bin davon überzeugt, dass es auch Ihre Zustimmung
findet, dass ich den Deutschen Presserat zwischenzeitlich aufgefordert habe, sich dieser Sache anzunehmen.
({4})
Auch ein zweites Thema war für die in Kunduz eingesetzten Soldaten Anlass für - auch aus meiner Sicht berechtigte Empörung. Im Zusammenhang mit der politischen Auseinandersetzung um den Bundeswehreinsatz
in Afghanistan wurde den Soldatinnen und Soldaten in
einem Beitrag vorgeworfen, an - so wörtlich - terroristischen Aktivitäten zumindest mittelbar beteiligt zu sein.
Diese Äußerungen haben nicht nur Kopfschütteln und
Ratlosigkeit hervorgerufen. Die Soldatinnen und Soldaten haben mich ausdrücklich gebeten, in geeigneter
Weise deutlich zu machen, dass derartige Entgleisungen
inakzeptabel sind, gerade dann, wenn wir tote und
schwerverletzte Soldaten zu beklagen haben.
({5})
In meinem letzten Tätigkeitsbericht habe ich die
schlechten Unterkünfte und zum Teil desolaten Bundeswehrkasernen in den alten Bundesländern in den Mittelpunkt gestellt. Dies hat zu einem breiten Echo innerhalb, aber auch außerhalb des Deutschen Bundestages
geführt. Viele Abgeordnete, aber auch Regierungsmitglieder und insbesondere zahlreiche Bundeswehrangehörige haben meine Aussagen in jeder Hinsicht bestätigt
und für eine Lösung dieses Problems plädiert. Inzwischen liegt ein Bericht des Bundesverteidigungsministers vor, der im Grundsatz meine Feststellungen bestätigt
und im Detail Stellung zum Finanzbedarf für notwendige Instandsetzungs- und Sanierungsarbeiten in den
deutschen Kasernen nimmt.
Sie werden Verständnis dafür haben, wenn ich an dieser Stelle die dringende Bitte an Sie als Mitglieder dieses
Parlaments richte, die notwendigen Mittel im Haushalt
2008 und in den Folgejahren zur Verfügung zu stellen.
Es geht hierbei nicht nur um die Verbesserung der Unterbringungssituation für unsere Soldatinnen und Soldaten;
vor allem geht es um Glaubwürdigkeit. In den letzten
Jahren wurden - das wird mir bei fast jedem Truppenbesuch vor Augen geführt - immer wieder Sanierungen
und Instandsetzungen angekündigt und kurze Zeit später
doch wieder auf die lange Bank geschoben. Mit einem
Sofortprogramm für die Modernisierung der westdeutschen Kasernen könnte an dieser Stelle verloren gegangenes Vertrauen schnell zurückgewonnen werden.
Einen weiteren Aspekt meines Tätigkeitsberichtes
möchte ich in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt
lassen. Der Bundeswehreinsatz im Kongo im vergangenen Jahr war nach überwiegender Meinung ein politischer Erfolg. Das gilt aber nicht für die Einsatzplanung
und Durchführung. Die Zustände in den Feldlagern, insbesondere in Kinshasa, waren teilweise wirklich katastrophal. Im Tätigkeitsbericht habe ich dazu ausführlich
Stellung genommen. Erstmals wurde eine private Firma
Wehrbeauftragter Reinhold Robbe
mit der Errichtung eines Feldlagers beauftragt. Mit dieser Aufgabe war sie aber ganz offensichtlich überfordert.
({6})
Die von ihr errichteten Zelte waren undicht und setzten
Schimmel an. Eine Klärgrube lief nach starkem Regen
mehrfach über, was dazu führte, dass die Fäkalien durch
die Zelte der Soldaten schwammen. Solche Verhältnisse
sind unzumutbar, gerade weil sie vermeidbar gewesen
wären.
({7})
Aus meiner Sicht ergibt sich aus den geschilderten
Missständen eine ganz entscheidende Frage: Sollen die
aus den Grundsätzen der inneren Führung abgeleiteten
bewährten Standards für Schutz und Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten, ihre sanitätsdienstliche Versorgung sowie ihre Unterbringung und Verpflegung in Zukunft ihre Gültigkeit behalten, oder sollen die Standards
im Einsatz eingeschränkt, relativiert oder sogar abgeschafft werden? In meiner Eigenschaft als Wehrbeauftragter dieses Parlaments warne ich davor, diese Standards der Bundeswehr auch nur anzutasten. Die
Fürsorgepflicht muss uneingeschränkt gelten, ganz besonders im Einsatz.
({8})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, weitere
Schwerpunkte meines Berichts sind die sanitätsärztliche Versorgung der Soldatinnen und Soldaten, Fälle von
Defiziten im Führungsverhalten und spektakuläre Berichte über Ausschweifungen und Exzesse, bei denen
- dies muss man hinzufügen - fast immer Alkohol im
Spiel war. Aber auch die immer wiederkehrenden Probleme mit Blick auf fehlende Dienstposten, übermäßige
dienstliche Belastungen, Schwierigkeiten bei der Vereinbarkeit von Familie und Dienst sowie die unzureichende
Würdigung der Reservisten finden sich im Jahresbericht
2006 wieder.
Wenn ich gefragt werden sollte, welche große Überschrift ich über meinen Tätigkeitsbericht setzte, dann
fiele meine Antwort eindeutig aus: Die Bundeswehr ist
nach wie vor unterfinanziert. Fehlendes Geld bedeutet
im Bereich Personal auch fehlende Planstellen und damit
Beförderungsstaus. Fehlendes Geld bedeutet, dass es seit
acht Jahren keine Wehrsolderhöhung für Wehrdienstleistende gegeben hat. Fehlendes Geld bedeutet Fähigkeitslücken insbesondere beim Heer und bei der Luftwaffe
und für die Zukunft Probleme bei der Nachwuchsgewinnung. All dies muss man wissen, wenn es darum geht,
die Bundeswehr insgesamt zu bewerten.
Umso bemerkenswerter ist es, dass, von Ausnahmen
abgesehen, die Soldatinnen und Soldaten sowohl in der
Heimat als insbesondere auch in den zahlreichen Einsatzgebieten in bewundernswerter Art und Weise ihren
Dienst verrichten. Trotz Engpässen, trotz zunehmender
Belastungen und trotz immer wieder zu beklagender
Schicksalsschläge, die mit Tod, schwersten Verletzungen
und bleibenden Behinderungen verbunden sind, leisten
unsere Soldatinnen und Soldaten ihren Dienst professionell, hoch motiviert und loyal.
({9})
Aus meiner Sicht, meine sehr verehrten Damen und
Herren, sind unsere Soldatinnen und Soldaten die besten
Botschafter, die wir uns wünschen können. Auch heute
besteht Anlass, ihnen dafür ganz herzlich Dank zu sagen.
({10})
Ich komme zum Schluss. Danken will ich aber auch
dem Präsidenten und dem Präsidium des Deutschen
Bundestages, dem Verteidigungsausschuss im Besonderen und dem Bundesminister der Verteidigung sowie allen nachgeordneten Dienststellen für das ausgezeichnete
Zusammenwirken und die Unterstützung. Schließlich
danke ich selbstverständlich meinen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern, ohne die ich meine Arbeit nicht leisten
könnte.
({11})
In der Bundeswehr würde man sagen: Meine Leute sind
schon eine tolle Truppe. Dafür danke ich ihnen.
Auch Ihnen herzlichen Dank.
({12})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,
möchte ich im Namen des ganzen Hauses dem Wehrbeauftragten sowie seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die Vorlage des Jahresberichts 2006 und die vorzüglich geleistete Arbeit besonders danken.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Anita Schäfer von der
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, ich
danke Ihnen für den 48. Jahresbericht und spreche diesen Dank auch im Namen meiner Fraktion aus. Die Aufmerksamkeit des Bundestages für die Soldatinnen und
Soldaten der Bundeswehr muss eine verlässliche Größe
sein und bleiben. Unser Dank gilt auch Ihren Mitarbeitern, die im Berichtsjahr viele Eingaben zu betreuen hatten.
Im Blickpunkt stehen vor allem drei Bereiche, welche
die Fürsorgepflicht des Staates gegenüber seinen Soldaten in besonderer Weise berühren: erstens die Auslandseinsätze, zweitens die Infrastruktur und drittens die sanitätsdienstliche Versorgung.
Anita Schäfer ({0})
Die Einsätze der Bundeswehr sind schwierig, herausfordernd und gefährlich. Der Jahresbericht zeigt,
dass die Soldaten ihren Einsatz vielerorts unter schwierigen Rahmenbedingungen erfolgreich durchführen. Allerdings sind immer wieder Defizite hinsichtlich der Planung und Organisation, Mängel in der Ausstattung und
übertriebene Bürokratie zu beklagen. Ich nenne exemplarisch die teilweise unzumutbare Unterbringung von
deutschen Soldaten im Rahmen der Mission
EUFOR RD Congo, fehlende Lufttransportkapazitäten
und Defizite beim Schutz des deutschen Einsatzkontingents in Afghanistan.
Die Einsatzplanung und Einsatzdurchführung der
Mission EUFOR RD Congo ist durch das BMVg umfassend bewertet worden. Es ist begrüßenswert, dass sich
das Ministerium seiner Verantwortung stellt. Der Verteidigungsausschuss wird diesen Bericht kritisch prüfen.
Wir sind uns alle einig, dass die hohen nationalen
Standards für die Bundeswehr auch in multinationalen
Einsätzen Bestand haben müssen. Insbesondere darf es
nicht zu Abstrichen bei der Verpflegung, der medizinischen Versorgung und der Unterbringung der Soldaten
kommen. Aber auch auf den Bereich Menschenführung
müssen wir Parlamentarier unser besonderes Augenmerk
richten.
Durch die Entsendung von Schützenpanzern des Typs
Marder sowie von Tornado-Aufklärungsflugzeugen
konnte der Schutz des deutschen Kontingents der ISAFTruppen in Afghanistan spürbar verbessert werden. Eines müssen wir uns aber klarmachen: In riskanten Missionen kann es keinen hundertprozentigen Schutz geben.
Das hat der schlimme Selbstmordanschlag in Kunduz,
der vor kurzem drei unserer Soldaten in den Tod gerissen
hat, schmerzhaft in Erinnerung gerufen. Herr Verteidigungsminister Dr. Jung, ich wünsche mir sehr, dass wir
endlich ein zentrales Ehrendenkmal zur würdigen Erinnerung an die Soldaten, die im Einsatz ihr Leben gelassen haben, schaffen.
({1})
Deutschland hat mit seinem zivil-militärischen Einsatz im Norden von Afghanistan kluge Aufbauarbeit geleistet und viele Pluspunkte in der afghanischen Zivilbevölkerung gesammelt. Ohne militärische Absicherung
ist zivile Aufbauarbeit nicht denkbar; das muss an dieser
Stelle deutlich gesagt werden. Wer jetzt, wie die Damen
und Herren der Linksfraktion, vorschnell „Abzug der
Bundeswehr!“ ruft, der gibt den Extremisten der Taliban
und ihrem Zerstörungswerk neuen Auftrieb. Das hätte
fatale Konsequenzen für die Region und unsere nationale Sicherheit.
Unsere Soldaten brauchen Rückendeckung für ihren
Auftrag, und wir müssen ihnen selbstverständlich den
bestmöglichen Schutz im Einsatz gewähren.
({2})
Knapp bemessene Haushaltsmittel dürfen nicht als
Rechtfertigung für Mängel im Einsatz herhalten. Darauf
weist der 48. Jahresbericht des Wehrbeauftragten völlig
zu Recht hin.
Im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen außerdem die militärische Infrastruktur und die
sanitätsdienstliche Versorgung. Der Bericht dokumentiert zahlreiche Fälle von Mängeln bei Truppenunterkünften, vornehmlich in den alten Bundesländern.
Außerdem wirkt sich die Einsatzbelastung des sanitätsdienstlichen Personals mittlerweile spürbar auf die Qualität der Bundeswehrkrankenhäuser und die truppenärztliche Versorgung aus. Für mich steht fest: Dieses Bild ist
mit dem Selbstverständnis einer modernen und leistungsfähigen Armee unvereinbar.
Der Bericht des Wehrbeauftragten zeigt eindringlich,
dass die Attraktivität der Streitkräfte nicht nur ein
Schlagwort sein darf. Die Bundeswehr muss in Anbetracht der demografischen Herausforderungen substanzielle Maßnahmen ergreifen. Sie muss im Wettbewerb
auf dem externen Arbeitsmarkt um die besten Köpfe bestehen können. Das erfordert eine ebenso kreative wie
nachhaltige Nachwuchsgewinnung. So hält der Bericht
fest, dass die Beförderungssituation bei Unteroffizieren
immer noch durch lange Wartezeiten sowie unverständliche Beurteilungsmaßstäbe geprägt ist. Deswegen sind
die Bemühungen des BMVg, durch ein neues, seit
Januar 2007 geltendes Beurteilungssystem für mehr
Transparenz zu sorgen, zu begrüßen.
Ein weiterer ganz zentraler Baustein für die Attraktivität der Bundeswehr ist eine bessere Vereinbarkeit von
Familie und Beruf. Mit der Einführung neuer Arbeitszeitmodelle setzt sich die Bundeswehr für familienfreundliche Strukturen ein. Weitere wichtige Eckpfeiler
sind die Lokalbündnisse für Familien und die Familienbetreuungszentren.
Trotzdem belegen die steigenden Eingabezahlen in
diesem Bereich, dass Handlungsbedarf besteht. Gerade
wenn wir junge, fähige Frauen für den Dienst in den
Streitkräften gewinnen wollen, sind sichtbare Maßnahmen dringend geboten. Vor allem müssen wir die Bundeswehr unterstützen, überzeugende Modelle für die
Betreuung von Kindern aus Soldatenfamilien zu entwickeln.
({3})
Die soziale Absicherung ist ein weiteres Kernthema,
das die Soldaten stark beschäftigt. Ausdrücklich würdigt
der Wehrbeauftragte den Entwurf eines Einsatzweiterverwendungsgesetzes. Damit soll im Einsatz verletzten
Soldaten die gesundheitliche und berufliche Rehabilitation im Soldatenstatus ermöglicht werden. Es ist wichtig,
dass wir dieses Gesetz jetzt zügig auf den Weg bringen,
um Betroffenen rasch und unbürokratisch helfen zu können. Das ist auch ein klares Signal für unsere Soldaten
im Einsatz, die wie in Afghanistan beträchtlichen Risiken für Leib und Leben ausgesetzt sind.
Viele der angesprochenen Defizite sind schon seit
Jahren Dauerbrenner im Jahresbericht des Wehrbeauftragten. Auch der aktuelle Bericht zeigt, dass die Fürsorgepflicht des Staates gegenüber seinen Soldaten durch
Anita Schäfer ({4})
knapp bemessene Haushaltsmittel limitiert wird. Auf
Dauer leiden darunter die Motivation der Soldaten im
Einsatz, der Zusammenhalt und das innere Gefüge der
Streitkräfte. Dies hat die Bundesregierung erkannt. Wir
nehmen die Bundeskanzlerin beim Wort, die angekündigt hat, dass 2008 mehr Geld in die innere und äußere
Sicherheit investiert werden soll. Ein klares Signal bei
der Entwicklung des Einzelplans 14 ist überfällig.
Zum Schluss möchte ich sagen: Meine teilweise kritischen Anmerkungen sollen insbesondere uns Politikern
zeigen, dass wir die Sorgen und Nöte unserer Soldaten
ernst nehmen und wir im Verteidigungsausschuss bemüht sind, unserer Verantwortung gerecht zu werden.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Elke Hoff von der
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Herr Wehrbeauftragter Robbe, ich
danke Ihnen sehr für Ihren Bericht, den Sie heute vorlegen. Er spricht in diesem Jahr eine deutliche Sprache
und setzt klare Schwerpunkte. Ich bin Ihnen auch sehr
dankbar, dass Sie Stellung genommen haben zu den
schlimmen Ereignissen in Kunduz und zur Berichterstattung, die ihnen gefolgt ist.
Auf der einen Seite ist es bemerkenswert geschmacklos, wie die Presse teilweise mit unseren Soldatinnen
und Soldaten umgeht. Auf der anderen Seite vermisse
ich die Entschuldigung des Vorsitzenden der Linkspartei. Sie, Paul Schäfer, wissen, dass ich Sie als Kollege im
Verteidigungsausschuss schätze. Ich wäre sehr froh,
wenn zumindest von Ihrer Seite heute ansatzweise eine
Entschuldigung für die Entgleisung käme, die Ihr Parteivorsitzender in der Öffentlichkeit vorgetragen hat.
({0})
Ich finde es entsetzlich.
({1})
Die heutige Debatte darf ich als Vertreterin der FDPFraktion natürlich dazu nutzen, unseren Soldatinnen und
Soldaten für den gefährlichen Einsatz im Ausland und
auch für den Einsatz hier vor Ort zu danken. Erst vor wenigen Wochen hatten wir durch den schrecklichen Anschlag in Kunduz erneut Opfer unter unseren Soldaten
und der afghanischen Zivilbevölkerung zu beklagen, an
die wir auch im Rahmen dieser Debatte aus tiefem Herzen denken sollten.
Herr Wehrbeauftragter, Sie haben in diesem Jahr in
Ihrem Bericht den Fokus insbesondere auf den Zustand
der Kasernen, die Missstände im Sanitätsdienst und die
Ausrüstungs- und Ausbildungsdefizite in der Bundeswehr gelenkt. Der untragbare Zustand in vielen Bundeswehrkasernen scheint einer der wenigen Bereiche zu
sein, in denen die Bundesregierung nicht versucht, die
eklatanten Mängel zu beschönigen.
Das Bundesverteidigungsministerium hat auf eine
schriftliche Frage von mir mitgeteilt, dass der planerische Bedarf für die nächsten 15 Jahre 7,3 Milliarden
Euro beträgt. Jedoch hat die Bundesregierung 2007 von
den 1,13 Milliarden Euro, die allein für den Bauerhalt
nötig wären, lediglich 425 Millionen Euro in den Verteidigungshaushalt eingestellt. Die Bugwelle der Unterhaltungsmaßnahmen, wie es bei der Bundesregierung heißt,
wird auch in den nächsten Jahren nicht zu stoppen sein,
da im Bundeswehrplan 2008 nur die Hälfte der notwendigen Mittel für Bauerhaltungsmaßnahmen eingestellt
sind.
Es wäre daher aus Sicht der FDP-Fraktion wesentlich
zielführender, im Ministerium mehr als bisher konkrete
Public-Private-Partnership-Projekte zu prüfen, die eine
schnellere Sanierung der Kasernen ermöglichen. Diese
Projekte mögen im Ergebnis vielleicht nicht billiger
sein, aber sie sind schneller. Eine menschenwürdige Unterbringung der Soldatinnen und Soldaten muss wesentlicher Teil eines Attraktivitätsprogramms Bundeswehr
sein; denn sonst sieht es mit der Nachwuchsgewinnung
düster aus.
Die Defizite im Sanitätsdienst sind Gott sei Dank
nicht mehr wegzudiskutieren. Ich kann bisher nicht erkennen, dass die Bundesregierung die offensichtlichen
und eingestandenen Missstände konsequent abstellt. Wir
brauchen aber dringend Lösungen, durch die die Situation im Sanitätsdienst wirksam verbessert und menschenwürdige Arbeitsbedingungen für die Sanitätsärzte
und das Zivilpersonal geschaffen werden. Diese Lösungen dürfen allerdings nicht zulasten der Ausbildung, der
Qualifikation und des laufenden Betriebs in den Krankenhäusern zu Hause gehen. Ich hoffe, dass wir nachher
in den Ausführungen von Herrn Minister Jung auch dazu
etwas hören werden. Denn die Aussagen, die bisher aus
dem Ministerium zu vernehmen waren, stimmen nicht
gerade optimistisch.
Herr Wehrbeauftragter, ich bin froh, dass Sie die mangelhafte Ausbildung und Ausrüstung hervorgehoben
haben. Die Bereitschaft der Bundesregierung, die hier
vorhandenen Defizite einzuräumen, ist deutlich geringer
ausgeprägt. Nachdem ich im letzten Jahr den Vorwurf
geäußert habe, dass unsere Soldaten weit davon entfernt
seien, im Auslandseinsatz über eine optimale Ausrüstung zu verfügen, hat Minister Jung immer wieder bekundet, dass dies falsch sei.
Nach seiner Wahrnehmung sei alles in bester Ordnung, wir hätten schon heute die optimale Ausrüstung
und Ausbildung im Einsatz, und es sei eine gute GrundElke Hoff
lage geschaffen, um den Anpassungs- und Modernisierungsbedarf der Bundeswehr weiter voranzutreiben.
Diese Wahrnehmung scheint mir recht exklusiv zu sein.
So spricht die militärische Führung des Bundesverteidigungsministeriums davon, dass die Mindestausrüstung
für heutige Einsätze teilweise nicht einmal bis 2010 beschafft werden kann.
Durch das Fortschreiben einer nicht einsatzorientierten Beschaffungspolitik sind alle finanziellen Spielräume aufgezehrt, die es ermöglichen würden, kurzfristig auf neue Bedarfe zu reagieren. Dies entspricht nicht
den Anforderungen an einen dynamischen Prozess, der
die Transformation der Bundeswehr eigentlich sein
sollte.
({2})
Herr Minister Jung, mit dieser Einschätzung befinde
ich mich in guter Gesellschaft mit dem sicherheitspolitischen Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, auf
dessen lesenswerten Artikel in der „Loyal“ ich Sie an
dieser Stelle noch einmal hinweisen möchte. Allerdings
ist es schade, dass die Fraktion der Kanzlerin ihre Möglichkeiten innerhalb der Koalition, bereits heute für eine
bessere materielle und finanzielle Ausrüstung der Bundeswehr zu sorgen, so wenig nutzt.
({3})
Wieso, liebe Kollegen, lösen Sie die Vereinbarung des
Koalitionsvertrages nicht ein, die zahlreichen neuen
Auslandseinsätze der Bundeswehr nicht weiterhin aus
dem Verteidigungsetat, sondern aus dem allgemeinen
Haushalt zu finanzieren? Die Koalition muss endlich
deutlich machen, was ihr die zahlreichen Einsätze der
Bundeswehr im Ausland als Instrument der Außenpolitik wert sind und welche Zukunft die Bundeswehr haben
soll. Auch die finanzielle Ausstattung muss der Realität
heutiger Einsätze und den Anforderungen der Transformation genügen.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es ist eine gemeinsame Aufgabe, die Bundeswehr auf dem schwierigen Weg ihrer Transformation zu begleiten und ihr dabei
den Rücken zu stärken. Das sind wir unseren Soldatinnen und Soldaten schuldig.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Hedi Wegener von der
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Lieber Herr Wehrbeauftragter, Sie haben
Ihre Rede mit dem Stichwort „Afghanistan“ begonnen;
das tue auch ich. Vor einigen Tagen hat mich eine Schulklasse gefragt, ob sich meine Einstellung zu Auslandseinsätzen geändert habe, seitdem vor kurzem drei deutsche Soldaten ums Leben gekommen sind. Ich habe mit
meiner Antwort gezögert, dann aber gesagt, dass der Tod
von Menschen meines Erachtens nicht gegeneinander
aufgerechnet werden darf. Ich will damit sagen, dass der
Tod eines Engländers oder einer afghanischen Familie
nicht weniger tragisch ist als der Tod eines deutschen
Soldaten oder eines deutschen Entwicklungshelfers. Mit
einem kleinen Unterschied - vielleicht sogar mit einem
großen Unterschied -: Denn ich habe an der Entscheidung, dass sich deutsche Soldaten in Afghanistan befinden und dort ihren Dienst tun, mitgewirkt.
Nach dem Sinn und nach dem Zweck, nach dem Erfolg und nach der Einstellung der Bevölkerung zu diesem Einsatz fragen sich auch viele Soldaten; das hat der
Bericht des Wehrbeauftragten deutlich gemacht. Seit
fünf Jahren sind 30 000 Soldaten in Afghanistan. Die
Zivilbevölkerung gerät immer mehr in die Schusslinie:
Afghanische Polizisten werden von US-Truppen erschossen, Schüler sterben durch Beschuss von OEFTruppen. Da ist es klar, dass auch die ISAF-Truppen den
Rückhalt in der Bevölkerung verlieren.
Ich frage mich aber ernsthaft: Welchen Beitrag leisten
die afghanischen Machthaber eigentlich selber? Ich betone: Machthaber, weil es dort einige wenige gibt, die
die Macht haben, sich selber gut versorgen, ihre Clans
einbinden, aber ansonsten reichlich korrupt sind.
Der deutsche General Ramms hat in einem Interview
gesagt: Wir müssen dem Einsatz ein afghanisches Gesicht geben. - Ich frage mich auch: Welchen Beitrag leisten eigentlich die Staaten, die den gleichen Glauben und
eine ähnliche Kultur, Geschichte und Sozialisation wie
die Afghanen haben? Diese Fragen scheinen auch in den
Köpfen der deutschen Bevölkerung und der Soldaten im
Einsatz zu schwirren. Ein immer größerer Teil der deutschen Bevölkerung lehnt den Einsatz in Afghanistan ab.
Gut, wir machen keine Politik für den Stammtisch - aber
zu denken gibt mir das schon. Vermitteln wir nicht genug den Sinn und Zweck? Im Moment überschlagen sich
die Darstellungen der Befürworter des Afghanistaneinsatzes. Es gibt Schilderungen, welche Katastrophen einträten, zögen sich die deutschen Soldaten zurück. Angesichts der Situation müssen wir aber über die Strategie,
vor allem über die unserer Partner, sprechen. Wir führen
diese Diskussion natürlich auch im Ausschuss und in der
Fraktion.
Der Wehrbeauftragte hat berichtet, wie Soldaten - auch
Vorgesetzte! - über Politiker denken: Das Vertrauen geht
gegen null. - Das hat uns alle sehr erschreckt. Die
Truppe bekommt offensichtlich den Eindruck, wir Politiker würden unsere Soldatinnen und Soldaten gedankenlos in die Einsätze schicken. Das ist nicht so: Wir machen uns immerzu Gedanken über Sinn und Zweck
dieses Einsatzes.
Häufig kritisiert wurde gegenüber dem Wehrbeauftragten auch die inhaltliche Vorbereitung und die Nachbereitung. Es gebe keine Informationen, keine Schulung, keine politische Bildung zu den Einsätzen,
zumindest aber nicht genug; schuld daran sei wieder einmal die Politik. Politische Bildung gehört zu den Unterrichtseinheiten, die oft ausfallen - diesen Eindruck bestätigte mir der Präsident der Bundeszentrale für
politische Bildung. Genauso ist es eine Tatsache, dass
bei der Vor- und Nachbereitung der Einsätze vieles verbessert werden kann und muss: Zwei bis drei Tage reichen zur Nachbereitung eines Einsatzes wie in Afghanistan nicht aus.
Nicht verstehen kann ich die Kritik durch Führungskräfte der Bundeswehr. Ich bitte Sie, meine Herren Vorgesetzten: Sie alle sind nach den Grundsätzen der inneren Führung für viel Geld zu mitdenkenden,
selbstständig handelnden Angehörigen der Streitkräfte
ausgebildet worden. Sie können doch nicht darauf warten, dass die Politik Ihnen Material zur Vorbereitung auf
das Einsatzland liefert. Berechtigte Fragen der Soldaten
mit dem Hinweis zu beantworten, die Politiker lieferten
keine Informationen, reicht nicht. Bitte befördern Sie
nicht die Stimmung gegen die Politik! Die Kritik, es
mangele an Informationen, steht außerdem in einem
krassen Widerspruch zu dem, was wir im Unterausschuss „Innere Führung“ gehört haben: Dort wird immer
wieder von ausgezeichnetem Material und von ausgezeichneten Kursen gesprochen.
Meine Herren und Damen, es gibt hier augenscheinlich einen Widerspruch zu dem, was wir Politiker erfahren. Es besteht offensichtlich ein Mangel an einsatzvorbereitenden Informationen. Dieser Missstand sollte
beseitigt werden. Ich empfehle eine stärkere Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung. Wir
müssen gemeinsam zu einer verbesserten Kommunikation kommen. In dieser Situation sind bei den Soldaten
Vorgesetzte gefragt, die zuhören, die sich die Mühe machen, zu diskutieren und Fragen zu beantworten. Wir bezeichnen das als Menschenführung. Genau dazu gibt es
sehr viele Fragen, wie der Wehrbeauftragte festgestellt
hat.
Wir bekommen als Abgeordnete immer nur die Sahnestücke serviert. Wir hören von ausgewählten Soldaten,
die, wenn sie Kritik äußern, dies verhalten und gut eingepackt tun. Da ist es schon sehr erhellend, sich jedes
Jahr aufs Neue den Bericht des Wehrbeauftragten anzusehen und sich mit der Kritik der Soldaten zu befassen.
Der Wehrbeauftragte hat es sich zum Prinzip gemacht,
immer unangemeldet aufzutauchen. Das ergibt ein wesentlich realistischeres Bild als die gut vorbereiteten Besuche der Abgeordneten.
Neben der Kritik der Soldaten an der Menschenführung, der Unterkünfte - der Wehrbeauftragte hat es gesagt - und der Organisation des Kongoeinsatzes sind die
Langzeitwirkungen von persönlichen problematischen
Erlebnissen und deren Verarbeitung bedrückend. Im
Info-Brief Heer des Deutschen Heeres las ich in der letzten Woche Folgendes - ich zitiere -:
Das Beherrschen des militärischen Handwerks, körperliche Robustheit und die Befähigung zum
Kampf sind untrennbare Faktoren, die den Soldatenberuf wesentlich bestimmen.
Das stimmt. Aber auch die mentale, also die psychische
Vorbereitung ist wichtig. Das wird zunehmend durch
posttraumatische Störungen deutlich, mit denen Soldaten aus den Auslandseinsätzen zurückkommen. Es ist
sehr gut, dass auch bei den Soldaten inzwischen darüber
gesprochen wird und dass sich die Krankenhäuser der
Bundeswehr dieses Themas annehmen. Auch hier müssen die Einsatzvorbereitung und insbesondere auch die
Einsatznachbereitung verbessert werden. Vor allem aber
müssen wir für diejenigen Lösungen finden, die aus der
Bundeswehr ausgeschieden sind. Posttraumatische Störungen können auch erst Jahre später auftreten.
Zum Schluss noch einmal unseren - ich sage bewusst
„unseren“, nämlich den der Bundeswehr und des Parlaments - Dank an den Wehrbeauftragten und sein Team.
Herr Robbe, Sie sind ein wichtiger Mittler für uns. Sie
transportieren die Sorgen der Soldaten nicht nur zu uns
ins Parlament, sondern auch in die Öffentlichkeit. Bleiben Sie weiterhin emphatisch, aber auch hartnäckig und
beharrlich.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Paul Schäfer von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der Wehrbeauftragte hat
zwei Grundentscheidungen getroffen, die ich für die
Fraktion Die Linke nachdrücklich unterstützen will: Erstens wird er grundsätzlich nur unangemeldete Truppenbesuche durchführen; denn der Wehrbeauftragte muss
die ungeschminkte Wahrheit kennen, um Missstände benennen zu können. Zweitens wird er sich mehr um Auslandseinsätze kümmern, das heißt: Truppenbesuche in
den Einsatzgebieten.
Vor allem, wenn man gegenüber den Auslandseinsätzen grundsätzlich kritisch ist, was ja für die Linke gilt,
ist es besonders wichtig, genau hinzusehen, ob die Einsatzarmee und die Prinzipien der inneren Führung zusammenpassen oder wo es Widersprüche gibt. Wir haben
die Vorfälle in Coesfeld gesehen, wo es ja um die Vorbereitung auf Einsätze ging. Dort kam es zu Verletzungen
der Menschenwürde. Daneben gab es das Problem der
Totenschädel in Afghanistan. Diese Verhaltensweisen
sind mit unseren Wertmaßstäben nicht vereinbar. Das
heißt, hier ist es wichtig, dass der Wehrbeauftragte auch
im Auftrag des Parlaments genau hinsieht und dass wir
Vorschläge dafür entwickeln, dass das abgestellt werden
kann.
In dem letztgenannten Fall geht es sicherlich auch um
die Personalauswahl und nicht zuletzt um die politische
Bildung der Vorgesetzten. Jenseits individueller Schuldzuschreibungen müssen wir uns aber immer vergegenwärtigen, inwieweit das kriegerische Umfeld Menschen
verroht und entzivilisiert. Deshalb muss man das insgesamt infrage stellen.
Hiermit komme ich zur Sinnhaftigkeit der Auslandseinsätze. Der Wehrbeauftragte hat es angesprochen und
auch durch die Studie des Bundeswehrverbandes wird
Paul Schäfer ({0})
deutlich, dass es ein wachsendes Unbehagen hinsichtlich
des militärischen Engagements Deutschlands out of area
gibt. Die gesellschaftliche Debatte darüber hat erst begonnen. Wenn eine Mehrheit gegen den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr ist, dann kann die Politik nicht einfach so weitermachen. Ich finde, dann muss man das
auch einmal infrage stellen. Wenn der Einsatz militärischer Gewalt zu mehr Gewalt führt, dann muss man das
auch einmal thematisieren.
({1})
Gestatten Sie mir an dieser Stelle eine klare Aussage
zu der Vorhaltung des geschätzten Wehrbeauftragten wie
auch der Kollegin Hoff. Ich meine, politische Kontroversen im Parlament über die deutsche Beteiligung am Einsatz in Afghanistan dürfen nicht auf dem Rücken der
deutschen Soldatinnen und Soldaten ausgetragen werden. Sie sollten aber auch nicht zur parteilichen Vorteilsnahme genutzt werden, um gegen einzelne Parteien
Stimmung zu machen.
Was ist vorgetragen worden? Vorgetragen wurde, dass
Luftangriffe, denen Unschuldige zum Opfer fallen - wie
kürzlich sieben Kinder in Afghanistan -, mit Terror
gleichzusetzen ist. Vor diesem Hintergrund muss man
sich die Frage stellen: Sollen wir Deutschen uns daran
beteiligen?
({2})
Das war nicht die Frage der Soldatinnen und Soldaten,
sondern der politischen Führung. Das sollte man sehr genau auseinanderhalten. Ich halte diese Debatte aber für
notwendig.
({3})
Der Wehrbeauftragte hat völlig zu Recht drei Punkte
angesprochen, denen wir nachgehen müssen. Dabei geht
es erstens um sogenannte Aufnahmerituale und Feiern
in der Bundeswehr. Was die Vorfälle in Zweibrücken angeht, hat der Wehrbeauftragte zu Recht festgestellt, dass
wir den Blick wieder verstärkt auf den Kernbereich der
inneren Führung - den Schutz der Rechte der Soldaten
und eine zeitgemäße Menschenführung - richten müssen.
({4})
Das ist der entscheidende Punkt. Es ist schon oft bei Informationen in den Truppen über Soldatenrechte gesprochen worden, aber es sind keine Taten gefolgt. Deshalb
müssen wir - die Aussagen des Wehrbeauftragten zu
diesem Punkt sind sehr klar - diesem Anliegen viel stärkeren Nachdruck verleihen.
Ich bin dem Wehrbeauftragten auch dankbar für den
zweiten Punkt, den er angesprochen hat. Dabei geht es
um den Fall der Sanitätssoldatin Christiane Ernst-Zettl,
den ich schon 2005 vorgetragen habe. Der Wehrbeauftragte hat den Fall aufgegriffen. Es geht darum, dass sich
Sanitätssoldaten geweigert haben, bei Auslandseinsätzen Wach- und Sicherungsaufgaben zu übernehmen. Sie
haben das mit dem Hinweis auf ihren Status als Nichtkombattanten abgelehnt. Der Wehrbeauftragte hat vorgeschlagen, sie aus diesem Bereich herauszunehmen. Ich
finde, die Bundesregierung ist jetzt am Zug, eine klare
Grenze zu ziehen und künftig anders zu verfahren.
({5})
Schließlich bin ich dem Wehrbeauftragten dafür
dankbar, dass er die ungenügenden sozialen und infrastrukturellen Bedingungen in der Truppe - zum Beispiel
den Zustand der Kasernen - festgestellt hat. Die Regierung sagt, dass er damit offene Türen einrennt. Das
nützt aber nichts, wenn dann an den Regierungsschreibtischen nichts passiert. Vielleicht liegt es auch daran,
dass falsche Prioritäten gesetzt werden - Stichwort Eurofighter und neue Fregatten - und deshalb kein Geld
vorhanden ist, um für die Menschen zu investieren. Der
Vorsitzende des Bundeswehr-Verbandes hat deutlich gemacht, dass es um Menschen geht. Daran muss man denken. Das gilt auch für den Verteidigungsausschuss.
Ich meine, wir sollten die überfällige Wehrsolderhöhung beschließen und die Angleichung der Gehälter im
Osten an die im Westen zu Ende bringen. Das haben die
Betroffenen nötig. Wir sollten - auch das hat der Wehrbeauftragte angeschoben - endlich Stiftungen für die
Radarstrahlenopfer einrichten. Damit ist der geschätzte
Kollege Robbe dicht dran an den Themen, die aufgegriffen werden müssen. Für die Regierung gilt das meines
Erachtens leider noch nicht. Deshalb sind wir als Parlament gefragt.
Einer allgemeinen Laudatio auf den Wehrbeauftragten schließe ich mich gerne an. Noch besser wäre es
aber, glaube ich, seine Kritik und Vorschläge zu beachten.
Danke.
({6})
Jetzt spricht Winfried Nachtwei für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich begrüße ausdrücklich, wie sehr der Wehrbeauftragte, der geschätzte Kollege Robbe, seine Besuchstätigkeit in der Bundeswehr durch unangemeldete Besuche und jeweils etwas längere Aufenthalte in den
Einsatzgebieten intensiviert hat. Das ist ausgesprochen
hilfreich.
Sie haben zu Recht die Zustände in etlichen Bundeswehrliegenschaften im Westen herausgestellt, die in der
Tat katastrophal und unzumutbar sind. Dieses Thema
wird seit etlichen Jahren immer wieder in den Berichten
des Wehrbeauftragten angesprochen, ohne dass es zu einer merklichen Besserung gekommen ist. Als Verteidigungsausschuss wollen wir - darüber besteht, glaube ich,
Konsens - nicht bis zum nächsten Jahresbericht warten,
in dem dann - wenn auch vielleicht mit leichten Abstrichen - wieder dasselbe Problem angesprochen würde.
Sie haben auch die katastrophalen Verhältnisse bei
der Unterbringung der Soldaten im Rahmen der Kongomission in Libreville und Kinshasa angesprochen. Diese
sind auch nicht damit zu begründen, dass es sich um eine
neue Mission in ganz neuen Verhältnissen handelte. Sie
waren noch weit darunter. In der Tat war die beauftragte
Privatfirma völlig überfordert, und es gelang nicht, das
rechtzeitig auszugleichen.
Allerdings ist auch ausgesprochen bedauerlich, dass
im Zusammenhang mit der berechtigten Markierung dieser Mängel der Zweck, die Wirkung und das Ergebnis
der Kongomission in der Öffentlichkeit weit in den
Schatten gestellt wurden. Insgesamt war es nämlich tatsächlich eine gute und erfolgreiche Gemeinschaftsleistung. Das wird zwar immer wieder mal vermerkt, aber
mehr nicht. Im Ergebnis war es dann leider eine
Schräglage. Das liegt nicht an Ihnen, ist aber bedauerlich.
Lassen Sie mich nun ein Kapitel ansprechen, das
mich sehr beunruhigt hat, als der Bericht vorgelegt
wurde, das in der öffentlichen Wahrnehmung aber praktisch keine Rolle spielte - auch Sie haben es heute eher
nur am Rande angesprochen, lieber Kollege Robbe -,
nämlich Mängel beim Führungsverhalten.
Ich zitiere aus Ihrem Bericht:
Fehlverhalten von Vorgesetzten ist nicht auf Einzelfälle beschränkt. Es wird auch nicht immer konsequent verfolgt und geahndet. …
Mich erschreckt, mit welcher Selbstverständlichkeit
manche Vorgesetzte selbst über die Stränge schlagen, Vorschriften missachten und die Rechte von
Kameraden und Untergebenen verletzen.
Es gibt noch weitere Zitate, die Sie auch kennen.
Besonders irritieren mich diese Feststellungen, die
deutlich über die Markierung eines Einzelfalles hinausgehen, deshalb, weil wir als diejenigen, die viel mit der
Bundeswehr und Offizieren zu tun haben, insgesamt
Gott sei Dank ein sehr positives Bild haben. Diese
Schattenseite ist also äußerst unerfreulich.
Hier spannt sich für mich auch der Bogen zur Mitgliederumfrage des Bundeswehr-Verbandes. Eine solche Gesamtbefragung, bei der ein Viertel der 210 000
Mitglieder antwortet, kann man nicht mehr als nicht repräsentativ bezeichnen. Das ist ein Basiswert, der sich
gewaschen hat. Deshalb muss man die Ergebnisse sehr,
sehr ernst nehmen.
({0})
Ich nenne noch einmal einige von ihnen: 74 Prozent
der Berufssoldaten würden ihnen nahestehenden Personen nicht mehr empfehlen, in die Bundeswehr zu gehen.
64 Prozent finden, dass die Politik den Sinn der Auslandseinsätze nicht ausreichend vermittelt. Jetzt eine
„positive“ Zahl: 3,9 Prozent fühlen sich von der Politik
unterstützt.
Mit anderen Worten: Die Politik - pauschal gesagt:
wir - verliert die Köpfe und Herzen derjenigen, die andernorts um die Köpfe und Herzen der Bevölkerung
kämpfen sollen.
Der Bericht des Wehrbeauftragten und auch die Mitgliederbefragung des Bundeswehr-Verbandes sind nach
meiner Ansicht ein Alarmruf an das Parlament.
Hier müssen wir erstens deutlich mehr Klarheit schaffen: Was wollen wir mit den Streitkräften? Was sollen
sie in Zukunft konkret tun? - Da sind wir noch viel zu
allgemein.
Zweitens brauchen wir auch selbst mehr Klarheit über
die latenten Prozesse, die nicht so direkt sichtbar sind,
die sich aber in den Streitkräften mit der Zeit entwickeln.
An dieser Stelle halte ich es für sehr angebracht, wieder die schon seit längerer Zeit im Raum stehende Forderung aufzunehmen, dass der Wehrbeauftragte erweiterte Möglichkeiten bekommt, auch diese strukturellen
Veränderungen, Einstellungsveränderungen und Wahrnehmungsveränderungen in den Streitkräften genauer zu
analysieren und auch auf Erkenntnisse des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr und des
Truppenpsychologischen Dienstes zurückzugreifen.
Dies ist zwingend notwendig, damit wir dem Risiko,
dass innere Führung von oben ausgehöhlt wird, entgegenwirken können.
In diesem Zusammenhang danke ich Ihnen und Ihren
Mitarbeitern umso mehr für Ihre Arbeit. Sie ist für uns
von entscheidender Bedeutung.
Danke.
({1})
Der Herr Bundesminister Dr. Franz Josef Jung hat das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lassen Sie mich zu Beginn dem Wehrbeauftragten sowie seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erstens für den Bericht und zweitens für die gute Zusammenarbeit herzlich danken. Es ist zwar richtig, dass der
Wehrbeauftragte im Auftrag des Bundestages tätig ist.
Aber er befördert auch die Interessen der Bundeswehr.
Herzlichen Dank für die Wahrnehmung Ihrer Aufgabe
und Ihre Arbeit, Herr Wehrbeauftragter.
Lassen Sie mich zwei weitere Bemerkungen machen,
bevor ich auf die Einzelheiten des Berichtes kurz eingehe.
Die Institution des Wehrbeauftragten ist eine Errungenschaft unserer Demokratie. Er hat eine klare Kontrollfunktion - in Unterstützung des Deutschen Bundestages im Hinblick auf die Beachtung der Grundrechte der Soldaten und die Umsetzung der Grundsätze der inneren
Führung. Das sind wichtige Gesichtspunkte, die immer
wieder hervorzuheben sind, wenn es um die Bewältigung
der Aufgaben durch die Bundeswehr geht. Das Amt hat
sich großes Vertrauen bei den Soldatinnen und Soldaten
erworben. Es ist Voraussetzung für die Arbeit des Wehrbeauftragten, dass sich die Angehörigen der Bundeswehr
an ihn wenden und ihm sagen, was ihnen unter den Nägeln brennt, damit wir die Chance haben, nicht nur über
einen solchen Bericht zu diskutieren, sondern auch auf
die Einzelheiten einzugehen und die berechtigten Kritikpunkte aufzunehmen und abzubauen.
Ich will auf einzelne Bereiche eingehen. Erstens.
Wenn unsere Soldatinnen und Soldaten wie beispielsweise im Afghanistaneinsatz - dieser wurde bereits angesprochen - auf bewundernswerte Art und Weise einen
Beitrag zur Gewährleistung von Stabilität, Frieden und
letztlich unserer Sicherheit leisten, ist es wichtig, dass
sie ausreichend ausgebildet und gut ausgerüstet sind und
die Grundvoraussetzungen für solche Einsätze erfüllt
sind.
({0})
Ich habe im letzten Jahr angeordnet, dass man in Afghanistan nur noch mit geschützten Fahrzeugen fährt. Dies
war ein richtiger Schritt, gerade wenn ich mir die aktuellen Anschläge vor Augen führe. Ich sage das, weil Sie
vorgetragen haben, wir hätten nicht die notwendigen
Schutzmaßnahmen ergriffen und die Soldaten verfügten
nicht über die entsprechende Ausrüstung.
Ich möchte das aufgreifen, was der Wehrbeauftragte
gesagt hat. Auch ich habe Kunduz besucht. Im PRT in
Kunduz ist unsere Arbeit auf hervorragende Art und
Weise im Hinblick auf vernetzte Sicherheit umgesetzt.
Dort gibt es - bis in das einzelne Dorf - Projekte, die der
afghanischen Bevölkerung deutlich zeigen, dass wir unterstützend tätig sind und den Menschen helfen wollen.
Nach dem Anschlag hat es eine breite Solidarisierung
mit unseren Soldaten gegeben. Wir haben nach Einschätzung unserer Soldaten 95 Prozent der Bevölkerung auf
unserer Seite. Das ist der richtige Weg, die Arbeit in Afghanistan fortzusetzen.
Ich kann nur unterstreichen, was der Wehrbeauftragte
im Hinblick auf die Veröffentlichung der Fotos von verwundeten Soldaten gesagt hat. Diese Fotos haben Betroffenheit bei den Soldaten hervorgerufen. Ich habe
mich an alle Zeitungen und öffentlich-rechtlichen Medien gewandt, die diese Fotos veröffentlicht haben. Einige haben deutlich reagiert und sich entschuldigt. Andere haben versucht, das zu rechtfertigen. Ich finde, die
Art und Weise der Veröffentlichung dieser Bilder ist
nicht zu rechtfertigen. Wir müssen in Zukunft mehr
Rücksicht auf die Gefühle der Menschen nehmen.
({1})
Zweitens. Mit Betroffenheit und Entsetzen haben die
Soldaten aufgenommen, dass Herr Lafontaine, Vorsitzender der Linken, ihre Tätigkeit mit den Aktivitäten
von Terroristen gleichgesetzt hat. Ich finde, Herr Lafontaine müsste sich sofort entschuldigen. Das ist verantwortungslos. Er betreibt damit das Geschäft derjenigen, die sich terroristisch gegen uns wenden. Das ist mit
allem Nachdruck zurückzuweisen.
({2})
Drittens. Wir werden selbstverständlich die Kasernen
in die Prioritätenliste aufnehmen und für Verbesserungen
sorgen.
Eines ist schon wahr: Man kann nicht immer mehr
Leistungen von unseren Soldaten verlangen, wenn die
sozialen Rahmenbedingungen nicht stimmen. Um hier zu
Verbesserungen zu kommen, brauchen wir eine zusätzliche finanzielle Unterstützung. Ich bitte den Deutschen
Bundestag - wir werden alsbald in die Haushaltsberatungen eintreten - um eine entsprechende Unterstützung,
weil wir nur dann unsere Aufgaben ordnungsgemäß erfüllen und unserem Auftrag gerecht werden können,
wenn wir die notwendigen finanziellen Grundlagen haben.
({3})
Ich will nun einen Gesichtspunkt ansprechen, der im
Bericht Erwähnung findet, der hier aber noch nicht angesprochen wurde. In den vergangenen Jahren wurde entschieden, dass sich Frauen über den Bereich Sanitätsdienst hinaus in der Bundeswehr engagieren können.
Wir haben eine sehr gute Entwicklung. Es gibt mittlerweile fast 13 000 Frauen in der Bundeswehr, die in hervorragender Art und Weise ihren Dienst leisten. Wir sind
selbstverständlich jetzt gefordert, das Thema Familie
und Beruf voranzutreiben. Durch die Frauen erfahren
wir in den Auslandseinsätzen eine beispielhafte Unterstützung. Deshalb möchte ich an dieser Stelle deutlich
sagen, dass sich das Engagement der Frauen in der Bundeswehr positiv auf die Arbeit der Bundeswehr ausgewirkt hat.
({4})
Bei all den Mängeln, die hier zu Recht angesprochen
worden sind, darf nicht das vergessen werden - wir reden hier über den Jahresbericht 2006 -, was an zusätzlichen Aufgaben auf die Bundeswehr zukam. Als wir die
Regierung gebildet haben, hat noch niemand daran gedacht, dass im Jahr 2006 ein Einsatz im Kongo zu bewältigen war. Dieser wurde hervorragend durchgeführt.
({5})
Trotz der Punkte, die man unter „lessons learned“ fassen kann, will ich unterstreichen, was Herr Nachtwei gesagt hat. Wir haben die demokratischen Wahlen abgesichert und unsere Mission in dem vorgesehenen Zeitraum
abgeschlossen. Wir haben erfolgreich dafür gesorgt, dass
es keinen Rückfall in den Bürgerkrieg gab. Es war also
eine erfolgreiche Mission im Kongo, die vonseiten Europas durchgeführt wurde und an der die Bundeswehr beteiligt war.
({6})
Es gab einen weiteren zusätzlichen Einsatz, nämlich
die UNIFIL-Mission vor der Küste des Libanons. Es
gab auch im Innern Einsätze. Ich nenne beispielsweise
die Stichworte Schneekatastrophe, Vogelgrippe, Hochwasser und Fußballweltmeisterschaft, wo wir auf dem
Gebiet der Sicherheit mitgeholfen haben. Dies bedurfte
eines enormen zusätzlichen Engagements der Bundeswehr. Man kann daran erkennen, dass unsere Bundeswehr leistungsfähig und einsatzfähig ist und ihren Auftrag im Hinblick auf eine friedliche Entwicklung gerade
in den Auslandseinsätzen hervorragend erfüllt.
Bei all den Mängeln, die noch abzustellen sind, sollten wir für das Engagement dankbar sein, das unsere
Soldatinnen und Soldaten für unsere Sicherheit und damit für Frieden und Freiheit in der Welt zeigen.
Besten Dank.
({7})
Zum Abschluss der Debatte spricht Petra Heß für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Robbe! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es ist wohl allen klargeworden, dass auch der 48. Bericht des Wehrbeauftragten
zeigt, dass die Angehörigen der Bundeswehr sehr großes
Vertrauen in diese Institution haben. Das ist gut so. Denn
unsere Soldatinnen und Soldaten wenden sich sehr
selbstbewusst und mit einer großen Portion Selbstverständlichkeit mit ihren Anliegen an unseren Wehrbeauftragten. Mit ihrem Eingabeverhalten unterstreichen sie,
dass sie verantwortungsvolle Staatsbürger in Uniform
sind.
Unsere Soldatinnen und Soldaten erfüllen in dieser
schwierigen Phase der Transformation, in der sie sich
jetzt befinden, nicht nur ihre Pflicht, sondern sie begleiten den Prozess kritisch und tragen dazu bei, dass sich
bei der Bundeswehr vieles im positiven Sinne entwickelt. Der Bericht gibt Einblick in das Innenleben der
Streitkräfte, und - auch das will ich nicht verhehlen - er
hält damit nicht nur der militärischen Führung, sondern
auch der Politik den Spiegel vors Gesicht.
Ich will zunächst den Fokus auf den Sanitätsdienst
richten. Wie schon in den vergangenen Jahren ist die sanitätsdienstliche Lage der Bundeswehr im Inland weiterhin sehr angespannt. Die medizinische Versorgung der
Soldatinnen und Soldaten im Inland, insbesondere die
klinische Versorgung, war im Berichtsjahr zum Teil erheblich beeinträchtigt. So waren zum Beispiel im Jahresmittel etwa 135 Ärzte permanent in Auslandseinsätzen
gebunden. Besonders in den Bundeswehrkrankenhäusern führte dies zu ganz problematischen Personalengpässen bei Ärzten und bei Sanitätern. Erneut mussten
auch im zurückliegenden Jahr in allen Bundeswehrkrankenhäusern Operationssäle vorübergehend geschlossen
werden. Das heißt nicht, dass Notfälle nicht behandelt
werden konnten oder unbehandelt blieben. Aber es gehört auch hier zur Ehrlichkeit, zu sagen: Nicht akute Behandlungen mussten mitunter verschoben, oftmals weit
verschoben werden.
Neben den personellen Engpässen im klinischen Bereich kommt es mittlerweile auch zu Engpässen im Bereich der truppenärztlichen Versorgung und in den regionalen Sanitätseinrichtungen. Grund ist auch hier die
starke Beanspruchung der medizinischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durch Auslandseinsätze. Grund ist
aber auch - der Minister ist gerade darauf eingegangen -,
dass es gerade im Sanitätsdienst eine verhältnismäßig
hohe Anzahl von Frauen gibt, teilweise über 50 Prozent. Das ist gut so, und das ist politisch gewollt. Aber
auch hier muss man sagen: Den Spiegel vor das Gesicht
halten, heißt, dass wir bei der Dienstpostenbesetzung
entsprechende Rahmenbedingungen schaffen und diese
ändern müssen, wenn wir weiterhin einen entsprechend
hohen Frauenanteil in den Streitkräften wünschen; denn
da, wo viele Frauen sind, hat man eine wesentlich geringere Tagesantrittsstärke. Frauen in den Streitkräften entscheiden sich nämlich auch während ihrer Dienstzeit für
Kinder. Das ist gut so, das ist richtig, und das wollen wir.
({0})
Sie sind aber damit für Auslandseinsätze über Jahre hinaus erst einmal nicht verfügbar, oder sie nehmen nach
der Gründung der Familie Teilzeit in Anspruch. Auch
das ist politisch gewünscht, aber man muss dann bei der
notwendigen Dienstpostenbesetzung entsprechend reagieren.
Mit der aktuell stattfindenden Reduzierung der Zahl
der Bundeswehrkrankenhäuser auf vier Bundeswehrkrankenhäuser und ein Kooperationsmodell wird eine
Bündelung der medizinischen Ressourcen einhergehen,
die insbesondere eine bessere personelle Ausstattung erwarten lässt. Auch die Personalstruktur im Bereich der
Sanitätsoffiziere zeigt Gott sei Dank in den letzten Jahren ein kontinuierliches Wachstum. Im Berichtsjahr waren das genau 11 Prozent. Die Anpassung der Qualifikation des Rettungs- und Pflegepersonals an die Standards
im zivilen Gesundheitswesen macht eine zweijährige
Aus- und Weiterbildung der Sanitätsunteroffiziere notwendig. Auch das verschärfte im Berichtsjahr die Personalsituation zusätzlich. Die Rückkehr der Sanitätsunteroffiziere von ihrer zweijährigen zivilen Ausbildung im
Laufe der nächsten Jahre wird die personelle Situation
hingegen weiter verbessern. Sie sehen, es gibt viel Bewegung in diesem gesamten Prozess.
Ich will nicht unerwähnt lassen, dass die Umgliederung der Krankenhäuser auf einsatzorientierte Strukturen
auch in Zukunft weiter erhebliche Engpässe auch beim
zivilen Pflegepersonal mit sich bringen wird. Von ehemals 5 500 Pflegekräften sieht die Zielstruktur des
Personalmodells 2010 gerade einmal 2 650 verbleibende
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor. Notwendig wären
aber aus Sicht des Sanitätsdienstes mehr als 3 200. Hier
muss man sich schon fragen: Können wir die Transformation an den tatsächlichen Bedürfnissen der Soldaten
vorbei durchsetzen, oder müssen verschiedene Punkte
eventuell neu verhandelt werden? Hier sind natürlich
auch die militärischen Führer aufgerufen, die im Rahmen der Transformation notwendigen Maßnahmen und
Veränderungen immer wieder zu kommunizieren und zu
erklären. Auch an dieser Stelle möchte ich sagen: Trotz
der hohen Belastung, trotz der schwierigen Situation, die
die Sanitätsoffiziere und Sanitätsunteroffiziere haben,
macht der Sanitätsdienst ganz besonders im Ausland einen hervorragenden Job und ist international anerkannt.
Das verdient unseren Respekt.
({1})
Einige wenige Ausführungen noch zur Unterbringung: Hier wurde erneut ein massiver Sanierungsbedarf
festgestellt, besonders bei den Unterkunftsgebäuden.
Ich kann hier für meine Fraktion erklären, dass wir uns
sehr engagiert in die Haushaltsverhandlungen einbringen
werden und deutliche Signale aussenden werden, um gerade im Bereich der Unterbringung dazu beizutragen,
dass der Soldatenberuf attraktiver und für die zukünftigen Generationen ein Beruf wird, der hoch anerkannt
wird.
Frau Heß, Sie hätten schon zum Ende kommen müssen.
Unzumutbare Unterkünfte und mangelnde Sanitäreinrichtungen transportieren wahrlich nicht das gewünschte
Bild der Bundeswehr nach außen.
Ich möchte dem Wehrbeauftragten noch einmal ganz
herzlich danken. Besonders danke ich allen Soldatinnen
und Soldaten, die ihren Dienst sehr pflichtbewusst leisten. Viele wissen es: Ich bin zugleich Reservistin.
Frau Heß, Sie haben jetzt keine Zeitreserve mehr.
Es beruhigt mich ungemein, dass ich im Falle eines
Falles - wenn ich bei der Bundeswehr bin und in eine
schwierige Situation komme - auf die Institution des
Wehrbeauftragten setzen kann.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/4700 an den Verteidigungsausschuss
vorgeschlagen. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Hans-Michael
Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan,
Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der FDP
Eckpunktevereinbarung zum Einsatz von
Erntehelfern in der Landwirtschaft grundle-
gend überarbeiten
- Drucksachen 16/2685, 16/5170 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Mortler
Hans-Michael Goldmann
Ulrike Höfken
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Brigitte Pothmer, Ulrike Höfken, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Qualifizierung statt Quoten - Vermittlungsagenturen für landwirtschaftliche und andere
grüne Berufe
- Drucksachen 16/2991, 16/3376 Berichterstattung:
Abgeordnete Gitta Connemann
Nach einer Verabredung zwischen den Fraktionen soll
die Aussprache eine halbe Stunde dauern. - Damit sind
Sie einverstanden. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Marlene Mortler für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Eine Aussage unserer Großen Koalition lautete 2005: Bei 5 Millionen bisherigen Arbeitslosen in Deutschland muss es locker möglich sein, dass
20 Prozent der ausländischen Saisonarbeitskräfte vom
deutschen Arbeitsmarkt kommen. Wie ist die Situation
heute? Trotz größter politischer Anstrengungen, trotz geänderter und verbesserter Dienstanweisungen vonseiten
der Bundesagentur für Arbeit an die Argen, trotz williger
Arbeitskräfte, trotz Probe und Vorbereitungskursen, trotz
Durchhalteprämien und Shuttleservice, trotz Bewerberpool, trotz der hervorragenden Vermittlungsbemühungen
der Argen ist die tatsächliche Vermittlungsquote ernüchternd.
({0})
Eine neue, eine grüne Vermittlungsagentur ist aus meiner Sicht überflüssig.
({1})
Auch wenn wir hier nicht in der Fragestunde sind,
frage ich mich schon, ob der bisherige personelle Aufwand der Behörden in einem angemessenen Verhältnis
zum Ergebnis steht. Laufen wir der Entwicklung des
Marktes nicht ständig hinterher? Verfehlen wir nicht die
Eckpunkte? Wir Praktiker wissen, dass das Zeitfenster,
innerhalb dessen über Wohl und Wehe einer Ernte entschieden wird, verdammt eng ist.
({2})
Der Markt ist gnadenlos. Die Frage, wie man erntet,
wann man erntet, mit wem man erntet und wie viel man
erntet, hängt eben nicht nur vom Wetter ab, sondern von
unserer politischen Beweglichkeit. Deshalb plädiere ich
für mehr Beweglichkeit im Sinne von mehr Planungssicherheit für unsere Sonderkulturbetriebe.
Der polnische Saisonarbeitnehmer geht inzwischen
lieber nach Holland oder nach Großbritannien. Das mag
an der Bezahlung liegen.
({3})
Es liegt sicherlich aber auch daran, dass er in diesen
Ländern unbefristet arbeiten und zwischen den Arbeitgebern wechseln kann; Stichwort Flexibilität.
({4})
Aufgrund der Kenntnis der Praxis habe ich eine Bitte
an die Bundesregierung - ich habe noch heute mit mehreren betroffenen Betrieben gesprochen, und ich bin mit
ihnen ständig in Kontakt -: Bitte sorgen Sie schnell dafür, dass dort, wo die Arbeitslosenquote unter dem Bundesdurchschnitt liegt, automatisch die 100-ProzentRegelung gilt und dass der Austausch von Saisonarbeitskräften zwischen den Betrieben möglich wird. Überprüfen Sie außerdem eine Verlängerung des Beschäftigungszeitraums!
Ich bedanke mich ganz herzlich.
({5})
Dr. Edmund Geisen bekommt das Wort für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Es ist für mich überraschend - das gebe ich zu -, aber
wahrscheinlich auch für alle erstaunlich, dass die Damen
und Herren des Ministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz hier nicht vertreten sind.
({0})
Das war bei diesem Thema bisher anders. Ich habe aber
sehr gut verstanden, dass Sie das jetzt auf eine andere
Schiene bringen wollen; das weiß ich nun. Ich wollte Sie
nur darauf hinweisen: Obwohl der Antrag aus unserem
Agrarausschuss kommt, ist niemand aus dem Ministerium mehr daran interessiert.
Die FDP hat stets das Scheitern der Erntehelferregelung vorausgesagt.
({1})
Die Koalitionsfraktionen haben stets das Verfahren verteidigt und unsere Hinweise ignoriert. So war das bisher.
({2})
Seit die schwarz-rote Regierung im Amt ist, ist die
Zahl der ausländischen Arbeitnehmer in diesem Bereich
um 18 Prozent gesunken. Das hat den Sonderkulturbetrieben sehr geschadet - und den in- und ausländischen
Saisonarbeitern ebenso.
({3})
Die Eckpunkteregelung ist ein Skandal. Wenn die Bundesregierung noch ein Jahr an diesem missratenen Experiment festhält, wird das viele Sonderkulturbetriebe in
diesem unserem Land die Existenz kosten.
({4})
Wir brauchen geeignete Erntehelfer und -helferinnen in
ausreichender Zahl, frühzeitig planbar, ohne Bürokratismus.
({5})
Die FDP fordert die Bundesregierung auf, schon jetzt,
also frühzeitig, alles daranzusetzen, damit dies in der Zukunft gelingt. Viele Verbraucherinnen und Verbraucher
wollen weiterhin gesundes und gutes Obst, Gemüse und
Weintrauben vom heimischen Boden, auch aus Klimaschutzgründen. Das ist aber nur möglich, wenn die Sonderkulturbetriebe weiter produzieren können.
Ich hoffe, dass nun endlich alle meine Kritiker von
CDU/CSU und SPD erkannt haben, dass wir von der
FDP das Scheitern der bisherigen Regelung zu Recht vorausgesagt haben. Schade, dass Sie die Suche nach besseren Lösungen stets blockiert haben.
({6})
Nun ist es fünf vor zwölf.
({7})
Drängen Sie Ihre verantwortlichen Minister Müntefering
und Seehofer, deren Werk diese verkorkste Erntehelferregelung ist, endlich so zu handeln, dass die Betriebe
weitermachen können und dass von weither importiertes
Obst und Gemüse sowie importierte Weintrauben unsere
Märkte nicht vollständig erobern.
({8})
Es ist ein Witz, die Probleme des deutschen Arbeitsmarkts auf den Spargelfeldern lösen zu wollen.
({9})
Staatliche Zwangsmaßnahmen auf dem Rücken der
Landwirte sind doch keine Lösung.
Während der heute zu diskutierende FDP-Antrag von
CDU/CSU und SPD wieder abgeschmettert werden
wird, spielen immer mehr Vertreter dieser Parteien in
Bund und Ländern Opposition und fordern selbst eine
Korrektur.
({10})
Sogar gestern im Ausschuss standen fast alle Unionspolitiker und -politikerinnen hinter uns.
({11})
Das ist doch blanker Populismus.
({12})
Auf einmal kritisiert die CDU/CSU die Missstände, die
sie selbst geschaffen hat. Diese Doppelzüngigkeit dürfen
sich die Landwirte nicht länger gefallen lassen.
({13})
Schöne Worte bringen rein gar nichts. Praxisferne und
planwirtschaftliche Erntehelferregelungen müssen endlich weg.
({14})
Ich fordere die Kritiker aus Ihren eigenen Reihen auf,
endlich Farbe zu bekennen. Werden Sie wenigstens mit
einer Bundesratsinitiative aktiv!
Die hohen bürokratischen Hürden schrecken nicht
nur die deutschen Landwirte und Winzer ab, auch für die
polnischen Saisonarbeiter ist es inzwischen einfacher, in
den Nachbarstaaten zu arbeiten.
({15})
Dort werden sie mit offenen Armen empfangen. Hier
müssen sie sich erst durch einen Bürokratiedschungel
kämpfen. Hier könnte Minister Seehofer übrigens seinen
Willen, den versprochenen Bürokratieabbau vorzunehmen, konkret unter Beweis stellen.
Meine Damen und Herren, die jetzige Regelung passt
überhaupt nicht in ein Europa der offenen Grenzen. Die
FDP fordert erneut, die verschärfte Kontingentierung der
ausländischen Saisonarbeitskräfte aufzuheben. Statt einer Kontingentierung muss die Arbeitnehmerfreizügigkeit auch in Deutschland möglichst schnell, vor 2011,
umgesetzt werden.
({16})
Das fordert inzwischen auch der Bauernverband, wie
heute der Presse zu entnehmen ist.
({17})
Auch der vorliegende Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen ist nicht zielführend. Die Institutionen zur Qualifizierung sind da; ich erinnere an die Landwirtschaftskammern oder die Maschinen- und Betriebshilfsringe als
Dienstleister für die Landwirtschaft. Noch mehr Agenturen brauchen wir nicht. Das wäre gleichbedeutend mit
mehr Bürokratie. Das lehnt die FDP ab. Es müssen vielmehr Rahmenbedingungen geschaffen werden, die den
Anbau von Obst, Gemüse und Wein wie bisher in
Deutschland ermöglichen.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.
Ich komme zum Schluss. - Andernfalls kommt es zur
Produktionsaufgabe im Inland und zur Verlagerung des
Anbaus ins Ausland. Damit ist dem deutschen Arbeitsmarkt erst recht nicht gedient. Die Verantwortung in dieser Frage liegt allein bei Schwarz-Rot.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Koalition,
zwingen Sie Ihre Minister, endlich die Wirklichkeit in
der Landwirtschaft anzuerkennen und den Weg für
grundlegende Korrekturen frei zu machen! Heben Sie
die Arbeitsbeschränkungen für Erntehelfer aus den EULändern endlich auf!
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.
Vielen Dank für Ihren Hinweis und danke für die
Aufmerksamkeit.
({0})
Elvira Drobinski-Weiß spricht jetzt für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß schon, warum das BMELV hier nicht vertreten ist: Wir diskutieren
nämlich zum wiederholten Male über diese olle Kamelle
Saisonarbeitskräfte. Der Kollege Geisen trägt hierzu die
immer gleichen Ausführungen bei. Nur weil er sie wiederholt, werden sie aber ganz gewiss nicht richtiger. Das
haben wir auch gestern im Ausschuss so festgestellt. Ich
kann mich nicht erinnern, dass wir alle uns hinter Ihren
Antrag gestellt hätten. Ich weiß nicht, in welchem Ausschuss Sie waren.
({0})
Also schon wieder das Thema Saisonarbeitskräfte:
Der Zeitpunkt, darüber zu reden, könnte günstiger nicht
sein; denn sowohl die Spargel- als auch die Erdbeerern10826
ten sind aufgrund der diesjährigen Witterung entweder
bereits abgeschlossen oder liegen in den letzten Zügen.
Wir müssen uns also nicht wie im letzten Herbst in Prozentrechnung üben, sondern können die bereits vorhandenen Daten analysieren.
Zuvor möchte ich noch einmal kurz auf Folgendes
hinweisen: erstens auf die Ziele der Eckpunkteregelung,
zweitens auf die Ergebnisse der Monitoringgruppe für
das Jahr 2006 und drittens auf den Handlungsbedarf, der
sich daraus für das Jahr 2007 ergab.
In Anbetracht der nach wie vor hohen Arbeitslosenzahlen in Deutschland war und ist es unser Ziel, das
inländische Beschäftigungspotenzial für landwirtschaftliche Saisontätigkeiten stärker zu erschließen
({1})
und trotzdem den Betrieben die notwendige Sicherheit
für ihre Personalplanungen zu geben. Im Jahr 2006 fielen die Ergebnisse regional sehr verschieden aus. Es gibt
genug Beispiele, wo es bereits im ersten Jahr geklappt
hat. Ich habe schon im Oktober 2006 unter anderem die
Erfolge der Arbeitsfördergesellschaft Ortenau aus meinem Wahlkreis vorgestellt. Es handelt sich wohlgemerkt
um einen Kreis mit einer Arbeitslosenquote von aktuell
unter 5 Prozent. Die Vermittlungsbemühungen waren
hier trotz geringen bürokratischen Aufwands erfolgreich. Im April dieses Jahres haben wir die Arbeitsagentur in Neuruppin besucht und gesehen, dass es auch in
dieser Region möglich ist, die Quote von 20 Prozent
nichtausländischer Erntehelfer zu erreichen. - Sie brauchen nicht den Kopf zu schütteln, Herr Kollege Geisen.
Das waren die Ergebnisse unseres dortigen Besuchs.
({2})
Gleichwohl wissen wir, dass es insbesondere in Regionen mit relativ niedriger Arbeitslosigkeit zu Problemen kam. So wurde als Handlungsbedarf für dieses Jahr
festgehalten, dass die öffentlichen Vermittlungstellen
ihre Anstrengungen im Hinblick auf eine passgenaue
Vermittlung weiter verstärken sollen und die Möglichkeit zur Beauftragung Dritter intensiver genutzt werden
soll. Außerdem müssen die Kontakte zu bzw. die Kooperationen mit den Arbeitgebern verbessert werden.
Die Arbeitgeber ihrerseits bekannten sich zur Notwendigkeit der vertrauensvollen und konstruktiven Zusammenarbeit mit den öffentlichen Arbeitsvermittlungen. Insbesondere wurde die rechtzeitige Meldung des
saisonalen Kräftebedarfs vereinbart. Das hat auch geklappt. Anfang April wies die Bundesagentur für Arbeit
ihre Agenturen zusätzlich an, insbesondere in Regionen
mit geringer Arbeitslosigkeit und hohem Bedarf an Saisonarbeitskräften die Vermittlung von ausländischen
Erntehelfern zu erleichtern.
({3})
Ich weiß nicht, ob Ihnen das entgangen ist.
Alle diese Punkte spielen eine Rolle, wenn man wie
jetzt seitens des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales die vorgelegten Daten betrachtet. Darin heißt es:
Die Zahl der Zulassungen von ausländischen Arbeitskräften in der Landwirtschaft wird dieses Jahr
voraussichtlich genauso hoch ausfallen wie 2006.
Während die Zahl der polnischen Saisonarbeitskräfte
- die Gründe sind uns alle mittlerweile bekannt weiter rückläufig ist, ist eine Zunahme der Zahl der
rumänischen Arbeitskräfte zu verzeichnen.
Hier möchte ich an die skandalösen Beschäftigungsverhältnisse, geschehen in Donauwörth, wo mehr als
100 rumänische Arbeitskräfte für 1 Euro bis 1,20 Euro
({4})
gearbeitet haben, erinnern.
Für viel bedeutender für die heutige Diskussion halte
ich, Herr Kollege Geisen, Folgendes: 33 500 Arbeitslose
sind im Bewerberpool erfasst. In diesem Jahr fehlen
aber die Stellenangebote aus der Landwirtschaft und
dem Gartenbau. 33 500 Arbeitslose, die bewusst ausgesucht und oft bereits durch die Agenturen qualifiziert
wurden, werden gar nicht nachgefragt. So ist es. Gleichzeitig bekundeten einige Betriebe lautstark in der Presse
- denen sind Sie auf den Leim gegangen -, dass der
Spargel auf dem Feld bleiben muss und die Erdbeeren
vergammeln, weil angeblich nicht genügend Saisonarbeitskräfte zur Verfügung stehen. Gebetsmühlenartig
wird sofort wieder die Abschaffung der Eckpunkteregelung verlangt.
({5})
In geprüften Einzelfällen waren weder das Kontingent
an ausländischen Beschäftigten ausgeschöpft noch waren freie Stellen für Inländer gemeldet. Das sind die Zahlen, die stimmen.
Sehr geehrte Damen und Herren, das zeigt deutlich:
Die Agenturen nehmen ihre Aufgaben mit viel Engagement wahr. Die Einrichtung zusätzlicher grüner Agenturen, wie von Bündnis 90/Die Grünen gefordert, halte ich
deswegen zumindest derzeit noch nicht für zielführend.
Wie wir mit der Eckpunkteregelung nach 2007 umgehen werden, entscheiden wir nach Analyse der Ergebnisse der Obsternte und Weinlese in intensiven Diskussionen. Klar ist jedoch: Die Eckpunkteregelung ist besser als ihr Ruf. Ich appelliere an die Arbeitgeber, ihrer
gesellschaftlichen Verpflichtung nachzukommen und
verstärkt wieder freie Stellen für inländische Arbeitskräfte zu melden.
Dass wir natürlich den Antrag der FDP ablehnen, ist
völlig klar.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Es spricht jetzt Kirsten Tackmann für Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Das Problem Saisonarbeit ist
Teil eines sehr zentralen Themas: Wir brauchen dringend
Arbeitsplätze in den Dörfern, und zwar existenzsichernde. Wenn wir alles so weiterlaufen lassen, dann stehen wir zunächst in Ostdeutschland, aber später auch
woanders vor der ernsthaften Frage: Wollen wir uns damit abfinden, dass Dörfer aufgegeben werden? Die reale
Abwanderung von jungen Frauen war ja gerade Thema.
Meine These ist: Sie wandern nicht nur der Arbeit hinterher. Sie gehen auch, weil der Abbau der sozialen und
kulturellen Infrastruktur ihre Teilhabe an der Gesellschaft nicht mehr ermöglicht.
Zu dieser Debatte gehört ein weiterer Trend: die steigende Zahl nur noch saisonal verfügbarer Arbeitsplätze
in den Dörfern. Wollen wir die Dörfer erhalten, muss die
Arbeit so organisiert werden, dass sie zur Existenzsicherung in der Region beitragen kann.
({0})
Das gilt auch und besonders für die Arbeitsplätze in der
Ernte von Sonderkulturen.
Für uns Linke ist die Grundforderung klar: Von Arbeit muss man leben können.
({1})
Das ist leider nicht selbstverständlich. Im Mai 2007 berichtete die Bundesagentur für Arbeit, dass mindestens
500 000 Menschen in diesem Lande trotz Arbeit ALG II
beziehen.
Wohin es führt, wenn man die Verhandlungen über
den Preis der Arbeitskraft dem Markt überlässt, zeigt der
Fall aus Donauwörth, über den gerade meine Kollegin
Drobinski-Weiß berichtet hat. 118 Rumänen wurden für
1 Euro pro Stunde unter unwürdigen Bedingungen zur
Ernte eingesetzt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen
Verdachts des Menschenhandels zur Ausbeutung von
Arbeitskräften. Sicher, das ist ein Extrembeispiel. Aber
auch 3,80 oder 6 Euro sind angesichts der Schwere dieser Arbeit und der Kurzzeitigkeit des Verdienstes kein
fairer und schon gar kein existenzsichernder Lohn.
({2})
Die Hauptfaktoren für das Fehlen der Saisonarbeitskräfte sind aus unserer Sicht erstens die geringen Löhne
und zweitens die schweren Arbeitsbedingungen. Daher
bleibt für Die Linke die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn, und zwar in allen Bereichen der
Landwirtschaft.
({3})
Gestern konnten wir erfahren, dass bei den Milchbauern
sogar bei Familienbetrieben der nicht faire Milchpreis
zur Selbstausbeutung führt.
({4})
Die Linke fordert außerdem Überlegungen zur Verstetigung von saisonaler Arbeit. Auch Saisonarbeitskräfte brauchen schließlich eine soziale Absicherung.
Wir haben dazu einen Antrag vorgelegt, der die sehr guten Erfahrungen mit Arbeitgeberzusammenschlüssen in
Frankreich aufgreift. Darüber sollten wir nach der Sommerpause dringend reden.
Zum Antrag der FDP. Inzwischen ist doch völlig klar,
dass nicht die 10 Prozent einheimischen Arbeitskräfte,
die für die Saisonarbeit eingestellt werden müssen,
schuld sind, wenn die Ernte nicht eingeholt werden
kann. Viele Betriebe in Brandenburg, die mit 100 Prozent Einheimischen die Ernte in die Scheuer fahren, zeigen doch, dass das geht. Das Problem ist: Die zugelassenen 90 Prozent Erntehelfer aus der EU kommen nur
noch begrenzt, weil die Löhne zu niedrig sind.
Jetzt die Lohndumpingkarawane weiterziehen zu lassen, ist aus unserer Sicht völlig absurd. Wir Linken fragen
außerdem: Mit welchem Recht sollten für ukrainische
oder rumänische Saisonarbeitkräfte andere Bedingungen
gelten als für unsere eigenen?
({5})
Die Gewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt hat gerade
ein Zertifizierungssystem für faire Saisonarbeit erarbeitet. Das halten wir für den richtigen Weg. Selbst der hessische Bauernverband gesteht ein, dass es wohl mittelfristig darauf hinauslaufen wird, dass die Löhne steigen
müssen.
Die Linke teilt die Forderungen aus dem Antrag der
Grünen: Wir brauchen ein Anreizsystem, eine faire Entlohnung, faire Unterbringungs- und Arbeitsbedingungen, eine Verbesserung der Vermittlung von Saisonarbeitskräften und eine koordinierte, bedarfsgerechte Ausund Weiterbildung. Die Linke spricht sich klar für eine
branchenübergreifende Vernetzung saisonaler Arbeitsmöglichkeiten in den Dörfern aus, vom Forstbetrieb über
Gartenbau und Landwirtschaft bis zum Hotel oder zu
Kfz-Werkstätten. Dazu können die vorgeschlagenen grünen Agenturen durchaus beitragen.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns
nach der Sommerpause dringend über Arbeitgeberzusammenschlüsse reden! Das ist sicherlich der bessere
Weg.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Brigitte Pothmer spricht jetzt für Bündnis 90/Die
Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Anders
als die FDP-Fraktion und - wenn ich mir die Rede von
Frau Mortler noch einmal in Erinnerung rufe - ganz offensichtlich auch anders als die CDU/CSU-Fraktion halten wir das Ziel, deutsche Arbeitslose auch für die Erntearbeit zu gewinnen, im Prinzip für richtig.
({0})
Wir glauben allerdings, dass die Wege, die von der Großen Koalition und von dieser Regierung eingeschlagen
worden sind, letztlich ungeeignet sind. Diesen Versuch
gab es ja immer wieder einmal, in den vergangenen Jahren. Ich finde es eigentlich schade, dass Sie aus den Erfahrungen vergangener Versuche so wenig gelernt haben.
Auch landwirtschaftliche Betriebe sind zum Teil
hochtechnisiert und müssen sehr effektiv arbeiten, weil
sie sonst ihre wirtschaftliche Grundlage gefährden. Aus
diesem Grund brauchen sie wie jeder andere Betrieb motivierte und qualifizierte Beschäftigte. Deswegen glaube
ich, dass eine Sonderregelung für landwirtschaftliche
Betriebe in der Sache nicht richtig ist.
Auch wenn ich hier nicht alle Schlagzeilen, die es gegeben hat - zum Beispiel „Spargel verfault auf den Feldern“, „Erdbeeren werden nicht abgeerntet“ -, wiedergeben will, lässt sich aber doch nicht bestreiten, dass die
derzeitige Regelung nicht wirklich funktioniert und dass
es immer wieder zu erheblichen Problemen kommt. Das
können auch Sie nicht bestreiten. Es ist sogar durch den
Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundeslandwirtschaftsminister Gerd Müller - wenn Sie so wollen: regierungsamtlich - festgestellt worden. Frau Mortler hat
dies im Grunde hier bestätigt.
Weil wir uns in dem Ziel einig sind und es im Prinzip
richtig finden, was Sie da versuchen, haben wir Ihnen einen Vorschlag vorgelegt, der aufzeigt, wie mit grünen
Agenturen andere Wege beschritten werden können. Die
grünen Agenturen greifen die Erfahrungen der Regionen
auf, in denen das Konzept erfolgreich gewesen ist. Deswegen kann ich nicht verstehen, dass Sie dieses Konzept
ablehnen und nicht übernehmen wollen. Nach meinem
Eindruck gehen Ihre Argumente hier nicht sehr tief; weil
dieses Konzept leider den Oppositionsmakel hat, lehnen
Sie es reflexartig ab. Das ist für die Sache allerdings sehr
schlecht.
({1})
Die Probleme, die die Landwirtschaft mit den Erntehelfern hat, werden wirklich regierungsamtlich herbeigeführt. Erstens nutzen Sie unzureichend die vorhandenen Chancen, auch deutsche Arbeitnehmer in diesen
Arbeitsmarkt zu integrieren und ihnen dort eine Perspektive zu geben. Zweitens liegt die Ursache des Problems
- dies wird jetzt immer deutlicher -, das wir insbesondere mit den polnischen Saisonarbeiterinnen und -arbeitern haben, in den Restriktionen der Arbeitnehmerfreizügigkeit in Deutschland.
In dieser Branche werden dringend Mindestlöhne gebraucht;
({2})
ebenso dringend notwendig ist die Ausweitung des
Arbeitnehmer-Entsendegesetzes. Wir müssen doch
einmal begreifen, dass wir in Deutschland keine Angst
davor haben müssen, dass wir von Arbeitskräften aus
osteuropäischen Ländern überschwemmt werden.
({3})
Künftig werden wir nicht nur bei qualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern eher vor der Situation
stehen, dass wir die Konkurrenz mit anderen europäischen Ländern um diese Arbeitsplätze positiv bestehen
müssen.
({4})
Angesichts dessen muss die Eckpunktevereinbarung
weg. Es muss ein Mindestlohn her, und es muss eine
Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes geben.
Wenn selbst das Landvolk Sie dazu schon auffordert,
dann können Sie Ihre Ohren nicht länger davor verschließen.
Ich danke Ihnen.
({5})
Michael Hennrich hat für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist der
kalendarische Sommeranfang. In drei Tagen wird der
Abschluss der Spargelernte sein, auch die Erdbeeren
sind weitestgehend geerntet, und die Grünen und die
FDP kommen passend mit einem Antrag, der angeblich
das Ziel verfolgt, den Landwirten bei der Ernteeinbringung zu helfen.
({0})
Es sind Anträge, die wir im vergangenen Jahr schon behandelt haben
({1})
und die mit einer Mehrheit von 80 bzw. 90 Prozent abgelehnt wurden.
({2})
Ich will nicht die Augen vor den Problemen der Landwirtschaft verschließen. Wir alle haben die Berichte über
faulende Erdbeeren und nicht eingebrachte SpargelMichael Hennrich
ernten verfolgen können. Die „FAZ“ hat in dieser Woche
getitelt: „Getrübtes Spargelidyll“.
({3})
- Das glaube ich teilweise schon. - Wir haben diverse
Fernsehsendungen dazu gesehen. Aber dies waren Einzelfälle, aus denen pauschale Verallgemeinerungen gemacht wurden.
Nach meiner Überzeugung stellt sich die Situation
differenzierter dar. Es hat viele Fälle gegeben, in denen
die Einbringung der Ernte gut geklappt hat; dies war leider Gottes keiner Berichterstattung wert. In Niedersachsen haben polnische Saisonarbeitskräfte in der Tat gefehlt. Ich räume ein, dass es auch Probleme bei der
Integration inländischer Arbeitskräfte bei der Erntehilfe
gibt.
Einen Aspekt aber haben Sie alle bei der Diskussion
vollkommen unberücksichtigt gelassen: Wir hatten ein
gutes Erntejahr. Auch dies wäre einer Erwähnung wert
gewesen.
({4})
Am Montag fand eine Tagung zum Thema „Arbeitskräfte in Europa“ statt. Die FDP und die Grünen haben
gefehlt. Es hätte ihnen gut getan, an dieser Tagung teilzunehmen; dann hätten sie nämlich ein wenig hinzugelernt.
({5})
Vertreter aus Polen, Dänemark und Österreich waren anwesend. Sie haben uns die Situation in ihren Ländern
geschildert: In Dänemark und Österreich herrscht ein
Fachkräftemangel, aber auch ein Mangel an geringqualifizierten Kräften. In der Folge werden Löhne von bis zu
10 Euro gezahlt. Es ist natürlich bei Stundenlöhnen von
5,50 Euro oder 6 Euro hier bei uns relativ schwierig, damit zu konkurrieren. Dafür brauchen wir keinen Mindestlohn. Da vertraue ich auf den Markt; der Markt wird
das regulieren.
({6})
In Polen ist die Konjunktur gut und die Arbeitslosenquote rückläufig. Viele polnische Arbeitskräfte haben
schlicht und ergreifend keine Motivation, als Saisonarbeiter tätig zu sein. Das hat zu den Problemen, die Sie
geschildert haben, geführt.
Ich bin bereit, darüber nachzudenken, was neu geregelt werden muss. Brauchen wir mehr Flexibilisierung?
Ich will Sie daran erinnern, dass die Europäische Union
im Herbst vier Richtlinien zum Thema Arbeitsmigration
erlassen wird. Das Thema der zirkulären Migration, der
Saisonarbeitskräfte, wird dabei unter anderem eine Rolle
spielen. Ich bin strikt gegen nationale Alleingänge. Wir
sollten auf die Regelungskompetenz und die Regelungsfähigkeit der Europäischen Union vertrauen.
Alle Arbeitskräfte aus Osteuropa, die wir hier einsetzen, fehlen in den Herkunftsländern. Das sollten vor allem die Grünen bedenken.
({7})
Ich glaube nicht, dass es eine Lösung wäre, Arbeitskräfte
aus der Ukraine und Rumänien einzusetzen. Wer
3,7 Millionen Arbeitslose hat, sollte die Erntehelfer aus
diesem Arbeitskräftereservoir schöpfen.
({8})
Es gibt genug erfolgreiche Modelle. Ich erinnere an
die Kooperation von Eberswalde mit Darmstadt - aus
Brandenburg wurden 200 Saisonarbeiter nach Südhessen
vermittelt - und an die Modelle der Arbeitnehmerüberlassung in Germersheim. Wir brauchen keine zusätzlichen grünen Agenturen. Es reicht, dass die Grünen im
Deutschen Bundestag vertreten sind.
Wenn alle Beteiligten den Willen haben, im Sinne von
Best Practice aus guten Beispielen zu lernen, wenn vernünftige Löhne gezahlt werden und der Arbeit der Erntehelfer Wertschätzung entgegengebracht wird, werden
wir auch im nächsten Jahr einen guten Schritt vorankommen. Ich glaube, unser Modell funktioniert. Der Vorschlag der FDP, die in Bezug auf Saisonarbeiter bestehende Quote aufzuheben, läuft meines Erachtens, da sie
nicht einmal ausgeschöpft wird, vollkommen ins Leere.
Herzlichen Dank.
({9})
Jetzt spricht Rolf Stöckel für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
letzte Spargel - Herr Hennrich hat es gesagt - ist fast gegessen. Der Antrag der FDP passt zur Kritik in den Medien an der Eckpunkteregelung, die angeblich verhindert, dass die deutschen Bauern nicht genügend
ausländische Saisonarbeitskräfte rekrutieren können.
Frau Mortler hat von einem gnadenlosen Markt gesprochen. Frau Mortler, lassen Sie uns gemeinsam überlegen, wie wir ihn - als Sozialpolitiker sehe ich das jedenfalls so - zu einem fairen Markt entwickeln können.
Herr Dr. Geisen, bei Ihrer Rede fiel mir eine Schmonzette von Robert Gernhardt ein, der einmal sinngemäß
festgestellt hat: „Früher war alles besser“, sagte der
Großgrundbesitzer, als seine Flinte den Bauern verfehlte.
({0})
Hier sind schon einige Beispiele und gute Modelle
genannt worden. Ich erinnere an die Zusammenarbeit
von Arbeitsagenturen und Bauernverbänden, zum Beispiel den Westfälisch-Lippischen Landwirtschaftsverband, bei dem ich öfter zu Besuch bin. Auch ich habe die
Spargel- und Erdbeerbauern in diesem Jahr besucht, weil
ich gerne ernte.
({1})
- Ich habe überhaupt nichts gegen die Bauern. Aber ich
habe etwas gegen Bauern, die nicht begreifen, dass sie
sich im Zuge der Globalisierung vielleicht einmal mit
denen zusammensetzen sollten, die für faire Arbeitsbedingungen, für faire Märkte, für faire Verbraucherpreise
und insgesamt für soziale Mindeststandards kämpfen,
({2})
damit wir nicht auf die Ärmsten der Armen zurückgreifen müssen, die bereit sind, die härteste Arbeit zu niedrigsten Löhnen zu machen.
({3})
Es wird nicht nur klar, dass der Antrag der FDP auf
die zu fällende Entscheidung über eine mögliche Änderung der Eckpunkteregelung zielt. Auch Ihr Welt- und
Menschenbild wird hier deutlich: eine Welt mit einigen
Besserverdienenden und vielen herumwandernden Arbeitern, die bereit sind, zu niedrigsten Löhnen und zu sozialen Mindeststandards, die man nicht mehr menschenwürdig nennen kann, jede Arbeit anzunehmen, wenn sie
gebraucht werden.
({4})
Das ist aber nicht unsere Vorstellung von einem fairen
Markt.
({5})
Sie behaupten, der Spargel sei auf den Feldern verrottet. Es gibt in der Tat in Einzelfällen Probleme; darüber
will ich nicht hinwegreden. Aber Ihre Behauptung entspricht nicht den Zahlen, die uns von der BA geliefert
und von den Arbeitgeberverbänden bestätigt werden. In
diesem Jahr sind annähernd genauso viele ausländische
Saisonarbeitskräfte gemeldet wie im letzten Jahr. Es gibt
in der Tat weniger polnische Saisonarbeiter. Dafür gibt
es mehr rumänische. Die Anmeldezahlen zeigen uns,
dass es bis Ende dieses Jahres - jetzt wird ja noch nicht
abgerechnet - zu einer fast 100-prozentigen Bedarfsdeckung kommt, auch deswegen, weil Härtefallregelungen
und die Regelungen bei Betriebserweiterungen voll greifen.
Außerdem sagt die BA: 33 500 Arbeitssuchende stehen zur Verfügung.
({6})
Diese wollen die Arbeit machen. Sie sind nicht unqualifiziert oder unwillig. Sie wollen auch zu Löhnen arbeiten, die nicht über der Leistungsgrenze des ALG II liegen.
Es gibt das Modell des Landesbauernverbandes
Schleswig-Holstein mit den Argen, in dessen Rahmen
mit Landesunterstützung wesentlich mehr deutsche,
mehr inländische Arbeitssuchende für einen Stundenlohn
von 7,50 Euro eingestellt werden. Natürlich brauchten
wir mehr solcher guten Projekte in den Argen; ich habe
einige Beispiele genannt. Deswegen halte ich die grünen
Sonderagenturen in diesem Bereich für überflüssig. Es
kommt darauf an, dass wir die konkrete Aktivierung der
Langzeitarbeitslosen vor Ort verbessern und sie qualifizieren. Die Bauernverbände im Kreis Unna zum Beispiel
sind selbstverständlich mit im Boot und im Beirat der
Arge vertreten.
Aber es geht natürlich auch um Mindestlöhne.
({7})
Dies ist hier mehrmals angesprochen worden. Dass weniger polnische Saisonarbeitskräfte zu uns kommen - die
Bauernverbände sprechen von 30 Prozent -, liegt
schlicht daran, dass sie in Großbritannien mehr verdienen - knapp 8 Euro ({8})
und dass in Polen die Löhne steigen. Wer diese Realität
nicht anerkennen will, immer noch der Meinung ist, dass
wir in Deutschland keine Mindestlöhne brauchen, und
denkt, das alles mache schon der Staat, während die Arbeitgeber die sozialen Mindeststandards weiter senken
könnten, ist auf dem Holzweg.
({9})
Das wollte ich Ihnen einmal sagen. Wir lehnen Ihren Antrag ab.
Herzlichen Dank.
({10})
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem
Titel „Eckpunktevereinbarung zum Einsatz von Ernte-
helfern in der Landwirtschaft grundlegend überarbeiten“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 16/5170, den Antrag der Fraktion der
FDP auf Drucksache 16/2685 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit
den Stimmen der Koalition, des Bündnisses 90/Die Grü-
nen und der Linken gegen die Stimmen der FDP ange-
nommen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und
Soziales zu dem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen mit dem Titel „Qualifizierung statt Quoten -
Vermittlungsagenturen für landwirtschaftliche und an-
dere grüne Berufe“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3376, den An-
trag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/2991 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Ge-
genstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist diese Be-
schlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition und
der FDP gegen die Stimmen des Bündnisses 90/
Die Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b
auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Vierten Gesetzes zur Änderung des Dritten
Buches Sozialgesetzbuch - Verbesserung der
Qualifizierung und Beschäftigungschancen
von jüngeren Menschen mit Vermittlungshemmnissen
- Drucksache 16/5714 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Zweiten Gesetzes zur Änderung des Zweiten
Buches Sozialgesetzbuch - Verbesserung der
Beschäftigungschancen von Menschen mit
Vermittlungshemmnissen
- Drucksache 16/5715 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Es ist verabredet, hierüber eine halbe Stunde zu debattieren. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann
ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Ich glaube, der Aufruf dieser
Tagesordnungspunkte hat deutlich gemacht: Beide Gesetzentwürfe benötigen schlüssige Titel. Es hat lange gedauert, bis klar war, worüber wir jetzt überhaupt reden.
Ich fasse es wie folgt zusammen: Wir diskutieren über
eine Perspektive Arbeit. Darum geht es. Das ist die kürzeste Formel für beide Gesetzentwürfe, die wir heute in
erster Lesung beraten.
Ein Aufschwung - das wissen wir - ist etwas Wunderbares. Noch schöner ist er, wenn Mann und Frau davon profitieren.
({0})
Ich stelle fest: Der Aufschwung in unserem Land ist
kräftig, die Wirtschaft brummt, und die Auftragsbücher
sind voll. Es gibt sogar sichtbare Lücken beim Arbeitskräfteangebot.
Eine besonders gute Nachricht ist: Der Aufschwung
ist stabil. Er ist kein Strohfeuer und keine Eintagsfliege,
sondern er ist nachhaltig. Deshalb fragen sich vielleicht
einige von Ihnen: Warum brauchen wir dann überhaupt
noch eine Perspektive Arbeit als steuerfinanziertes Arbeitsmarktinstrument? Regierung und Koalition sagen:
Wir wollen dieses Instrument; denn es ist notwendig.
Wir möchten, dass der Startschuss am 1. Oktober dieses
Jahres fällt.
Wir wissen, dass bestimmte Zielgruppen Starthilfe
brauchen, um in Beschäftigung zu kommen, insbesondere junge Menschen. Das wurde auch in der bildungspolitischen Debatte, die wir heute Vormittag geführt haben, deutlich. Die jungen Leute liegen uns besonders am
Herzen. Für sie, die U 25, schaffen wir zwei neue Förderinstrumente und verstetigen ein bereits sehr erfolgreiches Instrument, das EQJ-Programm; damit sind weitere
Regelungen verbunden.
In gleichem Maße engagiert sich die Koalition für die
Ü 25 - so sagt man das heute -, für jene, die arbeitsmarktfern sind und deren Vermittlung an mehr als nur einem Hindernis scheitert. Auch dieser Gruppe wollen wir
die Option auf einen Arbeitsplatz eröffnen.
Lassen Sie mich zunächst auf das eingehen, was jungen Menschen dabei helfen soll, den Start ins Arbeitsleben erfolgreich zu meistern. Bei beiden Vorhaben handelt es sich um Arbeitgeberzuschüsse, die im SGB III
vorgesehen sind, beide sehen eine Förderung für die
Dauer von bis zu zwölf Monaten vor, und beide sind jenen Jugendlichen vorbehalten, die seit mindestens sechs
Monaten - leider erfolglos - eine Arbeitsstelle suchen.
Der Unterschied zwischen den Vorhaben besteht darin, dass das eine Instrument jenen helfen soll, die ohne
Berufsausbildung starten. Deshalb ist es naheliegend,
dass wir die Auflage machen, dass ein bestimmter Anteil
der Zuschüsse, nämlich 15 Prozent, der Qualifizierung
dienen muss.
({1})
Nur wenn diese Bedingung erfüllt ist, kann ein Zuschuss
von bis zu 500 Euro pro Monat gewährt werden.
Ein paar Zahlen zur Zielgruppe - damit niemand denkt,
es handele sich um wenige Versprengte -: Wir gehen davon aus, dass zurzeit knapp 100 000 Jugendliche länger
als sechs Monate arbeitslos sind. Circa 60 Prozent von
ihnen verfügen nicht über einen Berufsabschluss. Dieses
Vorhaben ist das richtige Angebot, diese jungen Menschen zu erreichen.
Das zweite Förderinstrument richtet sich an die übrigen 40 Prozent, an jene, die bereits eine Berufsausbildung abgeschlossen, den Start ins Berufsleben aber noch
nicht geschafft haben. Auch sie brauchen Unterstützung,
um den Berufseinstieg zu schaffen. Hier ist die Förderkulisse nicht ganz so üppig. Dennoch ist auch in diesem
Bereich eine Förderung notwendig. Denn wir sind der
Meinung, dass ein guter Start ins Arbeitsleben die beste
Hilfe ist, die wir jungen Menschen überhaupt geben können. Deshalb sage ich: Beide Vorhaben sind kluge Investitionen. Das ist die richtige Verwendung der Gelder.
Beide Maßnahmen sind bis zum Jahre 2010 angelegt.
Starten sollen sie - das sagte ich schon - am 1. Oktober
dieses Jahres.
Auch das EQJ-Programm - ich sprach es an; es ist
ein Erfolgsprogramm - wird mit diesem Gesetzesvorhaben verstetigt. Sie alle wissen: Wir haben es seit 2006
auf 40 000 Plätze aufgestockt. Wir wollen, dass dieses
Programm dauerhaft guten Dienst leistet. Die Begleitforschung hat nämlich ergeben, dass es Sinn macht: Zwei
Drittel der EQJ-Teilnehmer haben die Chance zu einer
Ausbildung und bekommen damit die berufliche Perspektive, die wir allen jungen Menschen wünschen.
({2})
Im Übrigen räume ich mit dem Vorurteil auf, die EQJ
verdränge Ausbildungsplätze. Das Gegenteil ist der Fall:
Es wurden sogar neue geschaffen.
Meines Erachtens haben wir jetzt hinreichend über
die unter 25-Jährigen gesprochen. Wir haben auch ein
Vorhaben, das die Älteren betrifft, und zwar den harten
Kern der Langzeitarbeitslosen, dem wir besondere Hilfe
bieten wollen. Das haben wir in unserer Koalitionsvereinbarung so niedergelegt, und jetzt wollen wir zur Tat
schreiten. Wir haben in der AG „Arbeitsmarkt“ des
Ministeriums für Arbeit und Soziales intensiv gearbeitet.
Die SPD-Fraktion hat an ihrem Ansatz „Jobperspektive“
gefeilt. Heute bringen wir den Entwurf eines Gesetzes
zur Verbesserung der Beschäftigungschancen von Langzeitarbeitslosen ein. „Was ist das Besondere an diesem
Ü-25-Angebot?“, werden Sie fragen. Manche nennen es
den sozialen Arbeitsmarkt. Ich meine, der Name ist nicht
entscheidend. Entscheidend ist, dass dieser Personenkreis einen neuen Zugang bekommt und ihm eine angemessene und zielführende Förderung zuteilwird.
Stellen Sie sich einmal gemeinsam mit mir die viel zu
große Gruppe der Menschen vor, die Arbeitslosengeld II
beziehen. Betrachten Sie dabei nicht den erheblichen
Teil der Aufstocker, also jene, die von ihrem Arbeitslohn
nicht leben können. Dann bleiben immer noch viele.
Diese Gruppe ist allerdings nicht statisch und sie ist auch
nicht homogen. Denn viele kommen neu hinzu, während
andere ausscheiden. Dennoch bleibt ein bestimmter Personenkreis über lange Zeit fest im Bezug von Arbeitslosengeld II.
Was sind die Merkmale dieses Personenkreises?
Diese Personen sind älter als 25. Sie sind zwar erwerbsfähig, aber arbeitsmarktfern, also lange arbeitslos, und
sie haben oftmals schwere, in der Person liegende Vermittlungshemmnisse. Zudem haben zurückliegende Aktivierungen - so schränken wir das ein - nicht zu einem
Eingliederungserfolg geführt. Das heißt, diese Personen
haben Maßnahmen bekommen; dennoch hat nicht geklappt, was wir ihnen wünschen, nämlich Beschäftigung
im ersten Arbeitsmarkt zu finden. Hinzu kommt, dass
wir im Hinblick auf den Personenkreis, den wir ins Auge
fassen und der all diese Merkmale mitbringt, leider sagen müssen: Die Prognose, in den nächsten 24 Monaten
in Arbeit zu kommen, ist negativ.
Was haben wir in der Vergangenheit mit diesen Personen gemacht? Sie haben eine Maßnahme nach der anderen bekommen, unterbrochen von Zeiten der Arbeitslosigkeit. Das ist kein gut angelegtes Geld, und das ist für
die Betroffenen keine gute Entwicklung. Wir wollen mit
der Beschäftigungsperspektive, die wir heute auf den
Weg bringen, einen neuen Zugang wählen. Wir sagen:
Für diese Personengruppe, die weitaus mehr als 100 000
umfasst, muss es ein Instrument geben, das eine langfristiger Förderung ermöglicht. Ich glaube, darüber besteht
in diesem Hause Konsens.
Wir haben uns im Vorfeld dieses Gesetzgebungsverfahrens intensiv mit Experten aus der Praxis beraten. Wir
haben wichtige Impulse aus den Integrationsbetrieben
bekommen, Anregungen aus dem Bereich der sozialen
Betriebe aufgenommen und kommunale Vertreter konsultiert. Sie alle haben uns zu diesem Schritt ermutigt.
Wir stellen fest: Die Richtung stimmt. Wir wissen, dass
dieser Weg steinig ist. Herr Staatssekretär, ich glaube der
eine oder andere Kiesel muss noch beiseitegeräumt werden, damit das gesamte Projekt gelingt. Dennoch sind
wir zuversichtlich. Tritt das Gesetz in Kraft, können wir
in dieser Legislaturperiode bis zu 100 000 Menschen auf
diesem Weg in Arbeit bringen - eine Perspektive, die sie
ohne diese Maßnahme nicht hätten. Deswegen werbe ich
dafür.
Der Erfolg steht und fällt mit passgenauer Vermittlung vor Ort. Diese Möglichkeit sieht das Gesetz vor.
Der Zuschuss fällt - so sage ich einmal - angemessen
satt aus, weil wir wollen, dass viele Arbeitgeber die
Chance nutzen, ihrem Engagement und ihrer Bereitschaft, diesem Personenkreis zu Arbeit zu verhelfen,
Form zu geben. Wir wissen, dass diese Maßnahme Geld
kostet. Wir sehen allerdings auch, dass dadurch an anderen Stellen gespart wird. Denn wir reden über sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse, die den
Sozialversicherungen Einnahmen bringen.
Ich will schließen, weil meine Redezeit leider zu
Ende ist. Ich hätte gerne noch mehr zu diesem Thema
ausgeführt; aber eine wichtige Sache möchte ich noch
formulieren: Mein Dank geht an das zuständige Ministerium. Ich weiß, dass wir in kürzester Zeit eine erhebliche
fachliche und wirklich gute Zuarbeit erhalten haben. Ich
bedanke mich an dieser Stelle ausdrücklich dafür. Engagierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen haben dazu beigetragen, dass wir, sofern wir guten Willens sind, diesen
Gesetzentwurf noch vor der Sommerpause verabschieden können.
Vielen Dank.
({3})
Jetzt spricht Jörg Rohde für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Frau Lösekrug-Möller, zunächst zu Ihnen: Der
Aufschwung, von dem Sie wieder einmal sprechen, geht
im Wesentlichen an den Langzeitarbeitslosen vorbei.
Das ist mit ein Grund dafür, warum wir heute hier stehen.
Wir befassen uns mit den Sorgenkindern des Arbeitsmarktes, mit Menschen, denen die Türen zum Arbeitsmarkt aus den verschiedensten Gründen bisher
verschlossen blieben. Die - gelegentlich auch vorgeschobenen - Gründe dafür sind vielfältig: keine ausreichende
Schulbildung und Berufsqualifikation, Sprachprobleme,
Krankheit, Behinderung, ein hohes Lebensalter und vieles mehr. Je schwerwiegender diese Vermittlungshemmnisse sind, umso intensiver, persönlicher und eben auch
betriebsnäher muss die Betreuung dieser Arbeitsuchenden sein.
So verwundert es nicht, dass sich Union und SPD mit
den vorliegenden Gesetzentwürfen wieder einmal den
Liberalen annähern.
({0})
Schon seit Jahren predigen wir Ihnen von der Regierungskoalition und den Kolleginnen und Kollegen von
noch weiter links, dass der Schlüssel zur Integration in
den Arbeitsmarkt allein in der betrieblichen Ausbildung
und Qualifizierung liegt. Außerbetriebliche Qualifizierungsmaßnahmen haben sich weitgehend als wirkungslos erwiesen. Sie schaden den Arbeitsuchenden oft mehr,
als sie ihnen nützen.
({1})
Deswegen ist jeder Ansatz, durch den Arbeitsuchende
mit der betrieblichen Praxis konfrontiert und dort gefördert und gefordert werden, ein Schritt in die richtige
Richtung.
({2})
Vor allem den Gesetzentwurf zum SGB III müsste es
aber nicht geben - und das ist entscheidend -, wenn
nicht so viele Jugendliche die Schule ohne Abschluss
oder ohne eine ausreichende Qualifikation zur Aufnahme einer Berufsausbildung verlassen würden. Das
SGB III ist nicht dafür da, die Versäumnisse der Bildungspolitik in Deutschland zu kompensieren. Es ist der
falsche Weg, von Beitragszahlern aufgebrachte Mittel
der Arbeitslosenversicherung für die Beseitigung schulischer Defizite auszugeben.
Ich begrüße deshalb die geplante Befristung der Maßnahmen ausdrücklich; denn mittel- und langfristig müssen wir andere Wege finden, um die Qualifizierung
Jugendlicher sicherzustellen. Unbenommen davon
muss für diejenigen Jugendlichen, die die Schule bereits
hinter sich und auf dem Arbeitsmarkt keinen Fuß gefasst
haben, etwas getan werden.
Zahlreiche Integrationsfachdienste sowie kommunale Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften
beweisen tagtäglich, dass eine individuelle Betreuung
und Unterstützung dieser schwer in Arbeit zu vermittelnden Klientel der einzig erfolgversprechende Weg in den
Arbeitsmarkt ist. Die FDP wird deshalb nicht müde, immer wieder auf eine Kommunalisierung der Arbeitsvermittlung zu drängen.
({3})
Je direkter der Kontakt zwischen Arbeitsuchenden, Vermittlern und Arbeitgebern ist, umso eher lassen sich
Hindernisse überwinden und Probleme lösen. Dies gilt
besonders dann, wenn nach der Vermittlung das neue
Arbeitsverhältnis vom Jobcenter oder von der zuständigen kommunalen Stelle begleitet werden muss.
Deshalb schlagen beim Betrachten der vorliegenden
Gesetzentwürfe zwei Herzen in meiner Brust. Als Vertreter einer Optionskommune freue ich mich über die
neuen Instrumente. Ich weiß die Mittel beim Erlanger
Integrationsfachdienst ACCESS und bei der GGFA, einer Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft, in
guten Händen. Zweifel habe ich jedoch, ob der Einsatz
der Mittel auch bei den Arbeitsagenturen und Argen zu
den gewünschten, positiven Effekten führt. Die FDP
wird nicht nur deshalb die Vermittlungserfolge der
Agenturen, Argen und Optionskommunen weiterhin kritisch begleiten.
Lassen Sie mich noch einige Fragen zu Details der
vorliegenden Gesetzentwürfe stellen. Die sozialpädagogische Begleitung der Jugendlichen unter 25 Jahren
bleibt unklar. Welche sozialpädagogischen Maßnahmen
liegen der Prognose von Kosten in Höhe von circa
200 Euro pro Person und Monat zugrunde? Wie soll sichergestellt werden, dass die sozialpädagogische Begleitung und die betriebliche Qualifizierung aufeinander abgestimmt sind und sinnvoll ineinandergreifen?
Wünschenswert ist meines Erachtens eine Art regelmäßige Fallkonferenz unter Beteiligung des Jugendlichen, seines Jobvermittlers und des Arbeitgebers. Nur so
kann sichergestellt werden, dass dem Grundsatz des Förderns und Forderns vollumfänglich Rechnung getragen
wird.
Zudem rege ich an, Anreize für eine Übernahme des
Jugendlichen in ein reguläres Arbeitsverhältnis nach dem
Auslaufen der Förderung zu schaffen. Es muss verhindert
werden, dass Jugendliche nach Auslaufen der Förderung
wieder in die Arbeitslosigkeit entlassen werden, zumal
eine hinreichende Qualifizierung der Jugendlichen in vielen
Unternehmen binnen zwölf Monaten neben einer eventuellen zusätzlichen sozialpädagogischen Begleitung kaum
zu bewerkstelligen sein wird.
Beim SGB II bereitet mir die Begrenzung der Förderung auf Arbeitsverhältnisse mit mindestens 50 Prozent
bzw. möglichst sogar 100 Prozent der vollen Arbeitszeit
Bauchschmerzen. Wer drei Stunden am Tag arbeiten
kann, gilt in Deutschland als erwerbsfähig, selbst wenn
nicht viel mehr als diese drei Stunden möglich ist. In der
Begründung des Gesetzentwurfs wird sogar explizit auf
die im internationalen Vergleich niedrige Schwelle zur
Erwerbsfähigkeit verwiesen und die Vermittlung deutlich leistungsgeminderter Erwerbsloser deshalb zur besonders großen Herausforderung erklärt.
Für viele Arbeitslose mit mehrfachen Vermittlungshemmnissen wird eine volle Stelle ohnehin kaum zu bewältigen sein. Der Mindestumfang von 50 Prozent der
vollen Arbeitszeit sollte deshalb gestrichen werden. Nur
so können viele behinderte und gesundheitlich eingeschränkte Arbeitslose mithilfe des Beschäftigungszuschusses und begleitender Qualifizierung wieder an den
Arbeitsmarkt herangeführt werden.
Für beide Programme entscheidend ist schließlich die
Frage, ob die zusätzlichen Mittel den Kommunen auch
sofort zur Verfügung stehen oder erst vorfinanziert werden müssen. Denn viele kommunale Jobvermittlungen
arbeiten schon jetzt am Rande ihrer finanziellen Möglichkeiten.
Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen. Bei
der Kostenabschätzung wurden die Optionskommunen
wegen der fehlenden Datenbasis zum personellen Umfang der Zielgruppen nicht erfasst. Auf welcher Grundlage sollen den Optionskommunen die Mittel für die
neuen Maßnahmen zur Verfügung gestellt werden?
Diese Fragen sollten bei der Anhörung zu diesen Gesetzentwürfen und spätestens bis zur zweiten und dritten
Beratung noch geklärt werden.
Vielen Dank.
({4})
Der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe hat jetzt das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Zunächst einmal meine Gratulation, Herr Kollege
Rohde: Sie haben die Abwesenheit Ihres Kollegen Kolb
genutzt, um sich ein Herz zu fassen und sich differenziert mit unseren Vorschlägen auseinanderzusetzen,
({0})
ganz im Gegensatz zu dem, was Ihre Fraktion sonst üblicherweise tut. Dazu gratuliere ich Ihnen, und dafür bin
ich dankbar.
Sie haben Erlangen angesprochen. Der Abgeordnete
Stefan Müller ist in Erlangen direkt gewählt worden. Die
CSU sorgt dafür, dass vor Ort eine ordentliche Politik
gemacht wird. Wir sind dankbar, dass das anerkannt
wird.
({1})
Wir haben zwei Gesetzentwürfe vorgelegt, mit denen
wir das umsetzen, was wir in der Arbeitsgruppe „Arbeitsmarkt“ verabredet haben. Dabei geht es um jeweils
beschränkte und sehr zielgruppenorientierte Modelle für
Kombilöhne, das heißt um eine intelligente Kombination aus dem Einkommen, das jemand am Markt als Arbeitslohn erwirtschaften kann, und Transferelementen,
die seitens des Staates dazukommen.
Die Große Koalition setzt - angespornt von den bereits erzielten Erfolgen bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit - zielgenau bei einzelnen Gruppen an, um an
diese Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt anzuknüpfen.
Ich denke, damit sind wir auf einem guten Weg.
({2})
Wir haben vor allem zwei Zielgruppen im Blick; die
Kollegin Lösekrug-Möller hat völlig zu Recht darauf
hingewiesen. Wir wollen zusätzlich zu dem, was wir bisher getan haben, gezielt etwas für Jugendliche tun, weil
es extrem wichtig ist, dass die jungen Menschen zu Beginn ihrer Berufsphase nicht als Erstes die Erfahrung
machen, dass sie nicht gebraucht werden. Deswegen tun
wir etwas dafür, dass junge Menschen in Arbeit kommen, indem sie - wenn sie noch keine Berufsausbildung
haben - zunächst einmal qualifiziert werden. Dazu dient
der Qualifizierungszuschuss.
Der Eingliederungszuschuss ist ein zielgenaues Instrument für diejenigen, die zwar eine Berufsausbildung
abgeschlossen haben, aber trotzdem arbeitslos werden.
Wir alle werden gelegentlich eingeladen, wenn die
Kammern die Besten auszeichnen, die eine Ausbildung
abgeschlossen haben. Wie jeder weiß, gibt es nicht nur
die Besten, sondern auch andere. Viele Unternehmen
folgen dem Appell der Politik, über den Bedarf hinaus
auszubilden, und übernehmen deshalb nicht alle. Noch
immer gehen viele Firmen pleite. Es sind weniger als
früher, aber immer noch so viele, dass junge Menschen
nach der Ausbildung zum Teil völlig ohne eigenes Zutun
auf der Straße stehen. Auch an sie müssen wir denken
und uns darum bemühen, dass sie wieder in Arbeit kommen. Häufig reicht ein Anschub über eine begrenzte
Zeit. Deswegen ist dieses Instrument befristet.
Aber wir sagen den jungen Menschen damit: Wir lassen euch nicht im Regen stehen. Wir helfen euch mit einer passgenauen Förderung, damit ihr eine Ausbildung
abschließen könnt, wenn ihr das noch nicht getan habt,
damit ihr wieder in Arbeit kommt.
({3})
Das ist das Ziel, das wir mit diesem Gesetz verfolgen.
Das EQJ-Programm wird in das Arbeitsförderungsrecht aufgenommen. Damit lösen wir die im Rahmen des
bis zum Jahr 2010 verlängerten Ausbildungspakts gemachte Zusage ein, für die kommenden drei Jahre die
Förderung von jeweils 40 000 Plätzen sicherzustellen.
Mit diesem Gesetz ermöglichen wir auch die sozialpädagogische Begleitung und organisatorische Unterstützung
bei betrieblicher Berufsausbildung und Berufsausbildungsvorbereitung. Das ist ebenfalls ein wichtiges Element. Von daher bieten wir jungen Menschen unter
25 Jahren eine Perspektive, in Arbeit zu kommen.
Wir wissen, dass wir auf diesem Gebiet Erfolge
vorzuweisen haben. Die Arbeitslosigkeit der unter
25-Jährigen ist innerhalb eines Jahres um fast 25 Prozent
zurückgegangen, deutlich stärker als die allgemeine Arbeitslosigkeit. Das macht uns Mut, an diesem Thema
dranzubleiben und etwas für die zu tun, die noch unversorgt sind.
({4})
Ich will nun etwas zum zweiten Gesetzentwurf sagen,
in dem es um die Verbesserung der Beschäftigungschancen von Menschen mit Vermittlungshemmnissen geht,
wie es im Gesetzentwurf heißt. Die Menschen mit besonders großen Vermittlungshemmnissen bezeichnet
man gelegentlich auch als besonders arbeitsmarktfern.
Wir von CDU/CSU und SPD haben uns schon im Koalitionsvertrag dazu bekannt: Auch ein noch so nachhaltiger und starker wirtschaftlicher Aufschwung wird nicht
dazu führen, dass der Markt automatisch alle Menschen
in Beschäftigung bringt. - Wir sind froh, dass wir diesen
nachhaltigen und starken wirtschaftlichen Aufschwung
haben. Uns ist aber klar, dass wir die Hände nicht in den
Schoß legen können. Es gibt Hunderttausende von Arbeitslosen, die ohne zusätzliche Maßnahmen nicht in Beschäftigung gebracht werden können; das sage ich nicht
nur für meine Fraktion. Für uns ist das nicht nur ein Akt
der Arbeitsmarktpolitik, sondern leitet sich aus unserem
christlichen Menschenbild ab. Wir können die Menschen, die sich nicht selbst helfen können, nicht am
Wegesrand stehen lassen. Deswegen freue ich mich, dass
wir dies haben gemeinsam vereinbaren können.
({5})
Wir wollen Menschen, die besonders arbeitsmarktfern
sind, in den Arbeitsmarkt integrieren und dafür mehr
Mittel in die Hand nehmen als bei anderen arbeitmarktpolitischen Instrumenten.
({6})
Die bisherigen Erfahrungen bei der Umsetzung der
Regelungen des Sozialgesetzbuches II zeigen, dass es im
Verantwortungsbereich der Arbeitsgemeinschaften, der
Agenturen für Arbeit und bei getrennter Aufgabenwahrnehmung auch bei den zugelassenen kommunalen Trägern eine nennenswerte Zahl von Menschen gibt, für die
die bisherigen Instrumente nicht ausreichen. Diese Menschen sind überall im Land anzutreffen, auch in den Regionen, in denen die Arbeitslosigkeit ansonsten sehr
niedrig ist. Wir finden eine solche besondere Arbeitsmarktferne in vielen Teilen des Landes. Deswegen machen wir das Angebot, überall im Land Menschen auf
diese Weise in Arbeit zu bringen.
Wir wissen, dass das viel Verantwortung vor Ort erfordert. Wir können nicht von Berlin aus zentralistisch
sagen: Das sind diejenigen, welche!
({7})
Wir wollen ein Programm für insgesamt 100 000 Menschen auflegen. Es wird darum gehen, dass vor Ort
geprüft wird, ob es andere Möglichkeiten gibt, diese
Menschen innerhalb der nächsten 24 Monate in Beschäftigung zu bringen. Wenn dies nach menschlichem Ermessen nicht zu erwarten ist, werden wir bis zu
75 Prozent der Kosten tragen, damit die Menschen in
Beschäftigung kommen. Dieses Instrument setzt verantwortungsvolle Entscheidungen vor Ort voraus. Das wird
immer eingefordert, und genau das setzen wir mit diesem Instrument um.
Wir werden damit nicht alle Probleme in diesem Bereich beseitigen können; das ist völlig klar. Die Arbeitslosigkeit in Deutschland geht zwar zurück; sie ist aber
noch lange nicht bei null. Wir haben eine Akademikerarbeitslosigkeit. Diese werden wir auch weiterhin haben.
Es wäre ja seltsam, wenn wir ausgerechnet bei den besonders schwer Vermittelbaren plötzlich zu einer Vollbeschäftigung von 100 Prozent kämen. Das werden wir
nicht erreichen. Mit dieser Maßnahme können wir aber
einer großen Zahl von Menschen eine Perspektive bieten. Deswegen bin ich dankbar, dass wir uns in der Großen Koalition darauf haben verständigen können.
({8})
Viele haben dazu beigetragen, dass wir diese Gesetzentwürfe heute in erster Lesung in die Beratung einbringen können.
Frau Lösekrug-Möller hat völlig zu Recht den Beitrag
des Ministeriums sowie der dort tätigen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter zum Gelingen hervorgehoben. Ich
denke, wir können als Vertreter der Großen Koalition sagen, dass wir hier gut und völlig ohne ideologische
Scheuklappen zusammengearbeitet und uns an den Bedürfnissen der Menschen orientiert haben.
Mein besonderer Dank gilt den beiden, die dieses
Thema federführend bearbeitet haben und mit dem von
ihnen erarbeiteten Papier die Grundlage für die vorliegenden Gesetzentwürfe gelegt haben. Das sind der Kollege
Klaus Brandner und unser ehemaliger Kollege Karl-Josef
Laumann, nun nordrhein-westfälischer Arbeits- und Sozialminister. Die beiden haben die wesentlichen Vorarbeiten für die vorliegenden Gesetzentwürfe geleistet. Wir
können feststellen: Obwohl Karl-Josef Laumann diesem
Haus nicht mehr angehört, bewirkt er auch in seiner
neuen Funktion Gutes für die Arbeitsmarktpolitik in ganz
Deutschland, und das gemeinsam mit unserem Koalitionspartner. Dafür können wir dankbar sein.
Ich freue mich auf die weiteren Beratungen in den
Ausschüssen. Wir sind für konstruktive Hinweise dankbar, wie wir diese Instrumente zielgenau ausgestalten
können. Ich bin mir sicher, dass wir in zwei Wochen
feststellen werden: Wir haben den Menschen, die Hilfe
brauchen, neue Instrumente bereitgestellt. Ab Oktober
wird diese Hilfe anlaufen.
Herzlichen Dank.
({9})
Jetzt hat Kornelia Möller von der Fraktion Die Linke
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrten Damen und Herren!
Herr Rohde, Sie haben recht: CDU/CSU und SPD nähern sich mit den vorliegenden Gesetzentwürfen den Liberalen an.
({0})
Vermutlich haben Sie, meine Damen und Herren von
CDU/CSU und SPD, deshalb die beiden Gesetzentwürfe
zu dieser späten Tageszeit in das Plenum eingebracht,
quasi im Schutz der Dunkelheit. Wahrscheinlich haben
Sie Angst um Ihre Glaubwürdigkeit. Das sollten Sie
auch. Seit nunmehr neun Monaten blockieren Sie von
der schwarz-roten Koalition unseren Antrag auf öffentlich finanzierte Beschäftigung. Sie verhindern also, dass
500 000 Menschen eine Perspektive bekommen. Nur
weil Gewerkschaften, Sozialverbände, Arbeitsloseninitiativen, Die Linke und die Grünen Druck machen, müssen Sie trotz aller Aufschwungseuphorie die Langzeiterwerbslosigkeit zur Kenntnis nehmen.
({1})
Nun reagieren Sie von Schwarz-Rot. Aber Sie tun das
Falsche. Gegenüber dem Rat der Sachverständigen bleiben Sie starrköpfig, zum Beispiel beim Zwang zur Arbeitsaufnahme und bei der Lohnhöhe. Bei fast 1,5 Millionen Langzeitarbeitslosen schaffen Sie es gerade,
100 000 Menschen eine Perspektive zu geben. Das sind
noch nicht einmal 10 Prozent. Was sagen Sie den anderen, fast 1,4 Millionen langzeitarbeitslosen Frauen und
Männer, denen, die am Sinn des Lebens zweifeln, und
denen, die die Langzeitarbeitslosigkeit krank macht? Sie
wenden sich von den Problemen der Menschen ab und
versuchen stattdessen, mit beiden Gesetzentwürfen die
Folgen schlechter Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik zu verschleiern, ohne die Ursachen auszuschalten.
Die Ursachen für den in den letzten Jahren gewachsenen
und verfestigten Sockel an Langzeiterwerbslosigkeit haben Sie von der CDU/CSU und Sie von der SPD - im
Bund mit den Grünen - mit den Hartz-Gesetzen selbst
geschaffen,
({2})
mit den Gesetzen, die nicht nur sozial unverantwortlich
und volkswirtschaftlich dumm sind, sondern zumindest
in Teilen auch nicht verfassungskonform.
Auch der Scherbenhaufen bei der Ausbildung junger
Leute, den Sie mit dem Festhalten am untauglichen Ausbildungspakt und dem Verzicht auf eine Ausbildungsplatzabgabe seit Jahren aufhäufen,
({3})
gehört in die Rubrik mangelnder Glaubwürdigkeit; denn
der sogenannte Qualifizierungskombi für 50 000 junge
Leute - so unterstützenswert jeder Fortschritt ist, jungen
Menschen eine Zukunftsperspektive zu geben ({4})
- hören Sie weiter zu, Herr Tauss! - wird sich am Ende
als ein Herumdoktern an Symptomen herausstellen.
Dass Sie die wirklichen Krankheitsursachen kennen,
aber nicht beseitigen wollen, beweisen Überlegungen
über einen Bonus für auszubildende Betriebe. Aber das
reicht angesichts einer Zahl von jährlich 300 000 Altbewerberinnen und Altbewerbern nicht. Vielmehr müssen
diejenigen Unternehmen in die Pflicht genommen werden - Sie wissen das genau, Herr Stöckel -, die nicht
ausbilden, obwohl sie wirtschaftlich dazu in der Lage
sind. Dazu fordere ich Sie heute wieder auf. Hier können
Sie Glaubwürdigkeit gewinnen.
Ihre Vorhaben werden der Größe der gesellschaftlichen Probleme in keiner Weise gerecht. So gleicht das
Ergebnis einer Alibiveranstaltung. Unter dem Strich
bleiben Sie auch heute wieder in allen Formulierungen
Ihrem Begründungsansatz treu, Langzeiterwerbslosigkeit auf individuelle Ursachen zu reduzieren. So ist es
natürlich immer leicht, die gesellschaftlichen Ursachen
und den Anteil der heutigen Koalitionsfraktionen daran
zu vernebeln.
Meine Damen und Herren von der Koalition, wenn
Sie wirklich etwas Nachhaltiges gegen Langzeiterwerbslosigkeit tun wollen, müssen Sie an den Ursachen ansetzen. Kehren Sie Ihren arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Scherbenhaufen der Hartz-Gesetze auf, und fangen
Sie neu an!
({5})
- Ja, weil Sie mich so freundlich anlächeln. Ich bin nämlich ein netter Mensch. - Wir von der Linken sind alle
nette Menschen. Wir sind gerne bereit, Ihnen unsere
Fachkompetenz zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger
in diesem Land zur Verfügung zu stellen.
({6})
Ich danke Ihnen.
({7})
Es spricht Brigitte Pothmer für Bündnis 90/Die Grünen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Brauksiepe und Frau Lösekrug-Möller, wir sind uns, was
die Analyse angeht, darin einig, dass Langzeitarbeitslose, insbesondere Langzeitarbeitslose mit zusätzlichen
Vermittlungshemmnissen, bis auf weiteres nicht vom
Aufschwung profitieren werden und kaum Chancen haben werden, auf dem ersten Arbeitsmarkt einen Arbeitsplatz zu finden. Ich bin mir nur nicht sicher - ich zweifle
ernsthaft daran -, ob Sie mit dem vorgelegten Konzept
Ihr Ziel erreichen.
Herr Brauksiepe, im Übrigen handelt es sich bei dieser identifizierten Gruppe um circa 400 000 Personen,
wie Sie überall nachlesen können. Auch das IAB hat
jüngst diese Zahl genannt. Es geht also nicht um 100 000
Personen.
({0})
- Die Langzeitarbeitslosen und die Geringqualifizierten
bilden wirklich keine homogene Gruppe. Aber die
Größe der Gruppe, für die dieses Konzept vorgesehen
wird, wird in Fachkreisen auf mindestens 400 000 Personen geschätzt.
({1})
Ich zweifle, wie gesagt, daran, ob Sie Ihr Ziel mit dem
vorliegenden Konzept erreichen. Nehmen wir einmal die
Begrenzung der Zuschüsse auf 75 Prozent. Frau Lösekrug-Möller hat gesagt, es komme darauf an, dass sehr
schnell und sehr passgenau vor Ort vermittelt wird. Die
gemeinnützigen Institutionen - auf die Gemeinnützigkeit legen Sie zu Recht Wert - werden größte Schwierigkeiten haben, die 25 Prozent Kofinanzierung aufzubringen. Das heißt, die Kofinanzierung muss über
Ländermittel und über den ESF erfolgen. Das bedeutet
einen riesigen bürokratischen Aufwand. Ich prognostiziere Ihnen, dass die Institutionen noch nicht einmal
100 000 Plätze anbieten.
Mit dem Qualifizierungszuschuss für zwölf Monate
verzichten Sie im Grunde genommen auf die Möglichkeit, dass diese Menschen tatsächlich qualifiziert werden, um dann aus dieser geschützten Beschäftigung heraus in den ersten Arbeitsmarkt zu kommen. Sie wollen
sozusagen nur die Eingliederung kurzfristig unterstützen.
({2})
- Haben Sie nicht zugehört? Es geht hier um Menschen
und nicht um Spargel, Herr Brauksiepe.
({3})
Die psychosoziale Betreuung findet in Ihrem Konzept
überhaupt nicht statt.
Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu Ihren Finanzierungsvorschlägen machen. Ganz im Gegensatz
zu dem, was Sie hier gesagt haben, nehmen Sie keinen
Cent zusätzlich in die Hand.
({4})
Alles soll aus dem Integrationsbudget finanziert werden.
Wenn Sie 100 000 Leute fördern wollen, dann kommen
Sie auf eine Summe von 1,4 Milliarden Euro. Die Agenturen werden sich genau überlegen, ob sie ihr knappes,
von Ihnen noch einmal um 1 Milliarde Euro gekürztes
Integrationsbudget für diese teure Maßnahme verwenden werden.
Wissen Sie, was der Treppenwitz der Geschichte ist?
Sie wollen demnächst die Zuweisung der Mittel an die
Anzahl der Langzeitarbeitslosen knüpfen.
Die Leute, die in diesen Programmen sind, sind aber
keine Arbeitslosen mehr. Das heißt, genau diejenigen,
die sich in ihrem Programm besonders engagieren, geben viel Geld aus und kriegen hinterher noch weniger.
Dass das kein Anreiz ist, werden sogar Sie verstehen. Ich
sage Ihnen: Für die Agenturen ist es interessanter, weiterhin 1-Euro-Jobs anzubieten, als dieses Programm
durchzuführen. Ich glaube, das wird auch die Anhörung
zeigen. Es sind sehr detaillierte Kritikpunkte, die ich hier
vorgetragen habe.
Lassen Sie mich abschließend noch etwas zu dem Gesetzentwurf zur Verbesserung der Qualifizierung und
Beschäftigungschancen von jüngeren Menschen mit
Vermittlungshemmnissen sagen. EQJ kommt jetzt ins
SGB III. Das Einzige, was Sie damit erreichen, ist die
Verschiebung der Mittel, nämlich vom Bundeshaushalt
in den Haushalt der BA. Ich finde das offen gesagt unanständig. Im Übrigen glaube ich auch, dass das EQJ-Programm kein zielgerichtetes Programm ist. Der Erfolg
des EQJ-Programms beruht im Wesentlichen darauf,
dass es die Zielgruppe, um die es geht, nicht erreicht. In
den EQJ-Programmen sind im Wesentlichen Realschüler
und Schüler mit noch besseren Abschlüssen. Von 2005
bis 2006 lag der Anteil der Hoch- und Fachhochschulabsolventen in diesem Programm bei 6,7 bzw. 7,5 Prozent.
Jugendliche mit Realschulabschluss und Gymnasiasten
sind in dem Programm. Deswegen ist dieses Programm
unzureichend und wirklich nicht zielführend.
({5})
Frau Pothmer, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Ich muss jetzt leider zum Schluss kommen. Ich empfinde es übrigens als Unverschämtheit, dass Sie diese
beiden Gesetzentwürfe in ein Beratungsverfahren von
einer halben Stunde pressen. Eine Große Koalition hat
viele Stimmen, aber deswegen noch keine Qualität.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 16/5714 und 16/5715 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Außerdem soll die Vorlage auf Drucksache 16/5715 an
den Haushaltsausschuss gemäß § 96 der Geschäftsordnung überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige
Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Kersten Naumann, Heidrun Bluhm, Petra Pau,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
LINKEN
Förderung der demokratischen Teilhabe und
Stärkung des Petitionsrechts
- Drucksache 16/2181 Es ist verabredet, auch hierzu eine halbe Stunde zu
debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann
ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Kersten Naumann für Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Fraktion Die Linke hat im Juni 2006 eine
Große Anfrage zur Stärkung des Petitionsrechts eingereicht. Die Bundesregierung will sich bis Oktober dieses
Jahres, also 16 Monate, Zeit lassen, um diese zu beantworten. Auch wenn der Präsident, Herr Lammert, dabei
von einem „singulären Ausnahmefall“ spricht, ändert
das nichts an der unangemessen langen Bearbeitungszeit
und beschleunigt das Verfahren nicht.
Öffentlichkeit, Transparenz und Bürgernähe sollten
der Normalfall des parlamentarischen Verfahrens im
Petitionsausschuss werden. Obwohl das Bundesverfassungsgericht schon 1986 ausführte - ich zitiere -: „Öffentliches Verhandeln von Argument und Gegenargument, öffentliche Debatte und öffentliche Diskussion
sind wesentliche Elemente des demokratischen Parlamentarismus“, sind wir von diesen Grundsäulen im Petitionsrecht noch weit entfernt.
({0})
Kaum eine parlamentarische Materie ist rechtlich so
kompliziert gestaltet und steht auf so vielen Füßen wie
das Petitionsrecht, und dieses soll dann noch für die Bürgerinnen und Bürger nützlich und durchschaubar sein.
Schon vor 30 Jahren hat sich die SPD - damals in der
Opposition - im Rahmen der ersten Enquete-Kommission für eine Verfassungsreform eingesetzt. Auf der
Agenda standen mehr Bürgernähe, mehr Transparenz,
mehr Kontrollmöglichkeiten und ein Selbstaufgriffsrecht. Keine Frage, diese Stichworte sind so aktuell wie
nie zuvor. Aber auch der Wunsch von Frau Rita
Süßmuth Anfang der 90er-Jahre nach öffentlichen Tagungen des Petitionsausschusses ist im Sande verlaufen.
Meine Damen und Herren der Koalition, der Ball liegt
jetzt bei Ihnen.
Wie ein roter Faden ziehen sich bestimmte Probleme
durch die Zeit, ohne dass sie jemals zu einer einvernehmlichen Lösung geführt worden sind. Dazu gehören
auch die zersplitterten Regelungen zum Petitionsrecht,
die einer Zusammenführung bzw. Überarbeitung bedürfen.
Obwohl sich alle Fraktionen schon in der 14. Wahlperiode mit der Einbringung eines Petitionsgesetzes der
PDS-Fraktion darauf verständigten - ich zitiere -, „in
der nächsten Wahlperiode interfraktionell über mögliche
Änderungen zum Petitionsrecht und -verfahren zu beraten, kam es mit Ausnahme der Internet- und öffentlichen
Petitionen nicht dazu.
Die Fraktion Die Linke möchte zu einer einheitlichen
Regelung zum Petitionsrecht auf Bundesebene und zu
einer vorwiegend öffentlichen Behandlung von Petitionen kommen. Wir haben dazu erst kürzlich eine Ausarbeitung vom Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen
Bundestages zur „Zusammenfassung des Petitionsrechts
in einem neuen Gesetz“ erhalten. Darin wird festgestellt:
Die Mehrheit der Bundesländer hat, um Rechtsklarheit
zu erreichen, bereits seit längerem Petitionsgesetze auf
Landesebene geschaffen. Während auf der einen Seite
das Petitionsrecht als ausdrücklich wünschenswertes demokratisches und auch politisches Beteiligungsrecht
stets gewürdigt wird, wird die Bedeutung, Ausübung
und Effektivität dieses Rechts von Bundesregierung,
Parlament und Medien unterschätzt und von Rechtswissenschaftlern bemängelt.
Auch für den Petitionsausschuss gilt: Transparenz ist
nur möglich, wo Öffentlichkeit herrscht. In der Regel
herrscht aber die Meinung vor, dass die Interessen der
Einreicher geschützt werden müssen. Allerdings sehen
das die Petentinnen und Petenten selbst ganz anders. Erst
kürzlich haben die Ergebnisse der Untersuchungen des
TAB-Büros zum Modellversuch „öffentliche Petitionen“
ergeben, dass mehr als zwei Drittel der Petentinnen und
Petenten eine öffentliche Behandlung ihrer Anliegen
wünschen. Der EU-Beauftragte, die nordischen Länder,
Bremens Ombudsstelle und auch der Petitionsausschuss
des Bayerischen Landtags tagen öffentlich. Sie machen
uns vor, dass es und wie es geht.
Auf der einen Seite werden Petitionen von allen Fraktionen als spannende politische Erkenntnisquelle anerkannt und werden im Plenum harte Diskussionen zu Gesetzesvorlagen und Anträgen parteipolitisch geführt;
wenn es auf der anderen Seite dazu Bürgeranliegen im
Petitionsausschuss gibt, sollen sie im stillen Kämmerlein
diskutiert werden. Das ist schon ein sehr eigenartiges
Phänomen.
Zum Jahresende ist zu erwarten, dass sich seit Beginn
des Modellversuchs circa 1 Million Menschen allein an
den öffentlichen Petitionen in der Mitzeichnung beteiligt
haben werden. Hinzu kommt jährlich eine weitere halbe
Million Bitten, Beschwerden und Anfragen. Von der
vielzitierten Politikverdrossenheit lässt sich im Hinblick
auf den Petitionsausschuss wahrlich nicht sprechen.
Öffentlichkeit herzustellen, macht Demokratie für die
Bürgerinnen und Bürger erlebbarer und wirkt gegen Politikverdrossenheit. Nicht zuletzt schafft es weitere Synergieeffekte für den Ausschuss, für den Ausschussdienst
und für die Abgeordneten.
Natürlich muss der Datenschutz für jeden Petenten,
sofern er es wünscht, gewahrt sein; aber ein Argument
gegen mehr Öffentlichkeit und Transparenz ist er nicht.
({1})
Überlegenswert ist eine Zusammenführung der
Ausschusssitzungen, der öffentlichen Beratungen und
der Berichterstattergespräche zu einer Veranstaltung,
möglicherweise mit einem öffentlichen und einem nichtöffentlichen Teil, wie es auch die Fachausschüsse praktizieren. Natürlich ergeben sich hierbei technisch-organisatorische Fragen. Alle damit verbundenen Probleme
sind aber diskutabel und lösbar, sofern der politische
Wille da ist.
Uns geht es darum, das Petitionssystem insgesamt effektiver, attraktiver, durchschaubarer und bürgerfreundlicher zu gestalten. Da dies nach eigenen Aussagen alle
Fraktionen im Petitionsausschuss wollen, lade ich Sie
ein, aktiv zu werden und dafür zu sorgen, den Ansprüchen an eine verbesserte Petitionsgesetzgebung gerecht
zu werden.
Danke schön.
({2})
Es spricht Günter Baumann für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die ersten beiden Sätze der Großen Anfrage der
Fraktion Die Linke lauten:
Demokratie lebt von dem Engagement und der tatsächlichen Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger. Nur wo sich Bürgerinnen und Bürger einbringen, wo sie mitreden und mitentscheiden können,
kann eine Demokratie auf Dauer funktionieren.
Diese Sätze kann man durchaus unterstreichen, weil sie
richtig sind. Kollegin Naumann, leider sind es die einzigen beiden Sätze Ihrer Großen Anfrage, die ich unterstreichen kann. Alles andere, auch die 108 Einzelfragen,
kann ich einfach nicht nachvollziehen.
Schon in der Einleitung werden Versuche unternommen, das Grundgesetz neu zu deuten und daraus gewagte
Thesen abzuleiten. Danach ruhe die Demokratie auf
mehreren Säulen. Eine davon sei das Recht der Bürgerinnen und Bürger, sich in die Gesetzgebung, in Gesetzesänderungen und in die Rechtsprechung aktiv einzuschalten und sie selbst mitzugestalten. Die Bürgerinnen
und Bürger sollen also Gesetze mitgestalten. Bereits hier
frage ich mich: Wissen Sie es wirklich nicht besser, oder
beginnt schon hier Ihre für mich nicht nachvollziehbare
Deutung unserer Demokratie?
Noch kurioser ist Ihre daraus folgende Schlussfolgerung. Nach Ihrer Meinung gibt es eine Art Zuschauerdemokratie, weil nach Wahlen regelmäßig von Vertreterinnen und Vertretern der Parteien die Souveränität
übernommen wird. Offenbar haben Sie auch 17 Jahre
nach der Wiedervereinigung nicht verstanden, wie das
System der Demokratie funktioniert.
({0})
Weiterhin fordern Sie, dass nicht nur die im Deutschen Bundestag vertretenen und durch demokratische
Wahlen legitimierten Vertreter des deutschen Volkes Gesetze einbringen können. Sie schreiben: Jeder Bürger
und jede Bürgerinitiative soll Gesetze einbringen können. - Das wäre eine völlige Veränderung unseres demokratischen Systems.
Beim Lesen Ihrer Großen Anfrage kommt man
schnell darauf, was Sie eigentlich wollen: Sie wollen das
repräsentative demokratische System in Deutschland
über das System des Petitionsrechts verändern.
({1})
Aber nun zu den einzelnen Fragen. Auch hier kommt
sehr deutlich zum Ausdruck, dass Sie die Demokratie,
die wir jetzt haben, abschaffen wollen.
({2})
- Sie wollen das System, das wir jetzt haben, abschaffen. Sie fragen die Bundesregierung zum Beispiel, was sie
von parlamentarischen Initiativen hält, was sie von den
Grundsätzen des Petitionsausschusses hält, was sie vom
Selbstbefassungsrecht des Ausschusses hält usw. usf. Im
Klartext muss ich sagen, auch zum Verständnis der
Linksfraktion: Das Parlament kontrolliert die Regierung
und nicht umgekehrt.
({3})
Genau zu diesem Zweck hat das Grundgesetz dem Parlament umfassende Rechte eingeräumt.
({4})
Das Volk selbst wählt das Parlament alle vier Jahre neu
und hat damit Einfluss auf Veränderungen. Die im Parlament vertretenen Abgeordneten haben die Pflicht, ihr
Mandat aktiv auszuüben. Ich persönlich jedenfalls fühle
mich nicht als Teil eines in Ihrer Anfrage als „Zuschauerdemokratie“ abqualifizierten Systems.
Der Petitionsausschuss ist keineswegs nur der Kummerkasten der Nation, wie immer wieder behauptet wird.
Vielmehr gibt er den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit, sich aktiv in die Politik einzuschalten. Auf der
anderen Seite erfahren Parlament und Bundesregierung
durch die Eingaben und Beschwerden, sozusagen durch
die Stimme des Volkes, dringend zu lösende Probleme,
abzustellende konkrete Missstände, und sie erfahren
eben, wo im Einzelnen Handlungsbedarf ist.
Im Jahr wenden sich etwa 500 000 Bürgerinnen und
Bürger mit Bitten, Wünschen und Anregungen an diesen
Ausschuss des Bundestages.
({5})
Darauf können wir stolz sein; denn das heißt: Das System wird angenommen.
({6})
Dies führt zu etwa 20 000 Petitionsvorgängen pro Jahr,
die wir im Ausschuss, in welcher Form auch immer, bearbeiten müssen. Sie werden im Ausschuss beraten, und
im Plenum wird dann endgültig Beschluss gefasst.
Nicht zuletzt aufgrund vieler Eingaben der Bürgerinnen und Bürger sind Vorschriften und Gesetze, die wir
beschlossen hatten, verändert worden. Wenn ich an die
letzten Jahre denke und daran, welch große Anzahl von
Petitionen wir als Material oder zur Kenntnisnahme der
Fraktionen überwiesen haben, muss ich sagen: Das zeigt
eigentlich, dass das System funktioniert. Wir haben allein im letzten Jahr 6 400 Petitionen - das waren
40 Prozent - an die Bundesregierung weitergegeben,
weil in irgendeiner Form Gesetze zu verändern, zu korrigieren waren. Es gibt also eine sehr starke positive Resonanz der Bürgerinnen und Bürger auf unsere Gesetzgebungsverfahren.
In einer nicht geringen Anzahl von Fällen führen die
Eingaben direkt dazu, dass die Abgeordneten im Ausschuss Gesetzeslücken und mangelnde Praxistauglichkeit erkennen und beschlossene Regelungen
verändern. Daran zeigt sich: Das System des Petitionsausschusses hat sich bewährt. Die Bürgerinnen und Bürger nehmen es an. Es funktioniert.
({7})
Die Aussage in Ihrer Anfrage, Kollegin Naumann,
das Petitionssystem sei seit 1952 unverändert, ist einfach
falsch.
({8})
Auch dass in der 15. Wahlperiode angemahnt worden ist,
das Petitionsrecht zu verändern, kann ich nicht nachvollziehen. Ich finde keine solche Initiative. Sie haben von
früheren Anträgen abgeschrieben, was einfach nicht
stimmt. So wurde gerade in der letzten Wahlperiode eine
Modernisierung des Petitionsrechts vorgenommen.
Wir haben E-Mail-Petitionen eingeführt. Nach dem Vorbild des schottischen Parlaments gibt es öffentliche Petitionen. Wir haben als Petitionsausschuss bereits dreimal
öffentlich getagt. Das ist etwas vollkommen Neues. Angesichts dessen kann man nicht sagen, das Petitionsrecht
sei seit 1952 unverändert. Wir haben eine ganze Reihe
neuer Sachen eingeführt.
({9})
- Selbst Herr Tauss weiß hier Bescheid; ganz hervorragend.
({10})
Außerdem möchte ich ansprechen, dass wir das sehr
gute System wesentlich erweitert haben: So war der Petitionsausschuss in den letzten Jahren auf mehreren großen Messen vertreten; seine Arbeit wurde so öffentlich
präsentiert, und der Ausschuss stand gleichsam für die
Bürgerinnen und Bürger zum Anfassen bereit. Auch haben wir an den Tagen der Ein- und Ausblicke im Deutschen Bundestag teilgenommen. Da sind viele Bürger zu
uns gekommen und haben mit uns gesprochen. Es ist
also eine ganze Reihe an positiven neuen Dingen eingeführt worden.
({11})
Jedes einzelne Anliegen der Bürgerinnen und Bürger
liegt uns am Herzen, ob die Eingabe eines Einzelnen,
eine Massenpetition oder eine öffentliche Petition. Alles
wird gleich behandelt. Es handelt sich einfach um alte
Hüte, wenn die Linken in der Großen Anfrage die Bundesregierung fragen, was diese vom Selbstbefassungsrecht des Petitionsausschusses und von einem neuen
Petitionsgesetz hält. Das hieße ja, das jetzige würde
nicht funktionieren.
({12})
Dass mit diesen Vorschlägen das Petitionsrecht umfunktioniert werden soll, um zu einer anderen Staatsform zu
kommen, wird in der Einleitung zur Großen Anfrage
auch ganz deutlich. Fast dieselben Vorschläge wurden ja
in der 14. Wahlperiode schon einmal hier eingereicht
und vom damaligen Plenum eindeutig abgelehnt. Es
gibt, wie ich denke, auch heute für derartige Vorschläge
keine Mehrheit.
Der Petitionsausschuss ist gerade kein Fachausschuss
und soll keinen zweiten Weg für Gesetzesinitiativen
eröffnen. Es bedarf auch keines zusätzlichen Kontrollorgans neben dem, was wir haben. Wir haben ein Parlament mit gewählten Abgeordneten und einen Petitionsausschuss, der die Bundesregierung und die
Bundesverwaltung kontrolliert; und das funktioniert.
({13})
Der Petitionsausschuss hat die ureigene Aufgabe, sich
mit den Sorgen und Nöten der Menschen in konkreten
Fällen zu beschäftigen, und leistet hierbei eine gute Arbeit.
Schließlich und endlich ist Die Linke zu fragen, ob
die Bundesregierung uns Parlamentariern etwa Noten
geben soll. Soll sie etwa unsere Arbeit bewerten? Dahinter steckt ein vollkommen falsches Verständnis von Demokratie.
({14})
Von einer Fraktion, die den Vorsitz im Petitionsausschuss innehat, darf man wohl die Kenntnis erwarten,
dass die Bundesregierung nicht zu bewerten hat, ob die
Regelungen des Petitionsausschusses angemessen, richtig oder überarbeitungsbedürftig sind.
({15})
Eine Instrumentalisierung des Petitionsrechts, um zu
einer anderen staatlichen Ordnung zu kommen, lehnen
wir kategorisch ab. Das System der Demokratie in unserem Lande hat sich bewährt. Es bedarf keiner Veränderung.
Herzlichen Dank.
({16})
Das Wort hat der Kollege Jens Ackermann, FDPFraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Die vorliegende Große Anfrage umfasst zwei
Elemente: Petitionsrecht und Bürgerbeteiligung.
Zur Bürgerbeteiligung: Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide wären glaubwürdige Instrumente, um die Distanz zwischen den Menschen und der
Politik zu verringern. Auf diese Art und Weise hätte das
Volk unmittelbaren Einfluss auf die politische Willensbildung. Ein Gesetzentwurf der FDP-Fraktion fordert,
dies ins Grundgesetz aufzunehmen. Die Bürger hätten
mehr Vertrauen und mehr Klarheit. Demokratie lebt davon, dass alle mitmachen und jeder sich einbringt.
({0})
Unser Petitionsrecht bietet dafür keinen Ersatz. Sinnvoll genutzt kann es jedoch zu einem lebendigen Dialog
zwischen Politik und den Menschen beitragen. Die Petenten zeigen uns, wo unser Rechtsstaat und wo unser
Sozialstaat unvollkommen sind, wo Handlungsbedarf
besteht, etwa bei Notfällen, die durch das Raster fallen,
oder bei Unrecht, das im komplizierten Rechtssystem
nicht ausgeglichen werden kann. Petenten machen deutlich: Nicht alles kann gesetzlich geregelt werden, nicht
alles kann durch Gerichtsentscheide bewältigt werden.
Im Berichterstattergespräch heute Morgen haben wir
festgestellt, dass es Grauzonen im Rechtsstaat und
auch in unserem demokratischen System gibt. Das Petitionsrecht ist ein Lichtstrahl in dieser Grauzone und für
die Petenten oft ein letzter Hoffnungsschimmer. Alle
Fraktionen sind verpflichtet, sich der Nöte und Sorgen
der Petenten anzunehmen. Ein klug genutztes Petitionsrecht kann Schritt für Schritt für mehr Bürgernähe und
mehr Transparenz sorgen.
({1})
Wie kann das Petitionswesen gestärkt werden? Hierzu
nun fünf Vorschläge:
Erstens. Es muss mehr in die öffentliche Wahrnehmung. Hier sind wir mit den öffentlichen Petitionen auf
einem guten Weg, leider nicht heute zu dieser späten
Stunde.
({2})
Zweitens. Die Stellung des Petenten muss gestärkt
werden. Auch eine noch so gute Petition führt leider
nicht automatisch zum Erfolg, weil sich eine Petition im
Ausschuss Mehrheiten suchen muss.
Drittens. Die Rechte des Ausschusses gegenüber Dritten müssen gestärkt werden.
Viertens - ganz wichtig -. Das Petitionsrecht muss
auch im Unterricht, in den Schulen behandelt werden.
Jeder junge Mensch, jeder Schüler - das ist oft nicht bekannt - kann sich an uns wenden.
Fünftens. Der Vorsitz des Petitionsauschusses ist so
attraktiv zu gestalten, dass jede Fraktion bemüht ist, auf
diesen Vorsitz zuzugreifen.
In der Einleitung der Großen Anfrage führt die Linke
an, dass sich 500 000 Menschen an uns gewandt haben.
Es gibt keinen besseren Beweis dafür, dass die Bürger
mit dem parlamentarischen System zufrieden sind. Ja,
die Petenten üben Kritik und wünschen sich eine Verbesserung des Systems. Sie wollen daran mitarbeiten, das
System zu verbessern. Sie von den Linken wollen jedoch
das System abschaffen, Sie wollen es umdrehen. Wirklich glaubhaft macht das Ihren Einsatz für die Stärkung
des Petitionsrechts leider nicht.
({3})
Ihr Fraktionsvorsitzender hat den Systemwechsel als
Ziel. Ich frage Sie: Was bleibt vom Petitionsrecht übrig,
sollte es dazu kommen?
Werte Frau Naumann, ich komme - das ist das Dilemma - mit Ihnen im Ausschuss sehr gut zurecht, aber
diejenigen, die in Ihrer Partei und in Ihrer Fraktion etwas
zu sagen haben, wollen den Systemwechsel. Die Linke
- das ist eine nicht zu leugnende Tatsache - steht in der
Tradition der SED. In der DDR gab es weder Meinungsfreiheit noch Mitbestimmung. Ja, es gab ein Petitionswesen. Die Ostdeutschen waren in Richtung Staatsratsvorsitzenden und Politbüro sehr eingabefreudig. Es hat aber
leider nichts genutzt. Wir brauchen auch nicht die Vergangenheit zu bemühen. Wir brauchen nur in Staaten zu
schauen, die heute sozialistisch regiert werden. Wie sieht
es denn mit dem Petitionswesen in Venezuela oder auf
Kuba aus? - Die Bürgerinnen und Bürger dort - auch
das muss einmal angesprochen werden - haben nicht die
Möglichkeiten, die wir hier in Deutschland haben. Denen geht es nicht so gut wie uns.
({4})
Meine Damen und Herren, das Petitionsrecht zu fördern, heißt, Demokratie zu leben, und das ist mein Ziel.
({5})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Martin Gerster,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten
heute die Große Anfrage der Fraktion Die Linke vom
Juni 2006. Natürlich ist es nicht schön, Herr Staatssekretär, dass die Antworten noch nicht vorliegen.
({0})
Aber es ist auch nicht schön, dass die Fraktion Die
Linke heute dies auf die Tagesordnung bringt, ohne dass
wir die Antworten kennen. Es geht Ihnen deswegen,
glaube ich, rein um die Show, um ein bisschen Aufmerksamkeit in dieser Stunde, um zu sagen, die Antworten
liegen noch nicht vor. Es wäre viel besser gewesen, Sie
hätten die paar Wochen, bis die Antworten vorliegen,
noch abgewartet.
({1})
Dann hätten wir hier eine sinnvolle Diskussion führen
können.
({2})
Ich möchte auf das Sammelsurium, auf Ihren Gemischtwarenladen in der Großen Anfrage gerne eingehen und habe mir dafür ein paar Punkte herausgegriffen.
Erstens. In der Einleitung, bevor die 108 Fragen mit
Unterpunkten kommen, reden Sie sehr viel über die Einführung von Elementen direkter Demokratie. Interessanterweise findet sich anschließend dazu keine einzige
Frage.
({3})
Ich sage: Wir von der SPD sind ganz klar dafür, mehr
Elemente direkter Demokratie auf Bundesebene einzuführen.
({4})
Wir als Fraktion waren es, die durchgesetzt haben, dass
im Koalitionsvertrag dazu ein entsprechender Prüfauftrag vorgesehen ist. Der Kollege Maik Reichel hat zu
den Themen Volksbegehren, Volksinitiative, Volksentscheid hier erst vor ein paar Wochen in einer Rede die
entsprechende Positionierung der SPD-Fraktion klar dargelegt.
Zweitens. Sie unterstellen uns in Ihrer Großen Anfrage, dass die Große Koalition gerade im Bereich bürgerschaftlichen Engagements nichts unternimmt. Aber
besonders in diesen Wochen wird noch einmal ganz
deutlich, dass wir über die Reform des Gemeinnützigkeitsrechts sehr viel tun, um ehrenamtliches, bürgerschaftliches Engagement zu stärken.
({5})
Ich nenne nur die geplante und so gut wie beschlossene
Anhebung der Übungsleiterpauschale und die Erhöhung
der Steuerfreibeträge für Vereine. Ich glaube, das ist ein
großer Wurf der Großen Koalition auf Vorschlag des
Bundesfinanzministers Steinbrück.
({6})
Dritter Punkt. Sie fragen nach der Funktion des Normenkontrollrats. Diese Frage können Sie sich doch selber beantworten. Ich weiß gar nicht, warum es eine so
große Empörung gibt, dass viele Fragen noch nicht beantwortet sind. Zum Teil ist es wirklich sehr einfach, sie
zu beantworten.
({7})
Punkt vier: Petitionsrecht. Aus meiner Sicht ist das
Ziel einer Petition, einem Anliegen von allgemeinem Interesse Gehör zu verschaffen, Schwachstellen offenzulegen und auch Gesetzeslücken aufzudecken. Ich glaube,
das funktioniert ganz gut. Die Kollegen haben entsprechend berichtet, und Sie als Ausschussvorsitzende haben
selbst darauf hingewiesen, wie gut das funktioniert.
Ich darf Sie als Vorsitzende einmal aus der Broschüre
des Petitionsausschusses zitieren:
Der Petitionsausschuss in eine verlässliche und bürgernahe Anlaufstelle im Bundestag.
Da frage ich mich: Wie passt das mit dem zusammen,
was Sie hier in Ihrer Rede vorgetragen haben und was in
Ihrem Antrag steht?
Ich habe noch ein wichtiges Anliegen bezüglich dessen, was in Punkt V Ihres Antrages durchscheint. Ich
glaube, dass das Petitionsrecht auf keinen Fall zum juristischen Winkelzug verkommen darf, um asylrechtliche
Entscheidungen hinauszuzögern. Wer begehrt, dass das
Petitionsverfahren aufschiebende Wirkung hat, wird aus
meiner Sicht zum Totengräber des Petitionsrechts in
Deutschland.
({8})
Der Ausschuss würde aus meiner Sicht schlicht in Anfragen ertrinken.
Deswegen lehnen wir Ihre - versteckte oder offene Forderung nach einer Härtefallkommission beim Petitionsausschuss ab. Härtefälle sind aufenthaltsrechtliche
Fragen und entstehen nicht im Asylverfahren an sich.
Deswegen ist diese Frage aus meiner Sicht deplatziert,
zumal einige Bundesländer, beispielsweise BadenWürttemberg, entsprechende Härtefallkommissionen eingerichtet haben.
({9})
Diese können inzwischen zum Teil sehr gute Erfolge
vorweisen.
({10})
Herr Staatssekretär, es wäre schön gewesen, wenn die
Antworten bereits vorliegen würden, dann könnten wir
die Unklarheiten, Missverständnisse und so manch Unsinniges in der Großen Anfrage heute entsprechend fundierter debattieren.
Herzlichen Dank.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Josef Winkler, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Als im Juni letzten Jahres die Große Anfrage der Fraktion Die Linke auf meinen Schreibtisch kam, fiel mir
eine Bemerkung des Dramatikers Henrik Ibsen ein, der
einmal gesagt hat: „Ich kenne wenige Weltverbesserer,
die imstande sind, einen Nagel richtig einzuschlagen.“
({0})
Nach dem Motto „Was ich schon immer über das Petitionsrecht wissen wollte, aber bisher nicht zu fragen
wagte“ legen Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von
der Linkspartei, hier ein kurioses Sammelsurium von
108 Fragen vor, die manchmal ein wenig, aber meistens
gar nichts mit dem Petitionsrecht zu tun haben.
({1})
Deshalb mein Fazit direkt am Anfang: Diese Große
Anfrage stellt die falschen Fragen zur falschen Zeit am
falschen Ort an den falschen Adressaten.
({2})
Ich bedaure das, denn ich gehe - im Gegensatz zu manchem, was wir jetzt gehört haben - davon aus, dass das
nicht alles rückwärts, in die DDR weisen sollte. Ich unterstelle einmal die besten Absichten, auch wenn ich
jetzt die Enttäuschung auf der Unionsseite akzeptieren
muss.
Auch in diesem Fall gilt: Gut gemeint ist noch lange
nicht gut gemacht. Ich werde Ihnen dies anhand weniger
Beispiele belegen.
Eine Verbesserung des Petitionsrechts - dies wurde
eben schon gesagt - ist eine Aufgabe des Parlaments und
des Verfassungsgebers, nicht aber der Bundesregierung.
Sie fragen die Bundesregierung zum Beispiel, welche
Auffassung sie zu einem Selbstbefassungsrecht des Petitionsausschusses habe,
({3})
also dem Recht, Themen aufzugreifen, die gerade interessant sind, zu denen aber gerade keine Petitionen vorliegen. Ich leugne nicht, dass dies interessant und spannend ist. Aber ich möchte nicht, dass sich die Regierung
dazu äußert. Das geht sie überhaupt nichts an.
({4})
Wenn Sie das regeln wollen, dann können Sie in diesem Hause einen entsprechenden Antrag oder Gesetzentwurf einbringen. Bisher liegen uns solche Anträge nicht
vor. Anschließend wird dieser Antrag oder Gesetzentwurf eine Mehrheit finden oder nicht.
({5})
Jedenfalls hat es mit der Exekutive nichts zu tun. Nicht
die Bundesregierung, auch nicht das Bundesinnenministerium, Herr Staatssekretär Altmaier, kontrolliert oder
bestimmt das Petitionsrecht, sondern wir, die wir hier
sitzen. Das Parlament kontrolliert die Regierung.
({6})
Darum also, Herr Altmaier, der Sie heute Abend die
Bundesregierung vertreten: Finger weg vom Petitionsrecht!
({7})
Werte Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei,
Sie wissen, dass wir seit 2005 sehr intensiv an der Fortentwicklung und den Reformmöglichkeiten des Petitionsrechts arbeiten; dies tun wir partei- und fraktionsübergreifend. Ein Grundrecht wie das Petitionsrecht, das
in Art. 17 des Grundgesetzes niedergelegt ist, sollte
nicht wie heute Abend im Parteienstreit, sondern möglichst im Konsens weiterentwickelt werden.
({8})
Ich hätte es gut gefunden, wenn Sie Ihre Punkte und
die FDP die anderen fünf Punkte vielleicht erst einmal in
der Runde der Obleute oder im Ausschuss mit uns diskutiert hätten; dann hätten wir uns möglicherweise auf etwas einigen können. So aber zerstreiten wir hier öffentlich ein Grundrecht. Das ist wirklich bedauerlich.
({9})
Zum Abschluss meiner Rede erinnere ich an das, was
wir bereits gemacht haben: Wir haben E-Mail-Petitionen
sowie öffentliche Petitionen mit Diskussionsforen im Internet eingeführt, wir wollen Massenpetitionen besser
behandeln, und wir machen jetzt schon erweiterte öffentliche Ausschusssitzungen am laufenden Band, könnte
man fast sagen.
({10})
Es ist auch eine gute Sache, dass wir das eingeführt haben. Wir hören Petenten persönlich an. Dies alles hat
früher nicht stattgefunden; aber Sie sagen, es habe sich
nichts getan. 1975 wurde geregelt, dass alle Petitionen,
die beim Bundestag eingehen, dem Petitionsausschuss
zuzuweisen sind und der Präsident keine Ausnahmen
machen darf. Diese gute Idee ist in § 109 unserer Geschäftsordnung geregelt und 2005 weiterentwickelt worden. Insoweit liegen Sie mit Ihrer Anfrage ziemlich daneben.
Herr Baumann, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass wir keine Zuschauerdemokratie sind. Diesem
Begriff, mit dem gemeint ist, dass wir Abgeordneten von
den Bürgern die Souveränität übernommen hätten, wie
es in der Einleitung Ihrer Anfrage steht - gemeint ist
wohl, dass Sie das ändern wollen -, halte ich ein Zitat
unseres ersten Bundespräsidenten Prof. Dr. Heuss entgegen:
Demokratie heißt nicht Massenherrschaft, sondern
Aufbau, Sicherung und Bewährung der selbst gewählten Autoritäten.
Herzlichen Dank.
({11})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Gabriele Lösekrug-Möller, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon etwas Besonderes,
wenn man über Petitionen redet und dann feststellt - die
Stenografen verzeichnen dies ja korrekt -, dass der Applaus fast aus dem ganzen Hause kommt. Es ist aber typisch für Petitionsarbeit, weil wir zum Wohle derer, die
sich beschweren oder Bitten einreichen, in unserer täglichen Arbeit stark konsensorientiert sind. Dies zeichnet
uns aus und stellt eine Qualität dar, die wir auf keinen
Fall verlieren wollen, auch nicht in einem Zusammenhang wie heute Abend, an dem wir eine Anfrage diskutieren, die außerordentlich umfänglich ist. Allerdings betreffen von den 108 Fragen nur 33 das im Grundgesetz
verankerte Petitionsrecht.
An dieser Stelle breche ich eine Lanze für die Vorsitzende des Petitionsausschusses, der ich eine exzellente
Sitzungsführung attestiere. Die Kritik richtet sich nicht
persönlich gegen die Vorsitzende. Vielmehr hat uns das
Verständnis von Parlament und Demokratie, das hinter diesem Antrag steckt - das haben viele Kolleginnen
und Kollegen zu Recht angesprochen -, zutiefst bestürzt.
Ich bin darüber sehr ins Grübeln gekommen. Ebenso wie
viele meiner Vorredner bin ich bei dem Begriff „Zuschauerdemokratie“ hängen geblieben. Ich habe mich
gefragt: Wie kann es sein, dass jemand, der ein Mandat
in einem Parlament wahrnimmt, einen solchen Begriff
ins Spiel bringt? Das macht mir ernsthaft Sorgen. Ich
finde, wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, wir hätten das Gefühl, auf einer Bühne zu stehen, und die anderen seien die Zuschauer. Vielleicht kämen wir dann irgendwann auf die Idee, Eintritt zu nehmen. Das führt in
eine völlig falsche Richtung.
({0})
Diejenigen, die hier sitzen, sind ja fast ausschließlich
Mitglieder im Petitionsausschuss.
({1})
Einige haben gerade quasi ihre Bewerbung abgegeben;
auch darüber freuen wir uns natürlich.
Ich will einen Punkt anschneiden, nach dem in der
Anfrage zwar nicht gefragt wurde, der es aber lohnt, erwähnt zu werden. Im Mittelpunkt vieler Beschwerden,
die uns erreichen, steht das Verhalten von Behörden.
Wir müssen feststellen, dass wir eine große Anzahl von
Petitionen gar nicht im Ausschuss bearbeiten, weil der
kompetente Ausschussdienst im Vorfeld Abhilfe schaffen kann. Er kann die richtige Information und den korrekten Hinweis geben. Wenn wir eines Tages keine Beschwerden mehr bekommen, die Bundesbehörden
betreffen, dann sind wir einen Schritt näher am Paradies.
Deshalb bin ich sehr zufrieden, wenn Behörden auf Bundesebene selbst dafür sorgen, dass das Beschwerdemanagement in ihrem Haus funktioniert.
({2})
Ich habe nicht die Sorge, dass der Petitionsausschuss
dann ohne Arbeit ist. Dann können wir uns frohgemut
jenen Petitionen zuwenden, die Vorschläge zur Verbesserung von Gesetzen beinhalten. Dazu erhalten wir täglich
viel Post. Da sind wirklich gute Anregungen bei. Wenn
wir uns ausschließlich dem zuwenden können, wird es
uns gut gehen.
Über eine Feststellung sollten wir alle einmal nachdenken: Das Petitionsrecht umfasst auf Bundesebene die
Gesetzgebung und die Behörden. In den letzten Jahren
gab es die Tendenz zur Privatisierung bzw. Teilprivatisierung ganz wesentlicher Elemente. Bei unserer Petitionsarbeit stellen wir aber fest, dass unser Arm so weit
nicht reicht. Das ist für viele Bürger schwer zu verstehen. Wir Ausschussmitglieder fragen uns natürlich, wie
es da mit der Interessenvertretung aussieht. Hier sind
noch einige Aufgaben zu erledigen. Wir müssen uns GeGabriele Lösekrug-Möller
danken darüber machen, wie wir uns dazu verhalten
wollen.
Wir haben in den letzten Jahren festgestellt, dass die
Bürgerinnen und Bürger Vertrauen in unsere Petitionsarbeit gewonnen haben. Das ist kein Selbstlob; das liegt an
allen anderen außer mir. Ich bin aber stolz darauf. Das
sollten wir in Ehren halten und nicht durch Anfragen gefährden, über die man schmunzeln oder an denen man
zweifeln kann. Ich bin aber guter Dinge, dass wir trotzdem gemeinsam weiterarbeiten werden, und zwar an der
Stelle, die uns besonders am Herzen liegt: Die Arbeit des
Petitionsausschusses soll transparenter werden und die
Öffentlichkeit erreichen. Das ist es, was Bürgerinnen
und Bürger von diesem Ausschuss und diesem Parlament erwarten.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 a auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter Friedrich
({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Annette
Faße, Gabriele Hiller-Ohm, Renate Gradistanac,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Den Fahrradtourismus in Deutschland umfas-
send fördern
- Drucksachen 16/3609, 16/5635 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Gabriele Hiller-Ohm
Ernst Burgbacher
Nicole Maisch
Die Kollegen Ernst Hinsken, Ernst Burgbacher,
Dr. Ilja Seifert sowie die Kolleginnen Gabriele Hiller-
Ohm und Nicole Maisch haben ihre Reden zu Protokoll
gegeben.1)
Wir kommen deshalb zur Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Tourismus zu dem Antrag der Fraktio-
nen der CDU/CSU und SPD mit dem Titel „Den Fahr-
radtourismus in Deutschland umfassend fördern“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/5635, den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/3609 anzuneh-
men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke,
SPD und CDU/CSU bei Enthaltung des Bündnisses 90/
Die Grünen und der FDP angenommen.
1) Anlage 3
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Uschi
Eid, Marieluise Beck ({3}), Volker Beck
({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Politische Lösungen sind Voraussetzung für
Frieden in Somalia
- Drucksachen 16/4759, 16/5754 Berichterstattung:
Abgeordnete Anke Eymer ({5})
Marina Schuster
Dr. Uschi Eid
Die Kolleginnen Anke Eymer ({6}), Brunhilde Ir-
ber, Marina Schuster, Dr. Uschi Eid sowie der Kollege
Dr. Norman Paech haben ihre Reden zu Protokoll gege-
ben.2)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Politische Lösungen
sind Voraussetzung für Frieden in Somalia“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/5754, den Antrag der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4759 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({7})
- zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und der SPD
Schienenlärm ursächlich bekämpfen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Michael
Kauch, Horst Friedrich ({8}), Patrick Dö-
ring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Lärmschutz im Schienenverkehr verbes-
sern - Marktwirtschaftliche Anreize nut-
zen, Schienenbonus überprüfen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried
Hermann, Kerstin Andreae, Alexander Bonde,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Aktionsprogramm gegen Schienenlärm auf
den Weg bringen
- Drucksachen 16/4562, 16/675, 16/2074,
16/5293 -
2) Anlage 4
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Berichterstattung:
Abgeordnete Heinz Paula
Winfried Hermann
Die Kollegen Enak Ferlemann, Heinz Paula, Horst
Friedrich ({9}), Lutz Heilmann und Winfried Her-
mann haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf
Drucksache 16/5293. Der Ausschuss empfiehlt unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5293
die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU
und SPD auf Drucksache 16/4562 mit dem Titel „Schienenlärm ursächlich bekämpfen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/675 mit dem Titel „Lärmschutz im Schienenverkehr verbessern - Marktwirtschaftliche Anreize nutzen, Schienenbonus überprüfen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke,
SPD, CDU/CSU bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die
Grünen und FDP angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5293 die
Ablehnung des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen auf Drucksache 16/2074 mit dem Titel „Aktionsprogramm gegen Schienenlärm auf den Weg bringen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist ebenfalls mit den Stimmen der
Fraktionen Die Linke, SPD, CDU/CSU bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
Zeil, Mechthild Dyckmans, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die Schaffung einer Europäischen Privatgesellschaft forcieren
- Drucksache 16/5423 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({10})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Die Redner Dr. Günter Krings, Klaus Uwe Benneter,
Martin Zeil und der Parlamentarische Staatssekretär Al-
fred Hartenbach sowie die Kolleginnen Ulla Lötzer, Ker-
stin Andreae und Mechthild Dyckmans haben ihre Re-
den zu Protokoll gegeben.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/5423 an die in der Tagesordnung aufge-
1) Anlage 5
2) Anlage 6
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Carsten
Müller ({11}), Ilse Aigner, Michael
Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten René
Röspel, Jörg Tauss, Willi Brase, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD
Innovationsnetzwerk für Europa - Europäi-
sches Technologieinstitut
- Drucksache 16/5733 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({12})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Lothar
Bisky, Cornelia Hirsch, Dr. Lukrezia Jochimsen,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
LINKEN
Einrichtung des Europäischen Technologieinstituts verhindern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Krista Sager,
Kai Gehring, Priska Hinz ({13}) und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Einrichtung des Europäischen Technologieinstituts abwenden - Bestehende europäische Förderstrukturen stärken und weiterentwickeln
- Drucksachen 16/4625, 16/5254, 16/5765 Berichterstattung:
Abgeordnete Carsten Müller ({14})
René Röspel
Cornelia Pieper
Dr. Petra Sitte
Krista Sager
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Cornelia Pieper, Markus Löning, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Das Europäische Institut für Technologie zum
Erfolg führen
- Drucksache 16/5605 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({15})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Die Kollegen Carsten Müller ({16}), René
Röspel sowie die Kolleginnen Ulrike Flach, Petra Sitte
und Krista Sager haben ihre Reden zu Protokoll gege-
ben.3)
Wir kommen deshalb zur Abstimmung über den An-
trag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf
3) Anlage 7
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Drucksache 16/5733 mit dem Titel „Innovationsnetzwerk für Europa - Europäisches Technologieinstitut“.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der
Koalition bei Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke
und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion
der FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 20 b. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit
dem Titel „Einrichtung des Europäischen Technologieinstituts verhindern“. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5765,
den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
16/4625 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit Stimmen der SPD, der
CDU/CSU und der FDP bei Gegenstimmen des
Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke
angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/5254
mit dem Titel „Einrichtung des Europäischen Technologieinstituts abwenden - Bestehende europäische Förderstrukturen stärken und weiterentwickeln“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist
ebenfalls mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und
FDP bei Gegenstimmen des Bündnisses 90/Die Grünen
und der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 20 c. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/5605 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({17}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Heidrun Bluhm,
Katrin Kunert, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der LINKEN
Öffentlichen Verkehr in den neuen Bundeslän-
dern nicht gefährden - Verkehrsflächenberei-
nigungsgesetz verlängern
- Drucksachen 16/4856, 16/5168 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Marco Wanderwitz
Dr. Peter Danckert
Mechthild Dyckmans
Jörn Wunderlich
Jerzy Montag
Die Kollegen Marco Wanderwitz, Dr. Peter Danckert
und Peter Hettlich sowie die Kolleginnen Sabine Leut-
heusser-Schnarrenberger und Heidrun Bluhm haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben.1)
1) Anlage 8
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit
dem Titel „Öffentlichen Verkehr in den neuen Bundesländern nicht gefährden - Verkehrsflächenbereinigungsgesetz verlängern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5168, den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/4856 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit
den Stimmen des restlichen Hauses angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({18})
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Sonderbericht Nr. 9/2006 über Ausgaben für
Übersetzungsleistungen bei der Kommission,
beim Parlament und beim Rat
Ratsdok. 12861/06
- Drucksachen 16/5329 Nr. 2.9, 16/5766 Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus-Peter Willsch
Klaus Hagemann
Die Kollegen Klaus-Peter Willsch, Klaus Hagemann,
Michael Roth ({19}), Michael Link ({20}),
Roland Claus sowie Omid Nouripour haben ihre Reden
zu Protokoll gegeben.2)
Wir kommen deshalb zur Beschlussempfehlung des
Haushaltsausschusses auf Drucksache 16/5766 zu der
Unterrichtung durch die Bundesregierung über den Sonderbericht über Ausgaben für Übersetzungsleistungen
bei der Kommission, beim Parlament und beim Rat. Der
Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine
Stellungnahme nach Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese
Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung der Grünen mit
den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Herbert Schui, Werner Dreibus, Dr. Barbara
Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
LINKEN
Für ein Europäisches Kartellamt
- Drucksache 16/5360 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({21})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Die Kollegen Albert Rupprecht ({22}), Martin
Zeil, Dr. Herbert Schui und Christian Lange ({23})
sowie die Kollegin Kerstin Andreae haben ihre Reden zu
Protokoll gegeben.3)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/5360 an die in der Tagesordnung aufge-
2) Anlage 9
3) Anlage 10
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Laurenz
Meyer ({24}), Andreas G. Lämmel, Klaus Hofbauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Andrea
Wicklein, Doris Barnett, Engelbert Wistuba, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die wirtschaftlichen und arbeitsplatzschaffenden Erfolge der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ nutzen - Regionales Wachstum und
Beschäftigungseffekte intensivieren
- Drucksache 16/5607 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({25})
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Die Kollegen Andreas G. Lämmel, Klaus Hofbauer
sowie die Kolleginnen Andrea Wicklein, Gudrun Kopp,
Sabine Zimmermann und Kerstin Andreae haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/5607 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reduzierung und Beschleunigung von immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren
- Drucksache 16/1337 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({26})
- Drucksache 16/5737 Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung ({27})
Dr. Matthias Miersch
Horst Meierhofer
Lutz Heilmann
Sylvia Kotting-Uhl
Die Kollegen Andreas Jung ({28}), Dr. Matthias
Miersch, Horst Meierhofer und Lutz Heilmann sowie die
Kollegin Sylvia Kotting-Uhl haben ihre Reden zu Pro-
tokoll gegeben.2)
1) Anlage 11
Wir kommen deshalb zur Abstimmung über den vom
Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Reduzierung und Beschleunigung von immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren.
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/5737, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 16/1337 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Fraktion Die
Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit demselben Stimmenergebnis wie in zweiter Beratung angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Waffengesetzes
- Drucksache 16/1991 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({29})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Die Kollegen Reinhard Grindel, Hartfrid Wolff
({30}) sowie die Kolleginnen Gabriele Fograscher,
Petra Pau und Silke Stokar von Neuforn haben ihre Re-
den zu Protokoll gegeben.3)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/1991 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unser heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 22. Juni 2007, 9 Uhr,
ein.
Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen, allen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, aber auch den Zuschauern auf der Tribüne noch einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.
({31})